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Full text of "Naturwissenschaftliche Wochenschrift"

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Naturwissenschaftliche 
Wochenschrift 


BEGRÜNDET  VON  H.  POTONlfi 
HERAUSGEGEBEN 

VON 

Prof  Dr.  H.  MIEHE 

IN  BERLIN 


NEUE  FOLGE.    16.  BAND 

(DER  GANZEN  REIHE  32.  BAND) 

JANUAR  —  DEZEMBER  1917 

MIT   180  ABBILDUNGEN  IM  TEXT 


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JENA 

VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER 

1917 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Register. 


I.  Größere  Originalartikel 
und  Sammelreferate. 

Andree,  K.,  Einige  Bemerkungen  zur 
Geschichte  der  Geologie,  insbesondere 
der  „phantastischen  Periode"  der  Palä- 
ontologie.    719. 

Becker,  A.,  Über  den  Kathodenstrahlen- 
durchgang  durch  Materie.     513. 

Brehm,  V.,  Dr.  Absolon's  zoologische 
Höhlenforschungen  auf  der  Balkanhalb- 
insel.    49. 

Bretschneider,  Fr.,  Zur  mathema- 
tischen Behandlung  des  Inzuchtgrades. 
835- 

Coehn,  Alfred,  Das  Stickstoffproblem 
und  seine  Lösungen.     129. 

Dittrich,  G.,  Die  Pilzvergiftungen  der 
letzten  Jahre.     297. 

Düggeli,  M.,  Die  Schwefelbakterien  und 
ihre  Tätigkeit  in  der  Natur.     32 1. 

EicbwaldjE.,  Atmung  und  Gärung.     I. 

Engelhard  t,  V.,  Faraday's  Stellung  in 
der  Geschichte  der  Physik.     465. 

Engelhardt,V.,  D'Alembcrt'sBedeutung 
für  die  Naturwissenschaften.     641. 

Krank,  M.,  Abschätzen  von  größeren 
Entfernungen  unter  Berücksichtigung  der 
Luftperspektive.     486. 

Freund,  L.,  Keimdrüsen  und  Kastration 
der  männlichen  Vögel.     569. 

Frickhingcr,  H.  W.,  Die  deutschen 
Seidenbaubestrebungen  und  das  Problem 
der  Schwarzwurzelfütterung.     541. 

Günther,  H.,  Sulfit-  und  Karbidsprit. 
609. 

Hahn,  Ed.,  Brennesseln  in  alter  und 
neuer  Verwendung.    328. 

Halbfaß,  W.,  Die  im  Elb-  und  Üder- 
stromgebiet  vorhandene  Wassermenge. 
105. 

Hennig,  Edw.,  Zum  Problem  der  Wün- 
schelrute.    251. 

Hennig,  Edw.,  Untersuchungen  mit  der 
Wünschelrute.     537. 

Hennig,  R.,  Das  „Wiederholungsgefühl" 
als  Quelle  des  Seelenwanderungs-Glau- 
bens.     585. 

Hirsch,  G.  Chr.,  Der  Arbeitsrhythmus 
der  Ganglienzellen.     185. 

Herrmann,  Ursprung,  Verbreitung  und 
Nutzbarmachung  der  chemisch-industri- 
ellen mineralischen  Rohstoffe.     657. 

Kathariner,  L.,  Der  Anthropomorphis- 
mus  in  der  Zoologie.     61 1. 

Kelhofer,  E.,  Wegener's  Verschiebungs- 
tbeorie.     702. 

Killermann,  S.,  Der  Alraun  (Mandra- 
gora).    137. 

KiUerniann,  S.,  Die  Entdeckung  der 
Paradiesviigel.     40g. 


Killermann,  S.,  Maischwamm  und  Erd- 
simmerling.     430. 

Krause,  Grundwasser  und  Quellen.  265. 
Berichtigung  dazu  480. 

Krause,  K.,  Die  Veränderungen  der 
Landoberfläche  durch  das  Wasser.    673. 

Kraus  el,  R.,  Zur  Bestimmung  fossiler 
Blattabdrücke.     214. 

Kräusel,  R.,    Die  Bedeutung    der  .Ana- 
tomie lebender  und  fossiler  Hölzer  für 
die  Phylogenic  der  Koniferen.     305. 
Notiz  und  Berichtigung  dazu  408. 

Kräusel,  R..  Die  Seefelder  bei  Reinerz 
in  Schlesien,  ein  des  Schutzes  bedürftiges 
Hochmoor.     659. 

Kfizenecky,  J.,  Versuch  einer  metho- 
dischen Bestimmung  des  Inzucbtsgrades 
mittels    mathematischer    Methode.      73. 

K  u  h  n ,  K.,  Das  Coronium,  ein  unentdecktes 
Edelgas.     381. 

Kuhn,  K.,  Neuere  Ergebnisse  der  Kanal- 
Strahlenforschung.     697. 

Lenk,  E.,  Slützgewebe  und  Integumente 
der  Tiere.     209. 
Literaturliste  dazu  422. 

Lipschütz,  AI.,  Studien  zur  Nerven- 
regeneration.    625. 

Mecklenburg,  W.,  Siliciumchemie  und 
Kohlenstoffchemic.     163. 

Mecklenburg,  W.,  Der  Basenaustausch 
der  Silikate.     441. 

Menzel  f,  H.  Zur  Entwicklung  und 
Gliederung  der  Quartärbildungen  des 
nördlichen  Deutschlands.      193. 

M  e  r  t  e  n  s ,  R.,  Über  einige  Fälle  des 
Scheinhermaphroditismus  bei  Fischen. 
683. 

MilewskigA.,  Zur  Kenntnis  des  Genus. 
Typhlonectes  Peters  der  Gymnophiona 
(Amphibia  apoda).     33. 

Möbius,  M.,  Die  Reduktionsteilung  im 
Pflanzenreich.     713. 

Mötef  ind  t,  H.,  Georg Schweinfurth.   57. 

Müller,  A.,  Gehört  die  Psychologie  zu 
den  Naturwissenschaften?     553. 

Müller,   K.  Angewandte  Botanik.     97. 

Müller-Freienfels,  Zur  Psychologie 
und  Biologie  der  Gefühle.     629. 

Neu  mann,  W.,  Bemerkungen  zu  der 
Entgegnung  Ziegler's.     24. 

Oudemans,  A.  C,  Sind  die  Maskarenen 
und  die  zenlralpazifischen  Inseln  oze- 
anisch?    201. 

Pax,  F.,  Die  Verbreitung  des  wilden 
Kaninchens  in  Russisch-Polen.     299. 

Radestock,  H.,  Femwetterprophezeiung. 
337- 

Rählmann,  E.,  Goethe's  Farbenlehre  und 
die  Naturwissenschaft.    601. 

Reichenau,  W.  v.,  Der  Sang  der  Un- 
sichtbaren im  Föhrenwalde.     144. 

Riebeseil,  P.,  Relativität  und  Gravita- 
tion.    113. 


Rößle,    Über  das  Altern.     241. 

Seh  eleu  z,  H.,    Die    Wünschelrute.     39. 

Schilling,  F.,  Vitamine.     229. 

Schoy,  C,  Eine  merkwürdige  Naturer- 
scheinung im  Jordantal.      17. 

Schutt,  K.,  Über  den  Druck  der  Licht- 
strahlen.    425. 

Schutt,  K.,    Kristallstruktur    und    Rönt- 
genstrahlen.    521. 
Notiz  dazu  608. 

S  u  d  h  o  f  f ,  K.,  Ein  Alkoholrezept  aus  dem 
8.  Jahrhundert?     68 1. 

Taschenberg,  0.,  Etwas  über  den  Be- 
griff „Brutparasitismus".     353,  369. 

Taschenberg,  O.,  Einige  Betrachtungen 
über  die  Begriffe  Parasit,  Raubtier  und 
Pflanzenräuber.     I53,   169. 

Taudin  Chabot,  J.  J.,  Zur  Bewertung 
der  geistigen  Leistungen  von  Hund  und 
Pferd.     377. 

Theel,  J.,  Über  die  Bedeutung  der 
Größe  für  Organismen.     481. 

Trojan,  E.,  Zur  Lösung  der  Frage  des 
Organisraenlichtes.     457. 

Wachs,  H.,  Ein  Beitrag  aum  Problem 
der  Seidenraupenzucht  mit  Schwarz- 
wurzelfütlerung.     729. 

Werner,  F..  Scheinwaffen  im  Tierreiche. 
89. 

Wesemüller,  A.,  Die  Wanderungen 
unserer  Seevögel.     393. 

Ziegler,  E.  H.,  Über  denkende  und 
buchstabierende  Hunde.     20. 

Zillig,  H.,  Hanf.     249. 


II.  Einzelberichte. 

A.  Zoologie,  Anatomie, 
Forstwirtschaft. 

Babak,E.,  „Hypnose"  bei  Fischen.   375. 

Bauraann,E.,  Wildkaninchenvorkommen 
in  Griechenland.     333. 

Benecke,  Zum  Vorkommen  der  Wachtel. 
646. 

Berg,  Frhr.  v.,  .-Ibnehmen  der  Wald- 
schnepfen.    488. 

Berner,  U.,  Die  Bestäubertätigkeit  der 
Insekten  in  Zahlen.     688. 

Börner,  K.,  s.  De witz. 

Boulenger,  G.  A.,  s.   Physalix. 
I  Brücke,  Th.  v.,   Richtung  der  Flimmer- 
bewegung.    375. 

Buddenbrock,  W.  v.,  Zweck  der  sog. 
Schwingkölbchen  der  Dipteren.    341. 

Burckhardt,  F.,  Eine  auffallende  Ge- 
spinstbildung infolge  Massenauftretens 
einer  Gespinstmotte.     651. 

De  witz  J.  und  Börner,  K.,  Serobiolo- 
gische Studien  über  Blattläuse  und  deren 
Wirtspflanzen.     357. 


Register. 


D  e  w  i  t  z ,  J.,  Zucht  des  Edelseidenspinners 
im  Freien.     236. 

D  e  w  i  t  z ,  Die  Zucht  des  Seidenspinners  im 
Freien.     688. 

D  ü r  k  e  n ,  B.,  Farbenwirkung  auf  Schmet- 
terlingspuppen.    219. 

Dürken,  B.,  Physiologische  örtliche 
Rassen  beim  Grasfrosch.     436. 

Eberts,  Krammetsvogelfang  im  Dohnen- 
stieg.     315. 

Ennerst,  Wildschaden  durch  Fasanen. 
55°- 

Erdmann,  s.  Woodruff 

Esche  rieh,  K.,  Bockkäferkalamität  in 
Eichenwäldern.     47. 

Faust,  s.  Zeleny. 

Fischer,  s.  Goeldi. 

Fischer,  E.,  Eiablage  und  Paarung  von 
Tagfaltern  in  der  Gefangenschaft.     28. 

Franz,  V.,  Gegenwärtiger  Stand  der 
Metamerentheorie  des  Wirbeltierkopfes. 
6:2. 

Franz,  V.,  Farbenvariationen  von  Helix 
nemoralis.     121. 
Druckfehlerberirhtigung  dazu  224. 

Franz,  V.,  Hiidschnucken  in  freier  Wild- 
bahn.     191. 

Frickhinger,  H.W.  Massenhaftes  Auf- 
treten des  Girtenlaubkäfers  in  einigen 
Bezirken  Oberbayerns.     688. 

Friedberger,  E.,  Färbung  mikrosko- 
pischer Präparate  mit  Farbsliften.    708. 

Goeldi  u.  Fischer,  Der  Generations- 
wechsel im  Tier-  und  Pflanzenreich. 
124. 

Goldsmith,  M.,  Das  Verhalten  der 
Kopffüßler  in  bezug  auf  das  Sehen. 
388. 

Goldschmidt,  Beobachtungen  und  Ver- 
suche über  Spermatogenese  in  Gewebe- 
kulturen.   636. 

Gravier,  Ch.  J.,  Symbiose  zwischen 
Kieselschwamm,  Aktinie  und  Ringelwurm 
417. 

Günther,  W.,  Der  Wildstand  im  Bialo- 
wieser  Urwald.     234. 

Günther,  S.,  Schönheitssinn  im  Tier- 
reich.    464. 

Haecker,  V.,   Die  Erblichkeit  im  Man- 
nesslamme.     605. 
Berichtigung  dazu  656. 

Haecker,  V,  Entwicklungsgescbichtlich 
begründete  Vererbungsregel.      190. 

Headley,  Th.,  Kampf  eines  Staates 
gegen   die  Moskitos.      62. 

Heß,  C.  V.  u.  Stellwaag,  Fr.,  Neue 
Untersuchungen  über  den  Farbensinn 
der    Insekten.     203. 

Heymons,  R.,  Blausäure  im  Kampf 
gegen  die  Mehlmntte.     519. 

Hiltner,  L.,  Gesi-tzmSßigkeit  beim  Fort- 
schreiten der  Feldmäuseplagen  in  Süd- 
deutschland.    247. 

H  o I  i  k ,  O.,  Zur  Biologie  der  Bärenspinner. 
477. 

Hoge,  Der  Einfluß  der  Temperatur  auf 
die  Entfaltung  eines  erblichen  Merk- 
mals.    651. 

Hühner,  E.,  Zur  Eiablage  und  Paarung 
der  Tagfalter  in  der  Gefangenschaft. 
342.     ' 

Jöakimoff,  s.  Popoff. 

J  o  II  o  s ,  Beobachtungen  über  die  Partheno- 
genese bei   Infusorien.     414. 

Knopfli,  W.,  Mutmaßliche  Ausbildung 
und  Geschichte  der  Vogelgesellschaften 
des  schweizerischen  MittcUandes.     317. 


Kofferath,  R.,  Kaninchenjagd  mit  dem 

Frettchen.     664. 
Korscheit,    Lebensdauer,    Altern    und 

Tod.     358. 
Krohn,  Bnmbenwerfende  Flieger  in  der 

Natur.     38Q. 
Kutin,  A.,  Die  parasitäre  Schlupfwespe 

der  Kohlraupe  als  indirekter  Schädling 

des  Weizens.     236. 
Larsen,    W.    P.,    Der    Krieg    und    die 

Wanderstraßen  der  Zugvögel.      191. 
Linshauer,      Selbstleuchtende     Regen- 
würmer.    332. 
Lohmann,  Isoplankten.      12. 
Lörn,  A.  L.,  Nahrung  des  Fasans.     189. 
Lucanus,    Die    Höhe    des    Vogelzuges. 

574- 
Lüstner,  G.,    Magenuntersuchungen   an 

Wespen.     687. 
Metz,     Chromnsomengarnituren    in    der 

Gattung  Drosophila.     217. 
Natorp,  O,  Gelegentliches  Überwintern 

von  Zugvögeln,      igi. 
Natzmer,  G.  v,  Beiträge  zur  Instinktpsy- 

chologie  der  Ameisen,     376. 
Orelli,   Generationenzahl  beim  Borken' 

käfer.     414. 
Orth,    J.,    Das    biologische    Problem    in 

Goethe's  Wahlverwandtschaften.    435. 
Physalix,M.   und  Boulenger,   G.  A., 

Giftschlangen  und  ungiftige  Schlangen. 

619. 
Plate,  L.,  Fauna  ceylanica.     206. 
P  o  p  o  f  f ,  M.,  Parallele  zwischen  der  künst- 
lichen Parthenogenese  und  der  Anregung 

zur    Wundheilung    durch    die    gleichen 

Agenzien.      66. 
Popoff  u.  Jöakimoff,  Die  Bekämpfung 

der  Reblaus  usw.     475. 
Prell,     H.,     Springende    Insektenlarven. 

206. 
Prell,  Trommelnde  Spinnen.     364. 
Ranninger,  R.,  Bekämpfung  des  Mohn- 

wurzelrüssclkäfers.     342. 
Reh,    L.,    Die    Nacktschneckeoplage    im 

Sommer  1916.     475. 
Reh,  L.,   Die  Schädlichkeit  der  Amseln. 

55°- 
Roule,  L.,  Laichwanderung  der  Forelle. 

260. 
Reuter,  M.,  Tollwut  des  Wildes.     235. 
Schiefferdecker,  F.,    Das  Verhältnis 

der  Fasern  und   Kerne   der  Muskulatur 

des    menschlichen    Herzens  zueinander. 

438- 
Schlesinger,  F.  W.,    Unheilvolle    Ein- 
wirkung der  Verschilfung  der  stehenden 

Gewässer  auf  die  Fischzucht      646. 
Schmidt,  M.,    Über  den  Verschluß  von 

Präparatenglä'iern.     666. 
Schneider-Orelli,     O.,      Dauer     der 

Puppenruhe    beim  Frostspanner.      416. 
Schumann,  Ad.,    Brutdauer   und    erste 

Jugendstadien  des  Bartgeiers.     12. 
Schuster,    W.,    Das  Gewicht   lebender 

Vogeleier.     488. 
Schuster,  W.,  Ein  Beitrag  zur  Biologie 

der  Schwebefliegen.     6go. 
Schwaab,    Bedeutung    Italiens    für   den 

Vogelschutz.     260. 
Seligo,    A.,    Verteilung    des    Fettes    bei 

einigen  Fischen.     95. 
S  e  n  a  y  ,  s.  Zeleny. 
Shull,  s.  Whitney. 
S  p  i  -x ,  A,  A.  Weismann  als  Nalurphilosoph. 

621, 


Steinach,  E.,  Ergebnisse  der  bei  Meer- 
schweinchen vorgenommenen  Trans- 
plantation der  Keimdrüsen.     373. 

Stellwaag,   Fr.  s.   Heß. 

Stitz,  H.,  Wirtschaftliche  Bedeutung  der 
Ameisen  für  den  Menschen.     725. 

Strindberg.H.,  Bau  und  Entwicklungs- 
geschichte der  Mallophagen.     436. 

Ströse,  Nützlichkeit  und  Schädlichkeit 
der   Spechte.     647. 

S  t ü  b  1  e  r ,  H.,  Der  Spiegelfleck  am  Vogel- 
köpfchen.    488. 

Taschenberg,  Schlupfwespen  als 
Pflanzenparasiten.     342. 

Thienemann,J.,  Krieg  und  Vogelzug. 
573- 

Thienemann,  Die  Verbreitung  der 
Coregonen.     650. 

Toldt,  Inscktenfährten  im  Ladenstaub 
naturwissenschaftlicher  Sammlungen. 
303- 

Vogelschutz  im  Kriegsjahr  1916.     127. 

Wegelin,   Erbliche  Mißbildung.     462. 

Whitney  u.  Shull,  Einfluß  der  Nah- 
rung auf  das  Gechlecht  bei  Rota- 
torien.     94. 

Winterstein,  Die  osmotischen  und 
kolloidalen  Eigenschaften  tierischer  Ge- 
webe.    333. 

Woodruff  u.  Erdmann,  Der  perio- 
dische Reorganisationsprozeß  bei  Infu- 
sorien.    27. 

Zander,  Die  Zukunft  der  deutschen 
Bienenzucht.     330. 

Zander,  Zeitgemäße  Bienenzucht.     477. 

Zeleny,  Faust  u.  Senay,  Spermato- 
zoendimorphismus.     534. 

Ziegler,  H.  E.,  Urdarmhöhle  und  Cö- 
lom.     575. 


B.  Physiologie,  Medizin, 
Hygiene. 

Amar,  Weir-Mitchell'sches  Phänomen. 
147. 

Beck,  Vergiftung  durch  Muskatnuß.  344. 

Baumgaertel,  Farb>tofTtabletten.    733. 

Bardachzi  u.  Zoltan,  Vorkommen  von 
Nematoden  als  Darmschmarotzer  im 
Osten     547. 

D  o  I  d  ,  H.,  Immunisierungsversuche  gegen 
das  Bienengift.     561. 

Fuchs  v.  Wolfring,  Rindertuber- 
kulose.    732. 

Laurent,  O.,  Transplantation.     146. 

Lux,  Fr.,  Verfahren  der  okjektiven  Prü- 
fung und  Messung  der  Hörfähigkeit.    639. 

Jossei,  M.  B.,  Verbreitung  des  Krebses 
in    der   Schweiz.    649. 

Kaup,  Wert  und  Wirkungsdauer  der 
Choleraschutzimpfung.     344. 

K  o  e  I  s  c  h  ,  Hautschädigungen  durch  Kalk- 
stickstoff.    342. 

Kühn,  Scheintod  und  Wiederbelebbar- 
keit.     345. 

Legendre,  J.,  Mückenvertilgung  durch 
Fische.     147. 

May,    Der  Spargel  als  Heilmittel.      693. 

Pfeiffenberger,  K.,  Schilddrüsenstö- 
rungen und  Meereshöhe.     491. 

Schützengrabenfuß.    406. 

Wegelin,  Ergebnisse  der  experimentellen 
Krebsforschung.     474. 

Zoltan,  s.  Bardachzi. 


Register. 


C.  Botanik,  Landwirtschaft, 
Pflanzenkrankheiten. 

B  a  n  n  e  r  t ,    Ursache  der  Blütenstielkrüm- 

mungen.     405. 
Bobilioff-Preifler,   W,    Wanderung 

des  Zellkerns.     314. 
Brenner,   W.,  Sclenbakterien.     340. 
E  h  r  m  a  n  n ,  Bestäubung  von  Blüten  durch 
Schnecken.     301. 

Ernst,  A.,  Jungfernzeugung  im  Pflanzen- 
reich.    404. 

Esenbeck  u.  Fischer,  W.,  Physiolo- 
gischer Wert  der  Erstlingsblätter.     617. 

Fischer.  W.,  s.  Esenbeck. 

Haberlandt,  G.,  Die  Pilzsymbiose  der 
Bärlapp-Vorkeime.     534. 

Hahn,  Ed.,  Über  alte  Nutz-  und  Kultur- 
pflaozen.     255. 

Härder,  R.,  Die  Ernährung  der  Blau- 
algen   durch  organische  Stoffe.    384. 

Heinricher,  Geotropismus  der  Mistel. 
385. 

H  i  1 1  n  e  r ,  Silene  dichotoraa,  erst  Unkraut, 
dann   Kulturpflanze.     314. 

Hoff  mann,  Düngung  und  Insekten- 
befall.    47. 

Ißleib,  M.  u.  St  rose,  Die  Reismelde 
als  deutsche  Getreidepflanze.     80. 

Kräasel,  R.,  Variation  der  Blattform  von 
Ginkgo  biloba  L.  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Paläobotanik.     405. 

Keilhack,  Tropische  und  subtropische 
Moore  usw.     637. 

Lampa,  A.,  Beobachtungen  über  das 
Leben  niederer  Pflanzen.     638. 

Lange,  R.,  Beitrage  zur  biologischen 
Blütenanatomie.     722. 

Lingelsheim,  Zur  Kenntnis  der  Deut- 
schen Tertiärfloren.     368. 

Lingelsheim,  Teratologische Beobach- 
tungen.    562. 

Lingelsheim,  Über  die  Fluoreszenz  wäss- 
riger  Rindenauszüge  von  Eschen  usw.  5  76. 

Molisch,  Über  das  Treiben  von  Wur- 
zeln.    533. 

M  o  1  i  s  c  h  ,  H  ,  Eigenartiger  Bau  des  Plas- 
makörpers.    644. 

Naturdenkmal  Deutsch  •  Südwestafrikas 
unter  britischem  Schutze.     26. 

Pack,  Ch.  L.,  Die  Gefährdung  der ame- I 
rikanischen  Waldungen  durch  den  Wey-  | 
mouthkieferblasenrost.      128. 

Pander,  H.,  Einwanderung  einer  ameri- I 
kanischen  Pflanze  nach  Norwegen.     1 12. 

Plaetzer,  H.,  Assimilation  und  Atmung  j 
von  Wasserpflanzen.     722.  [ 

Reese,  L.,  Zerstörung  von  Ziegelmauer- 
werk durch  Organismen.     26. 

Sauvageau,  C,  Geschlechtlichkeit  bei 
den  Laminarien.     578. 

Stern,  K.,  Die  Entwicklung  der  Nepen- j 
thaceen.     6  5. 

Ströse,  s.  Ißleib. 

T  h  e  1 1  u  n  g ,  Neue  Wege  der  pflanzlichen 
Systematik.     81. 

Thellung,  Stratiobotanik.     723. 

Theune,  E.,  Fruchtbildung  geokarper 
Pflanzen.     724. 

U 1  e ,  E.,  Die  Vegetation  des  Amazonas- 
gebietes.   615. 

Wettstein,  Fr.  von,  Beobachtungen 
über  das  Leben  niederer  Pflanzen.    63.**. 

Windel,  E,  Beziehungen  zwischen  Funk- 
tion und  Lage  des  Zellkerns.     437. 

Zlataroff,   Über  das  Altern  der  Pflanzen. 


D.    Geologie,  Paläontologie. 

Böker,H.E.  und  Frech,  F.,  Die  Kohlen- 
vorräte   des   Deutschen  Reiches.     248. 

Braun,  R.,  Laacher  Trachyt.   1S2. 

Bräunhäuser,  M.,  Rhätsandstein  im 
Schönbuch.     418. 

CIoos,  H.,  Zur  Entstehung  schmaler 
Störungszonen.     261. 

Daly,  R.  A.,  Theorie  der  Koralleninseln. 
563. 

De  ecke,  W.,  Gastropoden.     63. 

D  e  e  c  k  e ,  Paläobiologische  Studien.    386. 

Diener,  C,  Die  marinen  Reiche  der 
Triasperiode.      122. 

Escherich,  K.,  Bekämpfung  der  Läuse- 
plage.    549. 

Frech,  Fr.,  Kohlenvorräle  der  Welt.   189. 

Frech,  Fr.  s.  Böker,  H. 

Geinitz,  F.,  Die  neun  Endmoränen 
.Nordwestdeutschlands.     46. 

Goldschmidt,  Geologisch-Petrogra- 
phische  Studien  im  Hochgebirge  des 
südlichen  Norwegens.     362. 

Hohenstein,  V.,  Die  schwäbischen 
Eisenerzvorkommen.     179. 

Koert,  W.,  Über  den  Krusteneisenstein 
in  den  deutsch-afrikanischen  Schutz 
gebieten.      150. 

Kranz,  W.,  Geologie  und  Hygiene  im 
Stellungskrieg.     84. 

Kranz,  W. ,  Wasserversorgung  durch 
oflene  Gräben.     665. 

Kranz,  W.,  Die  Beschaffung  von  Roh- 
slofi'en  des  Bodens  für  militärische  Er- 
fordernisse.    693. 

K  r  u  s  c  h  ,  Die  Bodenschätze  Belgiens.  1 79. 

Lara  brecht.  K.,  Osteologische  Ver- 
gleiche an  fossilen  Vogriresten.     46. 

Leuchs,  K.,  Die  Geologie  des  mazedo- 
nischen Kriegsschauplatzes.      473. 

Loewinson-Lessing,  F.,  Vulkane  und 
Laven  des  zentralen  Kaukasus.     24. 

Moritz,  Die  Goldlagerstätten  Arabiens. 
607. 

M  ü  g  g  e ,  O.,  Weilerwachsen  von  Orthoklas 
im  Ackerboden.     436. 

Offermann,  J.,  Beiträge  zur  Geologie 
der   Kolonie  Neupommern.     546. 

Range,  P.,  Grundwasserverhältnisse  im 
Namalande.     220. 

Richter,  R.,  Zur  stratigraphischen  Be- 
urteilung von  Caiceola.     648. 

Richter,   R.  u.  E.,  Die  Lichadiden  des 

Eifler  Devons.     549. 
Salomon,   W.,   Die  Bedeutung  derSoli- 
fluktion    für    die    Erklärung     deutscher 
Landschafts-    und    Bodenformen.     570, 
Scupin,  li,   Erdgeschichiliche   Entwick- 
lung   des    Zechsteins    im    Vorland    des 
Riesengebirges.     383. 
Scupin,  H.,   Die  Fossilführung  des  Zech- 
steins von  Niederschlesien.     406. 
Schlosser,  M.,  Die  z»itliche  und  räum- 
liche Verbreitung  u.  Stammesgeschichte 
der  fossilen  Fische,     668. 
Schroeder,    H.,    Eozäne  Säugetierreste 
aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.    66S. 
Schultz,  A.,    Die  nutzbaren  Mineralien 

des  Pamir.     666. 
Stremme,    Die    geologischen    Ursachen 
der  Zerstörung  von  Talsperren.     545. 

Walt  her,  J.,  Das  geologische  Alter  und 
die  Bildung  des  Laterits.     83. 


W  e  r  V  e  c  k  e ,  L.v.,  Die  Bodenschätze  Elsaß- 
Lothringens.      148. 

Willruth,  K.,  Die  Fährten  von  Chiro- 
therium.     70S. 

Wütschke,  J.,  Das  französisch-lothrin- 
gische Industriegebiet,  besonders  das 
Becken  Briey-Longwy.     148. 


E.  Völkerkunde,  Anthropologie, 
Urgeschichte. 

Greulich,  O.,  Die  Kreolen.    546. 

Kölsch,  A.,  Die  Eigenart  der  Musiker- 
scbädel.     412. 

Mollison,  Die   Maori.     449. 

Sarasin,  Bewohner  von  Neukaledonien 
und   der  Loyaltyinseln.     477. 

Schlaginhaufen,  Pygmäenproblem. 
311- 

Siegel,  Konzeptionsfähigkeit  und  Ge- 
schlechtsbestimmung beim  Menschen. 
670. 

Sokolowsky,  A. ,  Die  Psyche  der 
Malayen   und   ihre  Abstammung.     733. 


F.  Geographie,  Meteorologie. 

Barkow,  E.,  Turbulenz  und  Windände- 
rung mit  der  Höhe.     450 

Bigourdan,  G.  s.  Perot. 

Defant,  A.,  Vorhersage  des  Wetters.  48. 

Deslandres,  Geschützfeuer  und  Weiter- 
lage.    613. 

Halb  faß,  W.,  Der  Landzuwachs  an  den 
Küsten  Schleswig-Holsteins.     532. 

Helgesen,  Peary's  Entdeckerlatein  und 
die  amerikanischen   Polarkarten.     82. 

Houssay,   F.,  s    Perot. 

Hut  ton,  j.,  Einfluß  des  Geschützfeuers 
und  der  Minensprengungen  auf  die 
Witterung.     70Ü. 

Jessen,  O..  Das  Landschaftsbild  der 
trocknen  Champagne.     472. 

Koppen,  W.,  Vertikale  Gliederung  der 
täglichen  Windperiode  in  Zyklonen  und 
Antizyklonen.      182. 

Krebs,  VV.,  Mistpoeffer-Erscheinungen  an 
der  holländischen  Küste  infolge  einer 
nordenglischen  Explosion.     721. 

L  e  m  o  i  n  e ,  G.,  Geschützfeuer  und  Wetter- 
lage.    613. 

Perot,  A.,  Bigourdan,  G.  u.  Hous- 
say, F.,  Die  mit  dem  Artilleriefeuer 
zusammenhängenden  akustischen  Phäno- 
mene.    53. 

Sandström,  J.  W.,  Hydrographie  Neu- 
fundlands.    83. 

Sebert,  -Geschützfeuer  und  Wetterlage. 
613. 

Schmidt,  W.,  Zonen  abnormer  Hörbar- 
keit.   302. 

Schrödinger,  E.,  Äußere  Zone  ab- 
normer Hörbarkeit.      707. 

S  p  i  t  a  I  e  r ,  R.,  Taglicher  Gang  der  Wind- 
geschwindigkeit in  höheren  Luftschich- 
ten.    29. 

Sverdrup,  H.  U.,  Druckgradient,  Wind 
und  Reibung  an  der  Erdoberfläche.    86. 

Weber,  L.,  Die  Albedo  des  Luftplank- 
tons.     96, 


Register. 


G.    Chemie,  Mineralogie. 


Allen,  E.  s.  Pos njak. 

Böltger,  W.,  Herstellung  homogener 
Wolframkristallfäden  für  Glühlampen. 
399- 

Chi  Che  VVang  u.  Blunt,  C,  Chemie 
der  chinesischen  Dauereier.     317. 

Fajans,  K.,  Zur  Erkenntnis  der  Isotopen 
Elemente.     68. 

Gerlach,  Die  Einwirkung  von  gasför- 
migem Ammoniak  auf  Superphosphate 
usw.     667. 

Hedvall,  J.  A.,  Die  Abhängigkeit  der 
Reakiionsgeschwindigkeit  von  der  Korn- 
größe.    44. 

Hofmann,  K.  A.,  Aktivierung  von  Chlo- 
ratlösungen  durch  Osmiumtetroxyd  usw. 
237. 

Hönigschmid,  O.,  Isotope  Elemente. 
618. 

Hüttner,  E.  s.  Mylius,  F. 

J  a  n  z  e  n ,  Zerstörungen  von  Metallen  durch 
Wasser.     413. 

K  e  1  b  e  r ,  C,  Katalytische  Hydrogenisation 
organischer  Verbindungen  mit  unedlen 
Metallen.     275. 

Kremann,  R.  u.  Schniderschitsch, 
N,  Versuche  über  die  Löslichkeit  von 
Kohlensäure  in  Chlorophyllösungen. 
181. 

Kuß,  E.  s.  Stock,  A. 

Merwin,  H.  E.  s.  Posnjak. 

Mylius,  F.,  Reinheitsgrade  in  der  Her- 
stellung wichtiger  Metalle.     42. 

Mylius,  F.  u.  Hüttner,  E.,  Plaünund 
Leuchtgas.     44. 

Paul,  Th.,  Beziehungen  zwischen  der 
Wasserstoftlonenkonzentration  von  Flüs- 
sigkeiten und  ihrem  sauren  Geschmack. 
398. 

Platin,  Gewinnung  aus  Gesteinen.     618. 

Posnjak,  E.,  Allen,  E.T.  u.  Merwin, 
H.   E.,    Die    Sulfide    des   Kupfers.     78. 

Schlenk,  W.,  Eine  Reihe  sehr  inter- 
essanter Verbindungen.     40a. 

Schulz,  E.  H.,  Die  Veredelung  des  Zinks. 
79. 

Stock,  A.  u.  Kuß,  E.,  Das  Kohlenoxy- 
sulfid.     181. 

H.  Physik. 

Andren,  L.,  Zählung  und  Messung  der 
komplexen  Moleküle  einiger  Dämpfe 
nach  der  neuen  (Lenard'schen)  Konden- 
sationstheorie.    691. 

Arndt,  Elektrochemie  derTaschenlampen- 
batterien.     633. 

Debye,  P.  u.  Seh  err  er  ,P.,Raumgefüge 
der  Kohlensotffmodifikationen.     634. 

Elster  und  Gei  tel,  Stromschwankungen 
in  Vakuumröhren.     30. 

Geitel,  s.  Elster. 

Glühkathoden-Röntgenröhre.    490. 

Hell  mann,  Angebliche  Zunahme  der 
Blitzgefahr.     448. 

Herr,  W.,  Einfluß  der  Größe  der  Mole- 
küle auf  die  Löslichkeit.     490. 

König,  Atomistischer  Bau  der  Elektrizi- 
tät.    44S. 

Krogness,  O.  s.  Vegard. 

Küppers,  K.,  Präzisionsverfahren  zur 
Herstellung  genau  dimensionierter  Glas- 
rohre.    29. 

Kutter,  V.,  Analyse  schwingender  Trop- 
fen.    13. 


Mikola,  S.,  Lichtenberg'sche  Figuren. 
403- 

Rausch  V.  Traubenberg,  H.,  Rönt- 
genröhre usw.     548. 

Rubens,  Licht  und  Elektrizität.    578. 

Vegard,  L.  u.  Krogness,  O.,  Höhe  des 
Nordlichts.     403. 

Weber,  L.,  Verbesserung  der  Blitzab- 
leiter.    448. 

Wolfke,  M.,  Neue  Sekundärstrahlung 
der  Kanalstrahlen.     710. 


I.  Astronomie. 

Ainslie,  Vorübergang  des  Saturnringes. 
548. 

Guthnik  und  Prager,  Die  Veränder- 
lichen.    301. 

Lau,  Veränderungen  auf  dem  Mars.    346. 

Van  Maanen,  Spiralnebel.    489. 

Merril,  Chemische  Zusammensetzung 
der  Meteore.     462. 

Meteorsteine.     462. 

Neue  Sterne.     300. 

Oppenheim,  S.,  Bau  des  Universums. 
548. 

Photometrische  Bestimmung  der  Hellig- 
keit.    489. 

Stephan,  Vorgeschichtliche  Astronomie 
und  Zeiteinteilung.     86. 

Vegard,  L.,  u.  Krogness,  O.,  Höhe 
des  Nordlichts.     234. 

Wood,  Aufnahmen  mit  monochroma- 
tischem Licht  an  Himmelskörpern.     65. 


III.   Kleinere  Mitteilungen. 

Druckstöcke  aus  Hefe  (nach  H,  Blücher 
und  R.  Krause)  571. 

Epstein,  H.,  Mineralogische  Beobach- 
tungen in  Wallis.     529. 

Epstein,  H.,  Zur  Frage  der  Genese  von 
Spirula  und  anderer  Tintenfische.    232. 

Epstein,  Brasilianische  Säugetiere  und 
Vögel  im  naturhistorischen  Museum  zu 
Bern.      597. 

Eckardt,  W.  R.,  Weiteres  zur  Ethologie 
und  Psychologie  der  Anatiden,  insbe- 
sondere des  Schwarzschwanes.     254. 

Franz,  V.,  Farbenvariationen  von  Helix 
nemoralis.     121. 

Franz,  V.,  Das  deutsche  Tierleben  in  der 
verflossenen  Kälteperiode.    396. 

Franz,  V.,   Nesselfasergewinnung.     530. 

Berichtigung  dazu  583. 

Graefe,    Mineralöl    als   Speiseöl.      121. 

Hahn,  E.,  Zur  Geschichte  der  Ernährung. 
92. 

Hoffer,  W.,  Biologische  Beobachtungen 
am  Blindmoll     595. 

Hofmann,  A.,  Über  eine  merkwürdige 
Oszillation  des   Rheinspiegels.     677. 

Keyl,  Fr.,  Ein  Beispiel  für  die  Beein- 
flussung lokaler  Faunen  durch  den 
Weltkrieg.      10. 

Lüttschwager,  H.,  Bemerkungen  zur 
Tonerzeugung  der  Schwebefliegen.    397. 

May,  W.,  Antike  Vererbungstheorien.    9. 

Nölke,  Fr.,  Über  die  Hörbarkeit  des 
Geschützdonners.     253. 

Oettli,  Hufeisendünen  aus  Schnee.    593. 

Rabes,  Wandernde  Libellen.     531. 

Reisinger,  L. ,  Eine  prähistorische 
Operation.     231. 


R  ö  z  s  a ,  Fledertnausguanolager  in  der  Um- 
gebung von  Budapest.     434. 

Schumacher,  Samenverschleppung  durch 
die  Feuerwanze.     531. 

Zaunick,  R.,  Literatuihinweise  zuKiller- 
mann's  Aufsatz  über  „Die  Entdeckung 
der  Paradiesvögel",     594. 

Zieprecht,  E.,  Beobachtungen  über  das 
Vogelleben  im  Sommegebiet.     120. 


IV.  Bücherbesprechungen. 

Abderhalden,  E.,  Die  Grundlagen 
I  unserer  Ernährung  unter  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  Jetztzeit.  696. 
1  Abel,  0.,  Allgemeine  Paläontologie.  566. 
JAdloff,  P.,  Die  Entwicklung  des  Zahn- 
systems. 480. 
]  Arzneipflanzen-Merkblätter.     672. 

Aselmann,  E.,  Chemie  im  Kriege.    318. 

Asher,  L.,  Praktische  Übungen  in  der 
Physiologie.    69. 

Aus  dem  Leben  und  Wirken  von  Arnold 
Lang.     262. 

B  a  i  s  c  h ,  K.,  Gesundheitslehre  für  Frauen. 
151. 

Becher,  E.,  Die  fremddienliche  Zweck- 
mäßigkeit   der  Pflanzengallen  usw.    350. 

Beiträge  zur  Kenntnis  der  Meeresfauna 
Westafrikas.     Bd.  11,  Lief.  i.     334 

Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  und  Süß- 
wasserfauna     Deutsch  -  Südwestafrikas. 
Lief.   3.     304. 
Lief.   4.    334. 

Biesalski,  K.  u.  Würtz,  H.,  Verhand- 
lungen der  außerordentlichen  Tagung 
der  Deutschen  Vereinigung  für  Krüppel- 
fürsorge, E.  V.      166. 

Boas,  J.  E.  V.,  Zur  Auffassung  der  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse der  Tiere.     736. 

Bolle,  J.,  Die  Bedingungen  für  das  Ge- 
deihen der  Seidenzucht  usw.     453. 

Boruttau,  H.,  Fortpflanzung  und  Ge- 
schlechtsunterschiede desMenschen.  151. 

Brehm's  Tierleben.    IV.  Bd.     56. 

Brehm's  Tierleben,  Säugetiere.  4.  Bd.  263. 

Bronsart  v.  Schellendorf,  F.,  Afri- 
kanische Tierwelt,  III   u.  IV.     208. 

Calwer's  Käferbuch.     420. 

Dahl,  Fr.,  Die  Asseln  oder  Isopoden 
Deutschlands.     222. 

Das  Land  Goethe's  1914 — 1916,  ein  vater- 
ländisches Gedenkhuch.     31. 

Deutsches  Wörterbuch  für  die  gesamte 
Optik.     407. 

Dessoir,  M.,  Vom  Jenseits  der  Seele. 
695- 

D  i  1 1  r  i  c  h ,  O.,  Mittel  und  Wege  zur  Pilz- 
kenntnis.    319. 

Doelter,  C. ,  Die  Mineralscbätze  der 
Balkanländer   und  Kleinasiens.     439. 

Doflein,  F.,  Der  Ameisenlöwe.      167. 

Doflein,  Fr.,  Die  Fortpflanzung,  die 
Schwangerschaft  und  das  Gebären  der 
Säugetiere.     439. 

Einstein,  A.,  Über  die  spezielle  und  die 
allgemeine  Relativitätstheorie.     680. 

Exner,  F.  M.,  Dynamische  Meteorologie. 

494- 
Fauth,  Ph.,  15  Astronomische  Stereos  zur 

Unterstützung  des  Raumsinnes  usw.    364. 
Fitting,    H.,    Die    Pflanze    als    lebender 

Organismus.     726. 
Föppl,  A.,  Vorlesungen  über  Technische 

Mechanik.     623. 


Register. 


Frech,  F.,  Der  Kriegsschauplatz  in  Arme- 
nien und  Mesopotamien.     70. 

Frech,  Fr.,  Geologie  Kleinasiens  im 
Bereich  der  Bagdadbahn.     419. 

Freundlich,  E.,  Grundlagen  der  Ein- 
stein'schen  Gravilationstheorie.     368. 

Graetz,  L.,  Das  Licht  und  die  Farben. 
599- 

Graetz,  L.,  Die  Physik.     654. 

Greulich,  O.,  Peru,  Studien  und  Erleb- 
nisse.    263. 

G  r  i  m  s  e  h  1 ,  E.,  Lehrbuch  der  Physik.  279. 

Großmann,  j..  Das  Holz.     221. 

Großmann,  H.,  Englands  Kampf  um  den 
naturwissenschaftlichen  Unterricht.    349. 

Haber  lan  dt,  L.,  Über  Stoffwechsel  und 
Ermüdbarkeit  der  peripheren  NerTen. 
166. 

Haus  er,  O.,  Der  Mensch  vor  100  000 
Jahren.     599- 

Heim,  A.,  Geologie  der  Schweiz.     14. 

Henning,  H.,  Der  Geruch.     390. 

Henseling,  R.,  Sternbüchlein  für  191 7. 
364- 

Hertwig,  O.,  Das  Werden  der  Organis- 
men.    365. 

Hertwig,  K.,  Lehrbuch  der  Zoologie.  277. 

H  e  s  s  e  ,  A.  u.  G  r  o  ß  m  a  n  n  ,  St.,  Englands 
Handelskrieg  und  die  chemische  Indu- 
strie.    493. 

Hettner,  A.,  Englands  Weltherrschaft 
und  ihre  Krisis.     599. 

Hirt,  W.,  Ein  neuer  Weg  zur  Erforschung 
der  Seele.     392. 

Hoffmeister,  K.,  Kurze  Einführung  in 
die  Wunder    am    Sternenhimmel.     364. 

Junge,  G.,  Unsere  Ernährung.     696. 

K  e  i  b  e  1 ,  F.,  Über  experimentelle  Entwick- 
lungsgeschichte.    694. 

Killermann,  S.,  Blumen  des  heiligen 
Landes.     277. 

Kobert,  R.,  Über  die  Benutzung  von 
Blut  als  Zusatz  zu  Nahrungsmitteln.  421. 

Kohlrausch,  F.  und  Holborn,  L., 
Das  Leitvermögen  der  Elektrolyte  usw. 
653- 

Koppe,  M.,  Die  Bahnen  der  beweglichen 
Gestirne  im  Jahre  191 7.     440. 

Koßmat,  Fr.,  Paläogeographie,  Geolo- 
gische Geschichte  der  Meere  und  Fest- 
länder.    70. 

Kraepelin,  K.,     Exkursionsflora.     654 

Kunkel,  K.,  Zur  Biologie  der  Lungen- 
schnecken.    451. 

Lietzmann,  W.,  Riesen  und  Zwerge  im 
Zahlenreich.     451. 

Link,  G.,  Fortschritte  der  Mineralogie 
usw.     239. 

Lipschülz,  A.,  Physiologie  und  Ent- 
wicklungsgeschichte und  über  die  Auf- 
gaben des  physiologischen  Unterrichts 
an  der  Universität.     69. 

L  ö  h  n  er ,  L.,  Die  E.xkretionsvorgänge  im 
Lichte  vergleichend-physiologischer  For- 
schung.     151. 

Lohns,  H.,    Aus  Forst    und  Flur.     239. 

Lassar-Cohn,  Chemie  im  täglichen 
Leben.     419. 

Legahn, A.,  Physiologische  Chemie.  270. 

L  e  i  d  e  c  k  e  r ,  K.,  Im  Lande  des  Paradies- 
vogels.    334. 

Machatschek,  Fr.,  Gletscherkunde. 
492. 

Maurer,  Fr.,  Die  Bedeutung  des  biolo- 
gischen Naturgeschehens  und  die  Be- 
deutung der  vergleichenden  Morpho- 
logie.    734. 


Mehmke,  R.,  Leitfaden  zum  graphi- 
schen Rechnen.     440. 

Meißner,  K.,  Das  schöne  Kurland.   334. 

M  e  y  e  r ,  St.  u.  S  c  b  w  e  i  d  1  e  r ,  E.  v.,  Ra- 
dioaktivität.   622. 

Michels,  V.,  Goethe  und  Jena.     278. 

Mittag,  M.,  .Anfangsgründe  der  Chemie 
und  Mineralogie.      184. 

Möbius-Kobold,  Astronomie.     87. 

Müller,  A.,  Theorie  der  Gezeitenkräfte. 
30. 

Naef,  A.,  Die  individuelle  Entwicklung 
organischer  Formen  als  Urkunde  ihrer 
Slamraesgeschichte.     493. 

Neeff,  F.,  Gesetz  und  Geschichte.     598. 

Novellen  aus  dem  Tierleben.     239. 

O  e  tt  inge  r,  W.,  Die  Rassenhygiene  und 
ihre  wissenschaftlichen  Grundlagen.  335. 

Pax,  F..  Schlesiens  Pflanzenwelt.     318. 

Pflanzenreich.     221. 

Pilger,  R.,  Meeresalgen.     368. 

Posch  1,  V.,  Stoff  und  Kraft  im  Kriege. 
184. 

Rabenhorst's  Kryptogamenflora.  Die  Leber- 
moose.    221. 

Riebeseil,  P.,  Die  mathematischen 
Grundlagen  der  Variations-  und  Ver- 
erbungslehre.    240. 

Sachs,  A.,  Die  Bodenschätze  der  Erde. 
407. 

Sachs,  H.,  Bau  und  Tätigkeit  des  mensch- 
lichen Körpers.     184. 

Sachsze,    R.,    Chemische    Technologie. 
i      680. 

Sapper,  K.,  Geologischer  Bau  und 
Landschaftsbild.     581. 

Sarasin,  F.,  Streiflichter  aus  der  Ergo- 
logie  der  Neu-Kaledonier  und  Loyalty- 
Insulauer  auf  die  europäische  Prähistorie. 
I      693- 

1  Schaxel,  J.,  Über  den  Mechanismus  der 
Vererbung.     31. 

Schmidt,  F.  W.,  Bau  und  Funktion  der 
Siebröhre  der  Angiospermen.     735. 

C.  K.  Schneider's  Illustriertes  Handwörter- 
buch der  Botanik.     654. 

Schroeder,H.,  Die  Hypothesen  über  die 
chemischen  Vorgänge  bei  der  Kohlen- 
säure-Assimilation.    680. 

Schuster,  W.,  Die  Tierwelt  im  Welt- 
krieg.    735. 

Schwarzschild,  K.,  Über  das  System 
der  Fixsterne.     451. 

Soergel,  W.,  Das  Problem  der  Perma- 
nenz der  Ozeane  und  Kontinente.     567. 

Sommer,  G.,  Geistige  Veranlagung  und 
Vererbung.      183. 

Stadler,  H.,  .'\Ibertus  Magnus  De  ani- 
malibus  libri  XXVI.     71. 

Steinmann,  G.,  Die  Eiszeit  und  der  vor- 
geschichtliche Mensch.     351. 

Stempeil,  W.  u.  Koch,  A.,  Elemente 
der  Tierphysiologie.     70. 

Strasburger's  Lehrbuch  der  Botanik.     672. 

Süß,   E.,   Erinnerungen.      87. 
JThedering.F.,  Das  Quarzlicht  und  seine 
j       Anwendung  in  der  Medizin.      166. 

Thorbeck  e,  F.,  Im  Hochland  von 
Mittelkamerun.     263. 

T  o  b  I  e  r ,  Textilersatzstoflfe.    653. 

Trabert,  W.,  Meteorologie.     319. 

Tschermak,  A.  v.,  Allgemeine  Physio- 
logie.    69. 

Verworn,  M.,  Biologische  Richtlinien 
der  staatlichen  Organisation.     671. 

Warburg,  O.,    Die    Pflanzenwelt.     278. 


Warming-Gräbner,  Lehrbuch  der 
ökologischen  Pflanzengeographie.    347. 

Was  mann,  E.,  Das  Gesellschaftsleben 
der  Ameisen.      183. 

Werth,   E.,  Das  Eiszeitalter.     492. 

Westrußland  in  seiner  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  Mitteleuropas.     728. 

Wolff,  H.,  Karte  und  Kroki.     566. 

!  V.  Anregungen  und  Antworten. 

,  Anatomie  der  Wirbeltiere,  Literatur.    304, 

423- 
'  Alraun.     35J. 

i  Barometer,  Modell  Thöne.     656. 
^  Bewußtsein  im  Traum.     88. 
I  Blattminierer.      536. 
Brot,  Streckungsmittel  vor  loo  Jahren.    72. 
Culex  annulalus,    Variieren  der  Tonhöhe, 
i      608. 

I  Echophänomen.     456. 
Elster,  ihre  Zunahme  in  Deutschland.    136. 
Erdbebenursachen.     551. 
I  Erwiderung  (Lipschütz).     248. 
j  Farbensinn  der  Insekten.     735. 
I  Fronttiere  und  Etappentiere.     711. 
I  Gemälde,  Photographieren  derselben.   264. 
I  Gewehrschüsse,  Doppelklang.     15. 
j  Haferblatt,  krankes.     624, 
I  Hausschwamm,  Mittel  zu  seiner  Bekämp- 
fung.    608. 
Herbar,  eigentümliches.     152. 
Höhlenfauna.     240. 
Isostasie.     408. 
Infusorienerde.    640. 
Kant    und    Herder    als    Vorläufer    Weis- 

matm's.     223,  551. 
Kanonendonner,    seine    Hörbarkeit.      16, 

223. 
Kohlweißlinge,  Zug  der.     712. 
Kolbenschilf,  V'erwertung.     376. 
Krakatau,  Nachtrag  zur  Katastrophe.    454. 
Luftfarben    und    Schattenfarben    im    Ge- 
lände.    736. 
Luftwellen  als  Schlieren  sichtbar.  456,  583. 
Maskarenen,  ozeanisch?     581. 
Mehlerde  im  Anhaltischen   161 7.     496. 
Namenliste  der  Vögel,  Kritik.     654. 
Orniihologische  Beobachtungen  in  Galizien, 
Wolhynien    und    Russisch-Polen.      320. 
,  Ostruflland  und  Sibirien,  Vorgeschichte.  72. 
Paradiesvögel,  Entdeckung.     583. 
Phanerogamen  auf  den  Kriegsschauplätzen. 

335- 
Pfeiftöne,  Anfrage  über  Zustandekommen. 
223. 
I  Rechenmethoden  unserer  Feinde.     495. 
!  Schallerscheinung,  merkwürdige  im  Felde. 

655- 
Schnecken,  Kriechen.     623. 
1  Schwebefauna  der  Luft.     136. 
Sonnentau  als  Inseklenvertilger.     581. 
;  Sperlinge,  Abnahme.     656. 
j  Störche,   Familienleben.     581. 
Slräucher    und  Bäume,  Bestimmungsbuch. 

136,  304- 
Strichzeichnungen,     Photographieren    der- 
selben.    264. 
Tierarten,  Zunahme  im  Kriege.    454,  656. 
;  Tiere,  Bestimmung  freilebend  beobachteter. 

423- 
Tiere,  Genießbarkeit  mancher,  bishernicht 

beachteter.     624. 
Tierwelt,    Veränderung   durch    Kriegsein- 
flüsse.    640. 
Trepanation  alter  Schädel.     423. 


Register. 


Unsichtbare  im  Föhrenwalde.     423. 
Vervieltälligungsmethode,  russische.     281. 
Weiden,  epiphytische  Flora  der.     16,  223. 
Wünschelrute.     656. 
Wünschelrutenjubiläum.     424. 
Zikaden    und    Heuschrecken    bei    Goethe. 

496. 
Zwergwuchs  bei  Pflanzen.     536,  696. 


VI.   Verzeichnis 
der  Abbildungen. 

Alraun.      138,    139. 

Artesischer  Brunnen.     269. 

Bergsturz.     275. 

Braunkohle,  mikroskopische  Schnitte.  305. 

Calceola  sandalina.     649. 

Carpinus  grandis,  Blaltabdrücke.     217. 

Chamaeleon  deremensis.     89. 

Chamaeleon   bifidus.     89. 

Christian  II.  von  Sachsen.     607. 

Chromosomengarnituren  beiDrosophiliden. 

218. 
Clitocybe  cartilaginea.     432. 
Doline.     271. 


Drosophiia  ampelophila,  abnorme  Beine. 
651. 

Dürer's  Stich  „Die  vier  Hexen".      143. 

Erdoberfläche,  hypsometrische  Kurve.   703. 

Erdsimmerlmg.     431,  432» 

Fledermäuse   im   Winterschlaf.      434. 

Fliederzweige,  getrieben.     67. 

Gründwasserspiegel.     265,   2ö6. 

Hakea,  Blauformen.     617,  6 18. 

Hanf,  Ernte,  Röste,  Samengewinnung. 
249,  250. 

Haushahn,  Keimdrüsen.     570. 

Helix  nemoralis,   Farbenvariationen.     122. 

Hufeisendüne   aus  Schnee.     593. 

Karst,  Flußentwicklung.     273. 

Karstlandschaft.     271. 

Karstquelle.     273. 

Kohlweißlingspuppen.     219. 

Koniferenhölzer,  fossile.  Mikroskopische 
Ansichten.     305—308. 

Maischwamm.     430. 

Mißbildung  des  kleinen  Fingers,  Röntgen- 
bild.    463. 

Nervenregenerationen  beim  Igel.  626-628. 

New-Jersey  vor  und  nach  dem  Mücken- 
kriege.    63. 

Pock-Schwinde.     273. 

Paradiesvögel,  alte  Bilder,     409 — 411. 


Pontosphaera  huxleyi.Dichte-Verbreilungs- 
karte.     13. 
!  Quellen.     269. 

Quellhorizonte.     269. 

Regenrinnen.     676. 

Rutengänger.     39. 

Rutschungsterrasse.     275. 

Salix  longa,   Blattabdruck.     215. 

Schädeltrepanation,    prähistorische.     232. 

Schottenmönche,  Die  drei.      142, 
,  Schichtquelle.      269. 

Schwefelbakterien.     324 — 327. 
1  Seefelder  bei  Reinerz,  Ansichten.    662,  6Ö4. 

Seidenraupen.     730. 
•  Sophie  von  Brandenburg.     606. 

Talanzapfung.     677. 

Talgehänge,   Entwicklung.     673. 

Teafelslochhöhle,    schematischer    Grund- 
riß.    434. 

Ulmus    carpinoides.    Blattabdrücke.     216. 

Ulmus  longifolia.  Blattabdrücke.     216. 

Unz,  Austritt.     273. 

Urpberfläche,  Diagramm.     673. 

Vollameter.     469. 

Voratlantischer  Kontinentalblock.     705. 

Warme  Quellen    im  Schneegebirge.     270. 

Wolframkristallfädcn,  mikroskopische  Bil- 
der.    400,  401. 

Zertalung.     676. 


G.  Pälz'sche  Buctidr.  Lippe; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  7.  Januar  1917. 


Nummer  1. 


[Nachdruck  verboten." 


Atmung  und  Gärung. 

Von  Dr.  Egon  Eichwald  (Halle  a.   S.)- 


Die  ersten,  den  heutigen  Auffassungen  sich 
nähernden  Vorstellungen  über  das  Wesen  der 
Atmung  beschäftigten  sich  naturgemäß  mit 
der  Lungenatmung  der  Säugetiere.  Es  wurde 
gezeigt,  daß  die  Atmung  ein  durch  den  Sauer- 
stoff der  Luft  hervorgerufener  Verbrennungs- 
prozeß ist,  der  dazu  dient,  dem  Organismus  die 
nötige    Betriebsenergie    zur  Verfügung   zu   stellen. 


legt  wird.  Vor  den  bahnbrechenden  Buchn er- 
sehen Arbeiten  war  man  der  Ansicht,  daß  es 
unter  allen  Umständen  der  Gegenwart  lebender 
Zellen  bedürfe,  um  die  alkoholische  Gärung  her- 
vorzurufen, und  es  spielte  demgemäß  in  allen 
Diskussionen  über  die  Hefegärung  der  Begriff  der 
Lebenskraft  eine  große  Rolle,  bis  schließlich 
durch    die    Tatsache,    daß    vollkommen    zellfreie 


dachte  sich,   daß  dieser  Verbrennungsprozeß      Preßsäfte    die    gleichen    Erscheinungen    erzeugen 


Me 

in  den  Alveolen  der  Lunge  vor  sich  gehe,  ohne 
zunächst  an  den  zahlreichen  Schwierigkeiten  dieser 
Auffassung  Anstoß  zu  nehmen. 

Es  waren  zwei  Probleme,  die  mehr  und  mehr 
diese  erste  primitive  Verbrennungstheorie  er- 
schütterten: Erstens  die  zunächst  unerklärliche 
Tatsache,  daß  die  Verbrennung  im  Organismus 
bei    einer   Temperatur   stattfindet,    die    wesentlich 


können,  der  Nachweis  geführt  war,  daß  es  sich 
keineswegs  um  Lebenstätigkeilen  der  Zelle 
handelt,  sondern  um  Vorgänge,  die  durch  ein 
Ferment,  die  Zymase,  auch  außerhalb  der  Zelle 
reproduzierbar  sind.  Seitdem  hat  man  eine  große 
Zahl  solcher  „intrazellulären"  P'ermente 
isoliert  und  durch  diese  Isolierung  die  Bedin- 
gungen zu  eingehender  chemischer  und  physika- 
niedriger    ist    als    die    außerhalb  des    Organismus      lisch-chemischer  ^Erforschung  ihrer  Wirkungsweise 


zu  Verbrennungen  notwendige.  Und  zweitens  die 
Frage,  auf  welche  Weise  die  ohne  freien  Sauer- 
stoff lebenden  Organismen  ihre  Energie  sich  be- 
schaffen, eine  P>age,  die  um  so  entscheidender 
wurde,  als  durch  Pflüger  nachgewiesen  wurde, 
daß  P'rösche  auch  ohne  Sauerstoffzufuhr  noch 
längere  Zeit  Kohlensäure  ausscheiden.  Bei  zahl- 
reichen anaeroben  Pflanzen  wurde  dieses  eben- 
falls beobachtet,  vor  allem  bei  der  Hefe. 

Die  erste  Schwierigkeit  führte  zu  der  heute 
herrschenden  fermentativen  Auffassung 
der  Atmungsprozesse,  die  zweite  zu  der  Erkennt- 
nis der  Vorgänge  der  sogenannten  intramole- 
kularen Atmung,  die,  konsequent  durch- 
geführt, schließlich  die  Tätigkeit  der  Lunge  nur 
noch  auf  den  Austausch  von  Sauerstoff  und 
Kohlensäure  beschränkte,  dagegen  den  eigent- 
lichen Veratmungsprozeß  auch  bei  den  lungen- 
atmenden Tieren  in  das  Innere  des  Körpers  als 
intramolekulare  Atmung  verlegte.  Bei  beiden 
Vorgängen  wurde  die  auch  sonst  in  der  Ge- 
schichte der  Biologie  im  Vordergrunde  stehende 
alkoholische  Gärune    noch    ein   weiteres  Mal  ent- 


geschaffen. Denn  erst  jetzt  war  es  möglich,  die 
Permente  genau  zu  dosieren  und  dadurch  den 
Einfluß  ihrer  Menge  auf  den  Umsatz  der  zersetzten 
Substanzen  zu  studieren,  erst  jetzt  möglich,  den 
Einfluß  bestimmter  chemischer  Stoffe  zu  unter- 
suchen und  ein  Bild  über  den  genaueren  che- 
mischen Verlauf  der  sich  abspielenden  Umsätze 
zu  gewinnen.  Der  Erfolg  dieser  Arbeiten  war, 
daß  man  den  vorher  einfachen  Prozeß  in  eine 
Reihe  von  Zwischenstufen  zerlegte  und  im  Zu- 
sammenhang damit  das  vorher  als  einheitlich  be- 
trachtete Perment  „Zymase"  als  ein  Gemisch 
verschiedenartiger,  sich  gegenseitig  ergänzender 
I-'ermente  erkannte. 

Betrachten  wir  zunächst  die  chemische  Seite 
des  Problems. 

Bei  der  alkoholischen  Gärung  wird  Trauben- 
zucker nach  folgender  Formel  in  Alkohol  und 
Kohlensäure  zerlegt: 

C,H,.,0„  =  2  CH3CH2OH  +  2  CO.,. 

So  einfach  diese  P'ormel  aussieht,  so  unbe- 
friedigend muß  sie  trotzdem  bei   eingehender  Be- 


scheidend für  unsere  Vorstellungen    bei  den  Pro-  trachtung    bleiben,    da    sie    offenbar    einen    sehr 

zessen    der    Atmung,     da    sie    ja    ein     besonders  komplizierten  Zerfall    des  Traubenzucker-Moleküls 

augenfälliges    Beispiel     der    intramolekularen  At-  voraussetzt. 

mung  darstellt,  und  es  ist  deshalb  zuerst  not-  Die  Bemühungen,  Einzelheiten  über  den  Ab- 
wendig, uns  mit  den  augenblicklich  herrschenden  bau  des  Traubenzuckers  bei  der  Gärung  zu  er- 
Auffassungen   über  die  Gärungsvorgänge   vertraut  fahren,  führten  zuerst  zu  einer  Theorie,  die  durch 


zu  machen. 


Die  Hefegärung 


Die  Vorgänge  bei  der  Hefegärung  bestehen 
bekaimtlich  darin,  daß  Traubenzucker  unter  dem 
Einfluß  des  von    Buchner    isolierten  Fermentes, 


der  Zyi 


einen  hauptsächlich  im  Tierkörper,  unter  ge- 
wissen Bedingungen  aber  auch  im  Pflanzenkörper 
ablaufenden  Abbau  des  Traubenzuckers  nahe  liegt. 
Man  nahm  nämlich  an,  daß  zuerst  sich  Milch- 
säure bildet  und  daraus  Alkohol  und  Kohlen- 
säure.    Indessen  steht  dieser  Auffassung  entgegen, 


in  Alkohol    und  Kohlensäure    zer-      daß  Milchsäure  vollkommen  unvergärbar    ist  und 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  I 


also  nicht  als  Zwischenprodukt  bei  der  alkoho- 
lischen Gärung  vorausgesetzt  werden  kann.  Viel- 
mehr ist  es  wahrscheinlich,  daß  zunächst  irgend- 
eine andere,  leicnt  umsetzbare  Substanz  ent- 
steht, die  dann  je  nach  den  Bedingungen,  ent- 
weder Milchsäure  liefert  (im  Tierkörper  und  bei 
der  Milchsäuregärung)  oder  durch  weitere 
Zwischenstufen  hindurch  schließlich  Alkohol  und 
Kohlensäure  (alkoholische  Gärung).  Als  solche 
primäre  Abbaustufe  hat  man  vor  allem  den 
Glyzerinaldehyd  ins  Auge  gefaßt. 

Vor  allem  spricht  hierfür  der  von  Iwanow 
geführte  Nachweis,  daß  bei  der  Hefegärung  ein 
Triosephosphorsäureester  eine  Rolle  spielt,  d.  h. 
die  esterartige  Verbindung  von  Phosphorsäure 
mit  einem  Zucker  aus  3  Kohlenstoffatomen. 
Schon  früher  hatte  man  die  günstige  Einwirkung 
erkannt,  die  Phosphate  auf  den  Gärprozeß  aus- 
üben. J  w  a  n  o  w  ^)  wies  dann  nach,  daß  hierbei 
die  Phosphorsäure  esterartig  an  ein  Kohlen- 
hydrat gebunden  wird.  Ob  an  eine  Hexose 
oder  an  eine  Triose,  blieb  zunächst  zweifelhaft, 
aber  die  letzten  Untersuchungen  Euler's  und 
Fodor's  über  diesen  Gegenstand  sprechen  da- 
für, daß  sowohl  Hexose-  wie  Triosephos- 
phorsäureester auftreten.  Ungewiß  ist  hierbei 
nur  noch,  ob  diese  Phosphorsäureester  notwendige 
Zwischenstufen  des  Gärungsprozesses  bilden  oder 
vielleicht  als  Aktivatoren  der  Gärungsfermente 
d.  h.  als  Stoffe  wirken,  die  die  Gärungsfermente 
erst  wirksam  machen  und  sie  aus  einem  poten- 
tiellen in  einen  aktiven  Zustand  überführen. 
Solche  Stoffe  sind  ja  bei  zahlreichen  F'ermenten 
von  Bedeutung. 

Von  Euler  und  seinen  Schülern  wurde  auch 
festgestellt,  daß  es  sich  bei  der  Veresterung  der 
Phosphorsäure  mit  dem  Kohlehydrat  um  einen 
fermentativen  Prozeß  handelt  und  daß  das  be- 
treffende Ferment,  er  nennt  es  Phosphatese, 
von  den  übrigen,  bei  der  Hefegärung  in  Betracht 
kommenden  Fermenten  abtrennbar  und  also  eine 
selbständige  Komponente  des  Zymase-Systems 
ist.  Das  folgt  daraus,  daß  es  bei  schwach 
gärenden  Trockenhefen  möglich  war,  eine  Ver- 
esterung zugesetzter  Phosphorsäure  zu  erzielen, 
ohne  daß  Bildung  von  Alkohol  und  Kohlensäure 
auftrat.  Gleichzeitig  wurde  dann  auch  gezeigt,  daß 
nicht  der  ursprüngliche  Zucker  sich  mit  der  Phosphor- 
säure verestert,  sondern  irgendein  Umwandlungs- 
produkt. Sobald  man  nämlich  zu  einer  solchen 
unwirksamen  Hefe  reine  Glukoselösung  sowie 
Phosphorsäure  hinzusetzte,  trat  keine  Abnahme 
der  mit  Magnesiamischung  fällbaren  Phosphor- 
säure ein,  mit  anderen  Worten,  es  hatte  sich 
keine  Phosphorsäure  verestert.  Wohl  aber  war 
dies  der  Fall,  falls  man  bereits  angegorene 
Zuckerlösung  zusetzte,  die  also  bereits  Umwand- 
lungsprodukte der  Glukose  enthielt. 

Bevor  wir  eins  der  von  den  heutigen  For- 
schern aufgestellten  Schemen  des  Traubenzucker- 

')  Zeitschr.  f.  physiolog.  Chemie,    Bd.  50,    S.  2S1,    1907. 


abbaus  mitteilen ,  wollen  wir  zuerst  noch  die 
weiter  bekannten  Tatsachen  betrachten.  Hier 
ist  vor  allem  an  die  Forschungen  Neuberg's 
und  seiner  Schüler  über  „Zuckerfreie  Gä- 
rungen" zu  erinnern. 

Bereits  oben  sahen  wir,  daß  ein  gewichtiger 
Einwand  gegen  das  Auftreten  von  Milchsäure  als 
Zwischenprodukt  in  der  Unvergärbarkeit  dieser 
Substanz  durch  Zymase  vorliegt.  Auf  einem 
ähnlichen  Forschungsprinzip  beruhen  die  Arbeiten 
von  Neuberg,  der  eine  Reihe  der  verschieden- 
sten Substanzen  der  Hefe  darbot  und  aus  ihrem 
Verhalten  schloß,  ob  sie  als  Zwischenprodukte 
der  Gärung  in  Frage  kommen  oder  nicht.  Stets 
wenn  bei  Abwesenheit  von  Zucker  der  betreffende 
Stoff  unter  Kohlensäureentwicklung  vergoren 
wird,  liegt  offenbar  die  Möglichkeit  seines  Auf- 
tretens als  Zwischenprodukt  vor. 

Vor  allem  sind  es  eine  Reihe  von  organischen 
Säuren,  die  der  zuckerfreien  Gärung  unterliegen. 
Neuberg  nimmt  an,  daß  diese  Gärung  unter 
dem  P^influß  eines  bis  dahin  unbekannten  P"er- 
mentes,  der  „Ca rboxy  1  as e"  von  statten  geht, 
und  daß  diese  Carboxylase  auch  bei  der  normalen 
Gärung  mitwirkt,  also  zu  dem  Komplex  der  als 
Zymase  bezeichneten  Fermente  hinzugehört.  Aus 
Brenztraubensäure  wird  unter  dem  Einfluß  der 
Carboxylase  Acetaldehyd  und  Kohlensäure: 

CHgCOCQf^  =  CHgC^  +  CO., 
Brenztrauben-         Acetal-     Kohlen- 
säure dehyd        säure 

In  der  Tat  hat  man  bei  allen  Gärungen  das 
Auftreten  von  Acetaldehyd  feststellen  können. 
Auch  die  Salze  der  Brenztraubensäure  werden 
durch  die  Carboxylase  zersetzt  und  aus  der  dabei 
entstehenden  Kohlensäure  bilden  sich  kohlensaure 
Alkalien,  so  daß  also  aus  dem  Salz  einer  orga- 
nischen Säure  ein  fixes  Alkali  entstanden  ist,  ein 
Prozeß,  der  bei  höheren  pflanzlichen  Organismen 
allgemein  als  Veratmung  von  Pflanzensäuren  be- 
kannt ist. 

Es  sind  noch  sehr  zahlreiche  Substanzen  auf 
ihr  Verhalten  bei  der  zuckerfreien  Gärung  geprüft 
worden,  und  es  hat  sich  ergeben,  daß  fast  alle 
Säuren,  die  in  den  Sioffwechselprodukten  der 
Hefe  vorkommen,  von  der  Carboxylase  zersetzt 
werden.  Als  solche  kommen  z.  B.  in  Betracht 
die  Ameisen-  und  die  Essigsäure,  die  Glyzerinsäure 

und  vor  allem  die  Oxalessigsäure  C  OH^^^^'^'^OH 
Diese  Säure,  die  interessant  ist  wegen  ihrer  Be- 
ziehungen zur  Wein-  und  zur  Apfelsäure,  ist  be- 
sonders leicht  angreifbar.  Daß  es  sich  bei  diesen 
Zersetzungen  wirklich  um  ein  von  den  übrigen 
Zymaseenzymen  unterschiedenes  Ferment  handelt, 
läßt  sich  dadurcli  nachweisen,  daß  die  Zersetzung 
auch  nach  Abtötung  der  Hefe  mittels  Toluol  oder 
Chloroform  noch  weiter  vor  sich  geht.  Hierbei 
wird  der  Zymase  die  Möglichkeit  genommen,  ein- 
zuwirken, da  sie  als  intrazelluläres  Enzym  nur  nach 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


der  Zerstörung  der  Hefezellen  und  der  Gewinnung 
des  Hefepreßsaftes  zu  wirken  vermöchte.  Die 
Carboxylasewirkung  bleibt  jedoch,  trotz  der  Ab- 
tötung  der  Hefezellen  erhalten,  ebenso  wie  die 
Invertasewirkung,  ein  gleichfalls  in  der  Hefe  vor- 
handenes Ferment,  das  imstande  ist,  Rohrzucker 
in  Traubenzucker  und  Fruchtzucker  zu  zer- 
legen. 

Wir  sahen  oben,  daß  aus  Brenztraubensäure 
Kohlensäure  und  Acetaldehyd  entsteht.  Um 
diesen  Befund  für  die  Aufklärung  der  alkoholischen 
Gärung  fruchtbar  zu  machen,  müssen  sich  uns 
zwei  neue  Fragen  ergeben:  Einmal,  woher  die 
Brenztraubensäure  stammt  und  weiterhin,  ob  und 
in  welcher  Weise  aus  dem  Acetaldehyd,  der  bei 
allen  Hefegärungen  in  reichlicher  Menge  auftritt, 
.Äthylalkohol  entsteht.  Zuvor  jedoch  müssen 
wir  einige  allgemeinere  Bemerkungen  über  die 
bisher  geschilderten  Versuche  einschalten. 

Oftenbar  haben  wir  es  bei  der  alkoholischen 
Gärung  mit  einem  Proceß  zu  tun,  dessen  Ana- 
lyse aus  mehrerlei  Gründen  außergewöhnliche 
Schwierigkeiten    bietet.      Neben    der    Zersetzung 


des  Zuckers  in  Alkohol  und  Kohlensäure  laufen 
eine  Reihe  von  anderen  Zersetzungsprozessen  her, 
die  z.  T.  zu  organischen  Säuren,  wie  Essigsäure, 
Bernsteinsäure,  Buttersäure  und  anderen  führen, 
z.  T.  zu  Stoffen,  wie  Glyzerin  und  Amylalkohol. 
Es  wird  also  jedesmal,  wenn  wir  einen  bestimmten 
Prozeß  aus  dem  Gesamtvorgang  isoliert  haben, 
notwendig  sein  zu  entscheiden,  ob  dieser  Teil- 
prozeß zu  der  Hauptreaktion,  der  Zuckerzersetzung 
in  Alkohol  und  Kohlensäure  gehört,  oder  ob  er 
zu  einer  der  Nebenreaktionen  gehört,  die  von  Kohle- 
hydraten, Eiweißkörpern,  Fetten  oder  Pflanzen- 
säuren ausgehend  zu  den  mannigfaltigsten  Stoff- 
wechselprodukten hinführen. 

Für  die  Brenztraubensäure  dürfte  es  wahr- 
scheinlich sein,  daß  sie  von  den  Kohlehydraten 
abstammt  und  also  dem  Hauptprozeß  angehört. 
Da,  wie  oben  erwähnt,  aus  dem  Traubenzucker 
zunächst  eine  Triose  entsteht,  und  hier  vor  allem 
Glyzerinaldehyd  in  Frage  kommt,  so  haben  fol- 
gende Umwandlungen  sehr  viel  Gründe  für  sich, 
obwohl  sie  keineswegs  experimentell  in  allen 
Einzelheiten  klar  gestellt  sind: 


Traubenzucker  >  2CH.,OH  ■  CHOHCp^ 

Glyzeriiialdehyd 


CH.CO-C^ 
Methylglyoxal 


CH3COCQJ , 
Brenztraubensäure 
CHgCOCHaOH 
Brenztraubenalkohol 


CH.Cq  +  CO., 
Acetaldehyd 


•  CH3CH.,0H 
Alkohol 


Der  Übergang  vom  Glyzerinaldehyd  zum 
Methylglyoxal  geschähe  hierbei  durch  die  Ver- 
schiebung einer  Hydroxylgruppe,  ein  Vorgang, 
der  bei  biologischen  Reaktionen  nichts  Außer- 
gewöhnliches hat.  .^uch  der  folgende  Vorgang 
gehört  einer  Gruppe  von  Reaktionen  an,  die  sich 
sehr  häufig  in  der  Chemie  der  Zelle  verwirklicht 
findet.  Es  wird  nämlich  ein  Teil  des  Methyl- 
glyoxals  auf  Kosten  eines  anderen  Teils  oxydiert 
und  aus  dem  Aldehyd  entsteht  eine  Säure  sowie 
ein  Alkohol :  nämlich  Brenztraubensäure  und 
Brenztraubenalkohol,  der  isomer  mit  Glyzerin  ist 
und  ebenfalls  durch  Hydroxylverschiebung  leicht 
darin  übergeht. 
CHgCOCHoOH  isomer  CH.,OHCHOH-CH,OH 
Brenztraubenalkohol  Glyzerin. 

Wie  aus  der  Brenztraubensäure  dann  unter 
der  Einwirkung  der  Carboxylase  Acetaldehyd  und 
Kohlensäure  entstehen,  haben  wir  vorhin  näher 
ausgeführt.  Es  bleibt  also  nur  noch  der  letzte 
Schritt  zu  tun,  nämlich  zu  erklären,  wie  der 
Acetaldehyd  zu  Äthylalkohol  reduziert  wird, ' 
um  ein  wenigstens  vorläufiges  Bild  der  Zucker- 
vergärung zu  haben,  das  mit  den  bisherigen  ex- 
perimentellen Befunden   im  Einklang  steht. 

Für  die  Reduktion  des  Acetaldehydes  zu 
Äthylalkohol    ist   Wasserstoff   nötig,    und    es    ist 


sehr  wohl  möglich,  daß  dieser  Wasserstoff  ver- 
mittels einer  sogenannten  gekoppelten  Reaktion 
aus  den  Elementen  des  Wassers  bezogen  wird, 
wobei  dann  gleichzeitig  der  Sauerstoff  des  Wassers 
zu  C)x)-dationsprozessen  verbraucht  wird,  wie  sie 
z.  B.  bei  der  Umwandlung  von  Methylglyoxal  in 
Brenztraubensäure  erforderlich  sind.  Abgesehen 
von  dieser  Auffassung  ist  noch  eine  andere  möglich, 
daß  nämlich  das  entstandene  Gemisch  aus  Brenz- 
traubensäure und  Brenztraubenalkohol  (isomer 
Glyzerin)  sofort  bei  der  Zersetzung  Ahylalkohol 
liefert.  In  der  Tat  haben  Neuberg  und  Kerb 
den  Nachweis  geführt,  daß  bei  der  Einwirkung 
von  Hefe  auf  Brenztraubensäure  bei  Gegenwart 
von  Glyzerin  statt  Acetaldehyd  —  Äthylalkohol 
sich  bildet. 

Eine  wichtige  Aufgabe  für  jede  Gärungs- 
theorie wird,  aisgesehen  von  der  Erklärung  des 
Hauptprozesses,  die  Entstehung  der  bei  der  Gä- 
rung auftretenden  Nebenprodukte  sein.  Als  solche 
kommen  in  erster  Linie  höhere  Alkohole,  wie 
z.  B.  der  optisch  aktive  Amylalkohol,  ferner  auch 
organische  Säuren  sowie  Glyzerin  in  Betracht. 
Dabei  ist  dann  wiederum  ein  erschwerender  Um- 
stand, daß  diese  Nebenprodukte  je  nach  den 
Heferassen  stark  variieren  und  weiterhin,  daß  ein 
und  dasselbe  Endprodukt  aus  ganz  verschiedenen 
Ausgangsmaterialien  gebildet  sein  kann.    So  kann 


Naturwissenschaftliche  Wochenschriit. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


z.  B.  die  Brenztraubensäure  sich  außer  aus  Kohle- 
hydraten auch  aus  einem  Abbauprodukt  des  Ei- 
weiß, dem  Alanin,  sich  bilden.  Ebenso  kann  sich, 
wie  wir  sehen  werden,  Milchsänre  aus  Kohle- 
hydraten sowie  aus  Eiweißstofifen ,  ja  auch  aus 
anderen  Pflanzensäuren  bilden ,  so  daß  hier  in 
jedem  Falle  eine  sehr  vorsichtige  Beurteilung  der 
experimentellen  Befunde  geboten  ist. 


Die  Entstehung  höherer  Alkohole  ist  zuerst 
durch  die  Untersuchungen  von  Felix  Ehrlich 
klargestellt  worden.  Sie  entstehen  aus  Amido- 
säuren ,  also  aus  Spaltprodukten  des  Eiweiß- 
moleküls. Vor  allem  wies  Ehrlich  dies 
nach  beim  Amylalkohol ,  dem  sog.  Fuselöl.  Es 
entsteht  nach  folgender  Bruttogleichung  aus 
Isoleucin: 


^  J5'/CHCH.NH., .  C 
Isoleucin 


Qp^  +  H.3O  =  ^  []^j)CH.CH.,OH  +  CO.,  +NH3 
Amylalkohol. 


Indessen  haben  Neubauer  und  Fromberg') 
gezeigt,  daß  die  Umwandlung  des  Isoleucins  durch 
sogenannte  oxydative  Desaminierung 
geschieht.  Zunächst  bildet  sich  durch  Oxydation 
und  nachherige  Abspaltung  von  Ammoniak  eine 
ß-Ketosäure.  Diese  a-Ketosäure  wird  dann  unter 
Abspaltung  von  Kohlensäure  und  gleichzeitiger 
Reduktion  in  den  entsprechenden  Alkohol  über- 
geführt. Zweckmäßig  stellt  man  sich  dabei  vor, 
daß  die  Kohlensäureabspaltung  durch  Carboxylase, 


ähnlich  wie  bei  Brenztraubensäure  erfolgt,  und 
der  hierbei  entstehende  Aldehyd  weiter  zum  Al- 
kohol reduziert  wird. 

Es  ist  Neubauer  im  wesentlichen  gelungen, 
diese  Vorgänge  stufenweise  zu  verfolgen  und  da- 
durch die  Entstehung  höherer  Alkohole  aus  Amido- 
säuren  auf  die  angegebene  Weise  verständlich 
zu  machen. 

In  chemischen  Gleichungen  erhält  man  folgen- 
des Bild: 


QHj/^^-^^-^OH 
NR, 
Isoleucin 


.CH.CH.,OH 


Methyläthylbrenztraubensäure       Isovaleraldehyd  Isoamylalkohol. 


Von  den  anderen  Nebenprodukten  der  alko- 
holischen Gärung  sind  vor  allem  noch  die  ver- 
schiedenen sich  bildenden  Säuren  von  Interesse, 
und  zwar  hauptsächlich  deshalb,  weil  eine  Reihe 
von  niederen  Organismen  diese  Nebenreaktionen 
der  Hefe  zur  Hauptquelle  ihrer  Betriebsenergie 
ausgebildet  haben.  Dadurch  sind  andere  Typen 
von  Gärungen  entstanden,  die  je  nach  dem  ent- 
stehenden Hauptprodukt  als  Milchsäure-,  Butter- 
säure-, Capronsäuregärung  usw.  bezeichnet  werden. 

Zum  Teil  werden  diese  Säuren  auf  einfache 
Art     aus    Kohlehydraten     entstehen,     z.    B.     die 

Milchsäure  CHgCH- OH -Cqi^  aus  Glyzerinaldehyd 


CH.OHCHOHC^.  Bei  der  Bildung  der  ge- 
sättigten Fettsäuren  jedoch,  z.  B.  der  Buttersäure 
CHgCHgCHjCQp^  bedarf  es  einer  weitgehenden 
Reduktion,  über  deren  speziellen  Verlauf  wir  noch 
wenig  unterrichtet  sind.  Ohne  Zweifel  spielen 
außer  den  abbauenden  Prozessen  auch  synthetische 
Vorgänge  hierbei  eine  Rolle,  besonders  die  Kon- 
densation des  Acetaldehydes,  der  ja  bei  allen 
Gärungen  auftritt,  zu  Aldol,  der  dann  seinerseits 
sich  in  ,jOxybuttersäure  und  Buttersäure  ver- 
wandelt. 


CH3CQ  -j-  CH3CQ 
Acetaldehyd 


CH3CH.0HCH,,Cq 
Aldol 


■CHaCHOHCRC^f^ 
p'-Oxybuttersäure 


CH3CH.XH.X 
Buttersäure, 


O 

OH 


Aber  auch  aus  bereits  vorgebildeten  or- 
ganischen Säuren  können  gesättigte  Fettsäuren 
entstehen.  So  wies  Karezag  nach,  daß  Wein- 
säure bei  der  Gärung  sich  in  zahlreiche  andere 
Säuren  verwandelt,  in  Essigsäure,  Propionsäure, 
Bernsteinsäure  und  Milchsäure. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  experimentell  bereits 
nachgewiesenen  Umwandlungen  ist  also  außer- 
ordentlich groß  und  wird  dadurch  noch  ver- 
wirrender, daß  nicht  nur  die  einzelnen  Heferassen 

'j  Zeitschr.  f.  physiolog.  Chemie,    Bd.  70,  S.  336,    19 u. 


weitgehende  Unterschiede  aufweisen,  sondern  auch 
die  Anpassung  an  ihr  Nährsubstrat  keineswegs  so 
spezifisch  ist,  wie  bei  höheren  Organismen,  so  daß 
auch  ungewohntes  Nährmaterial  innerhalb  gewisser 
Grenzen  die  Stelle  der  normalen  Nährstoffe  er- 
setzen kann.  Ein  Befund,  der  bei  allen  Versuchen 
über  Gärung  sorgfältig  zu  berücksichtigen  ist. 
Bei  höheren  Organismen  pflanzlicher  und  tierischer 
Art  ist  diese  Anpassungsfähigkeit  nicht  mehr  in 
so  hohem  Maße  vorhanden,  so  daß  wir  erwarten 
dürfen,  dort  konstantere  Verhältnisse  anzu- 
treffen. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschafiliche  Wochenschrift. 


Die  intramolekul 


A  t  m  u  II  i 


Wenn  wir  jetzt  daran  gehen,  die  Vorgänge 
der  intramolekularen  Atmung  bei  höheren  sauer- 
stoftbedurfügen  Organismen  zu  studieren,  so  wird 
zunächst  von  Interesse  sein,  ob  der  Prozeß  der 
alkoholischen  Gärung  auch  von  höheren  pflanz- 
lichen oder  gar  tierischen  Organismen  als  hnergie- 
quelle  benutzt  werden  kann.  Für  pflanzliche 
Organismen  ist  dies  in  der  Tat  der  Fall.  Schon 
friiher  hatte  man  vereinzelt  Alkohol  in  den  Organen 
höherer  Pflanzen  nachgewiesen,  und  als  dann 
Pfeffer  seine  Theorie  der  intramolekularen 
Atmung  aufstellte,  daß  nämlich  alle,  auch  die 
aerobiüiischen  Atmungsvorgänge  auf  intramole- 
kularen Umsetzungen  beruhen,  da  war  man  nahe- 
zu allgemein  der  Ansicht,  daß  diese  intramole- 
kularen Reaktionen  ausschließlich  Vorgänge  der 
alkoholischen  Gärung  seien.  Später  gelang  es 
dann  Stoklasa,  aus  dem  Gewebe  zahlreicher 
höherer  Pflanzen  ein  P'ermentgemisch  zu  isolieren, 
das  die  wesentlichen  p:igeiischafien  der  Zymase 
besitzt,  vor  allem  also  Zucker  in  Alkohol  und 
Kohlensäure  spaltet.  Er  gewann  dieses  Ferment- 
gemisch aus  Pflanzengewebe  nach  der  von 
Büchner  zur  Gewinnung  von  Hefepreßsaft  be- 
nutzten Methode,  indem  er  das  Gewebe  zerrieb 
und  mittels  eines  Druckes  von  300— 400  Atmo- 
sphären den  Zellsaft  herauspreßte.  Aus  diesem 
Saft  ist  das  Fermentgemisch  mit  Alkohol  aus- 
füllbar. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  man  sich  die  Rolle 
dieses  Zucker  vergärenden  Enzyms  vorzustellen 
hat.  Offenbar  sind  zwei  Annahmen  möglich. 
Nach  der  einen  würde  die  alkoholische  Garuug 
ein  normaler  Vorgang  im  pflanzlichen  Stoffwechsel 
sein,  der  nur  deshalb  für  gewöhnlich  nicht  in  Er- 
scheinung tritt,  weil  der  gebildete  Alkohol  sofort 
weiter  oxydiert  wird ,  ehe  er  sich  in  größeren 
Mengen  ansammelt.  Nacfi  der  anderen  dagegen 
wurde  bei  aerober  Atmung  die  Zersetzung 
der  Kohlehydrate  überhaupt  nicht  bis  zum  Alko- 
hol gehen,  sondern  vorher  bereits  ein  Zwischen- 
produkt durch  oxydativen  Abbau  weiter 
zerlegt  werden.  Falls  aber  der  Sauerstoff  fehlt, 
so  würde  allerdings  unter  dem  Einfluß  der  Zy- 
mase sich  Alkohol  bilden. 

Mit  beiden  Auffassungen  ist  die  Tatsache  ver- 
einbar, daß  bei  Abschluß  der  Luft  fast  stets  eine 
erhebliche  Produküon  von  Alkohol  statthndet. 
Pal  ladin,  uud  ebenso  Kostyischew,  haben 
eingehende  Versuche  darüber  geniai-ht,  wie  viel 
Kohlensäure  und  wieviel  Alkohol  sich  bei  anae- 
erober  Atmung  verschiedener  Pflanzenteile  bilden. 
Dabei  haben  sie  die  Pflanzen  zunächst  durch 
Gefrieren  auf  —20"  abgetötet,  so  daß  die  erzielte 
Kohlensäureproduktion  ausschließlich  auf  Rech- 
nung enzymatischer  Prozesse  zu  setzen  ist.  Wäh- 
rend nämlich  das  Protoplasma  durch  längere 
Einwirkung  tiefer  Temperaturen  abgetötet  wird, 
sind  die  Fermente  ei  heblich  widerstandsfähiger. 
Dadurch  ist  es  möglich,    ihre  Wirkung    rein    und 


unbeeinflußt*durch  die  Tätigkeit  des  Protoplasmas 
zu  erforschen. 

Aus  den  Versuchen  Palladin's  und  Kos ty- 
tschew's  ergibt  sich,  daß  in  zahlreichen 
Fallen  allerdings  ein  erheblicher  Teil  der  an  ae- 
roben Kohlensäure-Entwicklung  aus  alkoho- 
lischer Gärung  stammt,  in  anderen  F'ällen  jedoch 
nur  wenig,  oder  gar  kein  Alkohol  gebildet  wird. 
Die  beiden  Forscher  verfuhren  folgendermaßen: 
Sie  töteten  das  zu  untersuchende  pflanzliche 
Organ  durch  Erfrieren  ab,  brachten  es  dann, 
um  die  anaerobe  Atmung  zu  studieren,  in  einen 
Wasserstoffstrom  und  maßen  die  ausgeschiedene 
Kohlensäure.  Ebenso  bestimmten  sie  auch  den 
gebildeten  Alkohol. 

Bei  der  Zuckergärung  müßte  auf  i  Molekül 
Kohlensäure  1  Molekül  Alkohol  sich  bilden.  In 
Vk'irklichkeit  wurde  fast  immer  weniger  Alkohol 
gebildet,  oft  überhaupt  keiner.  Daraus  folgt 
dann,  daß  bei  anaerober  Atmung  die  alko- 
holische Gärung  häufig  zwar  eine  mehr  oder 
weniger  große  Rolle  spielt,  ganz  gewiß  aber  nicht 
der  einzig  verlaufende  Prozeß  ist,  vielmehr  durch 
andere,  ebenfalls  Kohlensäure  erzeugende  Ferment- 
reaktionen ersetzt  wird.  Bei  aerober  At- 
mung wurde  fast  überhaupt  kein  Alkohol  ge- 
bildet. 
Die  Atmung  im    tierischen  Organismus. 

Bevor  wir  die  Vorgänge  im  pflanzlichen  Ge- 
webe weiter  verfolgen,  wollen  wir  einen  orien- 
tierenden Blick  auf  die  Atmungsvörgänge  im 
tierischen  Organismus  werfen. 

Hier  tritt  uns  sofoit  mit  viel  größerer  Dring- 
lichkeit die  Frage  entgegen ,  in  welcher  Weise 
der  Sauerstoff  der  Luft  in  die  Atmungsvorgänge 
eingreift.  Auch  bei  der  pflanzlichen  Atmung  ist  diese 
PVage  selbstverständlich  nicht  zu  umgehen,  aber, 
da  auch  die  höheren  Pflanzen  einige  Zeit  ohne 
Sauerstoff  zu  atmen  vermögen,  ist  die  Rolle  des 
Sauerstoffs  nicht  so  in  die  Augen  fallend  wie  beim 
höheren  Tier.  Daß  umgekehrt  trotz  der  dauernd 
notwendigen  Zufuhr  von  Sauerstoff  auch  im 
höheren  Tier  ständig  Umsetzungen  verlaufen, 
die  denen  der  Pflanzen  analog  sind,  ist  durch 
die  Forschungen  Embden's  und  seiner  Schüler 
sicher  gestellt.  Hier  interessiert  uns  davon  na- 
mentlich die  Umsetzung  der  Kohlehydrate.  Die 
genannten  Forscher  verfuhren  in  der  Weise,  daß 
sie  untersuchten,  was  aus  dem  zu  Blut  hinzugesetzten 
Traubenzucker  wurde,  wenn  sie  das  Blut  durch 
eine  überlebende  Leber  hindurch  leiteten.  Es 
zeigte  sich,  daß  stets  eine  Vermehrung  des  Milch- 
säuregehahes  stattfand.  Auch  wenn  Blut  durch 
glykogenhaltige  Leber  hindurchfloß,  ergab  sich 
eine  Vermehrung  der  Milchsäure,  nicht  jedoch, 
■  wenn  die  Leber  vorher  durch  Hungern  des  Tieres 
vom  Glykogen  befrrii  war.  Dadurch  ist  ein- 
deutig bewiesen,  daß  Milchsäure  ein  Abbauprodukt 
des  Traubenzuckers  im  lierischen  Orgamsmus  ist, 
ohne  daß  Traubenzucker  allerdings  der  einzigste 
Stoff   ist,    aus    dem   Milchsäure    entsteht.      Denn 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


auch  aus  Eiweißabbauprodukten,  wie  Alanin,  ver- 
mag Milchsäure  sich   zu  bilden. 

Embden  hält  es  für  wahrscheinlich,  daß  aus 
dem  Traubenzucker  zunächst  Glyzerinalde- 
hyd gebildet  wird.  Und  zwar  würde  es  sich 
um  optisch  aktiven  Glyzerinaldehyd  handeln,  da 
die  daraus  entstehende  Milchsäure  ebenfalls  op- 
tisch aktiv  ist.  In  der  Tat  hat  sich  bei  Leber- 
durchblutungsversuchen herausgestellt,  daß  Gly- 
zerinaldehyd in  hohem  Maße  als  Milchsäurebildner 
wirkt.  Auch  im  Blute  wird  aus  Zucker  zunächst 
Milchsäure  gebildet.  Dagegen  ist  bei  der  seit 
langem  schon  bekannten  Bildung  von  Milchsäure 
im  arbeitenden  Muskel  nicht  ausschließlich  der 
Traubenzucker  die  milchsäurebildende  Substanz, 
sondern  eine  andere,  noch  nicht  näher  charakte- 
risierte Verbindung,  die  Embden  vorläufig  als 
Lac  tac  i  d  og  e  n  bezeichnet.  Es  ergab  sich  näm- 
lich, daß  die  im  Muskelpreßsaft  gebildete  Milch- 
säuremenge unabhängig  war  von  der  Menge  von 
zugesetztem  Traubenzucker  oder  Glykogen.  Im 
lebenden  tätigen  Muskel  wird  sich  wahrscheinlich 
auch  aus  diesen  Substanzen  Milchsäure  bilden, 
aber  es  ist  anzunehmen,  daß  auch  hier  die  als 
Lactacidogen  bezeichnete  Zwischenstufe  durch- 
laufen wird. 

Bis  zum  Abbau  des  Traubenzuckers  zur  Milch- 
säure ist  energetisch  noch  kaum  eine  Ände- 
rung eingetreten,  so  daß  es  nur  einer  geringen 
Zufuhr  von  Energie  bedarf,  um  aus  der  Milch- 
säure Traubenzucker  zurückzubilden.  Diese  Ten- 
denz, seine  Substanzen  möglichst  wenig  abzu- 
bauen, findet  man  allgemein  bei  den  che- 
mischen Vorgängen  in  den  Organismen.  Be- 
sonders gilt  dies  für  alle  hydrolytischen  Prozesse, 
alle  jene  Vorgänge  also,  die  durch  die  zerlegende 
Wirkung  des  Wassers  hervorgerufen  werden,  so 
z.  B.  die  Aufspaltung  der  Eiweißkörper  und  der 
Fette,  auch  die  des  Glykogens  oder  der  Stärke 
in  Traubenzucker.  Solange  wie  möglich  sucht 
der  Organismus  seinen  Energiebestand  intakt  zu 
halten,  und  sich  die  Möglichkeit  zu  bewahren, 
leicht  aus  den  Zersetzungsprodukten  die  ursprüng- 
lichen Stoffe  zurückzubilden.  Auf  der  Stufe  der 
Milchsäure  ist  dies  noch  ohne  Mühe  durchfuhr- 
bar, und  ebenso,  wie  sich  in  zuckerreichem  Blute 
bei  der  Leberdurchbluiung  Milchsäure  bildet, 
ebenso  bildet  sich  auch  umgekehrt  in  milchsäure- 
reichem Blute  Traubenzucker  unter  Verbrauch  der 
Milchsäure. 

Erst  bei  dem  nächsten  Schritt  kommt  es  zu 
einem  Eingrifif,  der  schwerer  reversibel  ist.  Aus 
der  Milchsäure  bildet  sich  Brenztraubensäure, 
derselbe  Stoff  also,  mit  dem  wir  uns  oben  bei  der 
alkoholischen  Gärung  eingehend  beschäftigt  haben. 
Weiterhin  entsteht  dann  in  der  Leber  aus  Brenz- 
traubensäure die  Acetessigsäure  und  hieraus  durch 
Kohlensäureabspahung  Aceton.  Diesen  Reaktions- 
verlauf erklärt  man  wohl  am  besten,  wenn  man 
annimmt,  daß  die  Brenztraubensäure  sich  in  Acet- 
aldehyd  und  Kohlensäure  zersetzt  und  der  Acet- 
aldehyd  sich  zy  Aldol  kondensiert,  der  sich  durch 


Oxydation  in  Acetessigsäure  umwandelt.  Es  er- 
gäbe sich  also  folgendes  Schema  des  Zucker- 
abbaus im  tierischen  Organismus:  ^) 


d-Glukose 

it 

I.  Aktiver  Glyzerinaldehyd 

It 

11.  d-Milchsäure 

it 

III.  Brenztraubensäure 

i 

IV.  Acetaldehyd 


Essigsäure 
CH3C0H 


CH,.OH.(CHOH),Cj^ 


CH2OHCHOHC 


CHgCH-OH-C, 


OH 


CH3CO  •  Cqji 


Acetessigsäure 


CHXOCHX, 


2^0H 


Außer  dieser  Art  des  Abbaus  dürften  aber  noch 
andere  Arten  vorkommen,  wie  sich  vor  allem 
aus  dem  Auftreten  von  Glukuronsäure  schließen 
läßt.  In  diesem  Falle  würde  bereits  an  dem  in- 
takten Zuckermolekül  eine  Oxydation  einsetzen 
und  erst  nachher  eine  Zertrümmerung  des  Mole- 
küls in  kleinere  Teile  erfolgen.  Leider  ist  über 
diese  Form  des  oxydativen  Abbaus  noch  wenig 
bekannt.  Deshalb  wenden  wir  uns,  anstatt  uns 
weiter  darin  zu  vertiefen,  einer  näheren  Betrachtung 
der  oxydativen  Pjozesse  zu. 

Im  tierischen  Organismus  setzen  diese,  falls  wir 
das  oben  mitgeteilte  Schema  zugrunde  legen,  bei 
dem  Übergang  von  Milchsäure  in  Brenztrauben- 
säure ein.  Wie  findet  nun  diese  Oxydation  statt? 
Ist  der  Ort  dieser  Oxydation  im  Blut  oder  im 
Gewebe?  Und  weiterhin:  Findet  sich  im  Blut 
oder  im  Gewebe  freier  Sauerstoff  oder  gibt  es 
andere  Substanzen,  die  die  oxydative  Wirkung  zu 
entfalten  vermögen? 

Zunächst  ist  nachgewiesen,  daß  ein  Teil  der 
Oxydation  im  Blute  stattfindet,  und  zwar  sind  es 
die  Formelemente  des  Blutes,  welche  die 
Oxydation  bewirken.  Dabei  spielt  dann  das 
Hämoglobin  des  Blutes  die  Rolle  eines  Sauerstoff- 
überträgers, indem  es  sich  mit  dem  Sauerstoff 
der  Lult  zu  Oxyhämoglobin  verbindet  und  den 
aufgenommenen,  nur  lose  gebundenen  Sauerstoff 
an  die  oxydationsfähigen  Substanzen  weitergibt. 
Aber  auch  in  den  Geweben  findet  bereits  eine 


')  Vgl.  G.  E  m  b  d  e  n  und  M.  O  p  p  e  n  h  e  i  m  e  r ,  Biochf 
Zeitschr.  45,  202. 


N.  F.  XVI.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Oxydation  statt,  wie  vor  allem  durch  die  P  f  1  ü  g  e  r  - 
sehen  Versuche  nachgewiesen  ist.  Pflüger  er- 
setzte nämlich  das  Blut  von  P'röschen  durch 
physiologische  Kochsalzlösung  und  fand,  daß  so 
behandelte  F~rösche  in  einer  Atmosphäre  von 
reinem  Sauerstoff  noch  etwa  2  Tage  zu  leben 
vermochten  und  Kohlensäure  ausschieden  und  zwar 
ebensoviel ,  wie  normale  Frösche.  Es  ist  nicht 
anzunehmen,  daß  hierbei  erhebliche  Oxydationen 
in  der  Kochsalzlösung  vor  sich  gehen,  zumal  dann 
nicht,  wenn  man  bedenkt,  daß  in  der  Kochsalz- 
lösung vollkommen  die  Formelemente  fehlen,  die 
im  Blute  Träger  der  Oxydationswirkungen  sind. 
Auch  bei  den  niederen  Tieren,  die  noch  kein 
Blutgefäßsystem  besitzen,  findet  die  Oxydation 
notwendigerweise  in  den  Geweben  statt,  da  sie 
bei  Entziehung  des  freien  Sauerstoffs  sehr  bald 
zugrunde  gehen.  Daß  aber  andererseits  bei  den 
höheren  Tieren  auch  im  Blute  Oxydationsprozesse 
verlaufen,  geht  aus  dem  Verhalten  des  Blutes  er- 
stickter Tiere  hervor.  Normales  Blut  enthält  nur 
geringe  Mengen  von  oxydablen  Stoffen.  Infolge- 
dessen verschwindet  freier  Sauerstoff,  der  zu 
normalem  Blute  außerhalb  des  Körpers  hinzugefügt 
wird,  nur  sehr  allmählich.  Anders  ist  dies  aber, 
wenn  die  Tiere  erstickt  sind,  wenn  also  die  aus 
den  Geweben  ins  Blut  gelangenden  oxydablen 
Stoffe  aus  Mangel  an  Sauerstoff  nicht  oxydiert 
werden  konnten.  Das  Blut  ist  dann  reich  an  re- 
duzierenden Substanzen  und  in  der  Tat  ver- 
schwindet Sauerstoff,  der  zu  Erstickungsblut  hinzu- 
gefügt wird,  mit  großer  Geschwindigkeit  unter 
Bildung  von  Kohlensäure. 

Wir  können  also  sagen,  daß  sowohl  das  Ge- 
webe als  auch  das  Blut  die  Orte  sind,  wo  die 
Oxydationen  stattfinden.  So  bleibt  uns  noch  die 
PVage  zu  beantworten ,  in  welcher  Weise  diese 
Oxydationen  vor  sich  gehen,  ob  durch  freien  Sauer- 
stoff oder  mit  Hilfe  anderer  Substanzen.  Nun 
ist  allerdings  in  einigen  Organen,  z.  B.  in  der 
Speicheldrüse,  in  der  Plazenta  der  Säugetiere,  in 
den  Leuchtorganen  von  Lampyris  splendidula  das 


OH 


OH-H 


Auftreten  freien  Sauerstoffs  nachgewiesen,  aber, 
wie  wir  oben  sahen,  ist  aus  chemischen  Gründen 
eine  einfache  Oxydation  durch  freien  Sauerstoff 
gänzlich  unbegreifbar.  Wir  müssen  die  neueren 
Forschungen  der  Pflanzenphysiologie  zugrunde 
legen,  um  in  das  Innere  der  hierbei  verwendeten 
Mechanismen  einen  Einblick  zu  gewinnen,  möchten 
aber  zum  voraus  darauf  hinweisen,  daß  es  sich 
hierbei  um  komplizierte,  nicht  ganz  leicht  zu 
verstehende  Vorstellungen  handelt.  Indessen  sind 
sie  von  so  fundamentaler  Bedeutung  für  das 
Verständnis  der  Atmungsvorgänge,  daß  wir  zum 
Abschluß  unserer  Betrachtungen  eine  kurze  Dar- 
stellung dieser  Theorien  geben  wollen. 

Die  Oxydationsfermente. 

Zunächst  eine  chemische  Betrachtung. 

Bei  der  Oxydation  eines  Körpers  durch  den 
Sauerstoff  der  Luft  hat  sich  ergeben,  daß  fast 
stets  außer  den  eigentlichen  Oxydationsprodukten 
noch  andere  weniger  beständige  Stofte  auftreten. 
Und  zwar  handelt  es  sich  dabei  um  Stoffe,  die 
ihrerseits  eine  erheblich  größere  Oxydationsfähigkeit 
besitzen  als  der  freie,  molekulare  Sauerstoff.  Es 
können  also  unter  ihrem  Einfluß  Oxydationen  ein- 
treten, die  der  freie  Sauerstoff  der  Luft  nicht  zu 
bewirken  vermag,  mit  anderen  Worten,  es  ist  eine 
Aktivierung  des  Sauerstoffes  eingetreten. 

Zwei  Arten  einer  solchen  Aktivierung  kommen 
hierbei  hauptsächlich  in  Betracht:  Das  Auftreten 
von  Wasserstoffsuperoxyd  und  das  Auftreten 
anderer  Peroxyde.  Der  erste  Fall  tritt  ein  in 
jenen  Fällen,  die  der  Traube 'sehen  Oxydations- 
theorie folgen.  Nach  Traube  wirkt  nicht  der 
iTiolekulare  Sauerstoff  als  oxydierendes  Agenz, 
sondern  zunächst  wird  Wasser  in  H  und  OH 
gespalten.  Die  Hj'droxylionen  treten  an  die  zu 
oxydierende  Substanz,  während  die  freien  Wasser- 
stoffionen mit  Sauerstoff  zusammen  Wasserstoff- 
superoxyd bilden.  Der  Vorgang  wäre  also  z.  B. 
bei  der  Oxydation  von  Oxanthranol  zu  Antrachinon 
folgender : 

OHx  /OH 


C„H,  (     >CeH,  +  +0,  =  C,;H,\      /QH,  +  H.,0, 

"    ^\C/    «    "^OH-H^    '         "    'V/ 


OH 
Oxanthranol         Wasser 


OH 


OH 


Ist  der  Reaktionsverlauf  richtig  formuliert,  so 
muß  die  doppelte  Menge  Sauerstoff  bei  der  Oxy- 
dation verbraucht  werden,  als  wenn  kein  Wasser- 
stoffsuperoxyd entstünde,  eine  Folgerung,  die  nach 
Manchot  mit  dem  experimentellen  Befund  über- 
einstimmt. Gleichzeitig  vermag  jetzt  das  Wasser- 
stoffsuperoxyd neue,  durch  freien  Sauerstoff  nicht 
vollziehbare  Oxydationen  in  Gang  zu  setzen. 

Eine  andere  Reihe  von  Oxydationen  verläuft 
nach   dem    von  Engler   und  Wild,   sowie   von 


Bach  undChodat  entwickelten  Schema.  Hier- 
nach entstehen  zunächst  Substanzen  vom  Charakter 
der  Peroxyde  nach  folgender  Gleichung: 

A  +  O,  =  AO.,. 

Diese  peroxydartigen  Verbindungen,  wie  sie 
z.  B.  von  den  katalytisch  wirkenden  Platinmetallen 
bekannt  sind,  vermögen  jetzt  leicht  die  Hälfte, 
häufig  sogar  den  ganzen  aufgenommenen  Sauer- 
stoff weiterzugeben  und  dadurch  selbst  schwierige 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  I 


Oxydationen  hervorzurufen.  Man  nennt  diesen 
zweiten  Stoff  den  Acceptor,  und  es  ist  be- 
merkenswert, daß  nicht  nur  der  Acceptor  durch 
das  Peroxyd  stärk-er  als  durch  Luftsauerstoff  oxy- 
diert wird,  sondern  daß  häufig  auch  umgekehrt 
die  Gegenwart  eines  Acceptors  die  Oxydations- 
geschwindigkeit des  ersten  Stoffes  erhöht.  Dies  ist 
i.  B.  der  Fall  bei  der  Oxydation  von  Ferrosulfat 
an  der  Luft,  die  unter  normalen  Bedingungen  nur 
sehr  allmählich  verläuft,  schnell  dagegen  bei  Zusatz 
einer  alkalischen  Lösung  von  arseniger  Säure. 
Hierbei  bildet  sich  zunächst  eine  Peroxydverbindung 
des  Eisens,  die  dann  die  Hälfte  ihres  Sauerstoffs 
an  die  arsenige  Säure  abgibt  und  dabei  selbst  zu 
Ferrisalz  reduziert  wird. 

Es  scheint  nun  auf  Grund  der  Arbeiten  Bach 
und  Chodat's"),  daß  die  beiden  angeführten 
Oxydationstypen  eine  große  Rolle  bei  den  At- 
mungsprozessen spielen.  Und  zwar  handelt  es 
sich  um  fermentative  Prozesse,  da  durch  Erhitzen 
auf  höhere  Temperatur  die  betreffenden  Vorgänge 
vernichtet  werden. 

Zunächst  wiesen  die  genannten  Forscher  nach, 
daß  bei  den  pflanzlichen  Oxydationsvorgängen 
zwei  voneinander  unterschiedene  Stoffe  zu  berück- 
sichtigen sind;  Ein  peroxydartiger  Körper,  den 
sie  Oxygenase  nannten,  und  zweitens  ein  Oxy- 
dationsferment, das  die  Aufgabe  hat,  den  Sauer- 
stoff des  Peroxydes  auf  die  zu  oxydierende  Sub- 
stanz zu  übertragen.  Dieses  Ferment  nannten  sie 
Peroxydase.  Es  gelang  ihnen,  beide  Stoffe 
voneinander  zu  trennen,  indem  sie  aus  einem 
stark  oxydierenden  Extrakt  von  R  u  s  s  u  1  a  die 
Oxygenase  mit  40  "/„  igem  Alkohol  ausfällten.  Die 
so  isolierte  Oxygenase  vermochte  nur  sehr  ge- 
ringe Oxydationswirknng  hervorzurufen.  Sobald 
man  aber  peroxydasehaltiges  Filtrat  hinzufügte, 
trat  starke  Oxydation  ein.  Andererseits  war  es 
auch  möglich,  die  ausgeschiedene  Oxygenase  durch 
Wasserstoffsuperoxyd  zu  ersetzen.  Es  steht  dies 
im  Einklang  mit  der  ausgeführten  Theorie,  nach 
welcher  es  sich  bei  der  Oxygenase  um  eine 
peroxydartige  Verbindung  handelt,  um  eine  Ver- 
bindung also,  die  nach  dem  Typus  des  Wasser- 
stoffsuperoxydes gebaut  ist. 

Es  ist  demnach  ein  recht  komplizierter  Mecha- 
nismus erforderlich,  um  den  Sauerstoff  der  Luft 
für  die  Zwecke  der  Organismen  verwerten  zu 
können.  Pal  lad  in  hat  im  Anschluß  an  diese 
Theorie  die  Atmungsprozesse  genauer  verfolgt 
und  den  Anteil  der  einzelnen  Komponenten  ein- 
gehend herausgelöst.  Zunächst  verfährt  er  dabei 
wieder  so,  daß  er  die  Pflanzen  durch  Gefrieren 
abtötet ,  um  sicher  alle  beobachteten  Erschei- 
nungen auf  Enzymwirkungen  zurückführen  zu 
können.  Dann  läßt  er  die  getöteten  Pflanzen  zu- 
nächst im  Wasserstoffstroni  Kohlensäure  ent- 
wickeln und  erhält  dadurch  ein  Maß  für  die 
anaeroben  intramolekularen  Prozesse,  die  wir  oben 


betrachtet  haben  und  die  auf  Fermente  der  alko- 
holischen Gärung  oder  ähnliche  Fermente  hin- 
weisen. Dabei  werden  intermediäre  Stoffe  ge- 
bildet. Wird  jetzt  die  Pflanze  aus  dem  Wasser- 
stoffstrom entfernt  und  in  einen  Strom  von  Luft 
gebracht,  so  findet  von  neuem  Bildung  von 
Kohlensäure  statt,  die  ein  Maß  liefert  für  die 
oxydativen  Prozesse.  Nach  dem  Aufhören  der 
Gasentwicklung  sind  die  eigentlichen  Atmungs- 
prozesse beendet.  Aber  trotzdem  enthält  die 
Pflanze  sowohl  noch  wirksame  Oxygenase  wie 
auch  Peroxydase.  Wenn  man  nämlich  die  Pflanze 
zerkleinert  und  Pyrogallol  hinzusetzt,  so  findet 
eine  Oxydation  des  Pyrogallols  statt,  die  erst  auf- 
hört, wenn  keine  Oxygenase  mehr  vorhanden  ist. 
Aber  noch  ein  letztes  Mal  kann  man  das  zer- 
riebene Gewebe  zu  neuer  Tätigkeit  anregen,  in- 
dem man  an  Stelle  der  verbrauchten  Oxygenase 
\\'asserstoffsuperoxyd  hinzusetzt.  Jetzt  sind  wieder 
die  Bedingungen  zur  Oxydation  vorhanden  und 
erst  wenn  jetzt  die  Kohlensäureentwicklung  auf- 
hört infolge  Verbrauchs  der  Peroxydase,  ist  die 
Pflanzensubstanz  zu  keiner  weiteren  oxydierenden 
Tätigkeit  mehr  imstande. 

Durch  dieses  Fraktionieren  der  Atmungs- 
tätigkeit, wie  man  es  nennen  kann,  hat  Palla- 
d  i  n  *)  sehr  interessante  Ergebnisse  erzielt.  Es 
hat  sich  dabei  herausgestellt,  daß  je  nach  der 
Pflanze,  je  nach  dem  Pflanzenteil,  je  nach  dem 
Alter  der  Pflanze  ganz  verschiedene  Mengen  der 
einzelnen  Atmungsfermente  vorhanden  sind.  Be- 
sonders deutlich  wird  dies  bei  einer  Gegenüber- 
stellung des  Verhaltens  von  erfrorenen  Weizen- 
keimen und  etiolierten  Blättern  von  Vicia  Faba. 
Setzt  man  die  im  Wasserstoffstrom  ausgeschiedene 
Kohlensäuremenge    gleich    100,    so    erhält    man: 


s 

^ 

Pfl.-.nzen 

i 

II . 

■|ir 

m 

1!^ 

an  i 

|ii" 

0 

^° 

t-.^ 

Weizenkeime 

100 

0 

7 

123 

Etiolierte  Blätter 

von  Vicia  Faba 

100 

142 

648 

293 

Dieselben  nach 

Saccharose  und 

Lichtnahrung 

100 

225 

967 

621 

•)  Berichte  d.  Deutsc 


Gesellsch.,  Bd.  36,  S.  606, 


Aus  der  Tabelle  ersieht  man,  daß  erfrorene 
Weizenkeime  eine  ausschließlich  anaerobe  Tätig- 
keit haben.  Trotz  bedeutender  Mengen  Peroxy- 
dase können  sie  keine  Oxydationsprozesse  aus- 
führen, weil  es  ihnen  an  Oxygenase  fehlt.  Das- 
selbe ist  bei  erfrorenen  Erbsensamen  der  Fall 
und  erklärt,  daß  diese  selbst  bei  Luftzutritt  Alko- 


'}  Vgl.  z.   B.  Biochemische  Zeitschr.  IS,  251. 


N.  F.  XVI.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


hol  bilden ,  also  einen  vollkommen  anaeroben 
Reaktionstypus  aufweisen. 

Dagegen  sind  etiolierte  Blätter  von  Vicia 
Faba  zu  lebhaften  Oxydationsprozessen  befähigt, 
und  alle  in  Betracht  kommenden  Faktoren  werden 
noch  erhöht,  wenn  die  normalen  Atmungsbedin- 
gungen der  Blätter,  vor  allem  Lichtnahrung, 
wieder  hergestellt  werden.  Es  tritt  dann  eine 
erhebliche  Vermehrung  ihres  Oxygenase-  und 
Peroxydasegehaltes  ein. 

Noch  eine  letzte,  aber  wichtige  Frage  bliebe 
zu  erörtern,  ob  wir  nämlich  irgend  etwas  Näheres 
über  die  hypothetischen  peroxydartigen  Körper 
wissen,  die  nach  der  Bach-Chodat'schen  Theorie 
bei  der  Atmung  notwendig  sind.  Pal  ladin  ist 
der  Ansicht,  daß  wir  zwar  mit  Sicherheit  noch 
nichts  darüber  sagen  können,  daß  aber  in  nahezu 
allen  Pflanzen  eine  Gruppe  von  Stoffen  vorhanden 
ist,  die  auf  eine  den  Peroxyden  ähnliche  Tätig- 
keit bei  der  Atmung  hinweist:  Es  sind  dies  die 
sogenannten  Atmu  ngschromogene. 

Durch  eine  alltägliche  Erfahrung  sind  uns  die 
Atmungschromogene  eigentlich  sehr  wohl  be- 
kannt. Wenn  man  nämlich  einen  Apfel  durch- 
schneidet und  an  der  Luft  liegen  läßt,  so  beob- 
achtet man  nach  k\irzer  Zeit  eine  Braunfärbung 
der  Schnittfläche.  Dasselbe  kann  man  bei  Kar- 
toffeln, sowie  bei  sehr  vielen  anderen  Pflanzen- 
teilen beobachten.  Es  beruht  darauf,  daß  in  den 
Pflanzensäften  Stoffe  vorhanden  sind,  die  mit  dem 
SauerstofT  der  Luft  Farbstoffe  bilden. 

Pal  lad  in  stellt  sich  nun  vor,  daß  in  der  un- 
verletzten Pflanze  diese  Chromogene  deshalb  keine 
Farbstoffe  bilden,  weil  sie  sofort  wieder  reduziert 
werden.     Und   zwar   sind  seiner  Auffassung  nach 


zwei  Möglichkeiten  vorhanden,  wie  diese  Atmungs- 
chromogene wirken:  Einmal  können  sie  sich  selbst 
unter  der  Einwirkung  des  Luftsauerstoffs  oxydieren, 
und  es  könnte  bei  dieser  Oxydation  im  Sinne  der 
Traube'schen  Theorie  sich  Wasserstoff-^uper- 
oxyd  bilden,  das  dann  seinerseits  in  den  eigent- 
lichen Atmungsprozeß  eingreift.  Es  ist  aber  auch 
möglich,  daß  die  Atmungspigmente  die  Rolle  der 
Peroxyde  übernehmen  im  Sinne  der  Bach  Cho- 
dat' sehen  Theorie  und  dann  noch  viel  unmittel- 
barer in  den  Atmungsvorgang  einereifen  als  bei 
der  ersten  Annahme.  In  beiden  Fällen  sind  sie 
von  größter  Bedeutung  bei  der  Erklärung  der 
Atmungserscheinungen,  und  es  ist  zu  hoffen,  daß 
ihr  näheres  Studium  noch  viel  Aufschluß  über 
diesen  wichtigsten  Vorgang,  des  Stoffwechsels 
geben  wird. 

Die  Atmungspigmente  würden  innerhalb  des 
pflanzlichen  Organismus  dieselbe  Rolle  spielen, 
wie  die  Blutfarbstoffe  im  tierischen  Organismus. 
Es  würde  sich  dann  als  wichtige  Folgerung  er- 
geben, daß  auch  der  Blutfarbstoff,  das  Oxyhämo- 
globin,  eleichsam  ein  Peroxyd  darstellt,  das  ver- 
mittels Oxydasen,  die  in  den  Blutkörperchen  und 
im  Gewebe  vorhanden  sind,  seinen  Sauerstoff  an 
die  oxydablen  Stoffe  abgibt.  Da  auch  das  farb- 
lose Blut  niederer  Tiere  sich  bei  Luftzutritt  durch 
Vermittlung  von  Oxydasen  färbt,  also  ebenfalls 
Atmungschromogene  enthält,  so  ergibt  sich  daraus 
eine  weitgehende  Übereinstimmung  des  Mecha- 
nismus der  Atmung  innerhalb  des  gesamten 
organischen  Reiches,  eine  Folgerung,  die  eine 
starke  Stütze  für  die  hier  vorgetragenen  Auf- 
fassungen bildet,  so  sehr  sie  eine  weitere 
Forschung  im  einzelnen  auch  noch  ergänzen  und 
berichtigen  mag. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Antike  Vererbung.stheorien.  Vor  mir  liegen 
drei  starke  Bände,  betitelt  „Hippokrates  sämtliche 
Werke".  Sie  enthalten  55  Abhandlungen  me- 
dizinischen Inhalts,  die  jedoch  nur  zum  Teil  den 
großen  koischen  Arzt  selbst  zum  Verfasser  haben. 
Außer  ihm  haben  zahlreiche  andere  griechische 
Ärzte  des  fünften  vorchristlichen  Jahrhunderts  an 
dieser  Schriftensammlung  mitgearbeitet,  die  in 
ihrer  Gesamtheit  ein  gutes  Bild  von  dem  Stand 
der  medizinischen  und  damit  auch  der  biologischen 
Wissenschaft  ihrer  Zeit  gewährt. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Speku- 
lationen der  hippokratischen  Ärzte  über  die  Ver- 
erbung. In  der  Schrift  über  den  Samen  wird 
behauptet,  daß  sowohl  der  Mann  als  auch  das ' 
Weib  Samen  absondere,  weshalb  das  Kind  beiden 
Eltern  in  irgendeiner  Beziehung  gleichen  müsse 
und  weder  dem  Vater  allein  noch  der  Mutter 
allein  noch  auch  keinem  von  beiden  ähnlich  sein 
könne. 


Ferner  nimmt  der  Verfasser  dieser  Schrift  an, 
daß  der  Same  in  beiden  Geschlechtern  von  allen 
Teilen  des  Körpers  herkomme.  Von  schwachen 
Teilen  soll  schwacher,  von  kräftigen  Teilen  kräftiger 
Samen  ausgehen.  Daher  seien  die  schwachen 
Teile  des  elterlichen  Körpers  auch  beim  Kinde 
schwach,  die  kräftigen  kräftig.  Wenn  von  einem 
Teil  des  männlichen  Körpers  mehr  Samen  ausgehe 
als  von  dem  entsprechenden  Teil  des  weiblichen 
Körpers,  so  gleiche  das  Kind  in  diesem  Teile  mehr 
dem  Vater,  wenn  dagegen  von  einem  Teil  des 
weiblichen  Körpers  mehr  Samen  ausgehe,  als  von 
dem  entsprechenden  Teile  des  männlichen  Körpers, 
so  gleiche  das  Kind  in  diesem  Teile  mehr  der 
Mutter. 

Auffallend  ist  die  Ähnlichkeit  dieser  hippo- 
kratischen Vererbungstheorie  mit  der  von  Darwin 
aufgestellten  Pangenesishypothese,  nach  der  von 
allen  Zellen  des  Körpers  kleine  Keimchen  ab- 
gesondert werden,  die  sich  in  den  Geschlechtszellen 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   I 


sammeln  und  in  der  folgenden  Generation  wieder 
zu  den  Zellen  heranwachsen,  von  denen  sie  ab- 
stammen. Eine  notwendige  Folgerung  aus  dieser 
Theorie  ist  die  von  anderer  Seite,  besonders  von 
der  W  e  i  s  m  a  n  n '  sehen  Schule  so  heftig  bestrittene 
Vererbbarkeit  erworbener  Eigenschaften.  Diese 
wird  denn  auch  von  den  Hippokratikern  an- 
genommen. 

In  der  dem  Hippokrates  selbst  zugeschriebenen 
klassischen  Schrift  „Über  Luft,  Wasser  und  Ört- 
lichkeit" ist  u.  a.  von  dem  asiatischen  Völkerstamm 
der  Makrozephalen  die  Rede.  Bei  diesen  galten 
die  mit  langen  Köpfen  ausgestatteten  Menschen 
für  Angehörige  der  edelsten  Rasse,  weshalb  bei 
den  Neugeborenen  der  Kopf  durch  Binden  künstlich 
in  die  Länge  gepreßt  wurde.  „Im  weiteren  Ver- 
lauf der  Zeit  aber",  schreibt  Hippokrates, 
„wurde  der  Brauch  zur  Natur,  so  daß  man  ihn 
nicht  mehr  nötig  hatte  Denn  der  Same  geht 
von  dem  gesamten  Körper  aus,  gesunder  von  ge- 
sunden Teilen,  krankhafter  von  krankhaften  Teilen. 
Wenn  nun  von  Kahlköpfigen  Kahlköpfige,  von 
Blauäugigen  Blauäugige,  von  Schielenden  Schielende 
in  der  Regel  erzeugt  werden  und  bei  anderen 
körperlichen  Gebrechen  dasselbe  Gesetz  obwaltet, 
was  hindert  da,  daß  von  Langköpfigen  Langköpfige 
gezeugt  werden  ?"  Doch  fügt  der  große  griechische 
Arzt  hinzu,  daß  die  Kinder  der  Makrozephalen 
jetzt  nicht  mehr  in  derselben  Form  wie  früher 
auf  die  Welt  kommen,  da  der  Brauch  wegen  der 
Nachlässigkeit  der  Menschen  nicht  mehr  in  Blüte 
stehe.  Hippokrates  glaubt  also,  daß  die  ur- 
sprünglich künstlich  erworbene  und  später  vererbte 
Veränderung  der  Kopfform  nicht  von  Dauer  ist, 
sondern  daß  einige  Zeit  nach  Aufhören  der  künst- 
lichen Einwirkung  ein  Rückschlag  in  die  natürliche 
Form  des  Kopfes  erfolgt.  — 

Die  Vererbungstheorie  der  Hippokratiker  wurde 
später  von  Aristoteles  in  seinen  bewunderns- 
würdigen „Fünf  Büchern  von  der  Zeugung  und 
Entwicklung  der  Tiere"  bekämpft.  Doch  behauptet 
auch  er  die  Vererbbarkeit  erworbener  Eigenschaften 
und  belegt  sie  durch  folgende  Fälle:  Wenn  die 
Eltern  Narben  hatten,  wurde  auch  bei  ihren  Kindern 
an  derselben  Stelle  das  Zeichen  der  Narbe  be- 
obachtet. In  Chalcedon  zeigte  sich  bei  dem  Kinde 
eines  Mannes,  der  auf  dem  Arm  ein  Brandzeichen 
hatte,  derselbe  Buchstabe,  nur  verwischt  und  nicht 
scharf  ausgeprägt.  Auch  die  Erscheinung  der 
unterbrochenen  Vererbung  war  Aristoteles  be- 
kannt. Er  erzählt,  daß  in  Elis  ein  Mädchen  mit 
einem  Mohren  Umgang  hatte,  wobei  nicht  ihre 
Tochter,  sondern  deren  Sohn  von  schwarzer  Farbe 
war.  Aristoteles  teilt  aber  diese  Tatsachen 
nicht  nur  mit,  sondern  sucht  sie  auch  durch  eine 
Vererbungstheorie  zu  erklären,  wobei  er  zugleich 
die  Ursachen  der  Entstehung  männlicher  und 
weiblicher  Individuen  berücksichtigt. 

Das  Erzeugende,  lehrt  er,  wirkt  in  verschiedenen 
Richtungen,  als  Mann,  als  Individuum  und  als 
Mensch.  Der  Antrieb  in  einer  Richtung  kann  zu- 
grundegehen,  dann  schlägt   er    in   das  Gegenteil 


um,  der  des  Vaters  in  den  der  Mutter,  der  des 
Vaterindividuums  in  den  des  Mutterindividuums. 
Der  Antrieb  kann  auch  geschwächt  werden,  dann 
geht  er  in  den  nächstliegenden  Antrieb  über,  in 
den  des  Vaters  des  Erzeugers  oder  bei  stärkerer 
Schwächung  in  den  des  Großvaters  oder  einer 
noch  früheren  Generation.  Die  Ursache,  daß  die 
Antriebe  unterliegen,  besteht  entweder  in  ihrer 
geringen  Kraft  und  Wärme  oder  in  der  Kälte  des 
zu  bewältigenden  Stoffes.  Die  Ursache  der 
Schwächung  der  Antriebe  liegt  in  der  Gegen- 
wirkung des  Stoffes.  Aus  der  .Anwendung  dieser 
allgemeineu  Prinzipien  ergeben  sich  für  Aristo- 
teles folgende,  die  Vererbungstatsachen  be- 
leuchtenden Gesetze: 

Wenn  der  vom  Vater  ausgehende  Antrieb  in 
allen  Beziehungen  überwiegt,  so  entsteht  ein 
Knabe,  der  dem  Vater  ähnlich  ist.  Wenn  der 
vom  Vater  in  seiner  Eigenschaft  als  Mann  aus- 
gehende Antrieb  überwiegt,  der  vom  Vater  als 
Individuum  ausgehende  aber  nicht,  so  entsteht  ein 
Knabe,  der  der  Mutter  ähnlich  ist.  Wenn  der  vom 
Vater  in  seiner  Eigenschaft  als  Mann  ausgehende 
Antrieb  unterliegt,  der  vom  Vater  als  Individuum 
ausgehende  aber  nicht,  so  entsteht  ein  Mädchen, 
das  dem  Vater  ähnlich  ist.  Wenn  der  vom  Vater 
in  seiner  Eigenschaft  als  Mann  und  als  Individuum 
ausgehende  Antrieb  unterliegt,  so  entsteht  ein 
Mädchen,  das  der  Mutter  ähnlich  ist.  Wenn  der  vom 
Vater  in  seiner  Eigenschaft  als  Mann  ausgehende 
Antrieb  erhalten,  der  von  ihm  als  Individuum  aus- 
gehende aber  geschwächt  wird,  so  entsteht  ein 
Knabe,  der  dem  Großvater  oder  einem  der  früheren 
Vorfahren  ähnlich  ist.  Wenn  der  vom  Vater  in 
seiner  Eigenschaft  als  Mann  und  Individuum  aus- 
gehende Antrieb  bewältigt,  der  von  der  Mutter  als 
Individuum  ausgehende  aber  geschwächt  wird,  so 
entsteht  ein  Mädchen,  daß  der  Großmutter  oder 
einem  früheren  mütterlichen  Vorfahren  gleicht. 
Wenn  alle  Bewegungsaniriebe  geschwächt  werden, 
so  gleicht  das  Junge  keinem  der  Angehörigen  und 
Verwandten  mehr,  sondern  es  bleibt  nur  das  ihnen 
allen  Gemeinsame,  daß  es  ein  Mensch  ist.  In 
äußersten  Fällen  wird  der  Bildungstrieb  so  weit 
geschwächt,  daß  das  Kind  nicht  mehr  menschliches 
Wesen  ist,  sonderm  einem  Tier  gleicht,  also  eine 
Mißgeburt  darstellt. 

Wenn  diese  Vererbungstheorie  des  Aristo- 
teles auch  keine  wirkliche  Erklärung  der  Er- 
scheinungen bietet,  so  läßt  sie  doch  erkennen,  mit 
welchem  Eifer  bereits  die  alten  griechischen  Denker 
das  Vererbungsproblem  zu  lösen  versuchten. 
Walther  May,  Karlsruhe. 

Ein  Beispiel  für  die  Beeinflussung  lokaler  Faunen 
durch  den  Weltkrieg.  Außerordentlich  groß  ist 
zwar  das  Verbreitungsgebiet  der  Elster  (Pica  pica 
Linne)  in  Deutschland  und  doch  finden  sich  Be- 
zirke, in  denen  es  zahlreiche  Bewohner  gibt,  die 
noch  kein  lebendes  Exemplar  dieses  Vogels  im 
Freien   beobachtet  haben.     In   der   nächsten  Um- 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


gebung  von  Frankfurt  a.  M.  nördlich  des  Mains 
konnte  man  vor  dem  Krieg  keine  Fister  finden. 
Man  mußte  schon  bis  an  den  Fuß  des  Taunus 
wandern,  um  diesen  schönsten  unserer  Rabenvögel 
anzutreffen.  Dort  hauste  er  in  den  kleuien  Ge- 
hölzen am  Rande  üppiger  Wiesen  in  der  Umgegend 
von  Oberusel  und  fiomburg  v.  d.  Höhe,  doch 
war  seine  Anzahl  dank  den  Nachstellungen,  die 
er  seitens  der  Jäger  zu  erdulden  hatte,  nur  ver- 
hältnismäßig gering. 

Seit  Herbst  1914  machte  sich  aber  eine  auf- 
fallende Vermehrung  der  Elster  bemerkbar  und 
es  ließ  sich  feststellen,  daß  immer  weitere  Gebiete 
des  Vortaunus  von  ihr  bevölkert  wurden.  Im 
Frühjahr  dieses  Jahres  (10.  Mai  1916)  konnte  ich 
in  der  Nähe  von  Fschersheim,  einem  Vorort 
Frankfurts  etwa  2  Wegstunden  von  Oberursel 
entfernt,  wo  seither  von  mir  keine  Elstern  fest- 
gestellt wurden,  ein  Elsiernpaar  sichten.  In  einem 
dichten  alten  Obstgarten  halte  es  Wohnung  ge- 
nommen. Im  Laufe  des  Jahres  nahm  die  Zahl 
der  Vögel  zu,  einmal  durch  die  erbrüteten  Jungen, 
dann  aber  auch   wohl  durch    neue  Zuzügler.     Sie 


haben  jetzt  schon  Besitz  ergriffen  von  mehreren 
in  der  Nähe  des  vorerwähnten  Obstgartens  lie- 
genden Gärten  und  kleinen  Waldanlagen 

Wie  ist  dieses  plötzliche  Auftreten  der  Elster 
in  einem  Bezirk,  der  jahrzehntelang  elsternfrei  war, 
zu  erklären?  Wohl  nur  dadurch,  daß  infolge 
des  Krieges  und  der  dadurch  bedingten  mäßigen 
Ausübung  der  Jagd  der  Abschuß  der  Elstern  im 
Taunubvorland  so  sehr  abgenommen  hat,  daß  die 
Vögel  genötigt  waren,  sich  andere  Raub-  und 
Futierplatze  zu  suchen.  Vom  Standpunkt  des 
Vogeüreundes  ist  diese  Zunahme  des  prächtigen 
Rabenvogels,  der  durch  auf  ihn  gesetzte  Schuß- 
prämien vogelfrei  geworden  der  Ausrottung  nahe 
war,  nur  zu  begrüßen.  Einer  Überhandnähme  des 
Nestplünderers  und  Räubers  der  Klcinvogelwelt 
wird  nach  dem  Kriege  schon  Schranken  gebogen 
werden.  Sicherlich  lassen  sich  solche  Beobach- 
tungen von  Änderungen  der  lokalen  Faunen  in- 
folge des  Krieges  noch  mehr  anstellen,  und  ich 
wäre  für  deren  gelegentliche  Mitteilung  dankbar. 
Fr.  Keyl. 


Einzelberichte, 


Botanik.  Über  das  Altern  der  Pflanzen. 
Untersuchungen,  die  im  Laufe  der  letzten  Jahre 
von  einer  Reihe  von  Autoren  an  Einzelligen  aus- 
geführt wurden,  haben  ergeben,  daß  Einzellige 
unter  dem  Einfluß  von  Stoffwechselprodukten  einer 
Degeneration  und  schließlich  dem  Tode  verfallen 
(Enriqucz,  Popoff,  Woodruff).  Die  Unter- 
suchungen an  Einzelligen  haben  auch  gezeigt,  daß 
die  Teilungsgeschwindigkeil  durch  den  Einfluß 
von  Stoffwechselprodukten  herabgesetzt  wird.  Da 
nun  die  Wachstumsgeschwindigkeit  eines  viel- 
zelligen Organismus  durch  die  Teilungsgeschwin- 
digkeit der  Zellen,  aus  denen  er  aulgebaut  ist, 
bedingt  wird,  so  ist  von  vornherein  die  Annahme 
gerechtfertigt,  daß  auch  die  allmähliche  Abnahme 
der  Wachsiumsintensität  vielzelliger  Organismen 
und  der  schließliche  Stillstand  ihres  Wachstums 
eine  Wirkung  von  Stoffwechselprodukten  ist,  die 
im  Zellenverband  des  vielzelligen  Organismus  zur 
Anhäufung  gelangen.  Und  man  hat  auch  in  eigens 
darauf  gerichteten  Versuchen  an  vielzelligen  Orga- 
nismen (Schnecken,  Karpfen,  Kaulquappen,  Da- 
phnien) feststellen  können,  daß  unter  dem  Einfluß 
von  Stofiwechselprodukten  im  Kulturmedium  eine 
Verlangsamung  des  Wachstums  eintritt. 

Ahnliche  Versuche  sind  auch  an  Pflanzen  aus- 
geführt worden.  So  hat  Whitney  gefunden,  daß 
ein  wässeriger  Extrakt  aus  erschöplltm  Boden 
einen  hemmenden  Einfluß  auf  das  Wachstum  der 
Pflanze  ausübt.  Die  Wachsiumshemmung  war 
um  so  ausgesprochener,  je  stärker  konzentriert  der 
für  den  Versuch  verwendete  Extrakt  war. 


Zlataroff)  hat  nun  eine  Reihe  von  Versuchen 
mit  Keimlingen  der  Kichererbse  ausgeiührt,  in 
denen  der  Einfluß  von  Harnstoff,  Guanidinkarbonat, 
Ammoniak  und  Wasserglas  (in  der  jungen  Pflanze 
der  Kichererbse  häuft  sich  Siliciumdioxyd  an),  die 
als  Stoffwechselprodukte  in  Betracht  kommen,  auf 
das  Wachstum  der  Keimlinge  verfolgt  wurde.  Auch 
der  Einfluß  eines  Extraktes  aus  etwa  einem  Monat 
alten  etiolierten  Keimlinge  der  Kichererbse  auf 
das  Wachstum  wurde  untersucht.  Die  Versuche 
wurden  in  der  Weise  ausgeführt,  daß  die  Samen  zu- 
nächst 10  Tage  lang  der  Keimung  über  destilliertem 
Wasser  überlassen  wurden,  um  dann  auf  die  ver- 
schiedenen Versuchsflüssigkeiten  verteilt  zu  werden. 
Das  Ergebnis  war,  daß  in  allen  erwähnten 
Lösungen  das  Wachstum  der  Keimlinge 
eine  Hemmung  erfuhr.  Die  schädliche 
Wirkung  der  Lösungen  zeigte  sich  auch  darin, 
daß  die  Turgeszenz  der  Keimlinge  abnahm. 

Wurden  die  geschädigten  Keimlinge  aus  den 
Versuchsflüssigkeiten  über  eine  Knoop'sche 
Lösung  gebracht,  der  Pflanzenlecithin,  Rhamnose 
oder  Glanutosterin  (ein  von  Zlataroff  aus  den 
Samen  der  Kichererbse  isoliertes  und  chemisch 
definiertes  Phytosterin)  beigegeben  waren,  so  er- 
holten sich  sämtliche  Keimlinge  wieder.  In  einer 
-Knoop 'sehen  Lösung  dagegen  erholte  sich  nur 
eine  geringe  Anzahl    der  geschädigten  Keimlinge. 

Die  Versuche  von  Zlataroff,  die  mit  che- 
misch wohldefinierten  Stoffen  ausgeführt  wurden. 


')  As.  Zlataroff,  Über  das  Allern  der  Pflanzen.    Zeit- 
schrift f.  allgem.  Physiologie.,  Bd.   17,   1916,  S.  205—209. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  1 


die  als  Abbauprodukte  von  Eiweißstoffen  bekannt 
sind,  bestätigen  die  Auflassung,  daß  die  im  Laufe 
der  oiitogenetischen  Entwicklung  der  vielzelHgen 
Organismen  einsetzende  Wachsuimshemmung,  die 
in  Alter  und  Tod  ausläuft,  auf  einer  lähmenden 
Wirkung  von  Stoftvvechselprodukten  beruht.  ^) 
Die  ein-  und  zweijährigen  Ptianzen  unterscheiden 
sich  in  dieser  Beziehung  nicht  von  den  Tieren. 
•  Eine  sehr  inieressanie  Frage  ist  es,  ob  die 
wirksamen  Stoffwechsciprodukie  spezifischer  oder 
nicht  spezifischer  Natur  sind.  Au  Einzelligen  hat 
Woodruft  gezeigt,  daß  bei  ihnen  Stoffwechsci- 
produkie gebildet  werden,  die  hemmend  aut  die 
Teilungsgeschwindigkeit  nur  der  einen  bestimmten 
Spezies  wirken.  Aber  es  ist  natürlich  nicht  aus- 
geschlossen, daß  auch  nicht  spezifische  Stotfwechsel- 
produkte  gebildet  werden,  d.  h.  solche,  die  auch 
auf  andere  Arten  wirken.  Vor  kurzem  hat 
Molliard -')  Versuche  über  den  Einfluß  von 
Stoffwechselprodukien  der  Erbse  angestellt  und 
er  ist  zur  ÜDerzeugung  gelangt,  daß  die  Stoff- 
wechsciprodukie der  Erbse  nicht  auf  das  Wachs- 
tum von  Erbsenkeimhngen,  sondern  auch  von 
anderen  Arten  einen  hemmenden  Einfluß  aus- 
zuüben vermöchten.  Die  Arbeil  von  Molliard 
ist  dem  Ref.  im  Original  bisher  leider  nicht  zu- 
gänglich gewesen.  Alex.  Lipschütz. 

Zoologie.  Brutdauer  und  erste  Jugendstadien 
des  Bartgeiers  Gypactiis  barbatits  L.  In  dem  von 
König  Ferdinand  I.  untertialicnen  zoologischen 
Garten  in  Sofia  ist  vergangenen  VVmier  zum 
ersten  Mal  die  Zucht  des  Bartgeiers  in  Ge- 
fangenschaft gelungen.  Darüber  berichtet 
Ad.  Schümann.^;  Im  Garten  werden  4  Bart- 
geier gehalten.  Zwei  Stück  waren  seit  3  Jahren 
gesondert  in  einem  Flugkahg  untergebracht.  Am 
20.  Dezember  1915  wurde  die  Paarung  dieser 
beiden  Geier  beobachtet.  Am  30.  Dezember  1915, 
als  das  Thermometer  in  Sofia  bis  zu  29"  C  Kalte 
zeigte,  fand  sich  am  Morgen  ein  frischgelegtes 
El  vor.  Das  Weibchen  begann  sofort  mit  seiner 
Bebrütung.  Am  3.  Januar  1916  lag  ein  zweites 
Ei  im  Nest. 

Die  für  den  Bartgeier  bisher  unbekannte  Brut- 
dauer konnte  bei  diesem  Anlaß  festgesieüt  werden, 
indem  sich  beide  Eier  als  befruchtet  erwiesen. 
Sie  betrug  55  Tage,  was  sehr  lang  ist.  Das 
erstgelegie  Ei  kam  am  2j.  Februar  aus.  Am 
27.  scheint  das  zweite  Junge  ausgeschlüpfi  zu  sein; 
dasselbe  wurde  aber  durch  die  Alten  getötet  und 
zum  größten  Teil  aufgefressen.  Dieser  Umstand 
würde  der  Behauptung  recht  geben,  daß  der 
Bartgeier  stets  nur  ein  Junges  aufziehe. 


')  Vgl.  die  zusammenfassende  Darslellung  von  L  i  p  s  c  ti  ü  t  z  , 
Allgemeine   Physiologie  des   Todes.      Braunschweig    1915. 

^j  Marin  Molliard,  Revue  generale  de  Botanique, 
Bd.  27,   1915,  p.  2S9— 296. 

^J  Ad.  Schumann,  Erfolgreiche  Zucht  von  Gypaetus 
barbatus  im  Königlich  Zoologischen  Garten  von  Sophia. 
„Zoologischer  Beobachter",  Frankfurt  a.  M.,  1916,  S.  209 — 216. 


An  der  Fütterung  des  Jungen  beteiligte  sich 
auch  das  Männchen.  Das  Junge  wurde  nicht  aus 
dem  Kropf  gefüttert,  sondern  es  wurden  dem- 
selben ganz  kleine  Stückchen  Fleisch  vorgehalten, 
die  es  dann  den  Allen  aus  dem  Schnabel  nahm. 
Die  Eltern  kauien  das  Fleisch  gewissermaßen  vor. 

Der  frisch  geschlüpfte  Bartgeier  zeigte  ein 
weißes,  wolliges  Dunenkleid.  Der  verhältnismäßig 
große,  schwere  Kopf,  den  das  lierchen  nicht 
tragen  konnte,  ruhte  mit  der  Schnabelspitze  am 
Boden.  Die  dunklen  Augen  waren  schon  am 
ersten  Tag  geöffnet.  Am  14.  März,  also  im  Aller 
von  3  Wochen,  war  der  junge  Geier  etwas  größer 
als  eine  ausgewachsene  Haustaube.  Er  war  schon 
ziemlich  beweglich  und  nahm  Fleischsiückchen 
aus  der  Hand  des  Wärters.  Die  weißen  Dunen 
waren  aut  Rücken  und  Kopf  ca.  i  cm  lang,  in 
der  Achselgegend  und  am  Hals  jedoch  kaum  2  mm. 
Die  Federhuren  waren  bereits  deuUich  erkennbar, 
aber  es  zeigte  sich  noch  keine  Spur  von  Kielen. 
Am  23.  März  wurden  am  Kopf  des  jungen  Bart- 
geiers ganz  kleine  schwarzbraune  Flaumtederchen 
entdeckt.  Die  Farbe  des  Dunenkleides  zeigte 
einen  Strich  ins  Blaugraue.  Die  dunkle  charakte- 
ristische Kopfzeichnung  des  Bartgeiers  war  schon 
vom  Alter  von   14  Tagen  an  erkennbar. 

Dieser  ganz  unerwartete  Zuchterfolg  hat  eine 
Anzahl  Fragen  über  das  Leben  des  Bartgeiers 
gelöst,  oder  doch  ihrer  Lösung  näher  gebracht. 
A.  Heß. 

Isoplankten.  Nennen  wir  die  Linien  gleicher 
hydrographischer  Eigenschalten  des  Meerwassers, 
wie  die  Isohalinen  und  Isothermen,  zusammen- 
fassend Isohydren,  so  können  wir,  lührt  Loh- 
mann'j  aus,  die  Linien  gleicher  biologischer 
Eigenschatten  Isobien  nennen.  Kommen  nur 
Flanktonorganismen  in  Frage,  so  spricht  L  o  h  m  a  n  n 
von  Isopia nkien.  Kurven  gleicher  Volksdichte 
einer  planklonischen  Oiganismenart  sind  Isone- 
phen;  andere  Isoplankien  wären  die  Linien  gleicher 
Arienzahl,  gleicher  Flanktonmassen  und  andere 
mehr.  Seit  1912  hat  Loh  mann  sich  bemüht, 
Isoplankten,  und  zwar  Isonephen,  tur  Organismen 
des  Nannoplaiuons  im  Ailaniischen  Ozean  nach 
zeiitrifugierten  Wasserproben  von  300  ccm  zu 
zeichnen.  Er  legt  jetzt  die  Ergebnisse  nament- 
lich für  einige  Coccohthophoriden,  also  kleine 
kalkhaltige  Mageilaten,  vor,  zunächst  Veriikal- 
schniiie  durch  das  M^er  längs  der  Fahrt  der 
„Deutschland"  vom  7.  Mai  bis  7.  September  1911 
von  Hamburg  nach  Buenos  Aires;  sie  lehren,  daß 
das  Maximum  von  Calyptrosphaera  oblonga  Lohm., 
wo  bis  4Ö8  Stück  des  Organismus  in  i  l  Wasser 
leben,  etwa  bei  45"  w.  L.  und  25"  n.  Br.  und 
zwar  ungelähr  in  lOO  m  Tiefe  hegt,  umgeben 
—     auf     der     Querschnitiskarte     —     von     ring- 


')  H.  Loh  mann:  Neue  Untersuchungen  über  die  Ver- 
teilung des  Planktons  im  Ozean.  Sitzungsber.  d.  Gesellschaft 
naturlorsch.  Freunde,  Berlin,  Jahrg.  191Ö,  Nr.  3,  S.  73—126. 
10  Textfig.,   I   Tabehe,   2  Taf. 


N.  F.  XVI.  Nr.  1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


förmigen  geschlossenen  Isonephen  von  charakte- 
ristischer Gestalt.  Südlich  vom  Äquator,  im  Süd- 
äquatorialstrom, wurde  in  etwas  geringerer  Tiefe 
das  Zentrum  der  scharf  umschlossenen  Volksmasse 
von  Coccolithophora  fragilis  gefunden,  während 
das  von  Fontosphaera  huxleyi.  über  looo  Indivi- 
duen im  Liter,  dort  an  der  Oberfläche  liegt  und 
die  Isonephen  um  diesen  Punkt  nach  der  Tiefe 
hin  eine  Asymmetrie  haben,  eine  doppelte  insofern, 
als  bis  etwa  125  m  Tiefe  das  Maximum  für  die 
jeweilige  Tiefe  nördlich  von  jenem  Oberflächen- 
maximum liegt,   in  Tiefen  von  250 — 400  m    aber 


90°  80»  70°  60    50^  40°  30°  20^  10     0      10     20 


:ntwurf  einer   Dichte- Verbreitungskarte   von   Fontosphaera   huxleyi. 

Nach   Lohmann,   Sitzungsber.   d.   Ges.   naturf.   Freunde,   Berlin, 

Jahrg.    1916,   Nr.   3   |S.    Ilo). 

südlich  von  ihm.  In  ähnlicher  Weise  zeichnet 
Loh  mann  die  vertikalen  Kurven  für  bestimmte 
Teile  der  Fahrt  für  eine  Englenide,  für  die  Zoo- 
flagellate  Rhynchomonas  marina,  für  die  Coccolitho- 
phoride  Syracosphaera  pulchra  Lohm.,  für  nackte 
Flagellaten  und  für  alle  Diatomeen.  Syracosphaera 
im  Nordäquatorialstrom  hatte  im  Kern  der  Volks- 
masse ein  Minimum,  das  Gebiete  größerer  Volks- 
stärke bogenförmig  umlagern,  vermutlich  infolge 
davon,  daß  das  Volk  in  seinen  zentralen  Teilen 
Ruhestadien  oder  nackte  Schwimmer  bildete,  die 
der  Zählung  entgehen,  oder  ein  einfaches  .A.b- 
sterben  eingetreten  war.  Auf  einer  Tafel  werden 
einige  Ouerschnitte  längs  der  ganzen  Fahrt  an- 
gefügt.    Äußerst  mannigfach  ist  das  so  gewonnene 


Bild  für  Fontosphaera  huxleyi,  die  am  weitesten 
verbreitete  Art  unter  den  Coccolithophoriden. 
Erst  unterhalb  etwa  150  m  Tiefe  wechseln  Fund- 
gebiete und  Freigebiete  dieser  .-^rt  miteinander 
ab  und  halten  sich  etwa  das  Gleichgewicht,  dar- 
über sind  die  Volksmassen  offenbar  miteinander 
verschmolzen. 

Solche  und  andere  Kurvenbilder  der  Fahrt- 
schnitte beweisen  zunächst  die  Brauchbarkeit  der 
von  Loh  mann  ersonnenen  Methode  und  haben 
jedes  für  sich  hohes  Interesse,  doch  mag  es  hier 
wohl  zu  weit  führen,  sie  alle  einzeln  zu  besprechen. 
Um  nun  nach  diesen  Fahrtschnitten  ein  Bild  von 
der  wirklichen  Verbreitung  der  Volksdichte  der 
Arten  im  Ozean  zu  erlangen,  stehen  wir  freilich 
vor  derselben  Schwierigkeit  ,.als  wenn  man  von 
einem  noch  nicht  näher  bekannten  Organismus 
nichts  weiter  als  einen  einzigen  Längsschnitt  hätte 
und  daraus  Schlüsse  auf  den  Bau  des  Tieres 
ziehen  wollte".  Doch  gibt  uns  „das,  was  wir  von 
den  hydrographischen  Verhältnissen  des  Wohn- 
raums und  den  biologischen  Eigenschaften  der 
betreffenden  Arten  wissen,  wichtige  Hinweise  dar- 
auf, wie  wir  diese  Schnittbilder  in  Wirklichkeit 
zu  ergänzen  haben".  Solche  Abbildungen,  wie 
wir  deren  eine  nebenstehend  wiedergeben,  ver- 
mitteln also  zunächst  nur  eine  hypothetische  Vor- 
stellung, deuten  aber  das  Ziel  an,  zu  welchem  die 
methodische  Fortsetzung  solcher  Untersuchungen 
führen  muß.  V.  Franz. 


Physik.  Eine  hübsche  Methode  zur  Analyse 
schwingender  Tropfen  beschreibt  V.  Kutter  in 
der  Fhysikal.  Zeitschr.  XVII,  424  (1916).  Läßt 
man  aus  mäßiger  Höhe  Tropfen  einer  verdünnten 
Kaliumpermanganatlösung  in  eine  Ferrosulfatlösung 
fallen,  so  entsteht  beim  Eindringen  des  Tropfens 
in  die  Flüssigkeitsoberfläche  ein  schön  ausgebildeter 
Wirbel  ring,  der  bis  zu  einer  gewissen  Tiefe 
eindringt,  um  dann  zu  zerfallen.  Beim  \''ermischen 
der  beiden  Lösungen  verschwindet  die  rote  Farbe 
der  Permangatlösung  wegen  der  Reduktion  durch 
das  Eisensalz;  man  kann  also  mit  der  gleichen 
F"lüssigkeitsmenge  den  Versuch  häufig  wieder- 
holen. Man  kann  auch  eine  stark  verdünnte  salz- 
saure Lösung  von  Antimonchlorid  in  reines  Wasser 
tropfen  lassen  und  erhält  dann  milchig  trübe  bis 
weiße  Wirbelringe.  Man  sollte  nun  erwarten,  daß 
wenn  man  die  Fallhöhe  der  Tropfen  steigert,  die 
Wirbelringe  bis  zu  größerer  Tiefe  in  die  Flüssigkeit 
eindringen.  Das  tritt  aber  nicht  ein,  vielmehr 
beobachtet  man  folgendes:  zunächst  nimmt  die 
Einsinktiefe  der  Wirbelringc  zu,  wird  dann  wieder 
kleiner,  um  bei  weiterer  Vergrößerung  der  Fall- 
höhe der  Tropfen  wieder  bis  zu  dem  ersten 
Maximum  zu  steigen  und  so  fort.  Es  findet  also 
ein  ganz  regelmäßiges  periodisches  Schwanken 
zwischen  einem  höchsten  und  einem  niedrigsten 
Wert  der  Einsinktiefe  statt.  Diese  Erscheinung 
erklärt  sich  dadurch,    daß   jeder  fallende  Tropfen 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


ellipsoidische  Schwingungen  um  die  Kugelgestalt 
ausführt,  und  zwar  steht  die  große  Achse  des 
Ellipsoids  abwechselnd  vertikal  und  horizontal, 
zwischen  diesen  beiden  Extremen  hat  der  Tropfen 
einen  Augenblick  Kugelgestalt.  Wenn  er  nun 
auf  die  Flüssigkeitsoberfläche  auftrifft,  so  findet 
an  der  Berührungsstelle  ein  sofortiges  Zusammen- 
fließen der  beiden  Flüssigkeitsmassen  statt,  so 
daß  in  diesem  Augenblick  der  Tropfen  als  eine 
Ausbuchtung  der  Flüssigkeitsoberfläche  nach  oben 
erscheint.  Eine  solche  beseitigt  aber  die  Ober- 
flächenspannung und  zwar  mit  einer  Kraft,  die  der 
Größe  der  Deformation  proportional  ist.  Ist  nun 
die  Fallhöhe  des  Tropfens  gerade  eine  solche, 
daß  er  im  Augenblick  des  Auftreffens  die  Gestalt 
eines  Ellipsoids  mit  vertikaler  großer  Achse  hat, 
so  ist  die  Ausbuchtung  nach  oben  die  größt- 
mögliche, während  sie,  wenn  die  große  Achse 
horizontal  liegt,  am  kleinsten  ist.  Im  ersteren  Fall 
erreicht  der  Wirbelring  seine  größte,  im  letzteren 
seine  kleinste  Einsinktiefe,  während  sie  für  den 
kugelförmigen  Tropfen  eine  mittlere  ist.  Steigert 
man  die  Fallhöhe  des  Tropfens  um  eine  Strecke, 
daß  sich  die  Tiefe  seines  Eindringens  von  einem 
Maximum  bis  zum  nächsten  verschiebt,  dann  hat 
der  Tropfen  während  des  Durchfallens  dieser 
Strecke  eine  volle  Schwingung  ausgeführt,  deren 
Dauer  sich  mittels  der  Fallgesetze  aus  den  beiden 
Fallhöhen  berechnen  läßt.  Die  Periode  der 
Schwingungen  hängt  vom  Tropfengewicht  und 
der     Oberflächenspannung     der     Flüssigkeit     ab; 


letztere  ergab  sich  zu  7,378  — -.      Die    genauere 

Untersuchung  zeigt  weiter,  daß  die  beiden  Halb- 
perioden der  Schwingung  nicht  gleich  sind;  es 
lagern  sich  vielmehr  über  die  Hauptschwingung 
Oberschwingungen,  welche  die  Symmetrie  der 
Hauptschwingung  zerstören.  —  Die  Methode,  aus 
der  Periode  der  Tropfenschwingung  die  Ober- 
flächenspannung zu  ermitteln,  hat  vor  der  anderen 
(statischen)  Methode  den  Vorteil,  daß  man  es 
mit  ganz  frischen  Oberflächen  oder  solchen  von 
genau  meßbarem  Alter  zu  tun  hat.  Bekanntlich 
ist  die  Oberflächenspannung  einer  reinen  und 
frischen  Wasseroberfläche  besonders  groß,  sie  wird 
indessen  sehr  bald  geringer,  da  sich  meistens 
irgendwelche  Verunreinigungen  (Spuren  von  Fetten, 
Dämpfen)  auf  ihr  ausbreiten.  Schon  vor  längeren 
Jahren  ist  die  Oberflächenspannung  von  Flüssig- 
keiten von  Lenard  nach  der  Methode  der 
schwingenden  Tropfen  gemessen  worden,  doch 
auf  andere  Weise.  Beobachtet  man  die  von  einem 
Wasserhahn  herabfallenden  Tropfen  (oder  auch 
Regentropfen),  so  sieht  man,  daß  dieselben  in 
ganz  bestimmten  Entfernungen  unter  dem  Hahn 
hell  aufblitzen;  der  Reflex  tritt  immer  dann  auf, 
wenn  der  Tropfen  nach  Vollendung  einer 
Schwingung  wieder  dieselbe  Gestalt  angenommen 
hat.  Dadurch,  daß  an  einer  vertikalen  Skala  der 
Abstand  der  Reflexe  bestimmt  wird,  kann  man 
ihre  Schwingungsdauer  und  daraus  ihre  Ober- 
flächenspannung berechnen.  K.  Seh. 


Albert     Heim.       Geolog 

Lieferung   i.     Leipzig   19 16.  Chr  Herm.  Tauch- 

nitz.  Ca.  10  Lieferungen  a  6  M. 
Wem  es  beschieden  ist,  in  der  geologischen 
Erforschung  eines  Landes  seine  ganze  Lebens- 
arbeit aufzuopfern,  der  hat  ein  Anrecht  darauf, 
Rückblick  zu  halten  auf  das  Geschaffene  und  eine 
zusammenfassende  Übersicht  über  die  gewonnenen 
Resultate  seiner  Zeit  zu  geben.  Und  wem  zum 
Wissen  noch  das  Lehrgeschick  gegeben  ist,  wie 
es  ein  Albert  Heim  besitzt,  von  dem  wird  man 
mit  Spannung  ein  Buch  entgegen  nehmen,  wie 
es  die  vorliegende  i.  Lieferung  der  Geologie  der 
Schweiz  einleitet.  Sagen  wir  es  zum  vorneherein : 
Jede  Seite  der  vorliegenden  Geologie  ist  Heim- 
sche  Sprache  und  tönt  uns  entgegen,  als  ob  wir 
den  greisen  Geologen  von  dem  Katheder,  wo  er 
so  viele  Jahre  gewirkt,  hören  würden.  Oder  ist 
seine  Einleitung  nicht  Heim 'sehe  Sprache,  wenn 
er  schreibt :  „Eine  wahre  Wallfahrt  von  Menschen 
wandelt  alljährlich  in  die  schweizerischen  Berge 
zur  Erholung,  zur  Stärkung  von  Geist  und  Körper. 
Von  hohen  Aussichtswarten  bewundern  sie  mit 
uns  die  henliche  Gestaltung  der  Erdoberfläche. 
Alles  was  wir  da  vor  uns  sehen,  ist,  sowohl  in 
den  großen  Formen  wie  bis  in  das  feinste  Einzelne 


Bticherbesprechuugen. 

der  Schweiz,  hinein,  die  Wirkung  geologischer  Vorgänge.  Diese 
sind  es,  welche  das  vor  uns  liegende  Land  so 
schön  gestaltet  haben.  Verstandenes  zu  schauen 
ist  ein  weit  edlerer  größerer  Genuß  als  Un- 
verstandenes anzustaunen.  Der  Anblick  erweckt 
das  Bedürfnis  nach  Verständnis.  Je  weiter  wir  in 
das  Verständnis  eindringen,  desto  mehr  beseelt 
uns  das  Bewußtsein,  daß  die  Forschung  die  er- 
habenste Pflicht  des  Menschengeistes  ist.  In  diesem 
Sinne  ist  unsere  „Geologie  der  Schweiz"  ge- 
schrieben." - — 

Schon  der  erste  Abschnitt,  die  Geschichte  der 
Geologie  der  Schweiz,  verrät  den  Mann,  der  über- 
all mitgewirkt  hat.  Wir  verweisen  z.  B.  auf  die 
ausführliche  Würdigung  der  Geologen  Studer 
und  Esc  her.  Der  historische  Abriß  über  die 
Schweiz,  geologische  Kommission,  die  geologische 
Gesellschaft,  die  topographische  Landesdarstellung 
geben  uns  einen  P^inblick  in  das  reiche  Arbeiten 
der  vergangenen  hundert  Jahre.  Auch  dem  jungen 
Geologen  wird  es  nichts  schaden,  von  dem  Selbst- 
bewußtsein der  Gegenwart  zu  den  Arbeiten  ver- 
gangener Tage  zurückzublicken.  Und  dazu  ist 
Heim  ein  vortrefflicher  Führer. 

Das  Buch  hält  sich  an  die  drei  Hauptzonen 
des  Schweizerlandes,    Mittelland,  Juraland,    Alpen- 


N.  F.  XVI.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


land.  So  beschäftigt  sich  der  erste  Hauptteil  mit 
dem  Alittelland,  d.  h.  Molasseland  und  Diluvium, 
jenem  Gebiet,  das  den  Winkel  zwischen  Alpen 
und  Jura  füllt.  Das  Wort  „Molasse",  zuerst  von 
Saussure  gebraucht,  bezeichnet  in  erster  Linie 
weiche,  zerreibliche  Sandsteine,  im  ganzen  aber 
gemischte  Gesteinsarten,  die  aus  der  Verwitterung, 
Schlämmung  und  dem  Wiederabsatz  mächtiger 
Gebirgsmassen  hervorgegangen  sind.  Es  werden 
unterschieden : 

Untere  Molasse,  Sarmatische  Stufe  und  obere 

Wienerstufe, 
Mittlere    Molasse,     untere    Wienerstufe    und 

Bordeaux-Stufe, 
Obere  Molasse,  aquitanische  und  stampischc 

Stufe. 

Nach  einer  kurzen  Übersicht  bespricht  Heim 
ausführlich  die  Gesteine  der  Molasse,  als  da  sind : 
Nagelfluh,  Sandsteine,  Mergel,  Kalksteine  und 
Kohlen.  Eine  sehr  ausführliche  Datstellung  hat 
die  Nagelfluh  erfahren,  wobei  eine  instruktive 
Karte  die  Ausbreitung  derselben  angibt.  Hier 
kommen  namentlich  die  drei  großen  Gerölldelta 
des  Napf,  des  Rigi-Roßberg  und  zwischen  Linth 
und  Rhein  zum  Ausdruck.  Eine  detaillierte 
Tabelle  gibt  Auskunft  über  die  Herkunft  der 
Nagelfluhgeröllc.  Was  eine  künftige  Forschung 
uns  noch  für  Aufklärung  bringen  mag,  so  viel  ist 
sicher,  daß  die  subalpine  tertiäre  Nagelfluh  der 
Schweiz  aus  den  ursprünglich  südlicheren  Zonen 
der  Alpen  stammt  und  von  dort  zuerst  teils  durch 
Deckenschub,  dann  durch  Abspülung  hierher  ge- 
langt ist  und  am  Alpenrande  liegt  als  der  tertiäre 
Schutt  der  jungen  beginnenden  Alpen."    Auch  den 


besonderen  Erscheinungen  der  Nagelfluhgerölle, 
den  Eindrücken,  der  Glättung  und  Streifung,  der 
Dislokationsumformung,  wird  besondere  Auf- 
merksamkeit erwiesen.  Instruktive  Textbilder 
begleiten  das  Wort.  Im  Juraland  trifft  man  außer 
der  Nagelfluh  mit  alpinen  Gerollen  auch  noch 
eine  Nagelfluh  mit  Gerollen,  die  von  Norden  her- 
stammen, die  man  als  Juranagelfluh  bezeichnet 
hat.  .Auch  diesen  Gesteinen  wird  eine  ausführliche 
Besprechung  gewidmet.  Als  Hauptabänderungen 
der  Molassesandsteine  führt  er  an :  Kalkige  Sand- 
steine, granitische  Molasse,  graue  Molasse,  platten- 
förmige  Molasse,  Ralligsandsteine,  Berner  Sand- 
steine, Knauermolasse,  weiche  Sandsteine,  gemeine 
Molasse,  Mergelmolasse,  Muschelsandsteine.  Jedem 
.Abschnitt  ist  ein  ausführliches  Literaturverzeichnis 
beigegeben,  so  daß  man  auf  bequeme  Weise  die 
Originalarbeiten  zu  Rate  ziehen  kann,  wenn  man 
sich  weiter  in  ein  Thema  vertiefen  will,  oder  mit 
der  .Auffassung  des  Autors  sich  nicht  einverstanden 
erklären  kann.  Das  ist  ja  das  Wertvolle  an  der 
„Geologie  der  Schweiz",  wie  wir  eingangs  schon 
bemerkt  haben,  daß  Heim  überall  mit  seiner 
persönlichen  Auffassung  nicht  zurückhält.  Wir 
weisen  nur  auf  die  Diskussion  der  Glazialerosion 
hin  ..(Seite   li  fif.j. 

Über  die  Illustrationen  können  wir  erst  ur- 
teilen, wenn  weitere  Lieferungen  vorliegen.  Ob 
die  Anwendung  des  wirklich  kleinen  Kleindruckes 
ein  Vorzug  ist,  möchten  wir  sehr  bezweifeln. 

Der  Preis  des  Werkes  mag  auf  den  ersten 
Blick  hoch  erscheinen.  Wer  sich  aber  die  Mühe 
ninmit,  die  erste  Lieferung  nur  oberflächlich  an- 
zusehen, der  wird  unbedenklich  dieses  Buch  seiner 
Bibliothek  einverleiben.  Hans  Bachmann. 


Anregungen  und  Antworten. 


H.  M.  in  L.  Sie  schreiben:  „Jedem,  der  im  Schützen- 
graben gewesen  ist,  wird  der  eigentümliche  Doppelklang  der 
Gewehrschüsse  aufgefallen  sein.  Man  vernimmt  zunächst  einen 
starken  helleren  Knall  und  unmittelbar  darauf  einen  dumpferen, 
der  jenen  kurz  abschneidet.  Diese  eintönigen  Doppelkl.inge 
sind  namentlich  nachts  sehr  charakteristisch.  .Außerdem  kann 
besonders  in  waldigem  Gelände  bisweilen  noch  der  rollende 
Widerhall  hinzukommen,  der  also  keinesfalls  die  Ursache  des 
zweiten  Schlages  sein  kann. 

Aufier  diesen  offenbar  mit  dem  Abschuß  zusammen- 
hängenden Geräuschen  hört  man  noch  das  eigentümliche 
Zischen,  Quarren,  Wimmern  oder  Brummen  der  Geschosse  in 
der  Luft,  doch  ist  es  im  allgemeinen  nicht  möglich,  etwa 
einen  einzelnen  dieser  langgezogenen  Töne  mit  einem  be- 
stimmten Doppclklang  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Wie 
es  scheint,  sind  es  nur  die  von  dem  Feind  gegenüber  abge- 
gebenen Schüsse,  die  den  Doppelkrach  hervorrufen;  die  aus 
dem  eigenen  Graben  kommenden  sind  nicht  von  ihm  begleitet. 
Deshalb  macht  man  auch  diese  Beobachtung  auf  dem  Schieß- 
stand nicht.  Doch  kann  ich  mich  auch  nicht  erinnern,  den 
Doppelklang  in  der  Anzeigerdeckung  deutlich  gehört  zu  haben, 
wenn  ich  auch  damals  nicht  darauf  geachtet  habe.  Bei  Platz- 
patronenschlachten   fehlt  er    sicher.     Die  Entfernung,    aus  der 


der  Feind  seh 


war  3 — 500  m.' 


Auf  den  doppelten  Knall  scharfer  Schüsse  ist  man  erst 
in  neuerer  Zeit  aufmerksam  geworden,  als  man  den  Geschossen 
eine  Anfangsgeschwindigkeit  von  vielen  hundert  Metern  zu 
geben  verstand.  Die  Beobachtungen  zeigen ,  daß  der  erste 
scharfe  Knall  bedeutend  schneller  anlangt,  als  sich  aus  der 
normalen  Schallgeschwindigkeit  in  der  Luft  ergibt,  während 
die  Geschwindigkeit  des  zweiten  dumpferen  Knalles  diesem 
Werte  entspricht.  Eine  Zeitlang  glaubte  man ,  daß  die 
Heftigkeit  der  Schallerregung  die  Urs.ache  der  eigentüm- 
lichen Erscheinung  sei,  E.  Mach  u.  a.  haben  aber  gezeigt, 
daß  die  schnelle  Ausbreitung  des  ersten  Knalles  auf  einer 
Art  M  i  t  f  ü  h  r  u  n  g  des  Schalles  durch  das  schnell  fliegende 
Geschoß  beruhe.  Der  Sehall  geht  so  lange  mit  dem  Geschoß, 
als  es  sich  noch  mit  (jberschallgeschwindigkeit  bewegt,  und 
löst  sich  von  ihm  los,  sobald  die  Geschwindigkeit  unter  die 
Schallgeschwindigkeit  herabsinkt.  Durch  den  Druck  des  sich 
bewegenden  Geschosses  wird  die  vor  ihm  befindliche  Luft 
verdichtet;  diese  Luftverdichtung  breitet  sich  mit  Schall- 
geschwindigkeit aus.  Wenn  sich  das  Geschoß  langsamer  be- 
wegt als  der  Schall,  so  werden  also  die  in  aufeinander- 
folgenden Zeitpunkten  entstehenden  Verdichtungen  hinter- 
einander hereilen,  d.  h.  bis  auf  große  Entfernung  von  dem 
Geschoß  schiebt  sich  vor  demselben  die  Luft  gleichmäßig 
zusammen,    aber  es  kommt  nicht  zur  Ausbildung  einer  Welle 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


(vgl.  Abb.  i).  Bewegt  sich  aber  das  Geschoß  schneller  als 
der  Schall,  so  wird  die  vor  dem  Geschoß  entstehende  Ver- 
dichtung bei  ihrem  Bestreben,  sich  mit  Schallgeschwindigkeit 
auszubreiten,  von  dem  Geschoß  selbst  stets  überholt,  die  in 
aufeinanderfolgenden  Zeitpunkten  entstehenden  Verdichtungen 
laufen  also  nicht  hintereinander  her,  sondern  kreuzen,  durch- 
dringen sich.  Dadurch  entsteht  eine  scharf  ausgeprägte  Ver- 
dichtungswelle, die  sich  von  dem  Geschoß  abzweigt,  ähnlich 
•wie  die  Bugwelle  von  einem  fahrenden  Dampfer  (vgl.  .•\bb.  2). 
Sie  erzeugt  den  zuerst  zu  hörenden  scharfen  Knall ,  während 
der  an  der  Gewehrmündung  durch  das  Abfeuern  hervor- 
gerufene und  mit  normaler  Schallgeschwindigkeit  sich  aus- 
breitende Knall  ihm  nachfolgt. 

Mach  hat  die  von  dem  fliegenden  Geschosse  ausgehenden 
Schallwellen    durch    geeignete    Methoden     sichtbar    gemacht. 


auf  der  man  sieht,  wie  auf  einer  Weide  eine  Eberesche  ge- 
wachsen ist.  Ich  habe  Gelegenheit  gehabt,  ähnliche  Be- 
obachtungen zu  machen.  So  hatte  auf  einer  Weide  sich  eine 
große  Robinia  pseudacacia  angesiedelt  (s.  d.  Abbildung).  Sie 
hat  lange  Jahre  gelebt,  bis  sie  ein  starker  Wind  zersplitterte. 
In  einer  Spalte  des  Stammes  einer  anderen  Weide  hatte  sich 
ebenfalls  eine  wilde  Akazie  entwickelt,  deren  Stamm  einen 
Durchmesser  von  4  cm  hatte.  Auf  dem  Kopf  einer  dritten 
Weide  hatte  sich  ein  Prunus  cerasus  von  2  m  Höhe  und  7  cm 
Durchm.  entwickelt.  In  einem  anderen  Kall  habe  ich  einen 
Faulbaum  (Rhamnus  frangula)  auf  dem  Kopf  einer  Weide  ge- 
sehen. Doch  können  noch  sehr  viele  andere  Pflanzenarten 
auf  Weiden  vorkommen;  hier  eine  Liste  solcher,  die  ich  selbst 
bemerkt  habe:  Tamus  communis,  Lamium  macu- 
latum,     Solanum     dulcaraara,      Sambucus     nigra. 


Die  besondere  Gestalt  der  Geschoßspitze  ergab  dabei  anstatt 
einer  Kegelwelle  eine  solche  in  der  Form  eines  Hyperboloids, 
außerdem  eine  Gliederung  in  Kopf-,  Seiten-  und  Achterwelle 
und  endlich  eigenartige  hinter  dem  Geschosse  sich  bildende 
Wirbel  (vgl.  Abb.  3).  Die  Richtigkeit  der  angegebenen  Er- 
klärung wird  durch  die  öfters  gemachte  Beobachtung  be- 
stätigt, daß  zu  kurze  Schüsse  nur  von  einem  schwachen  Knall 
begleitet  sind,  was  von  Mach  auf  das  Erlöschen  der  Kopf- 
welle zurückgeführt  wird. 

Das  eigenartige  Pfeifen,  Sausen  und  Schwirren  des  Ge- 
schosses erklärt  sich  durch  die  Reibung  desselben  an  der 
Luft.  Es  entsteht  ähnlich  wie  das  kratzende  Geräusch,  das 
der  über  die  Saiten  einer  Geige  hingleitende  und  sie  zum 
Tönen  bringende  Bogen  verursacht.      (G.C.)      Dr.  Fr.  Nölke. 


Hörbarkeit  des  Kanonendonners.  ,,Sehr  zahlre 
obachter  meinten",  heißt  es  iu  der  Naturw.  Wochensch 
S.  589,  „daß  der  Schall  durch  den  Boden  oder  d 
Wasserläufe  fortgeleitet  werde".  Ich  gestatte  mir,  hierzu  ; 
die  im  Felde  ganz  gewöhnliche  Erfahrung  hinzuweisen,  c 
man  entfernte  Kanonaden  stets  am  deutlichsten  in  Unterstänc 
vernimmt.  Sobald  man  aus  dem  Unterstande  nur  in  c 
Graben  heraustritt,  hört  man  viel  weniger  oder  unter  Ü 
ständen   nichts   mehr.     (G.C)  Dr.   V.   Franz. 


he    Be- 

Nr.  41, 
•ch    die 


Über  die  Flora  der  Weiden.  Kein  Baum  ist 
eine  reiche  epiphytische  Flora  zu  beherbergen,  wie 
Das  Studium  der  Pflanzen,  die  auf  dem  Kopf  oder 
Höhlungen  der  Weidenstämme  leben,  würde  sehr 
sein.  Nicht  nur  kleine  Pflanzen,  sondern  auch  Bäume 
auf  Weiden  eine  Entwicklung  finden.  So  hat  G.  K 
schöne    Photographie    veröft 


dieser   Zeitschrift ' 


geneigt, 
Weide. 


ntlicht, 


Achillea  millefolium,  Taraxacum  officinale, 
Oxalis  acetoseUa,  Stellaria  media,  Geranium 
sanguineum,  Viola  odorata,  V.  canina.  Barbare a 
sp.,  Malva  silvestris,  Rubus  discolor,  Fragaria 
vesca,  Chelidonium  majus,  Rumex  acetosa, 
Urtica  dioica,  Parietaria  officinalis,  Humulus 
lupulus,  Polypodium  vulgare,  Aspidium  fili.x  mas. 
Die  mit  verschiedenfarbigen  Blüten  und  Beeren  geschmückten 
Weiden  gewähren  einen  schönen  Anblick.  Wie  können  alle 
diese  Pflanzen  auf  den  Weiden  sich  entwickeln  ■  Es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  daß  nicht  nur  der  Wind,  sondern  auch  Tiere, 
die  Keime  dieser   Pflanzen  auf  die   Weiden   verbreiten. 

B.   Galli-Valerio. 

'J    1916  S.   591. 


Inhalt:  Egon  Eichwald,  Atmung  und  Gärung.  S.  i.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Walther  May,  Antike  Vererbungs- 
theorien. S.  9.  Fr.  Keyl,  Ein  Beispiel  für  die  Beeinflussung  lokaler  Faunen  durch  den 'Weltkrieg.  S.  10.  — 
Einzelberichte:  Zlataroff,  Über  das  Altern  der  Pflanzen.  S.  il.  Ad.  Schumann,  Brutdauer  und  erste  Jugend- 
stadien des  Bartgeiers  Gypaetus  barbatus  L.  S.  12.  Loh  mann,  Isoplankten.  S.  12.  V.  Kutter,  Analyse  schwingender 
Tropfen.  S.  13.  —  Bücherbesprechungen:  .Albert  Heim,  Geologie  der  Schweiz.  S.  14.  —  Anregungen  und 
Antworten:  Doppelklang  der  Gewehrschüsse.  S.  IS.  Hörbarkeit  des  Kanonendonners.  S.  16.  Über  die  Flora  der 
Weiden.    S.    16. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  14.  Januar  1917. 


Nummer  3. 


Eine  merkwürdige  Naturerscheinung  im  Jordantal. 


Dr.   Carl  Schoy,    Essen 
Mit  3  Abbildungen. 


Es  dürfte  sich  auf  unserem  Erdball  nicht  so 
leicht  eine  zweite  Stelle  mit  ähnlichen  klima- 
tischen und  physikalisch  geologischen  Sonder- 
heiten finden,  wie  sie  jener  dem  irdischen  Ant- 
litz tief  eingerissenen  Grabenfurche  eigen  sind, 
die  heute  der  Jordan  von  Nord  nach  Süd  durch- 
strömt und  die  in  ihrem  tiefsten  Teile  vom  Toten 
Meer  erfüllt  ist.  Die  Beduinen  nennen  dies  Tal 
El-Ror  (die  Einsenkung),  den  Jordan  Scheriat  el- 
Kebire  (die  große  Tränke)  und  das  Tote  Meer 
Bahr  el-Lut  (Meer  des  Lot).  Aber  nicht  nur 
bis  hierher  zerbarst  einst  eine  langgestreckte 
Erdscholle  in  einen  tiefen  Schlund:  die  Wir- 
kungen dieses  katastrophalen  Ereignisses  reichen 
heute  noch  weit  durch  das  Wädi  el-'Araba  bis 
zur  Küste  des  roten  Meeres,  ja  selbst  bis  ins 
äquatoreale  Afrika  hinein.  Es  ist  insbesondere 
das  Verdienst  Professor  M.  Blanckenhorn's 
uns  diesen  interessanten  Teil  Palästinas  klima- 
tisch ,  meteorologisch  und  geologisch  erschlossen 
zu  haben.  Die  Resultate  seiner  Palästinafor- 
schungen hat  Blanckenhorn  in  einer  Anzahl 
Schriften  niederlegt,  von  denen  für  uns  in  erster 
Linie  die  „Naturwissenschaftlichen  Studien  am 
Toten  Meer  und  im  Jordantal"  '),  sowie  „Syrien, 
Arabien  und  Mesopotamien"  -)  in  Betracht 
kommen. 

So  gewaltig  war  dereinst  der  Sturz  einer 
Landmasse  zur  Tiefe,  daß  sich  schon  vom  See 
Genezareth  an  die  Talsohle  208  m  unter  den 
Spiegel  des  Mittelmeeres  senkt,  um  am  Toten 
Meer  die  Zahl  — 393  m  zu  erreichen.  Dazu 
hat  das  altbekannte  „Meer  der  Wüste",  das  „Salz- 
meer" der  Israeliten,  oder  der  „Asphaltsee"  der 
Griechen,  selbst  eine  größte  Tiefe  von  401  m, 
so  daß  die  Gesamttiefe  der  Erdspalte  — 794  m 
beträgt.  Wer  vom  Ölberg  (-j-  806  m)  zu  dieser 
Stätte  der  Verwerfung  hinunterpilgert,  steigt  nicht 
weniger  als  1200  m  hernieder,  während  das  Baro- 
meter bei  dem  Druck  der  schweren  Luftmassen, 
die  über  dem  Ror  lagern,  zuletzt  auf  über  800  mm 
zu  stehen  kommt.  Und  wem  in  den  Winter- 
monaten Frost  und  Schnee  den  Aufenthalt  in 
Jerusalem  verleiden,  der  wandere  dieselbe  Straße 
nach  Jericho,  die  uns  aus  des  Heilands  Gleichnis 
bekannt  ist,  und  wenn  er  von  Beduinen  unbe- 
helligt nach  der  uralten  Palmenstadt  gelangt,  so 
umfängt     ihn     dort     sonnig-warmer    Odem     und 


')  Bericht  über  eine  im  Jahre  1908 
des  Sultans  der  Türken  Abdul  Hamid 
Forschungsreise  in  Palästina.     Berlin   1912. 

-)  Handbuch    der   regionalen    Geologie 
Heidelberg    1914. 


Auftrage  S.   M. 
unternommene 


lachender  Lenz.  Denn  dem  Ror  ist  kein  Winter 
gegeben,  dafür  ein  Sommer,  dessen  Hitze  mit 
jener  des  südlichen  Nubiens  wetteifert. ')  Kein 
Wunder,  daß  hier  um  die  Blüten  der  Orangen- 
bäume der  Gärten  Jerichos  das  „zarteste  farben- 
prächtigste" Vöglein,  der  Palästina- Honigsauger, 
schwebt,  den  süßen  Nektar  des  Kelchinhaltes 
frei  in  der  Luft  erhaschend.  (Vgl.  die  in- 
teressanten Mitteilungen  in  Blanckenhorn's 
Naturwiss.  Studien  usw.  S.  410  ff.). 

Doch  sind  es  nicht  solche  Dinge,  von  denen 
ich  eigentlich  berichten  will,  als  vielmehr  von  der 
Überraschung,  die  dem  von  Jerusalem  kommen- 
den Reisenden  die  Magnetnadel  in  der  Gegend 
von  Jericho  bereitet.  Es  möge  hier  die  Stelle 
aus  den  Naturwissenschaftlichen  Studien  usw. 
Blanckenhorn's,  wo  zum  erstenmal  von 
etwas  derartigem  im  Jordantal  die  Rede  ist, 
wörtlich  angeführt  sein  (S.  68  und  69):  „Herr 
Treidel  (Kulturingcnieur  der  Blanckenhorn- 
schen  Expedition)  hatte  im  Laufe  des  Tages 
(23.  Februar)  den  astronomischen  Meridian  fest- 
gestellt, durch  Signale  markiert  und  die  magne- 
tische Deklination  mit  Hilfe  meiner  aus- 
gezeichneten Breithaupt 'sehen  Bussole  zu  l"2' 
nach  O.  bestimmt,  während  sie  sonst  in  Palästina 
augenblicklich  meist  zu  11  — 13"  nach  W.  ange- 
nommen wird.  Das  war  ein  unerwartetes  wissen- 
schaftliches Resultat,  das  einer  Kontrolle  bedurfte. 
Letztere  führte  er  noch  in  der  Nacht  durch  Vi- 
sieren nach  dem  Polarstern  während  der  Kul- 
mination mit  Hilfe  eines  Fadendiopters  aus.  Das 
Resultat  blieb  das  nämliche. 

Später  hat  Treidel  noch  an  anderen  Stellen 
derartige  Vermessungen  vorgenommen,  wie  fol- 
gende Tabelle  zeigt. 

(.Siehe  Tabelle  S.   18) 

Die  Abweichung  der  Deklination  des  unteren 
Jordantales  von  derjenigen  von  Jerusalem  beträgt 
demnach  12  — 13".  Dazwischen  dürfte  eine  Iso- 
gone  von  o"  ungefähr  in  SN  Richtung  verlaufen 
und  mit  dem  stärksten  Gebirgsabfall,  d.  h.  der 
westlichen  Randspalte  des  Grabens  zusammen- 
fallen. Natürlich  wäre  zur  Erklärung  dieser  ab- 
normen Erscheinung  weniger  an  vorhandene  be- 
nachbarte Eisenmassen  als  an  die  Attraktion  der 
Gebirge  im  W.  zu  denken.  Aber  auch  diese 
Erklärung  befriedigt  nicht  recht,  zumal  auch  der 
vom    Gebirgsfuß    am    weitesten    entfernte    Punkt 

')  Vgl.  M.  Blanckenhorn,  Studien  über  das  Klima 
des  Jordantales.  (Zeitschr.  d.  deutschen  Palästinavereins, 
XXXII.  Bd.,    1909,  S.  38  ff.) 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Standpunkt 

Zeit  der 
Feststellung 

Deklii 

ation 

Methode 

I.  Teil  el-Kos 

östlich  von  Jericho 

23.   Februar 

östlich 

I»2' 

Beobachtung    korrespondierender 
Sonnenhöhen   (Thcodollth)    kon- 
trolliert    durch      Polarsternbeob- 
achtung (Fadendiopler.) 

2.  'Ain  Feschcha 

1.  März 

östlich 

ca.   2» 

Polarsternbcobachtung 

3.  Kasr  Hadschla 

(auf  flachem  Dache) 

6.  März 

östlich 

2°  34' 

korrespondierende  Sonnenhöhen 

4.  Jerusalem 

(Hötcl   Fast  auf  dem  Dache) 

17.  März 

westlich 

10»  40' 

korrespondierende  Sonnenhöhen 

Kasr  Hadschla  die  größte  Deklination  aufweist. 
Vielleicht  sind  es  mehr  die  relativ  höheren  Ge- 
birge im  O.,  welche  störend  einwirken.  Der  Lö- 
sung dieser  interessanten  erdmagnetischen  Frage 
wird  sich  nur  durch  eine  größere  Reihe  von 
weiteren  Beobachtungen  im  ganzen  Depressions- 
gebiete anf  beiden  Seiten  des  Flusses,  also  nament- 
lich noch  am  Fuß  des  östlichen  Gebirges  und  auf 
den  beiderseits  umgebenden  Hochplateaus,  näher 
kommen  lassen." 

In  nebenstehendem  Kärtchen  (Abb.  i)  sind  die 
in  Frage  kommenden  Oite  mit  der  ihnen  zuge- 
hörigen Deklinationsrichtung  der  Magnetnadel  ver- 
zeichnet. Selbstverständlich  macht  die  im  Vor- 
beigehen hingeworfene  Bemerkung  Blancken- 
horn's  über  die  mögliche  Ursache  der  ma- 
gnetischen Anomalien  im  Ror  keinerlei  Anspruch 
darauf,  die  endgültige  Lösung  des  Rätsels  zu  sein. 
Unsere  Kenntnisse  vom  Zusammenhang  des  Ge- 
birgsmagnetismus  mit  der  Tektonik  sind  noch  zu 
gering  und  unsicher,  als  daß  damit  eine  bündige 
Theorie  dieses  merkwürdigen  Problems  in  der 
Jordansenke  gewagt  werden  könnte.  Nichtsdesto- 
weniger aber  ist  es  geeignet,  das  spekulative 
Interesse  in  hohem  Grade  zu  erregen,  und  so 
möchte  ich  in  den  folgenden  Zeilen  versuchen, 
die  möglichen  Ursachen  zu  erörtern. 

Zunächst  bemerkte  ich,  daß  die  Längsachse 
des  Rors  vom  Nordufer  des  Toten  Meeres  bis 
zum  Fuße  des  Libanon  fast  genau  von  Süden 
nach  Norden  gerichtet  und  nur  ganz  schwach 
nach  Nordosten  geneigt  ist,  m.  a.  W.  recht  auf- 
fallend mit  der  von  Treidel  konstatierten  De- 
klination der  Magnetnadel  übereinstimmt.  Dies 
scheint  mir  kein  Zufall  zu  sein,  sondern  eher  da- 
rauf hinzudeuten,  daß  die  meridionale 
Grabensenke  selbst  es  ist,  die  auf  die 
Magnetnadel  richtend  wirkt.  Läßt  man 
diese  Annahme  gelten,  so  erhebt  sich  die  weitere 
Frage:  Was  ist  die  endgültige  Ursache  dieser 
magnetischen  Richtkraft  der  Jordansenke?  Man 
könnte  zuerst  an  Eisenerzlager  der  Randgebirge 
rechts  und  links  der  Talfurche  denken,  wodurch 
eine  lokale  Störung  der  Magnetnadel  in  ablenken- 
dem Sinne  bewirkt  würde,  aber  diese  Annahme 
entbehrt  jeder  besonderen  Stütze.  Auch  vulka- 
nisches Gestein,  das  ja  magnetische  Ladung  auf- 
weist,   findet  sich    nirgends  in  der  Nähe,    sondern 


ist  viel  weiter  im  Norden  und  im  Haurängebirge. 
Bis  in  die  Gegend  von  Jericho  dürfte  aber  sein 
magnetischer  Einfluß  keinesfalls  reichen.  Und  da 
auch  der  Untergrund  des  Rors  keine  vulkanischen 
Gesteine  enthält,  wie  mir  Herr  Professor  Dr. 
Blanckenhorn  brieflich  noch  besonders  ver- 
sicherte und  wie  auch  die  Profile  S.  88  der  schon 
erwähnten  Schrift  Bla  ncke  n  h  or  n's  „Syrien, 
Arabien  und  Mesopotamien"  deutlich  zeigen,  so 
verbleibt    nur   die    Schlußfolgerung,    daß    die    ge- 


heimnisvolle Ursache  ganz  allein  im  Ror  selbst 
zu  suchen  ist.  Wie  kann  man  sich  das  denken? 
Einen  Fingerzeig  gibt  die  unbestreitbar  er- 
wiesene Tatsache,  daß  hier  einst  eine  langgestreckte 
Erdmasse  in  die  Tiefe  sank.  Für  die  eingehende 
Schilderung  der  einzelnen  Phasen  der  Aus-  und 
Umbildung  des  Jordantales  möchte  ich  auf 
Blankenhorn's  eben  erwähntes  geologisches 
Werk  (S.  50  ff.  u.  82  ff.)  verweisen.  Wir  haben 
uns  für  unser  Problem  vor  allem  zu  vergegen- 
wärtigen, daß  vor  dem  Einsturz  ein  unterirdischer 
Hohlraum  bestanden    haben  muß,    dessen  Gestalt 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


ungefähr  mit  derjenigen  der  heutigen  Talfurche 
übereinstimmte.  Nun  sind  nach  den  allgemeinen 
physikalischen  Vorstellungen  die  Deklinationslinien 
oder  Isogonen  auf  der  hrdoberfläche  nichts  anderes 
als  die  Richtungslinien  der  magnetischen  Kraft, 
die  von  einem  magnetischen  Pol  der  Erde  zum 
anderen  strömt.  Bekanntlich  ist  eine  wagerecht 
schwebende  Magnetnadel  in  der  Richtung  dieser 
magnetischen  Kraft  im  Gleichgewicht  oder  anders 
ausgedrückt:  wir  bestimmen  die  horizontale  Di- 
rektion der  magnetischen  Kraft  durch  Feststellung 
des  Richtungsunterschiedes  der  Nadel  mit  der 
astronomischen  Nordsudrichtung  eines  Ortes  und 
nennen  diesen  Winkelunterschied  östliche  oder 
wcsihche  Deklination,  je  nachdem  der  Nordpol 
der  Nadel  nach  Osten  oder  Westen  von  der  ort- 
lichen Mittagslinie  abweicht.  Aber  nicht  nur  die 
Oberfläche  der  Erde  wird  von  solchen  magnetischen 
Richtlinien  durchzogen,  die  magnetische  Richtkraft 
wird  auch  im  Erdinnern  bestehen.  Also  werden 
auch  magnetische  Kraftlinien  auf  jenen  ur- 
sprünglichen Hohlraum  des  Rors  aufgetroffen 
haben.  Da  fand  ihr  bisheriger  Verlauf  im  Gestein 
plötzlich  eine  Unterbrechung  durch  einen  Lult- 
körper,  und  wir  werden  nicht  erwarten  dürfen, 
daü  sie  denselben  einfach  ohne  Ricntungsänderung 
durchsetzten.  Zur  Veranschaulichung  ihrer  mut- 
maßlichen Ablenkung  diene  der  Versuch  mit  dem 
eisernen  Hohlzylinder  oder  der  Hohlkugel,  die 
man  in  ein  magnetisches  Feld  bringt.  Da  der 
Luttraum  den  Kraftlinien  beim  Durchgang  viel 
mehr  Widerstand  entgegensetzt  als  weiches  Eisen, 
so  nehmen  sie  in  einer  Hohlkugel  den  in  Abb.  2 
dargestellten  Verlauf,  sie  scheinen  vor  dem  Hohl- 
raum auszubiegen  und  sich  am  Rande  der  Kugel 
zusammenzudrängen. 

Nun  ist  ja  freilich  ein  Unterschied  zwischen 
der  magnetischen  Leitungsfähigkeit  des  Eisens 
und  des  Gesteins;  aber  letzteres  übertrifift  sicher 
an  magneiibcher  Durchlässigkeit  die  Lult.  Man 
kann  sich  den  geringen  Grad  der  magnetischen 
Leitungsfahigkeit  der  Lult  als  einen  Widerstand 
des  Lullkörpers  vorstellen,  der  gewissermaßen  die 
magnetischen  Kraftlinien  des  (jesteins  von  sich 
abdiängt.  An  einer  langgestreckten  Hohllorm 
wird  dann  der  Verlauf  der  ivialtlinien  der  gewesen 
sein,  daß  sie,  nach  dem  Parallelogramm  der  Kräfte, 
der  Resultanie  folgend,  mehr  der  Längsrichtung 
der  Hohlform  entlang  zogen  und  sich  am  Rande 
verdichteten.  Nur  wenige  Kraftlinien  werden  ohne 
grüße  Ablenkung  den  Hohlkörper  direkt  durch- 
setzt haben  (Abb.  3).  Wahrscheinlich  haben  sie 
schon  damals,  also  vor  erlolgtem  Einbruch,  durch 
ihre  Induktionskraft  das  über  der  Huhlform  lagernde 
Gestein  so  magnetisiert,  daß  die  Kraftlinien  in 
demselben  ebenfalls  die  Längsrichtung  der  Hohl- 
form annahmen  und  nach  dem  Einsturz  dauernd 
beibehielten.  Tnft'i  diese  Vermutung  zu,  so  er- 
laubt sie  folgende  Schlußfolgerungen: 

I.  Besonders  an  den  Rändern  einer  Bruchzone, 
wo   sich    die  Kraftlinien   verdichteten,    dürfte  eine 


völlige  Koinzidenz  ihrer  Richtung    mit  derjenigen 
der  Bruchlinie  stattfinden. 

2.  Infolgedessen  könnte  man  erwarten,  daß  längs 
des  ganzen  Rors,  vom  Nordrande  des  Toten  Meeres 
bis    zum  See    von   Tiberias, 

die  Richtung  der  Magnet- 
nadel ungefähr  dieselbe  ist, 
und  daß  die  Nadel  im  Süden  \    \ 

des  Rors  noch  weiter  nach  \     \ 

Osten  abweicht. 

3.  Damit  erklärte  sich 
auch  die  größere  östliche 
Deklination  bei  Ksar  Had- 
schla,  das  berehs  an  der 
Flexur  liegt,  mit  der  das 
Ror  mehr  in  eine  südsüd- 
westliche Richtung  übergeht. 
(Vgl.  die  Geologische  Karte, 
dießlankenhorn's  Tote- 
Meer-Buch  beigegeben  ist.) 
Bei  'Ain  Feschcha  (Quelle 
Feschcha)  streicht  die  Bruch- 
linie um  etwa  8"  gen  Nordost. 
Trotzdem  hat  diese  Stelle 
nur  2"  östliche  Deklination. 
Hier  ist  eine  störende  Ein- 
wirkung des  Randgebirges 
sehr  wahrscheinlich. 

4.  Auch  auf  die  magne- 
tischen Anomalien  in  der 
Nähe  von  Vulkanen  fiele 
durch  diese  Annahme  etwas 
Licht.  Denn  die  unterirdi- 
schen Hohlräume,  denen  die 
Magmamassen  entsteigen, 
werden  stets  eine  Verände- 
rung der  Richtung  der 
magnetischen  Kraftlinien  be- 
wirken, etwa  wie  bei  einer 
Hohlkugel.  Ebenso  dürfte  man  alsdann  bei  tekto- 
nischen  Beben  daran  denken,  daß  räumliche  Verände- 
rungen im  Erdkörper  eine  Störung  der  magnetischen 
Kraftlinien  auslösten.  Ganz  von  selbst  verstände 
es  sich  in  unserem  F"alle,  daß  die  magnetischen 
Isogonen  in  der  ostasiatischen  Inselwelt  sich  oft 
ganz  auffallend  parallel  mit  der  Inselküste  er- 
strecken. (So  auf  Sumatra,  Java  und  in  Japan.) 
Dort  begegnen  wir  der  größten  Bruchzone  der 
Erde.  1) 

5.  P'erner  könnte  auf  Grund  der  dargelegten 
Vermutung  auch  eine  Erklärung  des  kosmischen 
Magnetismus  versucht  werden.  Wenn  Sonnen- 
flecken nichts  anderes  als  gewaltige  Verliefungen 
des  Sonnenkörpers  sind,  so  ist  damit  eine  Störung 
des  Sonnenmagnetfeldes  sofort  gegeben  und  auch 


Abb.  3. 


')  Vgl.  für  nähere  Details  über  magnetische  Störungs- 
gebiete: E.  Naumann,  Die  Erscheinungen  des  Erdmagne- 
tismus in  ihrer  Abhängigkeit  vom  Bau  der  Erdrinde,  StuUgart 
18S7,  wo  be  onders  die  magnetische  Vermessung  Japans  durch 
Naumann  eingehend  behandelt  ist,  sowie  S.  Günther, 
Handbuch  der  Geophysik,  2.  Aufl.,  Stuttgart  1897,  I.  Bd., 
S.  578  ff. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


eine  Verdichtung  der  Kraftlinien  an  den  Rändern 
eines  solchen  Fleckes.  ^)  Und  vielleicht  ist  die 
sog.  säkulare  Variation  des  Erdmagnetismus  in 
letzter  Linie  auch  an  innere  räumliche  Umlage- 
rungen  gebunden. 

Sollte  ich  mit  diesem  Erklärungsversuch,  auf 
den  ich  in  der  erdmagnetischen  Literatur  noch 
nirgends    gestoßen    bin,    nicht    wesentlich  irren,  ') 


')  Über  sehr  genaue  Messungen  der  magnetischen  Feld- 
stärke von  Sonnenflecken  möge  man  die  interessanten  Aus- 
führungen G.  F..  Haies:  „The  Earth  and  Sun  as  Magnets". 
(.\na.  Rep.  of  the  Smith  sonian  Inst,  for  the  Year  ending 
June   30,    1913  u.    1914)  zu   Rate  ziehen. 

^)  Der  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Stellung  der 
Magnetnadel  ist  freilich  auch  nicht  ganz  außer  acht  zu  lassen. 
Die  Wärme  wird  auf  einem  flachen  Dach  zu  Kasr  Hadschia 
am  6.  März  sicher  niclit  gering  gewesen  sein.     Blankenhorn 


SO  müßte  eine  vollständige  magnetische  Durch- 
forschung des  Rors  die  Probe  aufs  Exempel  liefern. 
Ich  hoffe  sie  in  friedlicheren  Zeiten  an  Ort  und 
Stelle  machen  zu  können ! 


verzeichnet  für  Kasr  Hadschia  +38»  C  als  höchste  März- 
temperatur im  Schatten.  (Vgl.  Studien  über  das  Klima  des 
Jordantales  S.  Ö3.)  Wieviel  Grade  mag  dann  die  von  der 
Sonne  durchstrahlte  Luft  gehabt  haben! 

J.   v.   Lamont    hat  in  seinem  Handbuch   des   Erdmagne- 
tismus,   Berlin    1849,    I.   Bd.,    S.    127     folgende    Angaben    über 
den  Temperatureinfluß  auf  die  Stellung  eines  Magneten  gemacht: 
Temperatur:  Ablesung   des  Kreises: 

a,-"  294°  15,6' 

46,9°  293037,1' 

9"  294017,4' 

42,30  293044,5' 

3S0  293"  51.9' 

28O  294O    3,0'  usw. 


[Nachdruck  verboten. 

Jede  neue  Entdeckung  muß  einen  Kampf  um 
ihre  Anerkennung  bestehen,  umsomehr  je  wich- 
tiger die  Entdeckung  ist  und  je  mehr  sie  den 
herrschenden  Anschauungen  widerspricht.  Es  ist 
also    begreiflich,    daß    die    neue    Lehre    von    den 


Über  denkende  und  buchstabierende  Hunde. 

Eine  Entgegnung  von  Prof.   Dr.  H.  E.  Ziegler  (Stuttgart). 

Es  gibt  eine  große  Menge  von  zuverlässigen 
Beobachtungen,  durch  welche  mit  voller  Sicher- 
heit bewiesen  ist,  daß  diese  Hypothese  der  Zeichen- 
gabe nicht  richtig  ist  und  daß  die  Äußerungen 
aus  dem  Tiere  selbst  stammen.    Ich  muß  in  dieser 


rechnenden  und  buchstabierenden  Tieren  mannig-      Hinsicht  auf  die  ganze  Literatur')    verweisen,    da 
fachen  Widerspruch  gefunden   hat.     Aber  wissen-      es  nicht  möglich  ist,  an  dieser  Stelle  über  alle  die 

zahlreichen  und  mannigfaltigen  Versuche  zu  be- 
richten. Hier  will  ich  nur  den  Nachweis  führen, 
daß  die  Hypothese  von  Dr.  Neu  mann  nicht 
richtig  ist  und  daß  seine  Versuche  durchaus 
keine  Beweise  für  seine  Ansicht  bilden. 

Die  Einwände,  welche  gegen  die  Echtheit  der 
Äußerungen  der  buchstabierenden  Hunde  vorge- 
bracht werden,  lassen  sich  in  folgende  Kategorien 
bringen : 

1.  Einwände  aus  direkter  Beobachtung. 

2.  Einwände  aus  Versuchen  mit  einem  Er- 
gebnis. 

3.  Einwände  aus  Versuchen  ohne  Ergebnis, 
d.  h.  solchen  Versuchen,  bei  welchen  der  Hund 
überhaupt  keine  Antwort  oder  keine  zugehörige 
Antwort  gegeben  hat. 

4.  Einwände,  welche  aus  der  Höhe  der  Lei- 
stungen abgeleitet  werden. 

Einwände  aus  direkter  Beobachtung  werden 
von  Dr.  N  e  u  m  a  n  n  nicht  erhoben ,  wohl  aber 
von  Prof  Herbst,  welcher  behauptet,  in  der 
öffentlichen  Vorführung  am  II.  IVlai  1915  vom 
Zuschauerraum  aus  gesehen  zu  haben,  daß  bei 
jeder  Zahl  mit  dem  Karton  ein  Zeichen  gegeben 
werde.  '■')  Aber  ich  habe  das  Klopfen  sehr  oft 
von  allernächster  Nähe  beobachtet  und  keine 
Spur  solcher  Zeichen  gesehen.    Auch  alle  anderen 


schaftlich  ist  zu  fordern,  daß  die  sogenannten 
Entlarvungen ')  einer  ebenso  strengen  Kritik 
unterworfen  werden  wie  die  positiven  Versuche, 
und  aus  diesem  Grunde  muß  ich  die  Veröffent- 
lichung von  Dr.  med.  W.  Neumann  in  Nr.  37 
dieser  Zeitschrift  einer  eingehenden  Besprechung 
unterziehen,  -j 

Bekanntlich  klopft  der  Hund  die  Zahlen, 
welche  Buchstaben  bedeuten,  auf  die  Hand  oder 
auf  einen  mit  der  Hand  hingehaltenen  Pappdeckel. 
Dr.  Neu  mann  spricht  nun  wieder  die  schon  oft 
vorgebrachte  Hypothese  aus,  daß  mit  der  Hand 
oder  dem  Pappdeckel  dem  Hunde  Zeichen  ge- 
geben würden.  Folglich  würde  es  sich  bei  allen 
derartigen  Versuchen  überhaupt  nicht  um  Ge- 
danken des  Tieres  handeln,  sondern  um  Äuße- 
rungen derjenigen  Person,  welche  den  Pappdeckel 
in  der  Hand  hält. 

'j  Die  Entlarvungen  bestehen  immer  darin,  daß  die 
Leistungen  der  Tiere  aus  einer  Zeichengebung  abgeleitet 
werden,  aber  diese  einfache  Erklärung  hat  sich  schon  in 
früheren  Fällen  als  unrichtig  erwiesen.  Dr.  Pfungst  be- 
hauptete, daß  das  Pferd  des  Herrn  v.  Osten  durch  unbe- 
wußte kleine  Zeichen  beeinflußt  gewesen  sei,  und  der  Zauber- 
künstler Faustin  US  stellte  die  Meinung  auf,  daß  den  Elber- 
felder  Pferden  durch  den  Pferdewärter  Albert  Zeichen  ge- 
geben worden  seien.  Das  eine  ist  so  falsch  wie  das  andere, 
wie  ich  an  anderer  Stelle  nachgewiesen  habe  (Die  Seele  des 
Tieres,  Berliu  1916,  S.  36—42.  Mitteilungen  der  Gesellschaft 
für  Tierpsychologie,  1916,  S.  20—25).  Ich  verweise  auch  auf 
meinen  Artikel  über  die  Elberfelder  Pferde  in  Nr.  16  der 
Naturw.  Wochenschr.   1915. 

")  Eine  ausführlichere  Widerlegung  der  Behauptungen  von 
Dr.  Neu  mann  habe  ich  in  den  „Mitteilungen  der  Gesell- 
schaft für  Tierpsychologie"  (1916,   2.   Heft)  veröffentlicht. 


')  Ich  nenne  die  Schrift  „Die  Seele  des  Tieres"  (Berlin, 
W.  Junk,  1916)  und  die  „Mitteilungen  der  Gesellschaft  f.  Tier- 
psychologie" 1913 — 1916,  wo  auch  die  übrige  Literatur  er- 
wähnt ist. 

^)  Naturw.  Wochenschr.   1916,  Nr.  38,  S.   538. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


wissenschaftlichen  Beobachter,  die  stundenlang 
aus  der  Nähe  das  Klopfen  verfolgten,  haben 
nichts  von  solchen  Zeichen  bemerkt.  Wenn 
solche  Zeichen  überhaupt  vorhanden  wären,  so 
müßten  sie  jedenfalls  so  klein  sein,  daß  sie  aus 
direkter  Beobachtung  weder  zu  beweisen  noch  zu 
widerlegen  sind.  Folglich  ist  die  Streitfrage  bei 
dem  Hunde  Rolf  durch  die  einfache  Beobachtung 
nicht  zu  entscheiden.  Bei  der  Hündin  Lola, 
welche  von  Fräulein  H.  Kind  ermann  unter- 
richtet wurde  und  ganz  ähnliche  Leistungen  auf- 
weist, läßt  sich  die  Zeichenhypothese  schon  durch 
die  direkte  Beobachtung  ausschließen;  denn  Lola 
gibt  die  Einer  mit  der  linken  Pfote,  die  Zehner 
mit  der  rechten  Pfote  an,  wie  dies  K.  Krall  bei 
den  Elberfelder  Pferden  einführte.  Daraus  ergibt 
sich  eine  Abwechslung  in  der  Verwendung  der 
Füße,  welche  durch  die  von  Prof  Herbst  an- 
genommene Zeichengebung  nicht  zu  erklären 
wäre. ') 

Übrigens  beruht  der  Beweis  für  die  Echtheit 
der  Antworten  der  Hunde  überhaupt  nicht  dar- 
auf, daß  man  solche  Zeichen  nicht  sieht,  sondern 
auf  den  überaus  eigenartigen  und  mannigfaltigen 
Äußerungen  der  Tiere  und  insbesondere  auf  den 
sehr  oft  angestellten  „unbewußten"  Versuchen,  bei 
welchen  das  Tier  über  Gegenstände  und  Ereig- 
nisse Au-^kunft  gab,  welche  der  den  Karton 
haltenden  Person  gar  nicht  bekannt  waren,  und 
zu  welchen  sie  also  gewiß  keine  Zeichen  geben 
konnte.  Denn  was  man  selbst  nicht  weiß,  kann 
man  weder  aussprechen  noch  durch  irgendwelche 
Zeichen  mitteilen. 

Ich  komme  also  zu  denjenigen  Einwänden, 
welche  auf  Grund  positiver  Versuche  erhoben 
werden.  In  dieser  Hinsicht  liegen  nur  die  zwei 
Versuche  vor,  welche  Dr.  Neu  mann  und  Dr. 
L  o  t  m  a  r  angestellt  haben  ;  Neumann  undLot- 
mar  behaupten,  daß  der  IVlannheimer  Hund  bei 
diesen  beiden  Versuchen  etwas  buchstabiert  habe, 
was  er  gar  nicht  gewußt  habe,  sondern  was  nur 
Fräulein  Moekel  bekannt  gewesen  sei.  Aber  in 
diesen  Versuchen  sind  so  offenkundige  Fehler- 
quellen vorhanden,  daß  ihnen  gar  keine  Beweis- 
kraft zukommt. 

Der  eine  Versuch  beruht  darauf,  daß  der 
Hund  den  Namen  Lotmar  geklopft  hat,  den  er 
angeblich  nicht  wissen  konnte.  Aber  die  Herren 
Neu  mann  und  Lotmar  dachten  nicht  daran, 
daß  Dr.  Neu  mann  schon  früher  in  der  F~amilie 
Moekel  von  seinem  Freunde  Lotmar  ge- 
sprochen hatte.  Nach  den  übereinstimmenden 
Berichten  von  Fräulein  Luise  IVIoekel  und 
ihrer  Großmutter,  Frau  Major  von  Moers,  hatte 
Dr.  Neumann  früher  schon  seinen  Freund  er- 
wähnt und  den  Gedanken  geäußert,  daß  Fräulein 
Moekel  —  eine  begabte  Violinspielerin  —  mit 
ihm  musizieren  solle.  Der  Name  war  also  Fräu- 
lein   Luise    von    Anfang    an    bekannt    und    auch 


')   Vgl.   meine   Bemerkung    über  die  Zählweise  der   Elbs 
felder  Pferde  in  „Die  Seele  des  Tieres"  S.  39. 


der  Hund  konnte  ihn  wissen.  Außerdem  wurde 
der  Name  während  des  Versuches  selbst  ausge- 
sprochen, insbesondere  hat  sich  Dr.  Lotmar 
während  des  Versuches  der  eintretenden  Groß- 
mutter mit  seinem  Namen  vorgestellt.  Außer- 
dem flüsterte  Dr.  N  e  u  m  a  n  n  den  Namen 
P^räulein  Luise  ins  Ohr,  wobei  also  die  Mög- 
lichkeit besteht,  daß  der  Hund  mit  seinem  feinen 
Gehör  das  vernommen  habe.  Der  Versuch  ist 
also  überaus  nachlässig  angestellt,  und  kein  kri- 
tischer Forscher  kann  demselben  irgendwelche 
Beweiskraft  zusprechen.  Ich  stelle  hier  die  ganz 
verschieden     lautenden    Berichte     nebeneinander. 


Bericht  von 
Dr.  Neumann. 

Wir  beide  haUen  ausge- 
macht, dem  Hunde  nicht  den 
Familiennamen  Lolmar ,  son- 
dern Dr.  Lotraar's  zweiten 
Vornamen  Ferdinand  zu  sagen. 
Rolf  hat  also  den  Namen 
Lotmar  nie  gehört.  Später 
fragte  ich ,  indem  ich  auf 
Dr.  Lotmar  zeigte  :  „Rolf,  wie 
heißt  denn  dieser  Herr?"  Der 
Name  Lotmar  war  in  Rolfs 
Gegenwart  noch  nie  aus- 
gesprochen worden;  darauf 
hatte  ich  besonders  scharf 
aufgepaßt.  Rolf  antwortete 
„Mag  nid",  d.  h.  Mag  nicht. 
Ich  sah  deutlich ,  daß  Luise 
Moekel  den  Namen  Lotmar 
sich  nicht  gemerkt  hatte. 
Da  zu  diesem  Augenblicke 
Rolf  in  eine  andere  Ecke  des 
Zimmers  sprang  um  dort  etwas 
Eßbares  zu  erhaschen,  flüsterte 
ich,  indem  ich  meine  Lippen 
ganz  nahe  an  ihr  Ohr  brachte 
und  sehr  deutlich  aussprach 
Luise  Moekel  ins  Ohr:  „Glau- 
ben Sie,  daß  der  Name  Lotmar 
vielleicht  zu  schwer  istf" 
Niemand  bemerkte  die  Szene, 
selbst  Dr.  Lotmar  nicht. 
Luise  antwortete;  „Nein,  nicht 
zu  schwer."  Rolf  wurde  zu- 
rückgerufen und  abermals 
nach  dem  Namen  gefragt.  Er 
antwortete  ohne  Zögern 
„Lodmr",  d.  h.  Lolmar.  Er 
buchstabierte  also  einen  Na- 
men, den  er  nie  gehört, 
während  er  den  Namen 
Ferdinand,  der  ihm  gesagt 
wurde,  nicht  erwähnt. 


Bericht  von 
Fräulein  Moekel. 

Dr.  Neumann  hatte  uns 
geschrieben,  daß  er  einen 
Besuch  aus  dem  Felde  mit- 
bringen werde.  Er  kam  auch 
mit  einem  Herrn  in  feld- 
grauer Uniform ,  den  er  uns 
aber  so  undeutlich  vorstellte, 

Namen  verstehen  konnte.  Als 
etwas  später  meine  Groß- 
mutter ins  Zimmer  kam, 
stellte  sich  der  Gast  in 
m e iner Gege n w art  sehr 
deutlich  als  Dr.  Lotmar 
vor.  In  der  Folge  sagte 
Dr.  Neumann  während  des 
Gesprächs  zu  mir;  „Sehen  Sie, 
Luise,  das  ist  nun  mein  Freund, 
von  dem  ich  Ihnen  das  letzte- 
mal  erzählte;  er  spielt  wirk- 
lich wunderschön  Violine", 
und  zu  Dr.  L.  gewandt,  fuhr 
er  fort:  ,, Lotmar,  möchten 
Sie  nicht  mit  Frl.  Moekel 
Duette  spielen,  das  wäre  nett." 
Dr.  Neumann  hat  also  den 
Namen  Lotmar  (wahrschein- 
lich ,  ohne  es  selbst  zu  be- 
merken) ausgesprochen,  und 
zwar  in  Gegenwart  des  Hundes, 
der  während  der  ganzen  Zeit 
neben  meinem  Stuhl  lag.  Es 
ist  bekannt,  daß  dem  Hund 
nichts  entgeht,  was  im  Zimmer 
gesprochen  wird.  Kurze  Zeit 
darauf  bat  mich  Dr.  Neumann, 
den  Hund  nach  dem  Namen 
seines  Freundes  zu  fragen. 
Der  Hund  gab  aber  bloß 
„nein"  und  sprang  zum  Büfett, 
wo  gerade  belegte  Brötchen 
serviert  wurden.  Da  kam 
plötzlich  Dr.  Neumann  auf 
mich  zu  und  sagte  mir  — 
auffallend  deutlich  —  ins  Ohr ; 
„Glauben  Sie  nicht,  Luise, 
daß  der  Name  Lotmar  viel- 
leicht zu  schwer  ist?"  Ich 
verneinte  und  war  erstaunt 
über  diese  .Äußerung,  Etwas 
später  frug  ich  den  Hund 
noch  einmal  nach  dem  Namen, 
worauf  ich  nun  die  Antwort 
„lodmr"  erhielt.  Da  feststeht, 
daß  dieser  Name  vorher 
mehrere     Male      von      Herrn 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Dr.  Neuraann  selbst  ausge- 
sprochen worden  war,  so  sind 
die  Behauptungen  des  Herrn 
Dr.  Neumann,  dafi  ich  den 
Namen  zurzeit  der  ersten 
Weigerung  des  Hundes  nicht 
gekannt  hätte  und  daß  der 
Hund  den  Namen  überhaupt 
nicht  gehört  hätte,  restlos 
widerlegt. 


Der  andere  Versuch  der  Herren  Neu  mann 
und  Lot  mar  ist  nicht  besser  als  der  eben- 
genannte. Dr.  Neumann  behauptet,  daß  er  der 
kleinen  zehnjährigen  Karla  auf  dem  Vorplatz  der 
Wohnung  einen  Hund  aus  Papierma«se,  einen 
schwarzen  Teckel,  und  zugleich  eine  Schachtel 
gezeigt  habe,  und  daß  der  buchstabierende  Hund 
Rolf  von  diesen  Dingen  gesprochen  hätte,  ohne 
sie  gesehen  zu  haben.  Dr.  Neu  mann  nimmt 
an,  daß  die  kleine  Karla  davon  wohl  ihrer 
Schwester  Luise  berichtet  habe,  daß  aber  der  Hund 
davon  nichts  erfahren  habe.  Man  sieht  sofort, 
daß  der  Versuch  unklar  ist,  weil  die  Möglichkeit 
besteht,  daß  der  Hund  eine  solche  Mitteilung  ge- 
hört haben  könnte.  In  Wirklichkeit  hat  aber  Dr. 
Neu  mann  den  Teckel  und  die  Schachtel  in  das 
Versuchszimmer  hineingebracht,  so  daß  der  Hund 
beides  sehen  konnte.  Die  nachherige  Äußerung 
über  die  Schachtel  ist  also  vollkommen  begreiflich. 
Das  Tier  ist  in  un'^erer  Zeit  der  Fleisch-  und 
Brotmarken  immer  sehr  freßgierig  und  vermutete 
in  der  Schachtel  etwas  Eßbares,  da  ihm  ja  von 
den  Besuchern  oft  Leckerbissen  in  Schachteln  ge- 
bracht worden  sind.  Als  nun  der  Hund  nachher 
von  Fräulein  Luise  veranlaßt  wurde,  etwas  über 
den  Vorgang  zu  äußern,  so  klopfte  er  folgendes: 
,,Is  was  dsu  sn  in  glei  braun  egig  sagdl  fon  dr 
dagl",  d.  h.  Ist  was  zu  essen  in  klein  braun  eckig 
Schachtel  von  dem  Dackel.  Ich  meine,  daß  diese 
Äußerung  nach  Form  und  Inhalt  den  Stempel 
der  Echtheit  trägt. 

Ich  stelle  nun  wieder  die  ganz  verschieden 
lautenden  Berichte  nebeneinander: 


Moers);    „in   glei    bra. 
sagdl  fon   der  dagl  is   d 


Bericht  von 
Dr.  Neumann. 

Ich  ging  mit  der  zehn- 
jährigen Karla  in  den  Vorplatz, 
wo  wir  allein  waren.  Dort 
zeigte  ich  ihr  das  Paket  mit 
dem  Dackel,  packte  es  aber 
nicht  aus.  Ich  zeigte  ihr  auch 
die  braune  Schachtel  und 
sagte,  daß  ich  etwas  für  Rolf 
zu  essen  hineintun  wolle. 
Nachher  gingen  wir  spazieren, 
und  nur  Frau  v.  Moers  und 
Fräulein  Luise  Moekel  blieben 
zurück,  um  von  Rolf  zu  er- 
fahren, was  Dr.  Lotmar  und 
ich  ihm^^gezeigt  hatten.  Als 
wir  zurückkehrten,  vernahmen 
■wir,  daß  Rolf  auf  das 'von 
Luise  Moekel  gehaltene  Klopf- 
brett folgendes  geklopft  hatte 
(protokolliert     von     Frau     v. 


Bericht  von 
Fräulein  Moekel. 

„Meine  Großmutter  und 
ich  hielten  uns  im  Wohn- 
zimmer auf,  als  Herr  Dr.  Neu- 
mann mit  meiner  kleinen 
Schwester  Karla  auf  den 
Korridor  ging,  woselbst  er  ihr 
einen  kleinen  aus  Pappe  ge- 
fertigten Teckel  zeigte.  Gleich- 
zeitig frug  er,  ob  sie  ihm  et- 
was Gummi  arabicum  geben 
könne,  weil  er  ein  kleines 
Schächtelchen,  in  welchem 
sich  Bonbons  befanden,  an 
dem  Teckel  befestigen  wolle. 
Hierauf  ging  Dr.  Neumann 
mit  Karla  nach  dem  F.ßzimmer, 
wo  er  in  der  offenen  Türe 
stehen  blieb,  den  Teckel  samt 
der  Schachtel  unter  dem  Rock 
verbarg  und  meine  Schwester 


Frieda  zur  entgegengesetzten 
Türe  des  Zimmers  hinaus- 
schickte. Hierauf  nahm 
er  die  beiden  Sachen 
wieder  aus  dem  Rock 
hervor,  während  der 
Hund  ihn  beschupperte 
und  begrüßte.  Dann  löste 
der  Hund  einige  Rechen- 
aufgaben, klopfte  aber  plötz- 
lich statt  einer  zu  gebenden 
Lösung  das  Wort  „Hundl". 
Dr.  Neumann  unterbrach  rasch 
und  sagte :  ,,Was  Rolf  eben 
geklopft  hat,  bezieht  sich  auf 
einen  Versuch,  ich  will  das 
erst  später  von  ihm  hören; 
Luise  wird  so  gut  sein  und 
ihn  nachher  fragen,  was  ich 
ihm  mitgebracht  habe."  Als 
die  beiden  Herren  dann  mit 
meinem  Vater  und  meinen 
Geschwistern  spazieren  gingen, 
klopfte  Rolf  bei  mir  nach 
langem  Sträuben,  und  erst 
nachdem  ich  ihn  geschlagen 
hatte,  ,,is  was  dsu  sn  braun 
egig",  und  als  ich  das  nicht 
verstehen  konnte  und  ihn 
drängte,  sich  deutlicher  aus- 
zudrücken, gab  er  nach  wieder- 
holter Weigerung  :  „sagdl  fön 
dr  dagl".  Wir  faßten  diesen 
Satz  als  Frage  auf.  ."Ms  Dr. 
Neumann  wieder  zurückkam, 
gab  ich  ihm  diese  von  meiner 
Großmutter  gemachte  Auf- 
zeichnung, worüber  er  sich 
sehr  erfreut  zeigte." 


Daß  die  Beschreibung  von  Fräulein  Moekel 
richtig  ist,  geht  mit  voller  Sicherheit  daraus  hervor, 
daß  der  Hund  während  der  Rechenaufgaben  auf 
den  gezeigten  Dackel  Bezug  genommen  hat; 
folglich  muß  er  zu  dieser  Zeit  das  Hündchen 
schon  gesehen  haben.  Dieser  Versuch  hat  also 
ebenfalls  gar  keine  Beweiskraft  in  dem  Sinne,  wie 
ihn  die  Herren  Neu  mann  und  Lotmar  ver- 
wenden wollen.  Die  angeblichen  Gegenbeweise 
sind  also  ganz  hinfällig. 

Ich  komme  nun  zu  denjenigen  Einwänden, 
welche  aus  mißlungenen  Versuchen  abgeleitet 
werden,  also  solchen,  bei  welchen  der  Hund  ge- 
stellte Fragen  nicht  beantwortet  oder  eine  er- 
wartete Antwort  nicht  gegeben  hat.  Es  ist  von 
vornherein  einleuchtend,  daß  solche  negative  Ver- 
suche gar  keine  Beweiskraft  haben.  Irgendeine 
Störung,  Ablenkung  oder  Hemmung,  jeder  Mißrruif, 
jede  Abneigung,  jeder  Eigensinn  des  Hundes  kann 
das  erwartete  Ergebnis  vereiteln.  Es  besteht  in 
dieser  Hinsicht  ein  großer  Unterschied  zwischen 
Dressurleistungen  und  Verstandesleistungen;  die 
ersteren  kann  man  erzwingen,  die  letzteren  nicht; 
die  Dressur  kann  man  durch  häufige  Wiederholung 
so  geläufig  machen,  daß  sie  stets  gelingt,  aber  die 
Denkarbeit  wird  leicht  durch  allerlei  Störungen 
gehemmt.  Wie  die  Schüler  einer  Klasse  vor  einem 
plötzlich  erscheinenden  Schulinspektor  meistens 
schlechter  antworten   als  im  täglichen  Unterricht, 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


23 


so  kommen  auch  bei  den  buchstabierenden  Tieren 
die  Höchstleistungen  bei  den  Prüfungen  und  Vor- 
führungen meistens  nicht  heraus.  Oft  versagen 
die  Tiere  in  solchen  Fällen  vollständig.  Das  hat 
sich  schon  bei  den  Eberfelder  Pferden  gezeigt  und 
tritt  in  ganz  ähnlicher  Weise  auch  bei  dem  Mann- 
heimer Hund  zutage. 

Wenn  man  von  den  Tieren  Verstandesleistungen 
erwartet,  ist  man  auf  den  guten  Willen  derselben 
angewiesen.  Wird  das  Tier  unwillig  oder  wider- 
spenstig, so  stehen  alle  seine  Äußerungen  unter 
dem  Einfluß  dieser  Stimmung. \)  Daher  spielt  auch 
die  Zuneigung  oder  Abneigung  des  Tieres  eine 
große  Rolle.  Ein  Beobachter,  gegen  welchen  das 
Tier  eine  Abneigung  oder  ein  Vorurteil  besitzt 
wird  immer  Mißerfolge  haben.  Dieser  Fall  lag 
bei  Dr.  Ne  u  m  a  n  n  vor.  Er  erzählt  ja  selbst 
(S.  523),  wie  der  Hund  jede  Antwort  ablehnte  mit 
dem  Bemerken :  „Neumanns  Versuch,  mag  nit."  Da- 
her kommt  es  mir  geradezu  unverständlich  vor,  daß 
Neu  mann  aus  seinen  negativen  Ergebnissen  Ein- 
wände gegen  die  gut  gelungenen  Versuche  anderer 
Beobachter  ableiten  will.  Es  beweist  gar  nichts, 
wenn  der  Hund  den  ihm  vorgesagten  Namen 
„Ferdinand"  nicht  wiederholte  und  von  Neumann's 
Fähnchen  und  Heringen  nichts  wissen  wollte. 
Über  alle  diese  negativen  Resultate  kann  ich  also 
ohne  weiteres  hinweggehen. 

Ich  komme  nun  zu  denjenigen  Einwänden, 
welche  aus  der  erstaunlichen  Höhe  der  Leistungen 
abgeleitet  werden.  Diese  machen  auf  die  Leser 
den  meisten  Eindruck,  denn  jeder  Mensch  glaubt 
eine  ungefähre  Vorstellung  von  den  etwa  möglichen 
Fähigkeiten  eines  Hundes  zu  haben;  wenn  die 
Leistungen  der  buchstabierenrien  Hunde  darüber 
hinaus  gehen,  so  sagt  er  alsbald:  ,,Das  glaube  ich 
nicht."  Aber  im  Grunde  handelt  es  sich  nur  um 
ein  Vorurteil.  Es  hat  früher  niemals  buch- 
stabierende Hunde  gegeben,  also  kann  niemand 
a  priori  wissen,  was  sich  nun  zeigen  kann,  wenn 
dem  Hunde  die  Möglichkeit  der  Gedankenäußerung 
gewährt  wird. 

Es  verhält  sich  mit  der  Beurteilung  der  gei- 
stigen Fähigkeiten  von  Pferden  und  Hunden  eben- 
so wie  bei  den  taubstummen  Menschen,  welche 
in  früherer  Zeit  oft  unterschätzt  wurden,  während 


')  Für  einen  aufmerksamen  Benbachter  ergibt  sich  sogar 
ein  Beweis  für  die  Echtheit  der  Äußerungen  der  Tiere  aus 
dem  Umstand,  daß  dieselben  stets  mit  der  Stimmung  des 
Tieres,  nicht  mit  der  Absicht  des  Versuchsleiters  überein- 
stimmen. Ist  das  Tier  hungrig,  so  kommi-n  auch  diesbezüg- 
liche Äußerungen;  z.  B.  zeigte  ich  dem  Hunde  im  Neben- 
zimmer eine  Postkarte  und  er  sagte  dann:  ,,isd  egal  was  auf 
dum  gard  sdd,  libr  dsu  sn"  (ist  egal  was  auf  der  dummen 
Karte  steht,  lieber  zu  essen.)  Ist  das  Tier  eigensinnig,  so 
kann  man  ihm  auf  alle  Art  zureden,  es  kommen  doch  nur 
unsinnige  oder  unartige  Äußerungen  heraus.  Bei  einem  neuer- 
dings angestellten  Experiment  vor  fremdem  Besuch  war  der 
Hund  widerwillig,  während  Fräulein  Luise  sich  alle  erdenk- 
liche Muhe  gab,  ihn  zu  guten  Antworten  zu  bewegen.  Schließ- 
lich sagte  sie  zu  ihm;  ,,\Venn  du  jetzt  nicht  artig  antwortest, 
wirst  du  in  den  Keller  gesperrt  und  bekommst  nichts  zu 
fressen."  Der  Hund  antwortete  nach  Art  eines  unartigen 
Knaben  „fang  radl  in  glr"  (fange  Ratten  im  Keller). 


man  ihnen  jetzt  durch  geeigneten  Unterricht  die 
Möglichkeit  des  Sprechens  gibt  und  dadurch  ihre 
wahren  Fähigkeiten  erkennt.  Ein  im  Verkehr 
mit  den  Menschen  lebender  Hund  lernt  die  Sprache 
der  Menschen  und  nimmt  damit  einen  großen  Teil 
der  Gedankenwelt  der  Menschen  in  sich  auf. ') 
Gibt  man  ihm  nun  die  Fähigkeit  sich  auszudrücken, 
so  kommen  seine  Gedanden  zutage,  großenteils 
solche,  welche  er  von  den  Menschen  übernommen 
hat.  Wie  ein  Kind  von  5  Jahren  in  seinen 
Äußerungen  die  Ausdrucksweise  und  Gedanken- 
welt des  Elternhauses  bekundet,  so  spiegelt  sich 
auch  in  dem  Hunde  das  was  er  in  seiner  Um- 
gebung gehört  hat.  Es  ist  aKo  gar  nicht  auf- 
fallend, daß  das  Tier  nach  dem  Tode  von  Frau 
Dr.  Moekel  einen  Brief  geschrieben  hat,  in  welchem 
sich  Wendungen  finden,  die  offenbar  aus  Beileids- 
briefen stammen,  welche  in  der  Familie  verlesen 
wurden.  In  ähnlicher  Weise  ist  es  zu  verstehen, 
daß  er  vor  Weihnachten  vom  Christkindchen  ge- 
sprochen hat.  Aus  philosophischen  Gesprächen, 
die  in  der  Familie  geführt  wurden,  hat  er  sogar 
den  Gedanken  aufgeschnappt,  daß  die  Tiere  von 
einer  „Urseele"  stammen.  ')  Diese  Äußerung 
klingt  sehr  auffallend,  aber  sie  erklärt  sich  eben- 
so einfach  wie  die  Bezugnahme  auf  das  Christ- 
kindchen. 

Ich  kenne  eine  sehr  große  Menge  von  Äuße- 
rungen des  Mannheimer  Hundes,  da  ich  alle  die 
Aufzeichnungen  gelesen  habe,  welche  Frau  Dr. 
Moekel  im  Laufe  von  mehreren  Jahren  gemacht 
und  in  dem  Manuskript  ihres  Buches  zusammen- 
gestellt hat.  ^)  Ich  kann  also  versichern,  daß  sich 
alle  ohne  Schwierigkeit  erklären  lassen,  wenn 
man  dem  Hunde  das  Eriimerungsvermögen  und 
Denkvermögen  eines  Kindes  zuerkennt.  Ich  trete 
seit  mehreren  Jahren  mit  meinem  wissenschaft- 
lichen Namen  dafür  ein,  daß  es  sich  um  echte 
Äußerungen  des  Tieres  handelt,  und  die  Richtig- 
keit meiner  Ansicht  hat  sich  in  einer  Menge 
neuer  Beobachtungen  durchaus  bestätigt. 

Aber  ich  habe  nicht  zu  verantworten,  was  die 
Gegner  erfunden  haben.  So  hat  Dr.  Neumann 
fälschlich  die  Behauptung  aufgestellt ,  daß  der 
Hund  „Gedichte"  mache.  Ein  von  ihm  flüchtig 
gemachter  Auszug  aus  dem  Manuskripte  der 
Frau  Dr.  Moekel  ist  die  Ursache  dieses  Irrtums 
—  wenn  man  überhaupt  eine  solche  in  bestimmter 
Absicht  aufgestellte  Behauptung  noch  einen  Irr- 
tum nennen  kann.  In  der  Familie  Moekel 
weiß  niemand  etwas  von  Gedichten  des  Hundes, 
und    Dr.    Neu  mann     kann     das     nicht     besser 


')  Ich  verweise  auf  meine  Aufsätze  über  „Das  begriffliche 
Denken  beim  Menschen  und  bei  Tieren"  und  „Das  Gedächtnis 
und  die  Rechenfähigkeit"  in  der  Schrift  über  die  „Seele  des 
Tieres"  (Berlin   1916). 

'-)  Der  Gedanke,  daß  alle  Lebewesen  von  einer  Urseele 
stammen,  findet  sich  in  der  neuplatonischen  Philosophie  und 
auch   anderwärts. 

^)  Das  Erscheinen  des  Buches,  welches  sich  im  Verlage 
von  Robert  Lutz  in  Stuttgart  befindet,  ist  bis  jetzt  durch 
den  Krieg  verhindert  worden. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


wissen  wollen,  da  ja  sein  ganzes  Material  von 
der  Familie  Mo  ekel  stammt. 

Alle  die  angeblichen  Gegenbeweise  fallen 
also  in  sich  zusammen.  Dadurch  erledigen 
sich  auch  alle  die  Folgerungen,  welche  Dr.  Neu- 
mann  an  seine  Experimente  geknüpft  hat.  Es 
gibt  ja  andere  Versuche  genug,  aus  welchen  die 
Unrichtigkeit  seiner  Ansicht  klar  zu  erkennen  ist. 
Ich  verweise  auf  die  Experimente  von  Prof 
G.  Wolff,  Dr.  Mackenzie  und  Dr.  Gru  ber  ij, 
sowie  auf  den  Versuch  von  Dr.  Ritters- 
bacher  und  Dr.  Lindemann  in  Bergzabern.'-) 
Ferner  erwähne  ich  meinen  neuen  Versuch,  bei 
welchem  ich  dem  Hunde  eine  lebende  Ratte  mit- 
gebracht hatte,  wovon  niemand  etwas  wußte, 
sowie  den  notariell  beglaubigten  Fall,  in  welchem 
der  Hund  die  Striche  auf  dem  Rücken  eines 
künstlichen  Kanarienvogels  erwähnte  „dr  hd  fei 
hr  bei  bugl"  (der  hat  fein  Haar  bei  Buckel),  der 
ihm  in  einem  entfernten  Zimmer  gezeigt  worden 
war  •■*). 

Wie  in  dem  vorletzten  Hefte  der  Mitteilungen 


»)  G.  Wolff,  Die  denkenden  Tiere  von  Elberfeld  und 
Mannheim  (Süddeutsche  Monatshefte,  Januar  1914  und  Tier- 
seele  1914,  4.  Heft). 

Dr.  W.  Mackenzie,  Meine  Versuche  mit  dem  Hunde 
Rolf  (Tierseele    1914,  4.   Heft). 

Dr.  K.  Gruber,  Vom  denkenden  Hunde  Rolf  (Mitteil. 
d.  Ges.  f.  Tierpsychol.   1913). 

2)  Der  Versuch  vom  12.  Mai  1914,  Mitteil.  d.  Ges.  f. 
Tierpsychol.   1914. 

ä)  Mitteil.  d.  Ges.  f.  Tierpsychol.   19 16,  2.  Heft. 

Bern  errungen  zu  der 

Der  Aufforderung  des  Herrn  Herausgebers, 
mich  zu  Herrn  Prof  Z  ie  gler's  Ausführungen  zu 
äußern,  kann  ich  deswegen  sehr  kurz  nachkommen, 
weil  Herr  Ziegler  ungefähr  das  gleiche,  was  er 
oben  gegen  meine  Versuche  einzuwenden  hatte, 
schon  mehrfach  veröffentlicht  hat  und  weil  ich 
ihm  in  der  ,, Badischen  Landeszeitung"  (Nr.  419 
vom  8.  September  191 6)  schon  entgegengetreten 
bin.  Ich  habe  es  darum  nicht  nötig,  nochmals 
Einzelheiten  zu  besprechen  und  darzulegen,  daß 
Herr  Ziegler  seine  Behauptungen  nicht  auf  Nach- 


der  Ges.  f.  Tierpsychologie  mitgeteilt  wird,  gibt 
es  außer  dem  „Rolf  noch  drei  andere  Hunde, 
Nachkommen  desselben,  welche  ebenfalls  buch- 
stabieren können,  und  an  welchen  die  Besitzer 
ganz  unabhängig  voneinander  ähnliche  Beobach- 
tungen gemacht  haben.  Das  Buchstabieren  der 
Hunde  ist  also  nicht  an  bestimmte  Personen  ge- 
bunden, und  damit  erweisen  sich  alle  die  Ver- 
dächtigungen als  hinfällig,  welche  gegen  einzelne 
Personen  vorgebracht  worden  sind.  Der  Mann- 
heimer Hund  buchstabierte  nicht  nur  bei  Frau 
Dr.  Moekel,  sondern  er  tut  dasselbe  bei  ihrer 
Mutter,  bei  ihrer  erwachsenen  Tochter  Luise 
und  bei  der  zehnjährigen  Tochter  Karla,  ja  zu- 
weilen auch  bei  den  Dienstmädchen.  Der  Hund 
von  Fräulein  Kindermann  antwortet  nicht  nur 
ihr  selbst,  sondern  auch  ihrer  Mutter  und  ihrem 
Bruder. 

So  ist  die  Möglichkeit  einer  absichtlichen 
Täuschung  vollkommen  ausgeschlossen,  während 
eine  unabsichtliche  Zeichengebung  bei  den  mannig- 
faltigen, in  Form  iind  Inhalt  so  eigenartigen  und 
oft  recht  langen  Äußerungen  der  Hunde  über- 
haupt undenkbar  ist. 

Wer  sich  über  die  ganze  Streitfrage  ein  Ur- 
teil bilden  will,  muß  eben  die  zugehörige  Literatur 
studieren,  in  welcher  die  zahlreichen  und  ijnbe- 
streitbaren  Beweise  für  die  Echtheit  der  Äuße- 
rungen der  Hunde  enthalten  sind.  Wer  diese 
Mühe  scheut,  mag  bei  den  alten  Vorurteilen 
bleiben. 

obigen  Entgegnung. 

Untersuchungen  stützt,  die  meinen  Versuchen  an- 
gepaßt sind,  sondern  auf  die  Aussagen  von  jungen 
Mädchen,  deren  Glaubwürdigkeit  durch  meine  und 
Dr.  Lotmars  Versuche  hinfällig  geworden  ist. 
Seine  Behauptungen  sind  deshalb  vollkommen 
wertlos.  Auch  die  oben  meinen  Versuchs- 
protokollen gegenübergestellten  nachträglich 
von  Frl.  Luise  Moekel  verfaßten  Berichte 
über  die  fragliche  Sitzung  kann  ich  nur  als  Er- 
innerungstäuschungen auffassen,  die  entsprechend 
zu  beurteilen  sind.  Wilhelm  Neumann. 


Einzelberichte. 


Geophysik.  Eine  Reihe  vulkanologischer 
Probleme  erfahren  eine  neue  Beleuchtung  durch 
die  von  F.  Loewinson- Lessing  (Tschermak's 
Miner.  u.  petrogr.  Mitteil.  33,  377,  191 5)  anläßlich 
der  Vorarbeiten  für  die  zentralkaukasische  Eisen- 
bahn durchgeführten  Untersuchungen  über  die 
Vulkane  und  Laven  des  zentralen  Kaukasus. 
Das  Gebirge  ist  mehrmals  der  Schauplatz  vulka- 
nischer Tätigkeit  gewesen,  zuletzt  am  Ende  der 
Tertiärzeit.  Diese  letzte  Periode  ist  Gegenstand 
der  vorliegenden  Untersuchung.  Das  Eruptions- 
gebiet   beschränkt    sich    auf   den   Zentralteil    der 


Hauptkette  und  die  sog.  Nebenkette.  Es  ist  eine 
Eigentümlichkeit  dieser  vulkanischen  Region,  daß 
dem  Gebirge  neuere  Vulkane  aufgesetzt  sind,  die 
auch  zum  Teil  nach  beendeter  Gebirgsbildung 
noch  in  postpliozäner  Zeit  tätig  waren,  so  daß 
den  jüngeren  vulkanischen  Gesteinen  ein  bedeu- 
tender Anteil  an  der  Bildung  der  höchsten  Teile 
der  Kette  zukommt.  Aschen  und  Tufle  fehlen 
in  diesem  Gebiet  fast  vollkommen,  und  Schlacken- 
kegel spielen  nur  eine  ganz  untergeordnete  Rolle. 
Im  wesentlichen  treten  nur  Lavavulkane,  Quell- 
kuppen und  extrusive  Massen  auf. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Die  Laven  des  zentralen  Kaukasus  gehören 
überwiegend  zur  dacitischen  P^amilie  im  weiteren 
Sinne   des    Wortes.      Es    treten ,    ausgehend    vom 


Dacit  vier  Reihen  von  Übergängen  zu  benach- 
barten sauren  Lavatypen  nach  dem  folgenden 
Schema  auf: 


Andesitbasalte 

I 

Andesite 

1 

Andesitdacite 

Pantellerite — Pantelleritdacite — Dacite— Trachytdacite — Trachyte 

Liparitdacite  Quarztrachyte 

I 
Liparite 


Von  allen  vier  Zweigen  wurden  Vertreter  ge- 
funden. Dies  läßt  auf  ein  gemeinschaftliches 
Magmareservoir  für  das  ganze  Gebiet  schließen. 
Zu  Beginn  der  Tätigkeitsperiode  treten  die  sauersten 
Laven,  Liparitdacite  auf;  dann  folgt  eine  lange 
Zeit  andesitdacitischer  und  dacitischer  Eruptionen; 
die  jüngsten  Eruptionsprodukte  weisen  hin  auf 
eine  Neigung  des  Magmas  basaltisch  zu  werden. 
Als  Erklärung  dafür  wird  angenommen,  daß  das 
Magma  ursprünglich  andesitische  Zusammensetzung 
hatte;  in  der  der  Eruption  vorangehenden  Ruhe- 
pause ging  jedoch  eine  Differenzierung  vor  sich 
unter  Bildung  einer  oberen  sauren  und  einer 
unteren  basischen  Schicht;  infolgedessen  mußte 
die  Eruption  mit  sauren  Typen  beginnen  und  mit 
basischen  endigen. 

Bei  den.  im  zentralen  Kaukasus  auftretenden 
vulkanischen  Apparaten  sind  zwei  Haupttypen  zu 
unterscheiden :  Einmal  finden  wir  Schlacken-  und 
Lavakegel,  die  auf  Lavaströmen  aufsitzen  und  als 
sekundäre  Bildungen,  wahrscheinlich  unter  Mit- 
wirkung von  Gasen  entstanden,  zu  betrachten 
sind.  Die  andere  Kategorie  umfaßt  morphologisch 
recht  verschiedene  Bildungen ,  die  jedoch  eine 
Reihe  von  gemeinsamen  Eigenschaften  haben. 
Alle  sind  kraterlose  reine  Lavavulkane  ohne  An- 
zeichen von  Explosionen.  Sie  befinden  sich  in 
den  höchsten  Partien  der  Gebirgskämme.  Die 
angelehnten  Schiefer  sprechen  mehr  oder  minder 
deutlich  dafür,  daß  diese  Vulkane  an  durchbrochene 
und  zerstörte  Antiklinaldome  gebunden  sind.  Jeder 
Vulkan  hat  sich  in  einer  Eruptionsphase  erschöpft. 
In  der  Verteilung  zeigt  sich  keinerlei  Regel- 
mäßigkeit, die  auf  Gruppierung  längs  einer  Spalte 
schließen  läßt,  vielmehr  bietet  das  ganze  Gebiet 
das  Bild  einer  auf  kleinem  Raum  von  einer  Reihe 
unabhängiger  Vulkanschlote  siebartig  durch- 
löcherten Gebirgskette.  Die  verschiedenen  vul- 
kanischen Apparate  scheinen  durch  die  gemein- 
same Quelle  ihrer  Laven  genetisch  eng  verknüpft 
zu  sein.  Der  Viskositätsgrad  und  die  Menge  der 
letzteren  sind  bestimmend  für  den  morphologischen 
Typus  jedes  einzelnen  Vulkans;  die  sauren,  vis- 
kosen Laven  neigen  zu  baldiger  Verstopfung  des 
Schlotes    und    Bildung    von    Lakkolithen    und    ex- 


trusiven  Massiven ,  die  leichtflüssigen ,  basischen 
erzeugen  Lavavulkane  und  ausgedehntere  Ströme. 
Als  Extrusion  bezeichnet  Verf.  die  Bildung 
solcher  vulkanischer  Apparate,  an  deren  Erzeugung 
nicht  Explosion ,  sondern  nur  Magmadruck  teil- 
nimmt. Extrusivmassive  sind  demnach  als  zur 
Erdoberfläche  durchgedrungene  Intrusivkörper  an- 
zusehen. Die  Möglichkeit  solcher  Bildungen 
wurde  in  neuester  Zeit  durch  vulkanologische 
Untersuchungen  auf  Island,  den  Liparischen 
Inseln  u.  a.  wieder  wesentlich  näher  gerückt  — 
eine  wenigstens  teilweise  Rechtfertigung  der  alten 
Theorie  der  ErhebungskraterLeopoldv. Buchs.  — 
Der  enge  Zusammenhang  der  Extrusivkörper  mit 
den  übrigen  vulkanischen  Erscheinungen  erhellt 
aus  der  folgenden  systematischen  Zusammen- 
stellung: 

1.  Explosive  Bildungen  (Maare,  Schlacken- 
kegel usw.) 

2.  Lavavulkane(Schildvulkane, Spaltergüsse  usw.) 

3.  Gemischte  polygene  Vulkane  vom  Vesuv- 
typus. 

4.  Extrusive  Bildungen  (Quellkuppen,  Eruptions- 
lakkolithe  usw.) 

5.  Intrusive  Bildungen  (Lakkolithe,  Intrusiv- 
gänge  usw.) 

Im  untersuchten  Gebiet  des  zentralen  Kaukasus 
sind  alle  fünf  Gruppen  vertreten,  hauptsächlich 
die  zweite  und  vierte. 

Über  die  Ursache  der  Bildung  von  Extrusiv- 
massiven  liegen  verschiedene  Meinungen  vor. 
Bergeat  nimmt  Ausdehnung  von  Gasen  an, 
Stübel  Ausdehnung  des  Magmas  bei  der 
Verfestigung,  G 1  a  n  g  e  a  u  d  —  für  die  Auvergne  — 
Druck  sinkender  Schollen.  Letzteres  ist  auch  für  das 
Kaukasusgebiet  anzunehmen,  das  überhaupt  viel 
Ähnlichkeit  mit  der  Auvergne  hat.  Der  vulkanische 
Prozeß  ist  hier  offenbar  nur  eine  passive  Erscheinung; 
das  aktive  Element  ist  die  Dislokation  der  Erd- 
kruste zur  Zeit  des  letzten  und  stärksten  Forma- 
tionsprozesses des  Kaukasus.  Dabei  sonderte  sich 
in  der  Tiefe  längs  der  Wasserscheide  ein  Magma- 
bassin ab,  dessen  Inhalt  an  die  Stellen  geringsten 
Widerstandes,  d.  h.  in  die  Antiklinalgewölbe  ge- 
drängt wurde.     Es  tritt  daher  an  diesen  Regionen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


zerrender  Spannung  eine  Häufung  von  Intrusiv- 
körpern,  eventuell,  bei  schwachen  Gewölben,  von 
Extrusivmassiven  auf.  Von  diesem  Standpunkt 
aus  braucht  auch  nicht  nach  unsichtbaren  Spalten 
gesucht  werden,  an  welche  die  vulkanische 
Tätigkeit  gebunden  sein  soll.  Sichtbare  Spalten 
sind  nicht  vorhanden.  Verf  neigt  zu  der  Annahme, 
daß  allgemein  Masseneruptionen ,  seien  es  Lava- 
vulkane oder  Spalteruptionen,  in  letzter  Instanz 
auf  Dislokationsbewegungen  in  benachbarten  oder 
entfernteren  Teilen  der  Erdkruste  zurückzuführen 
sind.  Die  Last  der  dort  sinkenden  Schollen  ist 
die  erste  Ursache  von  den  in  benachbarten  Faltungs- 
und Hebungsgebieten  auftretenden  Eruptionen,  die 
somit  unabhängig  von  präexistierenden  Spalten 
sind.  Dies  gilt  aber  nicht  für  Vulkane,  die  in 
Glasexplosionen  oder  Deckenschmelzung  flach 
liegender  Magmaherde  ihren  Ursprung  haben. 
Scholich. 

Botanik.  Ein  Naturdenkmal  Deutsch-Südafrikas 
unter  britischem  Schutze.  Die  deutsche  Verwaltung 
unserer  südwestafrikanischen  Kolonie  hatte  vor 
dem  Kriege  eine  der  Charakterpflanzen  der  süd- 
afrikanischen Wüste  unter  ihren  besonderen  Schutz 
gestellt.  Es  handelt  sich  um  Welwitschia  mirabilis, 
eine  der  merkwürdigsten  aller  bekannten  Pflanzen, 
die  mit  ihren  zwei  langen,  bandförmigen  Blättern 
an  dem  zwergartigen ,  kreiseiförmigen  Stamme, 
wie  F.  W.  Neger  sich  ausdrückt,  eine  Karikatur 
der  stolzen  Familie  der  Gymnospermen  darstellt. 
Nahe  der  Haltestelle  Welwitsch  an  der  Windhuk- 
bahn  war  von  der  deutschen  Verwaltung  ein 
Gebiet,  in  dem  die  Pflanze  vorkommt,  eingehegt. 
Nach  einer  Mitteilung  des  Sekretärs  der  (britischen) 
Gesellschaft  zur  Förderung  der  Naturschutzgebiete, 
W.  R.  Ogilvie  Grant  (Times,  2i.  IX.  1916) 
hat  die  südafrikanische  Union  den  Schutz  der 
Welwitschia  Bainesii,  wie  die  Engländer  sie  nennen 
(sie  wird  auch  mit  Benutzung  des  einheimischen 
Namens  N'tumbo  als  Tumboa  Bainesii  bezeichnet) 
übernommen,  das  eingehegte  Gebiet  bleibt  Schutz- 
gebiet für  diese  Pflanze,  und  es  ist  verboten, 
Exemplare  auszugraben  oder  zu  verkaufen. 

H.  P. 

Zerstörung  von  Ziegelmauerwerk  durch  Orga- 
nismen. Dipl.  Ing.  Ludwig  Reese  hat  in 
einer  Dissertation:  Krankheiten  und  Zerstörungen 
des  Ziegelmauerwerkes  (Diss.  a.  d.  Kgl.  Techn. 
Hochschule  zu  Hannover,  Leipzig  1916)  u.  a.  auch 
die  durch  Organismen  hervorgerufenen  Zer- 
störungen an  Ziegelmauerwerk  gewürdigt. 

Ist  die  Oberfläche  des  Ziegelmauerwerkes  an- 
gegriffen, zeigen  sich  Risse.  Sprünge  oder  Ab- 
Sprengungen  an  Ziegeln  und  Fugen,  so  setzen  sich 
leicht  erdige  Bestandteile  darin  fest,  und  pflanzliche 
Organismen  setzen  das  Werk  der  Zerstörung  fort. 
Moose,  Flechten  und  Gräser  zwängen  ihre  Wurzeln 
in  die  Spalten  und  sprengen  allmählich  kleinere 
Stücke    ab,    bis   schließlich    größere    Pflanzen    im 


Mauerwerk  Fuß  fassen  und  es  vernichten.  Welche 
Kraft  die  Pflanzen  bei  ihrem  Wachstum  entfalten, 
ersieht  man  z.  B.  an  dem  sog.  geöffneten  Grab 
auf  dem  Friedhof  der  Gartenkirche  in  Hannover, 
wo  durch  eine  Birke  ein  großer  Sandsteinblock 
beiseite  geschoben  und  sogar  die  eisernen 
Klammern  gesprengt  wurden,  welche  den  Block 
hielten.  Aber  auch  kleinere  Pflanzengebilde 
können  in  entsprechender  Zeit  dem  Mauerwerk 
zum  Schaden  gereichen.  Mann  kann  des  öfteren 
die  Beobachtung  machen,  daß  diejenigen  Stellen 
des  Ziegelmauerwerks,  welche  mit  altem  Moos 
bewachsen  sind,  einen  poröseren  Eindruck  machen 
als  unbewachsene  Stellen,  wobei  allerdings  die 
Frage  ist,  ob  die  Moosvegetation  die  Ursache  oder 
die  Folge  ist,  und  wenn  das  erste  zutrifft,  ob  das 
Moos  selber  zerstörend  wirken  kann.  Algen  ver- 
leihen dem  Ziegelmauerwerk  eine  gelbliche  oder 
grüne  Färbung.  Ihr  Auftreten  ist  weniger  durch 
die  Beschaffenheit  des  Materials  als  durch  dessen 
Färbung  bedingt,  denn  nach  Seger  treten  sie 
ausschließlich  an  hellgefärbten  Steinflächen  auf, 
während  dunkle  Stellen  davon  freibleiben.  Auch 
zeigen  sie  sich  nicht  nur  bei  den  gewöhnlichen, 
gelben  Ziegeln  mit  kalkhaltiger  Masse,  sondern 
auch  bei  Chamottesteinen,  wenn  sie  vor  direktem 
Sonnenlicht  geschützt  und  der  Feuchtigkeit  aus- 
gesetzt sind. 

Bei  der  Tatsache,  daß  manche  Spaltpilze  eine 
sehr  geringe  Größe,  nämlich  weniger  als  ^/,  000 
Millimeter,  besitzen  und  imstande  sind,  die  Wan- 
dungen selbst  schwachporöser,  zur  Filtration  von 
Wasser  dienender  Gefäße  zu  durchwachsen,  liegt 
die  Vermutung  nahe,  daß  auch  das  Ziegelmauer- 
werk mit  seinen  relativ  großen  Poren  als  Aufent- 
haltsort für  Mikroben  dienen  könnte.  Diese  Frage 
ist  mehrfach  untersucht,  erörtert  und  wohl  end- 
gültig von  Hesse  und  Emmerich  entschieden 
worden. 

Zunächst  steht  fest,  daß  Zimmerluft  durchweg 
mikrobenreicher  ist  als  Außenluft,  das  Eindringen 
von  Außenluft  also  die  Mibrobenmenge  nicht  ver- 
größern, sondern  nur  herabsetzen  kann. 

Die  Versuche  ergaben,  daß  Luftströme  von  so 
geringer  Geschwindigkeit,  wie  sie  dei  der  Poren- 
ventilation auftreten,  nicht  imstande  sind,  Bakterien 
durch  eine  Mauer  zu  führen,  sondern  sie  nur  gegen 
die  Mauerfläche  zu  drängen  vermögen,  an  welcher 
sie  dann  hängen  bleiben.  Ob  sie  hier  untergehen 
oder  fortleben,  hängt  von  der  Oberflächenbeschaf- 
fenheit der  Mauer  ab.  Bei  feuchtwarmem  Zustande 
kann  allerdings  ein  Wachstum  und  sogar  ein  ge- 
wisses Hineinwachsen  der  Bakterien  in  die  Mauer 
eintreten,  doch  soll  dies  nach  Eminerich  be- 
langlos sein,  da  ein  Hindurchwachsen  unter  der 
stark  desinfizierenden  Wirkung  des  Kalkhydrates, 
welches  bei  Feuchtigkeit  der  Mauer  immer  be- 
steht, nicht  denkbar  ist.  Es  sollen  sogar  Wände 
aus  undurchlässigem  Material  dem  Gedeihen  der 
Mikroben  günstig  sein,  weil  an  der  Innenseite  leicht 
Feuchtigkeit  sich  niederschlägt,  die  aus  der  Zimmer- 
luft   sowohl    Bakterien   als    auch    Nährmittel    für 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


27 


dieselben  aufnehmen  kann;  ausreichend  poröse 
Wände  sind  davon  frei.  Als  Ausnahmen  können 
allerdings  im  Kerne  des  Mauerwerkes  Bakterien 
vorkommen,  wenn  z.  B.  bei  Mauern  aus  großen 
Werkstücken  nicht  genügend  Kalkhydrat  vorhanden 
ist,  oder  wenn  durch  Gehalt  der  Mauer  an  ge- 
wissen Stoffen,  wie  Schwefelsäure,  oder  durch 
Zuführung  von  Urin  der  Ätzkalk  neutralisiert  wird. 
Die  Möglichkeit,  daß  Bakterien,  welche  bei  Her- 
stellung der  Formlinge  in  den  Ton  gelangten,  in 
den  gebrannten  Ziegeln  fortleben  könnten,  ist 
ausgeschlossen,  weil  die  Steine  bei  so  hoher 
Temperatur  gebrannt  werden,  daß  ein  Weiter- 
bestehen der  Mikroben  undenkbar  ist. 

Bei  der  Salpeterbildung  können  die  mit  Nitro- 
monas  bezeichneten  Spaltpilze  durch  die  Wirkung 
ihrer  Stoffwechselprodukte  nachteilig  auf  Ziegel 
und  Mörtel  einwirken,  doch  wird  ihr  Einfluß  sich 
hauptsächlich  auf  der  Oberfläche  des  Mauerwerks 
bemerkbar  machen. 

Von  den  sog.  Trockenfäulepilzen  ist  ein 
Eindringen  der  Mycelfäden  in  das  Ziegelmauerwerk 
wegen  ihrer  Dicke  und  Kürze  nicht  zu  befürchten. 
Anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  dem  echten 
Hausschwamm  (Merulius  lacrymans).  Sein  Mycel 
vermag  vom  Holz  auf  das  Mauerwerk  überzugreifen, 
denn  die  Mycelfäden  des  Hausschwammes  sind  so 
dünn  und  werden  lang,  daß  sie  durch  die  Poren  in 
das  Ziegelmauerwerk  eindringen  können.  Nahrung 
findet  er  dort  zwar  nicht,  da  im  Mauerwerk  kein 
Kohlenstoff  vorhanden  ist.  Bei  der  Holzreparatur 
kommt  es  leicht  zu  einem  Wiederauftreten  des 
Hausschwammes,  weil  das  neue  Holz  von  dem  im 
Mauerwerk  sitzenden  Myrel  angesteckt  wird.  Bei 
Schwammreparaturen  muß  also  auf  diesen  Umstand 
Rücksicht  genommen  werden. 

An  feuchten  Wänden  zeigen  sich  häufig  weiß- 
graue, watteartige  Schimmelwucherungen,  die  ihr 
Wachstum  meist  dem  verderbenden  Tapetenkleister 
verdanken.  Bei  Beseitigung  der  F'euchtigkeit  ver- 
schwinden sie  regelmäßig.  Es  sei  jedoch  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  manche  Salzauswitte- 
rungen sehr  häufig  das  Aussehen  von  Schimmel- 
pilzen haben  und  ebenfalls  weißgrau,  haarähnlich 
oder  watteartig  das  Mauerwerk  bedecken,  so  daß 
man  sich  leicht  täuschen  kann.       Dr.  Aulmann. 

Zoologie.  Der  periodische  Reorganisations- 
prozeß bei  Infusorien.  Als  „Endomixis"  haben 
Woodru  ff  und  Erdmann  vor  zwei  Jahren  einen 
Vorgang  beschrieben,  der  bei  Paramaecium  aurelia 
periodisch  wiederkehrt  und  in  einer  vollständigen 
Erneuerung  des  Kernapparates  dieses  Infusors  be- 
steht. Der  ganze  Reorganisaiionsprozeß  erinnert 
sehr  an  die  Vorgänge  bei  der  Konjugation,  jedoch 
findet  er  in  einer  einzigen  Zelle  statt,  es  erfolgt 
keine  Zellverschmelzung,  es  unterbleibt  somit 
auch  die  Amphimixis.  Von  verschiedenen  Seiten 
ist  der  Prozeß  als  „Parthenogenese"  bezeichnet 
worden  —  im  Gegensatz  zu  Woodruff  und 
Erdmann    freilich,    die    diese    Bezeichnung    ab- 


lehnen — ,  und  in  der  Tat  dürfte  es  sich  auch  im 
wesentlichen  um  die  gleiche  Erscheinung  handeln 
wie  bei  der  parthenogenetischen  Fortpflanzung  der 
Metazoen.  Die  Ergebnisse  der  Untersuchungen 
Woodruffs  und  Erdmann's  an  Paramaecium 
aurelia,  die  für  unsere  theoretischen  Vorstellungen 
von  den  Potenzen  einer  Protozoenzelle  und  von 
der  Unsterblichkeit  der  Einzelligen  von  der  größten 
Wichtigkeit  sind,  wurden  im  vorigen  Jahrgange 
dieser  Zeitschrift  bereits  eingehend  besprochen  i). 
Erdmann  und  Woodruff  haben  ihre  Unter- 
suchungen nunmehr  auch  auf  Paramaecium  cau- 
datum  ausgedehnt  und  konnten  hier  den  gleichen 
Reorganisationsprozeß  konstatieren.  -)  Sodann  teilt 
Rhoda  Erdmann  mit,  daß  Calkins  bei  Didi- 
nium  nasutum  die  gleiche  Erscheinung  gefunden 
hat,  und  so  dürfen  wir  wohl  annehmen,  daß  die 
„Endomixis'-  ein  bei  den  Infusorien  periodisch 
sich  wiederholender  Prozeß  ist,  ja  wir  können 
vermuten,  daß  sich  auch  bei  anderen  Protisten 
(Amöben  z.  B.)  ähnliche  bzw.  gleichwertige  Vor- 
gänge werden  nachweisen  lassen. 

Der  Nachweis  des  Reorganisationsprozesses 
bei  Paramaecium  caudatum  war  mit  wesentlich 
größeren  Schwierigkeiten  verbunden  als  bei 
P.  aurelia.  Zunächst  einmal  ist  die  Zucht  von 
P.  caudatum  nicht  leicht.  Im  hohlgeschliffenen 
Objektträger  halten  sich  die  Kulturen  nur  be- 
schränkte Zeit.  Man  muß  die  Tiere  in  einem 
etwas  größeren  Volumen  Nährflüssigkeit,  in  ganz 
kleinen  Tuben,  züchten,  um  sie  dauernd  lebens- 
fähig erhalten  zu  können.  Die  Vergrößerung  des 
Kulturmediums  erschwert  aber  natürlich  die  stän- 
dige Kontrolle  der  Kulturen.  t>schwerend  für 
die  Untersuchung  ist  auch,  daß  der  Reorgani- 
sationsprozeß bei  P.  caudatum  in  größeren  Zwischen- 
räumen erfolgt  als  bei  P.  aurelia  und  schneller 
abläuft  als  bei  dieser  Spezies.  Während  bei  P. 
aurelia  nach  40 — 50  Generationen,  d.  h.  nach 
etwa  25 — 30  Tagen,  der  Kernapparat  erneuert 
wird,  findet  bei  P.  caudatum  erst  nach  Sb — lOO 
Generationen,  d.  h.  nach  50—60  Tagen,  eine  Re- 
organisation statt.  Die  Sterblichkeit  ist  während 
des  Höhepunktes  des  Prozesses  (Tiefstand  der 
Teilungsratc)  bei  P.  caudatum  im  Gegensatz  zu 
aurelia  sehr  groß. 

Die  Reorganisation  selbst  verläuft  in  ihren 
wesentlichen  Zügen  bei  beiden  Spezies  in  gleicher 
Weise ,  jedoch  ähneln  die  einzelnen  Stadien  bei 
P.  caudatum  noch  mehr  den  entsprechenden 
Stadien  der  Konjugation  bei  der  gleichen  Spezies. 
Da  P.  caudatum  nur  einen  Mikronukleus  besitzt 
—  P.  aurelia  hat  zwei,  und  dies  ist  das  wichtigste 
Unterscheidungsmerkmal    der   beiden    Spezies  — , 


')  Sielie  H.  N  a  c  h  t  s  h  e  i  ni ,  Parthenogenese  bei  Infusorien. 
Naturw.   Wochenschr.,  N.  F.    14.  Bd.,   1915. 

2)  Rhoda  Erdmann,  Endomixis  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Infusorienzelle.  Sitzungsber.  d.  Ges.  naturforschender 
Freunde,   Berlin,  Jahrg.    19 15. 

Rhoda  E  r  d  m  a  n  n  and  L.  L.Woodruff.  The  perio- 
dic rcorganization  process  in  Paramaecium  caudatum.  Journ. 
of  experim.  Zool.,  Vol.  20,   1916. 


28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


sind  die  Verhältnisse  hier  etwas  übersichtlicher. 
Während  der  Makronukleus  zu  degenerieren  be- 
ginnt, macht  der  IVlikronukleus  die  sogenannten 
Reifungsteilungen  durch,  die  aber,  wie  wir  an- 
nehmen müssen,  beide  Aquationsteilungen  sind 
und  also  nicht  zu  einer  Reduktion  der  Chromo- 
somenzahl führen.  Von  den  vier  Mikronukleis, 
die  durch  die  beiden  Teilungen  entstehen,  gehen 
drei  zugrunde,  der  vierte  liefert  das  gesamte  Kern- 
material der  reorganisierten  Zelle.  Durch  drei- 
fache Teilung  werden  zunächst  acht  neue  Mikro- 
nuklei  gebildet,  von  denen  vier  sich  in  Makro- 
nuklei  umwandeln.  Damit  besitzt  die  Zelle  die 
Kernapparate  für  vier  Individuen.  Indem  nun 
bei  den  nächsten  Zellteilungen  noch  keine  Kern- 
teilungen erfolgen  und  die  Kernapparate  auf  die 
Tochter-  und  Enkelindividuen  verteilt  werden, 
wird  der  Reorganisationsprozeß  beschlossen.  Er- 
wähnt sei  noch,  daß  die  Degeneration  des  Makro- 
nukleus  bei  P.  caudatum  auf  verschiedene  Weise 
vor  sich  gehen  kann.  Entweder  wird  wie  bei 
P.  aurelia  das  Chromatin  in  einzelnen  Brocken 
ausgestoßen,  bis  schließlich  die  leere  Makronukleus- 
hülle  übrig  bleibt,  während  die  Zelle  mit  zahl- 
reichen Chromatinbrocken  erfüllt  ist.  Der  Zerfall 
kann  aber  auch  ähnlich  vor  sich  gehen  wie  bei 
der  Konjugation  von  P.  caudatum,  bei  der  er 
mit  einer  Zerstückelung  des  IVlakronukleus  in 
größere  Teile  beginnt.  Das  Endergebnis  ist  hier 
wie  dort  das  gleiche:  vollkommene  Auflösung  des 
alten  Makronukleus. 

Er  d  m  a  n  n  und  Woodruff  wenden  sich  auch 
neuerdings  wieder  gegen  die  Bezeichnung  des 
Prozesses  als  Parthenogenese.  Ihre  Einwände  sind 
die  gleichen  geblieben,  ohne  aber  an  Überzeugungs- 
kraft gewonnen  zu  haben  (vgl.  die  Besprechung 
ihrer  ersten  Untersuchung  an  dieser  Stelle).  Es 
ist  aus  verschiedenen  Gründen  unwahrscheinlich, 
daß  die  bei  der  Konjugation  von  Paramaecium 
erfolgende  dritte  Teilung,  welche  zur  Bildung  von 
Wand^rkern  und  Stationärkern  führt,  eine  Reduk- 
tionsteilung ist,  für  Didinium,  bei  dem  ja  nach 
den  Mitteilungen  Rh.  Er  d  mann 's  der  Reorgani- 
sationsprozeß ebenfalls  bereits  festgestellt  ist,  ist 
es  durch  die  Untersuchungen  Prandtl's  sogar 
erwiesen,  daß  die  dritte  Teilung  eine  Äquations- 
teilung  ist.  Doch  selbst  wenn  sie  es  nicht  wäre, 
so  wäre  es  verfehlt,  den  „gereiften"  Paramaecium- 
Zellen  den  Charakter  von  Gameten  abzusprechen, 
denkt  man  doch  auch  bei  Metazoen  nicht  daran, 
ein  Ei,  das  sich  parthenogenetisch  entwickelt  und 
nur  eine  Äquationsteilung  durchmacht,  nicht  als 
solches  zu  bezeichnen.  Die  Bezeichnung  des  Re- 
organisationsprozesses als  „Parthenogenese"  halte 
ich  deshalb  nicht  nur  für  berechtigt  sondern  für 
wesentlich  besser  als  das  von  Woodruff  und 
Erdmann  neu  geprägte  Wort  „Endomixis". 

Hinsichtlich  der  Bedeutung  der  Untersuchungen 
Erdmann's  und  Woodruffs  für  das  Problem 
der  Unsterblichkeit  der  Einzelligen  ist  zu  be- 
merken, daß  die  Verfasser  in  ihrer  neuen  Arbeit 
ähnliche  Betrachtungen    anstellen,    wie  ich  es  be- 


reits bei  Besprechung  ihrer  ersten  Arbeit  getan 
habe.  Durch  seine  früheren  Untersuchungen  hatte 
Woodruff  gezeigt,  daß  man  Paramäcien  tausende 
von  Generationen  jahrelang  züchten  kann,  ohne 
daß  Konjugation  erfolgt.  Woodruff  hatte  dar- 
aus mit  Recht  den  Schluß  gezogen,  daß  sich  eine 
Paramäcium-Zelle  rein  vegetativ  bis  ins  Unbe- 
grenzte zu  teilen  vermag,  ohne  daß  ihre  Lebens- 
fähigkeit im  Laufe  der  Zeit  eine  Einbuße  erleidet. 
Gerade  diese  Untersuchungen  W  o  o  d  r  u  f  f  's  waren 
es,  die  die  Weisman  n'sche  Theorie  von  der 
Unsterblichkeit  der  Einzelligen  neu  belebten. 
Heute  aber  sieht  das  Bild  wesentlich  anders  aus. 
Die  neuen  Untersuchungen  Woodruffs  und 
Erdmann's  haben  zu  dem  Resultat  geführt,  daß 
in  den  scheinbar  rein  vegetativ  sich  fortpflanzen- 
den Paramäcien- Rassen  in  bestimmten  Perioden 
Vorgänge  geschlechtlicher  Art  sich  abspielen,  die 
zu  einer  vollkommenen  Reorganisation  der  Zelle 
führen.  Es  wäre  nichts  anderes  als  ein  Jonglieren 
mit  Worten,  wollte  man  da  noch  im  naturwissen- 
schaftlichen Sinne  von  „Unsterblichkeit"  sprechen. 
„Es  gibt  gewiß",  sagt  Rhoda  Erdmann,  „eine 
Sterblichkeit  bei  Protozoen.  Sterblich  ist  der 
alte  oder  die  alten  Mikronuklei,  der  alte  Makro- 
nukleus und  der  Zellinhalt  selbst.  Aus  der  all- 
gemeinen Zellzerstörung  bleibt  nur  ein  Teil- 
produkt  des  alten  Mikronukleus  übrig,  der  aber 
sicher  kein  altes  sondern  umgeordnetes 
neues  Chromatinmaterial  besitzt.  Die  Unsterb- 
lichkeit der  Protozoenrasse  wird  vorgetäuscht,  weil 
für  unser  Auge  eine  Unsterblichkeit  der 
Form  vorhanden  ist;  wir  können  den  Molekültod 
ja  nicht  bewachen,  nur  den  Individualtod  und  den 
Rassentod.  Da  die  Unsterblichkeit  der  Form  sich 
nicht  experimentell  fassen  läßt,  so  gehören  Unter- 
suchungen über  sie  nicht  in  das  Bereich  der 
exakten  Naturwissenschaft;  mit  dieser  Frage,  der 
Unsterblichkeit  der  Form  bei  einzelligen  Lebe- 
wesen, hat  sich  die  Philosophie  zu  befassen." 
Nachtsheim. 

Über  Eiablage  und  Paarung  von  Tagfaltern  in 
der  Gefangenschaft  berichtet  Dr.  med.  E.  Fischer 
(Zürich)  in  der  Societas  entomologica  (31.  Jahrg., 
1916,  Nr.  12).  Während  die  Nachtfalter,  vor- 
nehmlich die  Spinner,  dann  aber  auch  die  Spanner, 
Eulen  und  Schwärmer,  in  der  Gefangenschaft 
leicht  zur  Paarung  schreiten  und  ihre  Eier  auch 
oft  ohne  vorhergegangene  Kopulation  ablegen, 
galt  es  lange  Zeit  als  sehr  schwierig,  bei  Tag- 
faltern —  vielleicht  mit  der  einzigen  Ausnahme 
des  Apollofalters  [Paniassfiis  Apollo  L.)  —  im 
Zuchtkasten  Paarung  und  Eiablage  zu  erzielen. 
Um  dies  zu  erreichen,  griff  man  früher  zu  aller- 
hand künstlichen  Mitteln,  wie  Berauschung  und 
Betäubung  der  Falter,  und  erzielte  damit  in 
seltenen  Fällen  auch  Erfolge.  Dr.  Fischer  hat 
nun  seit  1907,  wie  vor  ihm  schon  manche  anderen 
Entomologen,  den  Versuch  gemacht,  eine  Reihe 
von  Tagfalterarten  unter  natürlichen  Bedingungen 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


29 


zur  Eiablage  zu  bewegen.  Er  hat  seine  Versuche 
mit  dem  kleinen  Perlmutterfalter  {Argyiiiiis 
lathoiiia  L.)  begonnen  und  sie  nach  den  dabei 
gewonnenen  günstigen  Ergebnissen  mit  anderen 
Tagfaltern,  wie  mit  dem  Schwalbenschwanz 
[Papilio  iiiacliaoii  L.)  und  dem  großen  Kohl- 
weißling [Picris  brassicac  L.)  fortgesetzt.  Überall 
gelang  dem  Verfasser  seine  Absicht,  sofern  die 
Ealter  nur  in  einem  größeren  Einmachglas  oder 
in  einem  Raupenzuchtkasten  mit  Stoffüberzug 
oder  unter  feiner  weicher  Gaze  auf  die  Nahrungs- 
pflanzen ihrer  Raupen  verbracht  wurden.  —  Viel 
schwieriger  als  die  Eiabgabe  ist  bei  den  Tag- 
faltern die  Paarung  in  der  Gefangenschaft  zu  er- 
reichen. Die  Geschlechter  werden  nach  den  Er- 
fahrungen des  Verfassers  nur  dann  zur  Kopulation 
schreiten,  wenn  „man  sie  zu  allererst  mit  Hilfe 
von  Süßigkeiten  zähmt  und  zutraulich  macht". 
Sind  die  F'alter  nicht  mehr  scheu,  dann  wird  es 
mit  wenigen  Ausnahmen  gelingen,  sie  m  Paarung 
treten  zu  lassen,  wie  F"ischer  das  bei  28  ver- 
schiedenen Tagfalterarten  in  über  150  Einzelfällen 
beobachten  konnte.  Es  seien  nur  wenige  Arten 
hier  noch  genannt,  bei  denen  die  Paarung  im 
Zuchtkasten  glückte :  beim  Rübsaatweißling  (Picris 
iiapi  L.j,  beim  Resedafalter  [P.  Daplicidc  L.j,  beim 
Kiemen  Fuchs  y  J  '^a/wssu  iirfkac  L.),  beim  Silber- 
strich i^Argyiiiiis  Papliia  L.).  Bei  einer  der  zu 
den  Versuchen  herangezogenen  Argyiinis  -  Arten, 
bei  Argyniiis  valcsiiia,  konnten  aut  diese  Weise 
sogar  5  Inzuchtgenerationen  erzielt  werden. 

H.  W.  F"rickhiiiger. 

Meteorologie :  Über  den  täglichen  Gang  der 
Windgeschwindigkeit  in  höheren  Luftschichten 
geben  die  von  R.  bpitaler  (Meteorol.  Zeitschr. 
1916,  S.  337)  in  den  Jahren  1904  bis  1910  auf 
dem  Donnersberg  in  Böhmen  in  857  m  Höhe  ge- 
machten Messungen  wichtige  neue  Aufschlüsse. 
Im  Gesamtmiitel  zeigen  die  Beobachtungen  für 
den  Verlauf  der  Windgeschwindigkeit,  wie  aul 
anderen  Berggipfeln,  eine  tägliche  Periode  mit 
einem  IVliiiimum  am  Tage  und  einem  IVlaximum 
bei  Nacht.  Die  Amplitude  ist  in  der  warmen 
Jahreszeit  doppelt  so  groß  wie  in  der  kalten,  in  der 
größere  Windstärken  vorherrschend  sind.  Das 
Bild  ändert  sich  jedoch,  sobald  die  Tage  mit 
stürmischem  Wind,  d.  h.  mit  einem  Tagesmittel 
von  mindestens  50  km  pro  Stunde,  für  sich  be- 
trachtet werden.  Hier  zeigt  der  tägliche  Gang 
unerwarietervveise  eine  ausgesprochene  Doppel- 
periode, je  ein  Minimum  um  Mittag  und  Mitternacht 
und  je  ein  Maximum  am  Vor-  und  Nachmittag. 
Die  harmonische  Analyse  ergibt  nun,  daß  auch 
bei  den  Winden  mit  normaler  Geschwindigkeit 
die  Doppelwelle  vorhanden  ist.  Sie  wird  jedoch 
überlagert  von  einer  stärkeren,  der  oben  erwähnten, 
einfachen  Welle.  Diese  beherrscht  bei  schwachen 
Winden  das  Bild  vollkommen,  indes  ist  auch  hier 
die  Doppelperiode  nachweisbar,  allerdings  mit  einer 
wohl  infolge  der  Reibung  sehr  kleinen  Amplitude. 


Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  Sturmtagen 
mit  einem  Tagesmittel  von  mindestens  75  km  pro 
Stunde.  Auch  hier  wird  die  Doppelwelle  durch 
eine  sehr  stark  ausgeprägte  einfache  zurückgedrängt. 
Diese  hat  aber  einen  ganz  anderen  Charakter  als 
die  früher  genannte.  Hier  tritt  nämlich  das  Maxi- 
mum bei  Tage  und  das  Minimum  bei  Nacht  auf. 
Dies  ist  nun  der  charakteristische  Verlauf  für  die 
Windgeschwindigkeit  in  den  im  Tiefland  unmittel- 
bar auf  dem  Boden  lagernden  Luftschichten.  Die 
Einwirkung  der  letzteren  erstreckt  sich  also  an 
solchen  Sturmtagen  bis  in  Höhen,  die  normaler- 
weise vollständig  außerhalb  ihres  Machtbereichs 
liegen.  Wie  im  vorstehenden  dargetan,  zeigt  der 
tägliche  Gang  der  Windgeschwindigkeit  in  jedem 
F'alle  die  Einwirkung  zweier  selbständiger  Phä- 
nomene, die  sich  in  Form  von  zwei  verschiedenen 
übereinandergelagerten  Wellengängen  äußern.  Der 
eine  mit  nur  einem  Minimum  und  einem  Maxi- 
mum im  Laufe  von  24  Stunden  stellt  nach  der 
EpsyKöppen 'sehen  Theorie  die  Wirkung  der 
Konvektionströme  dar.  Der  andere  mit  zwei 
Perioden  am  Tage  läuft  nahezu  synchron  mit  der 
täglichen  Schwankung  des  Luftdruckes  und  ist 
offenbar  durch  diesen  bedingt.  Das  Vorhanden- 
sein einer  solchen  Wirkung  wurde  schon  früher 
von  H  a  n  n  erwiesen.  Scholich. 


Chemie.  Ein  neues  Präzisionsverfahren  zur 
Herstellung  genau  dimensionierter  Glasrohre  ist 
von  Karl  Küppers  in  Aachen  ausgearbeitet 
worden  und  wird  von  Lambris  in  der  Zeitschr. 
f.  angew.  Chemie,  Jahrg.  1916,  Bd.  I,  S.  382 — 383 
kurz  beschrieben. 

Glasröhren  werden  bis  jetzt  bekanntlich  durch 
Ziehen  einer  glühenden ,  hohlen  Glasmasse  her- 
gestellt und  besitzen  daher  einen  in  der  Länge 
wechselnden  Querschnitt :  sie  sind  schwach  konisch 
ausgebildet.  Es  haben  daher  gleiche  Längen- 
abschnitte der  Röhren  verschiedene  Volumina,  und 
darum  müssen  alle  aus  Glasröhren  hergestellten 
Meßgefäße  einer  besonderen,  verhältnismäßig  kost- 
spieligen Eichung  unterzogen  und  Rohre,  die,  etwa 
damit  sich  ein  Kolben  dicht  anschließend  in  ihnen 
bewegen  kann,  streng  zylindrisch  sein  müssen, 
nachträglich  mit  großer  Sorgfalt  ausgeschliffen 
werden,  ebenfalls  ein  teurer  Prozeß. 

Hier  schlägt  nun  Küppers  ganz  neue  Bahnen 
ein.  Sein  Verfahren  ist  kurz  folgendes:  In  das 
nach  dem  üblichen  Verfahren  hergestellte  rohe 
Glasrohr  wird  ein  sorgfältig  gearbeiteter  F"ormkern 
von  dem  gewünschten  Querschnitt  und  den  ge- 
wünschten Dimensionen  geschoben,  das  Rohr 
evakuiert,  an  beiden  Enden  luftdicht  verschlossen 
-und  nun  in  geeigneter  Weise  von  außen  her  bis 
zum  Erweichen  erhitzt,  so  daß  das  erweichte 
Glas  von  dem  äußeren  Luftdruck  auf  den  Form- 
kern niedergepreßt  wird  und  genau  dessen  Form 
annimmt.  Man  kann  so  Rohre  von  beliebigem, 
runden,  ovalen,  dreieckigen,  viereckigen  Querschnitt, 
von  genau  zylindrischem  oder  beliebig  konischem 


30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Verlauf  herstellen.  Die  so  hergestellten  Rohre 
sind,  wie  Versuche  ergeben  haben,  absolut  genau 
dimensioniert,  so  daß  sich  ihre  nachträgliche  Eichung 
oder  sonstige  Bearbeitung  erübrigt,  ja  es  können 
sogar,  indem  die  Formkerne  mit  geeigneten  Skalen 
versehen  werden,  die  Rohre  direkt  fertig  skaliert 
erhalten  werden. 

Das  Kupp  er 'sehe  Verfahren  dürfte  eine 
sehr  große  technische  Bedeutung  gewinnen. 

Mg. 

Physik.  MitdenStromschwankungeninVakuum- 
röhren  beschäftigt  sich  eine  Arbeit  von  Elster 
und  Geitel  (Physikal.  Zeitschr.  XVII,  268,  1916). 
Zur  Untersuchung  der  Erscheinung  wird  als  licht- 
elektrische Zelle  eine  kugelförmige  Glasröhre  ver- 
wendet, die  im  Innern  mit  einem  kalottenförmigen 
Silberüberzug  versehen  ist,  auf  dem  ein  Alkali- 
metall in  dünner  Schicht  niedergeschlagen  ist. 
Das  Metall  ist  leitend  mit  dem  negativen  Pol 
einer  Akkumulatorenbatterie  von  166  Zellen  ver- 
bunden, deren  positiver  Pol  an  der  Erde  liegt. 
Durch  Abschalten  eines  Teiles  der  Akkumulatoren 
kann  die  Spannung  verändert  werden.  Als  Anode 
dient  ein  Platindraht,  der  mit  einem  Einfaden- 
elektrometer verbunden  ist.  Verschließt  man  die 
Zelle  vollkommen  lichtdicht  und  steigert  nun  die 
Spannung  bis  zu  einem  Wert,  der  nahe  unter 
dem  liegt,  bei  welchem  eine  kontinuierliche 
leuchtende  Entladung  durch  die  mit  Argon  von 
0,1  bis  0,5  mm  Druck  gefüllte  Röhre  hindurch- 
geht, dann  zeigt  sich,  daß  das  Elektrometer 
ruckv^eise  Sprünge  macht,  ein  Zeichen,  daß 
Stromstöße  durch  die  Zelle  gehen.  Diese  spon- 
tanen Stromschwankungen  treten  besonders  auf, 
wenn  die  Zelle  Kalium  oder  Rubidium  enthält. 
Doch  kann  die  Aktivität  dieser  Metalle  nicht  die 
Erscheinung  erklären,  da  sie  auch  bei  Natrium, 
das  inaktiv  ist,  auftritt.  Ja  die  Stromstöße  zeigen 
sich  in  jeder  Entladungsrohre.  Das  Entladungs- 
potential einer  solchen  mit  Silberelektroden  liegt 
bei  550  Volt;  nachdem  die  Glimmentladung  eine 
Zeitlang  hindurchgegangen  ist,  ist  es  auf  rund 
100  Volt    gesunken.      Wird    die    Spannung   jetzt 


dicht  unter  diesem  Wert  gehalten,  so  treten  im 
Dunkeln  Schwankungen  auf.  Die  Tatsache ,  daß 
die  Röhre  jetzt  gegen  Tageslicht  eine  größere 
lichtelektrische  Empfindlichkeit  zeigt,  legt  die 
Vermutung  nahe,  daß  durch  die  Glimmentladung 
aus  natrium^haltigem  Staub  Spuren  von  Alkali- 
metallen auf  den  Elektroden  niedergeschlagen 
sind.  Die  Bestätigung  liefert  folgender  Versuch: 
Läßt  man  auf  einer  Elektrode  ein  wenig  sehr 
verdünnter  Kochsalzlösung  verdunsten,  so  scheidet 
sich  das  Salz  (etwa  i  mg)  auf  der  Elektrode  ab; 
so  lange  keine  Glimmentladung  durch  diese 
Röhre  hindurchgegangen  ist,  zeigt  sie  hohes 
Entladungspotential  und  geringe  lichtelektrische 
Empfindlichkeit;  beides  ändert  sich  nach  Durch- 
gang der  Entladung.  Die  Zersetzung  des  Salzes 
wird  durch  thermische  Dissoziation  oder  durch 
die  Wirkung  der  Kathodenstrahlen  hervorgerufen. 
Auf  jeden  Fall  sind  also  die  Strom- 
schwankungen, wie  sie  an  Röhren  in 
der  Nähe  des  Entladungspotentials 
beobachtet  werden,  auf  freies  Alkali- 
metall zurückzuführen.  Wie  sich  die 
Elektronenemission  desselben  bei  Abwesenheit 
von  Licht  erklärt,  darüber  kann  man  nur  Ver- 
mutungen äußern:  Da  die  Alkalimetalle  auch  bei 
Bestrahlung  mit  rotem  und  ultrarotem  Licht 
lichtelektrisch  wirksam  sind,  ist  es  vielleicht  die 
Gleichgewichtsstrahlung  zwischen  Röhre  und  der 
sie  umgebenden,  als  Lichischutz  dienenden 
Wandung,  vielleicht  eine  Phosphor  Cisenzstrahlung 
der  Wandung  oder  auch  die  durchdringende 
/-Strahlung,  die  allgemein  in  der  Atmosphäre 
besteht.  Durch  Licht  wird  die  Stromstärke  in 
der  Röhre  vermehrt  und  war  auch  für  ganz 
schwaches  Licht  proportional  der  Beleuchtungs- 
stärke, so  daß  man  mittels  einer  solchen  Röhre 
die  geringsten  Beleuchtungsstärken  ermitteln  kann. 
Die  untere  Grenze,  die  man  noch  messen  kann, 
beträgt  für  blaues  Licht  3  lO"?,  für  gelbrotes 
2-io~7  Erg  pro  cm^  u.  sec.  —  Es  sei  bemerkt, 
daß  die  geringste  mit  unserem  Auge  wahrnehm- 
bare Lichtmenge  1,36-10^9  Erg  pro  Sek.  =  360 
Planck 'sehen  Quanten  in  der  sec.  beträgt. 
K.  Seh. 


Bücherbesprechungen. 


Müller,  Dr.  Aloys,    Theorie  der  Gezeiten- 
kräfte.    Sammlung  Vieweg.     Heft  35,    81   S., 
17  Fig.     Braunschweig  1916.    —    Preis  brosch. 
2,80  M. 
Die  mannigfache  Art  der  Darstellung  und  Er- 
klärung der  Gezeiten  in  den  verschiedenen  Lehr- 
büchern ist  nach  dem  Vei  fasser  teils  unvollständig, 
teils  irreführend,  so  daß  er  sich  die  dankenswerte 
Aufgabe    macht ,    unter  Anwendung    nur    elemen- 
tarer   mathematischer  Darstellung  die  Erörterung 
über  den  Ursprung  des  Kraftfeldes,  dem  die  Tiden 
ihre  Form  verdanken,    in  endgültiger  Weise  zum 


Abschluß  zu  bringen.  Er  unterscheidet  zwischen 
primären  und  sekundären  Ursachen,  und  findet 
erstere  in  der  Translationsbewegung  der  Erde  um 
die  Systemachse,  und  in  der  Abhängigkeit  der 
Gravitation  von  den  Koordinaten.  Dies  wird  ein- 
gehend bewiesen,  während  die  Aufzählung  der 
10  sekundären  Ursachen  ohne  weiteres  als  richtig 
einleuchtet.  Besondere  Sorgfalt  widmet  der  Ver- 
fasser noch  der  Zentrifugalkraft  und  ihren  Be- 
ziehungen zu  den  fluterzeugenden  Beschleunigungen. 
Für  Leser  mit  historischen  und  kosmologischen 
Interessen    ist    der    Schluß    wertvoll,    der    zeigt, 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  VVocliensclirift. 


wie  Galilei  sich  bemühte,  die  Gezeiten  als 
Beweis  der  Richtigkeit  des  kopernikanischen 
Systems  auszunutzen,  und  wie  dieser  Beweis  in 
Wahrheit  zu  führen  ist.  So  wird  das  Büchlein 
hoffentlich  dazu  beitragen,  die  oft  unmöglichen 
Darstellungen  in  populären  Werken  zum  Ver- 
schwinden zu  bringen.  Und  das  wäre  auch  ein 
großes  Verdienst.  Riem. 


Das     Land     Goethes     1914 — 1916,      ein    vater- 
ländisches Gedenkbuch.    Herausgegeben  vom 
Berliner  Goeihebund.     Deutsche  Verlagsanstalt 
Stuttgart  und  Berhn. 
In  dem  die  hntwicklungsmechanik  behandelnden 
Abschnitt  führt  der  Begründer  dieser  Wissenschalt, 
Prof.    Dr.    Wilhelm    Roux    (Halle    a.   S.j    aus, 
welches    Ziel    man    in    diesem    VN'issenszweig    an- 
strebe   und    was    in    demselben    bereits    geleistet 
wurde. 

„Die  Enlwicklungsmechanik  sucht  die  Faktoren- 
kombinationen des  organischen  Gestaltungsge- 
scheliens,  sowie  deren  Wirkungsweisen  zu  er- 
mitteln". Wenn  auch  das  Ziel  der  hntwicklungs- 
mechanik  ein  theoretisches  ist,  so  sind  doch 
manche  ihrer  Ergebnisse  von  hohem  Wert  lür 
die  arztliche  Praxis  und  die  iintwicklungsmechanik 
revanchiert  sich  so  lür  Anregungen,  die  sie  der 
Chirurgie  und  der  Pathologie  verdankt.  „In  der 
kurzen  Zeit  von  kaum  mehr  als  3  Dezennien  hat 
uns  die  hntwicklungsmechanik  viel  Ungeahntes 
und  manclies  geradezu  lür  unmöglich  Geliakene 
an  Einsicht  und  Können  gewahrt".  Im  Jahre 
1685  gelang  es  Roux  naclizu weisen,  daü  es 
möglich  ist,  im  runden  Ki  durch  willkürliche  Wahl 
der  Befruchtungsrichtung,  die  Richtung  des  künf- 
tigen Embryo  zu  bestimmen.  Er  fand  nämlich, 
daß  die  von  der  Samenzelle  durchlaufene  Hallte 
des  Eies  eine  derartige  Veränderung  des  Dotiers 
erlahri,  daß  sie  steis  zur  Schwanzhallte  wird, 
während  die  andere  Eihallte  die  Kupt hallte  des 
Embryo  entstehen  läßt.  Der  Deutschamerikaner 
J.  Loeb,  der  Franzose  Bataillon,  der  Belgier 
Ch.  Brächet  u.  a.  zeigten,  daß  auch  bei  den 
Wirbeltieren  die  Entwicklung  ohne  Befruchtung 
durch  eine  Samenzelle,  „künstliche  Parthenogenesis", 
möglich  ist.  Es  gelang  terner  der  Nachweis,  daß 
aus  einer  linken  oder  rechten  Hälfte  des  Embryo 
durch  nachträgliche  Regeneration,  „Postgeneration", 
ein  Oanzembryo  entstehen  kann,  wahrend  sich 
andererseits  zwei  Eier  vereinigen  lassen,  so  daß 
ein  Riesenlebewesen  entsteht.  Auf  dem  Wege 
der  Regeneration  ist  es  gelungen,  Doppel-  und 
Mehrfachbildungen  hervorzubringen,  also  Wesen 
mit  Zwei,  ja  drei  Köpfen,  mit  mehreren  Schwänzen 
und  überzähligen  Gliedmaßen.  Viel  Neues  ver- 
dankt die  Biologie  der  sog.  „Explantation"  oder 
„in  vitroKultiir".  Es  werden  dabei  dem  Organismus 
lebend  entnommene  Teile  in  geeignete  Flüssig- 
keiten übertragen,  in  denen  ihnen  das  Weiterleben 
und  uns  die  Beobachtung  der  während  desselben 
eintretenden    Veränderungen     möglich     ist.       So 


gelang  zuerst  im  Jahre  1S84  Roux  die  künst- 
liche Bildung  einer  Rautengrube  am  ausge- 
schnittenen Rückenmark  eines  Hühnerembryos. 
Die  Präge  nach  der  Entstehung  der  Nervenfasern 
fand  ihre  Beantwortung,  als  man  den  Achsen- 
zylinder aus  isolierten  embryonalen  Nervenzellen 
herauswachsen  sah.  Das  embryonale  Herz  und 
die  gesamten  Eingeweide  des  erwachsenen  Tieres 
wurden  wochen-,  ja  monatelang  lebend  und  tätig 
erhalten ;  es  wurde  so  möglich,  Einsicht  in  ihre 
Selbstregulation  zu  bekommen,  d.  h.  zu  erfahren, 
wozu  sie  aus  sich  heraus  befähigt  sind,  während 
sie  im  Körper  der  gestaltenden  Regulation  seitens 
anderer  Organe  unterliegen. 

Die  praktische  Bedeutung  der  Entwicklungs- 
mechanik bewies  bald  die  1  ransplantation ,  d.  h. 
die  Übertragung,  Einheilung  und  Entwicklung 
ganzer  Organe  bei  Tieren.  Dem  Chirurgen  ge- 
lang die  Transplantation  der  Harnblase,  der  Milz, 
der  Gelenke  usw.  auch  beim  JVlenschen.  Die 
Überpflanzung  von  Teilen  der  Schilddrüse  von 
der  Mutter  auf  das  Kind  bewahrte  dies  vor  Ver- 
blödung; die  gleichfalls  gelungene  Vertauschung 
der  Keimdrüsen  bei  verschiedengeschlechtlichen 
Individuen  einer  Tierart  und  anderes  erötfnet 
weite  Perspektiven  in  die  fernere  Gestaltung  der 
von  der  Entwicklungsmechanik  zu  erwartenden 
Beeinflussung  der  Lebewesen  einschließlich  des 
Menschen.  Katharmer. 


Schaxel,  J.,  Über  den  Mechanismus  der 
Vererbung.  31  Seiten.  Jena  1916,  Verlag 
von  Gustav  Fischer.  —  Preis  geh.  0,75  M. 
Erblichkeit  bedeutet  Anwesenheit  gleicher 
genotypischer  Elemente,  Gene,  in  Nachkommen  und 
Vorlahren,  sagi  Johannsen.  Ist  aber,  so  tragt 
Schaxel,  mit  der  Annahme  genoiypischer  Gleich- 
heit als  Ursache  der  Gleichheit  von  Aszendenz 
und  Deszendenz  ein  Einblick  in  die  Geschehens- 
weisen gewonnen,  welche  die  Herstellung  ähn- 
licher, voneinander  abstammender  Personen  be- 
wirken ?  Die  P  rage  müssen  wir  verneinen.  Die 
Erbformel  beschrankt  sich  auf  statistische 
Angaben,  sagt  aber  über  den  Vererbungs- 
mechanismus nichts  aus.  Diese  Un Vollkommen- 
heit, die  in  der  bloßen  Registrierung  der  Erblich- 
keitsverhältnisse  liegt,  wird  von  den  bedeutendsten 
Vertretern  der  Erblichkeitsforschung  anerkannt. 
Nach  Johannsen  bedart  der  Mendelismus  eines 
morphologischen  Korrektivs,  um  die  Re- 
aktionen während  der  Oinogenie  zu  verstehen. 
„Und  dieses  Korrektiv",  so  fahrt  er  fort,  „dürfte 
besonders  von  der  experimentellen  Embryologie, 
der  sogenannten  „Entwicklungsmechanik",  zu  er- 
•  warten  und  zu  erwünschen  sein,  im  geringeren 
Grade  wohl  auch  von  der  Zellforschung." 
Schaxel  beabsichtigt,  in  seinem  Vortrage  dieses 
morphologische  Korrektiv,  das  den  Mendelismus 
vertiefen  soll,  in  seinen  Grundlinien  anzudeuten 
und  zu  zeigen,  wie  die  Entwicklungsmechanik  die 
Johannsen'  sehe  Forderung  zu  erlüllen  vermöchte. 


32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  2 


Vom  enlwicklungsmechanischen  Standpunkte 
aus  ist  das  Vererbungsproblem  eine  Teilfrage 
des  allgemeinen  D  e  t  e  r  m  in  a  t  io  n  s - 
Problems,  dessen  Lösung  durch  eine  genaue 
Durchforschung  der  Ontogenesis  gesucht  wird. 
Kennen  wir  erst  einmal  die  Entwicklungsfaktoren 
einer  Ontogenesis,  so  sind  uns  damit  auch  die 
aller  Generationen  der  gleichen  Art  bekannt,  so- 
lange sie  sich  gleich  bleiben.  Die  Domäne  der 
registrierenden  Erblichkeitsforschung  sind  die 
Bildungen  der  letzten  Phase  der  Ontogenesis,  die 
Dauerstrukturen.  Bei  Betrachtung  des  Ver- 
erbungsproblems vom  entwicklungsmechanischen 
Standpunkte  werden  auch  die  der  h  ist  o  gene- 
tischen Differenzierung  vorausgehenden 
Phasen,  Organanlagenformierung  und 
Furchung,  in  den  Kreis  der  Erörterungen  ge- 
zogen. Während  in  der  letzten  Phase  der  Onto- 
genesis mütterliche  und  väterliche  Anteile  in 
gleichem  Maße  zur  Geltung  kommen,  werden 
Furchung  und  Bildung  der  Organanlagen  nach 
Schaxel  ganz  von  mütterlichen  Faktoren  be- 
herrscht. Diese  Feststellung  führt  Schaxel  zu 
einer  von  der  bisherigen  Anschauung  abweichenden 
Auffassung  der  determinativen  Bedeutung  der 
Zygotenbestandteile.  O.  Hertwig  hat  diese  Be- 
deutung in  den  Worten  zum  Ausdruck  gebracht 
—  und  damit  gibt  er  die  Ansicht  wohl  der 
meisten  Biotheoretiker  wieder  —  :  „Es  ist  ein  als 
Wahrheit  sich  von  selbst  aufdrängender  und  daher 
gleichsam  als  Axiom  verwertbarer  Gedanke,  daß 
Ei-  und  Samenzelle  zwei  einander  entsprechende 
Einheiten  sind,  von  denen  eine  jede  mit  allen 
erblichen  Eigenschaften  der  Art  ausgestattet  ist 
und  jede  daher  gleich  viel  Erbmasse  dem  Kind 
überliefert.  Das  Kind  ist  im  allgemeinen  ein 
Mischprodukt  seiner  beiden  Eltern;  es  empfängt 
von  Vater  und  Mutter  gleiche  Mengen  von  Teil- 
chen, welche  Träger  der  vererbbaren  Eigenschaften 
sind  (Bioblasten)."  Schaxel  widerspricht  dem. 
Zwar  ist  auch  er  von  der  überragenden  Rolle 
des  Chrorftatins  im  Zellenleben  überzeugt  und 
verwirft  die  Meves'sche  Hypothese,  nach  der 
die  Piaslosomen  Vererbungssubstanzen  des  Zyto- 
plasmas  darstellen.  Gleichwohl  erkennt  er  dem 
Ei  eine  größere  Bedeutung  für  die  zellulare 
Determination  zu  als  dem  Spermium.  Einen 
wichtigen  Tatsachenkomplex,  der  „der  Genotypus- 
lehre  ungelegen  sein  muß",  führt  Schaxel  für 
die  Richtigkeit  seiner  Ansicht  ins  Feld,    die  Ver- 


schiedenheit reziproker  Bastarde  nämlich.  Bei  der 
Annahme  gleichmäßiger  Determination  der  ver- 
einigten Gameten  in  der  Ontogenesis  fehlt  für 
diese  Erscheinung  eine  Erklärung.  Macht  aber 
der  elterliche  Determinationskomplex  zunächst  — 
eben  während  der  Furchung  und  der  Bildung  der 
Organanlagen  —  eine  mütterliche  Vorentwicklung 
durch,  so  ist  das  verschiedene  Verhalten  der  re- 
ziproken Bastarde  ohne  weiteres  verständlich. 
Auch  O.  Hertwig  gibt  zu,  daß  die  Richtungen 
der  ersten  Teilungen,  die  Größe  und  die  Be- 
schaffenheit der  Embryonalzellen  und  die  Form 
des  Embryos  in  den  Anfangsstadien  seiner  Ent- 
wicklung durch  „Form  und  stoffliche  Differen- 
zierung der  Eizelle"  bedingt  sind,  betrachtet  diese 
Bestimmungen  aber  als  ,, untergeordnete  Faktoren 
des  Entwicklungsprozesses".  Schaxel  erhebt 
demgegenüber  die  P'orderung,  „die  Erforschung 
der  offenkundigen  Verschiedenheit  der  Eltern- 
anteile am  Anfang  des  Kindes  nicht  durch  theore- 
tische Postulate  zu  verschleiern,  sondern  sie  zu 
einer  Aufgabe  der  Entwicklungsmechanik  zu 
machen".  Ohne  hier  in  eine  Diskussion  der  P'rage 
eintreten  zu  wollen,  ob  es  zweckmäßig  oder  gar 
notwendig  ist,  den  H  er  t  wig 'sehen  Satz  von 
der  Äquivalenz  von  Ei-  und  Samenzelle  aufzu- 
geben, sei  soviel  bemerkt,  daß  jedenfalls  die  von 
Schaxel  der  Entwicklungsmechanik  gewiesenen 
Wege  zur  Lösung  des  Vererbungsproblems  uns 
sehr  aussichtsreich  und  vielversprechend  erscheinen, 
und  es  sei  der  Wunsch  ausgesprochen,  daß,  wie 
in  den  letzten  Jahren  der  moderne  Mendelismus 
und  die  Zytologie  zu  ihrer  beider  Vorteil  mehr 
und  mehr  Hand  in  Hand  zu  arbeiten  begonnen 
haben,  so  auch  die  Entwicklungsmechanik  in  der 
Vererbungsforschung  den  ihr  gebührenden  Platz 
einnehme.  Ansätze  dazu  sind  übrigens  bereits 
gemacht.  Nachtsheim. 


Literatur. 

Freundlich,  E.,  Die  Grundlagen  der  Eins  t  ein 'sehen 
Gravitationslheorie.  Mit  einem  Vorwort  von  A.  Einstein. 
Berlin   'l6,  J.  Springer.   —   2,40  M. 

Dolder,  J.,  Die  Fortpflanzung  des  Lichtes  in  bewegten 
Systemen.     Mit  9  Figuren. 

Lorentz,  H.  A,  The  Iheory  of  electrons  and  its  appli- 
cations  to  the  phenomena  of  light  and  radiant  heat.  A  course 
of  Icctures  dclivered  in  Columbia  University,  New  York,  in 
March  and  April  1906.  2.  Edition.  Leipzig '16,  B.G.  Teubner. — 
9  M. 


Inhalt:  Carl  Schoy,   Eine  merkwürdige  N 
und    buchstabierende    Hunde.    S.  20.      \V 
belichte:     F.   Loewinson-Lessing, 
Naturdenkmal   Deutsch-Südafrikas 


heinung  im  Jordantal,    3  Abb.    S.    17.     H.   E.  Ziegler,   Über  denkende 
heim    Neumann,    Bemerkungen    zu    der    Entgegnung.    S.   24.    —    Einzel- 
Vulkane    und   Laven    des    zentralen   Kaukasus.    S.   24.      C>  g  i  1  v  i  e   G  ra  n  t ,   Ein 
britischem  Schutze.  S.  26.     Ludwig   Reese,  Zerstörung   von  Ziegelmauerwerk 

S.  27. 


durch  Organismen.  S.  26.  Woodruff  und  Erdmann,  Der  periodische  Reorganisationsprozeß  bei  Infus 
E.  Fischer,  Über  Eiablage  und  Paarung  von  Tagfaltern  in  der  Gefangenschaft.  S.  28.  R.  Spitaler,  Über  den 
täglichen  Gang  der  Windgeschwindigkeit  in  höheren  Luftschichten.  S.  29.  Karl  Küppers,  Ein  neues  Präzisionsver- 
fahren zur  Herstellung  genau  dimensionierter  Glasrohre.  S.  29.  Elster  und  Gcitel,  Stromschwankungen  in  Vakuum- 
röhren. S.  30.  —  Bücherbesprechungen:  Aloys  Müller,  Theorie  der  Gezeitenkräfte.  S.  30.  Das  Land  Goethes 
1914— 1916,  ein  vaterländisches  Gedenkbuch.  S.  31.  J.  Scha.'iel,  Über  den  Mechanismus  der  Vererbung.  S.  31.  — 
Literatur:  Liste.  S.  32. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  '. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Na 


valide 


aße  42,   erbeten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  21.  Januar  1917. 


Nummer  3. 


Zur  Kenntnis  der  Genera  Typhlonectes  Peters  der  Gymnophiona 
(Amphibia  apoda). 


Iilewski,  Berlin-Wilmersdorf. 
Mit   I   Abbildung. 


I.    All 


:e  mein  es. 


Die  merkwürdige  Ordnung  der  Gyinnophioiia 
{Aiuphihia  apoda)  hat  von  jeher  das  größte 
Interesse  der  Naturforscher  erregt.  Sie  umfaßt 
wurmartig     gestaltete,     fußlose     Amphibien     mit 


ceylonesischen  Blindwühle  gewidmet  ist,  führen 
Paul  und  Fritz  Sarasin  in  die  überwältigende 
Natur  und  Vegetation  im  Zentrum  Ceylons. 
„Nach  einer  sternenhellen  Nacht  sammeln  sich 
Morgen    weiße,    feuchte    Nebel    über    der 


langgestrecktem ,  geringeltem  Körper  und  mit  ^t>ene,  welche  vor  der  aufgehenden  Sonne  langsam 
sehr  kurzem  verkümmertem  oder  ganz  fehlendem  ^"^^  zerstreuen  und  dem  staunenden  Auge  die 
Schwänze. 


Nach  dem  im  Auftrage  der  Königl.  Preuß. 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  von 
Franz  Eilhard  Schulze  herausgegebenen, 
gewaltigen,  noch  nicht  abgeschlossenen  Werk 
„Das  Tierreich" ')  setzt  sich  diese  Ordnung  zu- 
sammen aus  einer  einzigen  Familie  [Caecäiidai], 
19  Gattungen,  55  sicheren  Arten  und  einer  un- 
sicheren Art.  ^j  Ihr  Verbreitungsgebiet  sind  die 
tropischen  Gegenden  von  Amerika,  Afrika 
und  Asien.  Verschiedene  Gattungen  und  Arten 
dieser  Familie  waren  der  Wissenschaft  schon 
lange  bekannt.  Die  eigenartige,  geheimnisvolle 
Lebensweise  dieser  Geschöpfe  erschwerte  aber 
ein  Studium.  Allgemein  hieß  es,  daß  sie  in  den 
sumpfigen  und  feuchtwarmen  Gebieten  der  Tropen 
ein  ausschließlich  unterirdisches  Leben  nach 
Art  unserer  Regenwürmer  führen.  Trommelfell 
und  Paukenhöhle  fehlen  ihnen,  und  die  Augen 
sind  stets  verkümmert;  meist  liegen  sie  unter  der 
Haut  verborgen  und  schimmern  mehr  oder  weniger 
deutlich  durch,  oder  sie  liegen  unter  dem  Schädel- 
knochen verdeckt.  Diese  mangelhafte  Ausrüstung, 
sowie  die  Feststellung,  daß  die  Haut  aller  Tiere 
durch  zahlreiche,  quere  Ringfalten'')  in  breite, 
ringtörmige  Abschnitte  gegliedert  ist,  mußte  ja 
auch  zu  der  Anschauung  führen,  daß  nur  eine 
wühlende,  unterirdische  Lebensweise  im  lockeren 
Erdreich  Platz  greifen  könne.  In  einer  anschau- 
lichen   Schilderung  •»),    die    der    Erforschung    der 


Berli 


')  „Das  Tierreich".     Verlag  von  R.  Friedlände 


Sohn, 


^)  op.  cit.  37.  Lieferung :  „Gymnophiona  (.Amphibia  apoda)' 
bearbeitet  von  Dr.  Fr.  Nieden,  Berlin.  Ausgegeben  in 
Mai    1913,  S.   4. 

')  Es  sind  primäre  und  sekundäre  Ringfalten  zu  unter 
scheiden.  Die  primären  Rmgfahen  kommen  allen  Arten  zu 
Sie  sind  entsprechend  der  Gliederung  der  Wirbelsäule  in  dei 
Regel    in    gleichmäüigen   Abständen    über  den   ga 

verteilt.     Die  sekundären  Rmglalien    treten  nur  t 

Arten  auf,  so,  daß  eine  sekundäre  Falte  immer  zwischen  zwei 
primären   Falten   liegt. 

')  Paul  und  Fritz  Sarasin,  „Ergebnisse  naturwissen- 
schaftlicher Forschungen  auf  Ceylon  in  den  Jahren  1884— iS86." 
Bd.  11:  „Zur  Naturgeschichte  und  Anatomie  der  Ceylonesischen 
Blindwühle  Ichthyophis  glutinosus  S.  3/4. 


rper 


reichste  Vegetation  enthüllen.  Gegen  Mittag 
steigert  sich  die  von  der  höher  und  höher 
steigenden  Sonne  herabströmende  Wärme  zu  be- 
deutender Hitze."  „In  diesem  feuchtwarmen  Ge- 
biet ist  der  ganze  Boden  von  wühlenden  Ge- 
schöpfen aller  Art  durchsetzt,  und  hier  ist  es  nun 
auch,  wo  die  Blindwühle  [^Ichthyophis  glutinosus) 
am  häufigsten  angetroffen  wurde."  —  In  diesem 
allgemeinen  Rahmen  erblickte  man  gewissermaßen 
einen  Spiegel  der  allen  Blindwühlen  gemeinsamen 
Lebensweise.  So  führte  denn  auch  nichts  auf  die 
Vermutung,  daß  bei  einzelnen  Arten  eine  andere 
als  die  unterirdische  Lebensweise  herrschen  könne. 
Um  so  befremdlicher  mußte  es  wirken,  als  die 
Beobachtung  gemacht  wurde,  daß  eine  Art, 
Ichthyophis  glutinosus,  ihr  Larvenstadium  im  freien 
Wasser  verbringt.  Eine  Beobachtung,  die  bei 
Sarasin  zu  der  Annahme  führte,  daß  „wahr- 
scheinlich alle  Blindwühlen  die  sämtlichen  Ent- 
wicklungsstadien der  Salamandriden  ebenfalls 
durchlaufen,  die  Caecilien  also  nicht  mehr  als 
eigene  dritte  Ordnung  neben  die  Urodelen  und 
Anuren  gestellt  werden  dürfen,  sondern,  daß  sie 
hintort  den  Urodelen  unterzuordnen  und  den 
Salamandriden  parallel  zu  setzen  sind."  ') 

Die  Schlußfolgerung  S  a  r  a  s  i  n  '  s  erwies  sich  als 
irrig.  Ein  den  Urodelen  ähnliches  Entwicklungs- 
stadium wurde  bei  einer  zweiten  Art  der  Caeciliidae 
nicht  mehr  gefunden.  Dafür  wurde  eine  andere, 
noch  befremdlichere  Entdeckung  gemacht:  ein- 
zelne Arten  wurden  im  freien  Wasser 
lebend  aufgefunden.  Zunächst  wurde  dieses  bei 
einer  amerikanischen  Blind  wühle  beobachtet,  die 
Caecilia  compressicauda  genannt  wurde.  Sarasin 
folgerte  wiederum  aus  dieser  Beobachtung,  „daß 
die  Jungen  in  dem  zur  Geburt  reifen  Entwicklungs- 
siadium  gar  nicht  für  das  Leben  im  Wasser  be- 
'stimmt  sind,  sondern  auf  dem  Lande  geboren 
werden,  ihre  Kicmenlappen  abwerten  und  ohne 
weiteres  wie  die  Alten  im  Boden  leben"  '^).  Auch 
diese  Voraussage  hat  sich  nicht  erlüUt.    Es  wurden 


')  op.  cit. 
''j  op.  cit. 


S.  28. 
S.  27. 


34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


bis  heute  drei  Blindwühlen  gefunden,  die  aus- 
schließlich eine  Lebensweise  im  freien  Wasser 
führen.  Sie  sind  nach  der  neuesten  Systematik  \) 
zu  der  Genera  Typliloncdcs  Pdcrs  vereinigt  und 
setzen  sich  zusammen  aus: 

TypJiloncdcs  compressicauda  (Dum,  u.  Bibr.) 

Typhlonedes  natans  (J.  G.  Fisch.) 

Typhlo7iedes  kaupii  (Berthold). 

Diese  Angehörigen  gelten  als  „Wasser-Cäcilien", 
als    „merkwürdige,    schlangenförmige  Batrachier", 


als  „riesige  Wasserwürmer".  Auf  die  Eingeborenen 
wirken  sie  nach  den  vorliegenden  Schilderungen 
häßlich  und  abschreckend.  Sie  werden  von  ihnen 
nicht  angefaßt,  sondern  gemieden  und  am  liebsten 
wie  Schlangen  getötet.  Die  Wissenschaft  hingegen 
hat  sich  ihrer  mit  größtem  Interesse  angenommen. 
Anatomische  Untersuchungen  reichen  bis  m  die 
jüngste  Zeit  hinein.  Sie  haben  Ergebnisse  ge- 
zeitigt, die  von  hoher  Wichtigkeit  sind,  weil  sie 
einen  Einblick  in  eine  ganz  merkwürdige  Ein- 
richtung der  Natur  gewähren.  Bei  der  großen 
Seltenheit  des  Materials  ist  das  Studium  noch 
nicht  abgeschlossen.  Erfreulich  ist  es,  dnß  Dank 
den  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Aquarien- 
kunde   einzelne    lebende   Tiere    in    Deutschland 


1)  „Das  Tierreich" 


eingeführt  und  gepflegt  werden  konnten.  Hierauf 
kommen  wir  bei  der  Behandlung  der  einzelnen 
Arten  zurück. 

IL  Typhlonedes  compressicauda  (Dum.  u.  Bibr.). 

Am  längsten    bekannt  von  den  drei  aquatilen 
Cäcilien   ist    Typhlonedes  compressicauda.     Diese 
Ringelwühle    wurde    zuerst    im    Jahre    1841    von 
Dumeril  und  Bibron  kurz  beschrieben,  i)   und 
zwar     als     „Caecilia    compressicauda".       Näheres 
wurde    erst    im  Jahre   1874   durch  Peter  s'-^j    be- 
kannt.     Danach    erfuhr  Peters,    daß  der    natur- 
wissenschaftliche   Reisende    Jelski    in    Cayenne 
unerwartet    auf  eine    im  Wasser    lebende  Caecihe 
stieß.    Auf  einer  am  Flusse  Kaw  liegenden  Plantage 
heß  er  von  Negern  und  Matrosen  in  einem  Trink- 
wasserkanale  einen  Fischfang  ausüben.     „Im  Ver- 
laufe der  Jagd  stieß  plötzlich  der  Neger,    der_  die 
Fische    vom    Ufer    verscheuchte,    einen    heftigen 
Schrei  aus.     Wir   alle    erblickten  etwas,    das   wie 
ein  elektrischer  Aal  aussah,  dicht  unter  der  Ober- 
fläche des  Wassers  mit  wurmförmiger  Bewegung 
dahinschwimmen.     Wir  hielten  den  Neger  zurück, 
der  im  Begriff  war,  das  Tier  mit  einem  Säbel  zu 
zerhauen.     Das  Zugnetz  wurde   gehoben    und  das 
Tier   ans  Ufer    geworfen.     Alle    glaubten,    es   sei 
ein  Aal.     Bei  näherer  Betrachtung  entschieden  sie 
jedoch,  es  sei  ein  riesiger  Wasserwurm.     Ich  legte 
das  Tier    in    ein    besonderes    Gefäß,    und    da   ich 
bereits  hinreichend  Fische  hatte  und  keine  anderen 
zu  erlangen  hoftte,  so  begab  ich  mich  nach  Hause. 
Als   ich   jenes    rätselhafte    Tier    aus    dem    Gefäße 
herauswarf,  um  es  in  die  Kalebasse  zu  legen,  er- 
blickte ich  anstatt  eines  ihrer  zwei :  die  Alte  hatte 
ein  Junges  geworfen!     Nachdem  ich  die  Alte  auf 
den  Tisch  gelegt,    betrachtete  ich  sie  näher.     Sie 
zeigte  sehr  langsame,  zitternde,  scheue  Bewegungen. 
Daneben    befand  sie  sich  in  eigentümlichen  Kon- 
vulsionen.     Ich    bemerkte,    daß    sie    ein    zweites 
Junges   gebären  woüte.     Ich  legte  sie  in  Spiritus, 
damit    man  sich  von  dem  Lebendiggebaren  über- 
zeugen kann."     Beim  Sezieren  des  Tieres  wurden 
im    Innern     noch     fünf    Junge     gefunden.       Alle 
zeichneten    sich    durch   einen    membranösen  Aus- 
wuchs auf  dem  Nacken  aus,  der  sehr  leicht  abriß 
und  eine  quere  lineare  Narbe  hinterließ.    Kiemen- 
öffnungen wurden  nicht  gefunden." 

Diese  Feststellungen  erregten  höchstes  wissen- 
schaftliches Interesse.  Peters  untersuchte  das 
alte  Tier  und  auch  die  Jungen  und  berichtete 
über  seine  Befunde. »)  Danach  erreichen  die 
Jungen  eine  bedeutende  Größe,  bevor  sie  geboren 
werden,  denn  sie  sind  vor  ihrer  Geburt  höchstens 
3-^/8  mal  kleiner  als  das  Muttertier.  _  Nach  den 
bisherigen  Beobachtungen  werden  die  Alten  bis 
50  cm    lang    und    erreichen    einen    Körperdurch- 

')  Erpet.  gen.  VII.  S.  27S. 

2)  „Über  die  Entwicklung  der  Caecilien  und  insbesondere 
der  Caecilia  compressicauda"  in  „Monatsberichte  der  Kgl. 
Preuß.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin"   1874,    S.  45' 

3)  In   „Monatsberichte"  usw.    1875,  S.   483. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


35 


messer  bis  zu  20  mm.  Die  Jungen,  deren  Zahl 
höchstens  sechs  beträgt,  messen  bei  der  Geburt 
bis  157  mm  und  sind  bis  12  mm  dick.  Auf- 
fallend sind  ein  Paar  große,  monströse,  bis  55  mm 
lange  Kiemenlappen,  die  im  Nacken  sitzen  und 
wahrscheinlich  gleich  bei  der  Geburt  abgeworfen 
werden.  Bei  den  erwachsenen  Tieren  ist  die 
Schnauze  breit  und  abgerundet.  Die  Augen  sind 
durch  die  Haut  deutlich  zu  sehen.  Die  Haut  ist 
schlippenlos.  Der  Körper  ist  gedrungen  und 
mäßig  gestreckt;  nach  dem  Schwanzende  hin  er- 
scheint er  allmählich  mehr  und  mehr  von  der 
Seite  zusammengedrückt  und  auf  der  Oberseite 
gekielt.  Der  Schwanz  ist  undeutlich.  Am  After 
befindet  sich  eine  Art  Haftscheibe.  Die  Farbe 
stellt  ein  Olivenbraun  dar.  An  Hautfahen  werden 
135  — 167  gezählt,  die  auf  dem  Rucken  unter- 
brochen sind,  'j  In  dieser  Beziehung  schwanken 
aber  die  ziffernmäßigen  Angaben  der  Forscher. 
Es  besteht  die  noch  nachzuprüfende  Vermutung, 
daß  Unterschiede  bei  Tieren  vorkommen,  die  sich 
nach  den  betreffenden  Fundorten  lichten.  Denn 
diese  Spezies  kommt  vor  in  Guayana,  Vene- 
zuela und  Nordbrasilien. 

Bei  der  anatomischen  Untersuchung  stellte 
Peters'')  fest,  daß  der  Magen  langgestreckt  ist. 
Leber  und  Herz  sind  sowohl  auf  der  rechten,  wie 
auch  linken  Körperseite  gefunden  worden.  Bei 
einem  Exemplar  war  die  rechte  Lunge  5  cm  länger 
als  die  linke,  ^j  Weitere  anatomische  Unter- 
suchungen nahm  Fuhrmann  vor,  deren  Ergeb- 
nisse sehr  überraschend  waren.  *}  Während  sich 
bei  allen  anderen  Gymnophionen  der  linke 
Lungenflügel  als  sehr  rudimentär  zeigt,  und  ge- 
wöhnlich nur  einige  Millimeter  mißt,  wohingegen 
der  rechte  Lungenflügel  für  gewöhnlich  bis  auf 
die  Höhe  des  letzten  Drittels  der  langgestreckten 
Leber  reicht,  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  Arten 
des  Genus  Typhldiirctcs  ganz  anders.  Bei  Typhlo- 
ncdes  coinpressicanda  reicht  der  rechte  Lungen- 
sack, der  bei  den  Gymnophionen  sehr  eng  ist 
(etwa  2  mm),  bis  fast  an  die  Kloake  und  mißt 
26  —  27  cm.  Der  sonst  rudimentäre  linke  Lungen- 
flügel ist  bedeutend  länger  als  die  rechte,  wohl- 
entwickelte Lunge  der  übrigen  Gymnophionen. 
Er  reicht  bis  weit  hinter  das  Hinterende  der 
Leber  und  maß  bei  den  untersuchten  Exemplaren 
20,5  cm.  Fuhrmann  fand  aber  noch  weitere 
sehr  bemerkenswerte  Einrichtungen  die  dem  Genus 
Typldoiiccfcs  überhaupt  zugute  kommen  und  ge- 
eignet sind,  manches  in  dem  Leben  dieser  eigen- 
artigen Tiere  zu  erklären.  Die  Trachea  ist  nämlich 
lang  und  wird  von  ventral  offenen  Knorpelringen 
gestützt.  Sie  zeigt  vor  dem  Herzen  eine  eigen- 
tümliche spindelförmige  Erweiterung,  die  in  ähn- 
licher Form  und  Struktur  noch  nirgends  angetroffen 
wurde.     Dieses  Organ  ist  4 — 5   cm  lang   und  hat 

')  „Das  Tierreich",  Lieferung  37,  S.  22. 
^)  „Monatsberichte"  1875  usw.,  S.  484. 
')  „Monatsberichte"  1879  usw.,  S.  941. 
*)  Veröffentlicht  in  „Zoologischer  Anzeiger",  Bd.  42  {1913), 


einen  maximalen  Durchmesser  von  6  mm.  Es  ist 
mit  einem  reich  verzweigten  Kanalsystem  durch- 
zogen, das  mit  der  Trachea  in  mehrfacher  Ver- 
bindung steht.  Das  Gebilde  besitzt  absolut  die 
histologische  Struktur  einer  Amphibienlunge.  Es 
ist  also  ein  akzessorisches  Atmungs- 
organ, eine  dritte  Lunge,  und  P'uhrman  n 
meint,  daß  es,  nach  Lage  und  Struktur  zu  urteilen, 
vielleicht  aktiver  ist,  als  die  sehr  engen,  lang- 
gestreckten Lungensäcke.  —  Damit  sind  aber  die 
Ätmungsorgane  noch  nicht  erschöpft.  Denn  es 
findet  noch  eine  sehr  starke  Hautatmung  statt. 
Die  Haut  besitzt  nämlich  eine  eigenartige  Dis- 
position. Sie  ist  wie  bei  den  meisten  Amphibien 
aus  einer  beschränkten  Anzahl  Schichten  zu- 
sammengesetzt, und  zwar  4 — 6  auf  dem  Körper 
und  8—10  auf  dem  Kopfe.  Jede  Schicht  hat 
eine  Dicke  von  0,05  mm.  Die  äußere  Schicht 
und  diejenige,  die  sich  unter  ihr  befindet,  ist 
leicht  überhäutet  und  zeigt  einen  zellenförmigen 
Kern.  Das  Bindegewebe  steht  in  engster  \'er- 
bindung  mit  der  Haut,  und  die  Hautkapillaren  (Haar- 
röhrchengefäße) bilden  ein  voll^tänciiges  Netz  in 
ihr  und  stehen  in  sehr  engem  Kontakt  mit  dem 
Wasser.  Das  ist  einer  intensiven  Hautatmung 
überaus  förderlich.  Ein  derartiger  Reichtum  an 
Gefäßen  ist  bisher  bei  keinem  Amphibium  gefunden 
worden.  Merkwürdig  beschaffen  ist  auch  die  Mund- 
schleimhaut. In  der  Zunge  und  auch  unter  der 
Haut  des  Gaumens  tritt  ein  überaus  starker  Gefäß- 
reichtum auf,  und  zwar  so,  daß  namentlich  im 
letzteren  Organ  Bindegewebe  und  Muskulatur 
durch  die  überaus  zahlreichen  Blutgefäße  und 
Blutsinuse  sehr  reduziert  sind.  Diese  Disposition 
deutet  Fuhrmann  dahin,  daß  außer  der  Lungen- 
atmung, der  Atmung  des  Trachealorganes  und  der 
Haut  möglicherweise  auch  noch  eine  Buccal- 
respiration  (Maulatmung)  stattfindet.  Tat- 
sächlich habe  ich,  wie  ich  bereits  berichtet  habe  *) 
und  worauf  ich  hier  noch  zurückkomme,  an  einem 
lebenden  Exemplar  von  TypJilonccfcs  mitaiis  be- 
obachtet, daß  es  von  Zeit  zu  Zeit  atmosphärische 
Luft  atmet.  —  Diese  vierfache  Atmung  hängt 
offenbar  mit  der  Lebensweise  der  Tiere  zusammen. 
Sie  verhalten  sich  lange  unter  der  Wasseroberfläche, 
was  bedeutenden  Sauerstoffverbrauch  verlangt. 
Und  diesem  können  die  langen  und  sehr  engen 
Lungen  nicht  genügen. 

So  wichtig  diese  Feststellungen  an  totem 
Material  sind,  so  bedauerlich  ist  es,  daß  Be- 
obachtungen über  die  Lebensweise  von  Typhlo- 
iiecfcs  coinprcssicanda  im  Freien  und  in  der  Ge- 
fangenschaft fehlen.  Peters  sagte  schon  früher,-) 
daß  es  wahrscheinlich  sei,  daß  die  Tiere  nur  selten 
und  zu  einer  bestimmten  Zeit  den  Fischern  zu 
Gesicht  kommen.  Sie  werden  von  diesen  nicht 
gekannt  und  wegen  ihres  häßlichen,  wurmförmigen 
Aussehens    verabscheut    und    vernichtet.      Daher 


')  Milewski;  „TyphlonectescompressicaudaundTyphlo- 
nectes  natans"  in  „Wochenschrift  für  Aquarien-  und  Terrarien- 
kunde",  1916,  S.   131. 

')   „Monatsberichte"   usw.   1S74,  S-  49. 


36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


fallen  sie  Sammlern  selten  in  die  Hände.  Um  so 
ertreulicher  war  es,  daß  es  der  bekannten  Zier- 
fischzüchterei-Besitzerin,  Frau  Kuhni  in  Konrads- 
höhe gelang,  im  Interesse  der  Aquanenpfleger  zum 
ersten  Male  lebende  Exemplare  der  Art  Typlilo- 
iiccies  coiiipresstcauda  in  Deuischland  emzuluhren. 
Im  Juni  1912  importierte  Frau  Kuhnt  drei  lebende 
Tiere,  die  aus  dem  Amazoneiistrom  stammten. 
Sie  wurden  an  Liebhaber  nach  Rußland  verkauft. 
Im  Juli  desselben  Jahres  führte  Frau  Kuhnt  ein 
weiteres  Tier  ein.  Leider  siarb  es  bald.  Im 
August  1912  konnten  noch  zwei  lebende  Exem- 
plare eingetührt  werden.  Davon  starb  eins  an 
einer  pockenartigen  Krankheit.  Das  andere  ver- 
unglückte infolge  Auslaufens  des  Bassins.  Alle 
diese  Tiere  wurden  im  Zoologischen  Museum  in 
Berlin  als  Typhloiiectes  coiiipnssicanda  Dum.  u. 
Bibr.  festgesiellt.  'j  Es  ist  bedauerlich,  daß  an 
diesen  lebenden  Exemplaren  keine  eingehenden 
Studien  gemacht  werden  konnten. 

III.    Typhlonedes  iiatans  J.  G.  Fischer. 

Über  diese  zweite  im  Wasser  lebende  Blind- 
wühle berichtete  zuerst  J.  G.  Fisch  er. -j  Darauf 
erwähnte  sie  kurz  Peters.")  Die  ersten  Exem- 
plare erbeutete  Groß  köpf  im  Jahre  1879  im 
Cauca,  einem  Nebenfluß  des  Magdalenenstroms 
in  Neu-Granada  an  einer  mit  festem  Kiesgrunde 
versehenen  Stelle.  Später,  1912,  war  Fuhrmann 
Zeuge  eines  Fanges  eines  Tieres,  als  er  sich  auf 
einer  Forschungsreise  in  Columbien  befand. 
Er  berichiete  darüber  in  einem  über  die  Ergeb- 
nisse der  Forschungsreise  herausgegebenen  Werk.^j 
An  der  Mündung  des  Magdalencnflusses  fischte 
ein  Indianer  an  einer  Stelle,  wo  das  Wasser  sehr 
tief  und  das  Ufer  abschüssig  war.  Mit  Entsetzen 
sah  er  an  seiner  Angel  einen  großen  Wasserwurm 
hängen,  der  ihn  zu  dem  Ruf  veranlaßie:  „Eine 
Schlange;  eine  Schiangel"  Fuhrmann  betreite 
das  sich  sehr  wehrende  Tier  vom  Haken  und 
steckte  es  in  Alkohol.  Später  sandte  er  es  an 
drei  Spezialisten,  die  es  als  lypliloncc/cs  natatis 
erkannten.  Ein  Referat  hierüber  erschien  von 
Werner.^)  Neben  dem  Bericht  über  den  Fund- 
ort verdanken  wir  Fuhrmann  auch  noch  interes- 
sante Angaben  über  die  von  ihm  festgestellten  ana- 
tomischen Befunde.^) 

lyphlonectes  nataus  unterscheidet  sich  von 
TypIiLonectes  comprcssicauda  äußerlich  zunächst 
durch  eine  andere  Kopftorm.  Die  Schnauze  ist 
nämlich  stark  vorspringend  und  der  Kopf  ab- 
geplattet.    Die  Augen  sind  hier  deutlich  sichtbar. 


')  „Wochenschrift"    1916,  b.   131. 

'^)  In  „Archiv  für  Naturgeschichte  in  Berlin"   iSSo,  S.  217. 

»)  In  „Monatsberichte"  usw.   1879,  S.  94I. 

*J  Fuhrmann  und  Mayor:  „Le  Genre  Typhlonectes ; 
,,Voyage  D'txploration  Scientifique  En  Colombie"  („Mera. 
Soc.  Neuchäteloise  des  Sei.  Nat.  Vol.  V;   1912). 

*•)  In  „Zentralblatt  für  Zoologie  und  Biologie",  Bd.  2, 
1914,  S.  40. 

"J  op.  cit.  und  „Zoologischer  Anzeiger",  Bd.  42,  1913, 
S.  229. 


Der  Körper  ist  mäßig  gestreckt  und  hinten  stark 
von  der  Seite  zusammengedrückt.  Auf  dem  Rücken 
springt  eine  Längsfalte  mehr  oder  weniger  deutlich 
hervor.  Die  Haut,  die  ebenfalls  schuppenlos  ist, 
erscheint  gekornelt.  Die  Farbe  stellt  ein  Braun- 
grau bis  Schiefergrau  dar;  die  Bauchseite  ist  etwas 
heller  gefärbt.  Die  Haftscheibe  am  After  ist 
stärker  ausgeprägt  wie  bei  Typhlonectes  coinpressi- 
cauda  und  weiß.  Das  ausgewachsene  Exemplar 
erreicht  eine  Länge  von  etwa  50  cm.  Der  größte 
Körperdurchmesser  beträgt  13  mm.  Auch  bei 
dieser  Art  sind  die  anatomischen  Befunde  durch 
Fuhrmann  sehr  interessant.  DieLungehatdieForm 
einer  langen,  scnmalen  Röhre.  Der  rechte  Lungen- 
sack ist  wie  lyp/ilouecfes  cumpressicauda  sehr  lang. 
Er  reicht  bis  fast  an  die  Kloake  und  mißt 
26  —  27  cm.  Die  linke  Lunge  ist  aber  kürzer  wie 
bei  jener  Art;  sie  mißt  nur  12  cm.  Als  überaus 
interessante  Erscheinung  enthahen  die  Lungen, 
wie  auch  die  Trachea,  auf  der  einen  Seite  offene 
Knorpelringe.  Diese  sind  0,2  mm  bieit  und 
1,1  — 1,6  mm  voneinander  entfernt  und  verteilen  sich 
auf  die  ganze  Länge  der  langgesteckten  Lungen.  Die 
rechte  Lunge  enthält  etwa  1  So  solcher  Knorpelringe. 
Eine  ähnliche  Disposition  ist  bei  keinem  Am- 
phibium  zu  finden.  Es  wird  angenommen,  daß 
sie  den  Zweck  hat,  den  engen  und  langen  Lungen- 
sack offen  zu  halten,  damit  die  Luft  leichter  zu 
zirkulieren  vermag.  Links  und  rechts  von  der 
Lunge  befinden  sich  sehr  große,  blutreiche  Geiäße. 
Die  Zellen  sind  sehr  einlach  und  zeigen  die  ab- 
solut gleiche  Struktur  wie  die  Lungen  der  Am- 
phibien. Ist  schon  die  ganze  Struktur  der  Lungen 
geradezu  kurios,  so  besteht  noch  eine  weitere 
Merkwürdigkeit  darin,  daß  sie,  abgesehen  von  ihrer 
seltenen  (jröße,  sich  bis  fast  zur  Kloake  hinzieht. 
Wichtig  ist,  daß  die  Gelegenheit  vorhanden  ist, 
diese  seltene  aquatile  Art  in  der  Gefangen- 
schaft zu  beobachten.  Anfang  Juli  1914  gelang 
es  der  erwähnten  Züchterin  Frau  Kuhnt,  zwei 
Exemplare  auch  dieser  Wasserwühle  lebend  ein- 
zutühren.  Sie  wurden  im  Zoologischen  Museum 
in  Berlin  als  Typhlonectes  natans  J.  G.  Fischer 
identifiziert.  Unmittelbar  danach  gingen  sie  in 
den  Besitz  des  Berliner  Aquariums  über. 
Hier  wurden  sie  von  mir  beobachtet.  Ein  Bericht 
darüber  erfolgte  später. ')  Das  eine  Exemplar 
wog  180  g  und  hatte  eine  Länge  von  48  cm. 
Es  stellte  sich  als  ein  Weibchen  heraus.  Das 
andere  Tier,  ein  Männchen,  wog  nur  60  g  und 
maß  33  cm.  Nach  acht  Monaten  hatte  das 
Weibchen  eine  Länge  von  53,6  cm  und  das 
Männchen  eine  solche  von  44  cm  erreicht.  Die 
Tiere  erhielten  ein  geräumiges  Becken,  das  sie 
allein  bewohnten  und  in  dessen  Mitte  eine  Cyperus 
alternifolius  Staude  eingepflanzt  war.  Diese  Be- 
hausung erwies  sich  als  sehr  zweckmäßig.  Regel- 
mäßig lagen  sie  um  die  Cyperus-Staude  geringelt 


')Milewski,  „Typhlonectes  compressicauda  und 
Typhlonectes  natans"  in  „Wochenschrift  für  Aquarien-  und 
Terrarienkunde"   1916,  S.   132. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


37 


und  nach  Schlangjenart  miteinander  verflochten. 
Nie  war  eine  uneebärdige  Regung  wahrnehmbar. 
In  ausgesuchtester  Harmonie  lebten  sie  gleichmäßig 
und  friedlich  dahin,  stoisch  und  phlegmatisch. 
Nie  störte  eine  Uneinigkeit  die  Ruhe.  Es  war 
eine  Friedlichkeit,  wie  sie  selten  im  Tierreiche 
zu  finden  ist.  Ihre  Nahrung  bestand  in  Fischen, 
wurmähnlich  geschnittenen  Fleischstückchen  und 
Regenwürmern,  die  sie  auflutschten.  Die 
Nahrungsaufnahme  war  beträchtlich.  Wenn  sie 
sich  genügend  gefüllt  hatten,  schwollen  sie  auf, 
wie  kleine  Tonnen.  Selten  ringelten  sie  sich  aus- 
einander und  lagen  getrennt,  aber  auch  dann  stets 
in  sich  zusammengerollt  oder  um  die  Staude  ge- 
ringelt. Noch  seltener  bewegten  sie  sich  schwimmend 
im  Wasser.  War  das  aber  mal  der  F"all,  so  war 
die  ausgesprochen  egelartige  I-"ortbewegung,  die 
nicht  hastig,  sondern  ruhig  und  gleichmäßig  er- 
folgte, zu  sehen.  Von  Zeit  zu  Zeit  schlängelten 
sie  sich  an  den  Halmen  zur  Wasseroberfläche 
empor,  nahmen  —  trotz  künstlicher  Durchlüftung  — 
einen  kleinen  Schluck  atmosphärische  Luft  mit 
dem  Maule  auf  und  tauchten  gleich  wieder  in 
Ruhe  unter.  Der  Aufstieg  fand  in  sehr  großen 
Pausen  statt.  Häufig  war  ihre  Stellung  so,  daß 
sie  sich  an  der  Pflanzenstaude  so  weit  hinauf- 
geringelt hatten,  daß  ihre  Schnauzenspitze  ein 
wenig  über  die  Wasseroberfläche  hinausragte.  In 
dieser  Haltung  hielten  sie  lange  aus.  Dann  war 
aber  von  einer  Aufnahme  atmosphärischer  Luft 
nichts  zu  bemerken,  wie  ja  diese  Respiration  über- 
haupt kaum  erkennbar  ist.  Lagen  die  Tiere  mit- 
oder  ineinander  verschlungen,  so  schien  es  un- 
möglich, die  Linien  ihrer  Leiber  zu  verfolgen. 
Für  den  Laien  war  dann  die  Unterscheidung  von 
Kopf  und  Schwanz  fast  ausgeschlossen.  Bei 
günstiger  Lage  ließ  sich  die  weißliche,  einem 
stumpfen  Dreieck  ähnelnde,  hell  gebettete  Haft- 
scheibe am  After  deutlich  beobachten.  Die  be- 
schriebene F"orm  der  Schnauze  und  die  auf  der 
zweiten  Hälfte  des  Körpershervortretende  Längsfalte 
ließen  dem  mit  der  Literatur  vertrauten  Beobachter 
keinen  Zweifel  darüber,  daß  es  sich  um  Exem- 
plare der  Art  Typhloiiccfes  nafans  handelte.  Die 
Hautfalten  waren  sehr  undeutlich.  Sie  waren  nur 
bei  entsprechenden  Biegungen  des  Körpers  sicht- 
bar. (Die  wissenschaftlichen  Angaben  über  die 
Zahl  der  Hautfalten  schwanken  auch  hier.  Es 
sollen  ungefähr  lOO  primäre  und  86  sekundäre 
Falten  vorhanden  sein.')  Die  Färbung  bestand 
aus  einem  dunkelgetonten  Schiefergrau  bis  Braun 
mit  einem  ganz  matten  Glanz.  Die  Bauchseite 
hob  sich  merklich  heller  ab.  —  Bei  der  guten 
Pflege  entwickelten  sich  die  Tiere,  wie  die  an- 
gegebenen Messungen  beweisen,  vorteilhaft.  Am 
Morgen  des  15.  Januar  191 5  lagen  vier  Junge 
da,  völlig  unvermutet.  Sie  besaßen  die  bedeutende, 
gleichmäßige  Lärige  von  20  cm  und  wogen  20  gr 
Die  Kiemenlappen  müssen  gleich  nach  der  Geburt 
fortgeworfen    worden    sein.      Nur    quer  über   dem 

')  „Das  Tierreich",  Lieferung  37,  S.   23. 


Nacken  zog  sich  eine  ganz  feine,  hellgraue  Furche 
von  ca.  */,  cm  Länge  und  i  —  2  mm  Breite  hin, 
wie  Heinroth  berichtete.')  Es  waren  dieses 
die  Ansatzstellen  der  früher  vorhandenen  Kiemen- 
lappen. Die  Jungen  ähnelten  nach  Farbe  und  Ge- 
stalt völlig  den  Eltern.  Charakteristisch  war,  daß 
sie  sich  gleich  mit  diesen  vereinigten.  Sie 
ringelten  sich  mit  ihnen  in-  und  untereinander, 
und  da  sie,  wie  gesagt,  von  vornherein  eine  be- 
deutende Größe  besaßen,  fiel  es  schwer,  sie  zu 
unterscheiden.  Dieses  wurde  noch  schwieriger 
mit  dem  zunehmenden  Wachstum.  Diese  Vor- 
liebe zur  Vereinigung  der  ganzen  Familie  hielt 
auch  weiter  an.  Stets  befanden  sich  alle  Tiere 
auf  einem  Fleck  vereinigt,  wie  ein  Haufen  in- 
einander verschlungener  Schlangen.  Von  Anfang 
an  pflegen  die  Jungen  das  Phlegma  der  Alten. 
Auch  sie  bewegen  sich  selten  frei.  Tun  sie  dieses, 
so  schlängeln  sie  sich  in  tiefen  Wellenlinien  wie 
Egel  vorwärts.  Dieser  Zustand  ist  bis  heute  ge- 
blieben. Alle  Tiere  sind  am  Leben  geblieben  und 
gedeihen  weiter.  Nach  etwa  zehn  Monaten  maßen 
von  den  Jungen:  das  kleinste  Exemplar  21,2  cm 
und  das  größte  25,8  cm,  nach  i^/^  Jahren  das 
kleinste  25.5  cm  und  das  größte  34  cm.  Bei  den 
Messungen  war  zu  beobachten,  daß  zwei  Tiere  den 
beiden  anderen  stets  im  Wachstum  voraus  waren. 
Es  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  hier  Geschlechts- 
unterschiede eine  Rolle  spielen.  Man  kann  nach 
den  Größenverhälfnissen  der  Alten  annehmen,  daß 
die  Männchen  im  WacJistum  hinter  den  Weibchen 
zurückbleiben.  Eine  Prüfung  des  Gewichtes  der 
Alten  läßt  die  weitere  Vermutung  aufkoinmen, 
daß  das  Weibchen  wieder  trächtig  ist.  Denn  es 
wog: 

am   15.  Februar   1915:   I/O  g  und  maß  50  cm, 
am  14.  März   1916:  270  g  und  maß  53,6  cm. 

Woher  die  Elterntiere  stammen,  ist  nicht  mit 
Sicherheit  festzustellen.  Als  Heimat  von  Tvphlo- 
iirdrs  iiataiix  wird  der  Caucafluß  und  Barran- 
quilla  in  Columbia  angegeben. 

IV.    TypJihnicdcs  kaitpii  (Berthold). 

Diese  dritte  und  letzte  Art  der  ausschließlich 
im  Wasser  lebenden  Blindwühlen  wurde  zuerst 
von  B  e  r  t  h  o  1  d  im  Jahre  1859  als  „Cafcilia  kanpü" 
beschrieben.'-)  Im  Jahre  1867  führte  sie  Kef er- 
st ein  bei  der  Erwähnung  „einiger  neuer  oder 
seltener  Batrachier  aus  Australien  und  dem  tro- 
pischen Amerika"  als  „Sip/ionops  kaiipii'"  auf.  *) 
1877  berichtete  Peters  weiter  von  ihr  als  „Cae- 
cilia  dorsalis".*)  Im  Jahre  1879  erwähnte  sie 
Peters  bei  der  ,, Einteilung  der  Caecilien"  als 
' „Typhlonedes    dorsah's".^)      Boulenger    jedoch 

1)  „Blätter  für  Aquarien-  und  Terrarienkunde",  1915,  S.  34. 

')  „Nachrichten  von  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften und  der  Georg- August -Universität  zu  Göttingen" 
1859.  Bd.   I,  S.    181. 

^1  ibid.    T867,  S.  361. 

*')  „Monatsberichte"  usw.,   1877,  S.  459. 

^)  ibid.   1S79,  S.  941. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschr 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


bestimmte  diese  Art  als  „Typhlonedes  katipii".'^) 
Anatomische  Aufklärungen  gab  erst  in  allerletzter 
Zeit  Fuhrmann.-) 

TypJiloHcdcs  kaupii  ist  die  kleinste  der  „Wasser- 
Caeciiien".      Das    Tier    erreicht    nur    eine    Länge 
von    etwa    26  cm    und    einen   Körperdurchmesser 
von    höchstens    7  mm.      Es    besitzt    einen    abge- 
platteten   Kopf    und    eine    kürzere,    abgerundete 
vorspringende  Schnauze.      Die  Augen    sind  unter 
der    unbeschuppten    Haut    leicht    erkennbar.    — 
Fuhrmann  sagt,  daß  diese  interessante  Spezies 
die   beste    Anpassung    an    das    Leben    im  Wasser 
zeigt.     Tatsächlich    ist    der  Körper    fast   über   die 
ganze    Länge    zusammengedrückt.      Peters    be- 
stätigt   diesen  Befund,    wenn  er  angibt,    daß    die 
Mittel-     und    Rückenlinie    sich    zu    einer    dicken 
Längenfalte,    einer  Längswulst,   forme,    die  einen 
Rückenkamm    über    fast    die    ganze    Körperlänge 
darstelle.       Dieser    Kamm    erreicht    hinter    dem 
Kopfe    eine    Höhe    von  4—5   mm.     Vor  den  Ex- 
tremitäten   erscheint    er    etwa    5  mm    hoch.     Die 
seitliche  Zusammenpressung  des  Körpers  beginnt 
schon  3  cm  hinter  dem  Kopf    Der  Rückenkamm, 
der  als  Schwimmkamm  angesprochen  wird,    tritt 
gegen    das  Ende    besonders   stark    hervor.      Nach 
dieser  Körperdisposition    muß    das  Tier  ein   sehr 
gewandter  Schwimmer  sein.     Einen  Beweis  hierfür 
sieht  Fuhrmann  auch  in  der  Tatsache,    daß  er 
irn    Magen    eines    der    untersuchten    Tiere    zwei 
Fische  von  einer  Länge  von   5 — 6  cm  vorfand.  — 
Die  Farbe  des  Körpers    stellt    ein    ins  Bräunliche 
spielende    Olivengrün    dar.      Es    wurden   99    sehr 
deutliche,    fast  vollständige  Ringe  bildende  Haut- 
falten   gezählt.      Die    Ringfurchen    sind    schwarz. 
Sekundäre  Hautfalten  sind  nicht  vorhanden.     Der 
After    liegt    innerhalb    einer    länglichen,    5V2  mm 
langen  Haftscheibe. 

Fuhrmann  hat  auch  diese  Art  anatomisch 
untersucht.  Die  Speiseröhre  ist  sehr  lang.  Direkt 
hinter  dem  Herzen  beginnt  der  Magen,  der  nahezu 
die  Länge  der  Leber  hat.  Der  Darm  beginnt 
sehr  schmal,  erwehert  sich  aber  stark  nach  hinten. 
Die  Leber  ist  14,5  cm  lang  und  besitzt  eine 
Anzahl  Lappen,  die  weniger  groß  als  bei  den 
anderen  beiden  Arten  ist.  Auch  die  Milz  ist  sehr 
schmal;  vor  ihr  scheint  eine  kleine  Nebenmilz  zu 
liegen.  Die  Atmungsorgane  sind  auch  hier  sehr 
typisch.  Die  rechte  Lunge  erweitert  sich  bis  zu 
I  5  cm  und  hat  eine  ungefähre  Länge  von  24  cm. 
Der  Durchmesser  ist  aber  doppelt  so  groß,  wie 
bei  den  anderen  Typhlonectes;  er  beträgt  4  mm. 
Die  linke  Lunge  dagegen  ist  erheblich  kürzer  wie 
bei  jenen.  Sie  besteht  in  einem  kurzen,  nur  6,5  cm 
langen  Sack.  Dafür  ist  ihr  Durchmesser  größer, 
denn  er  erreicht  i  cm.  Dadurch  erscheint  sie 
als  ein  weiter  Sack.  Sonst  herrschen  die  gleichen, 
kurios  anmutenden  inneren  Einrichtungen  wie 
bei    den    anderen    Arten    vor.      Die    Struktur   der 


Haut    weist    die    gleichen  Eigentümlichkeiten  wie 
bei  Typhlonectes  compressicauda  auf. 

Typhloiiec/es  kaiipii_  ist  bisher  noch  nicht  lebend 
eingeführt  worden.  Über  ihre  Lebensweise  läßt 
sich  also  zurzeit  noch  nichts  sagen.  Als  Heimat 
gilt  Angostura  im  Orinoco. 

V.    Schlußbemerkungen. 

Die  Genera  Typhlonectes  unterscheidet 
sich  von  den  G  y  m  nophionen  im  wesentlichen 
dadurch,  daß  die  drei  zu  ihr  gehörigen  Arten 
ausschließlich  eine  Lebensweise  frei  im 
Wasser  führen.  Sie  haben  alle  eine  unbeschuppte 
Haut  und  sind  lebendgebärend.  Alle  be- 
sitzen zwei  Zahnreihen  im  Unterkiefer.  Ein  ge- 
meinsames Merkmal  der  Gymnophionen  haben 
auch  sie:  am  Kopf  zwischen  Augen  und  Nase 
rätselhafte,  mit  einer  Drüse  in  Verbindung  stehende, 
vorstreckbare,  fühlerartige  Organe,  „Tentakel." 
Der  Besitz  der  Tentakel  unterscheidet  die  gesamte 
Gruppe  der  Blindwühlen  von  allen  anderen  Am- 
phibien der  jetzigen  Lebewelt.  Sie  stellen  einen 
recht  kompliziert  gebauten,  zylinderförmigen  Fort- 
satz dar,  dessen  stumpfes,  vorderes  Ende  aus 
einem  Hautkanal  unter  dem  Auge  hervorsieht  und 
zurückgezogen  werden  kann.  (Johannes  Müller.) 
Der  Zweck  der  Tentakel  ist  noch  nicht  aufgeklärt. 
Sarasin^)  hält  sie  für  Fühler,  Tastorgane,  denn 
er  sah  sie  bei  der  ceylonesischen  Blindwühle,  an 
der  er  diesen  eigenartigen  Apparat  untersuchte,  -) 
sich  fühlerartig  betätigen.  Die  Blindwühle  tastete 
mit  ihnen,  wie  ein  Blinder  mit  dem  Stock,  und 
die  Tentakel  wurden,  wie  bei  einer  Schnecke 
beliebig  hervorgestoßen  und  zurückgezogen. 
Wiedersheim^)  dagegen  sagt:  ,Von  einem 
Tastorgan  muß  man  absehen;  vielmehr  ist  es  in 
erster  Linie  ein  Sekretionsorgan,  vielleicht  ein 
Giftorgan,  das  das  Sekret  im  Strahl  ejakuliert, 
ein  in  die  Ferne  wirkendes  Angrifi's-  oder  Ver- 
teidigungsmittel." --  Bei  den  Typhlonectes- Arten 
ist  dieses  rätselhafte  Organ  noch  nicht  untersucht 
worden.  • 

Als  auffallend  hebt  Sarasin-*)  hervor,  daß  es 
ihm  nicht  gelungen  ist,  Seitenorgane  bei  der 
Genera  Typhlonectes  zu  entdecken.  Er  sagt: 
„Sollte  sich  dieses  Fehlen  der  Seitenorgane  be- 
stätigen, so  wäre  dieses  eine  nach  jeder  Richtung 
hin  auffallende  Tatsache.  Die  Seitenorgane  er- 
halten sich  mit  großer  Zähigkeit  auch  unter 
Umständen,  wo  wir  einen  Nutzen  derselben  für 
ihren  Träger  nicht  zugeben  können."  „Das  lange 
Persistieren  der  Kiemenlappen  von  Typhlonectes 
zu  einer  Zeit,  wo  auch  jedenfalls  die  Kiemen- 
spalten sich  schon  geschlossen  haben  und  die  ge- 

ichaftlicher  Forschungen 


')  „The  Annais  and  Magazine  of  natural  History,  including 
Zoologyi  Botany  and  Geology"  London  ser.  6  v.  8,  S.  457. 

■-)  Fuhrmann  in  „Voyage  D'Exploration"  usw.,  1912, 
S.   124. 


1)  Sarasin:   „Ergebni 
auf  Ceylon"  usw.,   Bd.  2,   S.   205. 

-)  Sarasin:   „Über   den  Tentakel  von  Ichthyophis  gluti- 
nosa"  in  „Sitzungsb'er.  d.  Ges.  naturf.  Freunde  in  Berlin",   1889. 

3)  Wiedersheim:  ,, Die  Anatomie  der  Gymnophionen." 
Jena   1879,  S.  54. 

*)  Sarasin,     „Ergebnisse     naturwissenschaftlicher    For- 
schungen auf  Ceylon",  Bd.  2,  S.  27. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


39 


wiß  einmal  vorhanden  gewesenen  Seitenorgane 
verschwunden  sind,  hat  einen  physiologischen 
Grund,  über  den  wir  uns  weiter  unten  im  Vergleich 
mit  anderen  Erscheinungen  dieser  Art  bei  den 
Amphibien  verbreiten  wollen. ■'  Bei  der  letzteren 
Bemerkung  gingSarasin  von  der  Annahme  aus, 
daß  auch  die  Genera  Typhlonectes  die  sämtlichen 
Entwicklungsstadien  der  Salamandriden  durchläuft; 
eine  Annahme,  die  durch  die  neuzeitlichen  Be- 
obachtungen an  lebendem  Material  sich  als  fehl- 
gehend erweist.  —  Auch  der  Zweck  der  alle  drei 
Arten  auszeichnenden  Haft  Scheibe  an  der 
Kloake  erscheint  noch  ungeklärt,  denn  bei  den 
lebenden  Exemplaren  des  Typhlonectes  nataiis 
habe  ich  nie  beobachten  können,  daß  sie  praktisch 
betätigt  wird.  Nicht  minder  merkwürdig  ist  neben 
den    anatomischen    und    histologischen    Eigentüm- 


lichkeiten der  Bau  der  Atmungsorgane,  das 
Fehlen  von  Drüsen  in  der  Mundhöhle, 
der  Bau  der  Trachea  und  des  Schädels  und  die 
starke  Entwicklung  der  Lungen.  Letztere  bringt 
Fuhrmann  mit  einer  wahrscheinlichen  regen 
Tätigkeit  der  Tiere  im  Wasser  zusammen;  eine 
Vermutung,  die  indes  durch  die  Beobachtung  von 
Typhlonectes  nataiis,  der  großes  Phlegma  bekundet, 
nicht  bestätigt  wird.  Eher  läßt  sich  mit  Werner') 
annehmen ,  daß  Typhlonectes  eine  primitive 
Gattung  der  Apoden  vorstellt  und  weitere  Unter- 
suchungen an  reicherem  Material  erst  zeigen 
müssen,  „ob  diese  anscheinend  primitiven  Merk- 
male nicht  durch  die  Anpassung  an  die  aquatische 
Lebensweise  zu  erklären  ist." 


')  „Zentralblau  für  Zoologie  und  Biologie",   1914,  S.  41, 


[Nachdruck  verboten.  1 

Wünschelruten  sind 
sie  zwingen  am  Sta 


lenden   Hand 
regt  sich  das  magische   Reis. 

Goethe,  Weissagungen  des  Bakis 


Eine  Rute,  ein  Stab  ist  die  Urhandwaffe,  mit 
der  ihr  Besitzer,  der  „Herr",  seine  Wünsche,  seine 
Herrschaft  kundgibt  und  nötigenfalls  erzwingt. 
Der  Stab,  das  griechische  Skeptron  wird  zum 
Kennzeichen  des  Ansehens,  und  wie  denen,  welche 
ob  der  ihnen  innewohnenden  hervorragenden 
Eigenschaften  kämpfend,  siegend  den  Besitz  solcher 
Herrschaftszeichen  errangen,  fürderhin  gehuldigt, 
ihren  Wünschen  gedient  wurde,  wie  alle  Welt 
ihrer  suggestiven  Macht  sich  beugte,  wie  man 
dem  Winke  des  Stabes  gehorsamte,  so  umwob 
man  ihn,  frühzeitig  sicherlich,  mit  einem  geheimnis- 
vollen magisch-mystischen,  wunderbaren  Nymbus, 
man  suggerierte  ihm ,  um  modern  zu  sprechen, 
die  Kraft  des  Besitzers,  man  hielt  ihn  schließlich 
allein  für  den  Träger  von  dessen  Wunder  wirkenden 
Kräften,  man  gehorchte  ihm,  man  erfüllte  blind- 
lings die  Wünsche  auch  dessen,  der  sich  wider- 
rechtlich, ja  seiner  unwürdig,  in  seinen  Besitz 
setzte. 

Nicht  die  Eigenschaften,  welche  das  Volk 
Assurs  seiner  Göttin  der  Unterwelt  andichtete, 
gaben  ihr  Macht  über  ihre  Untertanen  und  Ge- 
walt, die  Erde  zu  sprengen  und  ihre  Schätze  dem 
staunenden  Auge  der  Menschen  bloßzulegen, 
sondern  der-  Wunderstab  in  ihren  Händen,  der 
ihr  auch  den  Namen  „G öttin  des  Stabes"  gab. 
Ebenso  ging  es  dem  Götterboten  Hermes- 
Mercur.  Wenn  er  mit  der  Rute,  der  goldigen 
Virgula,  an  die  Pforten  der  Hades  pochte,  dann 
erschloß  sie  sich  nicht  ihm,  dem  Gotte,  nicht  er 
übertrug  Wunder  wirkende  „göttliche"    dem  Ver- 


Die  WilnscLelrute. 

Von  Hermann  Schelenz,  Cassel. 
Mit   I   Abbildung. 

hängnis  gebietende  Eigenschaften  auf  sie  und 
macht  sie  zur  divina  fatalis.  Gerade  umgekehrt 
stellte  man  sich  die  Sachlage  vor,  und  ganz 
ebenso  erklärte  man  die  Macht  des  Hermes- 
Ebenbilds  Odin  unserer  nordischen  Gölterlehre. 
Nicht  er,  nein  seine  Wunsch-,  Wunder-  oder  Ruf- 
Rute     senkt     unwiderstehlichen    Schlaf    wunder- 


:Schä 


Rutengänger  na>  li    I 
Buch   „Vom   Bergk 


mächtig    auf  Brunhildens  Augenpaar    und    zwingt 
in  winterstarre  Ruhe  Wald  und  Flur. 

Daß  Aron  mit  seinem  Stabe  Wasser  in  Blut 
wandelt,  daß  Moses  mit  dem  seinen  Wasser  aus 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


dem  Felsen  schlägt,  wird  geradewegs  als  Ver- 
dienst des  Stabes  geschildert,  nicht  als  das  ihrer 
Träger  oder  noch  richtiger  des  fürsorglichen, 
allmächtigen  Gottes,  der  im  ersten  Falle,  noch 
vor  einem  Jahrhundert  als  Wunder  angestaunten 
„Blutregen"  sandte  und  im  zweiten  Falle  Mosen 
die  wasserführende  Ader  gezeigt  oder,  wissen- 
schaftlich gesprochen,  wunderbare  Geistesgaben 
mitgegeben  hatte,  die  ihn  befähigten,  an  ge- 
wissen, ihm  bekannt  gewordenen  geologischen 
Kennzeichen  zu  erkennen ,  wo  Wasser  zu  ver- 
muten war,  wo  er  „Wasser  schlagen"  konnte. 

Aus,  wegen  der  Seltenheit  seines  Vorkommens 
und  ob  seiner  Eigenschaften  kostbarem  Gold,  das 
schon  allein  aus  diesem  Grunde  seines  Besitzers 
Wünsche  in  hohem  Grade  erfüllen  konnte,  wurden 
die  Herrschaftszeichen  der  Mächtigen  angefertigt. 
Holz-itäbe,  die  wegen  ihrer  seltsamen  Gestaltung, 
ihrer  Färbung  oder  sonst  wie  auffielen,  als  Natur- 
wunder erschienen,  wurden  von  den  Naturkindern 
—  Naturkindern  gleich  sind  in  unserer  Zeit  der 
Wunder  der  Elektrizität  die  der  Natur  entwöhnten 
Gebildeten  noch  fast  samt  und  sonders!  —  in 
begreiflicher  Gedankenverbindung  ebenfalls  als 
Träger  wundertätiger  Kräfte  angesehen,  die  sich 
auf  den  glücklichen  Besitzer  übertrugen.  ^)  Die 
Rute  der  Sybille,  welche  dem  Aeneas  nach  Vergils 
rührender  Schilderung  die  Pforte  des  Orkus 
öffnete,  war  ein  solch  auffallendes  Naturwunder, 
vermutlich  ein  goldgelber  Mistelzweig.  In  der 
Tat  ist  die  Pflanze  ganz  dazu  angetan,  aufzufallen. 

Buschig  zusammengedrängt  hebt  sich  die 
Mistel  von  dem  Baum  ab,  der  winterlich  entblättert 
gen  Himmel  starrt,  und  zur  Sommerszeit  ,,in 
drangvoller  Dichte  des  Baums  sproßt  im  Gewirr 
der  grünenden  Blätter  die  goldige  Pflanze",  die 
sich  durch  sperrige,  regelmäßig -zweigabelige 
Teilung  jedenfalls  von  den  allermeisten  Gewächsen, 
unterscheidet,  von  denen  sie  ein  Teil  zu  sein  scheint 
und  die  ihr  doch  nur  einen  Platz  zur  Ansiedelung 
und  Nahrung  bieten.  Ihre  Herkunft  ist  geheimnis- 
umwoben, unbegreiflich  vom  Himmel  herab- 
gefallen muß  sie  sein ,  sie  ist  eine  Göttergabe. 
Bald  wurde  der  göttliche  Zweig,  die  Virga  divina, 
ein  mit  göttlicher  Macht,  mit  der  Gabe  der 
Weissagung  begabter  Zweig,  eine  Virga  divinatoria, 
damit  gleicherzeit  eine  wunscherfüllende,  eine 
Wunschrute. 

Um  Mistel-Wunschruten  handelte  es  sich  auch 
in   dem  Kult  der  Druiden,    der   immerhin    beein- 

')  Vor  ganz  kurzer  Zeit  erst  konnte  Max  Kirmis  Ke- 
fehlstäbe  aus  seinen  Sammlungen  (im  „Daheim")  im  Bilde 
vorführen  und  mitteilen,  daß  sie,  Kriwe  (jedenfalls  nach  dem 
slawischen  Krsive,  krumm,  verkrüppelt),  auffällig  reuelwidrige 
hin-  und  hergebogene  Stockausschläge  offenbar  verschiedener 
Bäume,  seit  vielen  Jahrhunderten  von  den  Orlsvorstehern  in 
Liltauen  und  darüber  hinaus  als  Zeichen  ihrer  Würde  und 
Macht  getragen  wurden.  Den  Schulzen  im  Posenschen  wurden 
vor  einigen  fünfzig  Jahren  zu  gleichem  Zwecke  staatsseitig 
lange  „Schulzenstöcke"  verliehen.  Hierher  gehören  die  im 
Stil  und  Namen  deutlich  den  pflanzlichen  Ursprung  verratenden 
Ferulae  oder  Sambucae,  die  Bischofsstäbe,  die  Kammer- 
herrnstäbe, die  Zauberstöcke  unserer  modernen  Zauber- 
künstler usw. 


flußt  sein  kann  von  den  ebengedachten,  von 
phönikischen  Seefahrern  nordwärts  gebrachten 
Anschauungen  der  klassischen  und  weiter  zurück 
orientalischen  Völker. 

Nichts  war  den  Druiden,  den  keltischen 
Derwydd  oder  Dryod,  den  Weisen  des  Stammes, 
so  heilig,  wie  die  Mistel  vom  Eichbaum,  berichtet 
Plinius:  Mit  großer  Feierlichkeit  wurde  die 
„Luftpflanze",  die  Göttergabe  in  besondern, 
heiligen  Nächten  beim  bleichen  Schein  des  Voll- 
monds —  der  Leser  sah  die  Zeremonie  am  Ende 
gelegentlich  in  einer  „naturalistischen"  Aufführung 
von  Bellinis  Norma  —  von  den  Oberdruiden  mit 
goldener  Sichel  geschnitten.  Nie  hatte  sie  die 
Erde  berührt,  peinlich  wurde  sie  vor  ihrer  Be- 
rührung gehütet  und  in  schneeigem  Tuch  bis  zu 
ihrer  Verwendung  aufbewahrt.  Sie  war  und  ist 
in  Wales  noch  jetzt  Wunschrute  auch  in  bezug 
auf  das  höchste  Gut  der  Gesundheit,  und  der 
Mistle-toe  erfüllte  auch  in  unserm  verenglän- 
derten  Vaterland  den  Wunsch  nach  einem  Ktiß 
von  den  Lippen  der  Schönen,  die  sich,  wohl  nicht 
immer  zufällig,  unter  ihm  haschen  ließ. 

Neidisch  stellen  die  Götter  sich  den  Wünschen 
der  Erdenmenschen  in  den  Weg,  neidisch  ver- 
sperren ebenso  die  Untergötter,  die  als  Dämonen, 
böse  Geister  usw.  das  Weltall  zu  vielen  Tausenden 
bevölkern  und  sich  in  die  Herrschaft  über  Pflanzen 
und  Tiere,  über  die  Steine,  über  Wasser  und 
Feuer,  kurz  über  alles  Irdische  teilen,  ihnen  die 
Grenzen  zu  ihrer  Machtvollkommenheit.  Geheime 
Künste,  Kabbala,  Magie  lehren  Mittel  und  Wege, 
die  Dämonen  zu  betören,  die  Pforten  zu  ihrem 
Besitz  sprengen,  ihnen  die  Erfüllung  aller  Wünsche 
abringen. 

Gerade  der  Bergmann,  der  den  dunklen  Schoß 
der  Erde,  von  steten  Gefahren  bedroht,  nach 
Schätzen  durchwühlt,  ist  ebenso  wie  der  Land- 
mann und  Schiffer,  die  gleich  ihm  im  steten 
Kampf  mit  den  Naturgewalten  stehen,  solchem 
Aberglauben  unterworfen.  Die  Schatten,  die  das 
fahle  Licht  seiner  Lampe  von  ihm  selbst  auf  die 
Wände  seiner  Gänge  wirft ,  deutet  ihm  seine 
Phantasie  als  Kobolde  und  Nickel,  die  ihn  gold- 
gleisendes  taubes  Erz  statt  lautern  Goldes  finden 
und  seinen  Schacht  ersaufen  lassen.  Er  wird  nach 
magischen  Helfern  ausschauen,  damit  sie  ihm  im 
Kampf  mit  den  Erdgeistern  beistehen,  nach 
„Springwurzeln",  die  das  Gestein  brechen  und  die 
Goldader  frei  werden  lassen,  nach  Wunschruten, 
die  ihm  anzeigen,  wo  er  den  Schacht  abtäufen 
soll.  Und  von  jeher  gab  es  sicher  Leute,  die 
solchen  Glauben  und  den  ihnen  und  ihren  Ruten 
besonders  innewohnende  Kräfte,  nicht  nur  aus 
selbstlosen  Gründen  förderten.  Jedenfalls  gab  es 
schon  früh  ,, Rutengänger",  die  berufsmäßig  als 
Angestellte  von  Bergwerken  das  Gelände  mit 
ihren  Wunderruten  begingen  und  die  Stellen,  wo 
die  Rute  „schlug"  als  erz-  oder  wasserversprechend 
anzeigten,  oder  die  von  Fall  zu  Fall  gegen  Ent- 
gelt ihre  Wunderhilfe  darboten. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Der  erste,  der  von  unserer  Wünschelrute 
wissenschaftlich  spricht  ("dies  Wort  hrdeutete  friiher 
z.  ß.  in  Meeren berg's  „Buch  der  Natur"  aus 
dem  XIV.  Jahrh.  etwas  ganz  anderes:  die  Virga, 
welche  wegen  ihrer,  den  Bestand  der  Welt  ge- 
währleistenden Wunderkraft  im  Phalluskultus  des 
Altertums  geradezu  göttlicher  Verehrung  gewürdigt 
wurde),  ist  Paracelsus,  richtiger  Hohenheim. 
Er  nennt  den  Gebranch  der  aus  Haselstrauch 
gefertigten  Rute  altbekannt. 

Auch  um  sie  wob,  wie  um  die  Mistel,  seit 
altersher  die  Sage  ihr  geheimnisvolles  Gewand. 
Vergil  schildert  den  schattenspendenden  Strauch 
als  Liebling  der  Hirten  und  Unterschlupf  liebender 
Paare,  und  des  großen  Dichters  Spuren  folgen  die 
Brüder  in  Apoll  bis  zum  Sänger  des  Kabaret- 
Idylls:  Unter  dem  Haselstrauch.  Aus  ihm  schnitt 
m^n  Wünschelruten  aufGrund  uralter  Volksvorliebe 
für  ihn,  und  weil  er  bequemer  zu  erreichen  war 
als  die  in  der  Tat  sehr  seltene  Eichenmistel.  In 
Anlehnung  aber  an  deren  ,, Dichotomie",  zweizinkige 
Gabelung  des  Vorbildes  wurde  eine  ähnlich  ge- 
staltete ,, Zwiesel",  unter  Anlehnung  wieder  an  der 
Druiden  Brauch  und  ihn  mit  christlicher  Mystik 
verquickend,  in  mondhellen  Johannisnächten  unter 
absolutem  Schweigen  mit  neuem  Messer  ge- 
schnitten. 

Ein  Mann  wie  Georg  Agricola  konnte  in 
seinem  berühmten  „Buch  vom  Bergwerk",  das 
dieser  wichtigen  Hantierung  erst  wissenschaftliches 
Gefüge  gab,  nicht  achtlos  bei  der  Wünschelrute 
vorübergehen,  ohne  die  Berghau  im  Grunde  un- 
möglich war.  Allerdings  gab  es  schon,  so  zu 
sagen,  Handwerksregeln  für  Erzsucher.  „An 
welchem  Ort  viel  Bäume,  lang  nacheinander 
ordentlich  gesetzt,  zu  unrechter  Zeit  verdorren  und 
schwarz  werden  oder  sunst  ihre  rechte  Färb  ver- 
lieren und  vom  Ungestüm  der  Winde  niederfallen, 
daselbig  liegt  ein  Gang  verborgen",  weil  aus  dem 
Fallen  der  Bäuine  zu  folgern  ist,  daß  ihre  Wurzeln 
durch  Erzadern  am  Eindringen  in  den  Boden  und 
Festhalten  des  Baumes  verhindert  werden.  Je 
nach  dem  gewünschten  Erz  wechselte  man  damals 
aus  allerhand  Erwägungen  mit  dem  Rutenmaterial 
(nach  Theophrast  wechselte  die  Mistel  ihre 
Eigenschaften  je  nach  ihrem  „Wirt").  Haselnuß- 
ruten zeigten  Silber,  solche  aus  Tannenholz  Blei 
und  Zinn,  eiserne  oder  stählerne  Gold  an.  In  der 
nach  oben  gekehrten  bloßen  Hand  (die  beigegebene 
Abbildung  aus  dem  gedachten  Werk,  die  besser 
als  viele  Worte  das  Rutenlaufen  zeigen,  deutet 
das  dadurch  an,  daß  sie  auf  dem  Baumstumpf  die 
ausgezogenen  Handschuhe  sehen  läßt!),  also  in 
recht  gezwungener,  die  Arm-  und  Handmuskulatur 
fast  krampfhaft  anspannender  Haltung,  wird  die 
Rute  an  den  Gabelenden  senkrecht  vor  der  Brust 
getragen.  Über  dem  Erzgange  oder  der  Wasser- 
ader sollte  sie  in  zuckende  Bewegung  geraten 
und  schließlich  geradezu  nach  unten  zeigen. 

Der  Wunsch  ist  der  Vater  des  Gedankens. 
Er  ist  stark  genug,  seine  Spuren  auf  dem  Gesicht 
zu  zeigen,  er  wird  unzweifelhaft  auch  die  gedachte 


Muskulatur  beeinflussen,  zumal  wenn  sie  straff  ge- 
spannt ist  (etwa  wie  die  Saiten  einer  Harfe  vom 
leisesten  Windzug  zum  Tönen  gebracht  werden) 
und  noch  mehr,  wenn  sie  einem  Menschen  gehört, 
der  seinen  Weg  nicht  geht,  sondern,  wenn  auch 
unbewußt,  beeinflußt  von  seinem  Sachverständnis, 
ihn  sucht,  selbst  nur  dahin,  wo  umgestürzte 
Bäume  eine  Erzader  oder  eine  Talmulde  Wasser 
vermuten  lassen. 

Auch  Agricola  verschloß  sich  solchen  Er- 
wägungen nicht.  Ihm  ist  die  Rute  „mit  der  schon 
im  Altertum  Zauberei  getrieben"  wurde,  zuwider. 
,.Ein  Bergmann",  sagt  er,  „dieweil  er  ein  frommer 
ernstlicher  Mann  sein  soll,  gebraucht  der  Zauber- 
ruten in  keinem  Wege,  denn  er  ist  der  natürlichen 
Dinge  erfahren  und  weiß,  daß  ihm  die  Wünschel- 
ruten,  wie  eine  Gabel  geformiert,  kein^  Nutz 
seien." 

Er  belehrte,  aber  er  beseitigte  den  Aberglauben 
nicht.  Mächtig  flammte  er  auf,  als  1692  die 
Wundertat  eines  Franzosen  Aimar  von  sich  reden 
machte.  In  der  Dauphine  als  Rutengänger  be- 
kannt, wurde  er  herbeigeholt,  als  eine  Mordtat  in 
Paris  den  Bemühungen  der  Behörden  spottete  und 
nicht  aufgeklärt  werden  konnte.  Der  Mann  mit 
seiner  Wunderrute,  die  ihm  alles  verborgene  offen- 
barte, wurde  herbeigeholt,  und  sie  führte  ihn  über 
die  Rhone  hinweg  nach  Beaucair  bis  vor  den  Mörder, 
der  zitternd  seine  Untat  eingestand.  Daß  die  Rute 
eine  ganz  gemeine  Holzrute  war,  ein  Werkzeug 
in  der  Hand  eines  Mannes,  der  auch  vor  Betrug 
nicht  zurückbebte,  bewies  wenig  später  der  Prinz 
von  C  o  n  d  e ,  der  Aimar  d  bei  seinen  Versuchen 
streng  beobachtete  und  ihn,  vielleicht  eine  Art 
von  „Gedankenleser",  als  Schwindler  entlarvte. 

Kurze  Zeit  später  rechnete  Joh.  Gott  fr. 
Zeidler,  ein  geistreicher  Theologe,  gründlich 
mit  der  Rute  ab,  so  gründlich,  daß  ein  halbes 
Jahrhundert  später  ein  Braunschweiger  Arzt  Joh. 
Nicol.  Marti  US,  trotzdem  er  selbst  so  wunder- 
gläubig war,  daß  er  einen  Bratspieß,  weil  er  aus 
Haselnußholz  angefertigt  war,  für  imstande  hielt, 
sich  von  selbst  zu  drehen,  in  seinem  Lehrbuch  der 
Magie  naturalis  bekennt,  „daß  der  Alten  aber- 
gläubisch Geschwätz  zur  Würckung  besagter  Ruthe 
nichts  beitrage,  sondern  die  Ursachen  des  Effects 
aus  einem  anderen  Grund  hervorgesucht  sein 
müßten". 

Trotzdem  spornte  die  Wunderrute  wieder 
fünfzig  Jahre  später  ernsthafte,  zumeist  Münchener 
Gelehrte  zu  neuen  Untersuchungen  an.  Der  Mag- 
netismus genügte  zu  ihrer  Deutung  nicht,  Galvanis 
staunenerregende  Entdeckung  wurde  herangezogen, 
ein  verbesserter  „bipolarer  Zylinder",  ein  „siderisches 
Pendel"  konstruiert,  das  sicherer  arbeiten  sollte  als 
die  alte  Rute  —  die  moderne  Forschung  bestätigte 
aber  lediglich,  was  Agricola  vor  drei  Jahr- 
hunderten gelehrt  hatte,  was  ich  klarzulegen  mich 
bemühte:  daß  der  Rute  Leistungen  trügerische, 
nicht  ihr  zukommende,  sondern  Folgen  „ideo- 
motorischer  Bewegungen"  des  Trägers  sind,  daß 
sie    erst    in    der  Hand    ihres  Trägers,    unter    dem 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Einfluß  seines  gelegentlich  Wunder  wirkenden 
Geistes,  von  ihm  instruiert,  zu  der  Gerätschaft 
einer  Wunder- Wunschrute  wird,  gleich  wie  das  In- 
strument, die  Gerätschaft  erst  in  den  Händen  des 
Kundigen,  dessen,  der  „kennt",  das  Erwünschte  ge- 
raten läßt.  Die  Rute  gleicht  dem  Modellierstab,  den 
der  Banausos  nur  dürrem  Holz  gleich  achtet,  und 
das  doch,  von  der  „könnenden"  Hand  des  gott- 
begnadeten Künstlers  geführt,  aus  formlosem  Ton 
Wunderwerke  hervorzaubert.  Sie  gleicht  der 
Geige  aus  ebenso  dürrem,  an  sich  wertlosem  Holz, 
denen  Meister  der  Töne,  Künstler,  gar  wunder- 
same Melodien  entlocken,  die  ihrem  Sehnen  und 
Fühlen  Ausdruck  geben  und  alle  Wünsche,  alles 
Sorgen  und  Kümmern  der  Zuhörer  zum  Schweigen 
bringen,  erfüllen. 


Was  immer  wieder,  auch  jetzt  wieder  die 
Wünschelrute  in  aller  Welt  Neues  brachte,  das 
waren  Begleitumstände,  die  sie  selbst  nicht  an- 
gehen. Auch  ohne  die  nüchterne  Aufzählung 
von  zum  Teil  lächerlichen  Fehlgängen  '■)  und  andere 
aufklärende  Mitteilungen  über  die  Rute  wird  sie 
wieder  zur  Ruhe  kommen,  der  Glaube  an  sie 
oder  ihresgleichen  wird  aber  erst  schwinden, 
wenn  des  Kindes  Phantasie  sich  nicht  mehr  an 
dem  Märchen  von  der  Springwurz,  von  Wunsch  er- 
füllenden Heinzelmännchen  u.  dgl.  ergötzt,  und 
wenn  der  Mensch  nicht  mehr  hofft  und  wünscht  — 
niemals! 


')  Vor  kurzem   (N.  W.  Bd.  31,  S.   161   u.  S.  672)    wurc 
über  besonders  augenfälliges  Versagen  der  Ruten  berichtet. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Der  bedeutsamen  Frage,  bis  zu  welchem 
Grade  die  Reinheit  die  Technik  die  wichtigeren 
Metalle  herzustellen  vermag,  hat  die  Physikalisch- 
technische Reichsanstalt  in  den  letzten  Jahren 
ihre  besondere  Aufmerksamkeit  zugewendet,  und 
es  soll  nun  im  folgenden  im  Anschluß  an  die 
bisher  erfolgten  Veröffentlichungen  (F.  Mylius, 
Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.  Bd.  T4  [1912],  S.  407— 427; 
F.  Mylius  und  E.  Groschuff,  ebenda  Bd.  96 
[1916],  S.  237 — 264)')  ein  kurzer  Bericht  über  die 
bis  jetzt  erhaltenen  Resultate  gegeben  werden. 

Die  Aufgabe,  die  sich  die  Reichsanstalt  ge- 
stellt hat,  zerfällt  in  zwei  ganz  verschiedenartige 
Teile,  nämlich  einerseits  in  den  analytischen, 
andererseits  in  den  präparativen  Teil;  in  jenem 
werden  die  in  den  Metallen  vorhandenen  Fremd- 
stoffe festgestellt,  in  diesem  werden  der  Technik 
nach  Möglichkeit  Hinweise  gegeben,  auf  welchem 
Wege  die  Reinigung  der  zunächst  ja  im  weniger 
reinen  Zustande  gewonnenen  Metalle  durchgeführt 
werden  kann. 

Der  analytische  Teil  der  Aufgabe  hat  nicht 
unerhebliche  Schwierigkeiten,  denn  die  üblichen 
Methoden  der  analytischen  Chemie  sind  auf  das 
spezielle  Problem  der  Ermittlung  und  Bestimmung 
von  sehr  geringen  Mengen  oder  gar  Spuren  in 
Anwesenheit  großer  oder  übergroßer  Mengen  eines 
Hauptstoffes  nicht  zugeschnitten.  So  ist  es  z.  B., 
wenn  es  sich  etwa  um  die  Analyse  von  „reinem" 
Zink  handelt,  vollkommen  ausgeschlos'^en ,  den 
Zinkgehalt  der  Probe  unmittelbar  zu  bestimmen, 
weil  die  Genauigkeit  der  Bestimmung  selbst  bei 
sorgfältigstem  Arbeiten  kaum  0,1  •*/„  erreichen 
würde.  Der  allein  zulässige  Weg  ist  vielmehr 
der  der  indirekten  Analyse,  d.  h.  es  werden  sämt- 
liche, in  dem  Metall  enthaltene  Fremdstoffe  nach 


')  Vgl.  auch  den  Bericht  über  die  Tätigkeit  der  Physi- 
kalisch-technischen Reichsanstalt  im  Jahre  1915,  Zeitschr.  f. 
Instrumentenk.  36  [1916],  S.   154—157. 


Art  und  Menge  genau  bestimmt,  und  dann  wird, 
nachdem  ihr  prozentischer  Gesamtbetrag  —  z.  B. 
0,484  "/d  von  100  abgezogen  ist,  der  Rest  99,516% 
als  der  Reingehalt  der  Probe  angeschen.  Dieser 
Weg  ist  allerdings  sehr  umständlich,  aber  er  allein 
gibt,  wie  die  folgende  Überlegung  zeigt,  genaue 
Resultate.  Die  Genauigkeit  einer  analytischen 
Untersuchung  ist  innerhalb  gewisser  Grenzen  von 
der  absoluten  Menge  des  zu  bestimmenden  Stoffes 
mehr  oder  minder  unabhängig.  Demnach  ist, 
wenn  wir  als  mittlere  Genauigkeit  der  Bestim- 
mung der  einzelnen  zu  bestimmenden  Stoffe  im 
Durchschnitt  i"/,,  annehmen,  und  im  ganzen  Ver- 
unreinigungen im  Gesamtbetrage  von  0,484 "/,,  zu 
bestimmen  sind,  der  bei  deren  Bestimmung  unter- 
laufende Fehler  im  ungünstigsten  Falle,  d.  h.  wenn 
sich  alle  Einzelfehler  addieren,  i  "/o  ^on  o,484'',|,, 
d.  h.  0,005 '*/,).  Der  Reingehalt  des  Zinks  ist  also 
auf  diesem  indirekten  Wege  zu  gg.sie^/g  mit  einem 
Fehler  von  nur  0,005%  festgestellt,  während  bei 
der  direkten  Bestimmung,  trotzdem  hier  die  pro- 
zentische Genauigkeit  der  Analyse  unter  Annahme 
ihrer  ganz  besonders  sorgfältigen  Durchführung 
zehnmal  größer  vorausgesetzt  worden  ist,  der 
Wert  99,5  mit  einem  P"ehler  von  0,1%,  also  mit 
einer  zwanzigmal  geringeren  Genauigkeit  erhalten 
worden  ist. 

Nun  bietet  allerdings,  wie  bereits  angedeutet 
und  bei  der  Annahme  über  die  Größe  der  wahr- 
scheinlichen Fehler  bereits  berücksichtigt  worden 
ist,  die  Bestimmung  kleiner  Mengen  von  Fremd- 
stoffen neben  einer  großen  Menge  eines  Haupt- 
stoffes besondere  Schwierigkehen.  In  der  Tat 
verlangt  die  genaue  Durchlührung  der  indirekten 
Analyse,  daß  man  zunächst  den  Hauptbestandteil 
in  geeigneter  Form  mehr  oder  minder  vollständig 
aus  der  Gesamtmasse  entfernt  und  für  die  eigent- 
liche Analyse  die  von  dem  Bällast  befreite  Rest- 
masse benutzt.  Der  Erfolg  der  Arbeit  hängt  hier 
—    das    erscheint    ja    selbstverständlich    —    sehr 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


wesentlich  von  der  Form  ab,  in  der  die  Haiipt- 
menge  des  Hauptbestandteiles  entfernt  wird,  denn 
es  muß  natürlich  peinlichst  vermieden  werden, 
daß  mit  dem  Hauptbestandteil  etwa  auch  Teile 
der  zu  bestimmenden  Fremdstoffe  —  etwa  durch 
„Mitreißen",  durch  „Adsorption",  durch  „Misch- 
krystallbildung"  usw.  —  entfernt  werden.  Man 
wird  also  vor  allen  Dingen  vermeiden  müssen, 
den  Hauptbestandteil  in  Form  eines  mehr  oder 
minder  amorphen  Niederschlages,  das  Zink  also 
z.  B.  als  Schwefelzink,  abzuscheiden,  man  wird 
vielmehr  die  Abscheidung  des  Zinks  nach  der 
Auflö-iung  des  Metalls  in  Form  einer  gut  kristalli- 
sierenden Verbindung,  etwa  aus  salpetersaurer 
Lösung  als  Zinknitrat  Zn(N03)., -öHoO,  vornehmen. 
Indessen  ist  dies  Verfahren,  obwohl  durchführbar, 
darum  nicht  besonders  zweckmäßig,  weil  das  Zink- 
nitrat mit  Kupfernitrat,  Nickelnitrat  usw.  Misch- 
kristalle bildet,  deren  Entstehung  begreiflicher- 
weise dazu  führen  kann,  daß  ein  Teil  des  in  der 
Lösung  vorhandenen  Kupfers  und  Nickels  mit  dem 
Zink  entfernt  wird  und  sich  so  der  Bestimmung 
entzieht,  und  Mylius  zieht  daher  jetzt  nach 
Durchführung  sehr  sorgfältiger  Einzelstudien  die 
Ab«cheidung  des  Zinks  als  Zinkammonium- 
sulfat vor. 

Die  Bestimmung  der  in  einem  Metall  ent- 
haltenen Fremdbestandteile  setzt  also,  wie  schon 
aus  diesen  kurzen  Andeutungen  hervorgeht,  in 
jedem  Falle  ein  besonderes  Studium  voraus;  der 
allgemeine  und  in  Wirklichkeit  keineswegs  über- 
treibende Satz,  daß  jede  genaue  chemische  Ana- 
lyse eine  wissenschaftliche  Arbeit  für  sich  ist, 
gilt  in  erhöhtem  Maße  für  die  schwierige  Auf- 
gabe der  genauen  Bestimmung  des  wahren  Rein- 
gehaltes eines  „reinen"  Metalles. 

Um  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen 
kurz  darstellen  und  eine  leichte  Charakterisierung 
der  Handelsmetalle  nach  ihrem  Reinheitsgrade 
durchführen  zu  können,  hat  Mylius  den  Begriff 
der  „Reinigungsstufe"  eingeführt.  Er  sieht  hierbei 
von  der  Natur  der  in  einem  Metall  vorhandenen 
Verunreinigungen  ganz  ab,  berücksichtigt  also 
insbesondere  nicht,  ob  die  eine  Verunreinigung 
für  die  praktische  Verwendung  des  Metalles  schäd- 
licher als  die  andere  ist,  sondern  bemißt,  indem 
er  in  rein  chemisch-analytischer  Betrachtungsweise 
als  Grundlage  für  die  P^eststellung  der  Reinigungs- 
stufe nur  die  Summe  sämtlicher  überhaupt  vor- 
handener Fremdstoffc  benutzt,  die  Reinigungs- 
stufe als  in  den  Potenzen  von  lo  ausgedrücktes 
Gewichisverhältnis  des  „reinen"  Metalls  zur  Summe 
der  Verunreitugungen.  So  entspricht  weniger  als 
I  Teil  Verunreinigungen  in  lo  Teilen  des  Metalls 
der  Reinigungsstufe  I,  weniger  als  i  Teil  in  lO^  ^ 
lOO  Teilen  der  Reinigungsstufe  II  usw.  Ein  Metall 
von  der  Reinigungsstufe  IV  ist  demnach  ein  Metall, 
dessen  Verunreinigungen  insgesamt  weniger  als 
I  :  lo'  =  I  :  loooo^  =  o,oi%  betragen.  Ein  Metall, 
das  in  lo  Gewichtsteilen  mehr  als  i  Gewichts- 
teil, d.  h.  mehr  als  io'7o  Fremdstoffe  enthält,  hat 
die  Reinigungsstufe  O,  es  ist  „unrein". 


Eine  Übersicht  über  die  reinsten  Metalle  des 
Handels  nach  Analysen,  die  in  der  physikalisch- 
technischen Reichsanstalt  von  Mylius  und  im 
geophysikalischen  Institut  in  Washington  von 
Allen  ausgeführt  sind,   gibt  die  folgende  Tabelle: 


Bezeichnung  des  Mctalles 

Ana- 
lysiert 

Summe 

der 

Kremdstoffe 

Reini- 
gungs- 
stufe 

Reinstes  Gold 

Allen 

nicht 
bestimmbar 

Vl(f) 

Reinstes  Blei  „Kahlbaura" 

Mylius 

0,002 

IV 

Reinstes  Silber 

Allen 

0,003 

IV 

Reinstes  Zinn  „Kahlbaum" 

Mylius 

0,004 

IV 

Reinstes  Cadmium  „Kahlbaum" 

Mylius 

0,006 

IV 

Reinstes  Kupfer 

-Mlen 

0,008 

IV 

Reinstes  Zink  „Kahlbaum" 

Mylius 

0,009 

IV 

Reinstes  Wismuth 

Mylius 

<0,OI 

IV') 

Palladium  von  Heracus 

Allen 

0,025 

111 

Reinstes  Kobalt  „Kahlbaum" 

Allee 

0,04g 

111 

Antimon  „Kahlbaum" 

Mylius 

o,oS 

111 

Die  Tabelle  lehrt,  daß  die  Technik  in  der  Tat 
imstande  ist,  Metalle  von  einem  sehr  hohen  Rein- 
heitsgrade herzustellen,  einem  Reinheitsgrade,  der 
allen  Anforderungen  der  Wissenschaft  und  der 
Technik  entspricht.  Die  physikalisch  -  technische 
Reichsanstalt  hat  daher  zunächst  mit  der  be- 
kannten Firma  C.  A.  F.  Kahlbaum  in  Berlin-Adlers- 
hof einen  Vertrag  abgeschlossen,  nach  dem  die 
Firma  unter  Aufsicht  und  Bürgschaft  der  Reichs- 
anstalt „normierte  Metalle"  mit  einer  maximalen 
Gesamtverunreinigung  von  0,0 1"/,,  in  den  Handel 
bringt.  Der  Anfang  ist  bereits  gemacht,  und  zwar 
mit  dem  „normierten  Zink".  Diese  „normierten 
Metalle"  sollen  vor  allen  Dingen  für  wissenschaft- 
liche Zwecke  dienen,  weil  viele  wichtige  Eigen- 
schaften der  Stoffe,  so  die  Speklralreaktionen,  die 
Lumineszenzerscheinungen,  das  elektrische  Leit- 
vermögen bei  sehr  tiefen  Temperaturen,  die  elek- 
trischen Potentiale,  die  katalytischen  Wirkungen  usw. 
von  kleinen  Mengen  von  Fremdstoffen  in  starkem 
Maße  beeinflußt  werden. 

Als  Beispiel  für  den  zweiten  Teil  der  Aufgabe,  die 
die  Reichsanstalt  sich  gestellt  hat,  seien  die  plan- 
mäßige Untersuchung  von  Mylius  und  G rö- 
sch uff  über  die  Reinigung  des  Wismuths  an- 
geführt. Während  bisher  vielfach  die  Meinung 
vertreten  war,  daß  das  elektrolytisch  hergestellte 
Wismuth  das  reinste  sei,  ist  jetzt  von  den  beiden 
genannten  Autoren  der  Nachweis  erbracht  worden, 
daß  die  Reinigung  des  Wismuths  am  rationellsten 
durch  Kristallisation  entweder  des  normalen  Nitrats 
Bi(N03).j  ■  5H.,0  aus  wässerig-salpetersaurer  Lösung 


')  Zu  Metallen  der  IV.  Reinigungsstufe  gehören  außer  den 
genannten  noch  Platin  und  Quecksilber. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


oder  des  Metalles  selbst  aus  dem  Schmelzflusse 
bewirkt  werde.  Hier  hat  die  Präzisionsanalyse  mit 
der  präparativen  Chemie  in  erfolgreicher  Weise 
zusammengewirkt.  Mg. 

Interessante  Versuche  über  die  Abhängigkeit 
der  Reaktionsgeschwindigkeit  von  der  Korngröße 
der  Materialil;n^hat  J.  Arvid  H edvall  in  Er- 
gänzung seiner  früheren ,  auch  an  dieser  Stelle 
(Naturw.  Wochenschr.,  N.  F.  Bd.  13  [1914].  S.  713, 
Bd.  14  [1915],  S.  726)  besprochenen  Arbeiten  über 
Rinmans  Grün,  Thenards  Blau,  Kobaltmagnesium- 
rot und  Kobaltzinngrün  in  der  Zeitschr.  f.  anorg. 
u.  allgem.  Chem.  Bd.  9B  [1916],  S.  64—74  ver- 
öffentlicht. 

Gerade  so  wie  sich  bei  einer  Schmelzung  der 
Schmelzprozeß  und  bei  einer  Kristallisation  der 
Kristallisationsprozeß  durch  Aufnahme  oder  Ent- 
wicklung von  Wärme  und  damit  durch  eine  Störung 
der  unter  dem  Einfluß  einer  stetig  wirkenden  Heiz- 
oder Abkühlungsquelle  erfolgenden  Temperaturzu- 
oder  -abnähme  desSystems  zu  erkennen  gibt,  müssen 
auch  alle  anderen,  mit  positiver  oder  negativer 
Wärmetönung  verbundenen  Vorgänge,  sofern  sie 
rasch  genug  verlaufen,  eine  Unregelmäßigkeit 
in  der  Kurve  hervorrufen,  die  die  gleichmäßig  er- 
folgende Ab-  oder  Zunahme  der  Temperatur  als 
Funktion  der  Zeit  darstellen.  Voraussetzung  da- 
für ist  nur,  daß  die  Wärmetönung  der  fraglichen 
Reaktion  nicht  zu  gering  ist  und  die  Reaktion 
selbst  rasch  verläuft,  da  sich  die  Erscheinung 
sonst  der  Beobachtung  entzieht. 

Eine  Reaktion,  für  die  diese  Voraussetzung  zu- 
trifft, ist  die  reversibele  Dissoziation  des  Kobalt- 
oxyduloxyds : 

2C03O,  7— >-  ecoo  +  o,. 

Bringt  man  z.  B.  ein  Co^Oj -Präparat  in  einen 
Raum,  dessen  Temperatur  bei  1150"  liegt  und 
erhalten  wird,  und  mißt  von  30  zu  30  Sekunden 
seine  Temperatur,  so  findet  man,  daß  die  zu- 
nächst regelmäßige  Zunahme  der  Temperatur  bei 
etwa  938"  C  eine  deutliche  Minderung  erfährt, 
weil  bei  etwa  938^'  die  mit  Absorption  von  Wärme 
verlaufende  Dissoziation  des  Oxyds  eintritt  und 
damit  ein  Teil  der  dem  Präparat  zuströmenden 
Wärme  anstatt  zur  Erhöhung  seiner  Temperatur 
zu  seiner  Zersetzung  verwendet  wird. 

Wenn  die  Dissoziation  des  Kobaltoxyduloxyds 
momentan  verliefe,  so  wäre  938°  die  genaue  „Zer- 
setzungstemperatur", d.  h.  die  Temperatur,  bei  der 
der  mit  wachsender  Temperatur  wachsende 
Dissoziationsdruck  gerade  eben  den  in  der  Um- 
gebung des  Präparats  herrschenden  Sauerstoff- 
druck "überschreitet.  Tatsächlich  aber  verläuft  sie 
nicht  momentan,  und  darum  macht  sich  die  Zer- 
setzung in  der  Kurve  „Temperatur-Zeit"  erst  be- 
merkbar, nachdem  die  eigentliche  Zersetzungs- 
temperatur überschritten  ist,  d.  h.  die  wahre  Zer- 
setzungstemperatur liegt  nicht  bei  938",  sondern 
tiefer, 


Bemerkenswert  ist  es  nun,  daß  die  auf  diesem 
Wege  gefundene  scheinbare  Zersetzungstemperatur 
um  so  höher  liegt,  je  kompakter  das  für  den 
Versuch  benutzte  Oxyduloxyd  ist.  So  ist  z.  B. 
das  durch  Glühen  bei  450"  aus  Kobaltnitrat  her- 
gestellte C03O4  viel  kompakter  als  das  bei  der- 
selben Temperatur  aus  Kobaltkarbonat  erhaltene 
Präparat,  und  dementsprechend  erfolgt  seine  Zer- 
setzung bei  952",  während  die  des  zweiten,  weniger 
kompakten  Präparats  schon   bei  922"  erfolgt. 

Ganz  analog  findet  man ,  daß  die  spontane 
Oxydation  des  Kobaltoxyduls 

6C0O  +  O.J  =  2CogO, 
bei  um  so  höherer  Temperatur  eintritt,  je  länger 
das  CoO-Präparat  vor  der  Oxydation  in  einer 
Stickstoffatmosphäre  geglüht  ist,  d.  h.  es  gilt  der 
Satz,  daß,  je  stärker  die  Sinterung  oder  Feuer- 
schwindung  des  Präparates  ist,  desto  geringer  seine 
Dissoziations-  oder  Oxydationsgeschwindigkeit  ist. 

Bestätigt  werden  diese  Resultate  durch  die 
Ergebnisse  von  Versuchen  zur  Herstellung  von 
Thenard's  Blau,  Kobaltzinngrün  und  Rinman's 
Grün.  Die  Reaktionsgemische,  z.  B.  das  Gemisch 
CoO -[- A1„0.;,  treten  zur  Bildung  des  farbigen 
Komplexes,  im  vorliegenden  Falle  also  des  blauen 
CoO-AljOg,  nur  bei  einer  um  so  höheren  Tem- 
peratur zusammen,  je  kompakter  die  Oxyde  sind, 
ein  Umstand,  der  sich  z.  B.  auch  dadurch  be- 
merkbar macht,  daß  die  Reaktion  erst  bei  einer 
um  so  höheren  Temperatur  eintritt,  je  langsamer 
die  Erhitzung  ist. 

Die  hier  skizzierten  Tatsachen  dürften  auch 
lür  die  Technik  von  Interesse  sein.  Mg. 

„Platin  und  Leuchtgas",  ist  der  Titel  einer  inter- 
essanten  Untersuchung,  die  auf  Veranlassung  der 
bekannten  Firma  W.  C.  Heraeus  in  Hanau  in 
der  Physikalisqh-technischen  Reichsanstalt  von  F. 
Mylius  und  E.  Hüttner  ausgeführt  worden  ist 
(Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.,  Bd.  95,  257—283,   1916). 

Daß  die  gewöhnlichen  Leuchtgasflammen,  ins- 
besondere die  leuchtenden  Flammen  den  Gerät- 
schaften aus  Platin  Gefahr  bringen  können,  weiß 
ein  jeder,  der  in  einem  chemischen  Laboratorium 
mit  Platintiegeln  oder  Platinschalen  gearbeitet  hat. 
Die  vorher  spiegelglatte  Platinfläche  beschlägt  sich 
bei  unvorsichtigem  Arbeiten  mit  Ruß  und  erweist 
sich,  nachdem  der  Ruß  wieder  weggebrannt  ist,  als 
mehr  oder  weniger  aufgerauht.  Das  Metall  selbst  er- 
leidet hierbei  zunächst  keinen  oder  doch  nur  einen 
sehr  kleinen  Gewichtsverlust,  eine  Verflüchtigung 
des  Platins  findet  also  nicht  statt,  jedoch  führt 
öftere  Wiederholung  des  Vorganges  eine  zu- 
nehmende Korrosion  des  Metalles  und  schließlich 
seine  völlige  Zerstörung  durch  Zerreißen  und  Ab- 
bröckeln herbei. 

I.  Einfluß  des  Reinheitsgrades  des 
Platins  auf  die  Erscheinung.  —  Ver- 
gleichende Versuche,  bei  denen  die  in  ein  Rohr 
aus  schwer  schmelzbarem  Glase  eingeschlossenen 
Platinproben  der  Wirkung  eines  genau  definierten 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Stromes  von  Leuchtgas  bei  bestimmter  Temperatur 
(600" — 650"  C)  ausgesetzt  wurden,  ergaben,  daß 
auch  Bleche  aus  sehr  reinem  Platin,  dessen  Ver- 
unreinigungen (Gold,  Palladium,  Iridium,  Kupfer, 
Eisen  usw.j  insgesamt  nicht  mehr  als  0,01%  aus- 
machen, von  dem  Leuchtgase  angegriffen  wird, 
daß  aber  die  angreifende  Wirkung  mehr  und  mehr 
nachlaßt,  je  sorgfähiger  das  Platin  durch  Be- 
handlung mit  konzentrierter  Salzsäure  von  dem 
ihm  oberflächlich  von  dem  Walzprozeß  her  an- 
haltenden Eisen  befreit  wird,  ^j  Ganz  —  auch 
oberflächlich  —  reines  Platin  wird  nicht  an- 
gegriffen, der  Angriff  ist  also  von  dem  Reinheits- 
grade des  Platins  abhängig.  Von  besonders  un- 
günstigem Einfluß  ist  ein  Gehalt  des  Platin  an 
Palladium  und  vor  allen  Dingen  an  Rhodium, 
während  sich  Iridium  als  nur  wenig  aktiv  erweist, 
eine  Talsache,  die  für  die  richtige  Behandlung 
der  aus  Platin  und  eine  Platinrhodiumlegierung 
bestehenden  Thermoelemente  von  Wichtigkeit  ist. 

2.  Einfluß  der  Zusammensetzung  des 
Leuchtgases  aufdie  Erscheinung.  —  Von 
großer  Bedeutung  war  die  Frage,  ob  bestimmte 
Bestandteile  des  Leuchtgases  und  gegebenenfalls 
welche  die  Ursache  für  die  schädigenden  Wirkungen 
sind.  Planmäßige  Versuche  führten  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  bei  Kohlenoxyd  und  Benzol  keine,  bei 
reinem  Methan  eine  sehr  geringe,  bei  reinem  Ace- 
tylen  eine  sehr  erhebliche  Rußabscheidung  ein- 
tritt, daß  aber  Wasserstoff  nicht  nur  bei  Methan, 
sondern  auch  beim  Acetylen  die  Rußabscheidung 
verhindert.  Dementsprechend  gab  ein  synthetisch 
hergestelltes  Gas,  das  50  Vol.-''/o  Wasserstoff,  30 
Voi.^/o  Methan,  12  VoL-^/o  Kohlenoxyd  und  4 
Vol.-'7o  Acetylen  und  Benzoldämpfe  sowie  geringe 
Mengen  von  Luft  enthielt,  auf  an  sich  wirksamem 
Platin  keine  Veranlassung  zur  Abscheidung  von 
Ruß.  Die  Wirkung  des  Stcinkohlenleuchtgases  ist 
also  auf  einen  Nebenbestandteil  zurückzuführen, 
und  dieser  Nebenbestandteil  ist,  wie  mit  Sicherheit 
festgestellt  werden  konnte,  der  Schwefelkohlen- 
stoff CS2. 

Daß  Platin  bei  400  bis  450"  C  mit  reinem  oder 
durch  inerte  Gase  verdünntem  Schwefelkohlenstoff 
unter  Bildung  einer  schwarzen,  amorphen,  aber  ein- 
heitlichen Verbindung  von  der  Formel  Ptj-CSj  re- 
agiert, ist  schon  1895  von  Schützenberger 
nachgewiesen  worden  und  wird -von  Mylius  und 
Hüttner  bestätigt.  Durch  Wasserstoff  wird  die 
Verbindung  in  der  Hitze  unter  Entwicklung  von 
Schwetelwasserstoft'  und  Hinterlassung  eines  amor- 
phen, karbidähnlichen  Rückstandes  zersetzt,  der 
neben  vielem  Kohlenstoff  auch  etwas  Schwefel  ent- 
hält. So  wird  es  begreiflich,  daß  das  an  Platinblech 
wirkungslose  synthetische  Leuchtgas  durch  Hinzu- 
fügung von  auch  nur  wenig  Schwefelkohlenstoff 
(oder    der    in    reduzierender    Atmosphäre    ähnlich 

')  Das  aus  dem  Walzprozeß  stammende  Eisen  in  den 
äußeren  Schichten  der  Platingeräte  wird  bei  Heracus  in  Hanau 
entfernt,  bevor  die  Geräte  in  den  Handel  kommen,  eine  Maß- 
regel ,  die  die  Haltbarkeit  der  Platingeräte  wesentlich  be- 
günstigt hat. 


wie  Schwefelkohlenstoff  wirkenden  schwefeligen 
Säure  SOj)  die  Befähigung  zu  starker  Rußbildung 
erhält.  Darnach  erklärt  sich  also  die  Korrosion 
des  Platins  durch  eine  leuchtende  Leuchtgasflamme 
durch  die  intermediäre  Bildung  des  voluminösen 
Pt,  -CS.,,  dessen  Entstehung  von  einer  Auflockerung 
des  Metallgefüges  begleitet  ist,  und  dessen  Zer- 
setzung durch  den  im  Gase  enthaltenen  Wasserstoff. 

3.  Die  Einwirkung  von  Leuchtgas  auf 
Platin  bei  Anwesenheit  eines  Über- 
schuses  von  Luft.  —  Die  Versuche,  durch  die 
die  bisher  skizzierten  Ergebnisse  erhalten  worden 
sind,  entsprechen  insofern  nicht  der  alltäglichen 
Laboratoriumspraxis,  als  bei  der  benutzten  Ver- 
suchsanordnung —  Erhitzen  der  Platinproben  in 
einem  Strome  von  Leuchtgas  —  der  in  der  Praxis 
wesentliche  Luftzutritt  nicht  berücksichtigt  worden 
ist.  So  lange  allerdings  die  zu  dem  Gase  hin- 
zutretende Luft  zur  vollständigen  Verbrauchung 
aller  seiner  Bestandteile  und  damit  auch  des  Schwefel- 
kohlenstoffs nicht  ausreicht,  wird  dieser  seine  schäd- 
liche Wirkung  in  der  angegebenen  Weise  ausüben 
können,  bei  einem  Überschuß  von  Luft  aber  wird 
der  Schwefelkohlenstoff  verbrannt,  ehe  sein  nach- 
teiliger Einfluß  zur  Geltung  kommen  kann.  So 
gut  also  auch  die  entwickelte  Schwefelkohlen- 
stofftheorie die  schädliche  Wirkung  von  leuch- 
tenden Flammen  erklärt,  so  vertagt  sie  doch  bei 
der  Erklärung  der  —  allerdings  viel  schwächeren  — 
Wirkung,  die  die  nicht  nicht-leuchtenden 
Bunsenflammen  auf  das  Platin  haben.  In  diesem 
ist  das  schädliche  Agens  in  der  Tat  ein  anderes, 
es  ist  der  Sauerstoff. 

Schon  vor  einigen  Jahren  hat  Lothar  Wöhler 
gezeigt,  daß  die  gewöhnliche  Meinung,  Sauerstoff 
wirke  auf  kompaktes  Platin  nicht  ein,  irrig  ist, 
denn  bei  420"  bis  450"  wird  wie  die  anderen 
Platinmetalle  auch  das  reine  Platin  vom  Sauer- 
stoff oxydiert.  Dies  tritt  besonders  deutlich  bei 
dem  vonHolborn  und  seinen  Mitarbeitern  eben- 
falls in  der  Physikalisch-technischen  Reichsanstalt 
näher  untersuchten  elektrischem  Glühen  des  reinen 
Platins  hervor:  Beim  Glühen  des  Metalls  in  Sauer- 
stoff zeigte  sich  eine  von  Gewichtsverlust  be- 
gleitete Ätzung  der  Metallflächen  unter  Blpßlegung 
des  Kristallgefäßes,  während  die  Erscheinung  in 
Stickstofiatmo>phäre  ausblieb.  Damit  ist  Oxyd- 
bildung als  Ursache  für  den  Gewichtsverlust  nach- 
gewiesen, wobei  praktisch  unerheblich  ist,  ob  die 
Gewichtsabnahme  durch  Verflüchtigung  des  inter- 
mediär gebildeten  Oxyds  oder  durch  seine 
Zerstäubung  zu  erklären  ist.  Neu  hergestellte 
Platintiegel  erleiden  daher  auch  nach  dem  ersten 
Glühen,  bei  dem  sie  infolge  von  Verflüchtigung 
der  vorhandenen  Verunreinigungen,  insbesondere 
von  Osmium,  und  Ruthenium  zwei  Metallen,  die 
bekanntlich  flüchtige  Sauersioffverbindungen  bilden, 
an  Gewicht  stark  verlieren,  einen  dauernden  Ge- 
wichtsverlust, dessen  Größe  als  Maß  für  die 
voraussichtliche  Haltbarkeit  des  Platins  dienen 
kann.  Ein  Piatintiegel  von  16  bis  20  g  Gewicht 
darf  in    der  Stunde    bei    elektrischem  Glühen    bei 


46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


iioo"  C  höchstens  0,2  mg  an  Gewicht  verHeren; 
der  Gewichtsverlust  gewöhnlicher  technischer 
Platintiegel  beträgt  beim  Glühen  über  der  Bunsen- 
flamme  etwa   i   mg  in  der  Stunde.  Mg. 

Geologie.  Die  neun  Endmoränen  Nordwest- 
deutschlands. Die  Ablagerungen  der  baltischen 
Endmoräne  Norddeutschlands  lassen  sich  in  einen 
Weichsel  —  Oder  —  und  holsteinschen  Lobus 
gliedern.  Das  nordwestdeutsche  Gebiet  gehört 
den  Anteilen  der  beiden  letzteren  an.  Zwischen 
dem  Allertal  und  Rügen  verlaufen  mit  weitgehender 
Parallelität  9  Endmoränenzüge,  welche  E.  Geinitz 
(Centralbl.  f.  Mineralogie,  Geologie  und  Paläonto- 
logie 1916)  nach  benachbarten  Orten  tolgender- 
maßen    bezeichnet; 

1.  Südlicher  Zug  der  Lüneburger  Heide:  oberer 
DrawehnEschede-Soliau;  unentschieden  ist  noch, 
ob  die  Endmoränen  von  Burg — Fläming  oder  die 
linkselbischen  in  seine  Fortsetzung  gehören. 

2.  Perleberg  —  Wendisch-Warnow  —  Hitz- 
acker —  Ebstorf  —  Harburg  —  Blankenese,  im  SO 
Anschluß  an  die  Endmoränen  des  Fläming  oder 
der  Gegend  südlich  Berlin. 

3.  Die  mecklenburgische  südliche  Außenmoräne 
von  den  Ruhner  Bergen  über  Parchim  —  Ludwigs- 
lust —  Hagenow  —  Vellahn  —  Granzin  —  Lauen- 
burg —  Ahrensburg,  nach  O  zwischen  Wittstock 
und  Pritzwalk  mit  südlicher  Umbiegung  anf  die 
Gegend  von  Berlin  führend. 

4.  Die  meckl.  südl.  Hauptendmoräne;  Fürsten- 
berg • —  Schwerin  —  Molin,  nach  SO  an  den 
Granseer  Bogen  anschließend,  im  westl.  Teile  über 
Oldesloe  nach  dem  Plöner  See  verlaufend. 

5.  Die  meckl.  nördl.  Hauptendmoräne;  Feldberg 
—  Bäbelin  —  Kalkhorst  mit  Anschluß  an  den  ucker- 
märkischen  Zug,  der  nach  dem  Oderknie  bei 
Oderberg  führt. 

In  Holstein  ist  die  5.  wie  die  4.  Endmoräne 
in  mehrere  parallele  Einzelstaffeln  zerlegt,  die  be- 
sonders in  der  Kieler  Gegend  reichlich  ausgebildet 
sind.  Erklärt  wird  diese  Mannigialtigkeit  damit, 
daß  in  der  Gegend  der  Lübecker  Bucht  das  Eis 
eine  lange  Stillstandszeit  gehabt  hat  und  die 
vielen  Schwankungen  innerhalb  dieser  Zeit  diese 
zahlreichen  Moränenzüge  bilden  konnten.  In  den 
beiden  meckl.  Hauptendmoränen  vollzieht  sich  der 
Anschluß  von  Oder-  und  holsteinschem  Lobus. 
Scheitelpunkte  sind  Sonneiiberg  und  Wendisch- 
Warnow;  bei  der  i.  Endmoräne  am  oberen  Dra- 
wehn. 

6.  Die  meckl.  nördl.  Außenmoräne  erstreckt 
sich  von  den  Bröhmer  Bergen  über  Demmin  — 
Tessin  nach  Kühlung  und  steht  im  SO  mit 
Penkun  in  Verbindung,  nach  NW  mit  der  Gegend 
von  Gnoien. 

7.  Elbert's  „mittl.  Randmoräne",  von  Greifs- 
wald nach  Ribnitz  und  in  .Mecklenburg  über 
Jahnkendorf —Wulfshagen  nach  Rostock  verlaufend. 

8.  Elbert's  „nördl.  Randmoräne"  in  Pommern 
mit    dem    charakteristischen    Bogenteil    Velgast — 


Barth — Fischland.  Der  nach  N  aufsteigende  Bogen 
dürfte  der  Vereinigung  von  Oder-  und  holsteini- 
schem Lobus  entsprechen. 

9.  Ähnlich  verläuft  noch  auf  Moen  und  Rügen 
ein  Endmoränenzug. 

Diese  9  Endmoränenzüge  oder  Staffeln  ent- 
sprechen dem  staffeiförmigen  Rückzug  des  Inland- 
eises und  bilden  ziemlich  regelmäßig  hinter- 
einanderfolgende  Absätze  aus  der  ziemlich  ein- 
heitlichen Rückzugsperiode.  Die  Abstände  der 
einzelnen  Endmoränenzüge  schwanken  zwischen 
12   und  40  km  und  betragen 

zwischen    i   u.  2 40  km 

2  u.  3 20-35  km 

3  u.  4 17  km 

4  u.   5 30  km 

5  u.  6 40 — 21   km 

0  u.  7 12 — 15   km 

7  u.  8 13  — 19  km 

8  u.  9 30  km 

Die  Zeiten  zwischen  den  einzelnen  Endmoränen 
müssen  sehr  verschieden  lang  gewesen  sein,  z.  T. 
sehr  beträchtlich  lang.  Ein  grußer  Unterschied 
besteht  z.  B.  zwischen  der  5.  und  6.  Endmoräne; 
vor  5  noch  vorherrschend  Sand  und  starke  Wasser- 
wirkung nach  einer  ruhigeren  Zeit,  in  der  Becken- 
tone zur  Ablagerung  gelangten.  Zwischen  5  u.  6 
Vorherrschen  von  Grundmoräne,  Zungenbecken, 
Osreihen,  subglazialen  Wasserläufen.  Schnell  muß 
sich  infolge  raschen  Abschmelzens  des  Eises  der 
Rückzug  von  5  auf  6  und  die  folgenden  Staffeln 
vollzogen  haben. 

Zur  Zeit  der  älteren  Endmoränen  existierte 
das  untere  Elbtal  noch  nicht,  sondern  der  Urstrom 
entwässerte  durch  das  Allertal.  Der  Elbdurch- 
bruch  vollzog  sich  in  der  Zeit  der  4.  oder  5.  End- 
moräne. Das  untere  Elbtal  ist  somit  kein  dem 
E^isrand  folgendes  (marginales)  Tal,  sondern  ein 
Durchbruchstal. 

Das  Lauenburger  Torilager  hält  Geinitz  für 
postglazial,  während  es  bisher  einer  Interglazialzeit 
zugerechnet  wurde.  Damit  würde  sich  die  Existenz 
einer  gemäßigten  Flora  nahe  dem  Eisrande  er- 
geben. V.  Hohenstein. 

Paläontologie.  In  mehreren  ungarisch  und 
deutsch  geschriebenen  Mitteilungen ')  veröffentlicht 
K.  Lambrechi  seine  eingehenden  osteologischen 
Vergleiche  an  fossilen  Vogelresten  aus  dem 
ungarischen  Diluvium.  Darunter  sind  alt- 
diluviale („präglaziale")  Funde  vom  Nagyharsäny- 
Berge,  Beremend  und  anderen  Stellen,  ferner 
der    erste    fossile    Rest    des    Uhu    aus    der    Otto 

')  K.  Lambreclit,  Die  erste  ungarische  präglaziale 
Vogelfauna. 

— ,  Fossiler  Uhu  (Bubo  maximus  Flem.)  und  andere 
Vogelresle  aus  dem  ungarischen  Pleistozoon. 

— ,  Der  erste  fossile  Rest  des  Steppenhuhns  (Syrrhaptes 
paradoxus  fall.)  aus:  Aquila  Bd.  22  Kgl.  Ungar.  Ornithol. 
Zentrale,  Budapest   191 6. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


47 


Hermann-Höhle  im  Komitat  Borsod,  eine  größere 
Zahl  von  Alpenkrähen  aus  einer  Höhle  im  Tal 
der  kalten  Szamos  (Komitat  Kolozsvar)  und  vieles 
andere.  Bemerkenswert  in  zoogeographischer  und 
klimatischer  Beziehung  erscheint  auch  die  Fest- 
stellung des  Steppenhuhns  im  Postglazial  der  Um- 
gebung von  Budapest.  Sämtliche  Funde  sind  iso- 
lierte Knochen  oder  Knochenbruchstücke,  zu  deren 
Bestimmung  es  genauester  ornithologischer  Kennt- 
nisse bedarf.  Edw.  Hennig. 

Forstwirtschaft.  Bockkäferkalamität  in  Eichen- 
wäldern. Seit  einiger  Zeit  wurden  aus  verschie- 
denen Teilen  Deutschlands,  so  aus  der  bayerischen 
Rheinpfalz,  aus  Westfalen  und  aus  Mecklenburg 
Klagen  laut  über  schwere  Beschädigungen  in  Eichen- 
stämmen durch  Insekten.  Prof.  Dr.  K.  Escherich 
hatte  Mitte  Mai  dieses  Jahres  Gelegenheit  in 
einigen  Forstämtern  der  bayerischen  Rheinpfalz 
die  Insektenschäden  an  den  Eichbäumen  zu 
studieren  (Zeitschr.  f.  angewandte  Entomologie, 
Bd.  III,  Heft  3).  Die  gefällten  Eichenstamme 
zeigten  neben  geringfügigen  Borkenkäferspuren 
(Einbohrlöcher  von  Xylcbonis  iiioitograpJnis  Fbr.) 
unter  der  Rinde  staiken  Bockkälcrtraß.  Die 
Bockkäfergänge  waren  meist  sehr  lang  und  führten 
tief  ins  Holz  hinein :  einige  der  aufgedeckten 
Puppenwiegen  enthielten  eben  in  der  Verwand- 
lung begriffene  Imagines  von  Clyliis  arciiatus  L. 
(Die  der-  Gattung  Clytus  eingeordneten  Arten 
gehören  zu  den  Cerambycidcn  und  werden  ob 
ihrer  überwiegend  recht  bunten  Färbung  auch 
„Zierböcke"  genannt.)  Neben  derartigen  noch 
nicht  völlig  ausgefärbten  Käfern  wurden  gleich- 
zeitig auch  frische  Puppen  und  Larven  ver- 
schiedenen Alters  gefunden,  während  ein  Besuch 
des  gleichen  Gebietes  im  September  ausschließlich 
Larven,  aber  keinerlei  Puppen  und  Imagines  mehr 
ergab.  Dadurch  wurde  die  Frage  nach  den 
Generationsverhältnissen  von  Clytus  arcuahis  an- 
geschnitten —  ob  der  Käfer  eine  i  jährige  oder 
2  jährige  Entwicklungsdauer  besitzt  —  deren 
Studium  jedoch  noch  zu  keinem  endgültigen  Ab- 
schlüsse zu  führen  war.  Für  die  Praxis  sind  die 
Beobachtungen  Prof.  Escherich's  wichtig,  daß 
der  Schädling  in  der  Hauptsache  nur  gefällte 
Stämme  angeht,  stehende  Bäume  werden  von  ihm 
nur  dann  befallen,  wenn  sie  schlechtwüchsig  sind 
oder  kränkeln.  67.  arciiafiis  ist  demnach  als 
„stark  sekundärer  bzw.  vornehmlich  technischer 
Eichenschädling  anzusprechen,  der  durch  seine 
tief,  mitunter  bis  in  den  Kern  dringenden  Larven- 
gänge das  Holz  stark  entwertet".  Als  Ursache 
für  die  im  letzten  Jahre  zu  beobachtende  Über- 
vermehrung des  Schädlings  ist  sicher  die  Erhöhung 
der  Brutgelegenheiten  zu  bezeichnen.  Sind  es  in 
Westfalen  und  Mecklenburg  vornehmlich  kränkelnde 
Eichenwälder,  welche  der  Massenvermehrung  des 
Clytus  Vorschub  leisten,  so  ist  in  der  Pfalz  haupt- 
sächlich der  durch  den  jetzt  im  Kriege  stark 
hervortretenden  Leutemangel  hervorgerufene  ver- 


spätete Abtransport  der  gefällten  Eichenstämine 
dafür  verantwortlich  zu  machen.  Diese  Erkenntnis 
gibt  uns  ohne  weiteres  die  Gegenmaßregeln  an 
die  Hand,  durch  welche  einer  weiteren  Überhand- 
nähme des  Schädlings  gesteuert  werden  könnte: 
„Entfernen  der  unterdrückten,  absterbenden  Eichen 
und  rechtzeitige  Abfuhr  (spätestens  bis  Ende  April) 
der  gefällten  Stämme."  Da  Cl.  arcitatus  sehr 
sonnenliebend  ist,  könnten  Stämme,  bei  denen 
ein  längeres  Lagern  nicht  zu  umgehen  ist,  viel- 
leicht auch  dadurch  geschützt  werden,  daß  sie  im 
Schalten  aufbewahrt  werden.  Durch  die  An- 
wendung verwitternder  Anstrichmittel  endlich 
müßte  versucht  werden,  die  Käfer  überhaupt  von 
der  Eiablage  abzuhalten.      H.  W.  Frickhinger. 


Düngung  und  Insektenbefall.  Interessante  Zu- 
sammenhänge zwischen  der  Art  der  Düngung  und 
dem  Grade  des  Insektenbefalles  legen  Beobachtungen 
klar,  welche  der  kgl.  Ö  k  o  n  o  m  i  e  r  a  t  H  o  f  f  m  a  n  n 
(Speyer)  anläßlich  einer  Raupe  nka  lamit  ät  im 
Germersheim  er  Versuchsfeld  im  Frühjahr 
1915  machen  konnte  (Prakt.  Blätter  f.  Pflanzenbau 
u.  Pflanzenschutz  191 5  Heft  56  und  Zeitschrift  f. 
angew.  Entomologie  1916  Bd.  3  Heft  2).  Die 
Obstbäume  des  Versuchsfeldes  waren  stark  mit 
Raupen  des  ¥ rosts^Anncrs  [C/ieiiiiatobta  bore- 
ata  Hb.),  des  Ringelspinners  {Malacosoma 
ncustria  L.),  der  Apfel  bau  mgesp  inst  motte 
{Hyponomeuta  malincllus  Zell)  und  der  ver- 
änderlichen Gespinstmotte  {Hyp.  variablis 
Zell.)  besetzt.  Dabei  zeigten  sich  merkbare  Unter- 
schiede in  dem  Grade  des  Insektenbefalles,  der  sich 
mit  der  Intensität  der  Bodenbearbeitung  und  der 
Düngungsmethode  steigerte,  so  zwar,  daß  der 
Verfasser  den  Satz  aufstellen  konnte:  „je  voll- 
ständiger die  Düngung,  desto  stärker 
der  In  Sekten  befall."  Unzweifelhaft  hat  hier 
der  günstige  Ernährungszustand  der  Bäume,  die 
Saftigkeit  und  Zartheit  der  Blätter  den  hohen 
Schädlingsstand  verursacht,  wie  ja  auch  bekanntlich 
Schild-  und  Blattläuse  sich  besonders  gerne  auf 
gutgedeihenden  Pflanzen  ansiedeln.  Über  die  Art, 
wie  dieser  starke  Insektenbefall  zustande  gekommen 
war,  ob  etwa  schon  die  eierlegenden  Weibchen, 
die  in  den  besten  Ernährungsverhältnissen  be- 
findliche Bäume  zur  Eiablage  auswählten,  oder 
ob  erst  die  jungen  Räupchen  instinktmäßig  die 
saftigsten  Blätter  aufsuchten,  darüber  konnte  der 
Verfasser  leider,  keine  Beobachtungen  sammeln.  — 
Andererseits  schienen  wieder  andere  Insekten,  wie 
der  Pflailmensplintkäfer  [Scolytus  pruni 
Rtzg.  und  Sc.  rugulosiis  Rtzg.)  und  der  un- 
gleiche Borkenkäfer  {Tümicus  dispar)  sich 
durch  die  Folgen  einer  guten  Düngungsmethode 
vom  Befall  der  Bäume  abhalten  zu  lassen. 
Wenigstens  wurden  bei  der  starken  Vermehrung 
dieser  Schädlinge,  welche  der  heiße  Somme  191 1 
in  der  Rheinpfalz  verschuldete,  Zwetschenbäume 
auf  einem  mit  „starker  Volldüngung"  behandelten 
Teilstück  des  Germersheimer   Versuchsfeldes   von 


4S 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i 


den  Käfern  in  keiner  Weise  angegangen,  während 
die  Bäume  auf  der  Nebenabteilung,  die  nicht  ge- 
düngt worden  war,  33  ",0  ihres  Bestandes  durch 
den  Borkenkäferbefall  einbüßten.  Auch  Prof  Dr. 
L.  Reh  (Hamburg)  hat,  angeregt  durch  die 
Ho  ffmann 'sehen  Beobachtungen,  seine  Er- 
fahrungen auf  diesem  Gebiet  niedergelegt  (Zeitschr. 
f.  angew.  Ent.  Bd.  3  1916  Heft  i).  Er  glaubt, 
daß  manche  Schädlinge  sich  sicherlich  durch  den 
durch  eine  gute  Düngung  verbesserten  Ernährungs- 
zustand der  Pflanzen  anlocken  lassen,  wie  ja  all- 
gemein die  Kulturpflanzen  dem  Insektenbefall  viel 
mehr  ausgesetzt  sind  als  die  unkultivierten  Ge- 
wächse und  unter  den  Kulturpflanzen  wiederum 
die  hochgezüchteten  eher  befallen  werden  als  die 
weniger  sorgsam  gezogenen  (Spalier-  und  Form- 
obst; die  in  Mistbeet-  und  Treibkästen  gezogenen 
Pflanzen).  Andere  Schädlinge  die  „langsam  wach- 
sende Pflanzen  oder  Pflanzenteile  vorziehen,  wie 
die  meisten  Borkenkäfer,  dürften  durch  kräftige 
Düngung  eher  zurückgehalten  werden".  Prof  Reh 
hat  in  den  Vierlanden  bei  Hamburg  häufig  die 
Erfahrung  machen  können,  daß  „gerade  Stalldünger 
oft  größeren  Insektenbefall  nach  sich  zieht.  Auch 
übermäßige  Düngung  mit  Salpeter  übt  ähnlichen 
Einfluß  aus.  Ebenso  mögen  gerade  saugende  In- 
sekten derartig  gewaltsam  getriebene  Pflanzen 
anderen  vorziehen.  Andererseits  wirken  Kalk-  und 
Phosphorsäure-Düngung  meist  recht  vorteilhaft  zur 
Verminderung  der  Schädlingsplage."  Die  Er- 
gebnisse der  beiden  Forscher  stimmen  in  ihren 
Hauptlinien,  wie  wir  gesehen  haben,  überein. 
Nun  wird  es  sich,  wie  Prof  Reh  schließt,  darum 
handeln,  in  Pflege  und  Düngung  „für  jede  Pflanze, 
für  jedes  Alter,  jeden  Standort  usw.  das  Optimum 
zu  suchen;  denn  bei  Pflege  und  Düngung  aller 
Bäume  und  der  anderen  Kulturpflanzen  rächt 
sich  jede  Unterlassung  ebenso,  wie  jede  Über- 
treibung." H.  W.  F'rickhinger. 


Meteorologie :  Zur  Vorhersage  des  Wetters 
dienen  bei  uns  im  allgemeinen  die  Wetterkarten  der 
Hamburger  Seewarte.  Für  die  Hauptkarte,  die 
auf  Grund  der  um  8  Uhr  vormittags  auf  allen 
Stationen  angestellten  Beobachtungen  angefertigt 
wird,  werden  als  Ergänzung  gewöhnlich  noch  je 
eine  Karle  der  Barometerveränderung  in  den  letzten 
3  bzw.  24  Stunden  gezeichnet,  um  so  aus  der  Ver- 
teilung der  Steige-  und  Fallgebiete  einen  Anhalt 
für  die  Bewegung  der  barometrischen  Maxima  und 


Minima  zu  gewinnen.  Als  ein  neues  Hilfsmittel 
für  die  Voraussage  empfiehlt  nun  A.  Defant 
(Meteorol.  Zeitschr.  1916,  S.  103)  die  Verwertung 
der  Divergenz  des  Windes  auf  den  synoptischen 
Wetterkarten.  Schon  Guilbert'j  hat  vor  einigen 
Jahren  die  Regel  aufgestellt:  Divergente  Winde 
bedingen  einen  Fall,  konvergente  einen  Anstieg 
des  Luftdruckes.  Da  die  Divergenz  jedoch 
nicht  genau  definiert  war,  konnte  die  Ver- 
wendbarkeit in  der  Praxis  nur  eine  geringe  sein. 
Auf  Grund  der  theoretischen  Arbeiten  von 
Bjerknes^)  ergibt  sich  nun  für  die  Bewegung 
des  Windes    an   der  Erdoberfläche    die  Gleichung 

,.  öv    ,        öß 

div  v=  X-  +v---; 

ÖS    '        ön' 

hierbei  ist  v  die  Windgeschwindigkeit,  s  die  Richtung 
der  Stromlinien  des  Windes,  n  der  Abstand  be- 
nachbarter Stromlinien  und  u  der  von  diesen  ge- 
bildete Winkel.  Dann  ist  div  v  der  Ausfluß  der 
strömenden  Luft  aus  der  Flächeneinheit  zwischen 
benachbarten  Stromlinien.  Er  ist  positiv,  wenn 
letztere  in  Richtung  der  Strömung  divergieren, 
negativ,  wenn  sie  konvergieren.  Verf.  zeichnete 
nun  für  eine  Reihe  von  Pagen  Divergenzkanen 
des  Windes.  Ein  Vergleich  mit  der  zugehörigen 
Karte  der  3  stündigen  Barometerveränderung  ergab 
eine  ziemlich  gute  Bestätigung  der  Guilbert- 
schen  Regel:  die  Fallgebiete  und  Gebiete  negativer 
Divergenz  fanden  sich  etwa  an  derselben  Stelle 
und  umgekehrt.  Wesentlich  wichtiger  ist  aber 
die  Beobachtung,  daß  einem  negativen  Divergenz- 
gebiet etwa  24  Stunden  später  ein  Steiggebiei  des 
Lultdrucks,  einem  positiven  Divergenzgebiet  da- 
gegen ein  Fallgebiet  entspricht.  Die  Orte  größter 
Divergenz  fallen  meist  mit  den  Stellen  der  größten 
Druckänderung  zusammen.  Das  neue  Verfahren 
ist  zwar  etwas  zeitraubender  als  die  Herstellung 
der  bisher  üblichen  Hilfskarten,  dürfte  aber,  falls 
es  sich  auch  für  eine  größere  Zahl  von  Wetter- 
karten, als  der  Verf  vorerst  bearbeitet  hat,  in  der 
gleichen  Weise  bewährt,  ein  wertvolles  Hilfsmittel 
für  die  Prognose  darstellen.  Eine  wenigstens 
teilweise  Erklärung  der  Erscheinung  ergibt 
sich   aus  dem  Kontinuitätsprinzip.     (GX.j 

Scholich. 


')  G.  Guilbert,  Nouvelle  Methode  de  Prevision  du 
Temp ;   Paris  1909. 

'')  Bjerknes,  Dynamic  Meteorologie  and  Hydrographie 
Washington. 


Inhalt  I  A.  Milewski,  Zur  Kenntnis  der  G( 
Hermann  Seh  elenz,  Die  Wünschein 
Grade  der  Reinheit  die  Technik  die  wi( 
hängigkeil    der    Reaklionsgeschwindigk( 


nera  Typhlonectes  Peters  der  Gymnophiona  (Amphibia  apoda).  I  .\bb.  S.  33. 
te.  I  Abb.  S.  39.  —  Einzelberichte:  F.  Mylius,  Frage,  bis  zu  welchem 
htigeren  Metalle  herzustellen  vermag.  S.  42.  J.  Ar  vi  d  H  e  d  v  a  1 1,  Die  Ab- 
von    der  Korngrüße    der  Materialien.    S.  44.     F.  Mylius  und  E.  Hüttner, 


„Platin  und  Leuchtgas" 
Osteologische  Vergleiche 
Hoff  mann,    Düngung 


4.  E.  Geinitz,  Die  neun  Endmoränen  .Nordwestdeutschlands.  S.  46.  K.  Lambrecht, 
fossilen  Vogclresten.  S.  46.  K.  Esc  her  ich,  Bockkäterkalamität  in  Eichenwäldern.  S.  47. 
Insektenbefall.    S.  47.     A.  Defant,  Vorhersage  des   Wetters.    S.  48. 


Manuskripte  und  Zuschriften 


deu  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  28.  Januar  1917. 


Nummer  4. 


Dr.  Absolon's  zoologische  Höhlenforschungen  auf  der  Balkanhalbinsel. 


[Nachdruck  verboten.]  Ein  Sammelreferat  vo 

„Der  bekannte  Höhlenforscher  A.  Kral  und 
ich  waren  an  dem  F'undgebiete  der  Spelaeolla 
gerade  in  voller  Arbeit,  als  der  VVclikrieg  aus- 
brach und  wir  konnten  nur  mit  knapper  IVlühe 
und  unter  Zurücklassung  eines  großen  Teiles  meines 
technischen  Höhlenuntersuchungsmateriales  noch 
rechtzeitig  Ragusa  und  den  Anschluß  an  den 
Rückweg  erreichen ;  da  der  Fundplatz  in  einer 
heißumstrittenen  Kriegszene  liegt,  ist  es  vorläufig 
unmöglich,  frisches  Material  von  Spelaeolla  zu 
erlangen." 

Aus  diesen  Worten  Dr.  Absolon's  (Coleopt. 
Rundschau  191 5)  geht  hervor,  daß  der  Wellkrieg 
auch  den  seit  Jahren  von  dem  genannten  Kustos 
am  Landesmuseum  in  Brunn  in  Mähren  ziel- 
bewußt durchgeführten  zoologischen  Forschungen 
in  den  Höhlen  der  Balkanhalbuisel  vorläufig  ein 
Ende  gesetzt  hat.  So  ist  vielleicht  gerade  jetzt 
ein  geeigneter  Zeitpunkt,  um  in  eintm  Resume 
einen  Teil  der  bemerkenswerten  Ergebnisse,  die 
Dr.  Absolon  gewonnen  hat,  zusammenzufassen, 
zumal  die  meisten  diesbezüglichen  Mitteilungen 
in  nur  von  Spezialisten  gelesenen  Fachschrilten 
und  z.  T.  im  ccchischer  Sprache  veröffentlicht 
worden  sind. 

Halten  wir  zunächst  einmal  Umschau,  um 
einen  Überblick  über  die  neuenldeckien  I-ormen 
zu  gewinnen,  so  müssen  wir  bei  der  überreichen 
Fülle  des  Materiales  uns  darauf  beschränken,  nur 
besonders  auffallende  Typen   namhaft  zu  machen. 

Nach  Lampert  wäre  für  die  dalmatinischen 
Höhlen  besonders  eine  spezifische  Käfer-  und 
Pseudoskorpionenfauna  kennzeichnend,  während  die 
mährische  Höhlenfauna  durch  Springschwänze  und 
Milben,  die  f^anzösi^che  durch  Crustaceen  aus- 
gezeichnet wäre.  An  dieser  fauni-,tischen  Gliede- 
rung der  europäischeil  Höhlensysteme  muß  wohl 
auf  Grund  der  neuer-ten  Ergebnisse  Absolon's 
eine  Korrektur  vorgenommen  werden,  denn  gerade 
die  bemerkenswertesten  Funde  aus  dem  albani- 
schen Karst  gehören  zu  den  Crustaceen.  Der 
bereits  191 3  gemeldeten  Entdeckung  eines  5  cm 
langen,  schneeweißen,  siachelbewehrien  blinden 
Höhlenamphipoden:  ,Stygodytes  balcani- 
cus'  folgte  rasch  nacheinander  die  Auffindung  des 
Antroplotes  herculeanus,  des  Genus 
Metohia,  welches  ebenso  wie  das  bereits  früher 
aus  Montenegro  gemeldete  Genus  Typhlogammarus 
zu  den  „Gammariden"  gehört,  während  die  beiden 
vorher  genannten  Gattungen  in  den  Verwandt- 
schafiskreis  von  Niphargus  zu  zählen  sind. 

Die  phylogenetische  Auswertung  dieser  Funde, 
die  geraJezu  an  die  Tiefenfauna  des  Baikal  erinnern, 
Steht    noch    aus.     Vermutlich   handelt  es  sich  um 


Dr.  V.  Brehm-Eger. 

Tertiär-Relikte,  für  deren  Lebenderhaltung  ja  die 
Balkanhalbinsel  von  größter  Bedeutung  ist.  Ähn- 
liches gilt  auch  von  zahlreichen  Käferformen,  wie 
Antrophilon  primitivum,  Antroherpon  Matulici, 
Blaitodromus  herculeanus,  Anophthalmus  Hilfi. 
Bieten  diese  Formen  durch  ihre  Morphologie  dem 
Deszendenzlheoretiker  wertvolle  Anhaltspunkte, 
so  geschieht  dies  seitens  anderer  Höhlenkäler  in 
mehr  biologischer  Hinsicht,  so  z.  B.,  wenn  die 
Silphidengattung  H  a  d  e  s  i  a  sich  derart  dem  Wasser- 
leben angepaßt  hat,  daß  dieser  paradoxe  Käfer 
von  Absolon  biologisch  mit  der  bekannten  Unter- 
wasserhymenoptere    Prestwichia    verglichen    wird. 

Weiter  haben  uns  Absolon's  Untersuchungen 
mit  zwei  sehr  interessanten  Höhlenfliegen  bekannt 
gemacht;  die  eine,  Gymnomus  troglodytes,  war  be- 
reits zweimal  vorher  gesehen  worden  und  hat  sich 
als  ein  sehr  angepaßtes  Höhlentier  entpuppt,  aber 
es  kam  nach  der  Auffindung  dieser  ersten  Fliege 
„ein  Dipteren  Monstrum  zum  Vorschein",  von  dem 
der  Entdecker  sagt,  daß  er  es  in  der  Höhle  beim 
Lampenlicht  für  eine  Spinne  hielt.  Es  ist  dies 
die  tiefschwarze  Speomyia  Absoloni,  die  sich  durch 
völliges  Fehlen  der  Ocellen,  durch  abenteuerliche 
Proboscisvergrößerung,  durch  nicht  zum  Fliegen 
taugliche  Flügel  usw.  als  typisches  Höhlentier  er- 
weist, während  ihre  Farbe  vom  Leben  im  Dunkeln 
unbeeinflußt  blieb. 

Daß  auch  die  Myriopoden  um  außerordentlich 
interessante  neue  Typen  wie  Polybothrus 
gloria  stygis  bereichert  wurden  sowie  die 
Apterygoten,  Dr.  Absolon's  spezielles  Arbeits- 
gebiet, sei  hier  nur  flüchtig  erwähnt.  Schließlich 
sei  noch  auf  die  Entdeckung  eines  zu  den  marinen 
Röhrenwürmern  gehörigen  Tieres  verwiesen,  einer 
Süßwasserserpuhde,  für  die  ihr  Entdecker  noch 
keinen  Namen  vorgeschlagen  hat. 

Bezüglich  der  zoologischen  Details  muß  natür- 
lich auf  die  Orginalabnandlungen  verwiesen  werden  ; 
eine  Reihe  in  diesen  Arbeiten  eingestreuter  Be- 
merkungen allgemeiner  Natur  mögen  aber  noch 
im  folgenden  zusammengestellt  werden. 

Bereits  181^6  hat  Hamann  anknüpfend  an  die 
Tatsache,  daß  viele  Höhlentiere,  die  nicht  erst  in 
jüngster  Zeit  Höhlenbewohner  geworden  sein 
können,  Sehorgane  besitzen  und  daß  andererseits 
viele  blinde  Höhlentiere  Verwandtschaftskreisen 
angehören,  welche  auch  in  ihren  oberirdischen 
Vertretern  vorwiegend  blinde  Formen  aufweisen, 
den  Gedanken  ausgesprochen,  „daß  die  Blindheit 
dieser  Tiere  gar  nicht  in  den  Hohlen  entstanden 
sei,  sondern  daß  diese  Arten  bereits  blind  in  die 
Höhlen  gerieten".  Er  stützt  sich  dabei  auf  Unter- 
suchungen des  amerikanischen  Biologen  Gar  man, 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  4 


der  die  Ansicht  verficht,  daß  die  jetzt  in  Höhlen 
lebenden  Tiere  Kentuckys  bereits  längst,  ehe  es 
Höhlen  gab,  zum  Leben  unter  der  Krde  fähig 
und  geeignet  waren;  und  im  Zusammenhang  mit 
dieser  Anschauung  glaubt  Gar  man  behaupten 
zu  dürfen,  daß  die  Rückbildung  und  der  Schwund 
der  Augen,  also  die  Entstehung  blinder  Arten, 
älteren  Datums  ist  als  die  Entstehung  der  in  Be- 
tracht kommenden  Höhlen.  Er  verweist  zur  Ver- 
tretung seiner  Ansicht  u.  a.  auf  die  Verbreitung 
des  bhnden  Krebses  Caecidotea  stygia,  der 
in  höhlenlosen  Gegenden  ebenso  lebt  wie  in 
Höhlen.  Diese  Streitfrage  ist  an  verschieden- 
artigem Material  seither  von  Grat  er,  Thiene- 
mann  und  nun  auch  von  Absolon  ventiliert 
worden,  die  Frage  nämlich,  ob  die  Blindheit  vieler 
Höhlentiere  eine  F'olge  des  Aufenthalts  in  der 
Höhle  sei  oder  ob  umgekehrt  eine  primär  ge- 
gebene Blindheit  das  betrefifende  Tier  zum  Höhlen- 
aufenthalt geeignet  machte.  Grat  er  weist  zu- 
nächst auf  den  geringen  Prozentsatz  der  blinden 
Kopepoden  hin,  von  denen  ja  auch  mehrere 
oberirdisch  lebende  augenlose  F'ormen  bekannt 
sind.  Dieser  Befund  spricht  sehr  zugunsten  der 
Gar  man 'sehen  These.  Dazu  kommt  die  weitere 
überraschende  Erscheinung,  daß  gerade  die  mit 
oberirdischen  Arten  nahe  verwandten  Spezies 
blind  sind,  während  die  isolierten  Typen ,  die 
offenbar  schon  länger  der  Höhlenfauna  angehören, 
Augen  besitzen.  Diese  den  alten  Anschauungen 
widersprechende  interessante  Tatsache  erklärt 
Grat  er  durch  die  plausible  Annahme,  daß  wir 
anpassungsfähige  und  konservative  Typen  unter- 
scheiden müssen.  Erstere  haben  sich,  auch  wenn 
sie  erst  in  jüngster  Zeit  in  die  Höhlen  einge- 
wandert sind,  eben  dank  ihrer  Anpassungsfähig- 
keit bereits  durch  Augenschwund  dem  Höhlen- 
leben akkommodierl,  während  die  stabilen  alten 
Formen  trotz  langen  Höhlenaufenthaltes  unver- 
ändert geblieben  sind,  also  auch  die  vermutlich 
überflüssigen  Augen  beibehalten  haben.  Um  nun 
das  Vorkommen  blinder  Kopepoden  außerhalb 
der  Höhlen  zu  erklären,  greitt  Grat  er  auf  eine 
Hypothese  Thienemann's  zurück,  die  durch 
Studien  an  einer  anderen  Tiergruppe  gewonnen 
wurde.  Die  Gattung  Niphargus,  ein  durch  F^arb- 
losigkeit  und  Augenmangel  ausgezeichnetes  Ge- 
schlecht der  Krebse  wird  nicht  selten  auch  in 
kalten  Gewässern  der  Erdoberfläche  angetroffen. 
Die  Vorliebe  für  kaltes  Wasser  und  der  durch 
Vejdovsky  geführte  Nachweis  einer  schrittweise 
eingetretenen  Augenreduktion  veranlaßten  die  Auf- 
stellung folgender  Hypothese  durch  Thiene- 
mann:  Die  ursprünglich  sehenden  Niphargiden 
wurden  durch  die  Eiszeit  in  die  temperierten  Ge- 
wässer der  Höhlen  verdrängt  und  verloren  durch 
den  langen  Aufenthalt  im  Dunkeln  die  Sehorgane. 
Bei  Wiedereintritt  milderen  Klimas  vermochten 
die  Niphargiden  zwar  die  Tagwässer  wieder  zu 
besiedeln,  aber  die  einmal  verlorenen  Augen 
konnten  nach  Dollo's  Gesetz  der  irreversibilite 
d'evolution  nicht  wieder  aktiviert  werden;   darum 


treften  wir  heute  blinde  Niphargiden  in  Tag- 
wäbsern.  So  bestechend  die  Thiene  man  n'sche 
Hypothese  im  Falle  Niphargus  auch  ist,  so  schwere 
Bedenken  stellen  sich  deren  Übertragung  auf 
die  Kopepoden  entgegen.  Denn  die  als  IVluster- 
beispiel  angeführten  Gattungen  Phyllognathopus 
und  Epactophanes  sind  nach  den  neuesten  Er- 
fahrungen, die  Chappuis  machte,  derart  eurytherm, 
daß  eine  Wohngcbietsverschiebung  durch  die  Eis- 
zeit kaum  diskutierbar  erscheint.  Hingegen  hat 
die  vom  selben  Autor  und  von  IVlenzel  ge- 
fundene Tatsache,  daß  diese  blinden  Formen  vor- 
zugsweise in  Moospolstern  wohnen,  ihr  Blindsein 
zu  einer  leicht  verständlichen  Erscheinung  ge- 
stempelt. Denn  auch  im  Innern  der  Moo>polsier 
herrscht  Dunkelheit.  Lichtmangel  ist  ein  den 
beiden  sonst  so  verschiedenen  Biocönosen  —  Moos- 
fauna —  und  Höhlenfauna  —  gemeinsamer  Faktor. 
So  konnte  Dr.  Menzel  anlaßlich  der  Wieder- 
entdeckung des  blinden,  in  Moospolstern  lebenden 
Canthocamptus  typhlops  sagen:  „Was  das  Licht 
betrifft,  können  in  derartigen  Moospolstern  gleiche 
oder  ähnliche  Bedingungen  herrschen  wie  in 
Höhlen." 

Für  die  Entstehungsgeschichte  der  Höhlen- 
fauna und  für  eine  richtige  Beurteilung  der  blinden 
Mitglieder  derselben  ist  der  Gedanke,  daß  viele 
Höhlenbewohner  ursprünglich  mikrokavernikole 
Organismen  sind  von  großer  Bedeutung.  An  um- 
fassendem amerikanischen  Fischmaterial  hat  Eigen- 
mann  und  auf  Grund  eingehender  CoUembolen- 
und  Slaphylinidenstudien  hat  Absolon  den  Satz 
ausgesprochen,  daß  „hier  wieder  der  Instinkt  die 
Umgebung  bestimmt  hat".  Zwei  Punkte  dürfen 
aber  bei  der  Annahme  dieses  Standpunktes  nicht 
außer  acht  gelassen  werden,  nämlich,  daß  i.  sich 
keineswegs  die  ganze  Höhlenfauna  diesem  Ge- 
sichtspunkt unterordnen  läßt  und  daß  2.  sich 
abermals  die  Frage  stellen  läßt :  Sind  diese  Mikro- 
kavernikolformen  subterran  geworden  infolge  ihrer 
Bauart  oder  sind  ihre  Baueigentümlichkeiten  eine 
Folge  des  Übergangs  zur  subterranen  Lebensweise. 

Zur  Aufklärung  dieser  Verhältnisse  sind  zu- 
nächst biologische  Untersuchungen  der  „Mikro- 
kavernikolen"  nötig.  Wir  müssen  deren  Treiben 
—  wie  Absolon  sagt  —  beobachten  „nicht  vom 
menschlichen  Standpunkt  aus,  sondern  beispiels- 
weise aus  einer  Luedius  Perspektive,  für  welchen 
Käfer  ein  Zieselloch  eine  geradeso  kolossale 
Höhle  ist,  wie  für  uns  die  Adelsbergergrotte,  und 
für  den  ein  Marsch  in  einem  Maulwuifsgange  viel- 
leicht eine  größere  Tour  ist,  als  für  uns  der  Ab- 
stieg in  den  Riesenponor  am  Popovo  Polje". 
Vielleicht  lernen  wir  dann  auch  manche  heute 
rätselhafte  Übereinstimmung  zwischen  mikro- 
kavernikolen  und  Höhlentieren  verstehen  z.  B.  die 
Physogastrie,    die   die    Höhlenfliege  Speomya  Ab-  { 

soloni  ebenso  auszeichnet  wie  die  berühmten 
Termitenfliegen  Termitoxenia  und  Thauma- 
t  o  X  e  n  a. 

Gewiß  wird  die  erst  in  den  letzten  Jahren  be- 
achtete Fauna   kleiner   Erdlöcher,    der  Maulwurfs- 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


gänge  und  Nagetierhöhlen,  des  in  feinen  Erd- 
klüften zirkulierenden  Grundwassers  usw.  manchen 
wichtigen  Beitrag  zur  Besiedelung  großer  Höhlen 
gestellt  haben.  Aber  man  darf  die  Höhlenfauna 
nicht  allein  unter  dem  Gesichtswinkel  des  Licht- 
mangels betrachten.  In  Zeiten  starker  Klima- 
schwankungen dürften  die  Höhlen  für  manche 
keineswegs  lichf^cheue  Form  eine  durch  ihre  gleich- 
mäßige erträgliche  Temperatur  willkommene  Zu- 
fluchtsstätte gebildet  haben.  In  einem  Gebiet,  das 
wie  die  Balkanhalbinsel  zur  Erhaltung  tertiärer 
Relikte  wie  geschaffen  erscheint  und  das  daher 
in  Simroth's  Pendulationstheorie  als  adriatischer 
Winkel  eine  besondere  Rolle  spielt,  kann  es  nicht 
überraschen,  wenn  zahlreiche  Formen  auftreten, 
von  denen  man  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
behaupten  kann,  sie  hätten  hier  als  Überbleibsel 
der  tertiären  Organismenwelt  die  Eiszeit  über- 
dauert. 

Nicht  jede  Höhle  aber  repräsentiert  ein  klima- 
tisches Tuskulum.  Schon  Schmitz  berichtet  in 
einer  Monographie  der  Insektenfauna  niederländi- 
scher Mergelgrotten :  „Bei  großer  Kälte  im  Winter 
kann  die  Temperatur  des  Louwberges  in  der  Nähe 
der  Eingänge  so  tief  sinken,  daß  sich  Eis  bildet. 
Merkwürdigerweise  halten  es  einige  Insekten,  z.  B. 
Rymosia  fenestralis  Mg.  trotz  dieses  Eises 
ganz  gut  aus."  Ähnliche  Beobachtungen  machte 
Absolon  im  mährischen  Karst  und  verweist  bei 
Behandl'ing  dieser  Erscheinung  (loc.  cit.  Seite  148) 
auf  Bachmetews  „Experimentell  entomologische 
Studien",  denen  zufolge  die  Insekten  einen  kritischen 
Punkt  ihrer  Körperwärme  besitzen,  nach  dem  sich 
die  Körpersäfte  des  Tieres  nach  dem  in  der 
Physik  geltenden  Gesetze  der  Überkältung  tat- 
sächlich überkälten  lassen,  ohne  zu  gefrieren.  So 
ändert  sich  bei  Schmetterlingen  bei  einer  Tem- 
peratur von  — 94  (kritischer  Punkt!)  die  Körper- 
temperatur bei  zunehmender  Kälte  nicht  in  der 
Richtung  gegen  — 10,  sondern  springt  plötzlich 
auf  — 1,4  zurück. 

Abgesehen  von  den  Licht-  und  Temperatur- 
verhältnissen bieten  die  Höhlen  noch  durch  das 
sich  periodisch  wiederholende  Unterwassergesetzt- 
werden  besondere  biologische  Bedingungen.  Man 
sollte  meinen,  daß  so  plötzliche  völlige  Erfüllung 
eines  Hohlraumes  mit  Wasser,  die  gesamte  luft- 
atmende Bewohnerschaft  vernichten  müßte.  Aber 
die  im  Popovoponor  von  Absolon  gemachten 
Beobachtungen  zeigen,  daß  die  kleinen  Höhlen- 
insassen der  drohenden  Gefahr  leicht  entgehen. 
Jede  Höhlendecke  weist  Hunderte  von  Spalten 
und  Rissen  des  verschiedensten  Kalibers  auf  die 
z.  T.  bis  in  die  Humusdecke  der  Erdoberfläche 
führen  und  einerseits  den  in  den  oberen  Erd- 
schichten hausenden  Tieren  den  Zutritt  zur  Höhle 
verschaffen  und  andererseits  den  Höhlenbewohnern 
im  Falle  einer  Überflutung  Zuflucht  gestatten. 
„Noch  hat  keines  Forschers  Auge  eine  Antro- 
herponlarve  erblickt,  obwohl  manche  ."^rten  dieser 
Gattung  zu  Hunderten  in  der  Höhle  leben,  weil 
diese    Käfer    höchstwahrscheinlich    ihre    Metamor- 


phose in  der  Höhe  durchmachen  und  erst  als 
fertige  Insekten  sich  nach  unten  auf  Jagd  begeben." 
Trotz  des  Vorhandenseins  solcher  rettender  Aus- 
wege besitzen  manche  Arten  noch  eine  zweite 
Möglichkeit,  dem  Ertrinkungstode  zu  entgehen. 
Sie  leben  zeitweise  unter  Wasser.  Ich  finde  bei 
Absolon  keinen  Aufschluß  über  die  Atmungs- 
physiologie solcher  Formen.  Hier  scheint  noch 
ein  äußerst  interessantes  Kapitel  der  Physiologie 
einer  Lösung  zu  harren.  Von  der  vorübergehen- 
den Wasserlebensweise  eines  Aaskäfers  war  be- 
reits die  Rede,  nämlich  von  Hadesia;  noch  über- 
raschender ist  die  Mitteilung,  die  uns  Absolon 
über  einen  Isopoden  macht,  der  zu  einer  ganz 
ungewöhnlichen  Anpassung  gezwungen  wurde: 
„Titanethes  hercegovinensis  sucht  bei 
Lebensgefahr  seine  Rettung  im  —  Tropfbrunnen, 
dem  er  im  raschen  Laufe  zustrebt,  um  im  Wasser 
zu  Boden  zu  sinken." 

Snwie  die  Tiefsee  infolge  ihres  Mangels  an 
assimilierenden  Pflanzen  der  Ernährungsphj'siologie 
wichtige  Probleme  stellte,  so  ist  auch  die  der 
grünen  Vegetation  entbehrende  Höhle  ein  Gebiet, 
daß  dem  Nahrungsphysiologen  vor  bedeutsame 
Fragen  stellt.  Pilze  und  Moder  betrachtet 
Simroth  als  ursprünglichste  Tiernahrung;  ihm 
sind  daher  die  Höhlen,  deren  Tropfsteingebilde 
oft  ganz  mit  Pilzmyzel  überzogen  sind,  nicht  eine 
Stätte  spezialisierter  Anpassung  in  der  Ernährung, 
sondern  im  Gegenteil  abermals  Wohngebiete,  die 
selbst  hinsichtlich  der  Ernährung  sehr  konservativen 
Typen  ein  Refugium  gewähren.  So  erscheinen 
uns  hier  die  Nahrungsverhältnisse  nicht  als  An- 
passung ans  Höhlenleben,  sondern  umgekehrt 
scheinen  Organismen  mit  primitiver  Ernährungs- 
weise die  Höhlen  aufgesucht  zu  haben ,  sowie  ja 
auch  z.B.  Absolon  mit  der  Möglichkeit  rechnet, 
daß  der  in  Fledermausfäkalien  lebende  Höhlen- 
käfer Atheta  spelaea  infolge  seiner  koprophilen 
Lebensweise  zum  Höhlenlcben  prädestiniert  war. 
Er  bildet  übrigens  nebenbei  erwähnt  einen  inter- 
essanten biologischen  Parallelfa'l  zu  dem  ebenfalls 
auf  Fledermauskot  in  einer  Höhle  der  Halbinsel 
Krim  lebenden  Canthocamptus  (-Troglo- 
camptus)  subterraneus.  —  Neben  solchen 
Pilzmyzel-  und  Moderfressern  spielen  räuberische 
Formen  in  Höhlen  eine  bedeutsame  Rolle;  gleicht 
ja  in  dieser  Hinsicht  die  Höhle,  in  der  nach  der 
allerdings  bestrittenen  Anschauung  mehrerer 
Spelaeologen  „Hungersnot  den  herrschenden  Zu- 
stand darstellt",  wiederum  der  Tiefsee ,  in  der 
viele  Fische  durch  exzessive  Raubtiercharaktere 
ausgezeichnet  sind.  Solche  in  die  Augen  springende 
Merkmale  der  räuberischen  Lebensweise  fehlen  der 
Höhlenfauna.  Selbst  Niphargus,  der  nach  Vire's 
Versuchen  in  der  Gefangenschaft  in  24  Stunden 
ein  seinem  Körpergewicht  gleichkommendes 
Fleischquantum  verzehrt ,  zeigt  keinen  ent- 
sprechenden Körperbau. 

Eine  Überraschung  für  die  Faunistik  bildete 
eine  Kollektion  von  Dr.  Absolon  gesammelter 
Höhlennacktschnecken,    weil    solche   bisher   nicht 


52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


gefunden  waren ,  während  Gehäuseschnecken  in 
Höhlen  reichlich  vertreten  sind.  Die  Nackt- 
schnecken boten  aber  noch  in  einer  bestimmten 
Hinsicht  Interesse.  S  i  m  r  o  t  h  berichtet  auf  Grund 
des  von  ihm  bearbeiteten  Materiales:  „Das  Auf- 
fallendste an  unseren  Tieren  ist  die  völlige  Un- 
abhängigkeit der  Pigmentierung  von  der  Finsternis 
der  Umgebung.  Die  Farbstoffe,  zumal  der  schwarze, 
entwickeln  sich  genau  unter  wie  über  der  Erde, 
nur  die  Zeichnung  der  Amalien  weicht  durch  die 
Neigung  zu  grober  Fleckenbildung  ab.  Im  Grunde 
genommen  ist  diese  Unabhängigkeit  nicht  über- 
raschend. Denn  nach  meinen  Erfahrungen  wird 
die  Pigmentierung  der  Nacktschnecken,  je  in  den 
Grenzen  der  Gattungen,  lediglich  bedingt  durch 
Feuchtigkeit  und  Temperatur,  keineswegs  aber 
durch  das  Licht,  so  abweichend  .sich  auch  andere 
Tiergruppen  stellen  mögen."  A  b  s  o  1  o  n  '  s  eigene 
Erfahrungen  haben  die  Tatsache,  daß  Höhlentiere 
wohl  pigmentiert  sein  können,  wesentlich  erweitert 
und  der  bereits  in  Schulbüchern  tradierten  Lehre 
von  der  Pigmentlosigkeit  der  Höhlenfauna  in  ihrer 
Verallgemeinerung  weitere  Stützen  entzogen.  Noch 
Hamann  sagt  einerseits  (Höhlenfauna  S.  5) 
„Lichtmangel  kann  das  Schwinden  des  Pigmentes 
veranlassen,  braucht  es  aber  nicht",  sammelt  aber 
auf  den  folgenden  Seiten  alles  Material,  das  zu- 
gunsten einer  Depigmentierung  als  Folge  des 
Höhlenlebens  sprechen  könnte.  Demgegenüber 
sei  nochmals  auf  das  seltsame,  oben  erwähnte 
Höhlendipteron  Speomyia  Absoloni  verwiesen, 
das  trotz  seiner  sonst  allseitigen  Höhlencharaktere 
eine  tiefschwarze  Farbe  aufweist.  Und  von 
Spelaeolla  Absoloni  berichtet  ihr  Entdecker:  „Die 
Farbe  ist  rotbraun,  jene  spezifische  Farbe,  wie  sie 
z.  B.  bei  A  nophthalmen,  bei  der  Fliege 
Gymnomus  trnglodytes  bei  Tausendfüßern 
(Polybothrus  stygis  gloria),  bei  Spinnen  (Stalita 
hercegovinensis)  usw.  angetroffen  wird. 

Vielleicht  verhalten  sich  in  dieser  Hinsicht  — 
wie  Simroth  vermutet  —  verschiedene  Tier- 
stämme wirklich  verschieden.  Wir  vermissen 
unter  A  b  s  o  1  o  n  '  s  Beispielen  pigmentierter  Höhlen- 
tiere die  Crustaceen.  Und  in  der  Tat  gehören 
die  gewöhnlich  zitierten  Fälle  pigmentloser  Höhlen- 
tiere —  von  Proteus  abgesehen  —  gerade  den 
Crustaceen  an:  die  Niphargiden,  die  von  Absolon 
entdeckten  neuen  Riesenamphipoden,  Titanethes 
albus  oder  der  aus  der  unerschöpflichen  Mammut- 
höhle Kentucky's  beschriebene  Palaemonias 
Ganteri,  der  so  durchsichtig  ist,  daß  man  meist 
nur  seinen  Schatten  im  Wasser  sieht.  Im  Gegen- 
satz zu  den  Nacktschnecken  scheinen  hingegen 
die  Gehäuseschnecken  in  Höhlen  leicht  einer  Ent- 
färbung ausgesetzt  zu  sein,  wie  in  Übereinstimmung 
mit  früheren  Beobachtern  Wagner  bzg.  des  von 
Absolon  gesammelten  Materials  mitteilt :  (Höhlen- 
schnecken aus  SüdDalmatien  usw.  Sitzungsber. 
Akad.  Wien   1914). 

Anschließend  an  die  Pigmentierung  der 
Schnecken  sei  noch  einer  Erscheinung  Erwähnung 
getan,    die  Simroth    im    selben    Zusammenhang 


berührt,  wenn  er  sagt:  „Überraschender  als  die 
Unabhängigkeit  der  Pigmentierung  scheint  die 
Abhängigkeit  der  Fortpflanzungsjieriode  von  den 
Jahreszeiten.  Machen  sich  die  Niederschläge  doch 
noch  in  der  wechselnden  Durchtränkung  der 
Felsen  geltend?"  Daß  Temperaturverhältnisse 
hier  nicht  im  Spiele  sind,  ist  bei  der  Konstanz 
der  Temperatur  wohl  außer  Zweifel.  Luft-  wie 
Wassertiere  leben  in  den  Krainer  Höhlen  jahraus, 
jahrein  bei  7 — 8"  R;  dies  führte  Ha  man  zu  der 
1896  geäußerten  Vermutung:  „Dementsprechend 
zeigt  sich  wahrscheinlich  auch  nicht  die  Peri- 
odizität im  Leben,  wie  bei  oberirdisch  lebenden 
Tieren  ausgeprägt."  Diese  Vermutung  ist  durch 
Simroth's  Untersuchungen  an  den  von  Ab- 
solon gesammelten  Schnecken  widerlegt.  Zu- 
gleich sind  auch  bereits  einige  anderweitige 
Beobachtungen  von  Periodizität  im  Leben  der 
Höhlenorganismen  bekannt,  die  Simroth's 
Angabe  bekräfiigen,  trotzdem  aber  auch  mit 
seinem  Erklärungsversuch  in  Widerstreit  geraten. 
So  soll  nach  Hay  Cambarus  pellucidus  nur  im 
Herbst  kopulieren  und  seine  Eier  im  Winter  ab- 
legen, eine  Angabe,  mit  der  sehr  gut  die  Be- 
obachtung Bantas  übereinstimmt,  der  von  einer 
Varietät  dieses  Höhlenkrebses  Junge  nur  im  Früh- 
jahr auffand.  Da  es  sich  in  diesem  P'alle  um 
einen  Wasserbewohner  handelt,  kommt  Simroth's 
Annahme,  daß  wechselnde  Durchfeuchtung  der 
Felsen  die  sexuelle  Periodizität  regle,  hier  nicht 
in  Frage.  Hier  wird  man  den  regulierenden 
I<"aktor  wohl  doch  unter  den  inneren  Faktoren 
suchen  müssen.  Das  Gleiche  wird  man  wohl 
auch  hinsichtlich  der  Lartetien  (-Vitrellen)  be- 
haupten dürfen,  die  nach  Seibold  sich  im 
Februar  fortpflanzen.  Bis  das  riesige  von  Ab- 
solon gesammelte  Material  durchgearbeitet  sein 
wird,  wird  sich  vielleicht  die  Fratje  entscheiden 
lassen,  ob  die  bisher  bekannten  Fälle  periodischer 
Erscheinungen  auf  Grund  verfrühter  Verall- 
gemeinerung vereinzelter  Beispiele  aufgestellt 
wurden  oder  ob  nicht  doch  wen'gstens  bei  ge- 
wissen Tiergruppen  trotz  der  Gleichförmigkeit 
der  äußeren  Bedingungen  eine  dem  Organismus 
durch  innere  P'aktoren  vorgeschriebene  Periodizität 
zum  Ausdruck  kommt. 

Vor  eine  schwierige  Frage  stellt  uns  Absolon 
bei  der  Besprechung  der  geographischen  Ver- 
breitung von  Lesteva  Villardi  und  der  Spinne 
Paraleptoneta;  an  der  Hand  eines  instruktiven 
Kärtchens  sehen  wir  die  Wohngebiete  einerseits 
auf  die  Westalpen,  andererseits  auf  den  Karst 
beschränkt.  „Dies  diskontinuierliche  Höhlen- 
vorkommen einem  Zufalle  zuzuschreiben,  darf 
ich  nicht  wagen;  ich  vermute  darin  eine  Gesetz- 
mäßigkeit." In  der  Tat  besteht  eine  solche  und 
zwar  nicht  nur  für  die  Höhlenfauna  wie  Absolon 
vermutet,  sondern  auch  für  die  oberirdische 
Fauna.  So  lebt  z.  B.  am  Ostrand  der  Alpen  im 
Gebiet  der  Lunzer  Seen  eine  Wassermilbe  Lebertia 
maglioi,  die  bisher  nur  aus  den  westitalienischen 
Alpen  bekannt  ist  und  ein  Käfer  Hydraena  truncata 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


53 


der  ebenfalls  der  Lunzer  Fauna  angehört,  ist  bisher 
nur  aus  den  französischen  Alpen  bekannt.  Ähnliche 
F'älle  sind  bereits  früher  auf  botanischem  Gebiet 
ermittelt  worden,  so  daß  Absolon's  diesbezügliche 
Funde  zwar  neues  Material  zu  einer  bereits  be- 
kannten seltsamen  zoogeographischen  Erscheinung 
beigetragen  haben,  ohne  uns  deren  Erklärung 
näher  zu  bringen.  Vielleicht  spiegeln  sich  diese 
unerklärlichen  Beziehungen  zwischen  der  west- 
und  ostalpinen  Organismenwelt  noch  in  einem 
anderen  höchst  fremdartigen  Vorkommen  wieder. 
Ich  meine  in  dem  Auftreten  einer  Serpulide 
(marine  Würmergruppe!)  im  Süßwasser  der 
Balkanhalbinsel.  Erinnert  dieser  abnorme  Fund 
Absolon's  nicht  an  das  .'\uftreten  einzelner 
Vertreter  der  snnst  marinen  Sphaeromiden  und 
Cirolaniden  in  französischen  Höhlen?  Aus  dem 
Umstand,  daß  alle  französischen  Fundorte  dieser 
seltenen  Asseln  in  der  Nähe  maüner  Tertiär- 
formationen sind,  zog  Vire  den  Schluß,  daß  die 
Sphaeromiden  zur  Tertiärzeit  flußaufwärts  gingen 
bis  in  die  Höhlen  und  dort  bis  heute  erhalten 
blieben.  Sollte  diese  hier  nach  Grat  er  wieder- 
gegebene Ansicht  Vire's  auf  Absolon's 
Serpulidenfund  anwendbar  sein? 

Hand  in  Hand  mit  der  Behandlung  solcher 
zoogeographischer  Probleme  gehen  verschiedene 
Fragen  über  „Entstehung  der  Arten".  Absolon 
hat  bereits  mehrfach  solche  bei  der  Besprechung 
neuer  Apterygoten  und  neuer  Staphyliniden  an- 
geschnitten; zunächst  auf  Grund  vergleichend 
morphologischer  Methoden.  Ich  selber  iiabe  bei 
dem  Versuch  das  Artenbild  und  die  geographische 
Verbreitung  der  ostalpinen  Niphargiden  in  einen 
kausalen  Zusammenhang  zu  bringen  keinen  Weg 
zur  Lösuntj  der  nächstliegenden  Fragen  gefunden 
und  die  Hoffnung  ausgesprochen,  daß  die  ver- 
wirrende Mannigfaltigkeit  der  Niphargu-kolonien 
auf  experimentellem  Weg  unserem  Verständnis 
näher  zu  bringen  sein  wird.  Vom  morphologischen 
Standpunkt  aus  böte  die  Gattung  Niphargus  — 
und  wohl  noch  so  manches  andere  Höhlentier  — 
ein  geradezu  ideales  Material  für  vererbnngs- 
theoretische  Experimente.  Gelingt  es  diese  Tiere 
der  Kultur  und  Aufzucht  zu  unterwerfen,  so  ist 
der  Grund  gelegt  zu  einem  sehr  viel  versprechenden 


neuen  Zweig  der  Höhlenzoologie,  zur  experi- 
mentellen. Ein  guter  Anfang  hierzu  ist  bereits 
gemacht.  In  der  Wiener  Praterstation  hat 
Kammerer  mit  dem  klassischen  Höhlentier, 
dem  Grottenolm,  erfolgreich  experimentiert. 
Vire  hat  Niphargus  mit  Erfolg  als  Aquariumtier 
gehalten.  Allerdmgs  werden  solche  Versuche  oft 
komplizierte  Bedingungen  erheischen:  Kultur  im 
Dunkeln,  bei  konstanter  entsprechend  tiefer  Tempe- 
ratur, zusagende  Wasserqualität  und  Nahrung  usw. 
Sah  doch  Absolon  Beispiele  tödilicher  Wirkung 
des  Lichtes  bei  Höhlentieren,  so  daß  er  auf  ge- 
wis-e  Collembolen  anspielend  sagen  konnte:  „Was 
das  Wasser  für  die  Fische  ist,  das  ist  die  ewige 
Finsternis  für  diese  Geschöpfe",  und  bei  Niphargus 
bemerkte  ich  tödliche  Wirkung  des  Wassei;wechsels, 
obw  >hl  das  neue  Wasser  von  derselben  Örtlichkeit 
stammte. 

Der  Umstand,  daß  Absolon  seine  im 
mährischen  Karst  erprobte  Höhlentechnik  auf  das 
Balkangebiet  übertrug,  hat  nicht  nur,  wie  Simroth 
sagt,  uns  eine  vielseitige  Fauna  erschlossen,  von 
der  immer  noch  neue  Schätze  ans  Tageslicht 
kommen  sondern  hat  auch  viel  dazu  beigetragen, 
die  zoologische  Höhlenforschung  aus  dem  Stadium 
derMusealzoologie  in  das  der  „Freilandbeobachtung" 
weiterzuführen.  Die  Fortsetzung  seiner  Arbeiten 
nach  Kriegsende  läßt  nicht  nur  noch  viel  neues 
biologisches  Beobachtungsmaterial  erhoffen,  sondern 
wird  gewiß  auch  viel  Anregung  für  die  oben  an- 
gedeutete experimentelle  Behandlung  gewisser 
Fragen  der  Höhlenzoologie  bringen. 


Verzeichnis  der  behandelten  Literatur. 

Absolon,  K.,  Über  .-\ntrophilon  ]iriiiiiliTuni.  Coleopt. 
Kundsch.,   1913. 

— ,  Über  Scotoplanetes  arenstorffianus.  Coleopt.  Rundsch., 
1913- 

— ,  Vysledky  vyzkumnych  cest  po  Balkanö.  Zeitscbr.  d. 
mährisch.   Landesmuseums,    1914 — 1916. 

— ,  Bericht  über  höhlenbewohnende  Staphyliniden.  Coleopt. 
Rundsch.,   1915  —  19:6. 

Simroth,  H,  L'ber  einige  von  Dr.  K.  Absolon  in 
der  Ilerzegovina  erbeutete  höhlenbewohnende  Nacklschnecken. 
Nachr.  raalakozool.   Ges.,    1916. 

Wagner,  A.  J.,  Beiträge  zur  Anatomie  und  Systematik 
der  Stylommatophoren.     Denkschr.  .'\kad.  Wiss.  Wien,    1914. 


Einzelberichte. 


Physik.  Auch  in  Frankreich  erwecken  die  mit 
dem  Artilleriefeuer  zusammenhängenden  aku- 
stischen Phänomene  besonderes  Interesse,  wie  die 
letzten  Sitzungen  der  Pariser  Akademie  zeigen. 
A.  Perot  versucht  die  „Zone  des  Schweigens" 
durch  den  Einfluß  des  Windes  zu  erklären  (C.  R. 
Ac.  sc.  Paris,  Nr.   ii,   19 16). 

Einen  Schall  höre  man,  wie  längst  bekannt 
sei,  in  der  Windrichtung  viel  besser,  als  bei 
Gegenwind,     Die  Kriegsereignisse,    besonders  die 


Kanonade  in  der  Picardie,  hätten  nun  die  Auf- 
merksamkeit auf  eine  andere  Erscheinung  gelenkt 
und  es  ermöglicht,  die  akustischen  Verhältnisse 
für  das  Hören  eines  sehr  entfernten  Schalls 
bezüglich  der  „Zone  des  Schweigens"  zu  er- 
forschen. Steht  der  Wind  von  Süden  nach 
Westen,  herrscht  also  Gegenwind,  hört  man  den 
Kanonendonner  in  einer  Entfernung  von  ungefähr 
120  km,  bei  Nord-  oder  Ostwind  dagegen  gar 
nichts.  Diese  Erscheinung  läßt  sich  nun  in 
folgender  Weise    erklären.     Nimmt    man  an,    daß 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  4 


in  einer  sehr  ausgedehnten  Luftschicht  Wind 
herrscht,  darüber  aber  Windstille  besteht,  Gegen- 
wind herrscht  oder  auch  ein  gleichgerichteter,  aber 
doch  schwächerer  Wind,  so  gilt  Folgendes. 

I.  Befindet  sich  die  Schallquelle  in  einer 
ruhenden  Schicht,  so  breiten  sich  die  Schall- 
wellen mit  konstanter  Geschwindigkeit  nach  allen 
Richtungen  aus.  Schwankungen  im  Luftdruck 
spielen  dabei  gar  keine  Rolle,  und  nur  die 
Temperatur  kann,  aber  auch  diese  nur  in  engen 
Grenzen,  eine  Verschiedenheit  bedingen.  Herrscht 
z.  B.  ein  konstanter  Wind  von  lo  Sekm  Ge- 
schwindigkeit, so  beträgt  für  einen  Beobachter  in 
der  Windrichtung  die  Geschwindigkeit  des  Schalls 
340  m,  in  der  Gegenrichtung  dagegen  nur  320  m. 
Man  kann  also  sagen,  daß  in  der  Windrichtung 
die  Schallbrechung  um  so  schwächer  ist,  als 
der  Wind  stärker  wird.  Die  Schallbrechung 
nimmt  also  proportional  mit  der  Höhe  zu,  wo 
der  Wind  schwächer  wird,  dagegen  nimmt  sie  ab 
in  der  entgegengesetzten  Richtung.  In  dieser  Be- 
ziehung, also  bei  Gegenwind,  verhält  sich  die 
Schallbrechung  gerade  umgekehrt,  wie  die  Licht- 
brechung bei  einer  Luftspiegelung.  Die  Schall- 
wellen   gehen  unter    einem    gewissen  Winkel   zur 


Entfernung  von  der  Erdoberfläche,  weil  die 
Windgeschwindigkeit  infolge  Wegfalls  der  natür- 
lichen Hemmnisse  und  der  Reibung  an  der  Erd- 
oberfläche zunimmt.  Es  gelte  also  hier  gerade 
das  Gegenteil,  wie  für  das  Hören  des  Kanonen- 
donners auf  große  Entfernungen.  Bei  gleich- 
gerichtetem Wind  würden  die  Schallwellen  nach 
unten  zurückgeworfen,  während  sie  sich  im  um- 
gekehrten Fall  von  der  Erdoberfläche  entfernten. 
Daraus  ginge  hervor,  daß  jemand  in  der  Wind- 
richtung von  einer  größeren  Energiemenge  ge- 
troffen wird  und  den  Schall  stärker  hört  als  bei 
Gegenwind. 

Es  wäre  interessant,  in  großer  Entfernung  vom 
Erdboden,  etwa  in  einem  Fesselballon,  das  Ge- 
sagte auf  seine  Richtigkeit  zu  prüfen. 

G.  Bigourdan  behandelt  die  Fortpflanzung 
des  Schalls  auf  große  Entfernungen  hin  (C.  R. 
Ac.  sc.  Paris  Nr.  14,  1916).  Die  von  der  Kampf- 
front her  hörbare  Kanonade  habe  verschiedenen 
Ursprung;  teils  entspräche  sie  dem  Geschütz- 
donner, teils  rührte  sie  vom  Platzeri  der  Granaten 
oder  von  Minensprengungen  her.  Über  die  Fort- 
pflanzung des  dadurch  verursachten  Schalls  auf 
große    Entfernungen    von    200 — 300  km  hin,    be- 


Windstille 


..^ 


konstanter  Wind 


1^ 


Windstille 


Horizontalen  ab  und  treffen  in  einem  Brennpunkt 
zusammen.  Dieser  nun  kann  mit  dem  Punkt 
zusammenfallen,  wo  sich  der  Beobachter  be- 
findet (Abb.  1).  Da  nun  die  Schallquellen  über 
eine  ganze  Zone  verbreitet  sind,  so  können  auch 
Brennpunkte  innerhalb  einer  ganzen  Gegend  an- 
getroffen werden;  zwischen  dieser  und  der  Schall- 
quelle selbst  liegt  die  „Zone  des  Schweigens".  In 
einem  Biennpunkt  ist  der  Schall  übrigens  viel 
stärker  als  der  bei  normaler  Fortpflanzung.  Aus 
Versuchen,  auf  die  P.  nicht  weiter  eingehen  wollte, 
ging  hervor,  daß  die  Schallstrahlen  das  Ohr  nicht 
tangential  zur  Erdoberfläche  träfen,  vielmehr  unter 
einem  sehr  beträchtlichen  Winkel,  wie  die  Licht- 
strahlen bei  einer  Luftspiegelung.  Die  ,,Zone  des 
Schweigens"  erreiche  übrigens  eine  verschiedene 
Ausdehnung,  je  nach  den  atmosphärischen  Bedin- 
gungen, wie  Windgeschwindigkeit  und  Mächtig- 
keit der  Luftschicht,  in  welcher  der  Wind  herrscht. 
In  der  Windrichtung  findet  dagegen  eine  Zer- 
streuung der  Schallwellen  statt  (Abb.  2),  so  daß 
nichts  von  dem  zutrifft,  was  für  eine  Luft- 
spiegelung gilt.  Der  Schall  reicht  nur  bis  in  eine 
geringe  Entfernung. 

2.  Ist  der  terrestrische  Schall  nur  schwach,    so 
verstärkt   sich  die  Schallgeschwindigkeit   mit   der 


stände  kein  Zweifel;  man  sei  aber  darüber  im 
Unklaren,  wodurch  sie  ermöglicht  würde.  Er 
hätte  nun  von  verschiedenen  Seiten  Mitteilungen 
erhalten,  welche  auf  diese  Frage  ein  Licht  würfen. 
Ein  52  Jahre  alter  Ingenieur,  der  im  Alter  von 
6  Jahren  infolge  von  Gehirnhautentzündung  das 
Gehör  gänzlich  verlor  und  nun  vollständig  taub 
wäre,  habe  ihm  darüber  Folgendes  berichtet.  Un- 
mittelbar dicht  neben  einer  Lokomotive  stehend, 
hörte  er  deren  Pfiff  nicht ,  sondern  spürte  nur 
einen  stechenden  Schmerz  im  Trommelfell,  der 
übrigens  sofort  wieder  aufhörte,  auch  wenn  das 
Pfeifen  länger  andauerte.  Schon  vor  20  Jahren 
hätte  er  konstatiert,  daß  ein  Kanonenschuß  aus 
1000  — 1500  m  Entfernung  ihm  als  aus  zwei  auf- 
einanderfolgenden Schlägen  zusammengesetzt  er- 
schiene; der  erste  würde  offenbar  durch  den 
Boden,  der  zweite  durch  die  Luft  fortgepflanzt. 
Seit  Beginn  der  Somme  Offensive  nähme  er  nun 
die  Kanonade  von  seinem  Wohnort  im  Weichbild 
von  Paris  wahr,  aber  nur  das  F"euer  der  schweren 
Geschütze;  er  hörte  es  in  demselben  Augenblick, 
wie  Leute  mit  normalem  Gehör.  Bei  der  Ent- 
fernung bis  zur  Sommefront  (120  km)  wäre  nun 
eine  Fortpflanzung  durch  die  Luft  gänzlich  aus- 
geschlossen.     Nur    eine    solche    durch    den    Erd- 


N.  I".  XVI.   Nr 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


55 


boden  könnte  in  Betracht  kommen  und  es  erkläre 
sich  dann  auch,  warum  er  und  ein  Normalhöriger 
den  Schall  zu  gleicher  Zeit  wahrnähmen  (vgl. 
„Hörbarkeit  des  Kanonendonners",  Naturw. 
Wochenschr.,  Nr.  41,  S.  589,   1916). 

Von  Frederic  Houssay  wird  die  Frage 
abermals  erörtert,  ob  es  auf  Wirklichkeit  oder  auf 
Täuschung  beruhte,  daß  man  die  Kanonade  von 
der  Kampffront  her  auf  unglaublich  weite  Ent- 
fernungen hin  höre  (C.  R.  Ac.  sc.  Paris,  Nr.  15, 
1916).  Er  sagt,  er  habe  seine  Beobachtungen  im 
Norden  des  Weichbilds  von  Paris  gemacht.  Das 
Geschützfeuer  von  der  Schlacht  an  der  Maas  höre 
man  ganz  deutlich,  selbst  am  hellen  Tag  mitten 
in  Paris,  in  ruhigen  Straßen  und  in  den  stillen 
Promenadegängen  des  Jardins  du  Luxembourg, 
sowie  überall  in  der  Sülle  der  Nacht.     Im  Wmter 

1914  hätten  ihm  Nachbarn  übereinstimmend  ver- 
sichert, daß  sie  das  Geräusch  fortwährend  hörten ; 
er  selbst  habe  es  indessen  nicht  vernehmen 
können  trotz  fortwährender  Aufmerksamkeit. 
Ende  Mai  1916  dagegen  hätte  er  gespannt  ge- 
horcht und  beim  P'ehlen  von  störenden  Geräuschen 
während  der  Nacht  ein  sehr  fernes  Kanonenfeuer 
aus  nördlicher  Richtung  wahrgenommen;  dasselbe 
wäre  sehr  lebhaft  gewesen,  aber  so  schwach  zu 
hören,  daß  es  durch  die  germgsten  Geräusche, 
wie  z.  B.  das  Rascheln  der  Blätter,  erstickt  worden 
wäre.  Wie  er  nachher  erfahren  hätte,  rührte  der 
Kanonendonner  vom  Kampf  bei  Carency,  Ablain- 
Saint  Nazaire  her.  Seitdem  hörte  er  die  Kanonade 
an  jedem  ruhigen  Abend,  an  dem  eine  solche  statt- 
fände, dagegen  nichts,  wenn  keine  gewesen  wäre; 
eine  Suggestion  läge  also  nicht  vor.  Er  hörte  die 
Kanonade  zu  Hause  und  in  ganz  Hurepoix,  in 
den  Tälern,  auf  den  Höhen  oder  im  Wald;  be- 
sonders gut  würde  sie  im  Wald,  namentlich  in 
der  Nähe  von  Sümpfen  gehört.  Die  Windrichtung 
spiele  dabei  keine  Rolle  außer  daß  Gegenwind, 
d.  h.  Südwind,  für  die  Erscheinung  am  günstigsten 
wäre;  bei  Nordwind  dagegen  müßte  man  eine 
geschützte  Stelle  aufsuchen,  um  etwas  von  dem 
sehr   schwachen    Geräusch    zu    hören.      Von   Mai 

1915  bis  Oktober  1916  hätte  er  gehört,  was  nach 
dem  Bericht  als  heftiger  intensiver  Artilleriekampf 
bezeichnet  wurde,  dagegen  nichts  von  dem  ge- 
wöhnlichen Kanonenfeuer.  Man  höre  eben  nicht 
die  einzelnen  Kanonenschüsse  auf  große  Ent- 
fernungen, nur  sehr  lebhaftes  anhaltendes  Geschütz- 
feuer, und  auch  das  nicht  immer.  Nicht  mangel- 
haftes Gehör  sei  daran  schuld,  wenn  man  nichts 
hörte,  sondern  der  Grund  dafür  liege  darin,  daß 
man  von  den  tausend  störenden  Geräuschen  in 
der  Umgebung  nicht  absehen  könnte.  Die  Zonen 
des  Schweigens  dürften  also  nicht  nach  dem"  Aus- 


fall einer  allgemeinen  Stimmenmehrheit  aufgestellt 
werden.  Nur  geübte  Beobachter  wären  dabei  in 
Betracht  zu  ziehen.  Es  sei  sehr  schwer,  die 
Gegend  zu  bestimmen,  aus  welcher  der  Ton  käme. 
Ein  gelegentlicher  und  selbst  ein  geübter  Be- 
obachter täuschten  sich  leicht  (in  90  "/q  der  Fälle 
und  mehr).  So  hätte  er  genau  die  Kanonade  von 
der  Maas  gehört  (40  km),  vom  Soissonais  (100  km), 
aus  der  Picardie  (130  km),  von  Artois  (200  km), 
aus  der  Champagne  (200  km),  am  besten  in  den 
beiden  letztgenannten  Fällen;  dagegen  hätte  er 
v^on  den  Argonnen  her  gar  nichts  gehört. 

An  zwei  aufeinanderfolgenden  Abenden  um 
den  20.  Juni  1916  herum,  hätte  man  ein  starkes 
Kanonenfeuer  in  der  Richtung  von  Verdun  (245  km) 
vernommen,  und  zwar  etwas  besser  bei  Ostwind. 
Dies  habe  ihn  um  so  mehr  überrascht,  als  er  in 
den  4  ersten  Monaten  der  schrecklichen  Schlacht 
nichts  wahrgenommen  hätte  und  auch  seitdem 
nichts  wieder.  Er  hätte  aber  das  Geräusch  ganz 
sicher  gehört,  freilich  nicht  lange  genug,  um  mit 
Sicherheit  angeben  zu  können,  aus  welcher  Richtung 
es  herkäme.  Was  nun  die  „Zone  des  Schweigens" 
anbelange,  so  könne  er  in  den  zahlreichen  an- 
gegebenen F'äilen ,  die  er  nachgeprüft  und  über 
die  er  berichtet  hätte,  keinerlei  Beweise  dafür 
finden,  daß  es  eine  solche  gäbe.  Ende  Juli  hätte 
er  Tag  und  Nacht  eine  ununterbrochene  Kanonade 
aus  der  Picardie  gehört,  noch  bevor  die  Zeitungen 
etwas  berichteten,  dann  erst  habe  er  erfahren,  daß 
es  sich  um  die  Offensive  an  der  Somme  gehandelt 
hätte.  Tagelang  hörte  dieselbe  nicht  auf;  bald  ließ 
sie  nach,  bald  flammte  sie  wieder  auf.  Um  den 
15.  Juli  1916  herum  —  das  genaue  Datum  könnte 
er  nicht  angeben  —  hätte  er  nichts  mehr  gehört 
und  seitdem  auch  nichts  mehr,  trotzdem  das 
furchtbare  Kanonenfeuer  weiter  angehalten  hätte. 
Aus  allem ,  besonders  dem  zuletzt  Gesagten, 
müsse  man  schließen,  daß  man  nicht  die  einzelnen 
Schüsse  hörte,  sondern  nur  eine  fortwährende 
Lufterschütterung  wahrnähme.  Das  Ganze  könnte 
man  als  eine  fortwährende  Folge  von  Klopfschlägen 
(battements)  bezeichnen. 

Es  sei  begreiflich,  daß  das  Relief  des  Land- 
striches ,  aus  welchem  der  Ton  käme ,  von  erst- 
klassiger Bedeutung  wäre.  Eine  Verschiebung 
der  Geschütze  um  4  km  könnte  eine  Verlagerung 
der  Zone  des  Schweigens  um  130  km  zur  Folge 
haben.  Daß  man  den  Kanonendonner  von  Verdun 
so  selten  hörte,  dürfte  gleichfalls  mit  gewissen 
Stellungen  der  feindlichen  Artillerie  zusammen- 
hängen; daß  man  aus  den  Argonnen  nichts  hörte, 
hätte  nach  seiner  Ansicht  denselben  Grund. 
Kathariner. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  4 


Bücherbesprechungen. 


Brehm's  Tierleben.  Allgemeine  Kunde  des 
Tierreichs.  Vierte  vollständig  neu  bearbeitete 
Auflage.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  C.  z  u  r 
Strassen.  Säugetiere.  IV  Bd.,  neu  bearbeitet 
von  Max  Hilzheimer  und  Ludwig  Heck. 
XXII,  714  Seiten  gr.  8^  mit  204  Abbildungen 
nach  Photographien  auf  26  Duppeltafeln,  86 
Textabbildungen,  23  farbigen  und  4  schwarzen 
Talein.  Leipzig,  Wien,  Bibliographisches  Institut. 
1916. 

In  dem  vorliegenden  Bande,  der  die  Säugetiere 
abschließt,  haben  Hilzheimer  die  Paarhufer  und 
Heck  die  Halbaffen  behandelt  und  den  Text 
durch  zahlreiche  Abbildungen,  wie  sie  die  photo- 
graphische Kammer  und  der  Pinsel  des  IVlalers 
in  hoher  Vollendung  lieferten,  vervollständigt. 
Die  Verf.  täuschen  sich  wohl  nicht,  wenn  sie  im 
Vorwort  betonen,  daß  gerade  dieser  Band  viele 
Brehmleser  besonders  anziehen  wird,  weil  in  ihm 
unter  den  Paarhufern  das  wichtigste  Wild  und 
die  wichtigsten  Haustiere  und  in  den  Affen 
die  dem  Menschen  am  nächsten  stehenden  Säuge- 
tiere zur  Darstellung  gelangen.  Den  bedeutenden 
Fortschritten  in  der  Systematik,  in  der  morpho- 
logischen und  stammesgeschichtlichen  Erkenntnis 
ist  ebenso  Rechnung  getragen  wie  denen  in  der 
Bit)logie  und  den  psychischen  Lebensäußerungen. 
Die  Menge  des  Stoffes  —  sind  doch  z.  B.  201 
Arten  Halbaffen  und  Affen  gegenüber  85  der 
vorausgehenden  Auflage  behandelt  —  bedmgte 
eine  weitgehende  Umgestaltung  des  früheren  Textes, 
von  dem  nur  sehr  wenig  stehen  geblieben  ist. 
Die  23  Farbentafeln  von  der  Hand  unserer  ersten 
Tiermaler  sind  nicht  minder  hervorragend  wie  die 
26  Doppeltafeln  nach  Photographien.  Zu  den 
schwarzen  Tafeln  und  den  Textabbildungen  bringt 
der  Hand  noch  4  Tafeln  mit  12  Erdkarten,  auf 
denen  Arldt  die  geographische  Verbteitung  der 
Säuger  darstellt  —  also  eine  Fülle  von  durchweg 
vortrefflichen  Illustrationen,  wie  sie  anderwärts  in 
gleicher  Güte  auch  nicht  annähernd  so  hoch  zu 
finden  sind. 

Insgesamt  sind  die  vier  Säugetierbände  mit 
73  farbigen,  18  schwarzen  Tafeln,  92  Doppeltafeln 
(nach  520  Photographien)  und  268  Textabbildungen 
geschmückt ;  doch  es  kommt  nicht  so  sehr  auf 
eine  hohe  Zahl  von  Illustrationen,  die  leicht  zu 
erreichen  ist,  an,  als  auf  deren  Beschaffenheit  und 
zweckmäßige  Auswahl;  in  dieser  Beziehung  können 
Verfasser  und  Verlag  auch  sehr  scharfer  Prüfung 
mit  voller  Ruhe  entgegensehen. 

Bei  der  riesig  angewachsenen  Literatur  war 
aber     die      Auswahl      des      den      Lesern     darzu- 


bietenden Stoffes  sicherlich  das  Schwerste;  es 
galt  nicht  nur  den  gemeinverständlichen  Charakter 
und  die  Tendenz  des  Werkes  beizubehalten  und 
doch  den  großen  Fortschritten  der  letzten  Jahr- 
zehnte vollauf  Rechnung  zu  tragen,  sondern  auch 
das  Ganze  über  einen  vorher  bestimmten  Umfang 
nicht  hinauswachsen  zu  lassen.  Alle  Kapitel  sind 
neu  gestaltet  und  gar  viele  gewiß  mehrfach  um- 
gearbeitet worden,  ehe  alle  Anforderungen  erfüllt 
waren  und  doch  ist  der  Text  flüssig  geblieben 
und  hat  durch  die  Wissenschaftlichkeit,  die  ihm 
gegeben  wurde,  nichts  eingebüßt,  im  Gegenteil 
nur  gewonnen. 

So  wird  Brehm's  Tierleben  auch  in 
modernisierter  Form  die  alten  F"reunde,  die  freilich 
vielfach  umlernen  müssen,  vollauf  befriedigen  und 
viele  neue  gewinnen;  es  ist  aber  jetzt  auch  im- 
stande, höheren  Anforderungen  zu  entsprechen, 
und  wird  selbst  Fachleuten  über  viele  Dinge  zu- 
verlässige Auskunft  geben,  die  sie  anderwärts 
nicht  so  leicht  linden. 

Dem  Verlage  ist  besonders  für  die  schöne  und 
reiche  Ausstattung  sowie  dafür  zu  danken,  daß 
trotz  der  Ungunst  der  Zeiten  eine  wesentliche 
LTnterbrechung  im  Erscheinen  nicht  eingetreten 
ist,  wozu  natürlich  auch  die  Mitarbeiter  und  der 
Pierausgeber  ihr  Teil  beigetragen  haben. 

M.  Braun. 


Literatur. 

Lotsy,  J.  P.,  Evolution  by  roeans  of  hybridization. 
The   Hague   'l6,   M.   Nijhoff. 

Lassar-Cohn,  Prof.  Dr.,  Die  Chemie  des  täglichen 
Lebens.  Gemeinverständliche  Vorirägc.  8.  vcrb.  Auflage. 
Mit  23   Textabbildungen.      Leipzig   'l6,    L.   Voß.    —    4,80  M. 

Möbius,  A.  F.,  Astronomie  usw.,  neu  bearbeitet  von 
Prof.  Dr.  H.  Kobold.  II.  Kometen,  Meteore  und  das  Stern- 
system. Mit  15  Figurin  und  2  Sternkarten  Berlin  und  Leipzig 
'16,  G.  1.  Göschcnsche  Verlagshandlung  G.  m.  b.  H.  —  90  Pf. 

Greulich,  Dr.  O. ,  Peru.  Studien  und  Erlebnisse. 
Nr.  381—390  von  OreU  FüSli's  Wanderbildern.  Zürich 
'16,   ürell  Füßli.   —    5   M. 

Verhandlungen  der  außerordentlichen  Tagung  der  Deutschen 
Vereinigung  für  Krüppellürsorge  E.  V.  im  Reichstagsgebäude 
am    7.    hebruar    1916.      Leipzig  '16,  L.   VoB.    -     3,20  M. 

Riebesell,  Dr.  P.,  Die  mathematischen  Grundlagen  der 
Variations-  und  Vererbungslehre.  Leipzig  und  berlin  '16, 
B.  G.  Teubncr.  —  80  Pf. 

Roh  berg,  A.,  Theorie  und  Pra.xis  des  Rechenschiebers. 
Ebenda.  —  80  Pf. 

Systematisches  Verzeichnis  der  Abhandlungen,  welche  in 
den  Schulschriften  sämtlicher  an  dem  Programmaustau.sch  teil- 
nehmenden Lehranstalten  erschienen  sind.  Bearbeitet  von 
Prof.  Dr.  R.  Klufimann.  ^  Band,  1901—1910.  Leipzig- 
Berlin  '16,  B.  G.  Teubner.  —   14  M. 


Inhalt;  V.  Er  eh  m,  Dr.  Absolon's  zoologische  Höhlenforschungen  auf  d 
A.  Perot,  G.  Bigourdan,  F.  Houssay,  Die  mit  dem  Artilleriefei 
(2  Abb.)    S.  53.    —    Bücherbesprechungen:  Brehm's  Tierleben.    IV. 


Balkanhalbinsel.  S.  49.  —  Einzelbetichte : 
zusammenhängenden  akustischen  Phänomene, 
d.    S.   56.    -    Literatur:  Liste  S.   56. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidcnstraße  42,  erbetc 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  4.  Februar  1917. 


Nummer  5. 


Georg  Schweinfurth. 


Zu    seinem    achtzigsten    Geburtstag 
Mötefindt. 


(29.   Dez.    19 16). 


(Nachdruck  verboten.]  Von   HugC 

In  aller  Stille  beging  am  29.  Dezember 
des  soeben  verflossenen  Jahres  Professor  Dr. 
Georg  Schweinfurth  seinen  achtzigsten  Geburtstag. 
Vom  Geschlechte  der  großen  Erforscher  Afrikas, 
der  Nachiigal,  Rohlfs  usw.,  ist  der  jetzt  80jährige 
Georg  Schweinfurth  der  letzte  Überlebende,  der 
Nestor  der  deutschen  Afrikaforschung.  Wir  wollen 
diesen  Anlaß  benutzen,  unseren  Lesern  ein  Lebens- 
bild des  berühmten  Forschungsreisenden  und 
hervorragenden  Botanikers  vorzuführen. 

Schweinfurths  Vorfahren  lassen  sich  väter- 
licherseits nur  bis  zum  Beginn  des  18.  Jahr- 
hunderts nachweisen.  Infolge  der  Verwüstung 
der  Pfalz  sind  auch  die  älteren  Kirchenbücher 
von  Wiesloch  (Großherzogtum  Baden)  zerstört ; 
das  älteste,  heute  dort  noch  vorhandene,  das  erst 
mit  dem  Jahre  1700  beginnt,  nennt  bereits  einen 
Weißgerber  Johann  Jakob  Schweinfurth,  der  sich 
im  Jahre  1708  mit  der  Pastorsiochter  Sibylle 
Margaretha  Ambtin  vermählte.  *)  Von  Wiesloch 
aus  ist  Schweinfurths  Vater  als  Sohn  kinder- 
reicher Eltern  im  Jahre  1809,  vor  der  Konskription 
flüchtend,  nach  Lübeck  und  Riga  gekommen;  in 
Riga  hat  er  sich  dauernd  niedergelassen  und  im 
Jahre  1819  verheiratet.  Im  Jahre  1820  gründete 
er  die  heute  noch  unter  seinem  Namen  besiehende 
Firma  und  betrieb  einen  ausgedehnten  Handel 
mit  importierten  Weinen  nach  dem  Innern 
Rußlands.  Der  Großvater  von  Schweinfurths 
Mutter,  Martin  Mauer,  war  auch  aus  Deutschland 
(Stendal)  nach  Riga  eingewandert.  Als  jüngstes 
Kind  dieser  Eltern  wurde  Georg  Schweinfurth 
am  29.  Dezember   1836  in  Riga  geboren. 

In  dem  heute  heiß  umkämpften  Riga  verlebte 
Georg  Schweinfurth  seine  Jugendjahre.  Als  Knabe 
hat  er  mehrere  Jahre  in  einer  mitten  in  Livland 
gelegenen  Erziehungsanstalt  verbracht  und  später 
die  oberen  Klassen  des  Rigaischen  Gymnasiums 
besucht.  Wie  gänzlich  anders  sati  es  dort  in  Riga 
zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  ausl  Zu  Schwein- 
furths Jugendzeit  hatte  das  damalige  Riga  kaum 
den  zehnten  Teil  seiner  heutigen  Bewohner.  Trotz 
der  von  vielen  Russen  und  Letten  bewohnten 
Vorstädte  konnte  man  es  als  eine  durchaus  deutsche 
Stadt  bezeichnen,  und  auf  dem  Gymnasium  wurden, 
mit  Ausnahme  des  Russischen,  alle  Fächer  in 
deutscher  Sprache  gelehrt.  Schweinfurth  erinnert 
sich,    im  Kreise    seiner   Eltern  selber    nie  russisch 


sprechen  gehört  zu  haben.  Schweinfurths  Vater 
war  Rußland  gegenüber  von  äußerst  loyaler  Ge- 
sinnung und  hielt  streng  darauf,  daß  sich  auch 
seine  Kinder  einer  solchen  Gesinnung  befleißigten. 

F'rühzeitig  wurde  in  dem  jungen  Schweinfurth 
durch  das  Lesen  von  Reisebeschreibungen  der 
Sinn  für  Forschungen  und  Entdeckungen 
in  entlegenen  Teilen  der  Welt  erweckt. 
Unauffällig  suchte  er  sich  fortan  an  Strapazen  und 
Entbehrungen  aller  Art  zu  gewöhnen,  vornehmlich 
durch  ausgedehnte  Fußwanderungen,  die  er  ohne 
Begleitung  in  den  heimatlichen  (baltischen) 
Provinzen  unternahm,  um  selber  einmal  im  ge- 
reiften Leben  derartige  Entdeckungen  vornehmen 
zu  können.  In  den  Jahren  1857 — 1860  ging  er 
zum  Studium  nach  Heidelberg;  hier  widmete 
er  sich  den  Naturwissenschaften,  vor  allem  der 
Botanik.  In  München  und  Berlin  brachte  er  seine 
Studien  zu  einem  vorläufigen  Abschluß.  1862 
promovierte  er  an  der  Berliner  Universität.  Seine 
Dissertation  —  Plantae  quaedam  niloticae, 
quas  in  itinere  cum  divo  Adalberto  libero  barone 
de  Barnim  facto  collegit  RobertusHartmann. 
Berlin  1862  —  zeigt  ihn  uns  zum  ersten  Male 
auf  dem  Gebiet,  dem  er  später  seine  Lebensarbeit 
widmen  sollte,  in  der  Botanik  Afrikas,  vor  allen 
Dingen  Ägyptens.  Aus  den  Berliner  Jahren 
stammen  einige  andere  botanische  .'arbeiten, 
auf  welche  die  heutige  F"orschung  noch  immer 
gern  zurückgreift;  ich  nenne  von  ihnen  nur  den 
„Versuch  einer  Vegetationsskizze  der  Umgegend 
von  Straußberg",  der  von  einer  prächtigen  Karte 
begleitet  ist  (Verhandlungen  des  botanischen  Ver- 
eins für  Brandenburg.  III  — IV.  1861.  S.  91  — 126). ') 

\'on  Heidelberg  aus  hatte  Schweinfurth  wieder 
allein  und  zu  P'uß  die  Insel  Sardi  nie  n  pflanzen- 
sammelnd durchzogen  und  dort  in  einer  ihm 
fremden  Welt  seine  Leistungsfähigkeit  erprobt. 
In  jene  Jahre  fällt  auch  seine  Besteigung  des 
Großglockners  (vgl.  Carinthia  XLVIII.  Klagenfurth 
1858.' S.  41). 

Als  Schweinfurth  1862  seine  Studien  beendet 
halte,  war  sein  brennendster  Wunsch,  eine 
größere  Studienreise  nach  Afrika  zu 
unternehmen,  und  das  Land,  das  von  jeher 
das  Ziel  seiner  Wünsche  gewesen  war  und  dessen 
botanischer  Erforschung  er  sich  in  den  letzten 
Jahren  gänzlich  gewidmet  hatte,  aus  eigener  An- 
schauung kennen  zu  lernen.     Sein  Vater  war   in- 


')  Vgl.  hierzu  Schweinfurt 
rühmte  Autoren  des  Verlages 
Brockhaus   1914.    S.  76. 


Selbstbiographie    in    ,,Be- 
.    A.    Brockhaus",    Leipzig. 


>)  Vgl.    in 
Briefe,  Aufsatz 


übrigen    Georg  Schweinfurth ,    Veröffentlichte 
und  Werke   1860—1916.     Berlin  1916. 


58 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  S 


zwischen  verstorben;  seine  Mutter  willfahrte  den 
Plänen  ihres  Sohnes  und  schenkte  ihm  loooo  Rubel. 
So  betrat  er  am  26.  Dezember  1863  zum 
ersten  Male  afrikanischen  Boden  in 
Alexandria.  Er  hatte  sich  die  botanische  Er- 
forschung der  Nilländer  und  der  benachbarten 
Gebiete  als  das  zu  verfolgende  Ziel  gesteckt.  Diese 
erste  Reise  ins  Unbekannte  brachte  zahlreiche 
Stichproben  der  Forschung  zustande.  Die  un- 
erforschten Gebirge  an  der  Küste  des  Roten 
Meeres  zogen  Schweinfurth  vor  allen  Dingen  an. 
Besonders  war  es  das  Gebiet  der  unabhängigen 
Bischarin,  welches  seine  Neugierde  erregte.  Das 
Land  zwischen  Nil  und  Meer  wurde  wiederholt 
durchwandert,  als  erster  Europäer  bereiste  er  die 
Küsten  von  Nubien.  An  der  untersten  Terrasse 
des  abessinischen  Hochlandes  genoß  er  den  siillen 
Zauber  der  afrikanischen  Natur,  das  Rote  Meer 
befuhr  er  auf  einer  Barke.  Dann  zog  er  von 
Suakin  landeinwärts  nach  Kassala  und  nach  Galla- 
bat,  wo  er  die  Regenzeit  verlebte  und  von  wo  aus 
er  später  auf  dem  Rückwege  über  Sennar  1866 
nach  Chartum  zurückgelangte.  Im  Sommer  1866, 
zur  selben  Zeit,  als  die  Schlacht  von  Königgrätz 
geschlagen  wurde,  war  er  auf  der  Heimreise  von 
Wien  aus  zu  seinen  Angehörigen  begriffen. 

Schon  diese  erste  Reise  zeitigte  zahlreiche 
wichtige  Ergebnisse  für  die  Pflanzengeographie. 
Ein  prachtvolles  Herbar  war  zunächst  der  heim- 
getragene Lohn  seiner  Mühen.  Außerdem  wurden 
zahlreiche  Beiträge  zur  Vervollständigung  des 
Kartenbildes  der  durchreisten  Gegenden  gewonnen, 
und,  auf  der  Reise  nach  Kassala,  Maman,  die 
alte  Gräberstadt  der  Bega,  entdeckt.  Die  Ergeb- 
nisse dieser  ersten  Reise  haben  in  wissenschaft- 
lichen Kreisen  Schvveinfurths  Namen  weithin  be- 
kannt gemacht.  Welch  hohes  Ansehen  er  genoß, 
zeigt  sich  darin,  daß  er  zur  Mitarbeit  an  der 
von  Ascherson  unter  der  Mitwirkung  zahl- 
reicher anderer  herausgegebenen  Flora 
Äthiopiens  (Berlin  1867)  herangezogen  wurde 
und  dabei  die  wichtigste  Aufgabe  erhielt.  Daneben 
veröffentlichte  ereinegroßeAnzahl  kleinerer 
Abhandlungen  und  Aufsätze  in  der  Zeit- 
schrift für  allgemeine  Erdkunde  in  Berlin,  in  der 
Linnäa,  in  den  Verhandlungen  der  k.  k.  botanischen 
Gesellschaft  in  Wien,  in  Petermanns  geographi- 
schen Mitteilungen;  in  letzterer  Zeitschrift  finden 
sich  auch  seine  ausführlichen  Reiseberichte. 

Doch  nicht  lange  hielt  es  Schweinfurth  in 
seiner  Heimat  aus;  er  trug  sich  mit  groß- 
zügigen Plänen  zur  Erforschung  der 
zum  größten  Teil  noch  u  n  bekann  ten  Ge- 
biete am  oberen  Nil.  Zur  Erfüllung  dieser  Pläne 
wandte  er  sich  1867  an  die  von  der  Berliner 
Akademie  der  Wissenschaften  verwaltete  „H  u  m  - 
boldtstiftung  für  Natur forschung  und 
Reisen",  und  von  dort  aus  wurden  ihm  —  nach 
erfolgreichem  Wettbewerb  mit  anderen  —  die 
während  der  Dauer  von  fünf  Jahren  verfügbaren 
Fonds  der  Humboldtstiftung  zur  Verfügung  ge- 
stellt.    Seine  Aufgabe    betraf  die    botanische    Er- 


forschung des  Stromgebietes  des  Bahr-el-Ghasel, 
also  der  westlich  des  oberen  Nils  gelegenen  Länder 
und  der  nach  dem  Kongo  sich  senkenden  Wasser- 
scheide; daneben  sollten  auch  geographische  und 
ethnographische  Forschungen  im  Auge  behalten 
werden. 

Im  Jahre  1868  trat  Schweinfurth  diese  zweite 
Forschungsreise  an.  Seitens  der  ägyptischen 
Regierung  wurde  seinem  Unternehmen  nachdrück- 
lichst Vorschub  geleistet;  Schweinfurth  gelangte 
dadurch  bei  den  im  Forschungsgebiet  tätigen 
Chartumer  Elfenbeinhändlern  zu  derartigem  An- 
sehen, daß  alle  in  Liebenswürdigkeiten  gegen  ihn 
wetteiferten  und  in  den  Niederlassungen  der  Be- 
fehlshaber die  bewaffneten  Wanderscharen  mit- 
einander um  den  Vorzug  stritten,  seinen  Plänen 
dienlich  sein  zu  dürfen.  Statt  ihn  finanziell  aus- 
zubeuten, wie  das  sonst  der  Fall  war,  lieferten  sie 
ihm  kostenfrei  Träger  und  Proviant,  und  in  den 
Stationen  wurde  ihm  ausgiebige  Gastfreundschaft 
gewährt.  In  Chartum  gelang  es  ihm,  mit  dem 
libyschen  Großhändler  Ghattas  einen  Vertrag  ab- 
zuschließen, der  ihm  gestattete,  sich  einer  1869 
nach  dem  Gazellenfluß  abgehenden  Expedition 
anzuschließen.  Am  5.  Januar  1869  brach  er  von 
Chartum  auf.  Er  durchstreifte  die  Gebiete  der 
Dinka,  Dschur  und  Bongo  und  unternahm  dann 
eine  Rundtour  durch  das  Gebiet  zwischen  den 
Dschur  und  Bahr-el-Dschebel.  Im  Januar  1870 
betrat  er  das  Gebiet  der  NiamNiam,  durchzog  deren 
Land  und  besuchte  dann  das  Gebiet  der  Monbutlu, 
wo  er  mit  dem  Zwergvolk  der  Akka  bekannt  wurde. 
Auch  entdeckte  er  auf  der  Reise  durch  das  Land  der 
Monbuttu  den  Fluß  Uelle.  Nach  Beendigung  der 
wichtigsten  Abschnitte  dieser  Reise,  nach  dem 
gegen  Süden  bis  ins  Land  der  Monbuttu  gerichte- 
ten Vorstoß,  wurde  er  durch  eine  Feuersbrunst 
fast  seiner  ganzen  Habe  beraubt;  die  Sammlungen 
waren  zu  gutem  Glück  schon  auf  dem  Wege 
nach  Europa.  Nach  gefahrvollem  Rückwege  durch 
meist  unbekannte  Länder  traf  er  am  27.  Juli  1871 
in  Chartum  ein.  Im  Frühjahr  1872  kehrte  er 
nach  Deutschland  zurück. 

In  Berlin  wurde  Schweinfurth  bei  der  Rück- 
kehr von  seiner  zweiten  Forschungs- 
reise von  der  Gesellschaft  für  Erdkunde,  von 
seinen  zahlreichen  Freunden  und  von  seinen  aka- 
demischen Gönnern  der  wärmste  und  ehren- 
vollste Empfang  zuteil.  Mit  lebhaftem  In- 
teresse nahm  die  ganze  wissenschaftliche  Welt 
Europas  an  seinen  Entdeckungen  Anteil.  Besondere 
Beachtung  fanden  seine  Reiseergebnisse  in  Eng- 
land. In  der  zu  Brighton  tagenden  „British 
Association"  hatte  Stanley,  der  vor  kurzem  den 
verschollenen  Livingstone  gefunden  hatte,  dessen 
Ansicht  eifrigst  verteidigt,  daß  der  Lualaba  nord- 
wärts dem  Gazellenfluß  zuströme.  Stanley  ver- 
suchte damit  den  Nachweis  zu  liefern,  daß  von 
Livingstone  nunmehr  die  wahre  Nilquelle  fest- 
gelegt sei.  Dem  aber  widersprach  aufs  entschie- 
denste Grant,  der  Reisegenosse  von  Speke,  und 
er  bewies,  daß  diese  Hypothese  infolge  der  durch 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


59 


Schweinfurth  gemachten  Entdeckung  eines  sich 
mit  verkehrter  Stromrichtung  dazwischen  ein 
schaltenden  Flusses,  des  Uelle,  durchaus  unhalt- 
bar geworden  sei.  Vom  grüßen  Kongo,  dessen 
Festlegung  auf  unseren  Karten  in  der  Folge  Stan- 
ley zum  größten  Enideckungsreisenden  Afrikas 
stempeln  sollte,  hatte  man  damals  noch  keine 
Ahnung. 

In  Berlin  arbeitete  Schweinfurth  in  den  folgenden 
zwei  Jahren  sein  berühmtes  Werk  „Im  Herzen 
von  Afrika"  aus,  das  im  Verlage  von  Brock- 
haus in  Leipzig  im  Jahre  1874  in  zwei  Bänden 
erschien.  Der  Erfolg  war  ein  ungeahnter.  Die 
schlichte  Art,  in  der  Schweinfurth  in  diesem  Buche 
von  seinen  Erlebnissen  berichtete,  verschaffte  ihm 
einen  ungeheuren  Leserkreis.  Sehr  rasch  war  die 
deutsche  Auflage  vergriffen.  1878  erschien  eine 
gekürzte  Auflage  in  emem  Bande.  Übersetzungen 
in  alle  möglichen  Sprachen  folgten:  1S74  erschien 
in  London  eine  englische  Übersetzung  von  Ellen 
E.  F"rewer,  es  folgte  1875  eine  französische  und 
eine  italienische  Übersetzung,  1876  eine  zweite 
französische  Ausgabe,  1877  sogar  eine  dritte.  Als 
Kuriosum  darf  wohl  auch  die  türkische  Über- 
setzung angeführt  werden,  die  in  einem  starken  und 
illustrierten  Bande  zu  Konstantinopel  im  Jahre  1875 
erschien.  Durch  das  Erscheinen  dieses  Buches 
erlangte  Georg  Schweinfurths  Name  in  Europa 
eine  Weltberühmiheit.  An  das  Erscheinen  des 
Buches  schlössen  sich  zahlreiche  wissenschaft- 
liche Ehrungen  an.  So  erhielt  er  z.  B.  von 
der  Londoner  geographischen  Gesellschaft  die 
goldene  Medaille  zuerkannt,  wie  die  Begleit- 
urkunde sagt,  auf  Grund  der  langjährigen  bota- 
nischen Forschungen  im  Nilgebiet,  der  Fe^t^tellung 
der  südwestlichen  Begrenzung  des  Nilbeckens  und 
der  Entdeckung  des  Uelle  jenseits  dieser  Wasser- 
scheide, dann  auch  der  Auffin^iung  und  Beschrei- 
bung des  Zwergvolkes  der  Akka,  als  Bestäiigung 
der  alten  Pygmäenansicht,  und  auf  Grund  seines 
Werkes  „Im  Herzen  von  Afrika". 

1875  erschien  in  dem  Verlage  von  Brockhaus 
in  Leipzig  noch  ein  zweites  Werk  „Art es 
africanae.  Abbildungen  und  Beschreibung 
von  Erzeugnissen  des  Kunstfleißes 
zentralafrikanischer  Völker".  Diesem 
Werke  war  die  Aufgabe  gesteckt,  die  reichen 
völkerkundlichen  Sammlungen  Schweinfurths  der 
Öffentlichkeit  zu  erschließen.  Damit  war  das 
Werk  von  vornherein  nur  für  die  Fachwissenschaft 
bestimmt,  die  auch  noch  heute  nach  mehr  als 
40  Jahren  immer  gern  darauf  zurückgreift.  Aus 
derselben  Zeit  stammen  weiter  eine  Reihe  von 
geographischen  Arbeiten  und  trefflichen  Karten 
in  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  in 
Berlin,  in  Petermann's  geographischen  Mitteilungen 
und  im  Globus,  von  völkerkundlichen  Studien  in 
der  Zeitschrift  für  Ethnologie  und  in  den  Verhand- 
lungen der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft. 
Einige  zoologische  Beobachtungen  finden  sich  im 
Globus  und  in  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft 
für  Erdkunde  zu  Berlin  mitgeteilt.    Auch  auf  dem 


Gebiete  der  Li  n  gu  ist  i  k  hat  er  umfangreiche 
Studien  gemacht,  die  er  einem  Ergänzungshefte 
der  Zeitschrift  lür  Ethnologie  (IV,  1872)  unter  dem 
Titel  ..Linguistische  Ergebnisse  einer  Reise 
nach  Zentralafrika"  niedergelegt  hat.  Einige  Bei- 
träge zur  Archäologie  und  alten  Geographie 
wurden  in  Petermann's  geog»aphischen  Mitteilungen 
abgedruckt.  Außerdem  brachte  die  Kölnische 
Zeitung  zahlreiche  Berichte  über  seine  Reisen, 
über  Politik  und  Koloniales.  Nicht  zu  vergessen 
ist  schließlich  auch  die  große  Reihe  von  bota- 
nischen Arbeiten  über  das  auf  .»-einen  Forschungs- 
reisen gewonnene  Material,  die  sich  vor  allen 
Dingen  in  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für 
Erdkunde  zu  Berlin,  im  Bulletin  de  rinstilut  de 
l'Egypte,    in    der    botanischen    Zeitschrift    finden. 

Eine  Reise  von  gleicher  Ausdehnung  hat 
Schweinfurth  später  nicht  wieder  unternommen. 
Neue  kürzere  Forschungsreisen  folgten. 
Im  Winter  1873  bis  Frühjahr  1874  war  Schweinfurth 
mit  der  topographischen  und  botanischen  Erfor- 
schung der  Oase  El  ■  C  hargeh  in  der  libyschen 
Wüste  beschäftigt.  Im  Wmter  1874/75  erging 
darauf  von  dem  Chedive  Ismail  der  Ruf  an 
Schweinfurth,  in  Kairo  ein  geographisches 
Institut  für  Ägypten  zu  begründen.  Schwein- 
furth leistete  1875  diesem  ehrenvollen  Rufe  Folge. 
Außer  der  Bearbeitung  seiner  reichen 
botanischen  Sammlungen  aus  Zentral- 
afrika beschäftigte  ihn  in  dieser  neuen  Stellung 
in  Kairo  vor  allen  Dingen  die  Aufhellung  der 
östlichen  Wüste,  zwischen  Nil  und  Rotem 
Meer,  durch  welches  Gebiet  er  1876 — 1886  zwölf 
größere  Streifzüge  ausführte.  1880  erforschte  er 
nach  einer  fünften  Reise  in  der  arabischen  Wüste 
die  P'lora  des  Libanon.  1881  begleitete  er 
Ri  ebeck  durch  die  arabische  Wüste  nach  Süd- 
arabien und  Sokotra,  wobei  er  vor  allen 
Dingen  die  Flora  dieser  letztgenannten  Insel  er- 
forschte. 1882  untersuchte  er  das  Niltal  von 
Siüt  bis  Assuan,  1883  die  Küste  von 
Marmorica  und  die  geologischen  Verhältnisse 
in  der  Umgegend  von  Kairo,  188485  unter- 
nahm er  wieder  eine  ausgedehnte  Reise  durch 
die  arabische  Wüste,  1887  erforschte  er  mit 
Walt  her  die  geologischen  Verhältnisse 
der  Pyramidenregion,  darauf  weilteer  wieder 
in  der  arabischen  Wüste.  Im  Winter  1888 
und  im  Frühjahre  1889  durchstreifte  er  das  Ge- 
birge Vemens.  1889  endlich  gab  er  seine 
Stellung  als  Vorsitzender  des  Institut  egyptien 
in  Kairo  auf  und  siedelte  nach  Berlin  über. 
Damit  ist  die  Zeit  seiner  großen  Forschungsreisen 
abgeschlossen;  die  zweite  Hälfte  seines  Lebens, 
die  er  abwechselnd  in  Berlin  und  Ägypten  zu- 
brachte, hat  er  zur  Vertiefung  und  Erweiterung 
seiner  Forschungsergebnisse  verwendet. 

In  der  Zeit  dieser  zahlreichen  großen  Reisen 
ist  Schweinfurth  gleichzeitig  literarisch  höchst 
erfolgreich  tätig  gewesen.  Aus  diesen  Jahren 
stammen  zahlreiche  Notizen  über  seine 
Reisen,  eine  Reihe  von  geographischen  Ab- 


6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


h  an  diu  n  gen  mit  trefflichen  Karten,  von  1883 
an  auch  wieder  einige  botanische  Arbeiten, 
die  seit  1873,  wenigstens  auf  literarischem  Gebiete, 
vollständig  in  den  Hintergrund  getreten  waren. 
Sehr  eingehend  hat  er  sich  dann  seit  1882  mit 
den  geologischen  Problem  en  Ägypte  ns, 
vor  allen  Dingen  der*  Nilgege  nd,  beschäftigt; 
zahlreiche  Arbeiten  in  der  Zeitschrift  der  deut- 
schen geologischen  Gesellschaft  und  in  dem  Bulletin 
de  rinstitut  egyptien  geben  von  diesen  emsigen 
Studien  Zeugnis.  Seit  1884  beschäftigte  er  sich 
immer  lebhafter  mit  den  Resten  der  Steinzeit 
von  Ägypten.  1885  gab  er  die  ersten  Funde 
von  der  seitdem  wiederholt  von  ihm  besuchten 
schier  unerschöpflichen  Fundstelle  in  Heluan  be- 
kannt (vgl.  Verhandlungen  der  Berliner  anthropo- 
logischen Gesellschaft  1883.  S.  302  und  die  fol- 
genden Jahrgänge  dieser  Zeilschrift).  Außerdem 
finden  sich  in  denselben  Zeitschriften  einige 
Aufsätze  zur  Archäologie  und  alten 
Geographie  von  Ägypten.  Zu  nennen  sind 
endlich  auch  wieder  die  zahlreichen  Berichte 
in  der  Kölnischen  Zeitung. 

Neben  diesen  zahlreichen  Aufsätzen  und  Ab- 
handlungen stehen  auch  einige  umfangreiche 
Werke,  die  aus  dem  gleichen  Zeitabschnitt  her- 
rühren. So  gab  er  i88q  mit  P.  Ascherson 
eine  „Illustration  de  la  Flore  d'Egypte' 
in  den  Memoires  de  l'Institut  egyptien  ä  Cairo, 
(Band  II.  S.  25 — 260)  heraus,  der  in  demselben 
Jahre  ein  umfangreicher  Nachtrag  folgte  (Eben- 
dort  II.  S.  745—786).  188S  endlich  gab  er  zu- 
sammen mit  Friedrich  Ratzel  die  Reise- 
bücherund Berichte  Emin  Paschas  heraus. 

Auch  von  dem  Augenblick  seiner  dauernden 
Übersiedelung  nach  Berlin  (1889)  an  ist 
Schweinfurth  beinahe  Jahr  um  Jahr  auf  großen 
Reisen  in  Ägypten,  Abessinien,  Tunesien,  Sizilien, 
Frankreich  u.  a.  m.  gewesen.  1890 — 94  weilte  er 
in  Nordabessinien,  zwischen  1895  und  1906  be- 
suchte er  Teile  von  Ägypten,  Abessinien  und 
Tunesien.  Der  Grund,  der  für  seine  dauernde 
Übersiedelung  nach  Berlin  ausschlaggebend  war, 
ist  darin  zu  suchen,  daß  er  jetzt  in  stiller  Ruhe 
die  Ergebnisse  seiner  unzähligen  Reisen  aufarbeiten 
wollte.  So  ist  es  zu  verstehen,  daß  in  diese  Jahre 
seit  1889  die  größte  Zahl  seiner  literarischen  Ar- 
beiten fällt. 

Aus  diesen  Jahren  stammen  zahlreiche  Reise- 
notizen und  geographische  Aufsätze,  das 
treffliche  Kapitel  „Zur  Kenntnis  des  ägyp- 
tischen Landes  und  Volkes"  in  der  fünften 
Auflage  von  Bädeckers  Ägypten  (1902. 
S.  XLIII— LXIV),  zahlreiche  Karten,  darunter  die 
trefflichen  „Aufnahmen  in  der  östlichen 
Wüste  von  Ägypten"  (Berlin  I,  1899— X,  1902). 
Unsere  Aufmerksamkeit  verdient  weiter  eine  große 
Reihe  von  botanischen  Arbeiten,  darunter 
die  Studien  „Über  die  Florengemeinschaft 
von  Südarabien  und  Nordabessinien" 
(Verhandlifngen  der  Gesellschaft  für  Erdkunde 
zu  Berlin    1891.  S.   i — 20)  und  „Ägyptens  aus- 


wärtige Beziehungen  hinsichtlich  der 
Kulturgewächse"  (Verhandlungen  der  Berliner 
anthropologischen  Gesellschaft  1891.  S.  649—669), 
die  umfassende  „Sammlung  arabisc  h- äthio- 
pischer Pflanze  n"  (I.  Bulletin  de  l'Herb.  Boiss. 
II,  Appendice  II.  1894.  S.  i  — 113.  II.  Ebendort 
IV,  App.  IL  1896.  S.  114-266.  III.  Ebendort  VII, 
App.  II.  1899.  S.  267 — 340),  das  in  Gemeinschaft 
mit  G.  Volkens  herausgegebene  Werk  „Liste 
des  plantes  recoltees  par  les  princes 
Demetre  et  Nicolas  Ghika-Comenesti 
dans  leur  voyage  au  pays  des  Somalis" 
(Bukarest  1897)  und  die  in  Gemeinschaft  mit 
Ludwig  Diels  herausgegebene  Studie  „Vege- 
tationstypen aus  der  Kolonie  Er ythräa" 
(Jena  1905).  Zu  nennen  sind  schließlich  einige 
geologische  Arbeiten  und  zahlreiche  Arbeiten 
über  die  Steinzeit  in  Ägypten,  in 
Tunesien  und  Sizilien  in  den  Verhandlungen 
der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  und  in 
der  Zeitschrift  für  Ethnologie,  vor  allen  Dingen  die 
prächtigen  zusammenfassenden  Arbeiten  „Stein- 
zeitliche P'orschungen  in  Oberägypten" 
(Zeitschr.  für  Ethnologie  1904.  S.  766 — 825), 
„Steinzeitliche  Forschungen  in  Süd- 
tunesien" (Ebendort  1907.  S.  139 — 181)  und 
„das  Höhlen  paläolithikum  von  Sizilien 
und  Südtunesien"  (Ebendort  1907.  S.  832 — 915) 
Nicht  zu  vergessen  ist  schließlich  das  für  jeden 
Forscher,  der  sich  mit  der  älteren  Steinzeit  über- 
haupt befaßt,  durchaus  unentbehrliche  „de  utsch- 
französischeWörterverzeichnisderdie 
Steinzeit  betreffenden  Literatur"  (Berlin 
1906),  eine  äußerst  verdienstliche  Arbeit,  die  es 
wirklich  einmal  verdiente,  in  einem  Neudruck  den 
weitesten  Kreisen  derer,  die  sich  mit  der  Er- 
forschung der  älteren  Steinzeit  befassen ,  zu- 
gänglich gemacht  zu  werden.  In  zahlreichen 
Abhandlungen  hat  Schweinfurth  weiter  seine 
Studien  über  Archäologie  und  alte 
Geographie  niedergelegt;  aus  ihrer  großen 
Zahl  greifen  wir  hier  die  treffliche  Studie  „über 
den  Ursprung  der  Ägypter"  (Verhandlungen 
der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  1897. 
S.  263 — 286)  heraus.  Auch  auf  dem  Gebiete  der 
Linguistik  hat  er  eine  umfangreiche  Studie  über 
„Abessinische  Pflanzennamen"  veröffentlicht 
(Anhang  der  Sitzungsberichte  der  K.  Akademie 
der  Wissenschaften  zu  Berlin.  XXXIII,  1893. 
S.  1  —  84),  der  1912  ein  232  Seiten  starkes  Buch  über 
„Arabische  Pflanzennamen  aus  Ägypten" 
folgte.  Hinzuweisen  ist  schließlich  auch  noch 
auf  die  zahlreichen  Notizen  über  koloniale 
Fragen  und  weiter  auf  die  seit  1896  in  der 
Vossischen  Zeitung  erschienenen  zahlreichen  Auf- 
sätze populären  Inhalts;  unser  ihnen  befindet 
sich  so  manch  köstlicher  kleiner  Aufsatz,  der 
eigentlich  nicht  dazu  bestimmt  ist,  der  ewigen 
Vergessenheit  anheimzufallen.  Die  Titel  der 
wichtigsten  dieser  Aufsätze  und  Mitteilungen 
finden  sich  jetzt  in  dem  eingangs  erwähnten 
Schriftenverzeichnis  zusammengestellt;  viel- 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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leicht  kommt  einmal  ein  unternehmungslustiger 
Verleger  auf  den  guten  Gedanken,  die  wichtigsten 
von  diesen  kleinen  Aufsätzen  und  Abhandlungen 
in  einigen  Sammelbändchen  zusammenzustellen. 
Gerade  auf  dem  Gebiet  des  literarischen  Essays 
hat  Schweinfurth  von  jeher  ein  großes  Talent 
entfaltet;  noch  vor  kurzem  erschien  in  den  süd- 
deutschen Monatsheften  eine  neue  fesselnde 
Plauderei  über  das  Thema  „Vom  beliebten 
Deutschen  und  unbeliebten"  (191 5,  S.  769 — 786J. 

Wir  haben  bisher  lediglich  versucht,  einen 
Überblick  über  Schweinfurths  Leben  und  die 
wichtigsten  Hauptmomente  seiner  Tätigkeit  zu 
gewinnen.  Dieses  Bild  bedarf  noch  der  Ergänzung 
und  Vervollständigung  durch  eine  kurze  Darstellung 
seiner  Persönlichkeit,  seiner  äußeren  Erscheinung 
wie  seines  Inneren  Wesens. 

Beginnen  wir  mit  seiner  äußeren  Er- 
scheinung. Eine  sehnige,  hagere  Gestalt  von 
mittlerer  Größe,  ein  mäßig  großes  Haupt,  von 
weißgrauen  Haaren  bedeckt,  ein  von  mehrfachen 
Falten  gefurchtes  Gesicht  mit  scharf  geschnittenen 
Zügen ,  klar  blickende  graue  Augen ,  von  rauh 
entwickelten  buschigen  Brauen  beschattet ,  eine 
hochgewölbte  und  wenig  querfaltige  Stirn  —  so 
sehen  wir  ihn  immer  vor  uns.  Die  straffe,  gerade 
Haltung  seines  Körpers  verbunden  mit  der  ruhigen 
Würde,  die  für  gewöhnlich  über  der  ganzen  Er- 
scheinung liegt,  macht  auf  den  Fremden  unwill- 
kürlich einen  imponierenden  Eindruck. 

Dieser  imponierenden  äußeren  Erscheinung 
entspricht  auch  das  Innere  Wesen.  Mit  reichen 
Gaben  des  Geistes  und  des  Gemütes  ausgestattet 
sehen  wir  Ihn  von  energischer  Willenskraft  be- 
seelt, die  ihn  ein  einmal  ins  Auge  gefaßtes  Ziel 
unweigerlich  erreichen  läßt,  unermüdlich  im  Ar- 
beiten, knapp  im  Bemessen  der  Ruhe,  leidenschaft- 
lich ausdauernd  bei  körperlichen  Anstrengungen, 
ein  Urbild  von  Kraft  und  Lebensenergie.  Mit 
dem  Enthusiasmus  eines  Jünglings  kann  er  sich 
noch  heute  der  großen  wissenschaftlichen  Er- 
rungenschaften freuen :  er  gehört  eben  einer  aus- 
sterbenden Generation  an,  die  vielseitiger  und 
universeller  in  Ihren  Zielen  war  als  die  jetzige. 
Wir  finden  hier  einen  Charakter  vor  uns,  an  dem 
jede  Linie  scharf  und  klar  gekennzeichnet  ist. 
Ehren  und  Auszeichnungen  hat  er  in  seinem  Leben 
nie  erstrebt,  aber  es  konnte  nicht  fehlen,  daß  sie 
ihm  in  reichem  Maße  zuteil  wurden.  Wenn  er 
auch  die  ihm  Fremden  stets  höflich,  ja  sogar  mit 
großer  Liebenswürdigkeit  behandelt,  wenn  er  sich 
den  Wünschen  derselben  stets  zuvorkommend  und 
gefällig  zeigt  —  zunächst  bleibt    er  ihnen  gegen- 


über doch  kühl  und  von  einer  gemessenen  Zurück- 
haltung. Sich  schnell  an  Fremde  anzuschließen 
liegt  ihm  durchaus  fern ;  erst  wenn  er  jemanden 
längere  Zeit  und  genauer  kennen  gelernt  hat,  erst 
wenn  derselbe  Ihm  persönlich  näher  getreten 
Ist,  erst  dann  gestattet  er  ihm  einen  tieferen 
Einblick  in  sein  Inneres  Fühlen;  dann  aber  kann 
er  von  einer  hinreißenden  Liebenswürdigkeit,  von 
einer  herzgewinnenden  Güte  sein.  Wenn  diese 
Charakterzüge  Schweinfurths  naturgemäß  nur 
einem  beschränkten  Kreise  kenntlich  werden,  so 
können  dagegen  auch  ihm  weniger  Nahestehende 
einen  anderen  hervorstechenden  Zug  seines  Wesens 
erkennen:  die  ehrliche  Offenheit  seines  Urteils. 
Es  ist  nicht  Schweinfurths  Art,  ein  abweisendes 
Urteil  in  verbindliche  oder  vermittelnde  F"orm  zu 
kleiden  noch  dort,  wo  ihm  etwas  mißfällt,  an 
Stelle  des  Tadels  ein  zurückhaltendes  und  ab- 
gemildertes L^rtell  abzugeben.  Er  pflegt  im  Gegen- 
teil seine  Ansicht  über  alle  Dinge  frei  und  offen, 
oft  mit  geradezu  verblüffender  Ehrlichkeit  auszu- 
sprechen. So  können  wir  als  die  hervor- 
stechendsten Züge  seines  Charakters 
Offenheit  und  Herzensgüte  bezeichnen, 
neben  denen  andere,  wie  höfliches  Entgegen- 
kommen, Freundlichkeit,  eine  seltene  Fähigkeit 
zu  angenehmen,  geselligen  Verkehr,  ein  köstlicher, 
nie  versagender  Humor  und  ein  zuweilen  sehr 
scharfer  VVitz  mehr  zurücktreten. 

In  den  langen  Jahren  seines  Lebens  hat  sich 
Schweinfurth  zu  einer  festgeschlossenen 
Weltanschauung  emporgearbeitet,  die  Ihm 
auch  geistig  jene  Ruhe  und  Beständigkeit  dauernd 
sichert,  die  als  eine  wesentliche  Grundlage  wahren 
Glückes  anzusehen  ist.  Ihm  ist  vor  allen  Dingen 
jene  Lebensanschauung  zu  eigen,  ohne  welche  ein 
wahres,  dauerndes  Glück  überhaupt  nicht  möglich 
ist,  und  welche  nicht  in  der  Anerkennung  anderer, 
nicht  in  den  äußeren  Lebensverhältnissen  Befrie- 
digung und  Glück  sucht,  sondern  dieselben  ganz 
und  gar  in  sich  allein  und  im  Verkehr  mit  der 
Wissenschaft  zu  finden  weiß. 

Was  Schweinfurth  geschaffen  hat,  wird  im 
Reiche  der  Wissenschaft  fortleben  und  segensvoll 
wirksam  bleiben,  so  lange  das  Menschengeschlecht 
überhaupt  die  Wissenschaft  zu  ergründen  bestrebt 
ist.  Seine  Persönlichkeit  hat  ihm  in  seinen  Freun- 
den und  Verehrern  ein  Denkmal,  dauernder  als 
Erz,  gesichert.  So  wünschen  wir  ihm  denn 
zu  seinem  Festtage,  daß  er  im  Voll- 
besitz seiner  geistigen  Kraft,  frei  von 
Altersschwäche,  Hinfälligkeit  und 
langem  Siechtum  uns  noch  recht  lange 
erhalten  bleiben  möge. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Gegenwärtiger  Stand  der  Meta- 
merentheorie  des  Wirheltierkopfes.  Der  Gedanke, 
dlelnrVVirbertierkörper'  deuthche  Segmentierung 
oder  Metamerie  müsse  auch  am  Kopfe  erkennbar 
sein,  erzeugte  bekanntlich  bei  Oken  und  Goethe 
die  'Wirbehheorie  des  Schädels,  die  man  gänzlich 
verlassen  hat,  seitdem  man  den  knöchernen 
Schädel  auf  der  Grundlage  eines  ungegliederten 
Knorpelschädels  entstehen  sah.  Den  Abschnitten 
des  Gehirns  und  verlängerten  Rückenmarkes, 
meint  Ziegler,  i)  komme  gleichfalls  keine  Be- 
deutung für  die  Frage  der  Kopfsegmentierung  zu, 
sondern  die  in  der  Ontogenie  erscheinenden  Ouer- 
falten  der  Medullarplalte  seien  embryologische 
Gebilde  ohne  vergleichend  anatomische  Bedeutung. 
Vielmehr  lehren'  Amphioxus  und  die  Tunikaten, 
Tiere  mit  deutlicher  Segmentierung  der  Muskulatur 
und  der  Rückenmarksnerven,  doch  mit  unge- 
gliedertem Medullarrohr,  daß  zuerst  die  Muskulatur 
segmentiert  war,  oder  daß  als  erste  segmental 
angeordnete  Gebilde  die  paarigen  Aussackungen 
der  Leibeshöhle  entstanden,  die  sogenannten  Ur- 
segmente,  die  embryologisch  die  Muskelsegmente 
liefern.  Die  Kiemenspalten  liegen  jede  zwischen 
zwei  Ursegmenten,  so  daß  die  Branchiomerie,  wo 
ursprüngliche  Verhältnisse  herrschen,  der  Meta- 
merie des  Kopfes  entspricht.  Ziegl  er  verteidigt 
diese  seine  Ansicht  namentlich  gegen  die  von 
Anton  Dohrn,  die,  neuerdings  durch  Gast 
hochgehalten,  vor  dem  vordersten  Kiemenbogen, 
dem  "kieferbogen,  noch  eine  Mehrzahl  von  Seg- 
menten sucht,  und  stellt  etwa  folgende  hier  ge- 
kürzt wiedergegebene  Grundgedanken  auf,  die  in 
den  wesentlichsten  Punkten  den  Beifall  der  Mehrzahl 
finden  dürften. 

Von  vorn  nach  hinten  das  erste  Segment  ist 
das  Prämandibularsegment,  das  bei  Selachier- 
embryonen  die  Prämandibularhöhle,  ein  von  der 
Leibeshöhle  völlig  abgeschnürtes  Ursegment,  um- 
schließt und  den  ganzen  vorderen  Kopf  bis  aus- 
schließlich Mund  und  Kiefersegment  umfaßt.  Das 
Auge,  eine  spätere  Bildung,  liegt  größtenteils  auf 
diesem  Segment;  daher  bilden  sich  die  meisten 
Augenmuskeln,  die  vom  Oculomotorius  inner- 
vierten, aus  ihm. 

Das  zweite  Segment  ist  das  Kiefersegment. 
Es  liefert  dem  Augapfel  zwei  von  seinen  sechs 
Muskeln,  den  Oblic^uus  superior  und  den  Rectus 
externus.  Es  umschließt  die  mit  der  Leibeshöhle 
kommunizierende  erste  oder,  mh  Einrechnung  der 
abgeschnürten  Prämandibularhöhle,  zweite  Aus- 
sackung der  Leibeshöhle,  die  Mandibularhöhle. 

Das  Spritzloch  der  Haie,  die  ursprünglich  erste 
Kiemenspalte,  trennt  dieses  Segment  vom  dritten, 
dem  Hyoidsegment.  Auf  diesem  liegt  das  Ohr- 
bläschen. Wiederum  eine  Kiemenspalte  trennt 
das    Hyoidsegment    vom    vierten,    dem   Glosso- 


')  H.E.  Ziegler,  Das  Kopfproblem. 
i.  48,  1916,  S.  449—465- 


pharyngeussegment,  und  in  gleicher  Weise  folgen 
als  5.-7.  Segment  drei  Vagussegmente.  Dem 
letzten  von  ihnen  folgt  die  letzte  Kiemenspahe 
der  pentanchen  Haie,  d.  h.  derjenigen  mit  fünf 
Kiemenspalten,  und  das  Auftreten  einer  sechsten 
und  siebenten  Kiemenspalte  bei  manchen  Haien 
erachtet  Ziegler  für  eine  sekundäre  Vermehrung 
gleichartiger  Organe,  vergleichbar  entsprechenden 
Entwicklungen  bei  den  Zähnen  der  Wale,  Rippen 
der  Schlangen,  Segmenten  der  Myriapoden  und 
schließlich  der  Vermehrung  der  Kiemenspalten 
bei  dem  Myxinoiden  Bdellostoma  und  bei  Am- 
phioxus. 

Wie  schon  teilweise  die  Namen  der  Segmente 
andeuten,  gehören  zu  jedem  bestimmte  Gehirn- 
nerven mit  ihren  Ganglien,  und  zwar  sind  ur- 
sprünglich für  jedes  Segment  ein  sensibler  Nerv 
mit  Ganglion  und  ein  motorischer  Nerv  an- 
zunehmen, wie  sie  bei  jedem  Körpersegment  vor- 
handen sind ;  man  findet ;  für  das  erste  Kopfsegment, 
etwas  modifiziert,  den  Ramus  ophthalmicus  pro- 
fundus des  Nervus  trigeminus  mit  dem  Ciliar- 
ganglion  und  den  Nervus  oculomotorius,  fürs 
zweite  den  Trigeminus  mit  Trigeminusganglion 
und  den  Trochlearis,  für  das  dritte  den  Facialis- 
Acusticus  mit  seinen  Ganglien,  im  vierten  den 
Glossopharyngeus  mit  Ganglion  und  im  5.-7.  je 
einen  Vagusast  mit  Ganglion. 

Alle  erwähnten  Bestandteile  sind  bekanntlich 
bei  ausgebildeten  und  ganz  besonders  bei  warm- 
blütigen Wirbehieren  hochgradig  durcheinander- 
geschoben, während  man  sie  bei  Selachierembryonen 
noch    in   segmentaler    Anordnung    finden    konnte. 


Der  Kampf  eines  Staates  gegen  die  Moskitos. 
Vor^^ei  Jahren"  ist  im  amerikanischen  Staate 
New  Jersey  ein  Gesetz  in  Kraft  getreten,  das 
ausschließlich  zur  Ausrottung  der  Moskitos  er- 
lassen worden  ist,  und  damit  hat  eine  Bekämpfung 
der  stechenden  Insekten  begonnen,  wie  sie  in 
diesem  Maße  wohl  noch  nicht  dagewesen  ^  ist. 
Trotz  der  Nähe  von  Riesenstädten  wie  New  York 
und  Philadelphia  blieben  die  Sommerbesucher 
den  Küstenplätzen  fern,  weil  die  stechenden  In- 
sekten den  Aufenthalt  dort  unerträglich  machten, 
und  aus  dem  gleichen  Grunde  lagen  weite  Land- 
striche brach  oder  waren  unbewohnt.  Nach  der 
amerikanischen  Statistik  sind  rund  5  '%  des  Staats- 
gebietes von  New  Jersey  mit  Sümpfen  bedeckt, 
die,  wie  sich  von  selbst  versteht,  für  Moskitos  — 
darunter  begreift  der  Amerikaner  alle  fliegenden 
und  stechenden  Insekten  —  ideale  Brutstatten 
bilden.  Das  neue  Gesetz  gab  dem  Staatsentomo- 
logen von  New  Jersey,  Dr.  Thomas  J.  Headley, 
Vollmacht,  die  Insektenbrutstätten  mit  allen  er- 
denklichen Mitteln  zu  beseitigen,  und  mittlerweile 
hat  diese  Arbeit  erhebliche  Fortschritte  gemacht, 
wie    die  Kärtchen   zeigen.     Von   vornherein   gab 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


63 


es  zwei  Wege,  die  Insektenbrutstätten  unwirksam 
zu  machen:  man  konnte  die  Sümpfe  trocken- 
legen oder  durch  Bedecken  des  Wassers  mit  luft- 
undurchlässigen Stoßen  für  die  Larven  unbewohnbar 
machen.  Bei  großen  Sumpfflächen  hat  man  den 
ersten,  bei  den  nach  tausenden  zählenden  kleineren 
Flächen  stehenden  Wassers  den  zweiten  gewählt. 
Der  nordwestliche  Teil  von  New  Jersey,  der  ge- 
birgig ist ,    weist  fast    gar  keine  Sümpfe  auf;    die 


&---3  Gebiete  mit  Sümpfen. 
i^H  Gebiete  mit  Salzsümpfen. 

Abb.   I.     New  Jersey  vor  dem  Mückenkriege. 
Abb.  2.     New  Jersey  nach  3jäl]r.  Mückenkriege. 

nördlichen  Küstengebiete  —  von  Norden  nach 
Süden  die  Bezirke  (Counties)  Bergen,  Essex,  Union 
und  Middlesex  —  haben  große  Salz-  und  Süß- 
wassersümpfe, dann  folgt  in  der  Mitte  des  Staats- 
gebietes ein  waldreiches,  fast  sumpffreies  Gebiet, 
und  die  Bezirke  Ocean,  Atlantic,  Cumberland  und 
Cape  May,  die  der  atlantischen  Küstenebene  an- 
gehören, sind  überreich  mit  Sümpfen  beider  Art 
gesegnet.  Es  sind  nun  gewaltige  Systeme  von 
Entwässerungsgräben  durch  besondere  Maschinen 
gezogen  worden.  Sie  sind  durchschnittlich  25  cm 
breit,  manche  auch  75  cm,  und  haben  eine  Tiefe 
von  75  cm.  In  Atlantic  allein  sind  rund  lOOO  km 
solcher  Gräben  gezogen  worden,  und  im  ganzen 
Staate  bisher  mehr  als  doppelt  soviel;  die  Arbeit 
ist  aber  noch  lange  niciit  beendet.  \'iele  der 
Sumpfgebiete  lagen  unterhalb  des  Meeresspiegels, 
und  in  diesem  Falle  war  die  Eindeichung  nötig. 
Gleichzeitig  mit  den  Gräben  entstanden  große 
Pumpwerke,  die  das  Wasser  in  Bewegung  setzten 
und  fortschafften.  Besonders  schwierig  war  die 
Unwirksammachung  der  kleinen  stehenden  Ge- 
wässer, deren  Lage  zunächst  gesucht  werden 
mußte,    wenn    man   sie    aus   dem   Auftreten   der 


Moskitoplage  erschlossen  hatte.  Zu  diesem  Zwecke 
verfügt  jeder  Bezirk  über  Fachleute,  die  zur  Nacht- 
zeit in  den  moskitoreichen  Gegenden  die  Moskitos 
fangen,  mit  Blausäuredämpfen  töten,  dann  die 
Beute  nach  Arten  einteilen  und  schließlich  nach 
dem  Befunde  entscheiden,  ob  ein  Salzsumpf  oder 
ein  Süßwassersumpf  in  der  Nähe  sein  muß. 
Überwiegt  in  dem  Fange  beispielsweise  Culex 
pipiens,  die  gemeine  Stechmücke,  so  ist  das  Brut- 
gebiet ein  gewöhnlicher  Sumpf  überwiegt  dagegen 
Aedes  solicitans,  deren  Larven  im  Salzsumpf  leben, 
so  ist  ein  solcher  aufzusuchen.  Es  sollen  auf 
diese  Weise  hunderttausende  von  Moskitobrut- 
stätten, von  größeren  Sümpfen  bis  zur  Regen- 
tonne, ermittelt  und  unschädlich  gemacht  worden 
sein.  Die  Anwendung  von  Petroleum  zur  Be- 
deckung stehender  Gewässer  haben  die  einzelnen 
Arbeitsausschüsse  aufgegeben,  weil  dessen  Wirkung 
nur  etwa  2  Wochen  anhält.  Statt  dessen  wird 
eine  nicht  näher  bezeichnete  Lösung  verwandt, 
die  etwa  6  Wochen  lang  wirksam  sein  soll. 
Bisher  ist  für  den  Moskitokrieg  ein  Betrag  von 
mehreren  Millionen  Dollars  aufgewandt  worden. 
Dafür  soll  freilich  nach  den  Angaben  von  Sach- 
verständigen der  Wert  des  Grund  und  Bodens 
um  mehr  als  eine  Milliarde  Dollars  gestiegen  sein. 

H.  P. 


Paläontologie.  „Über  Gastropoden"  handelt 
W.  Deecke's  IX  und  letzter  Aufsatz  seiner  über- 
aus anregenden  paläontologischen  Betrachtungen 
(Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie  und 
Paläontologie,  Beil.-Bd.  40,   1916). 

Die  Schneckenschale  gewährt  Schutz  gegen 
Feinde  oder  Verletzungen  des  Weichkörpers. 
Wegen  der  freien  Ortsbewegung  muß  die  Schale 
so  gebaut  sein,  daß  sie  dem  Tiere  nicht  zum 
Hindernis  wird.  Abgesehen  von  dem  alten 
Stamme  der  Chitoniden  hat  Patella  das  einfachste 
Gehäuse  —  ein  symmetrischer  Napf,  der  mit  dem 
Wachsen  des  Tieres  größer  wird  unter  schwacher 
Krümmung  der  Wirbelpartie.  Die  seil  dem  Silur 
bekannten  Patellen  sitzen  zumeist  fest  und  leben 
von  Algen  auf  Steinen  oder  ihnen  zugetriebener 
Nahrung,  weshalb  sie  an  bewegtes  Wasser  gebunden 
sind.  Chitoniden  und  Patellen  sind  bilateral 
symmetrisch;  dasselbe  gilt  auch  von  den  Bellero- 
phonten  die  zu  den  Pleurotomarien  gestellt  werden. 
Die  Bellerophonten  lebten  zumeist  auf  paläozoischen 
Riffen  oder  in  Crinoidenrasen  oder  auf  mergeligem 
Grunde  zusammen  mit  einer  reichen  Lebewelt. 
Aus  den  Verbreiterungen  an  der  Mündung  .schließt 
Deecke,  daß  sie  gekrochen  sind.  Auffallend  ist 
die  morphologische  Ähnlichkeit  von  Bellerophonten 
und  den  zu  den  Cephalopoden  gehörenden 
Goniatiten,  welche  beide  dieselbe  starke  Aufrollung 
und  die  gleich  gering  entwickelte  Skulptur  auf- 
weisen. Ebenso  gleichen  die  Porcellien  des 
Unterkarbons  rein  äußerlich  manchen  ober- 
devonischen Clymenien.  Es  scheint,  als  ob  die 
paläozoischen  Ammoniten  und  die  Bellerophonten 


64 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


kräftige  Konkurrenten  waren.  In  der  Trias 
starben  die  Bellerophonten  aus  und  es  entfalteten 
sich  dafür  die  Ammoniten  mit  ihrer  durch  die 
Luftkammern  beweglicheren  Schale    immer  mehr. 

Warum  die  Schneckenschale  die  Gestalt  einer 
unsymmetrischen  Spirale  annimmt,  ist  sehr  schwer 
zu  sagen;  jedenfalls  ist  sie  uralt,  denn  sie  begegnet 
uns  bereits  im  Cambrium.  Sie  muß  mit  dem 
Wachsen  genetisch  eng  verbunden  sein,  denn  wir 
treffen  sie  ebenso  bei  den  Serpuliden  (Würmer) 
und  den  Muscheln  (Requienia,  Exogyra),  anderer- 
seits muß  sie  mit  der  kriechenden  Bewegung  in 
Beziehung  stehen,  da  wahrscheinlich  die  Bewegung 
die  Verlagerung  auf  eine  Seite  hervorrief  und 
damit  den  Gesamtbau  des  Tieres  veranlaßte. 

Die  Schale  gewährt  dem  Tiere  Schulz  vor 
Zerstörung,  deshalb  muß  sie  dick  und  fest  sein. 
Massige  Schalen  zeigen  die  in  der  Wellenregion 
lebenden  beweglichen  Formen;  in  der  Jetztzeit 
die  Strombus-,  Cassis-,  Terebra-,  Mitra-,  Conus- 
Cypraea-Arten,  früher  ähnliche  Formen  in  der 
Kressenberg-Fauna,  die  Actaeonellen  und  Nerineen 
in  den  Hippuritenriffen.  Frei  bewegliche  Schnecken 
resorbieren  vielfach  die  inneren  Windungen,  damit 
die  Schale  nicht  zu  schwer  wird.  (Conus, 
Cypraea).  Schnecken,  die  auf  weichem  Boden 
oder  in  größerer  Tiefe  leben,  haben  ein  mäßig 
starkes  Gehäuse.  In  Tonen  kommen  kleine  und 
leichte  Gehäuse  vor. 

Das  Gehäuse  bietet  auch  Zuflucht  vor  Feinden, 
vor  allem  vor  Seesternen,  Fischen,  Krebsen  und 
vielleicht  auf  dem  Boden  kriechenden  Cephalopoden. 
Die  erst  in  jüngeren  Formationen  auftretenden 
Krebse  sind  gefährliche  Räuber  und  wohl  schuld 
daran,  daß  die  Schneckenschalen  gegenüber  dem 
Paläozoikum  dickschaliger  sind.  Auffallend  ist 
die  schwache  Skulptur  der  meisten  paläozoischen 
Schnecken.  Dornen  und  Stacheln,  wie  sie  Murex 
zeigt,  fehlen  ganz.  Mit  dem  Aufblühen  der  Krebse 
mußte  die  Schneckenschale  durch  starke  Rippen, 
Knoten  und  Dornen  geschützt  werden.  Da  die 
Schale  in  der  Nähe  der  Mundränder  zart  und 
zerbrechlich,  sowie  leicht  angreifbar  ist,  ist  sie 
von  da  ab  verdickt  und  versteift. 

Gegen  ein  Eindringen  zum  Weichkörper 
schützt  oft  ein  flach  kegelförmiger  oder  ebener 
Deckel,  welcher  der  Mündung  angepaßt  ist  und 
mit  ihr  Spiral  wächst.  Turmförmige,  Spiral  ge- 
drehte Deckel  kommen  bei  Euomphalus  aus  dem 
Obersilur  vor,  heute  noch  bei  Solarium  und 
Torinia. 

Die  Schale  wird  vom  Mantel  erzeugt  und  ge- 
tragen. Auffallend  ist  es,  wie  im  Laufe  der  Erd- 
geschichte bei  den  verschiedensten  Gruppen  immer 
wieder  dieselben  Formen  entstehen.  Sieht  man 
von  der  Skulptur  ab,  so  ist  die  Mannigfaltigkeit 
gar  nicht  so  groß.  Trochus  und  Turbo  sind 
kreiseiförmig,  uralt  und  weitverbreitet.  Das  ab- 
geplattete Natica-  bis  SigaretusGehäuse  tritt  in 
allen  Formationen  auf  Planorbis,  Euomphalus, 
Solarium  sind  flach  mit  weitem  Nabel,  Actaeonella 
und  Conus  kurz  kegelförmig,  Murchisonia,  Nerinea, 


Loxonema,  Chemnitzia,  Cerithium  und  Turritella 
lang  turmförmig.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß 
diese  Formen  mit  der  Lebensweise  und  dem 
Kriechen  in  Beziehung  stehen. 

Murchisonia,  Nerinea,  Chemnitzia,  Pseudo- 
melania,  Phasianella,  Terebra  und  Mitra  sind  in 
Riffen,  oolithischen  Bildungen  oder  in  der  zer- 
klüfteten Strandzone  am  mannigfaltigsten  und 
zahlreichsten.  Cerithium  fehlt  keinem  tertiären 
Strandgrus.  In  Crinoidenkalken  des  Silur,  Devon 
und  Carbon  kommen  meist  kleine  kugelige 
Gehäuse  und  der  Natica-Typus,  sowie  abgeplattete 
Euomphakisformen  vor.  Eine  3.  nur  im  Tertiär 
vorkommende  Lebensgesellschaft  stellen  Strombus, 
Oliva,  Conus,  Cypraea,  Bulla,  in  der  Kreide  Actae- 
onella dar;  bei  diesen  reicht  der  Offnungsschlitz 
weit  gegen  das  Gewinde  hinauf,  wodurch  eine 
Konzentrierung  der  Gehäuselast  beim  Kriechen 
ermöglicht  wird.  Vermetus  und  Magilus  gehören 
zur  4.  Gruppe  mit  sitzender  Lebensweise.  Dadurch 
entsteht  ein  ganz  abweichender  Habitus,  indem 
die  Spirale  sich  auflöst  oder  klein  bleibt  und  eine 
röhrenartige  Schale  mit  gedrehter  Rippenskulptur 
und  unregelmäßigen  Anwachsstreifen  entsteht.  Im 
großen  und  ganzen  ist  eine  bestimmte  P'ormen- 
gesellschaft  immer  vorhanden,  wobei  die  einzelnen 
Familien  sich  ablösen;  dies  ist  für  Deecke  ein 
Hauptgrund,  eine  gewisse  Funktion  des  Gehäuses 
anzunehmen.  Es  handelt  sich  um  Konvergenzen, 
was  wiederum  für  die  Beurteilung  der  den 
Schnecken  nah  verwandten  Cephalopoden  wichtig 
ist.  Es  spricht  dies  direkt  gegen  die  Rassen- 
persistenz,  da  selten  die  Formen  bleiben,  sondern 
aussterben  und  wieder  von  andern  Familien  ersetzt 
werden.  Dauertypen  ohne  größere  Variabilität 
mit  erheblicher  Anpassungsfähigkeit  und  einfacher 
Lebensform  sind  die  durch  alle  Formationen  durch- 
gehenden Naticiden,  Trochiden  und  Neritinen; 
sie  sind  dadurch  ausgezeichnet,  daß  sie  klein  sind 
und  in  jeder  Facies  auftreten  können.  Eine 
Konvergenzerscheinung  ist  das  Helicidengehäuse 
unter  den  Landschnecken,  da  die  Tiere  oft  sehr 
voneinander  abweichen.  Manche  Formen  sind 
stark  umbildungsfähig,  wie  das  Valvata  multiformis 
aus  Steinheim  und  die  obermiocänen  und  pliocänen 
osteuropäischen  Melanopsis-  und  Paludina- Arten 
zeigen.  Dasselbe  zeigen  die  Nerineen  im  oberen 
Jura,  Cerithium  im  Alttertiär,  Pleurotoma  im 
Oligocän,  Melania  im  Brackwasser  an  der  Grenze 
von  Jura  und  Kreide. 

Ein  wichtiges  biologisches  Moment  stellt  der 
rhombische  Längsschnitt  vieler  Schneckenschalen 
dar,  da  beiderseits  der  Diagonale  nach  Art  eines 
Wagebalkens  gleiches  Gewicht  hängt.  In  andeier 
Hinsicht  ist  die  Mütidung  von  Interesse.  Vielfach 
ist  eine  Lippe  mit  Umschlag  oder  Verbreiterung 
vorhanden,  welche  beim  Wachsen  nach  Art  von 
Reservematerial  resorbiert  wird.  Die  meist  glatte 
Beschaffenheit  der  Schale  an  der  Spindelseite 
neben  der  Mündung,  sowie  die  Schwielen-  und 
Nabelbildung  hängen  wohl  mit  dem  Tragen  des 
Gehäuses  zusammen.     Im  Gegensatz  zur  Skulptur 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6S 


sieht  De  ecke  in  der  Ausbildung  der  Innenlippe 
und  des  inneren  Umschlages  ein  sehr  wichtiges 
systematisches  Merkmal,  weil  diese  Eigenschaften 
eng  mit  der  Bewegung  und  Lebensweise  des 
Tieres  zusammenhängen.  Sehr  verschieden  ist 
auch  die  Nabelöffnung;  bei  lang  turmförmigen 
Schnecken  wie  Murchisonia  und  Nerinea  ist  sie 
klein  und  röhrenartig,  bei  kegelförmigen  verbreitert 
und  trichterartig,  bei  Planorbis  und  Euomphalus 
ist  sie  weit.  Hauptzweck  ist  wohl  die  Erleichterung 
des  Gehäuses.  Applattung  der  Basis  zeigt  sich 
bei  kurz  kegeligen  regelmäßigen  Gehäusen 
(Trochus,  Xenophora,  Pleurotomaria).  Die  Skulptur 
zerfällt  in  Radial-  und  Läng-falten.  Bald  treten 
die  Anwachsstreifen  mehr  hervor,  bald  die  auf 
eine  Querfaltung  der  Mündung  zurückgehende 
Spiralstreifung.  Vereinigen  sich  beide  Systeme, 
so  entsteht  Knotung. 

Das  Auftreten  der  Schnecken  ist  oft  massen- 
haft, so  in  alluvialer  Seekreide,  im  Süßwasserkalk 
von  Steinheim,  in  den  Litorinellenkalken  und  den 
Cerithiensanden  und  -Kalken  des  Mainzer  Beckens, 
in  den  Mclania  strombiformis-Piatten  des  nord- 
deutschen Wealden,  in  den  Turritellengesteinen 
der  schwäbischen  und  schweizerischen  Molasse, 
den  Nerineenkalken  des  Maims  sowie  in  der 
Schneckenfauna  der  mittleren  Trias  von  Esino. 
Gegenüber  diesen  an  Schnecken  wimmelnden 
Lagen  können  oft  plötzlich  benachbarte  Lagen 
spärlich,  selten  oder  gar  keine  Schnecken  führen. 
Der  Hettinger  Sandstein  des  lothringischen  Unter- 
lias  enthält  eine  prächtige  Schneckenfauna,  im 
tonigen  Hangenden  dagegen  nichts.  Die  Nerineen, 
Pterocera,  Natica  des  mittleren  Kimmeridge  sind 
in  den  Virgula-Mergeln  fast  alle  verschwunden. 
Die  feinen  Ton-  und  Mergelschichten  bergen 
wiederum  eine  andersartige  Fauna  mit  kleinen 
Schnecken;  hierher  gehören  die  Liastone  und 
Mergel  Nord-  und  Süddeulschlands,  die  Rcngeri- 
und  Ornatentone  im  Oberrheingebiet,  dieSeptarien- 
tone  Norddeutschlands  und  die  westfälischen 
Miocäntone.  Eigenartig  ist  die  Zwergfauna  der 
alpinen  Triasriffe  wie  auch  die  Gesellschaft  von 
Natica,  Omphaloptycha,  Loxonema  im  Schaumkalk 
Norddeutschlands  und  in  manchen  Muschelkalk- 
oolithen.  Ausgesprochene  P'oraminiferengesteine 
(Schreibkreide,  Globigerinenkalk)  sind  arm  an 
Schnecken.  Eine  wohlcharakterisierte  Lebens- 
gesellschaft (Trochus,  Turbo,  Cerithium,  Rostellaria) 
lebte  auf  den  Spongienrasen  des  oberen  Jura  und 
der  oberen  Kreide  (Pläner).  Es  zeigen  also  auch 
die  Gastropoden  eine  starke  Abhängigkeit  von 
der  Facies.  Wichtig  ist  weiterhin  auch  die  Ver- 
schleppung von  Schneckenschalen,  da  in  vielen 
Schalen  sich  nach  dem  Tode  Verwesungsgase 
bilden,  wodurch  die  Schalen  aufsteigen  und  an 
.den  Strand  oder  in  die  Litoralzone  sich  ver- 
schleppen. Dies  gilt  vor  allem  für  gedeckelte 
Schnecken,  sowie  für  Natica,  Murex,  Buccinium, 
Turbo. 

Hinsichtlich  der  Erhaltungsart  der  Schneckea- 
schale    ist    es    bemerkenswert,     daß     gegenüber 


Korallen,  Seeigeln  und  Zweischalern  relativ  selten 
Schneckenschalen  in  verkieseltem  Zustande  vor- 
kommen. Häufig  ist  die  Ausfüllung  mit  Pyrit 
und  damit  die  Bildung  von  Pyritsteinkernen  in 
tonigen  bituminösen  Schichten,  so  im  pommerschen 
Septarienton,  in  vielen  Juratonen  Süddeutschlands. 
Bei  größeren  als  kalkige  Steinkerne  erhaltenen 
Schnecken  ist  das  P'ehlen  des  ältesten  Gewinde- 
abschnittes ganz  gewöhnlich,  z.  B.  in  der  Kressen- 
bergfauna,  in  den  Pterocera-  und  Naticamergeln 
des  Malms,  Muschelkalk-  und  Wellenkalkschichten. 
Nicht  immer  ist  dies  auf  Verwitterung  zurück- 
zuführen ,  sondern  die  prachtvollen  Steinkerne 
enden  plötzlich  mit  Hohlraum  und  Abdruck  des 
ganzen  Exemplars.  Sehr  häufig  ist  die  Kalzinierung 
in  bituminösen  Süßwasser-  und  Brackwasser- 
sedimenten, in  Lithothamiiien-  und  triadischen 
Alpenkalken.  Glaukonitreiche  Mergel  enthalten 
meist  Sleinkerne  (Molasse  am  Bodensee,  Kressen- 
berg), während  die  nah  verwandten  Eisenoolithe 
und  auch  typische  Oolithe  oft  treffliche  Schalen 
einschließen  (Mumienhorizonte  in  Oberbaden, 
Nerineenoolithe  des  Malm).  In  gleichmäßigen 
Tonen  wie  den  Septarien-  und  Torulosustonen 
kommen  oft  prächtige  Schalen  vor,  in  kalkreichen 
Mergeln  meist  sehr  schlecht  erhaltene  Reste. 
V.  Hohenstein. 


Astronomie.  Über  Aufnahmen  mit  mono- 
chromatischem Licht  an  Himmelskörpern  berichtete 
Wood  im  Astroph.  Journal  43,  185.  Nachdem  er 
schon  1912  am  iVIond  mit  Hilfe  von  Strahlenfiltern 
auffallende  Ergebnisse  erzielt  hatte,  ist  das  Verfahren 
weiter  ausgebildet  worden.  Es  hatte  sich  damals 
gezeigt,  daß  die  Verteilung  der  hellen  und  dunklen 
Stellen  auf  dem  Monde  bei  Anwendung  von 
Strahlenfiltern  ganz  anders  ausfällt,  wie  bei  der 
Fernrohrbeobachtung.  Besonders  war  um  Aristarch 
herum  ein  großer  dunkler  Fleck  iin  ultravioletten 
Licht  erschienen,  der  sonst  absolut  unsichtbar  ist. 
Kontrollversuche  haben  dann  wahrscheinlich  ge- 
macht, daß  es  sich  hier  um  eine  Ablagerung  von 
Schwefel  oder  stark  schwefelhaltigem  Gestein 
handeln  muß,  das  im  ultravioletten  Licht  so  wirkt. 

Für  die  Aufnahmen  an  Jupiter  und  Saturn 
wurden  vier  Strahlenfilter  hergestellt,  für  infrarot, 
gelb,  violett  und  ultraviolett.  Als  Instrument 
diente  der  Spiegel  des  150  cm  Teleskopes.  Der 
Saturn  zeigte  die  merkwürdigsten  Bilder.  Im 
infraroten  Licht  erschien  nicht  die  geringste 
Zeichnung  auf  dem  Planeten,  während  im  gelben 
Licht  das  Bild  fast  ebenso  aussah,  wie  dem  Auge 
im  Fernrohr.  Im  violett  aber  traten  breite  dunkle 
Streifen  um  den  Äquator  auf  und  eine  dunkle 
Zone  an  den  Polen,  beides  Erscheinungen,  die 
noch  nie  gesehen  worden  sind.  Im  ultraviolett 
traten  diese  beiden  dunklen  Stellen  wieder  etwas 
zurück,  aber  sind  doch  so  auffallend,  daß  man 
beim  Vergleich  des  gelben  mit  dem  violetten 
oder  ultravioletten  Bilde  nicht  glauben  sollte, 
denselben    Gegenstand   auf  der   Platte   zu    haben, 


66 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Wood  denkt  zur  Erklärung  dieser  eigentümlichen 
Erscheinung  an  einen  Dunstring  um  den  Planeten 
innerhalb  des  Ringes,  der  ja  schon  durch  den 
bekannten  Crappring  in  Dunst  übergeht.  Hierfür 
spricht  der  Umstand,  daß  auf  den  Aufnahmen  der 
Himmel  zwischen  Planet  und  Ring  dunkler  aussieht 
als  außerhalb.  Es  muß  also  der  Raum  innerhalb 
des  Ringes  mit  einer  Materie  ausgefüllt  sein,  die 
in  geringem  Maße  das  kurzwellige  Licht  reflektiert. 
Eine  andere  Annahme  ist  die  des  Vorhandenseins 
von  Gasen  in  der  Saturnatmosphäre,  die  die  kurz- 
welligen Strahlen  absorbieren.  Beim  Jupiter  zeigte 
sich  ein  ähnliches  Verhalten  in  den  Unterschieden 
der  vier  Aufnahmen.  Riem. 

Physiologie.  Eine  interessante  Parallele 
zwischen  der  künstlichen  Parthenngenese  und  der 
Anregung  zur  Wundheilung  durch  die  gleichen 
Agentien  entwickelt  Methodi  Popoff  (Biolo- 
gisches Centralblatt,  XXXVI.  Bd.,   1916,  Nr.  4). 

Von  den  einzelligen  Tieren,  Protozoen,  wissen 
wir  aus  den  Untersuchungen  von  Calkins, 
Maupas,  R.  Hertwig,  Popoff  u.  a.,  daß  sie 
gewisse  Perioden  durchlaufen,  Depressionszustände 
(„degenerescence  senile"),  in  denen  ihnen  die 
weitere  Existenz  unmöglich  ist,  daß  aber  durch 
Verschmelzung  zweier  Individuen  bei  der  Fort- 
pflanzung oder  durch  andere  Umregulierungs- 
prozesse  die  depressionierten  Zellen  wieder  auf- 
gefrischt und  lebensfähig  gemacht  werden.  Aber 
nicht  nur  die  freilebenden  Zellen,  sondern  auch 
die  Geschlechtszellen  der  Vielzelligen  sind  einer 
derartigen  physiologischen  Depression  unterworfen, 
an  der  sie  schließlich  selbst  unter  den  günstigsten 
Verhältnissen  zugrunde  gehen. 

Eine  scheinbare  Ausnahme  machen  die  normal- 
parthenogenetischen  Eier,  aber  auch  sie  gehen 
nach  einer  Reihe  von  Generationen  an  einer 
physiologischen  Depression  zugrunde. 

Der  normale  Ümregulierungsprozeß  für  die 
Eizelle  ist  die  Befruchtung.  Zahlreiche  Beob- 
achtungen und  Versuche  haben  nun  gezeigt,  daß 
die  in  tiefer  Depression  sich  befindenden  Eizellen 
durch  die  verschiedensten  Agentien  wieder  ent- 
wicklungsfähig gemacht  werden  können ,  künst- 
liche Parthenogenese.  Tichomiroff  (1886)  fand 
zuerst,  daß  die  unbefruchteten  Eier  des  Seiden- 
spinners durch  kurzes  Eintauchen  (2  Minuten)  in 
Salzsäure,  Schwefelsäure  oder  rein  mechanisch 
(durch  Bürsten,  Schütteln  usw.)  dazu  gebracht 
werden  können,  sich  zu  teilen  und  kleinen  Em- 
bryonen Ursprung  zu  geben.  O.  und  R.  Hertwig 
fanden  ein  Jahr  später,  daß  auch  die  unbefruchteten 
Eier  des  Seeigels  Strongylocentrotus  durch  die 
Einwirkung  von  Chemikalien  zur  künstlichen 
Parthenogenese  veranlaßt  werden  können.  Von 
anderen  Agentien,  welche  dieselbe  Wirksamkeit 
hatten,  wurden  weiter  ermittelt  NaCl,  KCl,  MgCl.,, 
MnCI.^,  COo,  NH.j,  ferner  Tanin,  verschiedene  Fett- 
säuren, Spermaextrakte,  Serumeinwirkungen  und 
die   Behandlung^  mit    Xylol,    Toluol,   Äther   usw. 


Als  sehr  wirksame  künstlich  parthenogenetische 
Agentien  haben  sich  außerdem  die  Änderung  des 
osmotischen  Druckes  des  umgebenden  Mediums, 
die  Wasserentziehung  und  die  verschiedensten 
mechanischen  Einwirkungen  erwiesen.  Für  einige 
dieser  Agentien,  z.  B.  die  hypertonischen  Lösungen 
der  Salze,  ergab  sich,  daß  die  günstige  Wirkung 
auf  das  Ei  auf  ihrer  Wasserentziehung  beruht. 
Dasselbe  konnte  seine  Entwicklung  bis  weit  über 
das  Larvenstadium  hinaus  fortsetzen  und  Yves 
Delage  vermochte  sogar  junge  Seeigel  auf  künst- 
lichem parthenogenetischem  Wege  zu  züchten. 
Die  Wasserentziehung  wurde  von  Bataillon, 
Loeb,  Delage  u.  a.  mit  bestem  Erfolg  zur 
Hervorrufung  künstlicher  Parthenogenese  bei  den 
verschiedensten  Tierarten  benützt.  Normalerweise 
geschieht  dieselbe  dadurch ,  daß  bei  der  Bildung 
des  männlichen  und  des  weiblichen  Vorkerns 
nach  dem  Eindringen  des  Samenkerns  dem  Proto- 
plasma der  Eizelle  Wasser  entzogen  wird.  Beide 
Geschlechtskerne  vergrößern  sich  durch  Aufnahme 
von  Flüssigkeit  aus  dem  umgebenden  Protoplasma. 
Bei  den  angewandten  Reagentien  soll  die  lonen- 
wirkung  die  Einwirkung  der  Alkalität  die  Ände- 
rungen der  peripheren  Eischicht  durch  lipoid- 
lösende  alkalische  Reagentien  usw.  für  die  künst- 
liche Parthenogenese  als  Erklärungsursachen  in 
Betracht  kommen.  Alle  diese  Erklärungsversuche 
gruppieren  sich  um  zwei  Theorien,  die  von  Loeb 
und  die  von  Delage.  Loeb  geht  davon  aus,  daß 
hypertonische  Lösungen  eine  stark  stimulierende 
Wirkung  auf  die  Lebensprozesse  der  Zellen  ausüben, 
die  bei  der  Eizelle  in  der  Segmentierung  bestehen ; 
daher  müssen  sie  bei  dieser  künstliche  Partheno- 
genese hervorrufen.  In  der  Tat  gelangen  Loeb 
bei  der  Behandlung  von  Eiern  mit  Fettsäure  und 
hypertonischen  Lösungen  (MgCL)  fast  loo"/,,  seiner 
Versuche.  Aber  auch  Delage  erreichte  dasselbe 
günstige  Resultat  mit  einer  ganz  anderen  Methode; 
er  geht  dabei  von  folgender  Ansicht  aus.  Die 
Lebenssubstanz  ist  ein  Komplex  von  Albumin- 
stoffen, die  sich  in  kolloidaler  Lösung  in  einem 
elektrolytischen  flüssigen  Medium  befinden,  dessen 
Zustand  instabil  ist,  so  daß  die  Sol-  und  Gelphasen 
nahe  ihrem  kritischen  Punkt  sind.  Die  Zellteilung 
nun  wird  charakterisiert  durch  Koagulierung  und 
Auflösung.  Erstere  liegt  der  Bildung  der  Chromo- 
somen der  mithotischen  Figur  zugrunde,  letztere 
der  Auflösung  der  Kernmembran.  Als  Koagu- 
lierungsagens  gebraucht  Delage  das  Tannin,  als 
Lösungsagens  das  Ammoniak.  Beide  Autoren 
gehen  von  der  Ansicht  aus,  daß  die  Einwirkungen 
beider  Agentien  die  Eizelle  in  jenen  Zustand  ver- 
setzen ,  welcher  normalerweise  durch  die  einge- 
drungene Samenzelle  herbeigeführt  wird.  Es 
würde  so  durch  den  Ümregulierungsprozeß  der 
Depressionszustand  aufgehoben ,  in  welchen  die. 
Eizelle  geraten  ist,  und  diese  reagierte  darauf 
durch  den  in  der  Teilung  liegenden  Beginn  der 
Entwicklung. 

Die  künstliche  Parthenogenese  wäre  also  eine 
Verjüngungserscheinung;    die   sie    verursachenden 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Reagentien  wirken  aber  nicht  nur  auf  die  Kizelle, 
sondern  allgemein  auf  die  Zellen  verjüngend. 
Freilich  ist  ein  Unterschied  zwischen  der  Ei- 
und  der  Somazelie  insofern  vorhanden ,  als  die 
letztere  nur  die  Fähigkeit  wieder  erlangt,  sich  in 
engen  Grenzen  morphologisch  zu  differenzieren. 
Von  dieser  Überlegung  ausgehend  hat  P.  eine 
Reihe  von  Versuchen  unternommen,  über  die  er 
nun  berichtet.  Von  den  hypertonischen  Lösungen 
wirkte  besonders  günstig  NaCl  und  MgCI.,.  Ihre 
zellstimulierende  Wirkung  beschränkt  sich  aber 
nicht  nur  auf  die  Geschlechtszellen.  P.  benutzte 
zunächst  in  Winterruhe  befindliche  Pflanzenknospen, 
und  zwar  solche  des  Flieders  (Syringa  vulgaris). 
Sollte  es  gelingen,  dieselben  durch  hypertonische 
Lösungen  aus  ihrer  V\'int erstarre  zu  erwecken,  so 
würde  dies  deren  stimulierende  Wirkung  beweisen. 
Am  i8.  Januar  19 16  wurden  von  einem  Ast  eines 
und  desselben  Strauches  drei  vorjährige  Sprößlinge 
genommen;  zwei  Endknospen  wurden  '  ,  ccm  von 
MgCI.,  (4o7no)  und  NaCl  (20  "/„o)  +  MgCI.,  (20"  „J 
an    derselben  Stelle    injiziert,    während    die  dritte 


Knospe  zur  Kontrolle  unbehandelt  blieb.  Alle  drei 
Sprossen  kamen  in  ein  gemeinsames  Glas  mit 
Brunnenwasser  und  blieben  bei  Zimmertemperatur 
stehen;  dieselbe  schwankte  zwischen  20"  C  bei 
Tag  und  10"  C  bei  Nacht.  Bereits  nach  7  Tagen 
war  ein  Unterschied  deutlich  bemerkbar  und  am 
14.  Tag  waren  die  Blumenknospenanlagen  schon 
sehr  weit  entwickelt  und  in  die  Länge  gewachsen 
(Fig.  a  u.  b),  während  an  der  Kontrolle  noch 
nichts  derartiges  zu  bemerken  war  (c).  Daraus 
ergibt  sich  die  stimulierende  Wirkung  der  die 
künstliche  Parthenogenese  hervorrufenden  hyper- 
tonischen Lösungen  auch  für  die  somatischen 
Zellen. 

Schon  früher  wurde  durch  Versuche  Weber's, 
Jesenko's  u.  a.  gezeigt,  daß  ruhende  Knospen 
durch  Injektion  von  schwachen  Lösungen  ver- 
schiedener Salze  (Na-  und  Mg-Salze)  zum  Aus- 
treiben gebracht  werden  können. 

Von  dem  Gedanken  an  die  stimulierende 
Wirkung  der  hypertonischen  MgCl.^-  und  NaCl- 
Lösungen  ausgehend,  versuchte  P.  mit  bestem 
Erfolg  deren  Verwendung  für  die  Wundregeneration. 


Mit  hypertonischer  NaCl  (30  "/oo)  Lösung  behandelte 
er  10 — 25  cm  lange  und  5 — 10  cm  breite  ober- 
flächliche oder  tiefe  Muskelwunden.  Dieselben 
wurden  mit  Kochsalzlösung  gut  ausgewaschen, 
eventuell  in  der  hypertonischen  Lösung  gebadet 
(20  Minuten  bis  ' .,  Stunde).  Während  die  Wunden 
bisher  in  atonischem  Zustand  gewesen  waren  und 
nicht  granulieren  wollten,  regenerierte  jetzt  das 
Grundgewebe  sehr  stark  und  die  Wundheilung 
wurde  beschleunigt.  Denselben  günstigen  Einfluß 
bezüglich  der  Granulation  und  der  Epithelisation 
hatte  die  Behandlung  von  Wunden  mit  MgClj 
und  NaCI  (ää  1 5  "  „„).  Dieselben  günstigen  Ergeb- 
nisse hatte  die  Behandlung  von  Erfrierungen,  bei 
denen  bekanntlich  das  torpide  Verhalten  der  Ge- 
webe die  Heilung  sehr  erschwert  und  die  von 
Frakturen,  bei  denen  es  in  erster  Linie  auf  die 
Regeneration  des  Knochengewebes  ankommt. 

Antiseptische,  also  gewebstötende  Mittel  wurden 
dagegen  bei  aseptischen  Wunden  gar  nicht  ver- 
wendet. Alle  diese  Versuche  sprechen  also  zu- 
gunsten der  vertretenen  Auffassung  von  der  all- 
gemeinen zellstimulierenden  Wirkung  der  hyper- 
tonischen, künstliche  Parthenogenesis  bedingenden 
Agentien. 

Seit  Molisch,  Johansen,  Weber  u.  a.  ist 
es  bekannt,  daß  die  mit  Äther  behandelten  Pflanzen 
zu  frühem  Austreiben  angeregt  werden.  In  der 
Gärtnerei  wird  diese  Wirkung  der  Ätherdämpfe 
zur  Frühtreiberei  benutzt  (Flieder,  Vogelkirschen- 
zweige usw.).  Der  Äther  ist  aber  auch  ein  Mittel, 
welches  künstliche  Parthenogenese  veranlaßt 
(Matthews).  Die  in  Anbetracht  dessen  vorge- 
nommene Behandlung  von  schwerheilenden  Wunden 
mit  Äther  hatte  gleichfalls  den  besten  Erfolg. 
Eine  Mischung  von  1  Teil  Äther  mit  3  Teilen 
Olivenöl  wurde  direkt  auf  die  Wunde  gebracht 
oder  auf  dieselbe  mit  dieser  Mischung  gut  ge- 
tränkte Mullgaze  aufgelegt.  Täglich  oder  einen 
Tag  über  den  anderen  wurde  der  Verband  ge- 
wechselt. In  kurzer  Zeit,  schon  nach  2  —  3  Wochen, 
schlössen  sich  große  Wunden,  die  lange  Zeit  vor- 
her Wochen-,  ja  monatelang  keinen  Fortschritt 
gezeigt  hatten.  Besonders  Erfrierungen,  welche  sonst 
sehr  schwer  heilen,  nahmen  einen  äußerst  günstigen 
Heilungsverlauf. 

Alle  Versuche  zeigen,  wie  berechtigt  die  Auf- 
fassung ist,  nach  welcher  die  Mittel,  welche  künst- 
liche Parthenogenese  hervorrufen,  als  allgemeine 
Zellstimulantien  zu  betrachten  sind. 

Durch  die  Versuche  von  Tichomiroff  mit 
den  Eiern  des  Seidenspinners  haben  wir  auch  die 
mechanische  Reizung  als  ein  Mittel  kennen  gelernt, 
welches  künstliche  Parthenogenese  hervorrufen 
kann.  iVIatthews  (1901)  gelang  es,  die  Eier 
.des  Seesterns  durch  Schütteln  allein  zur  Ent- 
wicklung zu  bringen;  also  wäre  eine  stimulierende 
Wirkung  auch  für  die  Körperzellen  von  mecha- 
nischen Einwirkungen  zu  erwarten.  Einer  ent- 
sprechenden Anwendung  bei  der  Wundbehandlung 
stehen  praktische  Schwierigkeiten  entgegen.  Nur 
eine    örtliche   Massage    in   der   Nähe   des  Wund- 


68 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


randes  war  durchführbar;  die  damit  gemachten 
Erfahrungen  waren  sehr  zufriedenstellend.  Nach 
P.  beruhen  die  Heilerfolge  bei  der  Massage  auf 
der  zeilstimulierenden  Wirkung  des  mechanischen 
Reizes.  Die  Erfahrungen,  daß  völlig  immobilisierte 
Frakturen  nur  langsam  heilen,  spricht  gleichfalls 
für  diese  Auffassung.  Andererseits  findet  dieselbe 
eine  Bestätigung  durch  die  raschere  Bildung  von 
Gewebe  an  Stellen  eines  mechanischen  Reizes. 
Beruht  ja  darauf  auch  die  Entstehung  der  Hühner- 
augen. 

Als  weiteres  Mittel  zur  Hervorrufung  künst- 
licher Parthenogenese  lernte  man  die  Entwässerung 
des  Eiplasmas  kennen.  In  den  Jahren  1900—1910 
brachte  Bataillon  die  Eier  des  Seeigels  zur 
parthenogenetischen  Entwicklung  in  hypertonischen 
Lösungen  von  NaClTraubenzucker,  Tierserum  u.  dgl. 
1910  erzielte  er  sogar  die  Entwässerung  durch 
Anstechen  der  Eier  von  Rana  mit  sehr  feinen 
Nadeln.  Auch  für  die  Wundbehandlung  zeigte 
sich  die  Entwässerung  des  Zellprotoplasmas  als 
vorteilhaft.  In  einem  Saal  des  Lazaretts  kamen 
die  Wunden,  welche  mit  Jodpinselungen.  Lysoform- 
waschungen  behandelt  wurden,  viel  langsamer  zur 
Heilung  als  in  einer  anderen  Abteilung,  wo  die- 
selben trocken  und  aseptisch  verbunden  wurden. 
Wurden  die  Wunden  bei  Fernhaltung  einer  In- 
fektionsmöglichkeit dem  austrocknenden  Einfluß 
der  Luft  ausgesetzt  oder  mit  trockenen  aseptischen 
Verbänden  versehen,  so  zeigten  sie  eine  viel 
stärkere  Heilungstendenz.  Die  raschere  Bildung 
des  Regenerationsgewebes  ist  hier  nach  P.  gleich- 
falls der  Zellplasmaentwässerung  zu  verdanken, 
also  auch  hier  wieder  die  zellstimulierende  Wirkung 
eines  Mittels,  welches  zur  künstlichen  Partheno- 
genese herbeigezogen  wird. 

Es  wäre  endlich  die  Wirkung  des  Spermien- 
extraktes  zu  erproben,  denn  auch  dieses  hat  sich 
bei  Versuchen  mit  künstlicher  Parthenogenese 
wiederholt  als  wirksam  erwiesen.  Für  die  Alters- 
erscheinungen wird  ja  von  Brown-Sequard 
der  Wegfall  des  inneren  Sekrets  der  Keimdrüsen 
verantwortlich  gemacht.  Man  könnte  daher  ver- 
suchen, den  allgemeinen  Körperzustand  alternder 
und  kachektischer  Individuen  durch  Injektion  von 
Spermienextrakten  zu  heben. 

Näheres  über  diesen  Punkt  behält  sich  P.  für 
eine  andere  Gelegenheit  vor. 

Als  einen  einfachen  Weg  zur  Verwendung  der 
künstliche  Parthenogenese  hervorrufenden  Lö- 
sungen zur  Stimulation  der  Körperzellen  empfiehlt 
P.  die  subkutane  oder  intravenöse  Injektion  von 
NaCl  und  MgCl.,. ') 

Aus  allen  Beobachtungen  und  Versuchen  zieht 
er  den  Schluß,  daß  die  Mittel  zur  Hervorrufung 
der    künstlichen    Parthenogenese    als    allgemeine 


1)  Das  Einspritzen,  sogar  von  reinen  MgCl.,  in  hypertonischen 
Lösungen  zeigt,  wie  P.  aus  seinen  Versuchen  an  Meerschweinchen 
entnimmt,  gar^ keine  unangenehmen  Überraschungen  (intra- 
peritoneale  Einspritzungen  von  4%,)  MgClj-Lösung). 


Zellstimulantien  zu  betrachten  sind.  Vielleicht 
könnte  man  auf  diesem  Weg  einer,  wenn  auch 
nur  zeitlichen,  Behebung  der  Alterserscheinungen 
näher  kommen.     (G.C.)  Kathariner. 

Chemie.  Einen  sehr  wertvollen  Beitrag 
zur  Kenntnis  der  Isotopen  Elemente,  d.  h.  jener 
Elemente,  die  chemisch  identisch  sind,  sich  aber 
durch  ihr  Atomgewicht  unterscheiden,  liefern  die 
Arbeiten  von  K.  Fajans  und  seinen  Schülern 
über  die  Löslichkeit  des  Bleies  und  einiger  seiner 
Isotopen  und  die  zu  relativen  Atomgewichts- 
bestimmungen verwendbaren  Unterschiede  in  den 
spezifischen  Gewichten  ihrer  gesättigten  Lösungen 
(K.  Fajans  und  J.  Fischler,  Zeitschr.  f.  anorg. 
u.  aligem.  Chem.,  Bd.  1)5,  S.  284—296  und 
K.Fajans  undM.Lembert,  ebendaS.  297  — 339, 
1916). 

Unter  der  Voraussetzung,  daß  die  gesattigten 
wässerigen  Lösungen  zweier  isotoper  Bleinitrate 
die  gleiche  molekulare  Zusammensetzung  haben 
und  daß  gleiche  Volumina  der  Lösungen  gleich 
viele  Mole  der  Salze  enthalten,  folgt,  daß,  da  die 
Molekulargewichte  der  Salze  verschieden  sind, 
sowohl  die  in  Gramm  pro  Liter  ausgedrückte 
Löslichkeit  der  Salze  als  auch  die  Dichte  der  ge- 
sättigten Lösungen  verschieden  sein  müssen.  Das 
Ziel  der  Untersuchung  bestand  darin,  den  Unter- 
schied in  der  Dichte  der  Lösungen  experimentell 
zu  bestimmen,  ihn  mit  dem  unter  der  obigen 
Voraussetzung  berechneten  Unterschiede  zu  ver- 
gleichen und  schließlich  festzustellen,  ob  und  in 
wieweit  er  sich  zu  einer  relativen  Bestimmung 
der  Atomgewichte  benutzen  lasse. 

Für  die  Versuche  standen  den  Autoren  drei 
verschiedene  Bleie,  nämlich 

1.  gewöhnliches  Blei  Pb  mit  dem  Atom- 
gewicht 207,15, 

2.  Blei  aus  Carnotit  Pb'  mit  dem  Atomgewicht 
206,59  und 

3.  Blei  aus  Joachimsthaler  Pechblende  Pb"  mit 
dem  Atomgewicht  206,57  zur  Verfügung. 

Für  das  mit  allen  Vorsichtsmaßregeln  der 
wissenschaftlichen  Technik   bestimmte    spezifische 

Gewicht    d— ^^     der   bei  24,45"   gesättigten   Lö- 

4 
sungen  der  Nitrate  wurde  gefunden: 

für    PMNOg).,  .  .  .  ■  1,444499  +  0,000013 

für  Pb'(N03)o 1,443587+0,000016 

und  für  Pb"(N03)„  ....  1,443586  +  0,000015. 

Die  Analyse  der  bei  24,45"  gesättigten  Lö- 
sungen von  Pb(NO,).,  und  Pb'(NO.,),,  ergab,  daß 
die  Löslichkeit  beider  Nitrate  bis  auf  0,75  "/„o, 
einer  durchaus  innerhalb  der  Fehlergrenze  der 
Bestimmungen  liegenden  Differenz,  identisch  gleich 
1,6172  Mol  im  Liter  ist.  Die  Annahme,  daß 
auch  das  dritte  Bleinitrat  Pb"(NO,,)2  bei  2445"  die 
gleiche  Löslichkeit  von  1,6172  Mol.  im  Liter  be- 
sitzt, erscheint  darnach  berechtigt.  Unter  dieser 
Annahme   berechnet   sich   unter  Berücksichtigung 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


69 


der  verschiedenen  Atomgewichte  der  drei  Bleie, 
daß  I  ccm  der  Pb(N03)2-Lösung  0,904  +  0,026  mg 
mehr  als  i  ccm  der  Pb^NO^jj  -  Lösung  und 
0,935+0,052  mg  mehr  als  i  ccm  der  Pb"(N03)2- 
Lösung  wiei^t,  Zahlen,  die  mit  den  experimentell 
bestimmten  Werteno,9i 2  +  0,029 bzw. 0,9 1 3  +  0,028 
recht  gut  übereinstimmen,  also  als  Beweis  für  die 
Richtigkeit  der  Grundannahme  einer  gleichen  An- 
zahl von  Molekülen  der  drei  Nitrate  in  der  Raum- 
einheit der  gesättigten  Lösungen  angesehen  werden 


dürfen.  Daraus  ergibt  sich  aber  weiter  die  Möglichkeit 
einer  relativen  Bestimmung  der  Atomgewichte 
von  Isotopen  mit  Hilfe  der  gesättigten  Lösung 
eines  geeigneten  Salzes,  und  dies  bedeutet  insofern 
einen  wesentlichen  Vorteil,  als  die  genaue  Be- 
stimmung eines  spezifischen  Gewichtes  erheblich 
leichter  ist  und  erheblich  schneller  geht  als  eine 
ebenso  genaue  Atomgewichtsbestimmung  durch 
chemische  Analyse.  Mg. 


Bücherbesprechuiigen. 


A.  V.  Tscher mak.  Allgemeine  Physiologie. 
Eine  systematische  Darstellung  der  Grundlagen 
sowie  der  allgemeinen  Ergebnisse  und  Probleme 
der  Lehre  vom  tierischen  und  pflanzlichen 
Leben.  Berlin  1916.  J.  Springer. 
„Die  folgende  Darstellung  der  allgemeinen 
Physiologie  wendet  sich  an  solche  Leser,  welche 
eine  tiefer  schürfende,  kritische  Behandlung  der 
Probleme  und  Ergebnisse  dieses  F"orschungsgebietes 
suchen.  Dem  Bedürfnisse  nach  einer  mehr  po- 
pulären Darstellung,  welche  den  Anfänger  über- 
sichtlich —  wenn  auch  mitunter  etwas  einseitig  — 
orientiert,  ist  ja  bereits  mehrlach  entsprochen 
worden."  Mit  diesen  Worten  charakterisiert  der 
Verf  selbst  das  vorliegende  Werk,  in  dessen  erstem 
Halbbande  er  nach  einer  allgemeinen  Charakteristik 
des  Lebens  die  physikalische  und  chemische  Be- 
schaffenheit der  lebenden  Substanz  behandelte. 
Es  ist  schwer  im  Rahmen  eines  kurzen  Referates 
die  außerordentliche  synthetische  Arbeitsleistung 
zu  werten,  der  dieses  Buch  entsprungen  ist.  Das 
Werk  trägt  den  Charakter  eines  Handbuches,  aber 
eines  Handbuches  von  ausgesprochen  individuellem 
Gepräge,  dessen  Wert  in  gleicher  Weise  in  der 
außerordentlich  reichen  Literatur-Sammlung  aus 
allen  (auch  entlegenen)  Gebieten  der  Natur- 
wissenschaft, wie  in  der  musterhaften  Zusammen- 
fassung und  kritischen  Darstellung  des  fast 
unübersehbar  großen  Tatsachenmateriales  liegt. 
Ganz  besonders  sei  auf  die  einleitenden  Kapitel 
„die  allgemeine  Analyse  des  Lebensprozesses" 
und  „die  Charakteristik  des  unbelebten  Stoffes 
und  Vergleich  mit  dem  belebtem  Stoffe"  hin- 
gewiesen, in  denen  die  einschlägigen  Fragen 
in  einer  bisher  kaum  erreichten  Klarheit  erörtert 
werden;  dabei  stellt  sich  der  Verf.  selbst  auf  den 
Boden  eines  phänomenologischen  Dualismus  von 
Belebtem  und  Unbelebtem :  „Wir  betrachten  dem- 
gemäß im  folgenden  die  Physiologie  nicht  einfach 
als  angewandte  Physik  und  Chemie,  vielmehr  das 
Leben  als  einen  Erscheinungskomplex  für  sich, 
Belebtes  und  Unbelebtes  als  verschiedene,  selb- 
ständige und  gleichwertige  Objekte  der  natur- 
wissenschaftlichen Forschung."  Auf  wie  streng 
physikalisch-chemischem  Standpunkte  der  Verf. 
trotz  seines  Bekenntnisses  zu  einer  in  mancher 
Hinsicht  vitalistischen  Auffassung  steht,  zeigen  die 


folgenden  Kapitel,  unter  denen  speziell  hingewiesen 
sei  auf  die  Charakteristik  des  Protoplasmas  nach 
Aggregatzustand  und  Formart  als  auf  die  beste 
bisher  vorliegende  Darstellung  der  Kolloidchemie 
in  ihren  innigen  Beziehungen  zur  Physiologie  des 
Protoplasmas. 

Wem  es  nicht  darum  zu  tun  ist  eine  mehr 
belletristische  Darstellung  des  gegenwärtigen 
Standes  der  allgemeinen  Physiologie  zu  lesen, 
sondern  wer  —  biologisch  vorgebildet  —  in 
ernster  Arbeit  tiefer  in  diese  Wissenschaft  ein- 
zudringen sucht,  dem  kann  hierfür  kein  besserer 
und  gewissenhafterer  Führer  empfohlen  werden 
als  das  vorliegende  Werk  v.  Tschermak's. 
Möge  seine  Vollendung  nicht  zu  lange  auf  sich 
warten  lassen.  v.  Brücke. 


L.  Asher,  praktische  Übungen  in  der 
Physiologie.  Eine  Anleitung  für  Studierende. 
Berlin  1916.  J.  Springer. 
Im  Wesentlichen  beschränkt  sich  der  Verf. 
auf  die  Darstellung  der  Methode  der  angeführten 
Versuche;  die  Beobachtungen,  um  derentwillen 
die  einzelnen  Versuche  angestellt  werden,  werden 
nur  in  wenigen  Sätzen  besprochen.  Ebenso  hat 
der  Verf.  auf  alle  theoretischen  Auseinander- 
setzungen und  auf  eine  eingehende  Beschreibung 
der  verwendeten  Apparate  verzichtet,  wodurch  er 
in  das  relativ  kurze  Buch  (200  Seiten)  eine  so 
reiche  Fülle  von  Versuchsmaterial  aufnehmen 
konnte,  daß  fast  alle  Versuche  darin  enthalten 
sein  dürften,  die  an  physiologischen  Instituten 
von  Studenten  praktisch  au.sgeführt  werden. 

Dem  Studenten  wird  das  Asher 'sehe  Prak- 
tikum sicher  ein  willkommenes  Hilfsbuch  sein, 
und  auch  jeder  Leiter  eines  physiologischen 
Praktikums  kann  Anregungen  aus  der  Auswahl 
und  der  Ausführungsart  der  Versuche  gewinnen. 
V.  Brücke. 


A.  Lipschütz,  Physiologie  und  Ent- 
wicklungsgeschichte und  über  die 
Aufgaben  des  physiologischen  Unter- 
richts an  der  Universität.  Jena  1916. 
G.  Fischer. 


70 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


An  der  Hand  einiger  dem  Referenten  nicht 
gerade  glückHch  gewählt  erscheinender  Beispiele 
erörtert  der  Verf.  die  Bedeutung  der  physiologischen 
Forschung  für  die  Klärung  biologischer  Er- 
scheinungen, die  bisher  mehr  von  ihrer  vergleichend- 
anatomischen und  embryologischen  Seite  her  be- 
trachtet worden  waren. 

Die  Bedeutung  der  Homoiothermie  für  die 
Entwicklung  der  Großhirnfunktionen  darf  nach 
den  Erfahrungen  an  VVinterschläfern  und  Vögeln 
sowie  nach  der  fortschreitenden  Entwicklung  der 
Großhirnfunktionen  in  der  Reihe  der  poikilothermen 
Vertebraten  wohl  nicht  zu  sehr  in  den  Vordergrund 
gestellt  werden. 

Das  Bedürfnis  eines  theoretischen  und  prak- 
tischen Unterrichts  in  allgemeiner  Physiologie 
im  Rahmen  der  naturwissenschaftlichen  Fakultäten 
wird  von  allen  Biologen  anerkannt  werden. 

V.  Brücke. 


W.    Stempell    u.    A.    Koch,    Elemente    der 
Tierphysiologie.     Ein    Hilfsbuch    für  Vor- 
lesungen   und    praktische   Übungen    an    Univer- 
sitäten und  höheren  Schulen  sowie  zum  Selbst- 
studium für  Zoologen  und  iVIediziner.    Jena   1916. 
G.  Uscher. 
Mit  aufrichtiger  Freude  und  Dankbarkeit  wird 
jeder  Biologe  dieses  Werk  begrüßen !     Es  ist  dem 
Verf.  gelungen  in  dem  Rahmen  eines  vergleichend 
physiologischen    Praktikums    eine    streng    wissen- 
schaftliche,    dabei     aber     äußerst     anregend     ge- 
schriebene Darstellung  fast  des  gesamten  Gebietes 
der  Biologie    zu    geben.     Der    Zoologe    wie   auch 
der  Medizmer  findet  hier  eine  Fülle  von  Versuchen 
und  Beobachtungen  zusammengestellt,  deren  syste- 
matische Durchfuhrurg  zu  einer  außerordentlichen 
Bereicherung    seiner    biologischen  Kenntnisse  und 
zu  einer  wesentlichen  Vertiefung  des  Verständnisses 
der  Lebensvorgänge  führen  muß. 

Das  vorliegende  Werk,  das  auf  Grund  längerer 
praktischer  Erfahrungen  entstanden  ist,  enthält 
15  Kapitel,  von  denen  jedes  in  einem  ausführlichen 
theoretischen  und  einem  praktischen  Teile  ein  abge- 
grenztes Gebiet  der  Biologie  umfaßt.  Die  ersten  drei 
Kapitel  sind  der  Biologie  der  Protozoen  gewidmet. 
Die  drei  nächsten  dem  Stoffwechsel  der  Proto- 
und  Metazoen,  und  drei  weitere  Kapitel  dem 
Säftekreislauf  und  der  Atmung;  das  10  Kapitel 
behandelt  die  Sekretions-  und  Exkretionsvorgänge, 
das  1 1.  die  Produktion  mechanischer  und  elektrischer 
Energie;  die  drei  nächsten  befassen  sich  mit  den 
Reaktionen  des  zentralen  und  peripheren  Nerven- 
systems auf  die  verschiedenen  äußeren  Reize,  und 
im  letzten  Kapitel  wird  die  Schall-  und  Licht- 
produktion sowie  die  Fortpflanzung  der  Metazoen 
besprochen.  Der  Umfang  jedes  Kapitels  ist 
so  gewählt,  daß  die  entsprechenden  praktischen 
Übungen  in  etwa  5  bis  6  Wochenstunden  kurs- 
mäßig durchgeführt  werden  können;  dabei  sind 
die  Versuche  so  eingehend  und  klar  besprochen 
und   zum  großen  Teile   so  leicht   ausführbar    und 


durch  so  gute  Abbildungen  erläutert,  daß  sie  sich 
auch  in  hohem  Maße  zur  Demonstration  im  bio- 
logischen Unterrichte  an  Matelschulen  eignen. 

Nach  der  Ansicht  des  Ref.  ist  das  vorliegende 
Werk  berufen  die  Entwicklung  physiologisch- 
zoologischer Praktika  an  unseren  Hochschulen 
mächtig  zu  fördern;  es  wird  aber  andererseits 
auch  dem  Lehrer  an  höheren  Schulen,  der  mit 
Liebe  an  seine  schöne  Aufgabe  herantritt,  bei  der 
Jugend  Interesse  für  biologisches  Geschehen  zu 
erwecken,  ein  ausgezeichneter  und  verläßlicher 
Führer  sein,  so  daß  wir  wohl  auch  in  dieser 
Hinsicht  reichen  Segen  von  dem  Stempell- 
Koch 'sehen  Buche  erhoffen  dürfen. 

V.  Brücke. 


Franz  Ko§mat,  Paläogeographie.  Geo- 
logische Geschichte  der  Meere  und 
Festländer.  (Sammig.  Göschen  Nr.  406). 
Mit  6  Karten.  2.  neubearb.  Auflage.  Leipzig 
u.  Berlin  1916.  G.  J.  Göschen.  —  Preis,  geb. 
I   M. 

Das  bekannte,  in  neuer  Auflage  erschienene 
Werk  verdankt  seinen  Wert  der  übersichtlichen 
Darstellung  der  Ergebnisse  der  Paläogeographie 
auf  Grund  des  für  diese  Ergebnisse  uns  zur  Ver- 
fügung stehenden  Beobachtungsmaterials  (Ver- 
breitung der  Meeres  und  Koniinentalablagerungen, 
der  Tier-  und  Pflanzenformen  und  der  vulkanischen 
und  klimatischen  Erscheinungen).  Manche  in  der 
I.  Auflage  nur  auf  Wahrscheinlichkeitsschlüssen 
aufgebaute  Phasen  haben  durch  neuere  Funde  eine 
Vertiefung  erfahren  (Asien  war  besonders  reich 
an  solchen  Ergebnissen),  so  daß  ein  in  den 
Hauptzügen  sicheres  Bild  der  Veränderungen  der 
Festländer  und  Meere  entsteht.         G.  Hornig. 


F.  Frech,    Der   Kriegsschauplatz    in    Ar- 
menien und  Mesopotamien.     Heft  5  der 
Sammlung:     Die    Kriegsschauplätze,    herausge- 
geben   von    Prof.    Dr.    A.   Hettner.     Leipzig 
und  Berlin   1916.    B.  G.  Teubner.  —  Preis  geh. 
2,40  M. 
Beide  Kriegsschauplätze    haben  nur    den  Cha- 
rakter einer  Nebenbühne  im  Weltkriege,  trotzdem 
sind    die   dabei    auf  dem  Spiel    stehenden    Werte 
bedeutsam  wegen  des  Schicksals  der  Bagdadbahn 
und  der  persisch-mesopotamischen  Erd- 
ölquellen,   deren    Besitz    die    Engländer   unab- 
hängig    vom    amerikanischen    Monopol    machen 
würde.      Auch    der    Zugangsweg    über    die    freie 
Balkanhalbinsel    nach    dem    Persischen    Golf  muß 
fest  in  unserer  Hand  bleiben. 

Von  N  her,  über  das  pontische  Küstenland  und 
Transkaukasien  sind  die  Russen  in  das  Hochland 
von  Armenien  eingedrungen,  über  dessen  Boden- 
schätze (Stein-  und  Braunkohlen  sowie  Erzgänge) 
Frech  uns  ausführliche  Angaben  macht,  nach- 
dem er  uns  die  Physiognomie  des  Landes  ge- 
schildert hat.     Die  Betrachtung  der  Armenien  be- 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


71 


wohnenden  Völkerstämme  führt  dann  zur  Dar- 
stellung der  kriegerischen  Ereignisse  bis  zur  IVlitte 
des  Jahres   1916. 

Ungleich  wichtiger  als  Mündungsgebiet  am 
Euphrat  und  Tigris  ist  der  Kampf  in  Mesopo- 
tamien, dessen  Bedeutung  für  den  Weltmarkt 
nicht  nur  in  seinem  Erdöl,  sondern  auch  in  seiner 
alten  Ackerbaukultur  besteht.  Das  Alluvialland 
des  alten  Babylonien  und  die  Steppenlandschaft 
Assyriens,  ihr  Ackerbau  und  ihre  Bewässerungs- 
anlagen sowie  ihre  Erschließung  durch  die  Bagdad- 
bahn werden  uns  in  glänzender  Darstellung  vor 
Augen  geführt.  Der  Kampf  um  diese  Länder  in 
ihrer  wechselvollen  Geschichte  und  im  jetzigen 
Kriege  wird  uns  im  folgenden  Abschnitt  geschildert ; 
den  Schluß  bildet  euie  Beschreibung  der  Erdöl- 
vorkommen Mesopotamiens  und  des  türkisch- 
persischen Grenzgebietes. 

In  mehreren  typisch  ausgewählten  Tafeln 
werden  uns  die  Landschaftsformen  und  Kultur- 
güter der  geschilderten  Gebiete  vorgeführt. 

G.  Hornig. 


H.  Stadler,  Albertus  Magnus,  de  animali- 
bus  libri  XXVL     Nach  der  Kölner  Urschrift. 
Erster    Band,    Buch    I--XII    enthaltend.     —    In 
„Beiträge    zur   Geschichte    der   Philosophie    des 
Mittelalters,  Texte  und  Untersuchungen  Bd.  XV." 
Münster  i.  W.    1916.    Aschendorff'sche  Verlags- 
buchh.  —  Preis   28,75   M. 
Albert,    mit    dem    Beinamen    der    Große, 
von    BoUstädt    (Lauingen   a.    d.   Donau),    geboren 
um   1207    und    gestorben    in    Köln    1280,    genießt 
in    weiten   Kreisen    den    Ruf   des    größten    Natur- 
forschers,   der    im    Mittelalter    lebte.      Schon    von 
verschiedener,   auch    naturwissenschaftlicher    Seite 
wurde    seine  große  Bedeutung    für    die    heimische 
Naturgeschichte    gewürdigt:    so    hat    E.    K.    von 
Martens  „über  die  von  Albertus  M.  erwähnten 
Landsäugetiere"    geschrieben    (Archiv    für    Naturg. 
XXIV    1858);    C.    Jessen    gab    die    botanischen 
Schriften      heraus      (Berlin      1867);      der      Unter- 
zeichnete selbst  behandelte    „die  Vogelkunde    des 
Albertus  M."  (Regensburg  1910);  J.  H.  F.  Kohl - 
brugge    (die    morphologische    Abstammung    des 
Menschen,  Stuttgart  1908,  S.  89)  wünscht  dringend 
eine  Darstellung    der  anthropologischen  Anschau- 
ungen   des    großen     mittelalierlichen     Gelehrten. 
Aber   solche    Detailuntersuchungen    waren    bisher 
sehr   erschwert    infolge    der    mangelhaften    Über- 
lieferung des  ursprünglichen  Textes.  Das  Tierbuch 
ist  zwar  mit  den  anderen  Werken  des  Albertus 
in  der  Pariser  Ausgabe  von  Borgnet  (1891),  die 


26  Bände  umfaßt,  als  Bd.  XI  und  XII  abgedruckt, 
aber  leider  voll  Fehler  und  Lücken,  namentlich, 
was  die  Wiedergabe  etwaiger  deutscher  Namen 
betrifft. 

Diesen  Schwierigkeiren  ist  nun  mit  der  Arbeit 
H.  Stadler's  abgeholfen.  Seine  Ausgabe  beruht 
auf  dem  Codex  Coloniensis,  der  im  Städtischen 
Archiv  zu  Köln  sich  befindet  und  nachweisbar 
die  aus  der  Hand  des  Albertus  selbst  stammende 
Urschrift  des  Tierbuches  darstellt.  Nach  erheblichen 
Vorarbeiten  ging  H.  Stadler  auf  Zureden  der  be- 
kannten Zoologen,  Herrn  Geheimrat  R.  v.  Hertwig 
(München)  und  P.  E.  Wasmann  S.  J.  (Exaeten), 
denen  auch  das  Werk  gewidmet  ist,  an  die  Her- 
stellung einer  kritischen  Ausgabe  des  Originals. 
Die  Drucklegung  geschah  mit  Hilfe  der  K.  bayr. 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  München,  der 
deutschen  Görresgesellschaft  und  der  rheinischen 
Gesellschaft  für  wissenschaftliche  Forschung. 

So  liegt  vor  uns  ein  starker  Band  von  fast 
900  Seiten,  der  die  ersten  12  Bücher  der  Tier- 
geschichte des  A.  M.  umfaßt  und  hauptsächlich 
die  Anatomie  des  Menschen  und  der  Tiere  be- 
handelt. Es  würde  zu  weit  gehen,  sich  in  die 
Einzelheiten  zu  vertiefen ;  schon  aus  den  Kapitel- 
überschriften erhellt,  wie  modern  Albertus  den 
Stofi  gliedert,  wie  ihm  die  vergleichende  Be- 
trachtung der  Organismen  kein  fremdes  Gebiet 
ist.  Albertus  baut  bekannilich  auf  A  ristoteles 
und  Aviceüa  auf,  kommentiert  sie  und  macht 
Zusätze,  in  denen  hauptsächlich  die  Quellen  für 
heimische  Naturgeschichte  verborgen  liegen. 
Der  Herausgeber  hat  mit  riesigem  Fleiße  das 
Eigen-  und  das  Lehngut  seines  .Autors  geschieden 
und  durch  Einsetzen  von  einfachen  und  Doppel- 
strichen kenntlich  gemacht.  Diese  dankenswerte 
Zugabe  überhebt  uns  der  mühsamen  Arbeit,  den 
Quellen  des  Albertus  nachzugehen;  sie  charak- 
terisiert aber  auch  Stadler's  Werk  als  eine 
äußerst  sorgfältige  Arbeit. 

Mit  diesem  Buch,  dessen  Drucklegung  sich 
mitten  im  Weltkrieg  vollzieht,  ist  von  der  deutschen 
Forschung  eine  Ehrenschuld  abgetragen.  Das 
Werk  bildet  an  der  Seite  des  erwähnten  gerade 
vor  50  Jahren  von  C.  Jessen  herausgegebenen 
Pflanzenbuches  des  A.  M.  eine  Zierde  der  historischen 
Abteilung  jeder  giößeren  naturwissenschaftlichen 
Bibliothek.  Mit  Spannung  erwarten  wir  den  2.  Teil, 
in  dem  die  eigentliche  (systematische)  Zoologie, 
der  für  die  heimische  Fauna  besonders  wichtige 
Abschnitt,  neben  den  Indices  enthalten  sein  wird 
und  mit  dem  das  ganze  Werk  zum  Abschluß 
kommt.  S.  Killermann. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  s 


Anregungen  und  Antworten. 


Streckungsmittel  des  Brotes  vor  loo  Jahren.  Allem  An- 
schein nach  war  unsre  Körnerernte  so  ergiebig,  daß  das  Volk 
sich  über  den  Ausfall  von  Kartoffeln  mit  der  Hoffnung 
hinwegtröstet,  der  Mangel  daran  könne  ihm  durch  eine  Mehr- 
spende von  brot  wett  gemacht  werden.  Dem  Vernehmen  nach 
wird  das  Brot  aber  nach  wie  vor  mit  Kartoffeln  ,, gestreckt", 
wie  diese  verdünnende  oder  längende  Tätigkeit  jetzt  heiBt. 
Das  legt  die  Frage  nach  einem  Ersatz  der  , .streckenden" 
Kartoffeln  nahe  und  zeitgemäß  erscheint  ein  Vorschlag,  der 
just  vor  hundert  Jahr  gemacht  wurde ,  als  die  Zeiten  infolge 
der  eben  bestandenen  Kriegsnöte  noch  recht  schlechte  waren 
und  Mißernte  die  Nahrung,  in  der  unsere  schier  unentbehrlich 
erscheinende  Kartoffel  noch  eine  Nebenrolle  spielte,  äußerst 
knapp  machte.  Mit  ruhmlichem  Eifer  hatte  der  Königl.  Aktuar 
Bayrhammer  Versuche  für  das  allgemeine  Wohl  angesiellt, 
„durch  verhältnismäßige  Beimischung  von  Runkelrüben, 
Erdkohlraben  oder  weißen  Rüben  unter  dem  Korn- 
mehle zu  erzielendes  wohlfeileres  uud  doch  wohlschmeckenderes 
Brot  zu  erzielen."  Nachdem  ihm  das  gelungen,  machte  die 
Königliche  Landesdirektion  als  Wohlfahrtskomilee,  gez.  Krhr. 
V.  Zurheira,  Würzburg  den  25.  Febr.  1817  eine  Anweisung 
bekannt  „Zur  Brotvermehrung  durch  Erdkohlraben  oder 
Untersich-Kohlraben')  auch  Kaulrüben  genannt,  — 
durch  Runkelrüben,  Dickrüben  oder  Rangers- 
Wurzeln  (Schneller's  Bayrisches  Wörterbuch  kennt  nur 
als  gleichbedeutend  mit  R  u  n  k  e  1  rüben  Range  und  Rande!) 
—  durch  gemeine  weiße  Rüben."  Kurz  ist  das  Vcrtahren 
folgendes:  Die  Rüben  werden  gut  gereinigt,  geschält  (bei 
weißen  Rüben  genügt  das  Beaeitigen  der  Herzblättchen, 
Wurzelschüsse),  schlechte  Stellen  beseitigt,  möglichst  fein  zer- 
kleinert (zerrieben,  zerstampft),  etwa  eine  Stunde  lang  gesotten. 
Die  Suppe  wird  gekeltert  ^durchgeseiht  und  abgepreßt,  die 
Flüssigkeit  kann,  unter  Zufügen  von  etwas  Sauerteig  oder  Hefe 
vergohren,  zur  Alkoholdeslillation  verwandt  oder  aber  ohne 
weiteres  zu  einem  süßen  „Kraut"  eingedampft  werden  I),  der 
Brei  in  einem  Backtröge  mit  Sauerteig  und  dem  nötigen  Mehl 
„eingemehrt",  d.  h.  zu  einem  Teig  angerührt  und  zur  Gährung 
gebracht,  der  Teig  schließlich  in  gewöhnlicher  Art  verbacken. 
50  kg  Erdkohlraben  gaben  rund  27  kg  abgepreßten  Brei,  der 
mit  24  kg  Sauerteig  (darin  16  kg  Mehl)  und  43  kg  Roggen- 
mehl den  Teig  anmachen  ließen.  An  die  Stelle  der  Kohlraben 
können  ganz  oder  teilweise  mit  gleich  gutem  Erfolg  Möhren 
(gelbe  Rüben)  treten.  Von  der  Preisberechnung  kann  ab- 
gesehen werden,  da  die  Grundlagen  völlig  andere  geworden 
sind.  Bei  unserem  Kartoffelmangel  verdient  aber  der  Hinweis 
auf  das  Hilfsmittel  der  Vorzeit  jetzt  zweifellos  einige  Beachtung. 
Die  Ben  Akiba'sche  Wahrnehmung:  ,, Alles  ist  schon  dage- 
wesen" tröstet  außerdem  über  die  „noch  nie  erlebten"  uner- 
hörten, aber  vorerst  noch  recht  gut  zu  tragenden  Kummer- 
Nahrungsverhältnisse.  Hermann  Schelenz. 


')  Auch  dies  Wort  wie  Kohlrabi  machte  sich  die  germa- 
nische Welt  aus  dem  lat.  rapa  (franz.  rave,  bette-,  chou-rave) 
mundgerecht,  während  Radi  und  Radieschen  die  umgewandelte 
radix  ist. 


Herrn  G.  Josephy,  Jena.  Eine  moderne  zusammenfassende 
deutsche  Darstellung  der  Vorgeschichte  Ostrufilands  und 
Sibiriens  fehlt  bis  heute.  Über  die  russische  Literatur,  die 
wohl  nicht  in  Frage  kommt,  gibt  das  Werk  Minns,  Scythians 
and  Greeks  (Cambridge  1913)  in  einer  vortrefflichen  Biblio- 
graphie Aufschluß;  dort  kommt  vor  allen  Dingen  das  umfang- 
reiche Werk  von  W.  Radioff,  Sibirische  Altertümer  (russ. 
Petersburg  1SS8)  in  Frage.  Es  bleibt  also  lediglich  die  ältere 
Literatur;  da  ist  zunächst  das  umfangreiche  Werk  von 
F.  R.  Martin  zu  nennen  (L'age  du  bronze  au  Musee  de 
Minoussinsk,  Stockholm  1S93);  daneben  ist  Aspelin,  Antiquite 
du  Nord  finno-ougrien  I.  L'age  du  bronze  altaico-ouralien 
(Stockholm  1874)  heranzuziehen.  Mancherlei  wertvolle  .Angaben 
finden  sich  in  den  älteren  Jahrgängen  der  Zeitschrift  für  Ethno- 
logie und  der  Verhandlungen  der  Berliner  anthropologischen 
Gesellschaft,  worüber  durch  die  Generalregister  dieser  Zeit- 
schriften sich  leicht  näheres  feststellen  läßt;  vor  allen  Dingen 
kommen  wohl  Verhandlungen  1879,  S.  300  und  Zeitschr.  f. 
Ethnol.   1897,  S.    141   in  Frage. 

Hugo  Mötefindt,  Wernigerode. 


Literatur. 

Grimsehl,  Prof.  Dr.  E.f,  Lehrbuch  'der  Physik  zum 
Gebrauch  beim  Unterricht,  bei  akademischen  Vorlesungen  und 
zum  Selbststudium,  i.  Bd.:  Mechanik,  Akustik  und  Optik.  — 
12  M.  2.  Bd.;  Magnetismus  und  Elektrizität.  Leipzig-Berlin 
'16,   B.   G.  Teubner.  —  SM. 

Fauth,  Phil.,  15  Astronomische  Stereos  zur  Unter- 
stützung des  Raumsinnes  usw.  Kaiserslautern  '16,  H.  Kayser.  — 
4,50  M. 

Frech,  F.,  Geologie  Kleinasiens  im  Bereich  der  Bagdad- 
bahn. Mit  20  paläontologischen  Talein,  3  geologischen  Karten, 
I  Profiltafel  und  5  Textbildern.  Stuttgart  'ib,  F.  Enke.  — 
20,50  M. 

Dennert,  Prof.  Dr.  E.,  Not  und  Mangel  als  Faktoren 
der  Entwicklung,  eine  biologische  Studie  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung des  Krieges.  Godesberg  '16,  Naturw.  Verlag 
(.\bt.   d.  Keplerbundes).  —  0,50  M, 

Dahl,  Prof.  Dr.  Fr.,  Die  Asseln  oder  Isopoden  Deutsch- 
lands. Mit  107  Textabbildungen.  Jena  '16,  G.  Fischer.  — 
2,80  M. 

Adloff,  Prof.  Dr.  P.,  Die  Entwicklung  des  Zahnsystems 
der  Säugetiere  und  des  Menschen.  Eine  Kritik  der  Dimer- 
theorie.     Berlin  '16,  H.  Meußer.  —   5   M. 

Frech,  Prof.  Dr.  F.,  Der  Kriegsschauplatz  in  Armenien 
und  Mesopotamien.  Mit  13  Abbildungen  auf  9  Tafeln  sowie 
3  Kartenskizzen.  Leipzig  und  Berlin  '16,  B.  G.  Teubner.  — 
2,40  M. 

Heim,  A.,  Geologie  der  Schweiz.  Vollständig  in  etwa 
10  Lieferungen  mit  etwa  40  Tafeln  und  Karten,  sowie  200 
Textabbildungen.  Lieferung  I.  Leipzig  '16,  Chr.  H.  Tauchnitz. 
—  Jede  Lieferung  6  M. 


Inhalte  Hugo  Mötefindt,  Georg  Schweinfurth.  S.  57.  —  Einzelberichte:  Franz,  Gegenwärtiger  Stand  der  Meta- 
raerentheorie  des  Wirbeltierkopfes.  S.  62.  Thomas  J.  Headley,  Der  Kampf  eines  Staates  gegen  die  Moskitos. 
(2  Abb.)  S.  62.  W.  De  ecke,  „Über  Gastropoden".  S.  63.  Wood,  Über  .aufnahmen  mit  monochromatischem  Licht 
an  Himmelskörpern.  S.  65.  Me  t  h  odi  Po  p  o  ff ,  Eine  interessante  Parallele  zwischen  der  künstlichen  Parthenogenese 
und  der  Anregung  zur  Wundheilung  durch  die  gleichen  Agenticn.  (l  Abb.)  S.  66.  K.  Fajans,  Zur  Erkenntnis  der 
isotopen  Elemente.  S.  68.  —  Bücherbesprechungen:  A.  v.  Tschermak,  Allgemeine  Physiologie.  S.  69.  L.  As  her, 
Praktische  Übungen  in  der  Physiologie.  S.  Ö9.  A.  Lipschütz,  Physiologie  und  Entwicklungsgeschichte  und  über  die 
Aufgaben  des  physiologischen  Unterrichts  an  der  Universität.  S.  69.  W.  S  t  em  p  e  1 1  u.  A.  K  o  c  h  ,  Elemente  der  Tier- 
physiologie. S.  70.  Franz  Koßmat,  Paläogeographie,  Geologische  Geschichte  der  Meere  und  Festländer.  S.  70. 
F.  Frech,  Der  Kriegsschauplatz  in  Armenien  und  Mesopotamien.  S.  70.  H.  Stadler,  Albertus  Magnus,  de  animalibus 
libri  X.XVl.  S.  71.  —  Anregungen  und  Antworten:  Streckungsmittel  des  Brotes  vor  100  Jahren.  S.  72.  Vorgeschichte 
Ostrußlands  und  Sibiriens.  S.   72.  —  Literatur:   Liste.  S.   72. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalider 
Verlag   von   Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg 


!  42,   erbe 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  ii.  Februar  1917. 


Nummer  6 


Versuch  einer  methodischen  Bestimmung  des  Inzuchtsgrades 
mittels  mathematischer  Methode. 


[Nachdruck  verboten 


Von  Jaroslav  Kfizenecky,  Prag,  Kgl.  Weinberge. 


Der  Begriff  der  Inzucht  ist  heute  noch  recht 
unklar  und  zu  breit,  wobei  seine  Grenzen  fast 
bei  jedem  Autor  andere  sind.  Im  breitesten 
Sinne  bedeutet  „Inzucht"  eine  Zeugung  innerhalb 
einer  gewissen  Gruppe  von  Organismen,  die  nach 
außen  isoliert  ist.  Aber  eben  die  Breite  dieser 
Gruppe  ist  unbestimmt  und  fast  unendlich  ver- 
änderlich; und  damit  variiert  auch  der  Begriff  der 
Inzucht:  diese  kann  sich  abspielen  entweder 
innerhalb  eines  gewissen  Volkes  —  wenn  wir 
die  Menschen  betrachten  — ,  oder  innerhalb 
einer  gewissen  Kaste,  Gesellschaft,  innerhalb  einer 
Rasse  oder  endlich  innerhalb  einer  oder  mehreren 
Familien.  So  versteht  z.  B.  Re  ibmay  er  (1897) 
unter  Inzucht  nicht  eigentlich  eine  Verwandtschafts- 
oder Blutsverwandtschaftskreuzung,  sondern  eine 
Kreuzung  innerhalb  einer  kleineren,  nach  außen 
isolierten  Gesellschaft.  Enger  begreift  das  Wort 
„Inzucht"  Martius  (1914),  der  damit  schon  eine 
Verwandschafts-  oder  Blutsverwandtschaftskreuzung 
versteht,  und  unterscheidet  dabei  mehrere  Typen 
der  Inzucht:  Kreuzung  unter  Individuen  derselben 
Art,  oder  unter  verschiedenen  Arten  derselben 
Gattung  oder  endlich  eine  engste  Blutsverwandt- 
schaftskreuzung. 

Wenn  wir  aber  die  Sache  nur  ein  wenig 
strenger  betrachten,  dann  sehen  wir,  daß  z.  B.  die 
Menschen  eigentlich  unter  einer  dauernden  Inzucht 
leben.  Es  erhellt  dies  aus  folgender  Erwägung: 
sollten  alle  Menschen  untereinander  vollständig 
blutsfremd  sein,  dann  müßte  jeder  von  ihnen  zwei 
untereinander  fremde  Ehern  besitzen,  von  diesen 
wieder  jeder  zwei  solche  .  .  .  usw.,  so  daß  in 
solchem  Falle  die  Zahl  der  Aszendenten,  Vorfahren 
von  jedem  Mensehen  in  zurückkehrender  Richtung 
in  einer  geometrischen  Reihe  mit  dem  Quotient  =  2 
und  dem  Anfangsgliede  =  I  zunehmen  müßte. 
Rechnen  wir  auf  ein  Jahrhundert  je  drei  Gene- 
rationen, dann  müßte  jeder  im  Jahre  1900  lebende 
Mensch,  sollte  er  nämlich  inzuchtsfrei  sein,  zu  Zeiten 
Gregor's  VII.  (um  das  Jahr  1050)  ca.  11  777000 
Vorfahren  zeigen,  zu  Christi  Zeiten  dann  über 
18  Millionen.  Beträgt  heute  die  Menschheit  un- 
gefähr 600  Millionen,  dann  müßte  die  Zahl  solcher 
theoretischer  Vorfahren  zu  Zeiten  Christi  über 
loS6- 10' betragen,  was  mehr  als  absurd  ist.  Auf 
der  anderen  Seite  müßte  aber  umgekehrt  die  Zahl 
der  Menschen  notwendigerweise  abnehmen,  denn 
aus  jeder  Ehe  könnte  nur  ein  Kind  seinen  Ursprung 
nehmen,  was  ein  vollständiges  Aussterben  der 
Menschheit  in  nicht  ganz  einem  Jahrtausend  zur 
Folge  hätte. 

In    der  Tat   verhält  sich   die  Sache  aber  eben 


umgekehrt:  die  Menschheit  nimmt  in  ihrer  Zahl 
nicht  ab,  sondern  zu,  die  Menschen  vermehren 
sich  und  zwar  beinahe  in  einer  geometrischen 
Reihe,  wie  darauf  schon  im  Jahre  1798  Malthus 
in  seinen  „Essay  on  the  principle  of  po- 
pulation"  hingewiesen  hat.  Die  Folge  davon 
ist,  daß  bei  jedem  Menschen  in  seinem  Stamm- 
baume mehrere  Aszendenten  sich  wiederholen 
müssen,  so  daß  die  wirkliche  Zahl  von  ver- 
schiedenen Vorfahren  kleiner  als  die  theoretische 
ist;  es  entsteht  dabei  der  sogen.  „Ahnenverlust", 
was  bedeutet,  daß  die  Menschheit  eigentlich  in 
einer  Inzucht  lebt,  denn  eben  jedes  Individuum, 
das  in  seinem  Stammbaume  einen  Ahnenverlust 
zeigt,  ist  als  Produkt  einer  Inzucht  zu  bezeichnen. 

Infolgedessen  muß  auch  Reibmayer's  so 
breit  gefaßte  Inzucht  nach  einer  gewissen  Zeit 
sich  zu  einer  engeren  Verwandtschafts-  oder  endlich 
Blutsverwandschaftskreuzung  verändern  und  zwar 
desto  früher,  je  kleiner  die  betreffende  Gesellschaft 
wäre. 

Es  ist  aber  selbstverständlich,  daß  man  die 
Sache  solcherweise  nicht  annehmen  kann,  denn 
der  Grad  der  Verwandtschaftlichkeit  ändert  sich 
danach,  in  welcher  Generation  sich  ein  Aszendent 
wiederholt,  und  auch  danach,  wieviel  solche  sich 
wiederholende  Ahnen  es  gibt.  In  der  Tierzucht- 
lehre ist  z.  B.  als  die  Grenze  die  achte  Ahnen- 
generation eingeführt:  besitzen  zwei  Tiere,  ein 
Männchen  und  ein  Weibchen  in  den  vorhergehenden 
sieben  Generationen  einen  oder  mehrere  ge- 
meinsame Aszendenten,  dann  ist  ihre  Nachkommen- 
schaft als  ein  Produkt  verwandtschaftlicher  Inzucht 
zu  bezeichnen.  Wiederholt  sich  nun  solche 
verwandtschaftliche  Inzuchtskreuzung  in  mehreren 
Generationen,  so  kann  sich  endlich  bis  zu  einer 
bluts verwandtschaftlichen  Inzucht  oder  einem 
Inzest  (Kreuzung  unter  Eltern  und  Kindern  oder 
den  Geschwistern  selbst)  steigern. 

Darwin  hat  seinerzeit  ähnlich  zwei  ver- 
schiedene Grade  der  Inzucht  aufgestellt,  nämlich 
sogen.  ,,interbreeding"  (Inzucht  in  weiterem  Sinne) 
und  sog.  Inbreeding"  (enge  Inzucht  oder  Inzestzucht), 
Begriffe,  welche  noch  heute  von  englischen  und 
amerikanischen  Forschern  benutzt  werden;  dabei 
soll  bedeuten:  „Inbreeding"  eine  Kreuzung  zwischen 
Geschwistern  oder  zwischen  Eltern  und  den 
Kindern,  „interbreeding"  eine  Kreuzung  innerhalb 
der  gleichen  Spezies  oder  Rasse  und  überhaupt 
unter  Individuen,  die  nicht  in  nahem  Verwandt- 
schaftsgrade zueinander  stehen  (vgl.  hierüber 
Morgan,   1909,  S.  226). 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


In  WirkHchkeit  kann  man  aber  bei  der  Inzucht 
eigentlich  eine  ganze  Reihe  von  verschiedenen 
Graden  unterscheiden,  welche  Grade  sich  unter- 
einander aber  keineswegs  qualitativ,  sondern 
nur  quantitativ  unterscheiden,  je  nachdem, 
wie  nahe  oder  ferne  sich  die  Eltern  stehen,  die 
dabei  in  Betracht  kommen.  Deswegen  kann  auch 
der  Unterschied  zwischen  der  „verwandtschaftlichen" 
und  der  „blutsverwandtschaftlichen"  Inzucht,  ebenso 
wie  ein  solcher  zwischen  ,,interbreeding"  und  ,, In- 
breeding" keineswegs  ein  absoluter  und  scharfer 
sein.  Dieser  Umstand  ermöglicht  es  aber  zugleich, 
den  Grad  der  Inzucht  zu  messen,  denn  eben  nur 
quantitativ  verschiedene  Werte  sind  meßbar.  Den 
Grad  der  Inzucht  mathematisch  zu  messen  und 
zu  bestimmen,  wurde  nun  unlängst  von  Raymond 
Pearl,  dem  Vorstand  der  biologischen  Abteilung  der 
landwirtschaftlichen  experimentellen  Station  der 
Universität    zu  Maine  (Orono,    U.  S.  A.)   versucht. 

Seine  Methode  gründet  Pearl  auf  den  Ahnen- 
verlust, so  daß  er  die  Differenz  zwischen  der 
theoretischen  Zahl  von  verschiedenen  Aszen- 
zendenten  und  der  Zahl  der  wirklichen  Aszendenten 
in  einer  ;/-ten  Generation  bestimmt;  das  pro- 
zentuelle Verhältnis  dieser  Differenz  zu  der 
theoretischen    Ahnenmenge    bezeichnet    er    dann 


als  „coefficient  of  Inbreeding",  In,  durch 
den  der  Inzuchtsgrad  gegeben  wird;  diesen 
„Inzuchtskoeffizienten"  bestimmt  Pearl  mittels 
folgender  Formel: 

Zn  =  -°^*^Pe+-L—  Si+J») 

Pn  +  i 

wobei  bedeutet  (/>/, -Li)  die  theoretische  Zahl 
von  verschiedenen  Aszendenten,  (j^, +  i)  die 
wirkliche  Zahl  von  verschiedenen  Aszendenten 
und  Z)i  den  Inzuchtskoeffizienten  hinsichtlich  der 
//-ten  Generation. 

Als  bestes  Beispiel  zu  einer  konkreten  Dar- 
stellung der  Pearl 'sehen  scharfsinnig  begründeten 
Methode  kann  uns  eine  Familie,  in  welcher  eine  Reihe 
von  Generationen  hindurch  konsequent  eine  Paarung 
zwischen  Geschwistern,  Brüdern  und  Schwestern, 
ausgeführt  wurde,  dienen.  Dauerte  eine  solche 
Kreuzung,  nehmen  wir  an,  während  vier  Gene- 
rationen, dann  bekommen  wir  in  der  fünften 
Generation  ein  Individuum  .v,  welches  in  seiner 
ersten  vorhergehenden  Generation  (nämlich  Ahnen- 
generation) zwei  verschiedene  Eltern,  nämlich  a 
und  b,  besitzt,  welche  beide  wieder  gemeinsame 
Eltern  haben,  nätnlich  c  und  (/,  bei  welchen  dem 
ebenso  ist,  so  daß  uns  der  Stammbaum  eines 
solchen  Individuums  folgendes  Bild  gibt:') 


I.  Deszendentgeneration  . 
II.  Deszendentgeneration  . 

III.  Deszendentgeneration  . 

IV.  Deszendentgeneration  .  . 
V.  Deszendentgeneration  .  . 


gh     gh      gh     gh 

gh     gh     gh     gh. 

.  .    4.   Ahnengeneration 

e          f          e          f 

e          f          e          f       . 

.  .    3.   Ahnengeneration 

c                     d 

c                    d            .  , 
b 

.  .    2.  Ahnengeneration 

a 

.     I.  Ahnengeneration 

Aus  diesem  Stammbaume  ersehen  wir,  daß 
man  bei  einer  konsequenten  Kreuzung  zwischen 
Geschwistern,  in  der  fünften  Deszendentgeneration 
(V)  ein  Individuum  bekommt,  das  in  seiner  vierten 
Ahnengeneration  (4)  anstatt  sechzehn  nur  zwei 
verschiedene  Ahnen  [q  und  li)  zeigt.  Setzen  wir 
nun  in  Pearl's  Formel    ein,    so    bekommen    wir 


Z,-= 


100(16 — 2) 


87,5 


der  tnzuchtskoeffizient  ist  in  diesem  Falle  gleich  87,5. 


Ein  anderes  Beispiel  bietet  uns  eine  hypo- 
thetische Familie,  in  welcher  in  vier  Generationen 
eine  Kreuzung  zwischen  dem  Stammvater  a  und 
den  Nachkommen  stattfand.  Bezeichnen  wir  das 
Glied  der  fünften  Deszendentgeneration  (V.)  mit 
y,  seine  Eltern  mit  a  und  b  und  die  übrigen 
Aszendenten  mit  c,  d,  r,  /,  g . .  usw.,  dann  be- 
kommen wir  durch  Entwicklung  des  Stammbaumes 
das  folgende  Bild: 


I.  Deszendentgeneration  . 

II.  Deszendentgeneration  . 

III.  Deszendentgeneration  . 

IV.  Deszendentgeneration  . 
V.  Deszendentgeneration  . 


m  n      f  1      f  g      d  0 

f  g      d  i      de      a  s   .  , 

.  .    4.  Ahnengeneration 

f          g        d           i 

d          e          a         k      .  . 

.    3.  Ahnengeneration 

d                     e 

a                    c           .  . 

.    2.  Ahnengeneration 

a 

b 

.     I.  Ahnengeneration 

')  Hierbei  ist  es  nötig,  den  Unterschied  zwischen  einer 
„folgenden"  und  einer  „vorhergehenden"  Generation  gut  zu 
beachten:  die  erste  bedeutet  hier  eine  Deszendentcngeneration, 
nämlich  die  Kinder  den  Eitern  gegenüber,  welche  Generation 
im  folgenden  mit  römischen  Zilifern  (1,  II,  III  .  .  .)  bezeichnet 
wird,   die  andere  eine  Aszendenten-  oder  Ahnengeneration,   die 


uns  umgekehrt  die  Eltern  gegen  die  Kinder  repräsentieren, 
und  diese  Generation  wird  im  folgenden  mit  gewöhnlichen 
arabischen  Ziffern  (i,  2,  3  .  .  .)  bezeichnet.  In  unserem  Falle 
sehen  wir,  dafi  die  erste  Deszendentengeneration  (1)  unter  Be- 
rücksichtigung des  Individuums  x  seine  vierte  Ahnen-,  Aszen- 
dentengeneration   (4)  ist. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


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In  diesem  Falle  zeigt  die  vierte  Ahnen- 
generation (4)  entgegen  der  theoretisch  er- 
wünschten Zahl  16  nur  il  verschiedene  Aszen- 
denten. Nach  Einsetzen  in  Pearl's  Formel 
hätten  wir  also  iür  den  Inzuchtskoeffizient  den 
Wert  31,25  bekommen;  Pearl  gibt  aber  in  diesem 
F"alle  den  Wert  67,75  an.  Suchen  wir  nun  nach 
der  Ursache  dieser  Differenz,  so  erkennen  wir, 
daß  Pearl  als  die  Zahl  von  verschiedenen  As- 
zendenten in  der  vierten  Ahnengeneration  die 
Zahl  5  angibt,  trotzdem  es,  wie  sich  jeder  an  dem 
schematischen  aus  Pearl's  Publikationen  direkt 
übernommenen  Stammbaume  überzeugen  kann, 
in  dieser  11  verschiedene  Aszendenten  gibt: 
Der  Aszendent   ni  kommt   hier  einmal   vor  ...     1 


II  16 

Wirkliche  Zahl  Theoretische  Zahl 

verschiedener  verschiedener 

Aszendenten  Aszendenten. 

Die  Ursache,  warum  Pearl  hier  nur  von  fünf 
verschiedenen  Aszendenten  spricht,  liegt  darin,  daß 
Pearl  hinsichtlich  ihrer  Wiederholung  sich  nicht 
nur  auf  diese  vierte  Ahnengeneraiion,  beschränkte, 
sondern  auch  die  vorhergehende  Ahnengeneration 
(3,  2,  i)  in  Betracht  gezogen  hat;  mit  anderen 
Worten:  als  einen  sich  wiederholenden  Aszendenten 
bezeichnet  Pearl  nicht  nur  einen  solchen,  der 
mehr  als  einmal  in  der  vierten  Ahnengeneration 
vorkam,  sondern  auch  einen  solchen,  der  auch 
schon  in  einer  von  den  vorhergehenden  Gene- 
rationen —  event.  Ahne  ngeneration  —  nämlich 
in  der  3,  2  und  i  erschienen  ist,  obzwar  er  i  n 
der  vierten  nur  einmal  vorhanden  war.  So 
liegt  die  Sache  in  unserem  Beispiele  mit  den 
Aszendenten  /'  und  c,  welche  beide  in  der  vierten 
Ahnengeneration  nur  einmal  vorkommen,  welche 
aber  Pearl  trotzdem  unter  die  sich  wiederholenden 
reiht,  denn  sie  sind  schon  in  der  dritten  [3] 
(alle  beide)  und  in  der  zweiten  [2]  (l)  vorhanden. 

Trotzdem  al>o,  daß  Pearl  den  Ausdruck  ^„  +  1 
als  „the  actual  number  of  diffcrent  individuals  in 
the  matings  (the  matings  of  the  n  +  i  Generaüon)" 
definiert,  so  ist  ihm  in  der  Praxis  dieser  Ausdruck 
doch  nur  die  Anzahl  von  verschiedenen  Aszen- 
denten, zwar  in  der  «  ten  Generation,  aber  nicht 
nur  hinsichtlich  dieser,  sondern  hinsichtlich  des 
ganzen  Stammbaumes.  Am  klarsten  erscheint 
diese  Sache  aus  zwei  von  Pearl  angeführten  und 
besprochenen  praktischen  Beispielen. 

Das  erste  betrifft  ein  reinblütiges  Pferd  Namens 
Postiiiinis.     Der  Stammbaum    dieses  Pferdes,    wie 


ihn    Pearl    von    Bunsow    (1911)    entnimmt,    ist 
folgender : 

(Siehe  Stammbaum  S.  7b.) 

Berücksichtigen  wir  in  diesem  Falle  bloß  die 
fünfte  Ahnengeneration,  dann  erkennen  wir  als 
sich  wiederholende  Aszendenten  die  folgenden: 
T/wn/iaiihy,  Sfockwell  und  Voltaire,  deren  Namen 
in  dem  Stammbaume  kursiv  gedruck  sind.  Dem- 
nach ergibt  der  Ausdruck  (pn-^^  —  ^«  +  1)  den 
Wert  3  und  der  Inzuchtskoelfizient  wäre  hier 
9,375.  Pearl  gibt  aber  den  Wert  15,625  an 
und  zwar  deswegen,  weil  bei  ihm  der  Ausdruck 
{p„  _!_  I  —  i'«  4-  j)  den  Wert  5  darstellt,  da  er  als 
sich  wiederholende  Aszendenten  auch  die:  Mrs 
Ridgivay  und  Voltigciir  betrachtet,  welche  in  dem 
Stammbaume  schon  einmal  in  der  vierten  Ahnen- 
generation vorkommen  (von  Pearl  als  sich  wieder- 
holend betrachtete  Aszendenten  sind  in  dem 
Stammbaume  mit  *  bezeichnet). 

Ähnlich  ist  es  auch  in  dem  zweiten  Falle,  in 
welchem  es  sich  um  den  Stammbaum  einer  Milch- 
kuh Bess  JVemrr  handelt;  dieser  Stammbaum  ist 
wie  folgt: 

(Siehe  Stammbaum  S.  77.) 

Durchmustern  wir  in  diesem  Stammbaume 
die  vierte  Ahnengeneraiion,  so  sehen  wir,  daß  sich 
in  dieser  wiederholen :  Alphrds  S/oke  Pogis,  Carlo's 
Jidio,  Diiclicss  Stokr  Pogis  und  Edä/i  Darby 
(mit  Kursiv  gedruckt).  Die  Differenz  (/„  4.  ^  —  ^x  -F  i) 
beträgt  in  diesem  Falle  4  und  der  Inzuchtskoefhzient 
wäre  hier  gleich  25,00.  Da  aber  Pearl  als  sich 
wiederholende  noch:  Patrick  Fawkcs  und  Bahn 
betrachtet,  welche  in  der  dritten  Ahnengeneraiion 
vorkommen,  beträgt  nach  ihm  die  Differenz 
(pn  +  i—  qn-f  i)  den  Wert  6  und  der  von  ihm  an- 
gegebene Inzuchtskoelfizient  ist  infolgedessen  in 
diesem  Falle  37,5. 

Pearl  weicht  also  in  der  Praxis  von  seiner 
theoretischen  Definition  (vgl.  oben)  ab:  er  be- 
trachtet nämlich  die  verschiedenen,  resp.  umgekehrt 
sich  wiederholenden  Ahnen  nicht  nur  mit  Rücksicht 
auf  die  Generation,  mit  welcher  er  arbeitet,  sondern 
eigentlich  in  Hinsicht  auf  den  ganzen  Stammbaum. 
Dadurch  entsteht  aber  in  seiner  ganzen  Methode  — 
wie  diese  nämlich  praktiziert  wird  —  eine  große 
Ungieichmäßigkeit:  während  die  theoretische 
Zahl  verschiedener  Aszendenten  ihm  bloß  durch 
jene  einzige  Generation  gegeben  sein  wird,  stellt 
Pearl  die  wirkliche  Zahl  dieser  mit  Hilfe  des 
ganzen  Stammbaumes  fest;  mit  anderen  Worten: 
Pearl  vergleicht  und  manipuliert  in  der  Praxis 
seiner  Methode  mit  Werten,  die  hinsichtlich  ihrer 
Erwerbung  und  ihres  Ursprungs  verschiedenartig 
sind  und  sich  deswegen  untereinander  nicht  ver- 
gleichen la-^sen. 

Diese  Ungieichmäßigkeit  zu  beseitigen,  ist  auf 
zweierlei  Weibe  möglich:  entweder  dadurch,  daß 
wir  überall  nur  jene  betreffende  Generation  be- 
rücksichtigen werden,  oder  dadurch,  daß  wir 
fortwährend  den  gan  zen  Stammbaum  in  Be- 
tracht ziehen.    Was  die  erste  Möglichkeit  anbetrifft, 


16 


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N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Maid  of  Wye 


Napoli 


Flying  Duchess 


Euxine 

Vedette 
r  Isola  Bella 
I   Sterling 
r  Sunshine 
)   Macaroni 
i  Rouge  Rose 
(  Doncaster 
f   Liltle  Fairie 
hon 

f  Pocahontas 
I  Harcaway 
[   Merope 

\  Flying  Dutchman 
f  Mrs.  Ridgway 
(   Voltigeur 


/   Varna 

\   King  Tom 

{*Mrs.  Ridgway 
*VoItigeur 

(   Isolene 
\  Stockwell 
(   Whisper 
»   Oxford 
(   Sunbeam 
\   Thormanby 
f  Jocose 
I  Sweetmeat 
)    EUeen  Home 
\  *  Thormanby 

I    Marigold 

I  Lacerta 

(  Horusea 

(  Margaret 

\  Cain 

/  Marpena 
^  Glencoe 

i  Fanny  Dawson  fiUy 
(  Economist 

(   Velocipede's  dam 

\^  Voltaire 

(  Barbelle 

\  Boy  Middleton 

(  Nan  Dareil 

\  Birdcatcher 


Ahne;i- 
generation 


SO  ahnte  wahrscheinlich  schon  Pearl  gut,  daß 
dies  eine  sehr  unbestimmte  Methode  wäre,  mittels 
welcher  es  überhaupt  nicht  möglich  ist,  z.  B.  das 
Wiederholen  eines  Gliedes  der  betreffenden 
Generation  noch  in  den  vorhergehenden  Ahnen- 
generationen zu  berücksichtigen. 

Die  einzig  richtige  und  mögliche  ist  die  zweite 
Weise,  nämlich  den  ganzen  Stammbaum  zu  be- 
rücksichtigen: die  theoretisch  mögliche  Zahl  der 
Aszendenten  wäre  hier  mit  der  Summe  der  geo- 
metrischen Reihe  mit  dem  Anfangsglied  a,  =  i 
und  dem  Quotient  k  =  2  bis  zu  dem  w-ten  Gliede 
gegeben,  nach  der  F"ormel: 

a^Jk«-!) 
k  — I 
wobei  ;/  die  Zahl  der  Ahnengenerationen,  welche 
wir  in  diesem  oder  jenem  bestimmten  Falle  be- 
trachten, bedeutet ;  dadurch  wäre  der  Wert  /„  ge- 
geben, welclier  anstatt  Pearl's  /i„  +  ,  zu  setzen 
ist.  Durch  Eliminierung  aller  sich  wiederholenden 
Aszendenten  unter  Berücksichtigung  des  ganzen 
Stammbaumes  bekommen  wir  die  wirkliche 
Zahl  verschiedener  Aszendenten,  nämlich  ^„,  welche 
wieder   anstatt  Pearl's   </„  zu   setzen   ist.     Nach 


Einsetzung  in  die  Formel  bekommen  wir  nun  den 
Inzuchtskoeffizient : 

Zn='°°iPil-'^») 

Pn 

Mit  dieser  so  modifizierten  Methode  habe  ich 
die  Inzuchtskoffizienten  für  alle  vier  oben  angeführten 
(nach  Pearl  zitierten),  theoretischen  und  praktischen 
Fälle  umgerechnet  und  kam  dabei  zu  folgenden 
Zahlen : 

I.  Für  die  Zucht  mit  fortwährender 
Kreuzung  der  Aszendenten  mit 
ihren  Eltern  beträgt  derinzuchlskoeffizient 
hinsichtlich  der  vierten  Ahnengeneration     .  46,66 

II.  P'ür  die  Zucht  mit  fortwährender 
Kreuzung  der  Geschwisterkinder 
beträgt   der    Inzuchtskoeffizient    hinsichtlich 

der  vierten  Ahnengeneration 73,33 

III.  Für  das  Pferd  Posfuvnis  beträgt 
der  Inzuchtskoeffizient  hinsichtlich  der  fünften 
Ahnengeneration 9,6/7 

IV.  P'ür  die  Milchkuh  Bess  Weaver 
beträgt   der   Inzuchtskoeffizient   hinsichtlich 

der  vierten  Ahnengeneration 33i33 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


n 


Nr.  35913 

^, 

Nr.  26271 

0^ 

Nr.  14207                   a--» 

7««o'^  Stoki 

Pogii 

*Alfhea's  Sloke  Pogis 
Nr.   14436                     9 

Shera's  Sloke  Pogis 

•CaWöV  7««o 

Nr.  37346 

9 

Nr.   18  811                    (/> 

Sistra 

»Duchess  Stoke  Pogis 

Nr.  6246                       9 

»£Ä//6  ZJar*)' 

Nr.  79860 

9 

Nr.  19350 

c^ 

Nr.   10469                    a- 

Patrick   Faw 

kes 

Regal  Koffee 

Nr.  2:  574 

9 

c« 

Baltimore 

Kermesse 

a 

Nr.   17900 

V 

Nr.  3286 

0^ 

"■ 

Avoca  2nd 

Charapion's  Son 

Nr.  17769 

9 

Avoca 

.Nr.    14  207  o- 

Alphea's  Stoke   Pogis 


1 

tu 

Sisera's  Sloke   Pogis 

Nr.    126626                   9 
Kate  Weavcr 

Juno  s  Sloke 

Pogis 

Nr.   14436 
Carlos  Juno 

9 

Nr.  87346 
Sisera 

9 

Nr.   18811 
Duchess  Stoke  P 

Dgis 

Nr.  6246 
Edith  Darby 

9 

Nr.  36382 
General  Kellj 

Nr.   19350 
*Patrick  Fawkes 

Nr.  95606 
*Balm 

9 

■^ 

Nr.  95606 
Halm 

9 

Nr.  7056 
America's  Champ 

^ 

Nr.  95605 

Maid   of  Gilead   j 

nd 

Ahnen- 

2 

3 

4 

Vergleichen  wir  nun  die  Koeffizienten  mit  den 
Koeffizienten,  die  Pearl  angibt  (67,75,  87,5,  15,62, 
37,5),  so  sehen  wir  auf  den  ersten  Blick,  daß  sie 
beträchtlich  kleiner  sind  als  diese;  dagegen  stehen 
sie  viel  näher  den  Koeffizienten,  die  präzis  und 
wörtlich  nach  Pearl 's  Formel  nämlich  unter 
Berücksichtigung  der  bloßen  ;/-ten  Generation 
berechnet  sind:  31,25,  87,5,  9.375,  25.00.  Dieser 
Umstand  kann  nur  zugunsten  meiner  Modi- 
fikation von  PearTs  Methode  zeugen,  denn 
die  beträchtliche  Größe  der  von  Pearl  be- 
rechneten Koeffizienten  hat  eben  in  der  „Un- 
gleichmäßigkeit"  (vgl.  oben)  der  vergleichenden 
Zahlen  ihren  Grund:  es  muß  nämlich,  wie  selbst- 


verständlich, die  Differenz  (p„ — q,,),  unter  Be- 
rücksichtigung des  ganzen  Stammbaumes 
festgestellt,  entgegen  der  theoretischen  Ahnenzahl 
aus  bloß  einer  Generation  unverhältnismäßig 
größer  sein,  als  wenn  wir  nur  und  ausschließlich 
eine  einzige  Generation  berücksichtigen.  Beschrän- 
ken wir  uns  dagegen  überhaupt  nur  auf  eine 
Generation,  so  verschwindet  die  Möglichkeit,  eine 
eventuelle  Wiederholung  eines  oder  mehrerer 
Aszendenten  auch  in  den  vorhergehenden  Ahnen- 
generationen zu  erfassen,  und  infolgedessen  würden 
immer  die  auf  diese  Weise  berechneten  Inzuchts- 
koeffizienten kleiner  sein  — •  abgesehen  schon  von 
ihrer  Unbestimmtheit.    Berechnen  wir  den  Inzuchts- 


78 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


koeffizienten  unter  Berücksichtigung  des  ganzen 
Stammbaumes,  wie  ich  eben  auseinandergesetzt 
habe,  so  weichen  wir  dadurch  beiden  diesen  Ex- 
tremen aus  und  infolgedessen  werden  auch  die 
auf  diese  Weise  —  auf  einem  goldenen  Mittel- 
weg —  gewonnenen  Koeffizienten  richtiger  und 
der  Wirklichkeit  mehr  entsprechend  sein. 

Nach  der  von  mir  modifizierten  Pearl 'sehen 
Methode  bestimmt  man  den  Inzuchtskoeffizient 
nach  der  Formel: 

2  ^I00(pn-qj 

Pn 

in  welcher  bedeutet:  /„  die  theoretisch 
mögliche  Zahl  verschiedener  Aszendenten 
eines  bestimmten  Individuums  in  seiner  7/-ten 
Ahnengeneration  und  q^  die  wirkliche  Zahl 
solcher  Aszendenten.  Z^,  der  sog.  Inzuchtskoeffi/.ient, 
ist  nun  das  prozentuelle  Verhältnis  der  Differenz 
zwischen  theoretischer  und  wirklicher  Zahl  der 
verschiedenen  Aszendenten  zu  ihrer  theoretischen 
Zahl. 

Diese  Modifikation  der'Pearl'schen  Methode 
betrifft  also  bloß  den  Inhalt  einzelner  Bestandteile 
der  Formel,  etwas  anderes  verändert  sie  aber  in 
dieser   nicht.     Pearl's  Gedanke   bleibt  hier   also 


unberührt  erhalten,  und  damit  behält  die  ganze 
Methode  auch  ihre  Vorzüge,  nämlich  ihre  Einfachheit 
und  Einheitlichkeit,  so  daß  ich  glaube,  daß  es 
uns  mit  ihrer  Hilfe  in  der  Zukunft  gelingen  wird, 
auf  das  Problem  der  Inzuchtswirkung  näher  ein- 
zugehen, welches  Problem  außer  seiner  Bedeutung 
für  die  theoretische  Biologie  auch  eine  solche  für  die 
Anthropologie,  Soziologie  und  Gesellschaftsbiologie 
überhaupt  und  nicht  in  letzter  Hinsicht  auch 
für  landwirtschafliche  Produktion,  nämlich  für 
Züchtungsbiologie,  besitzt. 

Literatur. 

Bunsow,  R.,  Inheritanze  in  Race  Horses.  Mendel 
Journal,   Vol.   1,    191I. 

Lorenz,  Lehrbuch  der  gesamten  und  wissenschaftlichen 
Genealogie.      Berlin   1898. 

Martius,  F.,  Konstitution  und  Vererbung  in  ihren  Be- 
ziehungen zur  Pathologie.     Berlin   1914,  Springer. 

Morgan,  T.  H.,  E.vperimentelle  Zoologie.  Deutsche 
Übersetzung.     Berlin   1909,  Gebr.  Teubner. 

Pearl,  R.,  A  contribution  towards  an  Analysis  of  the 
Problem  of  Inbreeding.  Americ.  Naturalis.,  Vol.  XLVU, 
New  York   1913. 

— ,  The  Measurement  of  the  Intensity  of  Inbreeding. 
Maine  Agricult.  Experiment  Station,  Bulletin  Nr.  215,  August 
1913- 

Reibmayr,  Alb,  Inzucht  und  Vermischung  beim 
Menschen.     Wien-Leipzig,  DeuUcke   1897. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Über  die  Sulfide  des  Kupfers  haben 
Eugen  Posnjak,  E.  T.  Allen  und  H.  E.  Merwin 
vom  geophysikalischen  Laboratorium  der  Carnegie- 
Instiuition  eine  eingehende  Untersuchung')  aus- 
geführt, über  die,  da  sie  unsere  Kenntnisse 
von  diesem  Gegenstande  wesentlich  erweitert  und 
vertieft  hat,  im  folgenden  berichtet  werden 
möge. 

In  der  Natur  kommen  zwei  reine  Sulfide  des 
Kupfers,  das  Kuprosulfid  Cu.^S  (Kupferglanz,  Chal- 
cocit)  und  das  Kuprisujfid  CuS  (Kupferindig, 
Covellin)  vor,  von  denen  das  an  erster  Stelle  ge- 
nannte bei  weitem  das  häufigste  und  wirtschaftlich 
wichtigste  ist.  Dem  praktisch  arbeitenden  Chemiker 
hingegen,  insbesondere  dem  Analytiker  tritt  meist 
das  Kuprisulfid  entgegen,  denn  dieses  bildet  sich 
immer  bei  der  Einwirkung  von  Schwefelwasser- 
stoffion auf  Cupriion: 

Cu++  +  S  — =  CuS; 
die  nicht  selten  gemachte  Angabe,  daß  hierbei  ein 
Gemisch     von     Kupfersulfür,      Kupfersulfid     und 
Schwefel    entstehe,    indem    gleichzeitig    auch    die 
Reaktion 

2  Cu  ++  +  S  —  =  Cu.,S  +  S 
eintrete,  ist  nach  Posnjak,  Allen  und  Merwin 
nicht  richtig.     Jedoch  spielt  auch  das  Kuprosulfid 


')  Deutsch    in    der 
Chemie,  Bd.  94,  S.   95- 


Zeitschr.     f. 
138;   1916. 


in  der  analytischen  Chemie  eine  wichtige  Rolle, 
denn  als  Kuprosulfid  wird  das  als  Kuprisulfid  ge- 
fällte Kupfer  sehr  häufig  ausgewogen,  und  zwar 
geschieht  die  Umwandlung  des  Kupri-  in  das 
Kuprosulfid  durch  schwaches  Glühen  des  mit 
reinem  Schwefel  gemischten  Kuprisulfids  im  Wasser- 
stoffstrom. 

I.  Das  Kuprosulfid.  —  Reines  kristalli- 
siertes Kupfersulfür  stellen  Posnjak,  Allen  und 
Merwin  durch  Erhitzen  von  geschmolzenen 
Kupfersulfidpräparaten  im  Vakuum  bis  zum 
Schmelzpunkte  dar.  Der  Schmelzpunkt  des 
reinen    Kupfersulfürs     liegt     bei     1 1 30"  C.      Sein 

25" 
spezifisches  Gewicht  ergab  sich  zu  d — ^-  =  5,784 

— 5,785,  während  die  ebenfalls  auf  Wasser  von 
4"  C  bezogenen  spezifischen  Gewichte  von  reinem 
natürlichen  Chalcocit  bei  25"  C  zu  5,774—5,783, 
also  in  sehr  guter  Übereinstimmung  mit  dem  des 
künstlichen  Produktes  gefunden  wurden. 

In  der  Natur  kommt  das  Kuprosulfid  nur  in 
rhombischen  Kristallen  vor,  bei  der  künstlichen 
Herstellung  hingegen  immer  in  regulärer  Form. 
Das  Kuprosulfid  ist  also  dimorph.  Die  nähere 
Untersuchung  dieser  Verhältnisse  durch  Posnjak, 
Allen  und  Merwin  sowohl  an  natürlichem  als 
auch  an  künstlichem  Material  bewiesen  die 
Existenz  eines  bei  91"  C  liegenden  Umwandlungs- 
punktes: unterhalb  91"  C  ist  die  reguläre,  oberhalb 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


79 


91**  C  die  rhombische  Modifikation  die  beständige 
Form. 

II.  Schwefelhaltiges  Kuprosulfid.  —  Das 
durch  Zusammenschmelzen  von  Kupfer  und 
Schwefel  entstehende  Produkt  enthält  erfahrungs- 
gemäß immer  einen  über  die  F"ormel  Cu.,S  hinaus- 
gehenden Überschuß  von  Schwefel,  der  nicht  ohne 
weiteres  durch  Erhitzen  des  Produktes  auf  höhere 
Temperaturen  vertrieben  werden  kann,  eine  schon 
i.  J.  1S51  von  Hittorff  aufgefundene  und  durch 
die  Annahme  eines  Gehaltes  der  Präparate  an 
Kuprisulfid  gedeutete  und  neuerdings  auch  von 
anderen  Autoren  bestätigte  Tatsache.  In  der  Tat 
nimmt  reines  Cu.,S  beim  Erhitzen  im  Schwefel- 
wasserstofTstrom  Schwefel  auf,  und  zwar  stellt  sich 
bei  genügend  langem  Erhitzen  ein  definiertes 
Gleichgewicht  ein,  wie  es  die  folgende  Tabelle 
zeigt. 

Tabelle. 
Zusammensetzung   von    Schwefelkupfer    nach    Er- 
reichung des  Gleichgewichtszustandes  in  Schwefel- 
wasserstoffatmosphäre bei  verschiedenen 
Temperaturen. 


Zusammensetzung 

Temperatur 

'" 

■^ 

Über  die  Verbindung  Cu^S 

hinausgehender   Gehalt 

an  Schwefel 

"C 

"„ 

".. 

".0 

410 
485 
700 
1050 

77.53 
78,09 
7S,47 

78. '^2 

22.47 
21,91 

21,53 

21,4s 

1 

2,90 
2,20 
1,73 
1,66 

Diese  Aufnahme  von  Schwefel  durch  Kupfer- 
sulfür  läßt  sich  in  verschiedener  Weise  erklären.  Ent- 
weder bildet  sich  ein  heterogenes  Gemisch  von 
Kupfersulfid  und  Kupfersulfür,  oder  es  entsteht  ein 
homogenes  System,  indem  sich  entweder  der 
Schwefel  als  solcher  oder  in  Form  von  Kupfersulfid 
CuS  im  Kupfersulfür  unter  Bildung  einer  „festen 
Lösung"  auflöst.  Alle  von  Pos  nj  ak,  Allen  und 
Merwin  angestellten  Versuche  deuten  nun  darauf 
hin,  daß  die  fraglichen  Produkte  feste  Lösungen  von 
Kupfersulfid  in  Kupfersulfür  sind,  denn  erstens 
läßt  die  mikroskopische  Prüfung  keine  Inhomo- 
genitäten erkennen,  d.  h.  das  System  ist  homogen, 
zweitens  nimmt  die  Schmelztemperatur  der  Pro- 
dukte mit  steigendem  Schwefelüberschuß  in  einem 
sehr  starken,  weniger  dem  geringen  Überschuß 
an  Schwefel  als  dem  großen  Gehalt  der  Prä- 
parate an  CuS  entsprechendem  Grade  ab,  und 
drittens  konnte  durch  folgenden  Versuch  die 
Auflö.sung  von  CuS  in  Cu,,S  unmittelbar  verfolgt 
werden:  „Sehr  fein  gepulverter  reiner  natürlicher 
Chalcocit  und  Covellin  wurden  miteinander  im 
Gewichtsverhältnis  9 :  i  gemischt.  Das  Gemisch 
wurde  dann  unter  12000  Atmosphären  zusammen- 
gepreßt. Die  gepreßten  Sulfide  bildeten  einen 
harten  zusammenhängenden  Kuchen,  der  leicht 
angeschliffen  und  mikroskopisch  untersucht  werden 


konnte.  Covellin  und  Chalcocit  waren  beide 
deutlich  sichtbar.  Die  Menge  des  Covellins  be- 
trug schätzungsweise  etwa  10%  und  entsprach 
somit  der  Zusammensetzung  des  ursprünglichen 
Gemisches.  Ein  Teil  des  zusammengepreßten 
Gemisches  wurde  dann  in  einem  Glasrohr  2 
Stunden  bei  100  bis  iio"  erhitzt  und  wieder 
mikroskopisch  geprüft;  die  Oberfläche  zeigte 
einige  Sprünge  und  mußte  von  neuem  poliert 
werden.  Es  war  nun  viel  weniger  Covellin  zu 
sehen,  dessen  Menge  Merwin  auf  3 — 5"/^ 
schätzte.  Man  erhitzte  dann  dasselbe  Stück  über 
Nacht  auf  dieselbe  Temperatur;  am  nächsten 
Morgen  ließ  sich  mikroskopisch  kein  Covellin  mehr 
auffinden,  selbst  nicht  auf  tief  geschliffenen  Stellen." 

Derartige  feste  Lösungen  von  Kuprisulfid  in 
Kuprosulfid  kommen  auch  in  der  Natur  vor. 

III.  Das  Kuprisulfid.  —  Das  Kuprisulfid, 
dessen  spezifisches  Gewicht  Posnjak,  Allen 
und    Merwin    an    zwei    sehr    reinen    natürlichen 

Präparaten   aus  Butte  (Montana;   zu  d— ^^4,677 

bis  4,684  bestimmen,  kann  auch  in  krystallisierter 
Form,  künstlich  nach  zahlreichen  Methoden,  so 
durch  Erhitzen  von  Kuprosulfid  in  Schwefelwasser- 
stoff auf  Temperaturen  bis  zu  358"  C,  durch  Er- 
hitzen von  Kuprisalzen  mit  Schwefelwasserstoff 
im  Einschmelzrohr  auf  250"  C  usw.  hergestellt 
werden.  Schon  bei  verhältnismäßig  niedrigen 
Temperaturen    dissoziiert    es    nach    der   Gleichung 

4CuS  <  1  >  2Cu.,S  +  S., 
in    Kupfersulfür    und    Schwefel.     Nach   Preuner 
und    Brockmöller    ist    der    Gesamtdampfdruck 
des  Schwefels  A  und  der  Partialdampfdruck  p  der 
S,,-Moleküle  über  Schwefelkupfer 
bei  450"  C         A  =  80  mm         p  =  14,5  mm 
470  200  31 

475  250  37 

4S0  313  44 

500  980  92 

Bei  358"  C  ist  der  Dissoziationsdruck  des 
Kuprisulfids  im  Gleichgewicht  mit  dem  Teildruck 
des  Schwefels  in  dem  —  bei  dieser  Temperatur  ja 
zum  Teil  nach  der  Gleichung 

2H.,S  <_.  >  2H,,  4-  S., 
dissozierten  —  Schwefelwasserstoff.  Oberhalb  dieser 
Temperatur  wächst  der  Dissoziationsdruck  des 
Kupfersulfids  viel  rascher  als  der  des  Schwefel- 
wasserstoffs, so  daß  das  CuS  dann  rasch  unter 
Bildung  von  festen  Lösungen  von  CuS  in  Cu.,S 
Schwefel  abgibt,     (g.  c.  )  Mg. 


Die  Veredelung  des  Zinks,  d.  h.  die  Um- 
wandelung  des  gewöhnlichen  Zinks  in  eine  P'orm 
von  höheren  Festigkeitseigenschaften,  ist  nicht 
nur  eine  für  die  gegenwärtige  Zeit  wichtige  Auf- 
gabe, sondern  wird  auch  nach  dem  Kriege  darum 
für  die  deutsche  Industrie  von  allgemeinerer  Be- 
deutung  sein,    weil   Deutschlands   Produktion   an 


8o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Zink  mehr  als  den  vierten  Teil  der  Weltproduktion 
ausmacht.  Die  folgenden  Angaben ,  die  einer  in 
der  Zeitschrift  „Metall  und  Erz"  (Bd.  4,  S.  279—289, 
1916)  erschienenen  Mitteilung  von  E.  H.  Schulz 
entnommen  sind,  dürften  daher  für  die  Leser  der 
Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift  nicht  ohne 
Interesse  sein. 

Zur  Veredelung  eines  Metalles  stehen,  wie  das 
Beispiel  des  Eisens  zeigt,  grundsätzlich  zwei  Wege 
offen,  ein  chemischer,  nämlich  die  Legierung  des 
zu  veredelnden  Metalles  mit  anderen  Metallen, 
und  ein  physikalischer,  nämlich  eine  geeignete 
mechanische  und  thermische  Behandlung  des 
Materials.  Natürlich  lassen  sich  beide  Wege  auch 
nebeneinander  beschreiten,  und  man  erhält  dann 
unter  Umständen  besonders  hochwertige  Produkte, 
so  beim  Eisen  die  heute  unentbehrlichen  Spezial- 
stähle. 

Als  Au.sgangsmaterial  für  die  Veredelung  des 
Zinks  stehen  im  Prinzip  drei  Sorten  von  Zink 
zur  Verfügung: 

1.  das  gewöhnliche,  besonders  durch  Blei  stark 
verunreinigte  ,, Hüttenzink", 

2.  das  im  Raffinierofen  durch  Umschmelzen 
mit  daran  anschließendem  Seigerungsprozeß  ge- 
reinigte und  nur  noch  etwa  i,3"/ü  Blei,  0,2%  Eisen 
und  etwas  Kadmium  enthaltende  „Raffinade- 
zink" und 

3.  das  „Feinzink"  ein  weiter  gereinigtes  Produkt 
von  99,7  bis  99,9"/,,  Reingehalt. 

Praktisch  kommt  jedoch  nur  das  Raffinadezink 
in  Betracht,  denn  das  Feinzink  scheidet  wegen 
seines  zu  hohen  Preises  und  das  Hüttenzink  des- 
wegen aus,  weil  es  insbesondere  infolge  seines 
hohen  Bleigehaltes,  der  dem  Zink,  soweit  es  über 
1,3%  hinausgeht,  nur  mechanisch  beigemengt, 
aber  nicht  in  ihm  homogen  gelöst  ist,  leicht  zur 
Entstehung  von  inhomogenem  Material  neigt.  Das 
gewöhnliche  Raffinadezink  ist  ein  ziemlich  grob- 
kristallinisches,  sprödes  Material,   dessen  Zerreiß- 

kg 
fertigkeit  den  sehr  niedrigen  Wert  von  2 — 3 

^  &  j  qmm 

und  dessen  Härte  (nach  Shore)  den  ebenfalls  nur 
niedrigen  Wert  13  hat.  Es  entspricht  demnach 
nicht  einmal  den  bescheidenen  Ansprüchen ,  die 
man  auch  nur  an  untergeordnete  Konstruktions- 
materialien zu  stellen  hat. 

Zum  Zweck  der  chemischen  Veredelung  hat 
Schulz  dem  Raffinadezink  Blei,  Eisen,  Zinn, 
Aluminium  und  Kupfer,  und  zwar,  da  das  Material 
entsprechend  dem  erstrebten  Ziel  in  chemischer 
Hinsicht  noch  „Zink"  sein  soll,  im  Höchstbetrage 
von  insgesamt  io"„  zugesetzt.  Von  diesem 
Metall  übte  jedoch  nur  das  Aluminium  und  vor 
allem  das  Kupfer  einen  wesentlichen  Einfluß  aus. 
So  betrug,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  die 
Festigkeit     eines     3 — 4"/^     Kupfer     enthaltenden 

Raffinadezinks   i  3  — ^  ,  und  seine  Härte  entsprach 
qmm 

dem  Werte  24—27.  Auch  bei  der  metallo- 
graphischen Untersuchung   tritt  die  Verbesserung 


des  Materials  hervor:  es  ist  nicht  mehr,  wie  das 
Zink  selbst,  grob,  sondern  sehr  fein  kristallin.  Die 
allerbesten  Ergebnisse  aber  wurden  durch  den 
gleichzeitigen  Zusatz  von  6 "/(,  Kupfer  und  3  "/„ 
Aluminium    zum    Raffinadezink     erhalten;     diese 

kg 


Legierung   besitzt    eine  Festigkeit    von    l{ 


die  Härte  38  und  eine  Biegefestigkeit  von  2 


qmm 

kg 


qmm 


und  weist  auch  gute  Allgemeineigenfchaften  auf, 
denn  sie  gibt  bei  sorgfältiger  Arbeit  einen  guten, 
von  Hohlräumen  freien,  feinkörnigen  Guß.  In 
dieser  Legierung  „steht  demnach  ein  Material  zur 
Verfügung,  das,  wenn  auch  nicht  als  Konstruktions- 
material zu  bezeichnen,  so  doch  ein  gutes,  für 
mancherlei  Zwecke  brauchbares  Gußmaterial  dar- 
stellt, das  ebenso  wie  das  Gußeisen  neben  dem 
Stahl  für  gewisse  Verwendungszwecke  neben 
Messing  und  anderen  hochwertigen  Legierungen 
sehr  wohl  bestehen  kann". 

Einen  noch  größeren  Fortschritt  in  der  Ver- 
edelung des  Zinks  als  auf  chemischem  Wege  hat 
Schulz  auf  physikalischem  Wege  erzielt.  Daß 
das  Zink  durch  mechanische  Bearbeitung  erheblich 
gewinnt,  ist  bereits  seit  langem  bekannt,  wird 
doch  durch  das  —  bei  Temperaturen  von  90'' 
bis  1 50"  C  vorgenommene  —  Walzen  des  Raffinade- 
oder   Feinzinkes     zu    Blech    ein    ziemlich    zähes 

kg 

Material   von  19 — 25    — ^     Festigkeit     erhalten. 

^        ^   qmm  ^ 

So  erscheint  es  begreiflich,  daß  auch  die  An- 
wendung des  Walzprozesses  zur  Herstellung  von 
Stangenzink  ein  wertvolles  Material  von  erheb- 
licher Zähigkeit  und  beträchtlicher  Festigkeit  und 
Härte  zu  liefern  vermag.  Auch  ein  dem  Dirkschen 
Preßverfahren  zur  Herstellung  von  Preßzink  nach- 
gebildetes Verfahren  —  Herauspressen  des  Zinks 
mittels  eines  Stempels  aus  einer  Lochmatrize  —  hat 
bei  Innehaltung  geeigneter  Versuchsbedingungen 
zu  einem  ziemlich  harten  und  nicht  zähen  Materini 

kg 
von    17  Festigkeit    geführt.      Eis    wird    bei 

diesem  Preßverfahren  —  das  ist  das  Interessante  — 
die  kristallinische  Struktur  des  Ausgangsmateriales 
vollkommen  zerstört:  Beim  Herauspressen  des 
Zinks  aus  der  Düse  werden  die  Kristalle  des 
Ausgangsmaterials  zertrümmert,  und  man  erhält 
ein  Produkt  von  sehr  feinem  Korn. 

Daß  die  gleichzeitige  Anwendung  des  chemi- 
schen und  des  physikalischen  Veredelungsver- 
fahrens besonders  hochwertige  Produkte  liefern 
wird,  ist  zu  erwarten,  und  in  der  Tat  haben  denn 
auch  schon  die  wenigen  bisher  in  dieser  Richtung 
angestellten  Versuche  zu  recht  befriedigenden 
Ergebnissen  geführt,     (öx.)  Mg. 


Botanik.  Die  Reismelde  als  deutsche  Getreide- 
pflanze. Von  Änbauversuchen  mit  einer  Art  der 
Chenopodiazeen  oder  Gänsefußgewächse  berichtet 
Dr.  M  a  X  I  ß  1  e  i  b  (Magdeburg)  in  der  Illustrierten 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Landwirtschaftlichen  Zeitung,  36.  Jahrgang,  Nr.  88, 
vom  I.  Nov.  1916  und  Dr.  Ströse  in  den  der 
Deutschen  Jägerzeitung  regelmäßig  beigegebenen 
„Mitteilungen  des  Instituts  für  Jagdkunde,  Neu- 
damm" vom  26.  Nov.  1916.  Es  handelt  sich  um 
die  sogenannte  R  e  i  s  m  e  1  d  e  oder  den  chilenischen 
Gänsefuß,  Chenopodium  Quinoa,  die  gewöhnlich 
für  eine  der  häufigen  Melde,  Chenopodium  album, 
nahestehende  Art  gilt,  wahrend  Ißleib  in  ihr  nur 
eine  Kuhurform  dieses  Unkrauts  sieht,  die  wir 
den  alten  Inkas  verdanken.  Die  gleich  unserer 
Melde  bis  über  mannshoch  werdende  Pflanze  wird 
in  Mexiko  und  fast  allen  Provinzen  Südamerikas 
angebaut,  gedeiht  in  Peru  und  Chile  bis  zu  4000  m 
Höhe  über  dem  Meere  hinauf,  also  weit  über  die 
Getreidegrenze,  und  gilt  dort  allgemein  für  ebenso 
nützlich  wie  Kartoffeln,  Getreide  und  Mais.  Sie 
liefert  mit  ihren  Blättern  ein  spinatartiges  Gemüse, 
dem  nach  Ströse  der  scharfe  Geschmack  unseres 
Spinats  fehlen  soll  —  bekanntlich  gehört  auch 
unser  Spinat  nebst  dem  Mangold  und  der  Zucker- 
rübe zu  den  Chenopodiazeen  —  und  nützt  vor 
allem  durch  ihre  reichlichen  Samen,  die,  mit 
Wasser  oder  Milch  gekocht  oder  zu  Mehl  ver- 
arbeitet und  dann  gebacken  oder  als  Brei  genossen, 
ein  tägliches  Nahrungsmittel  bilden.  Der  Nähr- 
wert des  Samens  ist  höher  als  der  allen  Getreides 
und  des  Reises  und  des  Maises  und  nähert  sich 
dem  der  Hülsenfrüchte  mit  22,87  v.  H.  Stickstoff- 
substanzen, 46,10  v.  H.  Stärkemehl,  6,10  v.  H. 
Zucker,  4,81  v.  H.  Fett  und  433  v.  H.  Asche  in 
der  Trockensubstanz  nebst  geringen  Mengen  von 
Gummi,  Holzfasergehalt  und  sonstigen  Extraktiv- 
stoffen. Warburg  spricht  sich  in  seiner 
„Pflanzenwelt"  dahin  aus,  es  sei  erstaunlich,  daß 
man  Kulturversuche  mit  dieser  Pflanze  in  nordischen 
und  alpinen  Gegenden  Europas,  wo  Getreide  nicht 
mehr  gedeiht,  noch  nicht  begonnen  habe. 

Ißleib,  dem  die  Pflanze  und  ihr  ungewöhnlich 
reicher  Samengehalt  aus  deutschen  botanischen 
Gärten  bekannt  war,  gelang  es,  nach  Einziehung 
von  Erkundigungen  beim  Hamburger  Institut  für 
angewandte  Botanik  und  bei  den  Gärtnereien 
Dippe  in  Quedlinburg  und  Haage  und  Schmidt 
in  Erfurt,  im  Frühjahr  IQ\6  etwa  1000  deutsche 
Gärtner,  Landwirte  und  Jäger  vorzugsweise  in  und 
bei  Magdeburg,  aber  auch  im  übrigen  Deutschland 
und  in  Österreich  für  die  Rei>melde  zu  interessieren 
und  konnte  bereits  im  August  über  die  Erfolge 
der  Aussaat  berichien,  die  nur  in  verschwindend 
wenigen  F"ällen  unbefriedigend  waren,  wohl  infolge 
ungeeigneter  Behandlung  des  Samens,  seine  zu 
tiefe  Einbringung  in  die  Erde.  Da  die  Pflanze 
etwas  salzliebend  ist,  haben  fast  alle  deutschen 
Kaliwerke  Versuche  in  der  Nähe  von  Salzhalden 
angestellt.  Viel  Interesse  findet  die  Reismelde 
bei  der  Jägerwelt,  die  sich  nebenbei  von  ihr  auch 
ein  geeignetes  Wilddeckungs-  und  Äsungsgewächs 
mit  Recht  versprechen  dürfte.  Ißleib  hält  die 
Pflanze  für  sonnenliebend;  nachStröse's  Versuch 
im  Garten  des  Instituts  für  Jagdkunde,  Abt. 
Berlin  -  Zehlendorf,     macht     sie     weder     an     Be- 


sonnung noch  an  die  Bodenbeschaffenheit,  wofern 
der  Nährstoffgehalt  nicht  zu  gering  jst,  allzu  hohe 
Ansprüche,  und  ist  dabei  hart  gegen  Maifröste. 
Der  Same  mag  auch  als  Geflügelfutter  nützlich 
verwendbar  sem,  namentlich  wegen  seines  Stick- 
stoffgehaltes auf  die  Eiererzeugung  bei  Hühnern 
vorteilhaft  wirken,  und  das  getrocknete  Kraut 
kann  noch  als  Viehfutter  dienen.  Zur  Aussaat 
darf  der  Same  höchstens  einen  Millimeter  tief  mit 
Erde  bedeckt  sein.  Ein  Quadratmeter  Boden 
vermag  nach  Ströse  16  Pflanzen  und  auf  ihnen 
860  g  Samen  zu  tragen. 

Ißleib,  der  weiterhin  für  die  Sache  wirbt 
und  Samen  zur  Aussaat  in  kleinen  Mengen  abgibt, 
hofft,  daß  in  einigen  Jahren  sich  die  Mehrzahl 
der  Gartenbesitzer  im  Meldenreis  einen  viel  nahr- 
hafteren Ersatz  für  den  Reis  selbst  heranziehen 
können  wird.  Ströse  schließt  sich  der  Meinung 
Ißleib's  an,  es  sei  nicht  ausgeschlossen,  daß  die 
Reismelde  dereinst  eine  unserer  nützlichsten 
Kulturpflanzen  werden  wird.  Sie  soll  dazu  bei- 
tragen, die  Aushungerungspläne  unserer  Gegner 
zu  nirhte  zu  machen  und  Deutschlands  Produktion 
zu  erhöhen,  um  das  Land  für  immer  unabhängiger 
vom  Auslande  zu   machen.  V.  F"ranz. 


Neue  Wege  der  pflanzlichen  Systematik. 
In  der  ersten  Wintersitzung  der  Züricher  bo- 
tanischen Gesellschaft  sprach  Herr  Privatdozent 
Dr.  Thellung  über  „Einstige  und  heutige  Wege 
der  botanischen  Systematik,  erläutert  am  Beispiel 
der  Getreidearten".  Vielfach  herrscht  auch  in 
gelehrten  Kreisen  die  durchaus  falsche  Ansicht, 
die  Systematik  sei  eine  mehr  oder  weniger  ab- 
geschlossene Wissenschaft  und  es  gebe  da  nicht 
viel  Neues  zu  tun.  Die  Arbeit  bestehe  in  der 
Hauptsache  darin,  neuentdeckte  Pflanzenformen 
in  die  entsprechende  Abteilung  des  fertigen 
Systems,  gleichsam  in  die  richtige  Schublade, 
einzureihen.  Tatsächlich  war  das  früher  der  Fall, 
nämlich  so  lange,  als  die  Aufgabe  der  Systematik 
fast  einzig  darin  bestand ,  eine  gewisse  Ordnung 
in  die  Überfülle  der  pflanzlichen  Formen  zu  bringen. 
Allein  die  heutige  Systematik  verfolgt  neue, 
höhere  Ziele.  Sie  strebt  darnach,  die  Pflanzen 
nach  ihrer  wirklichen  Verwandtschaft,  nicht  in 
erster  Linie  nach  ihrer  äußeren  Ähnlichkeit  zu 
gruppieren.  Ihr  Ziel  ist  —  im  Zeitalter  des  Ent- 
wicklungsgedankens —  ein  phylogenetisches 
System,  also  ein  System,  das  erkennen  läßt,  wie 
die  verschiedenen  Formen  sich  auseinander  ent- 
wickelt haben.  So  hoch  das  Ziel  ist,  so  mannig- 
faltig sind  die  Mittel,  deren  sich  der  Systematiker 
bedient.  Immer  noch  wendet  man  vor  allem  die 
morphologische  Methode  an,  die  in  der  früheren 
Systematik  sozusagen  ausschließlich  benützt  wurde, 
aber  daneben  werden  eine  Reihe  anderer  Dis- 
ziplinen zu  Hilfe  gezogen;  so  die  Anatomie,  dann 
besonders  die  Entwicklungsgeschichte,  die  nament- 
lich auf  dem  Gebiet  der  niederen  Kryptogamen 
schon    zu    sehr  schönen   Resultaten   geführt   hat. 


82 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Man  zieht  ferner  ökologisch-phänologische  Ge- 
sichtspunkte in  Betracht  und  schenkt  neuerdings 
der  geographischen  Verbreitung  der  Arten  ein- 
gehende Aufmerksamkeit.  Es  ist  das  Verdienst 
Richard  von  Wettstein'sin  Wien,  zuerst 
das  Studium  des  geographischen  Areals  in  den 
Dienst  der  Systematik  gestellt  zu  haben.  Wichtig 
geworden  ist  sodann  endlich  in  den  letzten  Jahren 
die  serologische  Methode  (s.  Naturw.  Wochenschr. 
Bd.  31  S.  631),  die  uns  Auskunft  gibt  über  den 
Grad  der  Verwandtschaft  der  Eiweißstoffe  der 
verschiedenen  Arten.  —  Der  Referent  unternimmt 
es  nun  im  zweiten  und  Hauptteil  des  Vortrages, 
die  Anwendung  dieser  Methoden  zu  demonstrieren 
am  Beispiel  der  Getreidearten,  einem  seiner 
speziellen  Forschungsgebiete.  Besonders  instruktiv 
sind  die  Verhältnisse  beim  Hafer,  auf  den  hier 
einzig  kurz  eingegangen  werden  soll.  Die  alten 
Systematiker  warfen  die  verschiedenen  Arten  bunt 
durcheinander.  Später  wurden  die  Saathafer 
einerseits  einander  nähergerückt,  und  die  Wild- 
hafer anderseits.  Allein  die  neuern  Untersuchungen 
haben  nun  eben  ergeben,  daß  die  nahe  Verwandt- 
schaft der  verschiedenen  Saathafer  nur  eine 
scheinbare  ist:  ihre  Übereinstimmung  beruht 
nämlich  auf  Konvergenzerscheinungen,  die  die 
Folge  der  Zucht,  der  Kultur  sind.  Den  Saat- 
hafern  fehlen  infolge  der  Domestikation  die  Ver- 
breitungsmittel. Es  stand  also  fest,  daß  die  Saat- 
hafer von  den  Wildhafern  abzuleiten  seien,  und 
es  erwuchs  nun  die  Aufgabe,  zu  zeigen,  an 
welchen  Wildhafer  jeder  der  drei  bekannten 
Saathafer  anschließe.  Das  ist  gelungen.  Wir 
wissen  heute,  daß  die  im  extramediterranen 
Gebiet  kultivierte  Avena  sativa  von  A.  fatua, 
einer  östlichen  Steppenpflanze  abstammt,  während 
die  ^wei  anderen  Saathafer,  die  der  Mittelmeer- 
länder, von  Wildhafern  ihres  Gebietes  herzuleiten 
sind.  Gerade  bezüglich  der  Hafer  hat  die  An- 
wendung der  verschiedenen  Methoden  zu  völlig 
übereinstimmenden  Resultaten  geführt.  Insbe- 
sondere darf  erwähnt  werden,  daß  speziell  die 
serologischen  Untersuchungen  die  Theorie  aufs 
glänzendste  bestätigten.  Das  ist  um  so  bemerkens- 
werter, als  Zade  in  Jena,  dem  wir  diese  sero- 
logischen Arbeiten  verdanken,  vorher  ein  ent- 
schiedener Gegner  der  Theorie  war,  somit  den 
Beweis  für  die  Richtigkeit  derselben  zweifellos 
ganz  gegen  seinen  Willen  erbracht  hat.  —  Der 
Redner  sprach  noch  über  die  analogen  Arbeiten 
und  Ergebnisse  bezüglich  des  Weizens  und  der 
Gerste,  auf  die  einzutreten  hier  zu  weit  führen 
würde.  Ernst  Kelhofer. 


Geographie.  Peary's  Entdeckerlatein  und 
die  amerikanischen  Polarkarten.  Daß  Pcary  den 
Nordpol  nicht  erreicht  hat,  ja  auch  nicht  einmal 
bis  in  seine  Nähe  vorgedrungen  ist,  haben  die 
Amerikaner  im  Kongresse  zugestanden,  ohne  davon 
viel  Aufhebens  zu  machen.  Sie  sind  aber  noch 
viel  weiter  gegangen   und  haben  eine  Reihe  von 


früheren  Angaben  Peary's  für  falsch  erklärt  und 
auf  einer  Reihe  amtlicher  Karten  gestrichen. 
Einer  der  eifrigsten  Gegner  Peary's  ist  ein  Mit- 
glied des  Kongresses,  der  Vertreter  Nord-Dakotas, 
Henry  T.  Helgesen,  dem  Namen  nach  ein 
Amerikaner  skandinavischer  Abkunft.  Helgesen 
hat  unlängst  im  „American  Magazine"  ausgeführt, 
was  von  Peary's  Entdeckungen  bisher  als  Ent- 
deckerlatein erwiesen  und  daher  auf  den  ameri- 
kanischen Karten  gestrichen  worden  ist.  Im 
wesentlichen  handelt  es  sich  um  vier  Erfindungen 
Peary's  über  das  Nordpolgebiet; 

1.  Auf  seiner  Forschungsreise  190I/02  ent- 
deckte Peary  den  nach  ihm  benannten  „Peary- 
Kanal",  die  nördliche  Begrenzung  Grönlands. 
Er  behauptete,  hiermit  die  Inselnatur  Grönlands 
nachgewiesen  zu  haben,  die  im  Jahre  1882  die 
G  r  e  e  1  y  -  Expedition  schon  erkannt  hatte.  Fünf 
Jahre  später  forschte  in  dieser  Gegend  M  y  1  i  u  s  - 
Erichsen.  Er  fand  an  der  Stelle  des  Peary- 
Kanales  kein  Wasser;  „ein  wildreiches  Hochland" 
nimmt  diese  Gegend  ein,  wie  im  Jahre  1912 
Knud  Ras  müssen  feststellte.  Infolge  dieser 
Angaben  skandinavischer  F"orscher  von  Weltruf 
hat  die  amerikanische  Marine  (das  Navy  Depart- 
ment) sowie  der  Küstenvermessungsdienst  (Coast 
Survey)  den  Peary- Kanal  von  allen  Karten  ge- 
strichen. 

2.  Gleichfalls  auf  der  P'orschungsreise  1901/02 
entdeckte  P e a ry  am  Ende  seines  Peary  Kanales  die 
Ostgrönland-See.  Dieses  Polarmeer  beginnt 
nach  seinen  Kartenangaben  unter  82'*  10'  und  liegt 
zwischen  31"  und  120"  westlicher  Länge.  Auch 
diese  Angabe  wurde  durch  Mylius-Erichsen 
als  falsch  erkannt,  und  Mikkelsen's  und 
Rasmussen's  Forschungen  bestätigten  dessen 
Angaben.  Infolgedessen  ist  P  e  a  r  y '  s  Ostgrönland- 
.See  von  den  Regierungskarten  gestrichen. 

3.  Im  Jahre  1906  entdeckte  Peary  im  Nord- 
westen von  Grant-Land  ein  großes  Landgebiet, 
das  er  als  C  r  o  c  k  e  r  -  L  a  n  d  bezeichnete.  Im  Jahre 
191 3  sandte  das  American  Museum  of  Natural 
History  eine  Forschungsreise  zu  Erforschung 
dieses  neuen  Polarlandes  aus.  Sie  ist  vor  kurzem 
zurückgekehrt,  und  das  Ergebnis  ihrer  Forschung 
lautet,  daß  sich  an  der  Stelle  von  Peary's 
CrockerLand  nichts  findet,  als  Wasser.  Von  den 
Regierungskarten  hat  man  daher  Crocker-Land 
gestrichen. 

Im  Juli  des  Jahres  1898  sah  Peary  nach  seiner 
Angabe  von  der  Höhe  des  Ellesmere-Land-Kaps 
das  „Jesup-Land".  Es  handelt  sich  dabei  um 
eine  große,  vor  der  Küste  Grönlands  gelegene 
Insel,  die  Otto  Sverdrup  im  Jahre  1900  ent- 
deckt und  als  Axel-Heiberg-Land  auf  seinen 
Karten  verzeichnet  hat.  Erst  1907,  in  seinem 
Buche  „Nearest  the  Pole"  trat  Peary  mit  der 
Behauptung  hervor,  er  habe  dieses  Land  zwei 
Jahre  vor  Sverdrup  gesehen.  Diese  Angabe 
(Seite  202  der  amerikanischen  Ausgabe)  steht  im 
Widerspruche   mit   einer  anderen  dieses  Werkes. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Ö3 


Während  Peary  sich  nämlich,  wie  er  berichtet, 
im  Juli  auf  EUesmere-Land  befand,  verbrachte  er 
(Seite  296/297)  die  Zeit  vom  4.  Juli  bis  zum 
13.  August  mit  der  Reise  von  New  York  nach 
Kap  York  mit  der  Walroßjagd  und  dem  Zu- 
sammenbringen der  Eingeborenen  aus  der  Um- 
gebung dieses  Punktes,  die  an  der  Reise  teil- 
nahmen. Er  war  also  nach  eigener  Angabe  gleich- 
zeitig an  zwei  Orten,  die  500  km  voneinander 
entfernt  liegen.  Wäre  er  aber  zu  der  fraglichen 
Zeit  auf  Ellesmere  Land  gewesen,  so  hätte  er  sein 
Jesup-Land  nicht  sehen  können,  denn  es  liegt 
weiter  südlich  und  auch  weiter  westlich,  als  er 
angibt!  Von  den  Karten  der  Regierung  und 
denen  der  National  Geographical  Society  hat 
man  daher  das  Jesup-Land  gestrichen  und  das 
Axel-Heiberg-Land  nach  den  Angaben  Sverdrup's 
statt  dessen  eingezeichnet.  H.  P. 


In  der  physikalischen  Gesellschaft  zu  Stockholm 
(Sitzung  von  11.  XI.  1916)  hielt  der  Staats- 
meteorologe J.  W.  Sandström  einen  Vortrag 
über  die  Hydrographie  Neufundlands,  in  dem  er 
über  die  jüngsten  Forschungen  im  Gebiete  der 
Neufundlandbank  und  deren  Ergebnisse  berichtete. 
Seit  dem  Untergange  der  „Titanic"  kreuzen  dort 
dauernd  Beobachtungsfahrzeuge,  die  durch  draht- 
lose Telegraphie  die  Handelsschiffe  vor  Eisbergen 
warnen  sollen.  Von  Zeit  zu  Zeit  führen  sie  auch 
hydrographische  Untersuchungen  aus,  und  dabei 
sind  einige  merkwürdige  Beobachtungen  über  die 
Wassertemperaturen  gemacht  worden.  In  100  bis 
150  Metern  Tiefe  findet  sich  nämlich  eine  starke 
Wasserschicht,  deren  Temperatur  unter  Null  liegt, 
und  um  dieser  P>age  weiter  nachgehen  zu  können, 
berief  die  kanadische  Regierung  einen  Fachmann, 
den  norwegischen  Fischereidirektor  Dr.  Johan 
Hjort  aus  Bergen,  zur  Leitung  zweier  zeitlich 
getrennter  hydrographischer  Forschungsreisen  im 
Gebiete  der  Neufundlandbank  und  des  ganzen 
Lorenzgolfes,  die  im  Frühjahr  und  im  Sommer 
vorigen  Jahres  durchgeführt  wurden.  Die 
dynamische  Bearbeitung  der  Beobachtungen  hat 
Sandström  au<;geführt. 

Das  Meereswasser  des  Beobachtungsgebietes 
ist  sehr  stabil  geschichtet;  das  Oberflächenwasser 
hat  ein  bedeutend  geringeres  spezifisches  Gewicht 
als  das  Wasser  in  der  Tiefe.  Hieraus  folgen 
einige  eigentümliche  Eigenschaften.  So  ist  es 
beispielsweise  durch  Wind  nur  schwer  aufzustören, 
denn  das  leichte  Oberflächenwasser  hat  keine 
Neigung,  sich  in  die  Tiefe  drängen  zu  lassen,  und 
das  schwerere  Tiefenwasser  neigt  nicht  dazu,  an  die 
Oberfläche  zu  kommen.  Mithin  kommen  nur 
besondere,  eingeschränkte  Bewegungen  vor,  und 
das  Wasser  macht  den  Eindruck  „gallertartiger" 
Konsistenz.  Für  die  Neufundlandfischer  ergibt 
sich  hierans  eine  eigentümliche  Sturmwarnung. 
Sobald  das  Wasser  in  einer  gewis'Jen  Richtung 
strömt,  wissen  sie,  daß  aus  der  Richtung,  in  die 
das   Wasser    strömt,    ein    Sturm    im    Anzüge    ist; 


Die  Ursache  dieser  Sturmwarnung  ist  eine  große 
Unterwasserwelle,  die  in  der  Grenzschicht  zwischen 
zwei  Wasserschichten  von  verschiedenem  spezi- 
fischen Gewicht  entsteht  und  eine  Folge  des 
herankommenden  Sturmes  ist.  Das  Oberflächen- 
wasser muß  über  den  Kamm  dieser  Welle  hinweg 
und  strömt  daher  kräftig  in  der  Richtung  gegen 
den  aufkommenden  Sturm. 

Wegen  der  Erdumdrehung  führt  der  Labrador- 
strom eine  Schraubenbewegung  derart  aus,  daß 
das  Oberflächenwasser  auf  die  Neufundlandküste 
zutreibt,  während  das  Bodenwasser  umgekehrte 
Stromrichtung  hat.  Da  außerdem  diese  Meeres- 
gegend sehr  nebelreich  ist,  werden  die  Schiffe 
aus  ihrem  Kurse  getrieben  und  stranden.  Wo 
sich  der  warme,  salzhaltige  Golfstrom  mit  dem 
kalten,  weniger  Salz  enthaltenden  Wasser  des 
Labradorstromes  vermengt,  entsteht  ein  Misch- 
wasser, das  ein  höheres  spezifisches  Gewicht  hat, 
als  beide  Bestandteile.  Das  Mischwasser  sinkt 
daher  in  die  Tiefe,  und  dies  ist  der  Grund  des 
plötzlichen  Verschwindens  des  Labradorstromes. 
Aus  dem  Versinken  des  Labradorstromes  folgt 
eine  starke  Drift  in  dem  Grenzgebiete  der  beiden 
Meeresströmungen,  und  deren  Folge  ist,  daß  sich 
die  Eisberge  im  Grenzgebiete  ansammeln.  Aus 
diesem  Grunde  finden  sich  die  Eisberge  teils  hier, 
teils  an  der  Neufundlandküste,  wohin  die  Erd- 
umdrehung sie  führt,  aber  im  Labradorstrom 
kommen  sie  selten  oder  gar  nicht  vor. 

Die  Bildung  der  eiskalten  Mittelschicht  läßt 
sich  durch  einen  einfachen  Versuch  nachahmen ; 
man  bringt  in  ein  Gefäß  erst  warmes,  salzreiches 
Wasser,  darüber  gießt  man  warmes,  weniger  salz- 
haltiges Wasser,  und  auf  dieses  legt  man  ein 
Eisstück.  Hierdurch  wird  das  Wasser  in  der 
nächsten  Umgebung  abgekühlt,  so  daß  es  dichter 
wird  und  niedersinkt.  Aber  das  kalte,  nieder- 
sinkende Wasser  kann  in  das  dichtere  Bodenwasser 
nicht  eindringen,  sondern  breitet  sich  darüber  aus. 
Nun  ist  eine  warme,  salzreiche  Bodenschicht  vor- 
handen, eine  warme,  weniger  salzhaltige  Oberflächen- 
schicht, und  dazwischen  befindet  sich  eine  eiskalte 
Schicht,  ganz  wie  bei  dem  Wasser  der  Neu- 
fundlandbank. Bei  der  Neufundlandbank  ist  diese 
für  die  Fischerei  außerordentlich  wichtige  eiskalte 
Mittelschicht  eine  P'olge  der  Eisschmelze  während 
des  Frühjahrs.  H.  P. 

Geologie.  Das  geologische  Alter  und  die 
Bildung  des  Laterits.  In  weiter  Verbreitung 
kommen  zwischen  den  Wendekreisen  rotgefärbte 
Böden  vor,  die  man  bis  vor  ganz  kurzer  Zeit 
unter  dem  heutigen  Tropenklima  entstanden 
erklärte.  Die  Literatur  über  den  Laterit  und  vor 
allem  über  seine  Entstehung  ist  groß.  Unter 
den  neueren  Autoren  rechnet  der  russische 
Bodenkundler  K.  Glinka  ganz  in  Anlehnung  an 
F.  V.  Richthofen  den  Laterit  zu  den  Böden 
mit  optimaler  Befeuchtung  und  schreibt  ihm  die 
Entstehung    als    Waldboden    zu.      Dieselbe    Auf- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


fassung  vertreten  auch  Stremme  und  Lacroix. 
Im  Gegensatz  dazu  hat  R.  Lang  zum  ersten 
Male  gezeigt  (vgl.  Naturvv.  Wochenschr.  Nr.  21 
S.  332  191 5),  daß  der  Laterit  auf  Java  nicht  ein 
heutiges  Bodenprodukt  ist,  sondern  unter  dem  der- 
zeitigen regenreichen  Tropenklima  oberflächlich  in 
Braunerde  übergeführt  wurde.  Eine  Bestätigung 
dieser  Ansicht  für  weite  Gebiete  von  Afrika 
(Sudan,  Nubien,  Senegambien,  Togo,  Kamerun, 
Ostafrika),  Asien  (Ostindien,  Ceylon,  Java,  Celebes) 
Australien  mit  Samoa  und  Karolinen,  und  Süd- 
Amerika  (Brasilien)  sowie  interessante  Mit- 
teilungen über  das  geologische  Alter  und  die 
Bildung  des  Laterits  gibt  Joh.  Wal  t  her  in  einer 
zusammenfassenden  Studie  in  Petermann 's  Mit- 
teilungen 1916.  In  all  diesen  Gebieten  wird  der 
Laterit  von  einer  Braunerdedecke  überlagert.  Sehr 
schön  läßt  sich  dies  an  den  meterhohen  Boden- 
profilen (Glaszylinder)  aus  Afrika,  Australien  und 
Sudamerika  der  Bodensammlung  des  landw.  In- 
stituts der  Universität  Halle  studieren. 

Der  Name  Laterit  stammt  von  A.  Buchanan 
welcher  hierunter  (1807)  ziegelrote  zur  Herstellung 
von  Luftziegeln  verwendete  Verwitterungsmassen 
der  Malabarküste  verstand  und  sie  mit  der  Argilla 
lapidea  von  W  a  1 1  e  r  i  u  s  verglich.  Bei  der  späteren 
geologischen  Kartierung  Indiens  legte  man  mehr 
Wert  auf  die  braunrote  harte  Eisenkruste  im 
Hangenden  als  auf  die  weichen  knetbaren  Ziegel- 
tone. In  Deutschland  hat  man  sich  mehr  für  die 
rote  Farbe  der  Verwitterungsmassen  entschieden. 
Joh.  Walther  legt  den  Hauptwert  auf  den 
geologischen  Vorgang  der  Laterisation  und  spricht 
von  laterisierten  Gesteinen,  um  die  große  Mannig- 
faltigkeit der  aus  den  verschiedenen  Gesteinen 
hervorgegangenen  Massen  einbegreifen  zu  können. 
Der  Laterit  ist  kein  „Gestein",  sondern  eine  „Ver- 
witterungsdecke". Nach  Joh.  Walther  handelt 
es  sich  innerhalb  der  heutigen  Tropen  und  der 
ihnen  benachbarten  Klimazonen  um  eine  einheit- 
liche Lateritdecke,  die  nur  einmal  entstanden  ist 
(wahrscheinlich  in  der  Diluvialzeit)  und  seither 
der  Denudation  (Abtragung)  unterliegt.  In  Ost- 
indien wird  der  Laterit  überlagert  von  den  25  m 
mächtigen  AUuvionen  des  Ganges,  in  Südindien 
von  6  m  Regur  (humoser  Boden),  auf  Java  von 
den  1500  m  hohen  Kegeln  der  rezenten  Vulkane, 
in  Australien  von  bis  100  m  hohen  Dünensand- 
steinen, im  Sudan  von  30  m  mächtigen  AUu- 
vionen des  Nil.  In  Westaustralien  hat  sich  der 
Helenafluß  eine  70  m  tiefe  Rinne  in  die  von  di- 
luvialen Bruchlinien  zerschnittene  Lateritdecke 
geschaffen. 

Mit  dem  Laterit  identisch  betrachtet  J.  W  a  1 1  h  e  r 
den  oberitalienischen  Ferretto;  es  sind  das  hoch- 
rote eisenschüssige  Böden,  welche  in  einer 
wechselnden  Breite  von  2 — 6  km  vom  Alpenrand 
nach  der  Niederung  ziehen.  Der  primäre  Ferretto 
liegt  diskordant  auf  dem  marinen  Pliocän,  erreicht 
eine  bis  80  m  betragende  Mächtigkeit  (Mongrando) 
und  wird  von  einer  2  m  mächtigen  Oberschicht 
von    brauner    Erde    überlagert.      Hier   kann    das 


Alter    sicher    als    m  i  1 1  e  1  d  i  1  u  v  i  a  1    bestimmt 
werden. 

Die  Bildung  des  Laterits  vollzog  sich  unter 
ganz  bestimmten  klimatischen  Umständen.  Eisen- 
haltige, besonders  eisenreiche  kristallinischeSchiefer, 
Tiefengesteine,  Eruptivgesteine  und  deren  Tuffe, 
Konglomerate  und  Blocklehme,  Glaukonitgesteine 
werden  laterisiert,  wobei  das  Gestein  von  oben 
nach  unten  durchwässert  wird,  Eisensalze  und 
Silikate  gelöst  werden,  der  Eisengehalt  durch 
intensive  Verdunstung  nach  oben  geschafft  wird 
und  in  einem  gewissen  Abstand  von  der  Erd- 
oberfläche (subterran)  als  konkretionäre  Zone 
oder  als  Eisenkruste  abgeschieden  wird.  Über 
dem  erweichten  Grundgebirge  oder  Muttergestein 
folgt  die  Bleichzone,  in  welcher  die  Eisen- 
verbindungen ausgelaugt  sind,  darüber  durch 
Übergänge  mit  roten  Flecken  die  F'leckenzone 
und  darauf  die  meist  rotgefärbte  Oberzone  mit 
Bohnerzkörnern  oder  einer  Eisenkruste.  In  Ost- 
indien ist  die  Eisenkruste  i  —  2  m  mächtig,  die 
darunter  lagernden  weichen  Tone  der  Flecken- 
und  der  Bleichzone  etwa  30—50  m.  Charakte- 
ristisch für  den  Laterit  ist  die  rote  Farbe,  die  in 
dem  humiden  Tropenklima  zu  oberst  in  Braunerde 
übergeführt  wird,  während  sie  sich  in  den  trockeneren 
Halbwüsten  erhält.  Durch  Abwehung  (Deflation) 
wird  der  Laterit  umgelagert  und  als  rotgefärbte 
Sande  und  Letten  in  Sammelmulden  mit  oft 
großer  iMächtigkeit  wieder  auf  zweiter  Lagerstätte 
angehäuft.  Primärer  Laterit  entsteht  jetzt  nirgends. 
Die  Verteilung  von  Roterde  und  Laterit  zeigt 
völlige  Unabhängigkeit  vom  heutigen  Klima.  Es 
ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  der  oberitalienische 
Ferretto  sowie  der  primäre  Laterit  der  ver- 
schiedenen Erdteile  durch  einen  gleichzeitigen 
klimatischen  Vorgang  in  der  Diluvialzeit  ent- 
standen ist.  Die  Laterisierung  wäre  dann  das 
tropische  Äquivalent  der  ariden  Lößbildung,  der 
polaren  Geschiebelehme  und  der  fluvioglazialen 
Ablagerungen.  Da  der  Ferretto  interglazial  ist, 
muß  man  die  Laterisierung  als  einen  interglazialen 
Vorgang  betrachten.  Außer  der  diluvialen  Late- 
risierung unterscheidet  Walt  her  noch  eine 
eocäne  und  eine  unterpermische,  welch  letztere 
sich  auf  sekundärer  Lagerstätte  durch  Umlagerung 
bis  in  die  Keuperzeit  erhalten  hat. 

Für  die  Entstehung  des  Laterits  sind  starke 
Durchwässerung  des  Bodens  und  hohe  Tempera- 
turen, Eindringen  des  Regenwassers  bis  in  große 
Tiefen,  eine  lebhafte  Aufwärtsbewegung  der  im 
eisenreichen  Grundgebirge  entstandenen  Lösungen, 
Abdestillieren  des  lösenden  Wassers  und  Aus- 
fallen des  gelösten  Eisens  in  einer  subterranen 
Zone  unterhalb  der  Erdoberfläche  erforderlich. 
V.  Hohenstein,  Halle  a.  S. 


Geologie  und  Hygiene  im  Stellungskrieg. 
Der  augenbHckliche  Weltkrieg  hat  die  große 
praktische  Bedeutung  der  Geologie  und  be- 
sonders    der     geologischen     Bodenaufnahme    er- 


N.  F.  XVI.  Nr.  f. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


85 


geben.  Von  ganz  besonderem  Werte  ist  die 
Geologie  und  Hygiene  des  Wassers,  worüber 
Major  W.  Kranz,  Straßburg,  im  Centralbl.  f. 
Mineralogie,  Geologie  und  Paläontologie  Nr.  1 1  u. 
12  1916,  sowie  in  einer  gedruckten  bisher  nicht 
veröffentlichten  Fortsetzung  lehrreiche  Mitteilungen 
macht,  welche  in  einem  „Abriß  der  Militärgeologie" 
fortgesetzt  werden  sollen. 

Die  Gewinnung  eines  keimfreien,  dabei  schmack- 
haften und  bekömmlichen  Trinkwassers  ist  sowohl 
für  die  an  den  Ort  gebundene  Truppe  im  Stellungs- 
krieg wie  auch  für  die  marschierende  Truppe  von 
allergrößter  Bedeutung.  Die  fahrbaren  Trinkwasser- 
bereiter sind  den  Armeeärzten  unterstellt.  Das 
sicherste  und  altbewährteste  Mittel,  um  verdächtiges 
Wasser  unschädlich  zu  machen,  ist  das  Abkochen 
desselben.  Filter  müssen  sorgfällig  und  sachgemäß 
behandelt  werden.  Die  Reinigung  des  Wassers 
allein  durch  chemische  Mittel  ist  nicht  sicher  und 
bleibt  nur  ein  Notbehelf.  Außer  der  grobsinn- 
lichen Prüfung  (Aussehen,  Geruch)  erlolgt  die 
chemische  Trinkwasseruntersuchung  durch  den 
Oberapotheker  bei  der  Saniiätskompagnie  und  dem 
Feldlazarett,  die  mikroskopisch -bakteriologische 
durch  den  Hygieniker  beim  Korpsarzt.  Alle  Not- 
behelfe sind  im  Stellungskrieg  wie  im  Etappen- 
und  Besatzungsgebiet  nicht  notwendig;  hier  er- 
schließen Geologie  und  Technik  hygienisch  ein- 
wandfreies Trink-  und  Gebrauchswasser. 

Zur  Aufschließung  von  Grundwasser  und  zur 
Beobachtung  von  Grundwasserströmungen  dient 
der  Abessinierbrunnen  oder  abessinische 
Brunnen.  Er  läßt  sich  allerdings  nur  bei  genauer 
Kenntnis  des  Untergrundes  zweckmäßig  anwenden, 
andernfalls  tritt  häufig  Versagen  ein.  Zwecklos 
ist  das  Einrammen  des  Abessinierbrunnens  in  Ton 
oder  tonigen  Mergel,  schwierig  oder  unmöglich 
in  zähtonigen,  felsigen  und  grobsteinigen  Boden, 
meist  erfolglos  in  Trieb-  oder  Schwimmsand- 
schichten wegen  Versandens.  Anwendbar  ist  er 
nur  bis  zu  einem  Grundwasserspiegel  von  7  m, 
andernfalls  wählt  man  besser  eine  Saug-  und 
Druckpumpe. 

Brunnenbohrungen  können  nur  in  stark 
durchlässigen  Gesteinen  und  Böden  (klüftiger 
Kalkstein  und  Sandstein,  Konglomerat,  Kies,  Sand) 
oder  in  einem  Wechsel  solcher  Schichten  mit 
wenig  oder  nicht  durchlässigen  Schichten  empfohlen 
werden.  Artesisch  gespanntes  Wasser  ist  vielfach 
erfolgreich  erbohrt  worden.  Wenn  irgend  möglich, 
soll  das  Wasser  einer  Kies-  oder  Grobsandschicht 
entnommen  werden.  Vor  Beginn  von  Bohrarbeiten 
sind  erfahrene  Geologen  zu  Rate  zu  ziehen, 
andernfalls  wird  in  sehr  vielen  Fällen  Zeit,  Arbeits- 
kraft und  Gerät  nutzlos  verwendet.  In  den  Jura- 
Kreide-  und  Tertiärgebieten  des  besetzten  Frank- 
reich sucht  man  fast  überall  vergebens  nach 
Kiesschichten;  sehr  häufig  liegt  aber  dort  eine 
wenig  ergiebige  wasserführende  Schicht  über 
mächtigen  Tonen.  Tieferbohren  bringt  hier  meist 
keinen  Erfolg.     Zweckmäßig  verbessert  man  des- 


halb die  Erschließung  von  Wasser  durch  Brunne n- 
schachten,  um  dem  Wasser  möglichst  große 
Zuflußfläche  zu  verschaffen.  Dies  gilt  ganz  be- 
sonders für  wenig  durchlässige  Gesieine  wie  Mergel. 
Bei  spärlichem  Zufluß  werden  gut  vermauerte 
Kessel-  oder  Schachtbrunnen  angewendet, 
deren  Schachtsohle  bei  0,9  —  1,5  m  lichter  Weite 
etwa  3  — 5  m  unter  dem  Grundwasserspiegel  liegt. 
Tagwasser  darf  keinesfalls  Zutritt  erhalten.  Der 
im  Grundwasserniveau  befindliche  Teil  des  Brunnens 
wird  mit  offenen  Fugen  oder  mit  Lochsteinen 
vermauert  bzw.  mit  gelochten  Betonringen  ver- 
kleidet, um  den  Zutritt  des  Wassers  zu  ermög- 
lichen. Die  Schachtwände  werden  mit  einer 
Sickerpackung  aus  gewaschenen  Steinen  oder 
Grobkies  umgeben.  Bei  Anlage  von  Brunnen  ist 
die  Nähe  von  Dung-  und  Abfallgruben ,  sowie 
von  .Sickergruben  und  sonstigen  Schmutzwasser- 
anlagen zu  vermeiden.  Vielfach  müssen  neue 
Brunnen  außerhalb  der  Dörfer  angelegt  werden. 
Die  zu  wählenden  Stellen  hängen  ganz  von  den 
Bodenverhältnissen  ab  und  müssen  durch  Geologen 
angegeben  werden.  Im  Stellungskrieg,  Etappen- 
und  Besatzungsgebiet  geht  das  ohne  weiteres. 
Das  Wasser  ist  dem  Kesselbrunnen  durch  eine 
Pumpe  zu  entnehmen,  welche  mindestens  2  m 
seitlich  vom  Brunnenschacht  aufzustellen  ist. 
Oft'ene  Zieh-  und  Schöpfbrunnen  sind  unzulässig. 
Bei  jeder  Art  von  Quellfassungen  sind  wegen 
Faulens  Holzverkleidungen  auszuschließen.  Dauernd 
unter  Wasser  befindliches  Holz  hält  sich  gut,  nicht 
aber  solches  in  schwankendem  Wasserspiegel. 
Während  der  Brunnenarbeiten  ist  vom  Führer 
des  Bautrupps  alles  für  die  Beurteilung  der  Boden- 
und  Grundvvasserverhälinisse  Wichtige  zu  sammeln, 
so  vor  allem  von  Bodenproben  jeden  halben  Meter. 
Die  genaue  geologische  Beobachtung  und  Be- 
ratung vor  und  während  der  Wassererschließungs- 
arbeiten ist  unerläßlich,  zumal  wirklich  gute  Fach- 
leute des  Brunnenbaues  auf  den  ungeheuren  Fronten 
des  Stellungskrieges  nicht  sehr  häufig  sind. 

Von  ganz  besonderem  Werte  für  die  Hygiene 
des  Quell  Wassers  ist  die  Art  der  Fassung.  In 
stark  zerklüfteten  Bodenarten,  wie  in  den  Kalk- 
und  Kreideschichten  des  besetzten  Frankreich, 
kann  das  Quellwasser  durch  einen  mehrere  Kilo- 
meter von  der  Quelle  entfernten  Herd  verseucht 
werden.  Der  Stellungskrieg  mit  seiner  gewaltigen 
Anhäufung  von  Menschen  auf  engem  Räume 
mahnt  doppelt  zur  Vorsicht.  Eine  heute  noch 
hj'gienisch  erscheinende  Quelle  kann  morgen  be- 
reits durch  Anbauten  wie  Aborte,  Abfallgruben, 
Beerdigungsstätten  u.  dgl.  verseucht  sein.  Wichtig 
ist  auch  die  Kenntnis  der  Ergiebigkeit  einer  Quelle, 
damit  ihr  Haushalt  geregelt  werden  kann.  Völliges 
Leerpumpen  darf  nie  eintreten.  Zu  jeder  Tages- 
und Jahreszeit  muß  die  erforderliche  Menge  Wasser 
zur  Verfügung  stehen.  Schlüsse  auf  die  Er- 
giebigkeit lassen  sich  bei  gleichen  Niederschlags- 
mengen aus  ihrem  geologischen  Vorkommen 
ziehen.  Hochliegende  Quellen  mit  kleinem  Sammel- 
gebiet werden  wenig  ergiebig  sein  und  im  Sommer 


86 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


versiegen,      während     tiefliegende     mit     großem 
Sammelgebiet  fortwährend  fließen  werden. 

Aus  alledem  geht  die  mannigfaltige  oft  ver- 
antwortungsvolle Tätigkeit  der  Kriegsgeologen 
hervor,  die  schon  vielfach  segensreich  für  unsere 
Truppen  gewirkt  haben,     (g.c.) 

V.  Hohenstein. 


Meteorologie.  Guldberg  und  Mohn 
stellten  1876  folgende  Bewegungsgleichungen  für 
die  Luft  in  der  Nähe  des  Erdbodens  auf: 


dv, 
dt 
d^ 
dt 


-I-  ;i.vy  —  k-v^; 
—  A-Vx  —  k-Vj,. 


Vi  und  Vy  sind  die  Komponenten  der  Wind- 
geschwindigkeit in  den  beiden  auf  einander  senk- 
rechten Richtungen  x  und  y;  p  ist  der  Luftdruck, 
a  das  spezifische  Volumen  der  Luft;  1  =  2  10 -sm  (p 
stellt  die  Zentrifugalbeschleunigung  dar  und  hängt 
nur  von  der  geogr.  Breite  (p  und  der  Winkel- 
geschwindigkeit w  der  Erde  ab;  k  ist  der 
Reibungskuetfizient  zwischen  der  Luft  in  Anemo- 
meterhöhe und  dem  Erdboden.  Die  Gleichungen 
setzen  voraus,  daß  die  Reibungskraft  der  Wind- 
geschwindigkeit proportional  und  der  Windrichtung 
entgegengesetzt  ist.  Bei  unbeschleunigter  Be- 
wegung muß  ferner  der  Ablenkungswinkel  des 
Windes  von  der  Normalen  der  Isobaren  unabhängig 
von  der  Windgeschwindigkeit  und  die  Gra- 
dientkraft ^)  der  letzteren  proportional  sein. 
H.  U.  Sverdrup  (Annalen  der  Hydrogr.  44, 
413,  1916)  hat  nun  daraufhin  die  Beziehungen 
zwischen  Druckgradient,  Wind  und  Reibung  an 
der  Erdobertläche  an  Hand  des  Beobachtungs- 
materials der  Wetterkarten  für  Nordamerika,  den 
Atlantischen  Ozean  und  Europa  einer  Prüfung 
unterzogen. 

Die  bei  der  atmosphärischen  Zirkulation  auf- 
tretenden Beschleunigungen  sind  klein  und  fallen 
bei  der  Mittelwertbildung  fort,  bzw.  können  sie 
als  Beobachtungsfehler  angesetzt  werden.  Unter 
Zuhilfenahme  des  Korrelationsfaktors  ergab  sich 
aus  den  mit  verhältnismäßig  großen  Fehlern  be- 
hafteten Werten  des  Druckgradienten,  der  Wind- 
geschwindigkeit und  des  Winkels  zwischen  beiden, 
daß  letzterer  von  den  beiden  ersten  unabhängig 
ist;  dabei  wurde  vorausgesetzt,  daß  die  Beo- 
bachtungsfehler sich  auf  alle  drei  Größen  gleich- 
mäßig verteilen.  Unter  der  gleichen  Annahme 
ist  im  Mittel  die  Gradientkralt  und  ebenso  die 
Reibungskraft  der  Windgeschwindigkeit  proportional 
zu  setzen.  Nur  für  den  atlantischen  Ozean  ergab 
sich  eine  merkliche  Abweichung.    Diese  ist  jedoch 


')  Die  Gradientkraft  ist  die  Kraft,  welche  die  Luft  von 
Arten  höheren  Druckes  zu  solchen  niederen  Druckes  treibt. 
Sie  wirkt  also  in  der  Richtung  des  Druckgradienten,  d.  h. 
senkrecht  zu  den   Isobaren. 


wahrscheinlich  auf  die  besonders  großen  F'ehler 
iit  der  Windbeobachiung  auf  dem  Meere  zurück- 
zuführen. Ein  wesentlicher  Unterschied  gegen- 
über den  Guldberg-Mohn'schen  Voraus- 
setzungen wurde  jedoch  bezüglich  der  Richtung 
der  Reibungskraft  gefunden.  Diese  bildet  nämlich 
mit  der  Windrichtung  einen  konstanten  Winkel, 
der  nur  von  der  Lage  der  Station  abhängt;  er 
ließ  sich  nicht  in  eine  bestimmte  Beziehung  zur 
Anemometerhöhe  setzen.  Verf  stellt  nun  auf 
Grund  dieser  f>gebnisse  von  neuem  Bewegungs- 
gleichungen für  die  Luftströmungen  in  der  Nähe 
des  Erdbodens  auf,  die  allerdings  nur  für  einen 
mittleren  Zustand  gelten,  nicht  aber  ohne  weiteres 
auch  für  den  Einzelfall,  was  aber  für  die  theo- 
retische Betrachtung  genügt.  Die  Gleichungen 
haben  äußerlich  dieselbe  Form  wie  die  oben  an- 
geführten von  Guldberg  und  Mohn.  Im  zweiten 
Glied  der  rechten  Seile  ist  aber  bei  ihnen  außer 
der  Ablenkung  durch  die  Erdrotation  auch  ein 
Teil  der  Reibungskraft  enthalten,  so  daß  auch  das 
letzte  Glied  nicht  mehr  die  gesamte  Verzögerung 
durch  die  Reibung  darstellt.  Scholich. 

Vorgeschichte.  Vorgeschichtliche  Astronomie 
und  Zeiteinteilung.  Mächtige  Sieinsetzungen  in 
England  und  der  Bretagne  überliefern  uns  die 
Kunde  von  mathematischen  und  astronomischen 
Kenntnissen  eines  auf  hoher  Kulturstufe  stehenden 
vorgeschichtlichen  Volkes.  Den  Schlüssel  zum 
Verständnis  ihrer  Sprache  haben  uns  der  Astronom 
Lockyerin  seinem  Werke  „Stonehenge"  (London 
1906)  und  der  Korvettenkapitän  Devoir  in 
einer  Abhandlung  im  Mannus  Band  1  1909  gegeben. 

In  einer  sehr  lehrreichen  Abhandlung  behandelt 
der  Regierungslandmesser  Stephan  aus  Posen 
jetzt  einige  wichtige  Steinkreise  zu  Obry  im  Kreise 
Konitz  in  Westpreußen,  und  unternimmt  dabei 
den  Versuch,  diese  Steinkreise  gleichfalls  für  die 
Astronomie  zu  verwerten  („Vorgeschichtliche  Stern- 
kunde und  Zeileinteilung",  Mannus  Vll,  1916. 
S.  213 — 248).  Es  handelt  sich  um  Steinkreise 
von  16  —  29  Findlingsblöcken,  die  aus  größeren 
Blöcken  abgespalten  sind  und  0,10—1,10  m  über 
den  Erdboden  hervorragen.  Der  Durchmesser 
dieser  Kreise  ist  sehr  verschieden;  doch  scheint 
eine  bestimmte  Maßeinheit  vorzuliegen,  die 
Stephan  auf  1,154  ™,  also  vier  Fuß  zu  28,85  cm 
berechnet.  Von  diesen  Steinkreisen  scheint  eine 
zur  Beobachtung  des  Mitsommer-,  ein  anderer 
zur  Beobachtung  des  Mitwintersonnenaufgangs 
gedient  zu  haben;  andere  haben  vielleicht  zur 
Avisierung  eines  Sternes  gedient.  Die  hier  in 
Obry  vorliegenden  Richtungen  würden  einer 
Deklination  entsprechen,  welche  Arkturus  um 
350  V.  Chr.,  Capeila  dagegen  ums  Jahr  1760  v.  Chr. 
hatten.  Da  in  den  Sieinkreisen  Steinzeitgrab- 
funde beobachtet  sind,  scheidet  die  ersiere  Zahl 
ohne  weiteres  aus.  Wenn  die  Voraussetzungen 
richtig  sind,  hätten  wir  mit  1760  v.  Chr.  die  un- 
gefähre Entstehungszeit  der  Kreise  und  somit  für 


N.  F.  XVI.  Nr.  6 


Naturwissenscliaftliche  Wochenschrift. 


87 


Deutschland  die  erste    absolute  Datierung    iür  so 
frühe  Zeiten  gefunden. 

Eingehend  behandelt  Stephan  dann  die 
Frage,  welche  Beziehung  diese  Steindenkmäler 
zum  Kalender  haben,  und  kommt  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  sie  sinnreiclie  Kaiendarien  darstellen. 
Er  errechnet  dabei  18  Monate  zu  20  Tagen;  da 
die  indogermanische  Woche  fünf  Tage  hatte, 
kämen  damit  auch  wieder  unsere  „vier  Wochen" 
heraus. 


Ob  die  Abhandlung  immer  auf  richtigen  Vor- 
aussetzungen beruht,  vermag  ich  als„Nichiastronom" 
nicht  festzustellen.  Sie  bietet  jedenfalls  zahlreiche 
wertvolle  Ausblicke  für  die  Zukunft  und  sollte 
deshalb  von  Fachkennern  einmal  eingehend  ge- 
prüft werden,  andernteils  aber  auch  die  genaue 
Aufnahme  aller  übrigen  etwa  noch  vorhandenen 
Denkmäler  zur  weiteren  Diskussion  der  Frage 
veranlassen.  Hugo  Mötefindt. 


Bücherbesprechuugen. 


Eduard  Sue§,  Erinnerungen.  Leipzig  1916. 
Hirzel. 
Die  Erinnerungen  des  bekannten  Geologen 
sind  bei  Hirzel  in  Leipzig  erschienen.  Sie  gehen 
bis  zu  seiner  Kindheit  zurück,  die  er  in  England, 
wo  er  geboren  ist,  und  in  Prag  verlebte.  Mit 
wunderbarer  Treue  schrieb  er  bis  1894  alles 
auf,  was  sein  so  erinnerungsreiches  Leben  in 
seinem  politischen  und  wissenschaftlichen  Arbeiten 
ihm  an  Freuden  und  Enttäuschungen  schenkte. 
Vorher  legte  er  alle  seine  Ämter  nieder,  seine 
Professur  in  Wien,  das  Amt  eines  Präsidenten  der 
Akademie  der  Wissenschaften,  seine  Ämter  als 
Abgeordneter.  Wir  sehen  ihn  als  Mitglied  der 
Studentenlegion  im  Jahre  1848  um  die  Verfassung 
kämpfen,  sehen  ihn  in  Karlsbad  seine  ersten  geo- 
logischen Studien  treiben,  die  er  in  einem  geo- 
gnostischen  Beitrag  zu  einem  Führer  für  die 
Kurgäste  —  seine  erste  geologische  Veröffent- 
lichung —  niederlegt.  Prags  Museumsschätze, 
seine  Umgebung  lassen  ihn  Graptolithenstudien 
treiben,  die  1851  in  Hai  d  inger's  Abhandlungen 
erschienen.  Sein  Vater,  der  eine  Fabrik  in  Wien 
übernehmen  mußte,  hätte  ihn  gern  als  Schüler 
des  Wiener  Polytechnikums  später  als  Leiter  seines 
Betriebes  gesehen.  Aber  Su  eß  steuerte  der  geo- 
logischen Wissenschaft  zu.  Grundlos  verhaftete 
man  ihn  1850,  mußte  ihn  ebenso  schuMlos  wieder 
freigeben.  Am  Reichsmuseum  in  Wien  ordnet 
er  die  fossilen  Brachiopoden,  wird  Extraordinarius 
für  Geologie  an  der  Wiener  Universität.  Nun 
beginnt  ein  Leben  der  Arbeit,  ganz  seiner  geliebten 
Geologie  gewidmet.  Auf  Reisen  nach  Berlin, 
London,  Paris  knüpft  er  den  Verkehr  mit  den 
Größen  damaliger  geologischer  Wissenschaft  an. 
Seine  unzähligen  Beobachtungen  häufen  sich, 
drängen  ihn,  sie  zu  einem  Werke  großzügigster 
Art  zusammenzufassen,  seinem  „Antlitz  der  Erde". 
Aus  3  Teilen,  die  er  mit  dem  Verleger  vereinbart, 
wurden  4  dicke  Bände.  Die  besten  Jahre  seines 
Lebens  sind  dem  Lebenswerk  gewidmet.  Daneben 
findet  er  immer  noch  Zeit,  seine  arbeitreichen 
politischen  Ämter  zu  besorgen  und  voll  und  ganz 
auszufüllen,  seine  Reisen  mit  den  wichtigsten 
Erfahrungen  auszufüllen,  die  seinem  Lebenswerke, 
dem  „Antlitz  der  Erde"  galten.  Dieses  klassische 
Werk  moderner  Geologie  hat  seinem  Namen  Un- 


sterblichkeit in  der  geologischen  Wissenschaft 
verliehen.  Alle  modernen  Anschauungen  über 
Gebirgsbau  sind  darin  niedergelegt.  Seine  Ver- 
dienste um  die  Stadt  Wien  erkannte  man  an, 
indem  man  ihn  zum  Ehrenbürger  erwählte.  Er 
schenkte  der  Stadt  Wien  die  großartige  Wasser- 
leitung, durch  die  sie  aus  den  Alpen  mit  frischem 
Gebirgswasser  versorgte.  Keine  andere  Stadt 
wird  durch  eine  solche  großartig  angelegte 
Wasserleitung  versorgt  wie  Wien,  die  nach  den 
neusten  geologischen  Forschungen  erbaut  worden 
ist.  Was  sie  gesundheitlich  den  Bewohnern  Wiens 
geworden  ist,  das  sprechen  die  Statistiken.  Ein 
gleich  gesundheitlich  wertvolles  Werk  war  die 
Verlegung  des  Donaubeties  durch  einen  Durch- 
stich, zu  dem  er  wertvolle  Anregungen  und  Hin- 
weise bei  der  Reise  zu  den  Suezkanaleröffnungs- 
feierlichkeiten, zu  denen  er  als  Vertreter  geschickt 
wurde,  sammelte.  So  schenkte  er  Wien  zwei 
Werke  von  ewigem  Wert.  Staunenswert  ist  es, 
wie  er  bei  all  diesen  zeitraubenden  Arbeiten 
immer  noch  Zeit  fand,  seinen  politischen  Ämtern 
voll  und  ganz  nachzugehen.  Was  er  als  Mitglied 
der  Studentenlegion  gewesen  war,  ein  Kämpfer 
der  Freiheit,  ist  er  bis  zu  seinem  hohen  Alter 
geblieben. 

Seine  Erinnerungen    sind   ein  Buch,    darin    ein 
Großer   seine    Lebensanschauung    bekennt,    darin 
von  Arbeitsfreudigkeit  und  verdientem   Lohn    ge- 
schrieben   ist,    die    wertvoll    sind    für   alle    Zeiten. 
Rudolf  Hundt. 


Möbius-Kobold,  Astronomie.  II.  Teil,  Kometen, 
Meteore     und     das     Sternsystem.       Sammlung 
Göschen   529,    128  S.  mit   15  F"ig.  und  2  Stern- 
karten.    Leipzig   1916.  —  Preis  geb.  0,90  M. 
Der  bekannte  Herausgeber  der  Astronomischen 
Nachrichten    gibt    hier    auf  den    ersten  37  Seiten 
das    wesentliche    unserer   heutigen  Anschauungen 
über  Kometen  und  Meteore  wieder,  ihr  Äußeres, 
Bewegung    und   Bahn.     Bei  der  Besprechung    der 
bekanntesten  Kometen,    darunter   der  Halleysche 
und    seine    Erscheinung   1910,    sind    die   Einflüsse 
der    großen   Planeten    sehr    klar    dargestellt,    und 
eine  Zeichnung   macht  den  Begriff  der  Kometen- 
familie   des    Jupiter    unmittelbar    klar,     die    aus 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  I<.  XVI.  Nr.  6 


15  Glieder»  besteht.  Der  andere  Teil  des  Buches 
ist  den  Fixsternen  gewidmet,  besonders  dem  Ge- 
biete, auf  dem  der  Verfasser  selbst  wertvolle 
Arbeiten  geliefert  hat,  betreffend  den  Bau  des 
Weltsystems  und  die  Verteilung  der  Sterne.  Wir 
finden  hier  die  neuen  Ergebnisse  von  Kapteyn, 
Seeliger,  Schwarzschild,  Kobold  und 
anderen  zusammengestellt,  und  die  merkwürdigen 
Zusammenhänge  zwischen  Eigenbewegungen, 
Parallaxen  und  Spektraltypen  der  Sterne,  also  die 
Probleme,    an  deren  Erweiterung    und  Vertiefung 


die  heutige  Astronomie  arbeitet.  Die  Erörterungen 
über  die  Kosmogonie  zeigen,  daß  der  Autor  der 
Nebularhypothese  huldigt,  ja  sogar  die  La  place - 
sehe  Anschauung  für  gesichert  erklärt.  Vielleicht 
dürfte  die  nächste  Auflage  auch  die  zum  Teil 
vernichtende  Kritik  an  dieser  Hypothese  bringen, 
sowie  die  Gedankengänge  der  entgegenstehenden 
Anschauungen  von  Multon,  Lockyer,  See 
und  Hörbiger,  die  der  Nebularhypothese  sicher 
gleichwertig  sind.  Riem. 


Anregungen  und  Antworten. 


Bewußtsein  im  Traum. 


ersten  Tagen  eines  vier- 
1  im  Fieber.  Des  Nachts 
iber  schlummerte  ich  viel. 


wöchentlichen  Krankenbettes  lag  i 
schlief  ich  schlecht  und  des  Tages 
Dieser  Schlummer  war  nun,  wahrscheinlich  durch  die  Geräusche 
und  den  Lärm  sowohl  im  Hause  als  in  der  Umgebung,  bis- 
weilen ein  Zustand  zwischen  Wachen  und  Schlafen.  Ich 
träumte  dann  wirklich,  aber  ich  wußte  es,  und  ich  hatte  meine 
Freude  daran,  lächelte  selbst  dabei.  —  Verschiedene  Träume 
waren  es  natürlich,  und  ich  nahm  mir  vor,  sie  im  Gedächtnis 
zu  behalten,  aber  nach  einigen  Tagen,  als  das  Fieber  vorüber 
war,  hatte  ich  die  meisten  schon  wieder  vergessen.  Nur  einer 
ist  hängen  geblieben,  und  diesen  will  ich  erzählen,  weil  ich 
dabei  noch  eine  andere  Beobachtung  machte.  —  Ich  träumte, 
einer  meiner  Schüler  zeigte  mir  sein  Skizzenbuch,  worein  er 
Tiere  und  Pflanzen  und  Teile  derselben  mit  Tinte  eingezeichnet 
hatte.  Es  war  ein  liegend-längliches  Buch,  war  also  breiter 
als  lang  (hoch);  die  Blätter  waren  gelblichbiaun,  aber  dabei 
durchscheinend,  so  daß  ich  durch  zwei,  drei  Blätter  hindurch 
die  Figuren,  obwohl  etwas  undeutlich,  sehen  konnte.  Als  ich 
die  Abbildungen  eines  Blattes  durchmustert  hatte,  schlug  ich 
das  Blatt  um,  bis  ich  endlich  die  Hinterdecke  des  Zeichen- 
buchs zuklappte.  —  Nun,  bei  jedem  Umschlagen  eines  Blattes 
und  endlich  der  Hinterdecke  machte  ich  mit  der  rechten  Hand 
die  Bewegung  des  Umschlagens,  aber  nur  schwach  und  nur 
im  Handgelenke.  Und  ich  erinnerte  mich  dabei  sofort,  daß 
ich  vor  etwa  dreißig  Jahren  einen  kleinen  Hund  hatte,  der, 
wenn  er  in  seinem  Korbe  schlief  und  träumte,  leise  „wuf-wuf" 
bellte  und  dabei  mit  allen  Vieren  Laufbewegungen  machte, 
aber  nur  in  den  Pfotengelenken.  Ich  fand  es  außerordentlich 
drollig,  daß  ich  nun  ,,im  Schlafe"  dieselben  Bewegungen 
machte! 

Nach  fast  vollständiger  Genesung  wurde  ich  wieder  vom 
Fieber  ergriffen,  und  wieder  nahm  ich  bei  mir  dieselbe  Er- 
scheinung war;  aber  nun  traf  ich  Maßnahmen,  um  die  Träume 
nicht  zu  vergessen.  Sobald  ich  erwachte,  notierte  ich  sie 
in  meinem  Notizbuche,  das  neben  mir  lag,  um  die  F'ieber- 
temperaturen  zu  notieren.  So  bin  ich  imstande,  noch  drei 
Beobachtungen  hinzuzufügen.  —  Jeden  Monat  kommt  der 
Türhüter  zu  mir  mit  zwei  „Zahlungsanweisungen",  welche  ich 
zu  unterzeichnen  habe,  worauf  mir  vom  Gemeinde-Einnehmer 
mein  Honorar  ausbezahlt  wird.     Nun  träumte  ich,  daß  ich  die 


Unterschriften  vollzog,  und  beobachtete  bei  mir  selbst,  daß 
ich  den  Daumen  und  zwei  Finger  meiner  rechten  Hand  streckte 
und  zum  Griff  des  Federhalters  zusammenbrachte.  —  Während 
meiner  Krankheit  brachte  meine  Frau  mir  jeden  Tag  eine 
Fleischsuppe.  Ich  träumte  einmal,  daß  dies  geschah,  und 
nahm  bei  mir  selbst  wahr,  daß  ich  die  Lippen  dem  geiräumten 
Löffel  dillenförmig  nach  vorn  streckte.  —  In  einem  Traume 
spazierte  ich  auf  der  Straße  und  nickte  Jemandem  zu.  Wirk- 
lich machte  ich   eine  kurze  Kopfbewegung. 

Arnhem  (Niederland).  A.  C.  Oudemans. 


Literatur. 

Timerding,  H.  E  ,  Die  Aufgaben  der  Sexualpädagogik. 
Leipzig  u.  Berlin  '16,  B.   G.  Teubner.  —  o,So  M. 

Aus  dem  Leben  und  Wirken  von  Arnold  Lang,  dem 
Andenken  des  Freundes  und  Lehrers  gewidmet.  Jena  '16, 
G.  Fischer.  —   7  M. 

Li  p  schütz,  Dr.  AI.,  Physiologie  und  Entwicklungs- 
geschichte und  über  die  Aufgaben  des  physiologischen  Unter- 
richts an  der  Univer.siiät.     Jena    16,  G.  Fischer.  —  0,60  M. 

Fonrobert,  D.  E.,  Das  Ozon.  Mit  I  Textabbildung. 
Stuttgart  '16,   F.  Enke.  —   10,80  M. 

Lerche,  J.,  Waldhof.  Geschichten  seiner  Freunde  und 
Feinde.  Mit  8  farbigen  und  40  schwarzen  Bildern  von 
F.   Lang.     Stuttgart,  K.  Thienemann.  —  4,50  M. 

Asher,  Prof.  Dr  L.,  Praktische  Übungen  in  der  Physio- 
logie. Eine  Anleitung  für  Studierende.  Mit  21  Textfiguren. 
Berlin  '16,  J.  Springer.   —  6  M. 

Tschermak,  A.  von,  Allgemeine  Physiologie.  Eine 
systematische  Darstellung  der  Grundlagen  sowie  der  allge- 
meinen Ergebnisse  und  Probleme  der  Lehre  vom  tierischen 
und  pflanzlichen  Leben.  In  2  Bänden.  I.  Bd.:  Grundlagen 
der  allgemeinen  Physiologie.  I.  Teil:  Allgemeine  Charakte- 
ristik des  Lebens.  Physikalische  und  chemische  Beschaffenheit 
der  lebenden  Substanz.  Mit  12  Textabbildungen.  Berlin  '16, 
J.  Springer,   —    10  M. 


Inhalta  Jaroslav 
Methode.  S.  7- 
Kupfers.  S.  78- 
deutsche  Getrei 


zenecky,    Versuch    einer    methodischen    Bestimmung 

Einzelberichte:    Eugen  Posnjak,    E.  T.  Allen  1 

H.  Schulz,    Die  Veredelung  des  Zinks.    S.   79.      Ma: 

spflanze.    S.  80.     TheUung,    Neue  Wege    der    pflanzliche 

~   '  "    "         "    W.  Sands 


es  Inzuchtsgrades  mittels  mathematischer 
I  H.  E.  Merwin,  Über  die  Sulfide  des 
ßleib  und  St  rose.  Die  Keißmelde  als 
Systematik.  S.  81.  Helgesen,  Peary's 
Enldeckerlatein  und  die  amerikanischen  Polarkarten.  S.  82.  J.  W.  San  d  s  t  r  ö  m ,  Hydrographie  Neufundlands.  S.  83. 
J.  Walther,  Das  geologische  Alter  und  die  Bildung  des  Laterits.  S.  83.  W.  Kranz,  Geologie  und  Hygiene  im 
Stellungskrieg.  S.  84.  H.  U.  Sverdrup,  Druckgradient,  Wind  und  Reibung  an  der  Erdoberfläche.  S.  86.  Stephan, 
Vorgeschichtliche  Astronomie  und  Zeiteinteilung.  S.  86.  —  Bücherbesprechungen:  Eduard  Süß,  Erinnerungen.  S.  87. 
Möbius-Kobold,  Astronomie.  S.  87.  —  Anregungen  und  Antworten:  Bewußtsein  im  Traum.  S.  88.  —  Literatur: 
Liste.  S.  88. 


Manuskripte  und  Zus 


iriften   werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbe 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
G.   P.ätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


■  ganzen  Reihe   32.  Band. 


Sonntag,  den  18.  Februar  1917. 


Nummer  7. 


Scheinwaffen  im  Tierreiche. 


[Nachdruck  verboten.]  Mit   2    Abbildu 

Im  jetzigen  Weltkriege  hat  man  oft  genug  von 
Scheingescliützen  und  -mörsern  gehört,  die,  aus 
Blechröhren  oder  hölzernen  Tonnen  bestehend, 
dem  Feinde  eine  bedrohliche  Armierung  eines 
kleinen  Teiles  unserer  Stellungen  vortäuschen. 
Von  nichts  Derartigem  soll  hier  die  Rede  sein. 
Die  Waffen,  die  ich  im  Sinne  habe  und  die  ihrem 
Träger  ein  überaus  stattliches  und  wehrhaftes 
Aussehen  verleihen,  werden,  soviel  wir  wissen, 
niemals  gebraucht,  wie  man  schon  daraus  ersieht, 
daß  sie  kaum  je  Spuren  einer  Abnutzung  zeigen 
oder  gar  abgebrochen  oder  verbogen  sind;  ja  es 
ist  sehr  die  Frage,  ob  in  diesen  Fällen  in  dem 
Besitzer  solcher  Waffen  jenes  gesteigerte  Kraft- 
gefühl vorhanden  ist,  das  wir  dem  männlichen 
Hirsch,  dem  wilden  Büffel,  vielleicht  sogar  dem 
Hirschkäfermännchen  sicherlich  mit  Recht  zu- 
schreiben. Es  sind  diese  Waffen  demnach  nicht 
einmal  dem  Galantcriedegen  zu  vergleichen,  der 
dem  Staatsbeamten  an  der  Seite  hängt,  aber,  ob- 
gleich kaum  jemals  gebraucht,  doch  das  Selbst- 
vertrauen des  Trägers  mächtig  erhöht,  weil  er 
sich  des  Waffenbesitzes  wenigstens  bewußt  ist. 

Die  Waffen,  von  denen  ich  hier  reden  will,  sind 
ausschließlich  in  der  Form  von  Hörnern  entwickelt, 
die  sich  entweder  an  der  Schnauzenspitze  oder 
an  den  Augenbrauen,  bzw.  (bei  Käfern)  am 
Vorderrande  des  Halsschildes  befinden.  Derartige 
Hörner  kennen  wir  namentlich  von  zahlreichen 
Arten  von  Chamäleons  von  Afrika  und  Madagaskar; 
und  zwar  sind  es  entweder  seitlich  plattgedrückte 
[CIiamaiicDii  hifiJ/is,  fiscJ/cn',  zvillsii.  iiiiiior),  oder 
scharf  dreikantige  (67/.  favcfcnsis)  paarige  Hörner, 
die  auf  der  Schnauzenspitze  nebeneinander  stehen 
und  mit  Schuppen  bedeckt  sind  oder  ein  einziges, 
gegabeltes  Hörn ,  gleichfalls  beschuppt  imd  auf 
der  Schnauzenspitze  {Ch.  ///reifer)  oder  ein  un- 
paares,  ynesserartiges  Hörn  von  gleicher  Beschaffen- 
heit an  derselben  Stelle  ( C/i.  rI/i)/oeeraf//s^  xciio- 
rl/i>///s  fej/i//s  u.  a.).  Außerdem  aber  gibt  es 
zahlreiche  Chamäleon- Arten  mit  lang  kegelförmigen, 
geringelten  Hörnern  ;  entweder  zwei  nebeneinander 
auf  der  Schnauzenspitze  (67/.  11/01/ fi//iii)  oder 
außen  davon  noch  je  ein  kleineres  Hörn  {Ch. 
q//adr/.cor///s)  oder  ein  langes  Schnauzen-  und  je 
ein  langes,  wie  dieses  nach  vorn  gerichtetes 
Augenbrauenhorn  (das  westafrikanische  Ch.  owci/i 
und  fast  ein  halbes  Dutzend  Ostafrikaner  (67/. 
eleremei/s/s,  jackso////',  joh//sto//i/,  ivenieri  usw.). 
Bei  allen  diesen  und  noch  weiteren  gehörnten 
Chamäleons  ist  nur  das  Männchen  mit  diesem 
martialischen  Schmuck  versehen  und  nur  bei  einer 
einzigen  Art  oder  Unterart,    Cl/.  ii/nfsehief  besitzt 


auch  das  Weibchen  ein  Paar  beschuppter  Schnauzen- 
hörner,  die  allerdings  meist  kleiner  sind,  als  beim 
Männchen. 

Man  kann  nun  denken,  daß,  wie  bei  anderen 
Tieren,  die  einen  solchen  Kopfschmuck  besitzen, 
bei  Hirschen,  Rindern,  Schafen,  Ziegen,  Antilopen, 


Kopf  von   Chama,lioii  /lijhliis  fMannchen)  (Madagaskar). 


([>eutsch-i  l5tafrika). 

d-ie  Männchen  Kämpfe  um  den  Besitz  der  Weib- 
chen zu  bestehen  haben,  wobei  ihtien  die  Hörner 
gute  Dienste  leisten.  Aber  niemand  hat  noch 
zwei  männliche  Hornchamäleons  in  dieser  Weise 
kämpfen  gesehen  und  an  den  zahlreichen  Exem- 
plaren,   die  mir  durch  die  Hände    gegangen  sind. 


90 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  7 


habe  ich  fast  niemals  (^nur  an  Ch.  pardalis,  aber 
an  Exemplaren,  die  sich  in  Gefangenbcnaft  bei 
Fluchtversuchen  die  Hörner  wundgescheuert  hatten) 
Verletzungen  der  Hörner  beobachtet,  wohl  aber 
Verkrümmungen,  die  sich  gerade  durch  den 
Nichtgebrauch  erklären  lassen,  auch  an  den  Krallen 
und  Hufen  verschiedener  in  Gefangenschaft  ge- 
haltener Säugetiere  und  an  den  Nagezähnen  von 
Nagern,  denen  die  Antagonisten  dieser  Zähne 
verloren  gegangen  sind,  sowie  an  den  zurück- 
gebogenen Eckzälinen  des  Hirschebers  {Porciis 
ßabinissa)  in  Erscheinung  treten. 

Aber  auch  als  Abwehrvorrichtungen  gegen 
einen  Feind  dürlten  sie  kaum  anzusehen  sein. 
Freihch  habe  ich  niemals  ein  erwachsenes  männ- 
liches Hornchamäleon  im  Magen  einer  Baum- 
schlange, eines  der  schlimmsten  Feinde  der 
Chamäleons  überhaupt,  gefunden;  aber  auch  noch 
kein  Weibchen  derselben  Arten;  ich  zweifle  nicht, 
daß  in  Gegenden,  wo  solche  häuhg  sind,  beide 
Geschlechter  von  den  Schlangen  gefressen  werden, 
da  bei  der  gewaltigen  Ausdehnbarkeit  des  Rachens 
dieser  Schlangen  solche  Hörner,  auch  wenn  sie 
nach  vorn  divergieren,  kein  wesentliches  Hindernis 
vorstellen.  Raubvögel,  die  sich  an  Chamäleons 
auch  öfters  vergreifen,  werden  aber  dieser  ziemlich 
unbehilflichen  Tiere  sehr  leicht  Herr,  gleich- 
gültig, ob  sie  Hörner  haben  oder  nicht.  Ganz  das- 
selbe gilt  auch  von  den  gehörnten  mittelamerika- 
nischen  Krötenechsen  (jPhryuosoina)  und  dem 
Moloch  Australiens,  die  gegen  Schlangen  und 
Raubvögel  im  gleichen  MaÖe  wehrlos  sind.  Wir 
können  also  in  den  Hörnern  der  Chamäleons  nur 
einen  Schmuck  erblicken,  durch  hypertrophisches 
Wachstum  entstandene  Gebilde,  wie  wir  sie  in 
den  eigentlich  tropischen  Teilen  von  Afrika  auch 
in  anderen  Tiergruppen  antreffen  (blattartige  Er- 
weiterungen an  den  Beinen  bei  Gottesanbeterinnen 
und  Gespenstheuschrecken).  In  den  trocken- 
heißen Regionen  Afrikas,  in  Nord-  und  Südatrika 
fehlen  Hornchamäleons  vollständig,  alle  Arten 
dieser  Länder  sind  in  beiden  Geschlechten  hornlos. 

Eine  andere  Gruppe  von  gehörnten  Tieren 
ohne  erkennbare  Offensiv-  oder  Defensivbedeuiung 
sind  die  Koffei fische  {Osiracion)  der  tropischen 
Meere.  Diese  kantigen  Tiere,  an  denen  außeJ 
den  Flossen  und  dem  langen,  kräftigen  Stiel  der 
großen  Schwanzflosse  nichts  beweglich  ist,  nicht 
einmal  der  Kiemendeckel,  so  daß  die  Brustflosse 
die  Aufgabe  hat,  die  Bewegung  des  Atemwassers 
zu  vermitteln,  lassen  ebenso  wie  die  Chamäleons 
verschiedene  Grade  der  Hörnerbildung  erkennen; 
es  gibt  ganz  hornlose  Arten  {O.  culncus,  scbac, 
fimctatns)  und  solche  mit  sehr  langen,  nach  vorne 
gerichteten  Augenbrauenhörnern  (ö.  diapliaiiiis). 
Hier  sind  die  Hörner  in  beiden  Geschlechtern 
entwickelt,  aber  wir  wissen  über  ihre  Bedeutung 
nichts,  können  aber  aus  ihrer  steten  Unversehrtheit 
entnehmen,  daß  sie  als  Waffen  gleichfalls  nicht  in 
Betracht  kommen.  Kofferfische  sind  in  europäischen 
Museen  nichts  weniger  als  selten,  Verletzungen 
der   Hörner    oder    aber    solche    des    Panzers,    die 


durch  diese  entstanden  sein  könnten,  sind  mir 
aber  niemals  zu  Gesicht  gekommen.  Jedenfalls 
werden  Koff'erfische  von  anderen  Fischen  ihres 
harten  Panzers  wegen  überhaupt  nicht  gefressen, 
ob  mit  oder  ohne  Hörner. 

Eine  dritte  Kategorie  horntragender  Tiere  sind 
die  Insekten,  von  denen  namentlich  Käfer,  aber 
auch  Heuschrecken  und  Cicaden  und  vereinzelte 
Vertreter  anderer  Ordnungen  sich  durch  oft  an- 
sehnliche Hörnerbildungen  auszeichnen.  Unter 
den  Käfern  sind  es  namentlich  die  Blatthörner 
{Laiiiiiliconiicr)  die  in  dieser  Beziehung  excellieren 
und  das  mächiige  Kopf  hörn  des  männlichen  Nas- 
horn-Käfers [Orycii's  nasicontis)  und  Mondhorn- 
käfers  {Copris  luiiaris)  ist  allgemein  bekannt,  nicht 
minder  auch  die  ungeheuren  Hörner  tropischer 
Arten,  die  teils  auf  der  Oberseite  des  Kopfes 
stehen  und  entweder  gerade  oder  gekrümmt  nach 
aufwärts  gerichtet  sind,  oder  nach  vorne,  oder 
schließlich  z.  B.  bei  dem  bei  uns  vorkommenden 
kleinen  Mistkäfer  {Oiif/iophaoiis  fa/tnis)  wie  beim 
Büffel  im  Bogen  nach  hinten.  Mit  den  Kopf- 
hörnern, die  ganz  unpaar,  gegabelt  (ausnahmsweise 
wie  bei  dem  indischen  A>/('//'7//c.f  diclwtoiims  sogar 
doppelt  gegabefi)  oder  paarig  sind,  kommen  häufig 
nach  vorne  gerichtete  F'ortsätze  des  Halsschild- 
vorderrandes zusammen  vor,  wie  namentlich  bei 
den  Herkuleskälern  {Dynastes  und  Thcogoics)  bei 
Golofa,  Älegasoma,  Chalcosoiiia  u.  a.,  lerner  bei 
vielen  tropisch- afrikanischen  Rosenkäfern  [Dicra- 
iiorhiiia,  Akgalorhiim).  Ausnahmslos  kommen 
hier  die  Hörner  und  die  hornartigen  Halsschild- 
fortsätze den  Männchen  zu.  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  bei  Vorkommen  eines  unpaaren 
Kopf-  und  Halsschildhornes,  falls  beide  durch 
Koptbewegungen  einander  sehr  genähert  werden 
können,  ein  Gegenstand  zwischen  ihnen  einge- 
klemmt werden  kann;  aber  die  Berührungsstellen 
der  beiden  Hörner  sind  so  klein  und  die  Kraft 
kaum  so  groß  als  in  den  Mandibeln  eines  großen 
Hirschkäfers,  abgesehen  davon,  daß  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  irgendein  F"eind  zwischen  diese 
Zangen  gerät,  eine  sehr  geringe  ist.  Es  handelt 
sich  also  auch  hier  um  eine  bloße  Zierde  des 
Männchens  und  trotz  des  drohenden  und  gefähr- 
lichen Aussehens  dieser  mannigfachen  Hörner  um 
keine  Waffe. 

Dasselbe  gilt  im  erhöhten  Maße  für  Hörner, 
die  bei  anderen,  noch  weit  kleineren  Käfern, 
z.  B.  Tenebrioniden  (auch  hier  beim  Männchen), 
bei  Heuschrecken  {PscudorIiy)ichus,  Gouyacaiitha 
u.  V.  a.),  Cicaden  (z.  B.  unserem  Ccntrotiis  coniutus) 
hier  wie  bei  den  Orthopteren  in  beiden  Ge- 
schlechtern, ferner  bei  Gottesanbeterinnen  (in 
beiden  Geschlechtern,  aber  merkwürdigerweise 
mitunter  beim  Weibchen  weit  stärker  entwickelt: 
z.  B.  bei  Sigcrpcs).  In  allen  Fallen  ist  das  Hörn, 
so  spitz  und  lang  es  auch  sein  mag,  als  Waffe 
nicht  verwendbar  und  spielt  auch  als  solche  keine 
Rolle  —  weder  bei  den  flüchtigen  und  faktisch 
wehrlosen  Akndiern ,  noch  bei  den  bissigen 
Locustiden  oder  den  mit  kräftigen  Raubbeinen  zu 


N.  F.  XVI.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Angriff  und  Verteidigung  gleich  gut  ausgerüsteten 
Mantiden. 

Wachsen  Organe,  die  an  sich  zur  Verteidigung 
oder  zum  Angriff  wohl  geeignet  sind,  über  ein 
gewisses  Maß  hinaus,  so  verlieren  sie  häufig  ihren 
Charakter  als  Waffe  und  werden  zu  bloßen 
„männlichen  Sexualmerkmalen".  Dies  kann  man 
an  den  Mandibeln  gewisser  Insektenmännchen 
sehen ,  die  ihren  Charakter  als  kräftige  Zangen 
durch  ungewöhnliche  Verlängerung  verloren  haben. 
Wenn  auch  große  männliche  Hirschkäfer  noch 
ganz  wehrhafte  Tiere  sind,  so  ist  die  Kraft  ihrer 
Mandibeln  doch  kaum  mehr  größer  als  die  der 
kleinen  des  Weibchens;  und  daß  die  zwar  langen, 
aber  dünnen  Oberkiefer  gewisser  Orthopteren 
{Aiiosfosfoiiia)  und  Hymenopteren  (Syiiogris)  keine 
Zangen  von  irgendwelcher  Kraft  mehr  sind ,  ist 
leicht  einzusehen;  sie  sind  zu  Luxuswaffen  ge- 
worden, mit  dem  wahrscheinlich  dem  Weibchen, 
aber  keinem  Rivalen  oder  Feinde  mehr  imponiert 
werden  kann  und  die  höchstens  noch  zum  Fest- 
halten des  Weibchens  bei  der  Copula  dienen 
könnten. 

Wir  sehen  also,  daß  Waffen,  die  wir  bei  den 
Säugern  nach  unbedenklich,  auch  ohne  Kenntnis 
der  Ethologie  der  betreffenden  Arten  als  solche 
anzusehen  gewöhnt  und  wohl  auch  berechtigt 
sind,  trotz  gleicher  Lage  am  Körper  und  trotz 
oft  vorhandener  praktischer  Brauchbarkeit  bei 
verschiedenen  anderen  Tierkategorien  nicht  als 
Waffen  gebraucht  werden,  daß  sie  weder  (wo  sie 
nur  beim  Männchen  vorhanden  sind)  zu  Kämpfen 
mit  Nebenbuhlern,  noch  zur  Abwehr  von  Feinden 
verwendet  und  wohl  nur  im  Zusammenhang  mit 
überhaupt  bedeutenderer  Körpergröße  als  Angriffs- 
oder Verteidigungsmittel  überhaupt  gedeutet 
werden  können.  Denn  man  kann  sich  kaum 
vorstellen,  daß  die  im  Verhältnis  zur  Körpergröße 
immerhin  recht  ansehnlichen  Hörner  der  kleinen 
Tenebrioniden  Giiaihoccrux  coniittiis ,  Huploce- 
pliala ,  .bif/iracias  auch  einem  kleinen  Feinde 
gegenüber  von  irgendwelcher  Bedeutung  sein 
könnten. 

Finschlagbare  Raubbeine,  wie  sie  bei  so  vielen 
Insekten  und  Crustaceen  auftreten,  sind  wohl  stets 
als  wirksame  Waffen  anzusehen;  dagegen  gilt  dies 
nicht  von  exzessiver  Verlängerung  der  Vorder- 
beine, wenn  sie  auch  mit  starker  Verdickung  der 
Basalteile  in  Verbindung  vorkommt;  und  wir 
sehen  stets,  daß  eine  solche  immer  nur  beim 
Männchen  auftritt  (z.  R.  bei  den  Käfern :  Eiichinis. 
Prupoiiiacnis,  Älacropiis,  Labidostoniis  usw.,  bei 
Ephemeriden)  also  wohl  nur  zum  Festhalten  des 
Weibchens  bei  der  Paarung  dienen  wird.  Es  ist 
dies  ein  vollständiges  Analogon  zu  der  Erscheinung, 
daß  verdickte  Schenkel,  wenn  sie  in  beiden  Ge- 
schlechtern auftreten,  wie  bei  den  Heuschrecken 
und  Grillen,  Qcadinen,  Flöhen,  Springrüsselkäfern 
(Orc/ifsfrs),  Blattflöhen  {Halticincii)  wirklich  auf 
Springfähigkeit  hindeuten  (Ausnahme  nur  bei  den 
dickschenkeligen.  aber  nicht  springenden  Wespen 
der  Gattungen  Sniicra,  Lnicuspis  usw.),    während 


sie  bloße  sekundäre  Sexualcharaktere  vorstellen, 
wenn  sie  bloß  beim  Männchen  vorkommen :  so 
bei  gewissen  einheimischen  und  exotischen  Baum- 
wanzen, der  Blattkäfergattung  Sagra,  der  Fliegen- 
gattung Merodoii  u.  v.  a. 

Wenn  wir  die  exzessiv  entwickelten  Oberkiefer 
der  vorhin  erwähnten  Insekten  betrachten,  so 
sehen  wir,  daß  ihre  geringe  Kraftwirkung  damit 
zusammenhängt,  daß  sie  im  Verhältnis  zu  ihrer 
Länge  zu  dünn  sind;  schon  bei  unserem  Hirsch- 
käfer steht  die  Kraft  der  kurzen  Mandibeln  des 
Weibchens  denen  der  langen  und  relativ  kräftigen 
eines  großen  Männchens  nur  wenig  nach  und  wir 
können  im  allgemeinen  sicherlich  annehmen,  daß 
Lucaniden  mit  dicken,  kräftigen  Mandibeln,  wie 
Oduiifolabis  solchen  mit  langen ,  dünnen  wie  bei 
OiiasogiiatliKs  erheblich  überlegen  sind ;  im  ersteren 
F'alle  sind  die  Oberkiefer  in  beiden  Geschlechtern 
nach  demselben  Typus  gebaut,  aber  beim  Mann 
chen  im  Zusammenhange  mit  dem  größeren 
Halsschild  und  Kopf  mächtiger  entwickelt,  im 
letzteren  aber  beim  Weibchen  ganz  von  dem 
überhaupt  für  die  Lucaniden  gültigen  Typus,  beim 
Männchen  aber  exzessiv  verlängert  und  verdünnt 
und  damit  als  Waffe  wertlos  geworden. 

Bei  den  Kofferfischen  hängt  die  Wertlosigkeit 
der  Hörner  als  Waffe  mit  der  geringen  Beweglich- 
keit der  Tiere  zusammen.  Dieselbe  Waffe  bei 
einem  beweglichen  und  gelenkigen  Tiere  kann 
schon  eine  ganz  erhebliche  Wirkung  haben.  Wie 
geschickt  macht  z.  B.  der  schwarze  Wasserkäfer 
{Hydroiis  picciis)  von  seinem  Bruststachel 
Gebrauch,  der  wahrscheinlich  ursprünglich  über- 
haupt nicht  zur  Verteidigung  bestimmt  ist;  ebenso 
würden  die  Hörner  bei  einer  schnellaufenden 
Kidechse,  die  mit  einer  gewissen  Wucht  einen 
Gegner  anrennen  können,  noch  ganz  gut  zur 
Wirkung  gelangen  können,  während  sie  bei  einem 
Chamäleon  als  Defensiv-  wie  Offensivwaffen  be- 
deutungslos bleiben  und  das  Aufsperren  des 
Rachens,  das  Aufblasen  des  Körpers,  das  laute 
Fauchen  und  der  lebhafte  Farbenwechsel  —  Eigen- 
schaften, die  jedes  Chamäleon  zu  entwickeln  im- 
stande ist  —  machen  zweifellos  einen  weit  größeren 
Eindruck,  als  die  primitive  Schnauzen-  und  Stirn- 
bewaffnung. Wir  können  also  sagen,  daß  auch 
die  Masse  und  die  Beweglichkeit  des  Körpers  eine 
beträchtliche  sein  müßte,  um  einer  Waffe,  wie  sie 
die  Hornchamäleons  besitzen,  zu  einer  Wirkung 
zu  verhelfen.  Diese  Hörner  sind  von  vornherein 
nicht  als  Waffe  entstanden,  sondern,  wie  schon 
erwähnt,  unter  dem  Einflüsse  des  tropischen 
Klimas,  als  hypertrophische  Bildungen  und  zwar 
nach  dem  Gesetze  der  männlichen  Präponderanz 
(Eimer)  zuerst  beim  Männchen,  dem  in  manchen 
■Fällen  auch  das  Weibchen  folgt.  Auf  derselben 
Erscheinung  der  lokalen  Hypertrophie  beruhen 
auch  die  Schnauzenhörner  der  Nashornvipern  des 
tropischen  Afrika  (Bifis  iiasiconiis  und  gabonicd) 
während  die  Augenbrauenhörner  der  Hornvipern 
Nordafrikas  [Ccrastcs  coniufits]  Südafrikas  {Bitis 
caiididis    und    uanmhis),    des    tropischen    Afrika 


92 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  7 


{Athens  ccratophorus),  Persiens  [Psciidoccrastcs 
persictis),  Nordamerikas  {Crptaliis  ccrastcs),  die 
alle  mit  Ausnahme  der  ^Wieris  Wüstenbewohner 
sind,  dabei  teils  in  Sand-,  teils  in  Steinwüsten 
leben,  vorläufig  wohl  allen  annehmbaren  Er- 
klärungsversuchen trotzen;  übereinstimmend  ist 
bei  allen  gehörnten  Schlangen,  daß  die  Hörner. 
ob  auf  Schnauze  oder  Augenbrauen,  niemals  se- 
kundäre Geschlechtsmerkmale  vorstellen,  sondern 
beiden  Geschlechtern  in  gleicher  Weise  zukommen 
(au.snahmsweise  auch  beiden  fehlen  können  — 
Ccrastcs  cvnnitns  var.  iniitila,  in  Algerien,  Dongola 
und  auf  der  Smai-Halbinsel  nicht  selten  —  vgl. 
die  hornlosen   Rinderrassen). 

Da  alle  Hörnerbildungen,  die  bei  Schlangen 
vorkommen,  wenig  resistent  sind,  so  kommen  sie 
als  Waffen  von  vornherein  nicht  in  Betracht. 

Fassen  wir  nun  die  vorstehenden  Ergebnisse 
zusammen,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  daß 
die  meist  zur  Kategorie  der  Hörnerbildungen  ge- 
hörigen, seltner  (bei  Insekten)  als  exzessiv  verlängerte 
Mandibeln  imponierenden  Scheinwaffen  deswegen 
zu  Angriff  wie  Verteidigung  in  gleicher  Weise 
unbrauchbar  sind,  weil  sie  entweder  nicht  mit 
entsprechender  Körpermasse  koinzidieren,  die  einen 
Angnfi'  auch  kleinerer  gehörnter  oder  geweih- 
traeender  Säuger  (z.  B.  eines  Ziegenbockes)  so 
wirkungsvoll  macht,  oder  die  Beweglichkeit  des 
die  Waffe  tragenden  Körperteiles  fehlt,  bzw.  die 
betreffende  Tierart  überhaupt  wenig  lebhaft  ist. 
Ein  großer  Teil  dieser  Waffen  ist  in  die  Kategorie 
der  sekundären  Sexualcharaktere  zu  verweisen;  sie 


machen  vermutlich  auf  das  Weibchen  einen  eben- 
solchen Eindruck,  wie  bei  anderen  Tieren  prächtige 
Farben,  bei  Vögeln  Schmuckfedern  u.  dgl.  — 
Dagegen  sind  die  Fortsätze  der  Augenbrauenregion 
(und  nach  hinten  gerichtete,  hornartige  Fortsätze 
des  Panzers  auf  der  Bauchseite)  der  wehrlosen 
Kofferfische  nicht  von  diesem  Gesichtspunkte  zu 
beurteilen.  Es  ist  möglich,  daß  diese  Hörner 
früher  vorhanden  waren,  als  der  Panzer  und  in 
dieser  Zeit,  da  der  panzerlose  Fisch  noch  weit 
beweglicher  war,  wirklich  wenigstens  zur  Abwehr 
sich  geeignet  erwiesen,  wie  so  manche  Horn- 
oder  Stachelbildungen,  die  entweder  durch  Ver- 
stärkung der  ersten  Rücken-,  Brust-  (auch  Bauch- 
oder After-)  flossenstrahlen  entstehen  oder  aber 
neue  Bildungen  vorstellen  (Schwanzdorn  von 
^icaiithiinis  cliinirgiis)\  daß  sie  aber  mit  der 
Erstarkcing  des  Panzers  entweder  sich  vollkommen 
rückbildeten  oder  aber  bei  anderen  Arten  als 
wenigstens  für  den  Fortbestand  der  Art  nicht 
hinderlich  sich  erhielten.  Wir  hätten  hier  dann 
den  Austausch  einer  weniger  wirksamen  Defensiv- 
waffe gegen  eine  bessere,  ähnlich  wie  bei  den 
Hirschen  die  schwächere  Offensivwaffe  der  Eck- 
zähne (Moschustier)  in  der  Phylogenie  durch  die 
stärkere  der  Geweihe  ersetzt  wurde,  wobei  freilich 
aber  immer  noch  gewellilose  Hirsche  mit  Eckzahn- 
hauern existieren,  trotzdem  andere  inzwischen 
eine  enorme  Entwicklung  des  Geweihes  erreicht 
haben,  ja  sogar  (Rentier)  das  Weibchen  dem 
Männchen  in  dessen  Entwicklung  nachgekommen  ist. 


Kleinere  Mitteilungen 

Zur  Geschichte  der  Ernährung.  Die  Schwierig-  familiäre  und 
keiten,  denen  die  Beschaffung  der  täglichen  Nahrung 
heute  begegnet,  haben  es  wohl  jedem  klar  ge- 
macht, daß  die  Ernährung  des  Menschen  kein 
isolierter  Vorgang,  sondern  daß  sie  aufs  innigste 
mit  fast  allen  Zweigen  des  privaten  und  öffent- 
lichen Lebens  verknüpft  ist.  Dieser  Zusammen- 
hang, wenn  auch  jetzt  fühlbarer,  ist  nicht  erst 
durch  die  gegenwärtige  Lage  geschaffen  worden. 
Er  ist  so  alt  wie  das  Menschengeschlecht  selbst. 
In  Friedenszeiten,  wo  die  Beschaffung  der  Nahrung 
im  geregelten  Wirtschaftsleben  glatt  verläuft, 
kommt  er  den  Wenigsten  zum  Bewußtsein.  Das 
ist  wohl  auch  der  Grund ,  daß  man  bisher  Er- 
nährungsfragen als  einen  untei  geordneten  Gegen- 
stand ansah,  den  man  in  gebildeter  Unterhaltung 
keinen  Platz  einzuräumen  braucht.  Ja  selbst  an 
den  Universitäten  verschließt  man  sich  noch  der 
Erkenntnis  der  Notwendigkeit,  diese  eminent 
wichtigen  Probleme  in  wissenschaftlichem  Zu- 
sammenhang zu  lösen.  Die  Kriegserfahrungen 
werden  hier  hoffentlich  zu  gründlichem  Wandel 
Anlaß  geben.  Um  den  Einfluß  des  Nahrungs- 
bedürfnisses  und  der  Nahrungsbeschaffung  auf  das 


staatliche  Leben  der  Menschen  zu 
erkennen,  ist  eine  gründliche  historische  Betrachtung 
unerläßlich.  Sie  ist  ebenso  wichtig  als  Vorarbeit 
für  etwaige  nach  dem  Kriege  zu  treffenden  Maß- 
nahmen zu  einer  gesicherten  Volksernährung. 
Professor  Eduard  Hahn,  der  sein  Leben  dem 
Studium  dieser  Fragen  gewidmet  hat,  legte  diese 
Zusammenhänge  in  einer  Sitzung  der  Anthropo- 
logischen Gesellschaft  in  gründlicher  und  an- 
regender Form  klar. 

DieBeschaffenheit  der  körperlichen  und  geistigen 
Entwicklung  des  menschlichen  Geschlechtes  in 
historischer  Zeit,  wie  auch  entsprechende  Beob- 
achtungen bei  Naturvölkern  gestatten  uns  den 
Schluß,  daß  das  .Alter  der  Menschheit,  das  man 
bisher  mit  etwa  looooo  Jahren  seit  der  Eiszeit 
annahm,  erheblich  weiter  zurückreicht.  Mit 
Ratzel  pflegt  man  in  der  kontinuierlichen  Ent- 
wicklungsreihe animalischer  Wesen  den  Menschen 
beginnen  zu  lassen  mit  der  Hervorbringung  und 
bewußten  Verwendung  des  Feuers.  Der  erste 
willkürlich  erzeugte  Feuerfunke  entspricht  dem 
ersten  geistigen  Funken  in  der  Seele  des  Menschen. 
Das  p'euer  wird  definiert  als  „l-Vucht  der  Arbeit". 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


93 


Die  häufigste  Form  der  Hervorbringung  desselben 
besteht  in  dem  Bohren  eines  harten  Stockes  in 
weichem  Holze.  Der  Urmensch ,  dessen  An- 
schauung den  Dingen  noch  so  nahe  steht,  wendet 
dies  Abbild  unbedenklich  auf  das  Verhältnis  der 
menschlichen  Geschlechter  an.  Die  germanische 
Ursage  läßt  die  ältesten  Menschen  aus  zwei 
Bäumen  hervorgehen,  und  zwar  den  männlichen 
Teil  aus  der  härteren  Esche,  so  daß  wir  hier  den- 
selben Gegensatz  vorfinden.  Auch  in  ihrem  Ver- 
halten zum  Feuer  selbst  prägt  sich  die  Spaltung 
der  Geschlechter  aus.  Der  Mann  reibt  das  Feuer, 
die  Frau  ist  die  Hüterin  des  Herdes,  dem  Manne 
bleibt  das  Braten  vorbehalten ,  der  Frau  das 
Kochen.  Diese  frühe  Trennung  der  Geschlechter 
ist  wesentlich,  sie  ist  bei  der  weiteren  Entwick- 
lung durchaus  im  Auge  zu  behalten.  Wenn  in 
Rom  das  lieiligc  Feuer,  das  die  Vestalinnen  zu 
bewahren  hatten,  verlöscht  war,  durfte  es  nur 
vom  Oberpriester  wieder  angezündet  werden. 
Die  Frau  der  Urzeit  ist  die  Erfinderin  des  Topfes, 
dessen  Grundlage  der  geflochtene  Korb  ist.  Das 
Kochen  im  Topfe  ist  jedoch  schon  eine  spätere 
Form.  Die  ältere  Stufe  kennt  nur  das  Kochen 
in  Gruben  und  Körben,  mit  Hilfe  von  glühenden 
Steinen,  eine  Form,  die  sich  noch  bei  Natur- 
völkern findet,  z.  B.  bei  den  Indianern  Nordwest- 
Amerikas.  Neben  dem  Gebrauch  des  Feuers  gibt 
es  noch  eine  andere,  nicht  minder  wichtige  Art 
der  Zubereitung  der  Nahrung,  ebenfalls  mit  Hilfe 
einer  Grube:  die  Gährung.  Hier  wird  nun  die 
interessante  Beobachtung  gemacht,  —  sie  ist  zu- 
erst formuliert  von  der  Schwester  und  tätigen 
Mitarbeiterin  des  Vortragenden  —  daß  die  Stofife, 
die  die  alte  Menschheit  zur  hauptsächlichen  und 
dauernden  Nahrung  verwendete,  im  Naturzustand 
ungenießbar,  schädlich,  ja  geradezu  giftig  sind. 
Die  Ureinwohner  Südamerikas,  die  zum  großen 
Teil  von  Maniok  leben,  stellen  bei  der  Brot- 
bereitung daraus  zugleich  das  stark  wirkende 
Pfeilgift  her.  Ähnliche  Verhältnisse  lassen  sich 
für  die  Nahrungsmittel  eines  großen  Teiles  der 
Menschheit  nachweisen.  Man  denke  an  unsere 
Kartoffel,  die  zu  den  mehr  oder  weniger  giftigen 
Solaneen  gehört.  Diese  Vegetabilien  müssen  erst 
durch  ein  oft  sehr  umständliches  \'erfahren  ent- 
giftet und  entbittert  werden,  ein  Vorgang,  dessen 
Kompliziertheit  nicht  nur  auf  eine  lange  Ent- 
wicklungsdauer schließen  läßt,  sondern  auch  ge- 
eignet ist,  die  Fabel  von  der  „Einfachheit"  der 
Nahrung  in  Urzeiten  zu  zerstören.  Welche  Er- 
fahrung der  älteren  Menschheit  spricht  schon  aus 
der  Tatsache,  daß  die  Neuzeit  nicht  eine  einzige 
neue  Giftpflanze  entdeckt  hat !  Auch  bei  den 
durch  Gärung  hergestellten  Getränken  findet  sich 
von  vornherein  die  Scheidung  der  Geschlechter. 
Die  Bereitung  der  berauschenden  Getränke  fällt 
den  Frauen  zu,  der  Genuß  ist  den  Männern 
vorbehalten. 

Die  alte  Zeit  kennt  wohl  eine  Trennung 
der  Geschlechter,  keine  Überordnung  des  einen 
über    das    andere.      Die    neuzeitliche    Auffassung 


hatte,  bevor  ihr  Prähistorie  und  Ethnologie 
richtigere  Anschauungen  vermittelte,  die  Ver- 
hältnisse des  Mannes  allein  im  Auge  und  ent- 
wickelte die  Theorie  der  Jäger-,  Hirten-  und 
Ackerbauvölker.  Diese  Stufenfolge,  schon  in  der 
Antike  begründet,  herrschte  bis  heute,  sogar  die 
immer  wiederholten,  scharfen  Angriffe  W  i  1  h  elm 
von  Humboldt's  überdauernd.  Erst  1889  auf 
dem  Naturforschertag  in  Halle  ist  es  dem  Vor- 
tragenden gelungen,  diese  Hypothese  zu  zerstören. 
Die  Dreistufenlehre  ist  leider  damit  noch  nicht 
ersetzt,  ja  noch  nicht  einmal  abgetragen,  da  die 
vielfachen  Schlußfolgerungen  aus  dem  alten 
Schema,  z.  B.  auf  dem  Rechtsgebiete  noch  fort- 
wuchern. Die  Rechtsanschauung  des  Mannes,  der 
sich  selbst  als  den  maßgebenden  Teil  in  der 
Familie  ansieht,  ist  hier  noch  in  viel  zu  großem 
Umfange  geltend,  ja  es  ist  möglich,  daß  die 
Rücksicht  auf  diese  falsche  Auffassung  auf  die 
entschieden  ungünstige  Stellung  der  Ethnographie 
unter  den  anderen  Wissenschaften  zurückgewirkt 
hat.  In  Wirklichkeit  kann  die  Jagd  durchaus  nicht 
Jahrtausende  lang  als  ausreichende  wirtschaftliche 
Versorgungsmöglichkeit  gegolten  haben,  wie  es 
überhaupt  undenkbar  ist,  daß  sich  auf  eine  solche 
Versorgung  allein  wirtschaftliche  und  kulturelle 
Verhältnisse  gründen  ließen.  Die  neuere  Forschung 
stellt  in  Hinsicht  auf  die  Nahrungsbeschaftung  vor 
den  Beginn  aller  Pflanzen  und  Haustierzüchtung  die 
Stufe  des  Sammlers  auf  und  schiebt  die  dauernde 
Ernährung,  insbesondere  des  wichtigen  Nach- 
wuchses des  Stammes,  ohne  die  an  eine  steigende 
Kultur  nicht  zu  denken  ist,  im  weitaus  größtem 
Maße  den  Frauen  zu.  Die  vom  Manne  ausgeübte 
Jagd  war,  wie  auch  heute  noch,  mehr  Sport,  als 
auf  Ernährung  des  Stammes  gerichtet.  Daneben 
freilich  nehmen  auch  entschieden  ideale  Be- 
strebungen des  erwachenden  Menschengeistes,  die 
Rechtspflege,  die  Ausbildung  des  Rituals  und  der 
religiösen  Anschauung,  die  Entwicklung  der  po- 
litischen Verhältnisse  und  so  fort ,  die  Tätigkeit 
der  Männer  in  hohem  Grade  in  Anspruch.  Das 
Interesse  der  Frau  konzentriert  sich  wesentlich 
auf  Wirtschaft  und  häuslichen  Herd. 

Es  ist  eigentlich  wunderlich,  daß  die  Vorge- 
schichte für  den  Menschen  an  der  Vorstellung 
einer  Jägerstufe  bis  in  die  neueste  Zeit  fest- 
gehalten hat,  obgleich  wir  doch  durch  Darwin's 
entscheidende  Schrift  bereits  von  der  Vorstellung 
des  Menschen  als  eines  besonderen  Geschöpfes 
abgekommen  waren.  Wenn  man  aber  den 
Menschen,  wie  das  schon  Linne  getan  hat,  ins 
zoologische  System  einreihen  will ,  so  kann  man 
ihn  doch  nur  in  der  Nähe  der  pflanzenfressenden 
Affen  unterbringen  und  nicht  etwa  bei  irgend- 
.  einer  fleischfressenden  Gruppe.  Die  Ursache 
dieses  eigentümlichen  Irrtums  lag  in  einer  Schule 
der  griechischen  Philosophie,  die  neben  der  von 
den  Dichtern  ja  auch  viel  benutzten  Hypothese 
des  Sinkens  der  Menschheit  von  einer  ursprüng- 
lich goldenen  Zeit  eine  schnelle  Entwicklung  aus 
einem  rohen  Zustande  annahm,  wie  man  sich  den 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  7 


Jäger    ohne    Feuer    und    mit    blutiger    Nahrung 
dachte. 

Die  Grundlage  der  neueren  Auffassung  hat 
Heinrich  Schurtz  in  seinem  Buche  „Alters- 
klassen und  Männerbünde"  gelegt.  Hier  ist  auch 
auseinandergesetzt,  wie  die  Männer  sich  durch 
ihre  Fähigkeit  zur  Organisation  dauernd  die 
Oberhand  in  allen  rechtlichen,  politischen  und 
idealen  Dingen  sicherten.  Die  Rechtsstufe  der 
Frau    ist    weniger    entwickelt    worden,    und    die 


Ethnologie  muß  es  als  sehr  zweifelhaft  ansehen, 
ob  durch  eine  schematische  Gleichstellung  beider 
Geschlechter  in  diesen  Beziehungen,  unter  so 
schwierigen  Verhältnissen  eine  richtige  Lösung 
gegeben  werde.  Der  Vortragende  vertritt  die 
Ansicht,  daß  eine  rechiliche  Verstärkung  der 
Pflichten  der  Männer  eine  bessere  Grundlage 
eines  Ausgleichs  der  Rechte  beider  Geschlechter 
bilden  würde.  Karl  Soll. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Der  Einfluß  der  Nahrung  auf  das 
Geschlecht  bei  Rotatorien.  Bereits  des  öfteren 
war  an  dieser  Stelle  von  den  zahlreichen  und  um- 
fassenden Experimenten  der  beiden  amerikanischen 
Forscher  Whitney  und  ShulP)  die  Rede,  die 
es  sich  zur  Aufgabe  gemacht  haben,  die  Faktoren 
zu  ergründen,  welche  den  Ablauf  des  Generations- 
zyklus bei  Rotatorien,  speziell  bei  Hydatina  senta, 
bedingen.  Die  zuletzt  hier  besprochenen  Unter- 
suchungen Whitney 's-)  hatten  diesen  zu  dem 
Resultat  geführt,  daß  die  Zusammensetzung  der 
Nahrung  von  wesentlichem  Einfluß  auf  das 
Geschlecht  der  Nachkommen  eines  Hydatina- 
Weibcheijs  ist.  Fütterte  Whitney  die  Tiere  mit 
einem  farblosen  Flagellaten,  Polytoma,  so  wurden 
ausschließlich  oder  doch  fast  ausschließlich 
Weibchenerzeuger  gebildet,  fütterte  er  hingegen 
mit  Chlamydomonas,  einem  grünen  Flagellaten, 
so  traten  gleich  auch  Männchenerzeuger  auf,  und 
zwar  ein  ziemlich  hoher  Prozentsatz,  bis  zu  88  "/g. 
Inzwischen  haben  die  beiden  Autoren  weitere 
Arbeiten   veröffentlicht. 

Die  Resultate  der  neuesten  Untersuchungen 
ShuU's^)  stehen  in  einem  gewissen  Gegensatz 
zu  den  Ergebnissen  Whitney' s.  ShuU  bestreitet 
zwar  nicht  die  von  ihm  in  früheren  Untersuchungen 
selbst  festgestellte  Beeinflußbarkeit  des  Lebens- 
zyklus von  Hydatina  durch  äußere  Faktoren;  daß 
z.  B.  qualitative  Differenzen  in  der  Ernährung  die 
Produktion  von  Männchenerzeugern  beeinflussen, 
hält  er  nach  den  oben  erwähnten  Untersuchungen 
Whitney 's  ebenfalls  für  erwiesen.  Äußere 
Faktoren  sind  aber  seiner  Ansicht  nach  nicht 
allein  maßgebend,  auch  innere  Faktoren  spielen 
beim  Ablauf  des  Lebenszyklus  eine  wichtige  Rolle. 
Shull  glaubt  eine  Periodizität  in  der  Entstehung 
der  Männchenerzeuger  entdeckt  zu  haben,  die  sich 
nicht    auf    äußere    Faktoren     zurückführen     läßt. 


')  Siehe  insbesondere  H.  Naclils  h  eim  ,  E.\perimencellc 
Untersuchungen  über  den  Generationszyklus  der  Rotatorien. 
Naturw.   Wochenschr.,  N.  F.,   12.  Bd.,   1913. 

«)  Whitney,  D.  D.,  Der  Einfluß  der  Nahrung  auf  das 
Geschlechtsverhältnis  von  Hydatina  senta.  Naturw.  Wochenschr., 
N.  F.,   14.  Bd.,   1915. 

')  Shull,  A.  F.,  l'eriodicity  in  the  productioii  of  malcs 
iu  Hydatina  senta.     Biol.  Bull.,  Vol.  28,  1915. 


Bei  gleichmäßiger  Ernährung  traten  in  mehreren 
Linien  von  Hydatina  in  ganz  bestimmten  Abständen 
Männchenerzeuger  in  größerer  Zahl  auf.  Was 
Shull  besonders  veranlaßte,  diese  Periodizität 
inneren  Ursachen  zuzuschreiben,  war  die  Tat- 
sache, daß  die  Zwischenräume  zwischen  zwei 
Perioden  in  einer  Linie  im  großen  und  ganzen 
alle  gleich  waren,  bei  den  drei  untersuchten  Linien 
aber  im  Vergleich  miteinander  verschieden  groß. 
So  traten  in  der  ersten  Linie  —  sie  ent.stammte 
der  Kreuzung  einer  englischen  Rasse  mit  einer 
Rasse  aus  Nebraska  (Nordamerika)  —  jeden  Monat 
Männchenerzeuger  auf,  in  der  zweiten  Linie,  die 
englischen  Ursprungs  war,  erschienen  sie  ungefähr 
alle  zwei  Monate.  In  der  dritten  Linie  endlich, 
die  aus  Nebraska  war,  trennten  Zwischenräume 
von  drei  bis  fünf  Monaten  die  Perioden  männlicher 
Produktion;  in  dieser  Linie  nahmen  die  Zwischen- 
räume mit  dem  Alter  der  Linie  langsam  zu. 

Die  weiteren  Experimente  Whitney's^) 
lassen  es  indesen  fraglich  erscheinen,  ob  die 
Schlüsse,  die  Shull  aus  seinen  Beobachtungen 
gezogen  hat,  berechtigt  sind.  Wh  it  ney  züchtete 
eine  Linie  288  Generationen  22  Monate  lang, 
indem  er  sie  fortgesetzt  mit  Polytoma,  dem  farb- 
losen Flagellaten,  fütterte.  Die  Folge  war,  daß 
nur  Weibchenerzeuger  entstanden,  nicht  ein 
Männchenerzeuger  trat  während  dieser  nahezu 
zwei  Jahre  währenden  Beobachtungszeit  auf.  In 
anderen  Linien  erschienen  zwar  einige  Männchen- 
erzeuger, aber  in  verschwindend  geringer  Zahl. 
So  traten  in  einer  zweiten  Linie,  die  14  Monate 
lang  181  Generationen  gezüchtet  wurde, 
8  Männchenerzeuger  —  im  Vergleich  zu  1731 
Weibchenerzeugern  —  auf,  insgesamt  weniger  als 
I  "/(,.  Eine  dritte  Linie  produzierte  in  22  Monaten 
92  Männchenerzeuger,  d.  h.  nahezu  4"/'o-  Von 
einem  periodischen  Auftreten  von  Männchen- 
erzeugern, unabhängig  von  äußeren  Bedingungen, 
kann  aber  auch  bei  diesen  Linien,  geschweige 
denn  bei  der  ersten,  nicht  die  Rede  sein.  Um 
dem     Einwände      zu     begegnen,      es     sei     diese 


1)  Whitney,  D.  D.,  The  production  of  males  and 
females  controlled  by  food  conditions  in  the  Knglish  Hydatinu 
senta.     Biol.  Bull.,  Vol.  29,  1915. 


N.  F.  XVI.  Nr.  ; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


95 


Regulierung  des  Geschlechtsverhältnisscs  bei  H)- 
datina  durch  die  Art  der  Ernährung  eine  Eigen- 
tümlichkeit der  von  ihm  verwandten  amerika- 
nischen Rasse,  unterwarf  Whitney  eine  englische 
Rasse  den  gleichen  Versuchsbedingungen.  Der  Erfolg 
war  der  gleiche:  bei  Polytoma  Fütterung  keine 
Männchenerzeuger  (das  Experiment  wurde  2  Monate 
fortgesetzt,  in  dieser  Zeit  wurden  20  Gene- 
rationen gezüchtet),  bei  Chlamydomonas-Füiterung 
Mäniichenerzeuger  in  großer  Zahl  (bis  zu  85  %). 
Das  Ergebnis  ist  um  so  interessanter,  als  die  von 
Whitney  verwandten  Tiere  den  gleichen  Ursprung 
hatten  wie  Shull's  „englische  Linie'',  in  der  er 
alle  zwei  Monate  eine  Periode  männlicher  Pro- 
duktion beobachtet  zu  haben  glaubte. 

Whitney  ')  dehnte  sodann  seine  Experimente 
auch  auf  andere  Rotatorienspezies  aus.  Brachionus 
pala,  Diaschiza  sterea,  Diglena  cateliina,  Pedalion 
mirum  wurden  zu  den  folgenden  Experimenten 
benutzt.  Außerdem  wurde  auch  die  Zusammen- 
setzung der  Nährtlüssigkeit  variiert,  indem  statt 
Chlamydomonas  Chlorogonium  oder  verschiedene 
andere  grüne  Flagellaten  genommen  wurden.  Bei 
allen  Formen  war  die  Wirkung  des  P'utters  im 
wesentlichen  die  gleiche  wie  bei  Hydatina:  die 
grünen  Flagellaten  bewirkten  die  Entstehung  zahl- 
reicher Männchenerzeuger. 

Es  galt  nunmehr  festzustellen,  welches  die 
Ursache  der  verschiedenen  Wirkungsweise  der 
farblosen  und  der  grünen  Flagellaten  auf  das 
Geschlechtsverhältnis  der  Rotatorien  ist.  Polytoma 
ist  farblos,  d.  h.  diesem  Flagellaten  fehlt  das 
Chlorophyll,  es  ist  also  auch  nicht  befähigt.  Stärke 
und  andere  Kohlehydrate  (Zucker)  zu  bilden.  Die 
Fütterung  mit  Polytoma  ist  somit  eine  mangel- 
hafte Ernährung  im  Vergleich  zur  Chlamydomonas- 
Fütterung.  Und  daß  in  der  Tat  die  Quantität 
der  Nahrung  von  ausschlaggebender  Bedeutung 
ist,  zeigt  sich,  wenn  man  die  Rotaiorien  nur  ganz 
spärlich  mit  Chlamydomonas  füttert.  Spärliche 
Fütterung  mit  Chlamydomonas  führt  zu  den 
gleichen  Resultaten  wie  Polytoma-Fütterung:  die 
Männchenerzeuger  verschwinden. 

Man  war  bisher  geneigt,  für  den  Ablauf  des 
Generationszyklus  bei  Hydatina  senta  äußere  und 
innere  Faktoren  verantwortlich  zu  machen.  Nach 
den  neuesten  Untersuchungen  Whitney 's  sind 
aber  Qualität  und  Quantität  der  Nahrung,  d.  h. 
äußere  Fakturen,  bestimmend  für  das  Gescnlechts- 
verhälinis  bei  Hydatina.  Damit  ist  nicht  gesagt, 
daß  in  der  freien  Natur  nicht  auch  noch  andere 
Faktoren  wirksam  sind  oder  sein  können.  Immer- 
hin scheinen  innere,  im  Organismus  selbst  ge- 
legene Faktoren  gegenüber  den  Wirkungen  der 
Umwelt  stark  zurückzutreten.  Und  das  gilt  nicht 
nur  für  Hydatina.  Die  älteren  Experimente  — 
von  Maupas,  Nußbaum,  Punneit,  Whitney 
und  Shull  —  waren  alle  an  diesem  Rotator  aus- 
geführt  worden,   und   man  hatte  der  Vermutung 


')  Whitney,  D.   D.,  The  control  of  se.x  by  food  in  five 
species  of  Rotifers.     Journ.   exper.  Zool.,  Vol.  20,    1916. 


Ausdruck  gegeben,  Hydatina  nehme  in  ihrem 
sexuellen  Verhaken  eine  Ausnahmestellung  ein, 
sie  reagiere  mehr  auf  Änderungen  ihrer  Umwelt 
als  die  in  einem  ganz  regelmäßigen  Zyklus  sich 
fortpflanzenden  Planktonrotatorien,  bei  denen,  so 
nahm  man  an,  der  Ablauf  des  Zyklus  fast  oder 
ganz  ausschließlich  durch  innere  P'aktoren  geregelt 
wird.  Das  ist  nun  aber  offenbar  nicht  der  P"all. 
Die  in  der  freierf  Natur  monozyklischen  Formen 
Brachionus  und  Pedalion  z.  B.  reagierten  im  Ex- 
periment ganz  ähnlich  wie  Hydatina.  Es  erscheint 
somit  zweifelhaft,  ob  bei  den  heterogonen  Räder- 
tieren überhaupt  ein  „erblicher  Rhythmus"  als 
Ursache  der  Sexualitätsänderung  besieht,  wie  das 
bei  den  Aphiden  und  —  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  —  auch  bei  den  Cladoceren  der  Fall  ist. 
Nachtsheim. 


Über  die  Verteilung  des  Fettes  bei 
einigen  Fischen  hat  A.  heligo  einige  Unter- 
suchungen angestellt  (Mitteilungen  des  westpreuß. 
F"ischerei- Vereins  in  Danzig  191O,  Hydrobiologtsche 
Untersuchungen  VI).  Fettgewebe  tritt  bei  Fischen 
überall  dort  auf,  wo  Bindegewebe  vorkommt, 
zwischen  den  Muskeln,  der  Haut,  in  den  Knochen, 
„namentlich  aber  im  Füllgewebe  der  Körperhöhlen, 
der  Bauchhöhle,  der  Hirnhöhle,  der  Augenhöhlen". 
Die  Aufspeicherung  des  Fettes  findet  statt  in  den 
Zeiten  der  intensiven  Nahrungsaufnahme,  d.  h. 
während  der  warmen  Jahreszeit,  in  der  vorwiegend 
der  Fisch  frißt,  während  im  Winter  von  vielen 
Fischen  wenig  Nahrung  oder  überhaupt  keine 
aufgenommen  wird.  So  kommt  es,  daß  der  Fett- 
gehalt der  Fische  gegen  den  Herbst  zu  größer 
wird.  Auch  sind  gewöhnlich  ältere  Fische  fett- 
reicher als  jüngere.  Zu  den  Arten,  die  besonders 
viel  Fett  im  Muskelgewebe  enthalten,  gehören  der 
Aal  und  der  Lachs.  Infolge  des  überwiegenden 
Oleingehaltes  der  F'ette  bei  den  Wassertieren  sind 
diese  in  der  Regel  flüssig  und  als  Tran  bekannt 
(Lebertran  aus  der  Leber  der  Dorsche).  Eine 
Aufstellung  über  die  Zusammensetzung  des 
Pleisches  verschiedener  Fischarten  stammt  von 
P.  Brofeldt,  aus  der  hervorgeht,  daß  der  Eiweiß- 
gehalt, der  Aschengehalt  und  im  allgemeinen  auch 
der  Wassergehalt  des  Fischfleisches  nur  wenig 
schwankt.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Fett- 
gehalt. Er  beträgt  z.  B.  beim  Lachs  12''/d, 
während  er  beim  Dorsch  nur  0,25  "/g  des  frischen 
Plschfleisches  ausmacht,  bei  den  übrigen  unter- 
suchten Arten  schwankt  er  zwischen  0,37  und  4,06  "/q. 
Im  übrigen  ist  der  Fettgehalt  nicht  nur  von  der 
Art  abhängig,  sondern  auch  bei  der  gleichen  Art 
von  der  Jahreszeit,  dem  Lebensalter,  den  ein- 
zelnen Individuen.  Untersuchungen  hierüber  hat 
.Lichtenfeit  bereits  früher  veröffentlicht,  die 
sich  auf  Seefische  erstrecken.  S  e  1  i  g  o  hat  nun 
„die  Verbreitung  des  Fettes  in  den  einzelnen 
Körperteilen  des  Fisches"  zum  Gegenstand  seiner 
Untersuchung  gemacht.  Nach  der  üblichen 
Technik    bestimmte    er    die    ätherlöslichen    Stoffe 


96 


Natuiwissenschaftliclic  Woclicnschriil. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


in  den  einzelnen  Organen  und  Körperteilen.  Da 
außer  Fett  sonstige  ätherlösliche  Stoffe  bei  den 
Fischen  im  Körper  nur  in  geringem  Maße  vor- 
kommen, so  sieht  S.  die  Menge  der  ätherlö-lichen 
Stoffe  als  die  Fettmenge  an.  Die  Fettmenge 
(und  auch  die  Wassermenge)  wird  in  Tausendsteln 
der  angewandten  Organmenge  angegeben.  Die 
Untersuchungen  beziehen  sich  auf  mehrere  Indi- 
viduen der  betreffenden  Fischarten,  die  aus  ver- 
schiedenen Gewässern  stammten  und  zu  ver- 
schiedenen Jahreszeiten  untersucht  wurden. 

Seligo  kommt  zu  folgenden  Schlüssen:  Bei 
normalen  Fischen  ist  die  Schädelhöhle  stets  reich 
an  Fett,  während  bei  kranken  oder  hungernden 
Tieren  hier  eine  Abnahme  eintiitt.  Bei  großen 
Brassen,  Zehrten,  Meerforellen,  Regenbogenforellen, 
Schnepel  (im  Sommer),  Flunder  (im  Sommer), 
Perzel,  Aal  und  Neunauge  wird  Fett  im  Fleisch 
abgelagert,  beim  Aal  jedoch  im  Alter  in  höherem 
Maße  als  in  der  Jugend.  Ähnlich  verhält  es  sich 
mit  dem  Lachs.  „Im  allgemeinen  nimmt  der 
Fettgehalt  des  Fleisches  mit  dem  Alter  sowie 
mit  dem  Vorschreiten  der  warmen  Jahreszeit  zu." 
Es  wird  darauf  hingewiesen,  daß  sich  z.  B.  bei 
der  Plötze  erst  bei  Exemplaren  von  i  Pfund  Gewicht 
größere  Fettablagerungen  bilden,  was  den  Autor 
veranlaßt  anzunehmen,  daß  dieser  Frisch  bei  uns 
zu  klein  fortgefangen  wird.  Zu  den  fettreichen 
Körperteilen  gehören  noch  die  Knochen,  bei  den 
meisten  Fischarten  auch  die  Leber  in  hervor- 
ragendem Maße.  Die  Anhäufung  von  Fett  in 
dem  den  Darmkanal  umgebenden  Bindegewebe 
ist  bei  einigen  Arten  bedeutend,  bei  anderen,  z.  B. 
dem  Barsch,  der  F'lunder  und  denjenigen  Fischen, 
die  viel  Fett  im  Fleisch  enthalten,  gering.  Die 
Niere  und  die  Geschlechtsorgane  sind  an  und  für 
sich  fettarm,  jedoch  von  Fettgewebe  oberflächlich 
bedeckt.  Mit  Recht  wird  darauf  hingewiesen,  daß 
in  feitknapper  Zeit  die  Eingeweide  der  Fische 
bei  der  Zubereitung,  soweit  sie  fettreich  sind,  vor 
allem  die  Leber  nicht  fortgeworfen  werden,  sondern 
nach  Entfernung  der  Galle  und  des  Darmes  mit- 
verarbeitet werden  sollen.  Willer. 

Meteorologie.  An  den  Vorgängen  der  Ab- 
sorption und  Emission  des  Lichtes  in  der  Atmo- 
sphäre" beteiligen  sich  außer  den  einfachen  Gas- 
molekeln Molekelbaufen,  Wasserteilchen  in  fester 
und  flüssiger'  Form ,  Staub  mannigfachster  Art 
und  gelegentlich  Schwärme  kleinster  Lebewesen; 
dies  alles'läßt  sich  unter  dem  Namen  „Luftplankton" 
zusammenfassen.    Das  von  ihm  diffus  ausgestrahlte 


Licht  ist  bisher  meist  nur  für  die  gesamte  Er- 
streckung der  Atmosphäre  gemessen  worden. 
L.  Weber  konnte  durch  eine  kleine  Abänderung 
des  von  ihm  angegebenen  Relativphotometers 
die  Albedo  des  Lufiplanktons  schon  an  Schichten 
von  wenigen  Metern  Dicke  messen  (Ann.  d.  Phys. 
51,  427,  1916).  Im  verfinsterten  Zimmer  wird 
ein  eindringender  Lichtstrahl  dadurch  sichtbar, 
daß  die  diffus  reflektierenden  Planktonteilchen  sich 
vom  dunklen  Hintergrund  abheben.  Nach  diesem 
Prinzip  vergleicht  Verf.  die  Helligkeit  einer  Luft- 
schicht, hinter  der  ein  physikalisch  schwarzer 
Körper  aufgestellt  ist,  mit  der  Stärke  des  die 
Schicht  beleuchtenden  Tageslichts.  Da  die  Hellig- 
keit offenbar  von  der  Beobachtungsrichtung  ab- 
hängig ist,  muß  für  die  Albedo  zunächst  eine 
praktisch  brauchbare  Definition  gegeben  werden. 
Es  wird  unter  der  Albedo  eines  inhomogen  re- 
flektierenden ebenen  Schirmes  das  mit  tt  multipli- 
zierte Verhältnis  der  Helligkeit  in  der  Beobachtungs- 
richtung zur  ebenen  Beleuchtungsstärke  verstanden. 
Diese  Festsetzung  wird  zunächst  erweitert  auf  ein 
homogenes  Kügelchen  und  dann  auf  eine  mit 
solchen  Kügelchen  erfüllte  Raumeinheit.  So  wird 
die  Haufen-  oder  Planktonalbedo  definiert  als  der 
4.T-fache  Wert  der  Helligkeit,  in  welcher  der 
Einheitswürfel  des  mit  Plankton  erfüllten  Raumes 
dem  Beobachter  erscheint,  dividiert  durch  die 
räumliche  Beleuchtungsstärke  am  Orte  des 
Planktons. 

Die  Albedo  ist  am  größten,  wenn  die  Be- 
obachtungsrichtung der  Sonne  entgegen  gerichtet 
ist.  Daher  wurde  zur  Untersuchung  im  allgemeinen 
eine  seitlich  beleuchtete  Luftschicht  gewählt.  Auf 
kurze  Entfernungen  zeigt  sich  große  Unregel- 
mäßigkeit in  der  Verteilung  des  Planktons,  so  daß 
zur  Erlangung  brauchbarer  Werte  die  Messungen 
an  Schichten  von  mehreren  Metern  Dicke  vor- 
genommen werden  müssen.  Unter  der  Annahme 
der  Proportionalität  zwischen  Helligkeit  und 
Schichtdicke  ist  die  Albedo  gleich  dem  halben 
reziproken  Wert  der  Entfernung,  bei  der  die 
Helligkeit  gleich  der  des  Himmels  ist,  d.  h.  der 
Sichtweite.  In  der  Tat  liegt  diese  jedoch  zwischen 
dem  einfachen  und  doppelten  des  so  gefundenen 
Wertes,  da  bei  größeren  Entfernungen  die  Ab- 
sorption schon  eine  merkliche  Rolle  spielt. 
Immerhin  dürfte  die  Fortführung  der  Unter- 
suchungen wertvolle  Ergebnisse  über  die  Ver- 
änderlichkeit der  Sichtigkeit  der  Luft  geben,  die 
besonders  für  die  See-  und  Luftschiffahrt  von 
Bedeutung  sind.  Scholich. 


Inhalt)  F.  Werner,  Scheinwaffen  im  Tierreiche.  (2  Abb.)  S.  89.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Eduard  Hahn,  Zur  Ge- 
schichte der  Ernährung.  S.  92.  —  Einzelberichte:  Whitney  und  Shull,  Der  Einfluß  der  Nahrung  auf  das  Geschlecht 
bei  Rolatorien.  S.  94.  A.  Seligo,  Die  Verteilung  des  Fettes  bei  einigen  Fischen.  S.  95.  L.  Weber,  Die  Albedo 
des  Luftplanktons.    S.  96.  


Manuskripti 


und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der   G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Folge  16.  B; 
«„  Reihe  32 


Sonntag,  den  25.  Februar  1917. 


Nummer  8. 


[Nachdiuck  verböte 


Sammelbcricht, 


Angewandte  Botanik. 

ert  von  Dr.  K.  Müller,  Augustcnberg 


Karlsruhe  (Bade 


Trotz  der  Vielseitigkeit  und  praktischen  Be- 
deutung der  angewandten  Botanik  für  das  tägliche 
Leben  wurde  sie  bisher  häufig  nicht  in  der  ge- 
bührenden Weise  beachtet.  Krst  der  jetzige  Krieg, 
der  ja  manche  eingefleischte,  veraltete  Anschau- 
ung in  kürzester  Zeit  überholte,  wird  vielleicht 
auch  der  angewandten  Botanik  mehr  Anerkennung 
verschaffen,  denn  in  vielseitiger  Weise  hat  sie  an  der 
schweren  Aufgabe  des  Durchhaltens  mitgearbeitet. 

Es  war  ein  nützlicher  Gedanke,  daß  die  Ver- 
einigung für  angewandte  Botanik  trotz  des  Krieges 
sich  entschloß,  vom  25. — 28.  September  in  Frank- 
furt a.  M.  eine  Versammlung  abzuhalten,  um  durch 
eine  größere  Anzahl  von  Vorträgen  aus  dem  Ge- 
biete der  Kriegsbotanik,  auch  dem  Fernerstehenden 
wenigstens  einen  Teil  der  Arbeiten  vorzuführen, 
die  im  Zusammenhang  mit  den  durch  den  Krieg 
aufgetauchten  Fragen  stehen. 

Die  dort  gehaltenen  Vorträge  werden  im 
Jahresbericht  der  Vereinigung  für  angewandte  Bo- 
tanik für  1916  (Verlag  Gebr.  Bornträger-Berlin) 
zum  Abdruck  kommen.  Sie  bieten  aber  auch 
für  einen  größeren  Leserkreis  soviel  Interessantes, 
daß  sie  auch  hier  kurz  besprochen  werden  sollen. 
Die  Referate  sind  größtenteils  von  dem  Herrn 
Vortragenden  selbst  verfaßt  und  mir  zur  gemein- 
samen Veröffentlichung  zugesandt  worden. 

Prof.  Lehmann -Tübingen  sprach  über  den 
Biologen  (Botaniker  und  Zoologen)  im  Kriege. 
Ausgehend  von  der  allgemein  geläufigen  An- 
schauung, welche  im  Botaniker  den  Pflanzen- 
sammler sieht,  wird  dargestellt,  wie  diese  An- 
schauung heute  durchaus  nicht  mehr  zurecht  be- 
steht. Die  Biologen  beschäftigen  sich  mit  den 
Lebensvorgängen  der  großen  und  kleinen  Lebe- 
wesen. Ihr  besonderes  Arbeitsgebiet  ist  die  mikro- 
skopische Forschung.  So  werden  auch  in  diesem 
Kriege  schon  zahlreiche  Biologen  zur  Untersuchung 
der  krankheitserregenden  Bakterien  und  Protozoen 
(Malaria  usw.)  herangezogen  werden,  deren  Kennt- 
nis z.  T.  auf  die  Biologen  zurückgeht.  (Man  denke 
an  den  Zoologen  Schaudinn,  den  Entdecker 
der  Syphilisspirochäte  1) 

Über  Stickstoffversorgung  in  der 
K  r  i  e  g  s  z  e  i  t  berichtet  Prof.  Dr.  A 1  f  r  e  d  K  o  c  h  - 
Göttingen.  Möglichst  hohe  Ernten  an  Pflanzen- 
stoffen sind  jetzt  im  Kriege  nötig,  um  die  fehlende 
Einfuhr  an  pflanzlichen  Nahrungsmitteln  für  Mensch 
und  Tier  zu  ersetzen.  Die  hierzu  nötige  Acker- 
fläche wird  noch  dazu  dadurch  beschränkt,  daß 
ein  Teil  des  Ackers  fehlende,  sonst  aus  dem  Aus- 
land eingeführte  Industrierohstoffe  hervorbringen 
muß.  Nur  von  ausgiebig,  besonders  mit  Stick- 
stoff ernährten  Pflanzen  sind  aber  reiche  Ernten 
zu  erwarten.     Jeder    fehlende    Zentner   Stickstoff- 


dünger drückt  die  Getreideernte  um  3 — 4  Ztr., 
die  Kartoffelernte  um  24  Ztr.  und  die  Ernte  an 
Zuckerrüben  um  30  Ztr. 

Stickstoffdüngung  ist  im  Kriege  nun  aber  er- 
schwert durch  die  ausbleibende  Chilisalpeterein- 
fuhr, die  für  Deutschlands  Landwirtschaft  etwa 
5  Millionen  dz  jährlich  vor  dem  Kriege  betrug. 
Allerdings  hat  unsere  heimische  Luftstickstoff- 
industrie, die  Kalkstickstoft'  oder  Ammoniak  aus 
dem  Stickstoff  der  Luft  macht,  während  des  Krieges 
ihre  Leistungsfähigkeit  großartig  gesteigert.  Dafür 
aber  tritt  als  Konkurrent  der  Landwirtschaft  im 
Kampfe  um  den  Stickstoft' die  Munitionserzeugung 
auf  den  Plan.  Denn  alle  unsere  Sprengstoffe  sind 
stickstoffhaltige  Verbindungen.  Aus  diesem  Grunde 
haben  wir  in  der  Landwirtschaft  trotz  aller  Ver- 
größerung der  Luftstickstoffabriken  immer  noch 
mit  Siickstoffmangel  zu  kämpfen  und  wir  müssen 
daher  mit  dem  verfügbaren  Stickstoff  haushälterisch 
umgehen  und  ihn  möglichst  ausnutzen. 

Schwierigkeiten  in  dieser  Hinsicht  bietet  der 
Kalkstickstoff,  das  eine  der  uns  verfügbaren  Luft- 
stickstofipräparate.  Um  Verfahren  zu  finden,  die 
ihm  die  lästige  Neigung  zum  Stäuben  beim  Aus- 
streuen   nehmen ,    sind  Preisausschreiben    erlassen. 

Zu  beachten  ist  auch  die  Giftwirkung  der  aus 
dem  Kalkstickstoff  entstehenden  Verbindungen 
Cyanamid  und  Dic\andiamid  auf  Pflanzen 
und  Bodenbakterien.  Deshalb  wird  empfohlen, 
Kalkstickstoff  zu  Wintergetreide  nur  während  der 
Winterruhe  bis  Mitte  Februar  anzuwenden.  Muß 
man,  wie  in  diesem  Jahre,  den  Kalkslickstoff  als 
Kopfdünger  auf  wachsende  Pflanzen  z.  B.  Rüben 
verwenden,  so  ist  eine  schwere  Schädigung  der 
Pflanzen  unvermeidlich,  die  nachher  freilich  in 
freudiges  Wachstum  umschlägt.  Die  Umsetzung 
des  Kalkstickstoffes  in  Ammoniak  durch  Bakterien 
und  die  anschließende  Nitratbildung  geht  natürlich 
in  bakterienarmen,  untätigen  Böden,  z.  B.  Moorböden, 
nur  langsam  vor  sich,  andererseits  aber  auch  bei 
zu  starker  Kalkstickstoftgabe,  wegen  der  dann 
eintretenden  Giftwirkung  auf  die  Bakterien,  wie 
Wagner  darlegte.  Nach  eigenen  Versuchen 
zeigt  der  Vortragende,  wie  auch  die  Dicyandiamid- 
bildung  im  lagernden  Kalkstickstoff  die  Nitrat- 
bildung wegen  der  Giftwirkung  des  Dicyandiamids 
hemmt.  Die  Versuchsstationen  sollten  daher  die 
Kalkstickstoffe  des  Handels  immer  auf  Dicyan- 
diamid  und  nicht  nur,  wie  jetzt  üblich,  auf  Ge- 
samtstickstoffgehalt prüfen.  Man  sollte  aus  Kalk- 
stickstoff Ammoniak  oder  nach  Kappen 's  Ver- 
suchen Harnstoff  mit  Hilfe  von  Mangan  als  Kata- 
lysator in  viel  größerem  Umfange  machen.  Fa- 
brikatorisch  ist  dies  sehr  gut  möglich. 

Die    nötige    Sparsamkeit     mit    Kalkstickstoff- 


98 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  8 


düiigern  zwingt  andererseits  zur  Vermeidung  von 
Stickbtoffverlusten.  Manche  Vorgänge  dieser  Art 
können  wir  nicht  verhindern.  So  können  wir  die 
Auswaschung  des  im  Beden  entstehenden  .'~'alpeters 
durch  Regen  nicht  hemmen,  ein  Vorgang,  der  z.  B. 
der  Ackerkrume  eines  Morgens  Lehmboden  in 
Göttingen  mindestens  4  Ztr.  Salpeter  jährlich  entzieht. 

Große  Stickstofifverluste  drohen  dadurch,  daß 
Mensch  und  Tier  den  Hauptteil  des  aufgenommenen 
Nahrungsstickstofts  im  Harn  wieder  ausscheiden 
und  von  den  betreffenden  Verbindungen  nur  einen 
stickstoffreien  Teil  als  Energiematerial  verwenden. 
So  scheiden  die  Menschen  auf  der  Erde  im  Tag 
17  Millionen  kg  Stickstoff  =  i  Million  dz  Chili- 
salpeter  im  Harn  aus  und  von  der  stickstoft"- 
haltigen  Nahrung  unserer  Nutztiere  wandern  80  "'0 
in  den  Dünger. 

Deshalb  geht  der  Stickstoff,  den  die  Landwirt- 
schaft zur  menschlichen  Nahrung  in  die  Städte 
liefert,  zum  weitaus  größten  Teil  verloren,  wenn 
man  die  Aborte  an  die  Kanalisation  anschließt, 
abgesehen  von  den  wenigen  Fällen,  wo  Riesel- 
felder möglich  sind.  Gegen  diese  Verluste  wird 
kaum  etwas  zu  machen  sein.  Die  Stickstoffver- 
luste aus  den  tierischen  Ausscheidungen  dagegen 
hat  man  seit  Jahrzehnten  zu  vermindern  gesucht, 
aber  ohne  großen  Erfolg.  Soxhlet  halte  frei- 
lich schon  längst  den  wichtigen  Weg  zur  Stall- 
düngerkonservierung  gewiesen,  der  in  einer 
Trennung  der  flüssigen  und  festen  Ausscheidungen 
liegt.  Aber  erst  der  Zwang  der  Kriegsnot  hat 
zu  großen  F'ortschritten  aut  diesem  Wege  ver- 
helfen. Mit  Hilfe  des  Landeskulturrates  und  des 
Kriegshilfeauschusses  in  Sachsen  haben  Andrä 
und  Vogel  gezeigt,  daß  es  praktisch  sehr  wohl 
durchführbar  ist,  den  Jauchestickstoff  vor  Ver- 
lusten zu  schützen,  wenn  man  die  Jauche  nur 
sorgsam  vor  Berührung  mit  der  Luft  schützt,  weil 
sonst  das  aus  dem  Harnstoff  entstehende  kohlen- 
saure Ammoniak  leicht  in  die  Luft  entweicht. 
Die  Erfahrungen  des  mecklenburgischen  Land- 
wirtes Ort  mann  wurden  dabei  benutzt.  Es  ist 
dabei  nicht  nur  nötig,  die  Jauche  beim  Einlaufen 
in  die  Jauchegrube  und  beim  Aufbewahren  in 
derselben  vor  Luftzutritt  zu  schützen,  sondern  auch 
nach  dem  Ausfahren  auf  den  Acker.  Die  Jauche 
muß  in  den  Boden  eingedrillt  oder  sofort  unter- 
gepflügt werden. 

Der  Wert  des  auf  solche  Weise  zu  sparenden 
Stickstoffs  der  Jauche  ist  gleich  der  Summe,  welche 
Deutschlands  Landwirtschaft  vor  dem  Kriege  für 
Chilisalpeter  ausgab. 

So  ist  also  durch  diese  Arbeiten  ein  neuer 
gangbarer  Weg  gezeigt,  um  uns  von  der  Einfuhr 
an  Stickstoffdüngemitteln  dauernd  unabhängig  zu 
machen.  Hoffentlich  benutzen  nun  auch  unsere 
Landwirte  diesen  Weg.  Dem  Stickstoffmangel 
können  wir  auch  durch  Erschließung  verfügbarer 
Reserven  abhelfen.  So  können  wir  durch  Ätz- 
kalkdüngung den  Bodenstickstoff  mobilisieren  und 
den  Pflanzen  in  erhöhtem  Maße  zugänglicher 
machen.  So  fand  Vortragender  in  schwerem 
Muschelkalkboden    ohne    Atzkalkdüngung    2,    mit 


Atzkalk  1 1  Ztr.  Salpeter  pro  Morgen  Ackerkrume, 
deii  aus  dem  durch  Ätzkalk  aufgeschlossenem 
Bodenstickstoff  entstand.  Ätzkalk  wirkt  daher  in 
solchem  Boden  wie  Mist  auf  die  Ernte. 

Durch  Leguminosengründüngung  können  wir 
bekanntlich  dem  Boden  Luftstickstoff  zuführen. 
Ratsam  ist,  Gründüngung  immer  möglichst  spät 
unterzupflügen,  weil  sonst  infolge  der  schnellen  und 
massenhaften  Salpeterbildung  aus  der  Grün- 
dungungsmasse große  Stickstoffmengen  in  den 
Untergrund  gewaschen  werden.  Impfungen  mit 
angepaßten  Bakterien  haben  besonders  auf  Moor 
und  Neuland  Erfolg,  im  übrigen  nur  bei  Pflanzen, 
denen  der  betreffende  Boden  nicht  zusagt.  Die 
Ausnutzung  des  verfügbaren  Stickstoffs  können 
wir  durch  Verbesserung  der  physikalischen  Boden- 
beschaffenheit steigern,  weil  dann  die  Pflanzen 
weniger  Assimilationsprodukte  zur  Arbeitsleistung 
beim  Vortreiben  der  Wurzeln  im  Boden  braucht. 
Gutes  Pflügen  und  Einschaltung  blätterreicher, 
schattender  Pflanzen  in  die  Fruchifolge  dient 
diesem  Zwecke  und  ist  daher  in  jetziger  Zeit 
wohl  zu  beachten. 

Auf  Sandboden  kann  man  nach  Versuchen 
des  Vortragenden  durch  Tonzusatz  das  Gleiten 
der  Wurzeln  im  Boden  erleichtern  und  aus  diesem 
und  anderen  Gründen  die  Ernte  bei  Weizen  und 
Roggen  auf  das  Dreifache,  bei  Hafer  auf  das  Vier- 
zehnfach steigen.  Gerlach  erhielt  bei  Feldver- 
suchen nach  diesem  Prinzip  in  5  Jahren  80  "^ 
Ernte  mehr  durch  Tonzusatz. 

Solche  Maßnahmen  erhöhen  die  Düngeraus- 
nutzung. Von  gleicher  Düngerinenge  wurde  in  den 
erwähnten  Versuchen  des  Vortragenden  in  Sand 
mit  Tonzusatz  bei  Weizen  die  doppelte,  bei  Hafer 
die  achtfache  Stickstofifmenge  aufgenommen  im 
Vergleiche  zu  Sand  ohne  Ton.  So  kann  man  den 
Stickstoftverlust  durch  Auswaschung  vorbeugen 
und  gleichzeitig  viel  höhere  Ernten  erzielen. 
Warum  haben  wir  aber  trotz  jahrelangem  Stick- 
stoffmangel dieses  Jahr  doch  eine  Mittelernte  er- 
zielt? Hat  der  Boden,  statt  zu  verarmen,  seinen 
SiickstofTvorrat  durch  Bakterien  vielleicht  aus  der 
Luft  ergänzt,  trotzdem  dies  von  gegnerischer  Seite 
oft  und  heftig  bestritten  wird?  Daß  bei  Zusatz 
von  Energiematerial  (Zucker,  Zellulose)  für  die 
stickstoffbindenden  Bakterien  der  Boden  sich  über- 
reich mit  Luftstickstoff  anreichert,  hat  Vortragender 
bewiesen  und  Hofer  hat  dies  bei  Fischteich- 
düngungen   neuerdings    in    die    Praxis    umgesetzt. 

Aber  auch  ohne  Zusatz  von  Energiematerial 
zum  Boden  spielen  sich  ähnliche  Vorgänge  der 
Stickstoffbindung  im  Boden  wenn  auch  langsam  ab. 
Vortragender  hat  durch  zehnjährige  Gefäßversuche, 
die  im  Fruchtwechsel  bepflanzt  waren,  17  mg  Stick- 
stoff aus  100  g  Boden  geerntet.  Und  doch  hatte 
der  Stickstoffgehalt  des  Bodens  nicht  abgenommen. 

Daraus  darf  nun  aber  nicht  gefolgert  werden, 
daß  jede  Stickstoffdüngung  zwecklos  wäre.  Wenn 
das  Wetter  günstig  ist  und  man  den  Boden  vor- 
züglich bearbeiten  kann,  macht  man  auf  besserem 
Boden  auch  ohne  Düngung  reiche  Ernten.  Ist  aber 
die  Witterung  ungünstig  und  die  Bearbeitung  schlecht 


N.  R  XVI.  Nr.  S 


Naturwissenscliafiliche  Wochenschrift. 


99 


i^elungeii,  su  trill  die  Düngung  ausgleichend  ein  und 
liefert  so  im  Durchschnitt  Mittelernten. 

Prof.  B  u  c  h  w  a  1  d  -  Berlin  sprach  über  Kriegs- 
müllerei  und  -bäckerei.  Die  Kriegsverord- 
nungen, welche  für  das  Ausreichen  der  vorhan- 
denen Brotgetreide  Sorge  tragen,  erstrecken  sich 
auf  die  Bewirtschaftung  des  Getreides  und  auf 
die  Streckung  der  Vorräte. 

Bezüglich  der  Brotgetreide  wurde  zunächst  ein 
Verfütterungsverbot  erlassen  für  mahlfähigen 
Roggen  und  Weizen.  In  Praxis  bedeutet  dieses 
Verbot  ganz  allgemein  das  Verfüttern  von  Brot- 
getreide, da  jedes  Brotgetreide  mahlfähig  ist, 
vorausgesetzt,  daß  es  nicht  etwa  durch  Verderben 
zur  menschlichen  Nahrung  ungeeignet  geworden  ist. 

Eine  sehr  schwierige  Aufgabe  lag  in  der  Ge- 
sunderhaltung des  inländischen  Brotgetreides  auf 
lange  Zeit  hindurch  bis  zur  neuen  Ernte.  Die 
Verantwortung  für  die  Gesunderhaltung  hatten 
die  Mühlen  zu  tragen,  die  außerordentlich  große 
Mengen  Getreide  jeder  Beschaffenheit,  trockenes 
sowie  klammes  und  feuchtes,  aufnehmen  mußten. 
Es  hat  sich  aber  gezeigt,  daß  das  inländische  Ge- 
treide gesund  erhalten  werden  kann,  wenn  mit 
der  Bearbeitung  während  der  kühlen  Winterzeit 
schon  frühzeitig  begonnen  und  nicht  erst  gewartet 
wird,  bis  im  Frühjahr  bei  warmer  Witterung  das 
Getreide  durch  Schimmel  zu  verderben  beginnt. 
Getreide  mit  i8  "„  Feuchtigkeit  und  mehr  müssen 
künstlich  getrocknet  werden.  Die  Getreide  zwischen 
i6  und  l8"„  müssen  durch  einfache  Bearbeitung 
während  der  kühlen  Zeit  allmählich  auf  einen 
Feuchtigkeitsgehalt  von  lö",,  gebracht  werden. 
Die  Notwendigkeit,  den  Feuchtigkeitsgrad  des  Ge- 
treides ständig  zu  kontrollieren,  hat  zur  Schaffung 
einer  Schnellwasserbestimmungsmethode  der  Ver- 
suchsanstalt für  Getreideverarbeitung  nach  Dr.  F'or- 
net  geführt,  mittels  deren  innerhalb  lO  Minuten 
der  Feuchtigkeitsgehalt  mit  für  die  Praxis  ge- 
nügender Genauigkeit  ermittelt  werden  kann.  Die 
vielen  Entmuft'ungsverfahren,  welche  empfohlen 
wurden,  um  verdorbenes  Getreide  gesund  zu 
machen,  sind  wertlos.  Ist  der  Zustand  so,  daß  noch 
eine  Rettung  möglich  ist,  so  genügt  im  allgemeinen 
TrocknenoderWaschen  und  Trocknen  desGetreides. 

Um  mit  den  Getreidevorräten  auszureichen 
waren  Bestimmungen  über  den  Ausmahlungsgrad 
der  Mehle  getroft'en.  Im  Frieden  wurde  im  all- 
gemeinen Roggen  auf  68  69  "  „  Mehl  ausgemahlen, 
Weizen  auf  78/79  "/„.  Diese  Ausbeute  bildete  aber 
keine  einheitlichen  Mehle.  Die  Mehlsorten  waren 
fast  in  jeder  Mühle  anders.  Es  ist  zu  hoffen,  daß 
zu  diesen  Verhältnissen  eine  Rückkehr  nicht  wieder 
stattfindet.  Im  Kriege  mußte  Roggen  auf  min- 
destens 82'%  Mehl,  Weizen  auf  mindestens  80",, 
ausgemahlen  werden.  Besondere  Verhältnisse  er- 
forderten dann,  daß  innerhalb  gewisser  Grenzen 
neben  den  durchgemahlenen  Mehlen  auch  Auszugs- 
mehle, die  etwa  den  ersten  7 — 8  Prozenten  ent- 
sprachen, hergestellt  wurden,  ferner,  daß  auch 
Schrotmehle  bis  zu  93  '%  der  Ausmahlung  erzeugt 
wurden.  Die  Mehlmenge,  die  so  aus  Weizen  ge- 
zogen wurde,  war,    mit  den  Friedensverhältnissen 


verglichen,  nicht  oder  nur  unwesentlich  größer, 
dagegen  war  beim  Roggen  der  Unterschied  von 
68  09  auf  82  "n  erheblicher.  Roggenmehle  letz- 
teren Ausmahlungsgrades  sind  auch  die  üblichen 
Kommißmehle,  wie  sie  auch  im  Frieden  hergestellt 
werden.  Die  Technik,  welche  die  Mühlen  zur 
Herstellung  der  Mehle  anwendeten,  war  dieselbe 
wie  in  Friedenszeiten. 

Die  hochgezogenen  Kriegsmehle  sind  dem  Ver- 
derben leichter  ausgesetzt  als  die  helleren  Friedens- 
mehle. Sie  werden  leichter  dumpf  und  muffig 
und  besitzen  öfters  einen  bitteren  Geschmack.  In 
Friedenszeiten  würden  fraglos  solche  Mehle  als 
zur  menschlichen  Nahrung  nicht  geeignet  bean- 
standet werden,  jetzt  im  Kriege  mußten  aber  un- 
bedingt auch  solche  Mehle  zu  Genußzwecken  Ver- 
wendung finden.  Tatsächliches  Verderben  von 
Mehl  kam  verhältnismäßig  selten  vor,  die  Ursachen 
waren  Klumpigwerden  verbunden  mit  starker 
Schimmelbildung  und  Mottengespinsten. 

Im  zweiten  Kriegsjahr  war  die  Menge  der  zu 
beanstandenden  Mehle  erheblich  geringer.  Die 
größeren  Erfahrungen  in  der  Gesunderhaltung  der 
Getreide,  besonders  die  künstliche  Trocknung 
dürften  die  Ursachen  gewesen  sein.  Neben  der 
Roggen-  und  Weizenmüllerei  nahm  die  Vermahlung 
von  Mais  zu  Gries  und  Mehl,  und  von  Kartoffel- 
flocken zu  Walzmehl  großen  Umfang  an,  ebenso 
wurden  andere  Produkte  wie  Stroh,  Spelzen,  zu 
Mehl  fein  vermählen.  Die  Herstellung  von  groben 
Graupen  aus  Gerste  nahm  bedeutenden  Umfang 
an.  Es  wurde  auch  dahin  gestrebt,  das  Fett, 
welches  in  den  Keimen  der  Getreide  sich  findet, 
zu  gewinnen.  So  wurde  besonders  der  Keim  aus 
dem  Mais  nach  besonderen  neuen  Müllereiverfahren 
herausgebrochen  und  das  Ol  gepreßt  bzw.  extra- 
hiert. Auch  die  Gewinnung  des  Fettes  aus  Roggen 
und  Weizenkeimen  wurde  in  großem  Maßstabe  in 
die  Wege  geleitet. 

Zur  Streckung  der  Mehlvorräte  mußten  schließ- 
lich in  der  Bäckerei  dem  Mehl  Zusatzmehle  zu- 
gemischt werden,  abgesehen  davon,  daß  je  nach 
den  vorhandenen  Vorräten  dem  Weizenmehl 
Roggenmehl  und  dem  Roggenmehl  Weizenmehl 
zugemischt  wurde.  Als  Zusatzstoffe  kamen  in 
FVage  solche,  bei  deren  Zusatz  der  Brotcharakter, 
Brotgeschmack  im  wesentlichen  bewahrt  wird, 
wie  Kartoffeln  und  die  daraus  gewonnenen  Pro- 
dukte: Kartoft'elstärkemehl,  Kartoffelflocken,  Kar- 
toffelwalzmehl, ferner  Zucker  und  Melasse.  Natür- 
lich sind  auch  alle  mehlartigen  Stoffe  als  Zusatz- 
mehle geeignet,  sie  standen  jedoch  im  allgemeinen 
nicht  in  genügenden  Mengen  zur  Verfügung,  wie 
Gerste,  Reis,  Mais,  Buchweizen,  Tapiokamehl, 
Mandiokastärke,  Hirse,  Hafer.  Zusatzstoffe,  welche 
den  Brotcharakter  ungünstig  beeinflussen,  waren 
abzulehnen.  Als  solche  kamen  in  Frage  Blut,  Torf, 
Soya,  Lupinen,  bitteres  Kastanienmehl.  Ebenso 
können  als  Streckungsmittel  nährstoft'lose  oder  sehr 
nährstoffarme  Stoffe  nicht  in  Frage  kommen,  wie  z.  B. 
Holzmehl,  Holzschliff,  Strohmehl,  Spelzspreumehl, 
wenn  auch  das  eine  oder  andere  dieser  Produkte 
bäckereitechnisch  sich  wohl  als  Zusatz  benutzen  läßt. 


Naturwissenschaftliche  Woclicnschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  t^ 


Als  die  Brotmarken  zur  Kinführung  kamen, 
wurden  Verfahren  angegeben ,  um  aus  Mehl- 
mischungen, besonders  Kartoffelprodukten,  die 
kein  Brotgetreide  (Roggen  und  Weizen)  enthielten, 
genügend  gelockerte,  einwandfreie  Gebäcke  zu 
erzeugen.  Schließlich  wurden  auch  Gärverfahren 
gefunden,  mit  deren  Hilfe  die  üblichen  Hefe- 
mengen in  der  Weißbrotbäckerei  sehr  stark  (95  %) 
herabgesetzt  werden  konnten,  bzw.  ganz  ohne 
Preßhefe  gebacken  wird  analog  den  Sauerteig- 
verfahren in  der  Schwarzbrotbäckerei.  Die  Ver- 
suchsanstalt für  Getreideverarbeitung  ist  zurzeit 
bemüht,  diese  Verfahren  in  der  Praxis  einzuführen. 
Prof.  Büsgen-Hann.-lMünden  trug  über 
die  Nutzung  des  deutschen  Waldes  im 
Kriege  vor. 

Der  deutsche  Wald,  der  über  '/i  des  deutschen 
Bodens  überzieht,  ist  in  der  Lage,  aus  bei  der 
vorsichtigen  Wirtschaft  unserer  Forstwirte  ange- 
sammelten Vorräten,  durch  Wiederbelebung  alter 
und  Einführung  neuer  Nutzungen  den  durch  Weg- 
fall unserer  Einfuhr  gegebenen  Mangel  an  Holz, 
Futtermitteln  und  Rohstoffen  für  unsere  Gewerbe 
zu  einem  nicht  unbedeutenden  Teile  auszugleichen. 
Der  dem  Kriegsernährungsamt  beigegebene  Forst- 
mann findet  ein  weites  Arbeitsfeld.  Zur  Streckung 
der  Futtermittel  kommen  die  Wald  weiden 
wie  Gräser,  Seggan  und  Adlerfarn,  nach  der  Me- 
thode von  Ramann  und  Jena  behandeltes 
Reisig,  Waldfrüchte,  Waldfeldbau  und  Zwischen- 
bau von  Roggen  und  Buchweizen  in  den  Schäl- 
wäldern in  Betracht;  ferner  nach  den  Verfahren 
von  Windesheim  und  ten  Doonvkaat, 
Zdarek,  Classen  und  Schwalbe  chemisch 
aufgeschlossenes  Holz,  das  auch  zur  Spiritus- 
gewinnung dient.  Harz  liefert  beim  Abkratzen 
der  von  Wild  verursachten  Schälwunden  an  Fichten, 
die  Ausbeutung  der  Kiefernstöcke  oder  Stubben, 
die  bei  der  Fällung  im  Boden  bleiben  und  die 
Harzung  stehender  Kiefern  während  einiger  Jahre 
vor  der  Fällung,  worüber  Forstmeister  Kienitz 
in  Chorin  Versuche  angestellt  hat.  Zur  Streckung 
der  beim  Leimen  des  Papiers  nötigen  Harzvorräte 
stellt  Heuser  unter  Benutzung  des  Buchenholz- 
theers  einen  Theerleim  her.  Zum  Ersatz  der 
amerikanischen  Einfuhr  von  Gerbmitteln  ist 
die  Wiederbelebung  und  Fortbildung  der  alten 
Eichenschälwaldwirtschaft  ins  Auge  gefaßt  und 
die  Nutzung  der  bisher  vernachlässigten  gerbstoff- 
reichen Fichtenrinde,  des  gerbstoffreichen  Holzes 
der  Edelkastanie,  der  Abfälle  älterer  Eichenstämme 
und  der  Weidenabfälle  der  Korbflechterei.  Für 
die  menschliche  Ernährung  könnte  Zusatz 
von  äußerst  fein  gemahlenem  Holzmehl  zum  Brot 
oder  besser  chemisch  in  Zucker  verwandelte  Plolz- 
abfälle  und  geeignete  Rinden  Verwendung  finden. 
Auf  den  kanarischen  Inseln  dienten  früher  der 
nährstoffreiche  Grundstock  des  Adlerfarn  zur  Her- 
stellung einer  Speise.  Die  Pilze  können  mehr  als 
bisher  zur  Ernährung  herangezogen  werden,  na- 
mentlich der  Champignon,  zu  dessen  Kultur  Prof. 
Falck  in  Hann.-Münden  Aussaatkulturen  liefert, 
die    bisher    aus  Frankreich    bezogen   wurden.     Ö 1 


liefern  Buchein  (427,1),  Lindensamen  (9 — 2o"/„) 
und  in  den  Schälwäldern  anzubauende  Ölpflanzen. 
Nadelholzsamen  enthalten  über  2o"/(,  Ül,  das  bis- 
her nicht  gewonnen  zu  werden  scheint. 

Prof.  Zornig  in  Basel  sprach  dann  über 
Arzneipflanzenkultur.  Da  wir  alljährlich 
eine  große  Menge  Arzneipflanzen  aus  dem  Aus- 
lande beziehen,  die  jedoch  ebensogut  bei  uns  ge- 
baut werden  könnten,  wodurch  viele  Millionen  im 
Inland  blieben,  wird  angeregt  mehr  als  bisher, 
unter  Berücksichtigung  einer  sachgemäßen  Kultur 
die  Arzneipflanzen  im  Inland  anzubauen.  Nach 
einer  eingehenden  Schilderung  der  augenblicklich 
in  den  einzelnen  Ländern  angebauten  Arznei- 
pflanzen und  des  Umfanges  der  Kultur,  wird  auf 
diese  selbst  eingegangen.  Hierbei  wird  verlangt, 
daß  die  Züchter  ebenso  wie  sie  den  Kulturpflanzen 
ihre  Achtsamkeit  schenken,  das  auch  hinsichtlich 
der  Arzneipflanzen  tun  müßten. 

Als  bei  uns  am  leichtesten  anzubauende  Pflanzen 
werden  erwähnt :  Althaea  rosea,  A.  officinalis,  Malva 
silvestris,  Matricaria  chamomilla,  Cnicus  benedictus, 
Melissa  officinalis,  Mentha  peperita  und  M.  crispa, 
Capsicum  annuum,  Salvia  officinalis,  Verbascum 
phlomoides  oder  V.  Thapsus,  Valeriana  officinalis, 
Origanum  vulgare,  Chrysanthemum  cinerariae- 
folium.  Der  Vortragende  ist  der  Ansicht,  daß 
sich  der  Anbau  der  Arzneipflanzen  bei  uns  bei 
der  Kultur  im  kleinen  sicher  lohnen  wird  und 
daß  die  angebauten  Pflanzen  den  wildwachsenden 
an  Wirksamkeit  nicht  nachstehen  werden.  Durch 
Lichtbilder  wurden  solche  Kulturen  noch  erläutert. 
Prof.  Dr.  A.  Voigt-  Hamburg  schilderte 
die  Entwicklung  der  Ölpalmen- 
nutzung  in  Kamerun.  Auf  2  Studienreisen 
191 1  und  19 14  war  es  ihm  möglich,  recht  wert- 
volles Vergleichsmaterial  für  die  Beurteilung  der 
Entwicklung  zu  gewinnen.  Während  191 1  die 
Nordbahn  eben  ihrer  Vollendung  entgegenging 
und  die  Mittellandbahn  kaum  im  Bau  begriffen 
war,  konnten  1914  die  Gebiete  des  Innern  mit 
Hilfe  der  beiden  Bahnen  bequem  und  regelmäßig 
erreicht  werden.  Der  Reichtum  der  Kolonie  an 
Ölpalmen  konnte  zwar  191 1  vermutet  werden,  er 
wurde  aber  durch  die  weitere  Entwicklung  der 
Bahnen  zur  vollen  Gewißheit.  In  der  kurzen 
Spanne  von  3  Jahren  sind  nun  an  vielen  Stellen 
durch  Niederlegung  des  Busches  große  Ölpalmen- 
bestände  freigelegt  und  andererseits  an  verschiede- 
nen Orten  regelrechte  Neupflanzungen  von  Öl- 
palmen angelegt  worden.  Zur  besseren  Ausnutzung 
der  Rohstoffe  wurde  bereits  191 1  in  günstiger 
Verkehrslage  an  Wasserstraßen  und  Eisenbahn 
ganz  nahe  von  Duala  eine  große  Fabrik  gebaut, 
die  sich  außerdem  in  den  3  Jahren  gute  Verkehrs- 
wege in  die  umliegenden  Ölpalmengebiete  ge- 
schaffen hat.  Mehrere  größere  Plantagen  und 
Pflanzer  haben  sich  ebenfalls  Palmölaufbereitungs- 
anstalten zugelegt. 

Wenn  Kamerun  auch  bisher  nur  einen  geringen 
Prozentsatz  der  von  der  gesamten  Westküste  Afrikas 
ausgeführten  Palmkerne  und  Palmöle  lieferte,  so 
berechtigten  doch  die  reichen  Bestände  des  Landes 


N.  F.  XVI.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


und  die  bedeutende  Entwicklung,  die  Anbau  und 
Nutzung  gerade  in  den  letzten  Jahren  gefunden 
haben,  zu^der  begründeten  Hoffnung,  daß  diese 
Kolonie  einmal  einen  der  ersten  Plätze  unter  den 
Ölpalmgebieten  der  Westküste  Afrikas  einnehmen 
wird,  an  deren  Erzeugnissen  Deutschland,  was 
das  Palmöl  angeht,  in  erster  Linie,  und  was  die 
Palmkerne  betrifft ,  fast  ausschließlich  inter- 
essiert war. 

Der  Vortrag  wurde  durch  vergleichende  Licht- 
bilder aus  den  Jahren    191 1   und   1914  unterstützt. 

Prof.  M  u  t  h  -  Oppenheim  a.  R.  sprach  über 
die  Gewinnung  von  Öl  aus  den  Samen 
einheimischer  Holzgewächse. 

Deutschland  hatte  vor  dem  Weltkriege  einen 
Einfuhrüberschuß  an  Ölsaaten  und  Ölfrüchten  von 
1600000  t,  die  nach  der  Ausbeute  der  einzelnen 
Ölsaaten  berechnet  eine  Ölausbeute  von  570000  t 
ergaben.  Das  Inland  lieferte  20 — 30000  t  Öl, 
während  die  Ein-  und  Ausfuhrbilanz  fertiger  pflanz- 
licher Öle  mit  einem  Ausfuhrüberschuß  von 
35000  t  abschloß,  so  daß  unser  jährlicher  Ölver- 
brauch vor  dem  Krieg  etwa  560  000  t  betrug. 
Die  Einfuhr  von  Ölsaaten  und  von  Ölen  und 
Fetten  ist  seit  Kriegsbeginn  beinahe  vollständig 
unterbunden.  Wir  sind  also  auf  unsere  inlän- 
dischen Produkte  angewiesen.  Dabei  spielen  die 
früher  kaum  beachteten  ölhaltigen  Samen  unserer 
einheimischen  Holzgewächse  eine  nicht  unwesent- 
liche Rolle.  Die  wichtigsten  sind  die  Rebenkerne 
mit  durchschnittlich  8  — io°/„  Öl,  die  Steinobst- 
kerne mit  durchschnittlich  iS— 47''/(,  Öl,  die  Wal- 
nüsse mit  50 — 60%,  die  Haselnüsse  mit  40 — 50, 
die  Bucheckern  mit  20 — 25  ",„  Öl.  Unter  beson- 
deren Umständen  kommen  für  die  derzeitige 
Ölgewinnung  noch  in  Betracht  die  Kerne  der 
Kernobstfrüchte  mit  einem  durchschnittlichen  Ol- 
gehalt von  14 — 24  "/o.  die  Samen  des  Beerenobstes 
mit  einem  Ölgehalt  von  10,50—15%,,  die  Samen 
der  verschiedenen  Lindenarten  mit  einem  durch- 
schnittlichen Olgehalt  von  22 — 28%,  die  Früchte 
des  roten  Holunders  mit  einem  Ölgehalt  der  ge- 
trockneten Früchte  von  23  — 24''/o.  die  F"rüchte 
der  Ulmen  mit  9 — 14"/,,,  die  Sarnen  der  Roß- 
kastanie mit  durchschnittlich  2  •*/„  Ol,  sowie  die 
Samen  der  gemeinen  Kiefer  mit  etwa  32  "/„,  die 
Samen  der  Zirbelkiefer  mit  etwa  35  "/,,  fettem  Öl. 
Ein  Teil  der  genannten  Samen,  wie  die  der  Rebe, 
sind  gesetztlich  beschlagnahmt.  Über  die  Menge 
des  aus  den  Samen  unserer  Holzgewächse  zu  ge- 
winnenden Öles  ließen  sich  Berechnungen  nicht 
gut  ausführen.  F"ür  die  Rebenkerne  hat  man  für 
das  Jahr  1916  eine  Ausbeute  von  looo  Tonnen 
berechnet.  Immerhin  ließen  sich  bei  möglichst 
weitgehender  Ausnutzung  der  uns  hier  zur  Ver- 
fügung stehenden  ()lquellen  Mengen  erhalten,  die 
zur  Linderung  der  großen  Öl-  und  P'ettnot  in 
merkbarer  Weise  beitragen.  An  Enttäuschungen 
hat  es  natürlich  auch  bei  der  Gewinnung  des 
Öles  aus  den  Samen  unserer  Holzgewächse  nicht 
gefehlt.  Man  hat  sich  bei  den  Kalkulationen  teil- 
weise auf  Literaturangaben  verlassen,  die  sich 
nicht  als  zuverlässig  erwiesen,  obgleich  man  leicht 


durch  Analysen  von  jederzeit  durch  unsere  Samen- 
handlungen erreichbarem  Rohmaterial  eine  einiger- 
maßen sichere  Grundlage  sich  hätte  verschaffen 
können.  Die  Enttäuschung  ist  besonders  bei  den 
Lindensamen  sehr  groß  gewesen.  Bei  den  Linden 
ist  außer  anderen  den  Ölgehalt  beeinflussenden 
Faktoren  der  sehr  stark  schwankende  Befruchtungs- 
grad zu  berücksichtigen.  Man  kann  bei  manchen 
Bäumen  oft  sehr  viel  taube  F"rüchte  feststellen. 
Eine  weitere  Enttäuschung  brachte  häufig  die  An- 
wendung des  Preßverfahrens  bei  wenig  Öl- 
haltigen Samen,  anstelle  des  heute  hochentwickel- 
ten und  anpassungsfähigen  Extraktionsverfahrens. 
Letzteres  verdient  gerade  bei  dem  größeren  Teil 
des  hier  in  F"rage  kommenden  Rohmaterials  den 
Vorzug.  Auf  die  möglichst  vollständige  Verwer- 
tung der  Preßrückstände  zu  Futterzwecken  ist  der 
größte  Wert  zu  legen,  wobei  eventuell  besondere 
Entbitterungsverfahren,  wie  bei  der  Roßkastanie, 
oder  Aufschlußverfahren  zur  Erhöhung  der  Ver- 
daulichkeit nötig  sind. 

Hierauf  hält  Prof.  Wehmer-  Hannover  einen 
Vortrag  über 

Einige  bislang  ungenutzte  vegetabi- 
lische Rohstoffe. 
1.  Verwertung  verdorbener  Kartoffeln 
als  Futter  und  technisches  Rohmaterial. 
Von  der  in  normalen  Jahren  gegen  50  Millionen 
Tonnen  ausmachenden  Kartoffelernte  Deutschlands 
gehen  immer  noch  einige  Prozent  jährlich  durch 
Krankheit,  Erfrieren  usw.  verloren,  rechnet  man 
auch  nur  ein  Viertel  Prozent  Verlust,  so  macht 
das  doch  schon  über  eine  Million  Zentner  aus, 
von  denen  sicher  ein  erheblicher  Teil  verwertet 
werden  könnte.  In  diesem  Jahre  ist  eine  solche 
Forderung  besonders  wichtig.  Jene  Menge  ver- 
derbender Knollen  würde  bei  Verarbeitung  min- 
destens lOOOOO  Zentner  Stärke  oder  gut  das  Drei- 
fache eines  als  Viehfutters  wertvollen  Schrotes 
liefern  können.  Auch  nur  ein  Zehntel  dieser  Menge 
würde  heute  einen  erheblichen  Wert  repräsen- 
tieren. Zurzeit  werden  kranke  oder  faule,  nicht 
mehr  als  Futter  brauchbare  Knollen  bekanntlich 
allgemein  auf  den  Düngerhaufen  geworfen,  eine 
kaum  verantwortliche  Verschwendung  eines  hoch- 
wertigen Rohmaterials,  denn  sie  enthalten  den 
vollen  Stärkegehalt  der  gesunden,  weil  die  Stärke 
bei  der  Zersetzung  durch  Mikroorganismen  kaum 
angegriffen  wird.  In  einem  einzigen  dem  Vortr. 
bekannt  gewordenen  F'alle  sind  im  letzten  Winter 
allein  nicht  weniger  als  ca.  400  Zentner  erfrorener 
und  verfaulter  Knollen  glatt  vernichtet  worden. 
Die  Möglichkeit  der  Verarbeitung  selbst  hoch- 
gradig naßfauler  Knollen  hat  Vortr.  im  Anschluß 
an  vorherige  Laboratoriumsversuche  in  einem 
größeren  Experiment  mit  über  100  Zentner  fest- 
gestellt. Das  zu  ca.  40"',,  aus  ihnen  gewonnene 
rohe  Kartoftelmehl  bzw.  Schrot,  von  dem  Proben 
vorgelegt  wurden,  war  ein  völlig  geruch-  und  ge- 
schmackloses, sauberes  Produkt  mit  rund  50% 
Stärke  und  6";,,  Stickstoflsubstanz,  das  sich  bei 
einigen     Fütterungsversuchen    gut     bewährt    hat. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  8 


Die  Verarbeitung  der  Knollen  kann  in  verschie- 
dener Weise  stattfinden,  die  auf  trokenem  ist  viel- 
leicht der  auf  nassem  Wege  (Stärkegewinnung 
durch  Rotte  unter  Wasser)  vorzuziehen,  üble  Ge- 
ruchs- und  Geschmacksstoffe  werden  dabei  völlig 
beseitigt.  Unter  kleinen  Abänderungen  kann  man 
die  Stärke  auch  auf  dem  üblichen  Wege  heraus- 
holen, sie  steht  zwar  nicht  der  aus  gesunden  Kar- 
toffeln dargestellten  völlig  gleich,  das  ist  aber  bei 
Verwendung  für  technische  Zwecke  (Kleister,  Dex- 
trin, Alkohol  u.  a.)  belanglos;  hierbei  kann  man 
natürlich  aber  auch  direkt  von  den  kranken 
Knollen  ausgehen,  die  Säureverzuckerung  geht 
glatt.  Schwierigkeiten  einer  rationellen  Nutzung 
der  verdorbenen  Kartoffeln  liegen  in  dem  Sammeln 
des  Materials;  es  ist  überall  im  Lande  verstreut, 
fabrikmäßige  Verarbeitung  verlangt  aber  möglichst 
große  Mengen.  An  diesem  Punkte  müßte  durch 
ganz  bestimmte  behördliche  Vorschriften  einge- 
griffen werden. 

2.  Maiblumen  fasern  (Convallaria  majalis). 
Als  Abfallprodukt  liefern  die  Maiblumenkulturen 
der  Gärtnereien  jährlich  nicht  unerhebliche  Mengen 
von  Blättern,  welche  nach  Versuchen  des  Vortr. 
durch  Tau-  oder  Wasserrötte  eine  brauchbare, 
ziemlich  zähe  und  lange  Faser  ergeben  (Gefäß- 
bündel der  Blätter).  Bislang  ist  diese  Faser  nir- 
gend erwähnt,  bekannt  sind  aber  andere  ver- 
wandte monokotyle  Pflanzen  als  wichtige  Faser- 
lieferanten für  Seilergewerbe,  Netzfabrikation  usw. 
(Blattfasern  von  Agaven,  Phormium,  Musa  als 
Sisalhanf,  Neuseeländischer  Flachs,  Manilahanf  u.  a.). 
Die  zur  Verfügung  stehende  absolute  Menge  von 
Maiblumenblättern  ist  zwar  keine  große,  sie  sind 
aber  kostenloses  Nebenprodukt,  das  auf  billigem 
Wege  nutzbar  gemacht  werden  könnte.  Dargestellte 
Präparate  der  Fasern  wurden  vom  Vortr.  vorgezeigt. 

Dr.  Olga  Knischewsky,  z.  Zt.  wissen- 
schaftliche Lehrerin  an  der  wirtschaftlichen  F"rauen- 
schule  Bad  Weilbach,  Reg.-Bez.  Wiesbaden,  sprach 
dann  über  den  naturwissenschaftlichen 
Unterricht  alsGrundlage  für  die  Haus- 
wirtschaftskunde. Sie  schilderte  den  Unter- 
richt an  der  genannten  Schule  und  forderte  die 
Gründung  hauswirtschaflticher  Lehr-  und  For- 
schungsinstitute, wie  sie  in  Amerika  schon  seit 
langem  bestehen. 

Eine  Arbeit  von  Prof.  W  i  e  1  e  r  in  Aachen 
über  Kaffee-  und  Teeersatz  wurde  wegen 
Verhinderung  des  Verf  von  Dr.  Fischer-  Brom- 
berg vorgetragen. 

Ein  voller  Ersatz  für  Kaffee,  ebenso  wie 
für  Tee  ist  nicht  möglich,  da  unserer  Flora  die 
koffeinhaltigen  Pflanzen  fehlen.  Wohl  aber  können 
andere  gute  Eigenschaften  des  Kaffees  ersetzt 
werden  wie  Geschmack  und  Aussehen,  die  Eigen- 
schaft, uns  das  Gefühl  der  Nüchternheit  zu  nehmen 
und  seine  durststillende  Eigenschaft.  Hierfür  sind 
schon  seit  langem  Surrogate  im  Gebrauche,  die 
aus  Wurzeln,  Samen  und  Früchten  hergestellt 
werden,  von  denen  heute  freilich  ein  Teil  ausfällt, 
da  er  anderweitig  gebraucht  wird  oder  nicht  zu 
haben  ist,     Deshalb  hat  man  heute  eigentlich  nur 


mit  Gerstenkaffee  oder  Malzkaffee  und  Zichorie 
zu  rechnen.  Neu  kommt  hinzu  die  Mehlbeere 
und  die  Frucht  des  Weißdorns.  Verf  empfiehlt 
außerdem  die  Queckenwurzeln.  Er  weist  auch 
daraufhin,  daß  man  die  Surrogate  durch  Zusatz 
des  Kaffeearomas  verbessern  könnte,  dies  aber 
könnte  man  nach  einem  Vorschlage  von  Lehmann 
aus  den  Röstprodukten  des  Kaffees  gewinnen. 
Weniger  Erfahrungen  liegen  für  den  Ersatz  für 
chinesischen  Tee  vor.  Seine  Surrogate  sind 
meist  Ersatztees,  die  von  den  Eigenschaften  des 
chinesischen  Tees  nichts  an  sich  haben.  Zu  ihrer 
Herstellung  werden  Blätter  von  Erdbeere,  Brom- 
beere, Himbeere,  Kirsche,  Schwarz-  oder  Schlee- 
dorn,  Heidelbeere,  Moosbeere,  Preiselbeere,  schwarze 
Johannisbeere,  Stechpalme,  Birke,  Ulme,  Weide, 
Eberesche  und  Weidenröschen  empfohlen.  Auch 
andere  Pflanzen  sind  vorgeschlagen  worden,  die 
noch  näher  zu  prüfen  wären.  Über  die  Herstellung 
solcher  Ersatztees  liegen  wenig  genaue  Angaben 
vor.  Das  Rösten  wie  beim  chinesischen  Tee 
scheint  ihnen  zu  schaden,  während  sie  aromatischer 
werden  sollen,  wenn  man  sie  fermentiert.  Da 
man  die  chemischen  Verbindungen  kennt,  die  das 
Aroma  des  chinesischen  Tees  hervorrufen,  so 
müßte  es  möglich  sein,  Surrogate  mit  seinem 
Aroma  zu  schaffen.  Versuche  des  Verf  zeigen, 
daß  es  möglich  ist,  das  Aroma  zu  erhalten,  doch 
bedarf  es  noch  eingehender  Versuche,  um  damit 
einen  zweckmäßigen  Tee  zu  verschaffen. 

t^ber  eine  Arbeit  von  Quanjer  betitelt: 
„Phloemnekrose  und  Mosaik  und  die 
züchterischen  Maßnahmen,  wodurch 
man  der  Entartung,  welche  von  diesen 
Krankheiten  verursacht  wird,  in  Holland 
vorbeugt,"  berichtete  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  Appel- 
Dahlem. 

Auf  Grund  langjähriger  Untersuchungen  war 
Quanjer  schon  früher  zu  der  Ansicht  gelangt, 
daß  die  besondere  Art  der  Blattrollung,  welche 
bei  der  Blattrollkrankheit  der  Kartoffeln  beobachtet 
wird,  in  Zusammenhang  steht  mit  Absterbeerschei- 
nungen der  Siebröhren.  Es  führte  daher  den 
Namen  Phloemnekrose  für  diese  Krankheit  ein. 
Nach  seinen  weiteren  Untersuchungen  kommt  er 
nun  zu  dem  Schluß,  daß  diese  Krankheit,  deren 
Ursache  man  bis  jetzt  noch  nicht  kennt,  übertrag- 
bar ist  und  begründet  dies  mit  folgenden  Be- 
obachtungen: Die  Krankheit  breitete  sich  in 
Moorkulturen  Nordhollands  von  einem  Zentrum 
nach  außen  hin  aus.  Einzelne  gesunde  Stöcke  in 
kranken  Beständen  ergaben  nicht  zuverlässig  ge- 
sunde Pflanzen.  Nachkommen  gesunder  Stauden 
wurden  in  eine  Gegend  verpflanzt,  in  der  die 
Krankheit  stark  aufgetreten  war,  und  wurden 
krank.  Die  Schwesterpflanzen  in  der  Heimat 
blieben  gesund.  Kranke  Stengelteile  auf  gesunde 
Stengelteile  gepfropft,  führten  zur  Erkrankung  der 
Pflanze.  Kranke  und  gesunde  Knollenhälften  zur 
Verwachsung  gebracht,  hatten  auch  eine  Erkran- 
kung der  Sprossen  der  gesunden  Hälfte  zur  Folge. 
Von  halbierten  gesunden  Knollen  erwuchsen  auf 
Boden,  der  vorher  kranke  Stauden  getragen  hatte, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kranke  Stauden,  auf  gesundem  gesunde.  Auf 
einem  Feld,  das  lange  nicht  zu  dem  Kartoffelbau 
benutzt  worden  war,  und  das  an  ein  krankes  Feld 
angrenzte,  ent.standen  aus  gesunden  Knollen  an 
der  Grenze  kranke  Pflanzen,  von  2  m  Entfernung 
an  gesunde  Pflanzen.  Aus  Samen  erhielt  Quanjer 
auf  sterilisiertem  Boden  gesunde  Pflanzen,  gleich- 
gültig ob  die  Samen  von  gesunden  oder  kranken 
Pflanzen  abstammten.  Er  nennt  daher  die  Blatt- 
rollkrankheit, die  er  in  dieser  Richtung  mit  der 
Serehkrankheit  des  Zuckerrohres  in  Beziehung 
bringt,  Pseudohereditea. 

Auch  für  die  Mosaikkrankheit  der  Kartoffeln 
treffen  einige  der  für  die  Blattrollkrankheit  ge- 
machten Beobachtungen  zu,  so  daß  man  es  auch  hier 
vielleicht  mit  einer  ansteckenden  Krankheit  zu  tun 
hat.  Wegen  mancherlei  Analogien  vergleicht  er 
diese  Krankheit  mit  der  Mosaikkrankheit  des 
Tabaks,  der  Peach  yellow  der  Amerikaner,  und 
den  infektiösen  Chlorosen  Bau  r 's.  Ein  Krank- 
heitserreger konnte  für  diese  Krankheiten  noch 
nicht  gefunden  werden.  Es  erscheint  dem  Autor 
jedoch  nicht  ausgeschlossen,  daß  ein  Virus  als 
Krankheitserreger  in  Betracht  kommt. 

Über  die  Mosaikkrankheit  der  Kar- 
toffeln in  Holland  teilte  dann  noch  FVäulein 
Dr.  O.  Westerdijk  eigene  Erfahrungen  an  den 
Sorten  „Bonten"  und  „Blauwen"  mit,  deren  Laub 
im  Juni  oder  Anfang  Juli  gelb  gescheckt  wird. 
Die  gelben  Stellen  im  Blatt  wechseln  mit  stark 
dunkelgrün  gefärbten,  etwas  gefalteten  Stellen  ab. 
Das  Laub  entwickelt  sich  zwar'  öfter  nicht  so 
üppig  als  bei  den  genannten  Pflanzen,  doch  fällt 
im  allgemeinen  die  Krankheit  wenig  auf.  Verf. 
hat  während  einer  Reihe  von  Jahren  versucht, 
den  Einfluß  der  Krankheit  auf  den  Knollenertrag 
festzustellen.  Die  Krankheit,  die  früher  unter 
dem  Sammelnamen  Blattrollkrankheit  bekannt  war, 
ist  bei  einigen  Sorten  sehr  deutlich  ausgeprägt 
und  von  dem  jetzt  festgestellten  Begriff  BlattroJl- 
krankheit  verschieden.  Von  der  „bonten"  und 
„blauwen"  wurden  191 1  verschiedene  kranke  Stöcke 
ausgewählt  und  nachgebaut,  während  die  Nach- 
kommenschaft gesunder  Stöcke  von  solchem  Felde 
als  Kontrollpflanzen  galten.  Es  hat  sich  nun  her- 
ausgestellt, daß  die  mosaikkranken  Stöcke  im  Er- 
trag zurückgehen ;  bei  einzelnen  geht  die  Ernte 
rasch,  bei  anderen  langsam  herunter.  So  wurde 
der  mittlere  Stockertrag  eines  bekannten  Stammes, 
191 1  ausgewählt,  nach  zwei  Jahren  bis  auf  33"/,, 
des  ursprünglichen  mittleren  Ertrages  abgebaut. 
Der  Ertrag  der  gesunden  Kontrollpflanzen  hatte 
sich  während  derselben  Jahre  um  6  "/n  erhöht. 
Ein  kleiner  Teil  des  Rückganges  muß  auf  Kosten 
des  kleiner  werdenden  Saatkartoffelgewichtes  ge- 
bracht werden.  Auch  unter  den  urspünglich 
gesunden  Stämmen  traten  im  Nachbau  kranke 
Stöcke  auf.  Wenn  sich  in  einem  bestimmten 
Jahr  ein  gesunder  Stamm  in  gesunde  und  kranke 
Nachkommen  spaltete,  so  wies  sich  ein  eben  so 
starker  Rückbau  auf,  wie  bei  den  Knollen,  über 
deren  Stammbaum  191 1  nichts  bekannt  war. 
Weiter    wurde    noch    der    Einfluß    der    Krankheit 


auf  den  Ertrag  an  großen,  zu  Speisezwecken  ge- 
eigneten Knollen  (über  30  Gramm  Gewicht)  fest- 
gestellt. Der  Prozentsatz  dieser  großen  Knollen 
ist  bei  den  mosaikkranken  Stöcken  kleiner  als  bei 
den  gesunden,  so  daß  der  Einfluß  des  Mosaiks 
schließlich  auf  den  Wert  des  Ertrags  noch  stärker 
ist  als  im  Anfang  erwähnt  wurde.  Einzelne 
Stämme  haben  als  Ausnahme  eine  Steigerung  im 
Ertrag  aufgewiesen  und  ein  kranker  Stamm  hat 
gesunde  Tochterpflanzen  erzeugt.  Unter  deren 
Nachkommen  fanden  sich  zweimal  Knospenvaria- 
tionen, einmal  ein  Stamm  mit  roten,  einmal  ein  mit 
rein  weißen  Knollen,  die  sich  als  konstant  (vegetativ 
natürlich)  erwiesen.  Die  Frage,  ob  die  fortwährende 
Benutzung  kleiner  Saatkartoffeln  die  Mosaikkrank- 
heit fördere,  mußte  verneinend  beantwortet  werden. 

Geh.  Reg.-Rat  Dr.  Appel  gibt  in  seinem 
„Neues  über  die  Blatt fallkrankheit  und 
das  Rollen  der  Kartoffelblätter"  betitelten 
Vortrag  ein  Bild  von  dem  jetzigen  Stand  unserer 
Kentnisse  der  Kartoft'elkrankheiten,  bei  denen  ein 
Rollen  der  Blätter  zu  beobachten  ist.  Er  kommt 
dabei  zu  einem  Schema  dieser  Krankheiten,  das 
er  bereits  1913  aufgestellt  und  auch  bei  seinen 
Vorlesungen  in  Amerika  benutzt  hat.  Er  teilt 
die  in  Frage  kommenden  Krankheiten  ein  in :  Ge- 
fäßkrankheiten, die  wieder  zerfallen  in  Gefäß- 
mykosen  und  Gefäßbakteriosen.  Von  den  Gefäß- 
mykosen ist  die  bekannteste  die  Welkekrankheit, 
bei  der  der  Pilz  in  den  Tracheen  wächst  (Trache- 
osen,  Quanjers),  daneben  gibt  es  aber  auch 
Gefaßmykosen,  bei  denen  der  Pilz  sich  auf  die 
Tracheiden  beschränkt.  Als  Gefäßbakteriosen 
sind  die  Bakterienkrankheiten  zu  betrachten.  Die 
2.  Gruppe  bilden  die  F'ußkrankheiten,  ,die  eben- 
falls in  Gefäßmykosen  und  -bakteriosen  zerfallen. 
Zu  den  ersteren  gehört  die  Rhizoctinia,  zu  letzteren 
die  Schwarzbeinigkeit.  Als  3.  Gruppe  sind  die- 
jenigen Krankheiten  zusammengefaßt,  die  soweit 
bis  jetzt  bekannt  ist,  keine  Organismen  als  Ur- 
sache haben,  dorthin  gehört  vor  allen  Dingen  die 
Blattrollkrankheit  (Phloemnekrose).  Als  wesent- 
lichen Fortschritt  der  Arbeit  in  den  letzten  Jahren 
wird  es  betrachtet,  daß  aus  dem  ehemaligen  Sammel- 
begriff der  Blattrollkrankheit  eine  Anzahl  von  beson- 
deren Krankheitstypen  herausgenommen  und  näher 
aufgeklärt  werden  konnten.  Wegen  der  zahlreichen 
Einzelheiten  muß  auf  das  Original  verwiesen  werden. 

Im  Anschluß  daran  teilte  auch  Prof.  Schander- 
Bromberg  neuere,  durch  umfangreiche  eigene  Ver- 
suche gewonnene  Erfahrungen  über  die  Blattroll- 
krankheit der  Kartoffeln  mit. 

Prof.  Lüstner- Geisenheim  sprach  „Über 
Ersatzmittel  bei  der  Schädlingsbekämp- 
fung im  Weinbau."  Kupfervitriol  und  Schwefel, 
niit  dem  seither  Peronospora  und  Oidium  bekämpft 
wurden,  sind  nicht  mehr  erhältlich,  weil  sie  be- 
schlagnahmt sind  und  aus  dem  Auslande  nicht 
mehr  eingeführt  werden  können.  Zur  Erhaltung 
der  Weinernte  müssen  also  Ersatzmittel  gefunden 
werden.  Zur  Bekämpfung  des  Oidiums  wurde 
bereits  vor  einem  halben  Jahrhundert  gewöhnlicher 
„Straßenstaub"  verwendet.  Damit  ausgeführte  Ver- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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suche  schlugen  fehl.  Auch  andere  neutrale  Pulver 
(Kaolin,  Gips  und  Zement)  haben  sich  nicht  be- 
währt. Dagegen  befriedigte  die  Wirksamkeit  eines 
neuen  Schwefels  sehr,  weshalb  er  zur  weiteren 
Prüfung  empfohlen  wird.  Als  Ersatzmittel  für 
Kupfervitriol  kann  allem  Anscheine  nach  das 
„Perozid",  ein  in  der  Hauptsache  aus  schwefel- 
sauren Ceriterden  bestehendes  Präparat,  gelten. 
Die  damit  im  großen  mit  2",,  und  2,5  **/(, igen 
Brühen  ausgeführten  Versuche  hatten  ein  gutes 
Ergebnis,  auch  die  „Bordola-Pasta"  und  ein  neues 
„Cupron"  genanntes  Präparat  bewährten  sich  gut. 
Zu  beachten  bleibt  nur,  daß  die  Peronospora  in 
diesem  Jahre  nicht  epidemisch  aufgetreten  ist, 
und  daß  zu  ihrer  Bekämpfung  selbst  eine  0,5  "/„  ige 
Kupferkalkbrühe  ausreichend  war.  „Chlorphenol- 
quecksilber" war  zwar  gegen  die  Peronospora  wirk- 
sam, rief  jedoch  an  den  grünen  Rebteilen  Verbren- 
nungen hervor,  so  daß  es  noch  keine  Verwendung 
im  Weinbau  finden  kann.  Ersatzmittel  für  Nikotin 
und  Schmierseife  zur  Bekämpfung  des  Heu-  und 
Sauerwurms  sind  noch  nicht  gefunden. 

Über  Versuche  mit  Ersatzmitteln  zur 
Rebschädlingsbekämpfung,  ausgeführt 
in  Baden  im  Jahre  1916  sprach  Dr.  K. 
Müller-Augustenberg.  Als  Ersatzmittel  für 
Kupfervitriol  zur  Peronosporabekämpfung  wurde 
„Perozid",  das  hauptsächlich  aus  Cer-Didym-  und 
Lanthansulfat  besteht,  dann  auch  Bordola- 
Pasta,  ein  niederprozentiges  (2  "/„  Cu),  gelatinöses 
Kupferpräparat,  in  verschiedenen  Gegenden  des 
Landes  ausprobiert.  Auf  den  Kontrollparzellen 
kam  I  %  ige  Kupferkalkbrühe  zur  Verwendung. 
Die  Peronospora  ließ  sich  selbst  bei  sehr  starkem 
Auftreten  durch  vorbeugendes  Behandeln  mit 
2  "!„  iger  Perozidbrühe  fernhalten,  wenn  man  die 
Reben  sorgfältig,  vor  allem  auch  die  Blattunter- 
seiten spritzte.  Weniger  gut  wirkte  Bordola, 
wohl  deshalb,  weil  der  Kupfergehalt  nur  etwa  '/s 
desjenigen  einer  einprozentigen  Kupferkalkbrühe 
beträgt.  Die  Versuche  haben  gezeigt,  daß  während 
der  Kriegszeit,  solange  eine  Kupfervitriolknappheit 
besteht,  die  Peronospora  auch  durch  niederprozen- 
tige  Kupferkalkbrühen  praktisch  genügend  fern- 
gehalten werden  kann,  wenn  man  die  Blattunter- 
seiten gründlich  spritzt.  Wenn  Kupfervitriol  ganz' 
fehlen  sollte,  gestattet  sorgfältiges  Spritzen  mit 
Perozid  die  Peronospora- Krankheit ,  selbst  bei 
seuchenartigem  Auftreten,  zu  unterdrücken. 

Der  neue,  in  Deutschland  hergestellte  Wein- 
bergschwefel stand  wegen  zu  geringer  Feinheit  in 
seiner  Wirksamkeit  gegen  den  \'entilatoschwefel  zu- 
rück. Das  Bespritzen  der  Reben  mit  stark  verdünnter 
Schwefelkalkbrühe  unterdrückte  den  Mehltau. 

Prof.  Dingler- Aschaffenburg  machte  Angaben 
über  Wurzelbrutverbänderung  und  deren 
vermutliche  Ursachen.  Die  Erscheinung 
ist  bisher  nur  selten  und  von  wenigen  Pflanzen- 
arten bekannt  geworden.  Der  Vortragende  fand 
sie  reichlich  und  in  schöner  Entwicklung  an  20 
bis  39  cm  tief  horizontal  streifenden  Wurzeln  eines 
Reineclaudenbaumes  seines  Hausgartens.  Ein- 
gehende wiederholte  Untersuchung  führte  zu  fol- 


genden Schlußfolgerungen  :  Wenn  im  vorliegenden 
Fall  nicht  eine  besondere  ererbte  individuelle 
Veranlagung  zu  Bandsproßbildung  vorhanden  ist, 
was  einstweilen  offen  bleiben  muß,  so  kann  man 
annehmen,  daß  bei  Prunus  insititia,  wie  bei 
vielen  anderen  Holzarten  überhaupt  eine  gewisse 
P'ähigkeit  besteht,  unter  bestimmten  Bedingungen 
verbänderte  Sprosse  zu  erzeugen.  Wir  kennen 
bisher  nur  eine  einzige  solche  Bedingung  sicher; 
Vollsaftigkeit  („Plethora"  der  Mediziner)  durch 
überstarke  Ernährung  des  ganzen  Individuums 
oder  einzelner  Glieder,  im  letzteren  P'all  erzeugt 
durch  Wegnahme  anderer  mit  ihnen  um  den 
Nahrungsstrom  konkurrierender.  Sachs,  Goe- 
bel,  H.  de  Vries  und  Lopriore  haben  experi- 
mentelle Beweise  dafür  geliefert.  Es  war  hier 
also  die  Frage,  ob  die  Bandsprosse  erzeugende 
Wurzelbrut  unter  abnorm  gesteigertem  Saftdruck 
steht.  Es  liegen  in  der  Tat  zweierlei  Gründe 
dafür  vor:  Immer  wiederholtes  Abschneiden  oder 
Abstechen  aller  über  die  Erde  tretenden  Schöß- 
linge und  der  Widerstand,  welchen  die  Erde,  be- 
sonders in  sehr  dichten  Bodenteilen  und  in  den 
tieferen  Schichten,  den  sie  in  negativ  geotropischer 
Richtung  zu  durchbrechen  strebenden  jungen 
Wurzelsprossen  bietet.  In  der  Tat  zeigen  in  festem 
Boden  die  Wurzelsprosse  sehr  auffallende  Knickun- 
gen, Windungen  und  förmliche  Verknäuelungen, 
durch  die  wahrscheinlich  starker  Saftdruck  entsteht. 
Prof.  Kroemer-Geisenheim  besprach  in 
seinem  Vortrage  „Die  Rebe  in  der  Kriegs- 
zeit" die  Einwirkungen  des  Krieges  auf  den 
deutschen  Weinbau  und  erörtert  zunächst  die 
Forderungen,  die  sich  aus  den  veränderten  Ver- 
hältnissen für  die  Anlage  und  Bestellung  der 
Weinberge  ergeben.  Sie  zielen  im  wesentlichen 
alle  darauf  hin,  den  intensiven  Betrieb  im  Wein- 
bau mehr  als  bisher  zur  Geltung  zu  bringen.  Der 
Rückgang  der  Rebenanbaufläche,  der  sich  im 
Kriege  stärker  bemerkbar  macht  als  in  den  letzten 
Friedensjahren,  kommt  der  Einführung  dieser  Wirt- 
schaftsform sehr  zustatten  und  ist  deshalb  für  den 
Bestand  unseres  Weinbaus  vollkommen  unbedenk- 
lich. Bei  dem  Fehlen  aller  Auslandzufuhren  ist 
es  trotz  ansehnlicher  Weinvorräte  und  trotz  der 
reichen  Lese  des  vorigen  Jahres  zu  einem  sehr  emp- 
findlichen Weinmangel  gekommen,  der  bei  den 
ungünstigen  Herbstaussichten  dieses  Jahres  zu  einer 
ganz  außergewöhnlichen  Erhöhung  der  Weinpreise 
führen  wird.  Schon  seit  dem  ersten  Kriegswinter 
sind  Versuche  im  Gange,  den  Weinbau  in  erhöhtem 
Maße  auch  für  die  menschliche  Ernährung  und 
die  Viehhaltung  nutzbar  zu  machen.  So  sind 
Zwischenkulturen  von  Gemüsen  und  Feldfrüchten 
in  bestockten  und  brachliegenden  Weinbergen 
häufig  anzutreffen,  allerdings  vorwiegend  in  den 
geringeren  Lagen  ;  angeregt  und  erfolgversprechend 
ist  auch  die  Verwertung  der  beim  F'rühjahrsschnitt 
und  bei  der  Laubbehandlung  der  Reben  abfallenden 
verholzten  und  unverholzten  Triebe  als  Futtermittel. 
Die  Ausnützung  der  in  den  Preßrückständen  der 
Trauben,  den  sog.  l'rcslern  enthaltenen  Nährwerte 
ist  durch  die  Beschlagnahme  dieser  Abfälle  bereits 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gesichert  und  verspricht  nach  den  bisherigen 
Schätzungen  neben  beträchtlichen  Mengen  von 
Futtermehl  allein  für  dieses  Jahr  eine  Ausbeute 
von  rund   500000  1  Speiseöl.    In  ähnlicher  Weise 


gedenkt  man  die  Nährwerte  der  Weinhefe  zu  er- 
fassen, was  bei  dem  hohen  Weinstein-  und  Alkohol- 
gehalt dieser  Hefen  allerdings  weniger  leicht  zu 
erreichen  sein  wird.     (G.G.) 


Die  im  Elb-  iiud  Oderstrouigebiet  vorhaudeiie  Wasseriueuge. 

.)  Von  Prof.  Dr.  W.  Halbfaß,  Jena. 

aus  den  Vorräten  früherer  Jahre  zusammensetzt 
und  z.  B.  in  Zeiten  großer  Dürre  den  zur  Neige 
gehenden  Vorrat  des  oberen  Grundwassers  zu 
ergänzen  vermag. 

Außer  dem  Oberflächenwasser  des  Hauptstroms 
mit  seinen  Nebenflüssen,  dem  Inhalt  der  Seen 
und  dem  Volumen  des  Grundwassers  kämen 
vielleicht  noch  der  Inhalt  der  Brunnen  und  der 
aufgespeicherten  Schneemenge  in  Betracht.  Doch 
steckt  ja  das  Wasser  der  Quellen  zum  größten 
Teil  bereits  in  der  Grundwassermenge  und  kann 
für  sich  allein  nicht  gut  in  Rechnung  gesetzt 
werden,  und  die  Schneemengen  kommen,  so  ge- 
wichtig ihre  Rolle  im  Wasserhaushalt  des  Flusses 
ist,  deshalb  nicht  in  Betracht,  weil  sie  ja  keine 
dauernde  Erscheinung  sind,  sondern  im  Laufe 
eines  oder  mehrerer  Abflußjahre  kommen  und 
verschwinden. 

Bei  der  Berechnung  der  zuerst  genannten 
Wassermenge  benutzte  ich  als  Grundlage  das  von 
der  Kgl.  Preußischen  Klbstrom-Bauverwaltung 
in  Magdeburg  herausgegebene  sog.  Eibstromwerk 
„Der  Eibstrom,  sein  Stromgebiet  und  seine  wich- 
tigsten Nebenflüsse",  3  Bd.  Textband,  i  Tabellen- 
band und  I  Atlasband,  Berlin  1898,  bzw.  das 
Oderstromwerk  der  Preuß.  Bauverwaltung  im 
gleichen  Umfang,  Berlin  1896,  sowie  die  von  der 
Kgl.  Preußischen  Landesanstalt  für  Gewässerkunde 
herausgegebenen  Jahrbücher  für  die  Gewässerkunde 
Norddeutschlands,  deren  letztes,  das  Abflußjahr 
191 1  umfassend,  im  Jahre  1913  erschien:  In  bezug 
auf  die  in  den  Seen  und  im  Grundwasser  vor- 
handenen Wassermengen  war  ich  in  der  Hauptsache 
auf  eigene  Schätzungen  angewiesen,  wenn  es  auch 
in  der  Literatur  nicht  gänzlich  an  einigen  An- 
deutungen fehlt;  die  Verantwortung  für  diese 
Zahlen  muß  ich  also  allein  tragen. 


[Nachdruck  verboten.) 

Vor  einiger  Zeit  versuchte  ich  in  diesen 
Blättern  (N.  F.  Bd.  1 5  Nr.  43)  den  Jahreshaushalt 
der  Elbe  und  der  Oder  festzustellen,  zweier 
deutscher  Ströme,  deren  hydrographische  Ver- 
hältnisse einerseits  gut  bekannt,  andererseits  relativ 
einfacher  Natur  sind  gegenüber  z.  B.  dem  Rhein 
und  der  Weichsel,  deren  Haushalt  weit  kompli- 
zierter und  größeren  Veränderungen  unterworfen 
ist.  Ich  möchte  in  den  folgenden  Zeilen  den 
Versuch  unternehmen,  die  bei  einem  mittleren 
Niederwasserstand,  einem  mittleren  Wasserstand 
und  einem  mittleren  Hochwasserstand  im  Strom- 
gebiet der  beiden  genanten  Fiüße  überhaupt  vor- 
handenen Wassermengen  abzuschätzen. 

Auf  den  ersten  Augenblick  scheint  dieser 
Versuch  von  vornherein  fruchtlos  zu  sein,  da 
ein  so  ausgedehntes  Flußsystem,  wie  das  der 
Elbe  oder  der  Oder  zu  keiner  Zeit  im  Jahr  genau 
den  gleichen  Wasserstand  besitzt  und  weil  es 
auch  an  genügenden  exakten  Messungen  fehlt, 
das  den  Berechnungen  zugrunde  gelegt  werden 
könnte.  Beide  Einwände  sind  vollkommen  gerecht- 
fertigt und  es  liegt  auf  der  Hand,  daß  irgend- 
welche Ansprüche  auf  eine  auch  nur  bescheidene 
Genauigkeit  der  zn  findenden  Zahlenwerte  ohne 
weiteres  fortfallen  müssen.  Allein  einerseits  sind 
in  beiden  Stromgebieten  die  Niederschlags- 
verhältnisse, von  denen  ja  der  Wasserstand  des 
Flusses  in  erster  Linie  abhängt,  sowohl  örtlich  wie 
zeitlich  relativ  geringen  Schwankungen  unter- 
worfen, wenn  man  sie  mit  denjenigen  anderer  mittel- 
europäischer Stromgebiete  —  von  subtropischen 
und  tropischen  ganz  zu  schweigen  —  vergleicht 
und  dann  sind  für  beide  Ströme  wenigstens  so 
viel  Messungen  bekannt,  daß  man  es  wagen  sollte, 
gerade  bei  ihnen  einen  Zahlenwert  zu  ermitteln, 
welcher  gewiß  für  jedes  einzelne  größere  Fluß 
gebiet  höchst  charakteristisch  ist.  Freilich  sind 
wir  namentlich  hinsichtlich  der  in  einem  Fluß- 
gebiet etwa  vorhandenen  Grundwassermenge  vor- 
läufig auf  Schätzungen  angewiesen,  welche,  wie 
ich  schon  in  der  oben  erwähnten  Arbeit  zeigte, 
mehr  auf  bloßen  Vermutungen,  als  wirklichen 
Messungen  beruhen  und  die  daher  auch  nur  sehr 
relativen  Wert  besitzen  können. 

Das  in  jedem  Stromgebiet  aufgespeicherte 
Wasser  zerfällt  in  3  Gruppen :  in  das  zutage 
liegende  Oberflächenwasser  des  Hauptflusses  und 
seiner  Nebenflüsse,  das  Wasser  der  angeschlossenen 
Seen  und  in  das  mit  ihm  in  engen  Zusammen- 
hang stehende  Grundwasser,  worunter  ich  nicht 
bloß  das  sog.  „obere"  Grundwasser  verstehe,  das  in 
\^erlauf  eines  Abflußjahres  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen wird,   sondern  auch  das  „untere",   das  sich 


L    Das  Eibgebiet. 

a.  Das  Oberflächenwasser. 

Die  in  einem  Fluß  enthaltene  Wassermenge 
erhält  man,  indem  man  den  jeweiligen  Querschnitt 
mit  derjenigen  Flußlänge  multipliziert,  innerhalb 
welcher  der  Querschnitt  als  konstant  angenommen 
werden  kann.  Solche  Flußlängen  sind  namentlich 
im  Ober-  und  im  Mittellauf  eines  Flusses  außer- 
ordentlich kurz.  Breite  und  Tiefe  pflegen  sehr 
häufig  zu  wechseln,  so  daß  man,  wenn  man  die 
Rechnungen  nicht  bis  ins  Unendliche  ausdehnen 
und  in  einer  Art  Auswertung  von  Integralen  er- 
blicken will,  sehr  bald  genötigt  ist,  diese  Strom- 
längen auf  gut  Glück  zu  verlängern  und  sich  mit 


io6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  S 


rohen  Schätzungen  zu  begnügen.  Ohnehin  nötigt 
dazu  die  geringe  Zahl  von  Querschnitten,  die  sich 
in  den  oben  angegebenen  Quellen  vorfinden.  Gilt 
diese  Beschränkung  schon  für  den  Hauptfluß,  so 
gilt  sie  für  die  Nebenflüsse  in  noch  weit  höherem 
Grade.  Für  diese  liegen  genauere  Angaben 
über  Tiefe  und  Breite  nur  in  so  beschränktem 
Umfang  vor,  daß  man  noch  weit  mehr  auf  bloße 
Vermutungen  angewiesen  ist,  die  auf  den  Strom- 
beschreibungen fußen.  Selbstverständlich  kommen 
überhaupt  nur  größere  Neben-  und  Zuflüsse  in 
Betracht,  für  kleinere  kann  keine  Rechnung  auf- 
gestellt werden,  doch  fällt  ihre  Wassermenge 
gegenüber  der  im  Hauptstrom  und  in  den  größeren 
Nebenflüssen  enthaltenen  absolut  nicht  ins  Gewicht. 
Den  Unterabteilungen  des  Elbstromwerkes  ent- 
sprechend habe  ich  den  Hauptstrom  in 
9  Abschnitte  eingeteilt  und  in  der  Tab.  i 
versucht,  für  die  Querschnitte  des  Stromes 
innerhalb  derselben  konstante  Zahlenwerte  bei 
MNW,  MW  und  NHW  einzusetzen,  es  der  Kritik 
überlassend,  diese  Festsetzungen  zu  bemängeln. 
F'ür  die  Zahlenwerte  sind  zwar  in  erster  Linie 
die  Angaben  an  den  genannten  Stellen  maßgebend. 


doch  wurden  sie  nicht  rein  mechanisch  aus  den 
Quellen  entnommen,  sondern  mit  den  sonstigen 
Angaben  über  Querschnittsverhältnisse  an  anderen 
Stellen  des  Flusses  verglichen  und  demgemäß  ent- 
sprechend modifiziert.  Bei  der  Bestimmung  des 
Querschnitts  bei  MHW  wurde  noch  besonders 
Rücksicht  auf  die  im  i.  Band  des  Eibstromwerks 
S.  252  zusammengestellten  mittleren  Hochwasser- 
werte bei  eingeschränktem  Überschwemmungs- 
gebiet genommen. 

Besondere  Schwierigkeiten  bereitete  der  Be- 
rechnung die  unterste  Strecke  der  Elbe  vom  Ein- 
fluß der  Seeve  abwärts,  weil  hier  Ebbe  und  Flut 
hereinspielen  und  die  Flußmenge  gewaltig  be- 
einflussen, fließen  doch  bei  Glückstadt  zur  Zeit 
der  größten  Ebbe  in  der  Sekunde  20  000  cbm 
ab,  während  einer  Tide  von  ungefähr  13  Stunden 
also  über  900  Millionen  cbm.  Hieran  ist  aber  die 
Oberwassermenge  nur  mit  etwa  V«  beteiligt, 
während  auf  die  Tidewasser  rund  600  Millionen 
cbm  kommen,  d.  i.  ungefähr  - .,  von  derjenigen 
Wassermenge,  welche  nach  meiner  Berechnung 
der  Hauptstrom  von  der  Quelle  bis  zur  Mündung 
bei  MW  enthält,    abgesehen  vom  Tidewasser.     In 


Tabelle  I. 
Die  Elbe. 


des 


ugehörig.  Grundw.  jg 


<  Querschnitt  Voluraeu 

Teilstiecken                        Länge                                                                                    <.ug>..,u..s-  •^,^^^-.                Qes 

MNW     MW    MHW  Mi\W     MW    MHW       f"'"^-  führenden         Grundw. 

gebiets  Areals 

km                      qm                        Millionen   cbm              qkni  qkm      "/(,           cbkm 


155        41  üio  4  200      10  5 


Von  der  Quelle  bis  zur  Einmündung 

der  Moldau  309         40        100        500      12 

bei  Pardubitz 

Von   der   Einmündung    der  Moldau 

bis  zur  sächsischen  Landesgrenze      io6        loo       260        700      II  27  75  9  552  95°     20  i 

bei  Dresden 

Von  der  sächsischen  bis  zur  preußi- 
schen Landesgrenze  122         t)o       350     1400      11  43         170  3  65S  730     20  0,7 


IV.   Von  der  preußischen  bis  zur  anhalti- 

nischen  Landesgrenze  '05i5     'öo       300     I  300 


>5  ö  748  1  .S50     30  1.2 


V.  Von    der     anhaltinischen     Landes- 
grenze bis  zur  Einmündung  der  Saale      ö6,4    220       420     1100       15         28  75        32279  9800     50  9 

bei  Hämerten 

VI.  Von     der     Saalemundung     bis     zur 

Havelmündung  140,6    300       6(jo     3300      42         94        450        28150  14000     50  13 

bei  Wittenberge 

VII.   Von     der    Havelmünduug    bis     zur 

Jeetzelmündung  91,7    390       700     4300      36         04        390  9714  4  Soo     50  4,. 

bei  Lauenburg 

\'lll.   Von     der  Jeetzelmündung    bis    zur 

Secvemündung  82       4Ö0       Siio     2  700      37  70        220  ()  53S  3  900     00  3,1 

bei  Nienstedtcn 


IX.   Die  Unterelbe 


gi    3400    6200  10  100    310       560        920  5607  3400     6c  3,1 

Summen     490       950      2600      144035  43000     30  4I 


N.  F.  XVI.  Nr.  8 


Naturvvisseiiscliaftliche  Wochenschrift. 


107 


der  Zuütaminenstellung  in  Tab.  I  habe  ich  dies 
Tidewasser  außer  Anschlag  gelassen,  weil  es  so- 
zusagen kein  Flußwasser,  sondern  geliehenes 
Ozeanwasser  ist,  das  nicht  einen  Teil  seines  eigenen 
Kapitals  bildet. 

In  Tab.  II  habe  ich  dieselbe  Rechnung  wie 
für  den  Hauptstrom  für  30  Neben-  und  Zuflüsse 
der  Elbe  durchgeführt,  denen  ich  noch  2  mit  der 
Elbe  in  Zusammenhang  stehende  Kanäle  an- 
geschlossen habe,  den  Oder-Spreekanal  und  den 
Flaue  Ihlekanal,  obwohl  die  der  Berechnung  ent- 
gegenstehenden Schwierigkeiten  sich  hier  noch 
mehr  häufen,  als  bei  den  Nebenflüssen. 

Bei  diesen  habe  ich  in  vielen  F"ällen  aus  den 
allgemeinen  .'\ngaben  über  Ouerschnitts- 
verhältnisse  Rückschlüsse  auf  den  mittleren 
Querschnitt  zu  ziehen  versucht,  in  anderen  P'ällen 
geben  die  Angaben  über  die  Abflußmengeii  bei 
verschiedenem  Wasserstand  einigen  Aufschluß, 
obwohl  sie  natürlich  wegen  der  meist  nicht  be- 
kannten und  wechselnden  Flußgeschwindigkeit  nur 
mit  großer  Vorsicht  gebraucht  werden  können. 
Bei  Flüssen,  welche,  wie  die  Adler,  die  Mulde 
usw.  aus  mehreren  annähernd  gleichlangen  Quell- 
flüssen sich  zusammensetzen,  wurden  natürlich 
beide  Flußarme  addiert,  dadurch  erscheint  ihre 
Länge  in  der  Kolonne  A  der  Tab.  II  ungewöhnlich 
groß. 

Bei  MNW  und  MHW  scheint  die  Mulde,  bei 
MW  die  Moldau  der  wasserreichste  Nebenfluß  der 
Elbe  zu  sein,  während  die  Saale,  noch  mehr  aber 
die  Havel,  trotz  größerer  Flußgebiete  ziemlich 
weit  zurückstehen : 

Im  ganzen  nimmt  der  Anteil  der  Nebenflüsse 
an  der  Gesammtwassermenge  des  Flußgebietes 
mit  wachsendem  Wasserstand  zu,  denn  er  beträgt 
bei  MNW  2^,  bei  MW  2.S,  bei  MHW  dagegen 
36  V.  H. 

Die  Wassermenge  der  vielen  kleinen  Zu-  und 
Nebenflüsse  zu  berechnen,  habe  ich,  wie  oben 
bereits  gesagt,  von  vornherein  abgelehnt.  Jeden- 
falls spielt  sie  im  Verhältnis  zu  den  anderen 
Wassermengen  keine  irgendwie  entscheidende 
Rolle.  Um  die  Zahlen  für  die  Gesammtmenge 
abzurunden,  habe  ich  sie  auf  gut  Glück  auf  60 
bzw.  180  bzw.  460  Millionen  cbm  angenommen, 
wahrscheinlich  sind  diese  Zahlen  zu  hoch,  aber, 
wie  gesagt,  es  kommt  für  das  Ganze  nicht  viel 
darauf  an. 

Addiert  man  die  Wassermengen  des  Haupt- 
flusses, der  größeren  und  der  kleineren  Nebenflüsse, 
so  gelangt  man  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  an 
Oberflächenwasser  des  Eibgebietes  vorhandene 
Wassermenge  sich  bei  MNW  auf  700,  bei  MW 
auf  I  500  und  bei  MHW  auf  4  500  Millionen  cbm 
beläuft.  Das  Volumen  bei  MNW  entspricht  etwa 
dem  des  Spirdingsees  in  Ostpreußen  oder  des 
Madusees  in  Pommern,  bei  MW  dem  des  Walchen- 
sees in  Oberbayern,  bei  MHW  dem  des  Züricher 
Sees  ödes  des  Attersees  im  Salzkammergut.  Im 
allgemeinen  darf  man  die  Zahlen  wohl  als  obere 
Grenzwerte  ansehen;  wenn  einmal  eine  genauere 


Auswertung  der  vorhandenen  Messungen  möglich 
sein  wird,  werden  sich  vermutlich  etwas  kleinere 
Zahlen  ergeben. 

b.  Das  Wasser  der  Seen  des  Eibgebietes. 

Im  Elbgebit  kommen  giößerre  Ansammlungen 
stehenden  Wassers  nur  bei  der  Moldau  mit  der 
Wottawa,  bei  der  Havel  mit  der  Spree,  bei  der 
Eide  und  bei  der  Sude  vor. 

Die  mit  der  Moldau  und  Wottawa  verbundenen 
Seen  sind  sämtlich  künstlichen  Ursprungs  und  für 
die  Fischzucht  angelegt  worden,  daher  durchweg 
sehr  flach.  Bei  einem  Areal  von  rund  20  qkm 
und  einer  mittleren  Tiefe  von  etwa  ^/j  m  fassen 
sie  etwa  15  Millionen  cbm,  also  soviel  wie  etwa 
die  Moldau  bei  MNW.  Die  der  Havel  und  Spree 
tributären  Seen  nehmen  etwa  300  qkm  ein;  bei 
einer  mittleren  Tiefe  von  4  m  würde  ihnen  ein 
Volumen  von  1,2  cbm;  entsprechen,  das  Areal 
der  von  der  Eide  entwässerten  Seen  ist  etwa  das 
gleiche,  ihre  mittlere  Tiefe  dürfte  dagegen  eine 
größere  sein,  rund  6  m,  so  daß  sich  ihr  Volumen 
auf  1,8  cbm  beliefe. 

Die  Oberfläche  der  Seen,  welche  die  Sude 
entwässert,  kann  auf  40  qkm  veranschlagt  werden, 
ihr  Volumen  auf  rund  400  Millionen  cbm,  weil 
sich  unter  ihnen  der  relativ  tiefe  Schaalsee  befindet. 
Nimmt  man  das  Volumen  derjenigen  Seen,  die 
sich  noch  im  Zusammenhang  anderer  Nebenflüsse 
befinden,  zu  rund  100  Millionen  cbm  an,  so 
kommen  wir  zu  dem  Resultat,  daß  sämtliche  zum 
Eibgebiet  gehörigen  Seen  etwa  3V0  cbkm  fassen, 
also  soviel  wie  der  lac  de  Bourget  in  Savoyen, 
aber  mehr  als  doppelt  so  viel  als  das  Oberflächen- 
wasser des  Eibstromgebietes  bei  MW.  Die  Am- 
plitude des  Seevolumen  bei  MNW  und  MHW  habe 
ich  in  der  Tab.  I  auf  300  Millionen  cbm  ver- 
anschlagt. 

c.  Die  Wassermenge  des  Grundwassers. 

Wie  schon  mehrfach  betont,  sind  wir  für  Maß- 
bestimmungen des  Grundwassers  in  einem  Strom- 
gebiet in  der  Hauptsache  noch  lediglich  auf  mehr 
oder  vage  Vermutungen  angewiesen,  die  sich  auf 
nur  wenige  wirklich  verläßliche  Messungen  stützen. 
In  der  Tab.  1  habe  ich  für  die  verschiedenen 
Unterabteilungen  des  Eibgebietes  den  Anteil  des 
Grundwasser  führenden  Bodens  zum  Gesamtareal 
zu  schätzen  versucht  und  die  so  gewonnene 
Fläche  mit  dem  ein  und  halb  fachen  der 
Niederschlagsmenge  multipliziert.')  In  einer  in  der 
„Zeitschrift   für    die    gesammte   Wasserwirtschaft", 


')  Wenn  ich  in  den  Tabellen  nur  einen  gewissen  Prozent- 
salz des  betr.  Flufiareals  als  Grundwasser  führend  angesetzt 
habe ,  so  wollte  ich  damit  natürlich  nicht  die  Ansicht  aus- 
sprechen,  als  sei  das  übrige  Gebiet  überhaupt  ohne  Grund- 
wasser, sondern  wollte  nur  dadurch  andeuten,"  dafl  nur  in 
einem  gewissen  Teil  eines  Flußgebietes  die  vorhandene  Grund- 
wassermenge so  verteilt  ist,  daß  sie  Einlli 
des  Oberflächenwassers  gewinnen  kann. 


uf  di. 


io8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  8 


Tabelle  II. 
Nebenflüsse  der  Elbe. 


Name   des   Klusses 


I. 

Aupa 

2. 

Mottau 

3- 

Adler 

4- 

Iscr 

5- 

Moldau 

6. 

Maltsch 

7- 

I.uznitz 

8. 

Wottawu 

9- 

Sazawa 

lO. 

Beraun 

II. 

Eger 

12. 

Schwarze  Eist. 

'3- 

Mulde 

M- 

Saale 

■5- 

Unstrut 

i6. 

Weiße   lilstcr 

.7. 

Kode 

iS. 

Ohre 

19- 

Tanger 

20. 

Havel 

21. 

Spree 

22. 

Rhin 

23.  Oder-Spreekanul 

24.  Planer  u.  Ihlekanal 

25.  Stepenilz 

26.  .-Klaud 

27.  Lücknitz 

28.  Eide 

29.  Jeetzel 

30.  Seewe 

31.  Ilmenau 

32.  Stör 


79,2 
257,8 
103,4 
435 

94 

193,4 
114,4 
203 


433.6 
42t),8 
186,7 
246,7 
169 


87,6 
So,8 
79,5 
103,8 

74,2 
236,4 

81,5 

79.6 

106,; 
89,2 


300 

200 


200 
500 
200 


40 

110 

bei  Elsterwerda 

150 

600 

bei  Dessau 

80 

400 

bei   Kamburg 

40 

160 

bei   Artern 

50 

200 

bei  Meilitz 

20 

So 

bei   Quedlinburg 

20 

45 

bei  Meseberg 

15 

40 

100 

150 

bei   Brandenburg 

100 

180 

bei   Kosset.blatt 

27 

35 

bei  Alt-Ruppin 

50 

60 

bei  Osterburg 

20 

loo 

30 

45 

bei   Parchim 

35 

70 

ei   Langenhorst 

70 

120 

bei  Benitz 

20 

50 

30 

200 

Su. 

nmen 

MW 
Millionen   cbm 


7,3 
6  5 
34 

7,5 
12,5 

3,4 


0.5 
34 


7 
5 
72 
32 
220 
ly 
38 
56 
40 
66 
125 


260 
170 
30 


N.  I'.  XVI.  Nr.  S 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


t09 


VIII,  9  (191 3)  erschienenen  Arbeit  „der  Wasser- 
vorrat der  Erde"  hatte  ich  auf  GruiKl  von  Angaben, 
welche  Keilhack  in  seinem  bekannten  Lehrbuch 
der  Grundwasser-  und  Quellenkunde  gemacht  hat, 
die  im  Boden  des  Oberrheintals  aufgespeicherten 
Wasserschätze  auf  das  fünffache  der  jährlichen 
Niederschlagsmenge  angesetzt,  wobei  ich  mir 
keineswegs  verhehlte,  daß  wir  dort  einen  ganz 
besonders  günstigen  Ausnahmefall  vor  uns  haben, 
den  man  sich  schwer  hüten  muß  zu  verall- 
gemeinern. Immmerhiii  lassen  gewisse  Beo- 
bachtungen in  anderen  Gegenden  unseres  Vater- 
landes den  Schluß  zu,  daß  die  Grundwassermengen 
des  Bodens  die  jährlichen  Niederschlagsmengen 
erheblich  übertreffen  müssen  und  ich  hatte  sie  in 
dem  erwähnten  Aufsatz  auf  das  Doppelte  der 
betreffenden  Niederschlagsmenge  angenommen. 
Um  aber  ganz  sicher  zu  gehen,  habe  ich,  wie  oben 
gesagt,  sie  nur  auf  das  Anderthalbfache  des  jähr- 
lichen Niederschlags  angesetzt,  so  daß  man  also 
die  so  erhaltene  Grundwassermenge  wohl  als  ein 
Minimum  der  wirklich  vorhandenen  annehmen  darf. 
Man  erhält  auf  diese  Weise  als  Gesamtmenge 
des  im  Eibgebiet  vorhandenen  Grundwassers 
rund  41  cbkm,  ein  Volumen,  das  hinter  dem  des 
Bodensees  noch  erheblich  zurückbleibt,  die  jährliche 
Abflußmenge  der  Elbe  aber  beinahe  um  das 
Doppelte,  das  in  den  Seen  bei  MW  aufgespeicherte 
Wasser  um  das  Zwölffache,  das  eigentliche  Ober- 
flächenwasser des  Stromgebietes  selbst  bei  gleichem 
Wasserstande  aber  um  das  Zweiundvierzigfache 
überragt  und  man    ersieht  daraus  den  gewaltigen 


li,influß  des  Grundwassers  auf  den  Wasserhaushalt 
der  Elbe.  Auf  den  ersten  Blick  mag  die  Menge 
des  Grundwassers  übertrieben  hoch  erscheinen, 
sie  verliert  jedoch  das  Überraschende,  wenn  man 
sie  mit  den  Grundwassermengen  vergleicht,  welche 
man  für  andere  Flußgebiete  berechnet  hat. 
Friedrich  König,  der  bekannte  Hydrotekt 
und  Hydrograph,  berechnete  in  einem  Aufsatz, 
über  die  Wasserschätze  des  Rheins  in  der 
Zeitschrift  „das  Wasser",  daß  im  gesamten 
Rheingebiet  in  einem  Jahre  durchschnittlich 
rund  27  cbkm  Wasser  aufgespeichert  würden, 
wovon  23  cbkm  auf  Grundwasser  entfallen, 
Keil  hack  berechnet  die  allein  im  Oberrheintal 
zwischen  Basel  und  Mainz  aufgespeicherte  Grund- 
wassermenge auf  rund  37  cbkm,  König  dieselbe 
Menge  gar  auf  95  cbkm,  Beyschlag  und 
Wahnschaffe  veranschlagten  nach  einer  Mit- 
teilung des  Wasserbaudirektors  Eggert  auf  einem 
Verbandstage  deutscher  Ingenieure  in  Berlin  die 
in  der  Umgebung  von  Berlin  auf  einem  Areal 
von  etwa  4500  qkm  eine  Grundwassermenge  von 
rund  6  cbkm.  Letztere  Menge  würde  etwa  der 
zwei-  bis  dreifachen  Menge  des  jährlichen  dortigen 
Niederschlags   entsprechen. 

IL  Das  Odergebiet. 

Wir  können  uns  hier  wesentlich  kürzer  fassen, 
da  der  Grundgedanke  im  großen  und  ganzen  in 
der  gleichen  Weise  durchgelührt  wurde  wie  beim 
Eibgebiet. 


Tabelle  III 
Die  Odei 


Querschnitt 


Areal 

Volumen  ''^ 

Lj^npg  zugehörig.      Grundwasser 

MNW     MW    MHW  MNW     MW    MHW   Einzugs-  führend 

gebietes 
km  qm  Millionen   cbm  qkm  qkm     "„ 

1.  Oderquellgebiet  bis  zur  F.inmündung 

der  Olsa  132,7     20         50         200       2,6         4  26         5  <S23  630     12 

bei  Oderberg 

II.   Obere  Oder,  Oberlauf  bis  zur  Ein- 
mündung der  Glatzer  Neiße  144,1      25  So         350       3,6        II  50         7  Ö47  i  500     20 
bei  Kosel 

III.  Obere  Oder,  Unterlauf  bis  zur  Ein- 

mündung der  Weide  85,8     60        190         630       5,2        16  54        10930  3300     30 

bei  Ohiau 

IV.  Mittlere    Oder,    Oberlauf    bis    zur 

Einmündung  der  Obrzycko  202,5   iio       220         830     22  44         16S        15  510  7800     50 

bei  -Steinau 

V.  Mittlere    Oder,     Unterlauf    bis    zur 

Einmündung  der  Warthc  148,2    140       290      1000     20  45         150       67890  40000     bo 

bei  PoIIenzig 

IV.   Untere  Oder  bis  zum  Stettiner  HafI"    147,6  250       700      1200     38         100         170       10810  4  300     40 

bei  Hohensaathen 


Volum 

des 

Grundw. 

Millionen 

cbm 


Summen     92        225        620     118  610  61530     52 


30000 
3500 
46  000 


Naturwissenschaftliche  Wochenschriit. 


N.  F.  XVI.  Nr.  S 


a.  Das  ( )!>erflächen\vasser  der  ( )dcr. 

Die  Ermittelung  der  wahrscheinlichsten  Werte 
für  die  Querschnitte  des  Hauptstroms  und  der 
Nebenflüsse,  von  denen  28  in  Tab.  IV  aufge- 
nommen wurden,  unterlag  noch  größeren 
Schwierigkeiten  wie  beim  Eibstrom,  da  die  Quellen 
hier  nocli  spärlicher  fließen  als  dort. 

Der  Einteilung  des  Oderwerks  entsprechend, 
wurde  der  Hauptfluß  in  6  Abschnitte  eingeteilt, 
innerhalb  derer  die  Querschnitte  als  konstant  an- 
gesehen werden  mußten.     Die  Berechnung,  deren 


Resultate  die  Tab.  III  wiedergibt,  gestaltete  sicii 
insofern  einfacher,  als  bei  der  Elbe,  weil  der  Oder 
die  Gezeiten  fehlen,  welche  die  Volumen- 
berechnung des  untersten  Teiles  des  Eibstroms 
wesentlich  erschwerten. 

Das  Stettiner  Haft'  blieb  bei  der  Volumen- 
berechnung der  Oder  außer  Ansatz,  da  seine  3  Aus- 
flüsse nicht  als  Mündungsarme  der  Oder  anzusehen 
sind,  sondern  lediglich  als  Ausgleichsströmungen  der 
Wasserstände  des  Haffs  mit  der  Ostsee;  es  bildet 
also  einen  Teil  der  Ostsee,  nicht  einen  Teil  der 
Oder.      Würde    man    dasselbe    in    die    Rechnung 


Tabelle  IV. 
Nebenflüsse  der  Oder. 


Name  des  Flusses 

Lange 

MN\ 

km 

I 

Oppa 

273 

6 

2 

Ostrawitj 

93.5 

8 

3 

Olsa 

99 

6 

4 

5 

Zinn.i 
Klodnitz 

56,5 
84,. 

5 

6 

Klodnitr- 

•Can.al 

45,7 

12 

7 

HoUenplc 

tz 

124,4 

4 

8 

Malapane 

131 

4 

9 

Glatzer  N 

eiUe 

195.5 

12 

10 

Stober 

85 

2 

II 

Ohle 

100 

6 

12 

Lohe 

86,1 

0, 

13 

Weistritz 

249,6 

3 

14 

Weide 

110 

2 

15 

Katzbach 

89 

4 

16 

Bartsch 

«38,5 

3 

17 

Bober 

520 

7 

18 

Lausitzer 

Neiße 

256 

10 

19 

(Idcr-Spree-Kanal 
Friedrich-Wilhelm-Kanal 

43,8 

30 

1 

Obere 

411.3 

15 

20 

Warthe 

Mittlere 

259     1 

50 

1 

Untere 

91,7) 

21 

Netze      j 

Obere 
Untere 

173 
120 

16 
30 

22 

Prosna 

22g 

5 

23 

Welna 

117 

2 

24 

Obra 

295 

6 

25 

Küddow 

■  46,7 

12 

26 

Drage 

'95 

8 

27 

Fihnow-K 

anal 

46,1 

24 

2S 

Ihna 

128,1 

4 

MIIW 

M.WV 

MW 

MIIW 

Mill 

onen 

-bm 

60 

',5 

4 

ili 

100 

0,7 

2,8 

9 

So 

0,6 

2.5 

8 

5° 

0,3 

1,2 

2,8 

100 

0,7 

2,4 

S,4 

20 

0,6 

0.7 

0,9 

ÖO 

0.5 

'.5 

7.5 

50 

0,5 

1.3 

6,5 

300 

2.3 

0 

60 

20 

0,2 

0,5 

2 

80 

0,6 

!,(.. 

8 

80 

200 


18 
14 
4.7 

9 
15 


N.  F.  XVI.  Nr.  8 


N'atiirwisseiischaftliche  Wochenschrift. 


hineinbeziehen,  so  würde  man  zu  jraiiz  anderen 
Resultaten  gelangen,  als  die  Zahlen  der  Tab.  111 
angeben,  nimmt  doch  das  Stettiner  Haff  ohne  die 
Ausflüsse Dievenow,  Swineund  Peene,  nach  J.  Kres, 
Deutsche  Küstenflüsse,  Berlin  191 1,  ein  Areal 
von  rund  630  qkm  und  eine  mittlere  Tiefe  von 
4  m  gerechnet,  ein  Volumen  von  rund  2,5  cbkm 
ein,  d.  h.  zweimal  mehr  als  der  Hauptstrom  bis 
Hohensaathen  bei  MW  faßt. 

Das  Volumen  des  Hauptstronis  beträgt  bei 
den  geschilderten  Grenzen  bei  MNW  nur  19  v.  H., 
bei  MW  und  MHW  je  nur  24  v.  H.  des  ent- 
sprechenden Volumen  des  Eibstromes,  es  umfaßt 
bei  MNW  nur  ungefähr  das  Volumen  des  Wotsch- 
winsees,  bei  MW  des  Lübbesees  und  steht  selbst 
bei  MHW  noch  erheblich  hinter  dem  des  Madüsees 
zurück.  Die  zum  Vergleich  herangezogenen  Seen 
liegen  sämtlich  in  Pommern  und  gehören  zum 
Flußgebiet  der  Oder. 

Bei  der  V^olumenberechnung  der  haupt- 
sächlichsten Nebenflüsse,  deren  Resultat  die 
Tab.  IV  wiedergiebt,  sind  wiederum,  wie  bei  der 
Elbe,  bei  denjenigen  Flüssen,  die  aus  mehreren 
annähernd  gleichlangen  Quellflüssen  sich  zusammen- 
setzen, diese  sämtlich  in  Betracht  gezogen.  Da- 
durch erklären  sich  die  sonst  auffallig  hohen 
Zahlen  für  die  Flußlängen  der  Oppa,  Hotzenplotz, 
Weistritz,  des  Bober  und  der  Obra,  deren  ver- 
schiedene Kanalsysteme  eine  Addition  er- 
fuhren. 

An  Wasserreichtum  steht  selbstverständlich  die 
Warlhe  allen  ihren  Rivalen  weit  voran,  an  zweiter 
Stelle  steht  die  Lausitzer  Neiße,  an  dritter  der 
Bober  mit  Einschluß  der  Queis  und  anderer  Zu- 
flüsse. Das  Gesamtvolumen  der  Nebenflüsse  bei 
MHW  steht  hinter  den  entsprechenden  des  Haupt- 
stroms nicht  wesentlich  zurück,  beträgt  jedoch  bei 
MN\\'  und  MW  nur  etwa  60  v.  H.  der  ent- 
sprechenden Menge  beim  Hauptstrom.  Für  das 
Volumen  der  kleinen  hier  nicht  besonders  an- 
geführten Neben-  und  Zuflüsse,  wurde  nach  bestem 
Ermessen  soviel  in  Rechnung  gestellt,  daß  ich 
als  das  Gesamtvolumen  des  Oberflächenwassers 
des  Oderstromes  die  runde  Summe  170  bzw.  420 
bzw.  1300  Millionen  cbm  erhielt,  d.  i.  je  24 
bzw.  28  bzw.  29  v.  H.  der  entsprechenden  Volumina 
des  Eibstroms.  Selbst  bei  MHW  übertrifft  also 
das  Odervolumen  dasjenige  des  Mauersees  in  Ost- 
preußen nur  um  etwa  30  v.  H.,  bei  MW  kommt 
es  etwa  dem  des  Dratzigsees  gleich,  bei  MNW 
bleibt  es  noch  ansehnlich  hinter  dem  Volumen 
des  Gr.  Lübbesees  zurück. 


b.  Das  Wasser  der  Seen  des  Odergebietes. 

Von  den  Nebenflüssen  der  Oder  besitzen  die 
Bartsch,  Warthe,  Netze,  Welna,  Obra,  Küddow, 
Drage  und  Ihna  Seen,  jedoch  in  sehr  verschiedenem 


Umfang,  dazu  kommt  noch  der  Dammsche  See, 
welcher  mit  dem  Hauptfluß  unmittelbar  im  Zu- 
sammenhang steht.  Das  Bartschgebiet  umfaßt 
Teiche  mit  einem  Areal  von  ungefähr  80  qkm 
und  einem  Wasservolumen  von  höchstens 
60  Millionen  cbm,  das  Seengebiet  der  oberen 
Netze  veranschlagt  das  Oderstromwerk  auf  loi  qkm, 
das  der  Küddow  auf  iiS  qkm,  das  der  Drage  auf 
100  qkm.  Die  Oberfläche  der  Seen  der  mittleren 
und  oberen  Warthe  schätze  ich  auf  50  qkm,  auf 
etwa  ebensoviel  je  das  der  Obra  und  Welna,  auf 
100  qkm  das  der  Ihna  und  der  kleinen  Zuflüsse 
der  Oder.  Zusammen  mögen  die  an  die  Oder 
angeschlossenen  natürlichen  Seen  550—600  qkm 
umfassen,  deren  Volumen  bei  der  rel.  bedeutenden 
Tiefe  mehrererSeen  Hinterpommerns  auf  mindestens 
3V.2  cbkm  zu  schätzen  ist.  Dazu  kommt  noch 
der  Dammsche  See  mit  einem  Volumen  von 
etwa  0,3  cbkm ,  so  daß  die  Wassermenge  sämt- 
licher Oderseen  rund  4  cbkm  betragen  mag, 
also  absolut  genommen  nur  etwas  mehr,  als  die 
Wassermenge  der  Eibseen.  Im  Verhältnis  aber 
zu  dem  im  freien  Flußs\-stem  aufgespeicherten 
Wassermengen  ist  ihr  Anteil  erheblich  größer  als 
beim  Eibstrom,  denn  sie  übertrifft  bei  MW  die- 
jenige des  Hauptstromes  um  mehr  als  das  26  fache 
und  die  des  ganzen  Stromsystems  um  mehr  als 
das   14  fache. 

Die  Seen  der  Warthe  mit  ihren  Nebenflüssen 
entsprechen  ungefähr  denen  der  Havel  und  der 
Spree;  hier  wie  dort  liegt  in  ihnen  ein  nicht 
unbeträchtlicher  Teil  des  gesamten  Grundwassers 
aufgespeichert,  das  sie  in  der  Hauptsache  er- 
nährt. 


c.  Die  Grundwassermenge  des  Odergebietes. 

Über  die  Berechnungsweise  habe  ich  mich 
bereits  oben  bei  der  entsprechenden  Berechnung 
des  Grundwassers  im  Eibstrom  ausgesprochen; 
ihr  Volumen  läßt  sich  auf  46  cbkm  schätzen,  d.  i. 
absolut  etwas  mehr  als  bei  der  Elbe,  noch  weit 
schwerwiegender  aber  im  Verhältnis  zu  den  übrigen 
Wasserschätzen  des  räumlich  erheblich  kleineren 
Flußgebietes.  Sie  kommt  dem  Volumen  des 
Bodensees  nahezu  gleich. 

Für  die  größere  Grundwassermenge  gegenüber 
dem  Eibgebiet  ist  unstreitig  ausschlaggebend  der 
größere  Einfluß  der  Urstromtäler  der  Eiszeit, 
welche  bei  der  Oder  schon  am  oberen  Teil  des 
Mittellaufes  ihre  Wirkung  zeigen  und  namentlich 
auch  das  Flußgebiet  des  größten  Nebenflusses, 
der  Warthe,  fast  vollkommen  beherrschen,  während 
er  sich  im  Eibgebiet  in  der  Hauptsache  erst  vom 
unteren  Teil  des  Mittellaufes  ab  geltend  macht 
und  dann  besonders  im  Havelgebiet  zum  Ausdruck 
kommt,  das  sich  aber  an  .Ausdehnung  und  Mächtig- 
keit mit  dem  Warthegebiet  in  keiner  Weise 
messen  kann. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


XVI.  Nr.  8 


Wassermenge  des  Hauptstromes 
Wassermenge  der  größeren  Nebenflüsse 
Wassermenge  der  kleineren  Nebenflüsse 
Gesamtwassermenge  des  fließenden  Stromes 
Wassermenge  der  angeschlossenen  Seen 
Gesamtwassermenge  des  Oberflächenwassers 
Wassermenge  des  Grundwassers 


Elbe 

Oder 

MNW 

M\\ 

MHW 

Millionen 

MNW 
cbm 

MW 

MHW 

490 

950 

2600 

92 

225 

62c 

150 

370 

I  440 

56 

140 

540 

60 

iSo 

460 

22 

55 

iSo 

700 

I  500 

4500 

170 

420 

1300 

3  200 

3500 

3  800 

3500 

3800 

4  100 

3900 

5000 
41  000 

8300 

3670 

4220 
46000 

(Gx:) 

5400 

Einzelberichte. 


Botanik.  Einwanderung  einer  amerikanischen 
Pflanze  nach  Norwegen.  Der  norwegische  Bota- 
niker Rolf  Nordhagen  berichtet  (Nyt  Magazin 
for  Naturvidenskaberne)  über  eine  Pflanze,  die 
bisher  in  Europa  nur  von  einer  Fundstelle  her 
bekannt  und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  aus 
den  Vereinigten  Staaten  eingewandert  ist.  Es 
handelt  sich  um  eine  kleine,  unansehnliche  Strand- 
pflanze, Ranunculus  cymbalaria,  Pursh,  die  an  der 
nordamerikanischen  Ostküste  zwischen  Labrador 
und  New  Jersey,  ferner  in  Südamerika  und  in 
Innerasien  vorkommt.  Im  Sommer  des  Jahres 
1916  entdeckte  Nordhagen  sie  zufällig  am 
Strande  von  Asmal,  einer  kleinen  Insel  im 
Kristianiafjord.  Dort  wächst  sie  in  einer  großen, 
üppig  gedeihenden  Kolonie,  da  ihr  die  Lebens- 
bedingungen anscheinend  vortrefiflich  zusagen. 
Nordhagen  ist  der  Frage  nachgegangen,  wie 
dies  vereinzelte  Auftreten  der  Ranunculusart  zu 
erklären  sei,  und  er  ist  zu  einer  Antwort  gelangt, 
die  sicher  befriedigt.  Daß  es  sich  um  ein  Eiszeit- 
relikt handelt,  ist  wegen  der  Lage  des  Fundortes 
höchst  unwahrscheinlich.  Fast  sicher  ist,  daß  es 
sich  um  eine  Einwanderung  in  jüngster  Zeit 
handeln  muß.  Die  amerikanische  Herkunft  ist 
das  Wahrscheinlichere,  anderenfalls  müßte  man 
Verschleppung  durch  Vögel  aus  Asien  annehmen, 
und  in  diesem  Falle  wäre  es  auffallend,  daß  der 
Fundort  so  weit  westlich  liegt,  während  kein 
anderer,  weiter  östlich  gelegener  bekannt  geworden 
ist.  Nimmt  man  die  Einwanderung  aus  Nord- 
amerika an,  so  kommt  der  Wind  als  Überträger 
kaum  in  Betracht;  da  die  Fundstelle  abseits  vom 
Verkehr  liegt  und  nur  Lokaldampfer  Asmal  be- 
rühren,   scheidet   auch    die    Einschleppung    durch 


Verkehrsmittel  aus,  und  falls  es  sich  nicht  um 
absichtliche  Anpflanzung  durch  einen  Liebhaber  — 
man  denke  an  die  Verbreitung  von  Linaria 
cymbalaria  durch  den  Dichter  und  Naturfreund 
Heinrich  Seidel!  —  handelt,  muß  der  Golf- 
strom Samen  der  eingewanderten  Pflanze  an  Algen 
oder  frei  im  Wasser  an  die  Insel  gespült  haben, 
was  ein  Beweis  für  die  große  Widerstandskraft 
der  Samenkörner  dieser  Pflanze  gegen  Salzwasser 
wäre.  Daß  der  Golfstrom  wirklich  Früchte  und 
Samenkörner  an  die  jütische  und  skandinavische 
Küste  trägt,  haben  besonders  Lind  man  und 
Sernander  nachgewiesen.  Daß  die  Samen- 
körner gerade  nach  Asmal  gelangt  sind,  muß  als 
Zufall  aufgefaßt  werden.  Durchaus  wahrscheinlich 
ist  es  auch,  daß  die  neuaufgefundene  Hahnenfußart 
auch  auf  der  einen  oder  der  anderen  der  vielen 
Inseln  an  der  skandinavischen  Küste  Fuß  gefaßt 
hat,  die  botanisch  durchaus  nicht  alle  durchforscht 
sind.  H.  P. 


Literatur. 


Rult 
weit.  522 
1,25  M. 

Sachs,    Prof.    Dr.   H.,    Bau    und    Tätigkeit  des    mensc: 


,   W.  J.,   Berufswahl.     Aus  Natur  und  Geistes- 
Leipzig   und  Berlin  '16,    B.  G.  Teubner.    — 


liehen  Köi 


per; 


Einführ 


die  Physiologie  des  Menschen 


4.  Aufl.     Mit  34  Textabbildungen,  ebenda.   —   1,25  M, 

Kossmat,  Prof  Dr.  Fr.,  Paläogeographie.  (Geologische 

Geschichte  der  Meere  und  Festländer.)    2.  neubearbeitete  Aufl. 

Mit    6    Karten.      Berlin    und    Leipzig     16,    G.  J.   Göschensche 

Verlagshandlung.    -    I    M. 

Hoffmeister,    C,    Kurze    Einführung    in    die    Wunder 

am  Sternenhimmel.     Für  nächtliche  Wanderer,  unsere  Jugend 

und    unsere    Soldaten    mit   Rücksicht   auf   den    Gebrauch    des 

Feldstechers.     Mit   i   Tafel.     Bamberg  '16,  C.   C.  Buchner.  — 

0,50  M. 


Inhaltt  K.  Müller,  Angewandte  Botanik.  S.  97.  W.  Halb  faß,  Die  im  Elb-  und  Oderstromgebiet  vorhandene  Wasser- 
menge. S.  105.  —  Einzelberichte:  H.  Pander,  F.inwanderung  einer  amerikanischen  Pflanze  nach  Norwegen.  S.  I!2.  — 
Literatur:  Liste  S.   112. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,   Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  4.  März  1917. 


Nummer  9. 


Relativität  und  Gravitation. 


[Nachdruck  verboten.] 

I.  Absolute  und  relative  Bewegung. 
Wir  befinden  uns  in  einem  von  zwei  Eisenbahn- 
ziigen,  die  auf  einem  Bahnhofe  halten.  Langsam 
setzt  sich  der  eine  Zug  in  Bewegung.  Niemand 
von  uns  kann  genau  sagen,  welcher  Zug  es 
eigentlich  ist.  Wir  pflegen  in  solchem  Falle 
instinktiv  nach  der  anderen  Seite  hinauszuschauen, 
um  an  den  feststehenden  Bahnhofsgebäuden  zu 
entscheiden,  welcher  Zug  sich  in  Bewegung  ge- 
setzt hat.  Diesen  Tatsachen  liegt  das  Prinzip 
zugrunde,  daß  man  die  Bewegung  eines  Systems 
nur  mit  Zuhilfenahme  von  Punkten,  die  außerhalb 
dieses  Systems  liegen,  feststellen  kann  und  nur 
die  Bewegung  in  bezug  auf  diese  messen  kann. 
Dazu  noch  einige  Beispiele:  Wir  befinden  uns  in 
einem  Ruderboot  auf  einer  Wasserfläche,  die  irgend- 
eine Strömungsrichtung  hat.  Ufer,  Sterne,  Grund, 
Wind  sollen  nicht  vorhanden  sein.  Ist  es  dann 
möglich,  durch  irgendwelche  Hilfsmittel  im  Boot, 
etwa  die  Ruder,  festzustellen,  wohin  das  Wasser 
strömt?  Viele  Menschen,  denen  ich  diese  Frage 
vorlegte,  bejahten  zunächst.  Sie  glauben,  es  sei 
schwerer  gegen  den  Strom  als  mit  dem  Strom 
zu  rudern.  Doch  wenn  man  sich  klar  macht, 
daß  das  Boot  in  bezug  auf  die  umgebende  Wasser- 
masse in  Ruhe  ist  und  es  nun  gleichviel  Arbeit 
erfordert,  das  Boot  nach  irgendeiner  Seite  hin  in 
bezug  auf  die  es  umgebenden  Wassermoleküle  zu 
verschieben,  so  ist  einzusehen,  daß  man  die  Frage 
verneinen  muß.  Man  muß  nur  fähig  sein,  von 
den  außerhalb  liegenden  Punkten,  also  namentlich 
dem  Ufer,  völlig  abzusehen.  Ist  jemand  durch 
diese  Beweisführung  noch  nicht  überzeugt,  so 
möge  er  sich  überlegen,  daß  es  im  anderen 
Falle  ja  auch  schwieriger  sein  müßte,  in  einem 
gleichmäßig  fahrenden  Kisenbahnzuge  nach  vorn 
zu  gehen  als  nach  hinten,  oder  auf  der  Erde 
müßte  man  nach  Osten  schwerer  vorwärts  kommen 
als  nach  Westen.  Die  Antwort:  Es  ist  schwerer 
gegen  den  Strom  zu  rudern  als  mit  ihm,  ist  also 
nicht  richtig.  Das  Wort  „Strömung"  hat  eben, 
wenn  kein  weiteres  Bewegungssystem  vorhanden 
ist,  gar  keinen  Sinn. 

Da  man  also  eine  Bewegung  immer  nur  re- 
lativ zu  gewissen  äußeren  Punkten  feststellen  kann, 
ist  es  unmöglich,  eine  absolute  Bewegung  fest- 


Von  P.  Riebeseil  in  Ilamljurg. 
Mit  2  Abbildungen  im  Text. 

zustellen,    relativ  zu  einem    ab.solut  ruhenden  Ko- 


Eins 


Für     weitergehende     Studien      sind      zu     empfehlen: 
n,    Die   Grundlage    der    allgemeinen    Relativitäts- 
theorie,  Leipzig  1916;   K.   Freundlich,   Die  Grundlagen  der 
Berlin  1916;    M.  Born, 
der    allgemeinen 


ilhcorii 


Ein  st  ein  sehen  Gravitation 
Einsteins    Theoiie    der    Gravitation 
Relativität,  Phys.  Zeitschr.   1916. 


ordinatensystem,  das  ich  ja  auf  keine  Weise  irgend- 
wo fixieren  kann. 

Kann  ich  nun  aber  absolute  Bewegung  nicht 
feststellen,  so  darf  diese  unbekannte  Größe  auch 
in  den  Naturgesetzen  nicht  vorkommen,  es  muß 
ganz  gleichgültig  sein,  wie  sich  unser  Koordi- 
natensystem, auf  das  ich  die  Erscheinungen  be- 
ziehe, gegen  irgendein  anderes  bewegt.  Für  eine 
gewisse  Art  von  Bewegungen  scheint  dies  richtig 
zu  sein:  nämlich  für  alle  geradlinig  gleich- 
förmigen. Die  Geschwindigkeit  der  Erde  zu 
einem  absoluten  Raum  spielt  in  der  Mechanik 
niemals  eine  Rolle,  ja  wir  wissen  auch  seit 
Galilei  und  Newton,  daß  alle  mechanischen 
Vorgänge  ganz  gleichartig  verlaufen,  wenn  ich 
sie  von  verschiedenen  Systemen  aus  betrachte, 
wenn  nur  diese  Systeme  in  geradlinig  gleich- 
förmiger Bewegung  gegeneinander  begriffen  sind. 
Erst  wenn  Beschleunigungen  auftreten,  ändern 
sich  diese  Verhältnisse.  Diese  Anschauungen 
haben  durch  das  alte  Trägheitsgesetz  und 
den  Satz:  Kraft  =  Masse  mal  Beschleunigung 
ihre  F"ormulierung  erhalten.  Man  kann  sie  auch 
als  das  Galileische  Relativitätsprinzip 
bezeichnen. 

Alle  neueren  Erweiterungen  folgen  mit  Not- 
wendigkeit aus  dieser  Grundlage,  alle  Gegner 
der  neueren  Ergebnisse  sind  sich  über  die  Be- 
deutung des  alten,  lange  anerkannten  Prinzips 
und  über  die  ihm  zugrunde  liegenden  Forderungen 
nicht  klar  geworden. 

2.  Relativität  und  Äther. 

Während  in  der  Mechanik  das  so  definierte 
Relalivitätsprinzip  allgemeine  Geltung  zu  haben 
schien,  traten  in  der  Optik  Schwierigkeiten  auf 
Hier  kommt  zu  zwei  Systemen  immer  ohne  unser 
Zutun  als  drittes  der  Äther  hinzu.  Habe  ich 
also  zwei  verschiedene  Systeme  oder  Laboratorien 
S  und  S, ,  die  in  einer  gleichförmigen  Translation 
gegeneinander  begriffen  sind,  so  kann  das  eine 
in  bezug  auf  den  Äther  ruhen,  während  das 
andere  sich  bewegt.  Es  streicht  also  durch  das 
eine  ein  Ätherwind,  und  dieser  könnte  an  den 
optischen  oder  auch  elektromagnetischen  Er- 
scheinungen meßbar  werden.  So  müßte  z.  B.  die 
Geschwindigkeit  des  Lichts  nach  verschiedenen 
Himmelsrichtungen  auf  der  Erde  eine  verschiedene 
sein.  Denn,  fassen  wir  das  Licht  als  von  der  Licht- 
quelle in  den  Äther  ausgesandte  Boten  auf,  so  müßten 
diese  schneller  vorwärts  kommen,  wenn  die  Erde 


H 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


ihnen  entgegenkommt,  während  sie  in  bezug  auf 
die  Erde  langsamer  vorwärtskommen,  wenn  diese 
gleichsam  unter  ihren  Füßen  wegläuft.  Die  Be- 
wegung der  Erde  um  die  Sonne,  die  wir  als 
schnellste  Bewegung  (etwa  30  km  in  der  Sekunde) 
zur  Verfügung  haben,  müßte  also  auf  die  optischen 
Erscheinungen  von  Einfluß  sein.  Natürlich  wird 
dieser  Einfluß  schwer  zu  beobachten  sein.  Denn, 
man  kann  sich  leicht  vorstellen,  daß  er  haupt- 
sächlich von  dem  Verhältnis  der  Erdgeschwindig- 
keit zur  Lichtgeschwindigkeit  abhängt.  Da  dieses 
Verhältnis  nun  sehr  klein  ist  (v  ;  c  =  30:  300  000, 
d.  h.  v:  c=  I  :  loooo)  und  sich  außerdem  zeigen 
läßt,  daß  erst  die  zweiten  Potenzen  von  v :  c  in 
Frage  kommen,  so  ist  klar,  daß  der  Effekt  nur 
schwer  feststellbar  ist.  Es  hat  sich  aber  ein  Ver- 
such anstellen  lassen,  bei  dem  auch  Größen  zweiter 
Ordnung  im  Bereich  der  Beobachtungsmöglichkeit 
lagen,  das  ist  der  Michelsonsche  Versuch, 
der  nun  beschrieben  werden  soll. 


3.  Der  Michelsonsche  Versuch. 

Es  handelt  sich  um  einen  Versuch,  der  die 
Veränderung  der  Lichtgeschwindigkeit  mit  der 
Richtung  zeigen  sollte.  Es  ist  eigentlich  der  be- 
kannte Fizeausche  Versuch,  nur  daß  zwei 
Richtungen  gleichzeitig  unter  sucht  werden.      Ist 


'^A       A, 


in,  der  Abb.  I  AB  in  Richtung  der  Erdbewegung 
aufgestellt  und  AC  senkrecht  dazu,  außerdem 
AB  =  AC  =  a,  so  sollen  die  Zeiten  betrachtet 
werden,  die  das  Licht  zu  den  Wegen  ABA  und 
ACA    gebraucht.     Für    den    Weg    AB    wird    die 


c  -j-  v' 


Der  Gesamtweg  ist  also: 

.        a      2ac      2a 

■v        c-j-v        c^  —  v^  c 


„  Vernachlässigen  wir  Glieder  höherer  Ordnung  als 

die  zweiter  in      ,  so  ist  die  Zeit  t.  =  2  -  ( i  -i — --). 
c  '  c  \         c-  / 

Für  die  Berechnung  der  Zeit  t,  ist  zu  be- 
achten, daß  der  Lichtstrahl  den  Spiegel  C  treffen 
wird,  wenn  dieser  sich  etwa  in  Cj  befindet.  Dann 
ist  die  resultierende  Geschwindigkeit  in  Richtung 

Aj  Cj   gegeben  durch  }c-  —  v-.       Dadurch      wird 
2a        _  2a  _     a  /         I  v-\ 

^2    =     Y^ISyi'  -         -l/^^~~  ^    C     '/  +   7  C^l' 

'7  '    ^ 

wenn    wir    wieder    die  Glieder    höherer    Ordnung 
weglassen. 

Der  Zeitunterschied  ist  also 


Dieser  Zeitunterschied  müßte  sich  nun  bei 
Drehung  des  Apparates  ändern  und  dadurch  an 
Interferenzen  nachweisen  lassen.  Alle  Versuche 
haben  aber  ein  negatives  Resultat  gehabt.  Der 
Ätherwind  scheint  also  gar  nicht  zu  existieren. 

Um  dieses  merkwürdige  Resultat  zu  erklären, 
gibt  es  mehrere  Möglichkeiten: 

1.  Es  gibt  keinen  ruhenden  Äther,  sondern 
dieser  wird  von  jedem  bewegten  Körper  mit- 
geführt. 

2.  Wenn  das  Licht  aus  fortgeschleuderten 
Teilen  besteht,  so  haben  diese  außer  der  Ge- 
schwindigkeit c  noch  die  Geschwindigkeit  der 
Lichtquelle,  und  dann  wäre  die  Geschwindigkeit 
des  Lichts  von  seiner  Richtung  und  von  der  Be- 
wegung der  Lichtquelle  abhängig.  Interferenzen 
brauchten  in  diesem  Falle  nicht  aufzutreten. 
Leider  lassen  sich  beide  Annahmen  mit  ver- 
schiedenen astronomischen  Tatsachen  nicht  ver- 
einbaren, und  so  bleibt  nur  die  folgende  Mög- 
lichkeit übrig. 

3.  Die  Strecke  AB  hat  sich  verkürzt.  Inwie- 
weit diese  Verkürzung  nur  eine  scheinbare  ist, 
soll  später  gezeigt  werden. 

4.  Die  geometrischen  Transformationen. 

Das  Eigentümliche  an  Einsteins  Schluß- 
weise ist,  daß  er  den  Mich elson sehen  Versuch 
an  die  Spitze  stellt  und  nun  die  Forderung  er- 
hebt: Ich  muß  die  Raum-  und  Zeitmessungen 
bei  bewegten  Systemen  so  einrichten,  daß  der 
M  i  c  h  e  1  s  o  n  sehe  Versuch  gar  keinen  Erfolg 
zeigen  kann.  Wie  muß  ich  das  machen.'  Ich 
brauche  nur  zu  verlangen,  daß  in  jedem  bewegten 
System  die  Lichtgeschwindigkeit  dieselbe,  gleich  c, 
ist,  dann  können  Abweichungen,  die  heim 
Mich  eis  onschen  Versuch  erwartet  werden, 
gar  nicht  auftreten.  Das  heißt  aber  weiter  nichts, 
als  daß  die  Uhrenregulierung,  d.  h.  die 
Definition  der  Zeit,  in  jedem  System  unabhängig 
vom  anderen  geschehen  soll,    nur    nach  der  Vor- 


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Naturwisscnschaftliclie  Wochenschrift. 


aussetzung,  claß  das  Licht  in  einer  Sekunde  nacli 
allen  Richtungen  c  =  300000  km  zurücklegen  soll. 
Um  dies  noch  klarer  zu  machen ,  wollen  wir 
etwas  weiter  ausholen. 

Ist  in  Abb.  2  die  P^ntfernung   zweier    benach- 
barter Punkte  ds,   ein  sogenanntes  IJnienelement, 
zu  berechnen,  so  ergibt  sich 
(i)  ds- =  dx2  +  dy-, 

wenn  dx  und  dy  die  Unterschiede  der  Koordi- 
naten Xj ,    y^  von  Xj ,  y^  "angeben.      Es    ist    nun 


ganz  gleichgültig,  welches  System  ich  zur  Be- 
rechnung von  ds  zugrunde  lege.  Nehme  ich  z.  B. 
das  System  x',  y',  das  gegen  x,  y  gedreht  ist,  so 
ergibt  sich : 

ds-  =  dx'-  -f  dy'-. 

Ebenso  könnte  ich  das  x,  y-System  beliebig 
verschieben.  Dasselbe  würde  natürlich  sein,  wenn 
ich  das  Koordinatensystem  fest  lasse  und  die 
Strecke  ds  beliebigen  Verschiebungen  oder  Dre- 
hungen unterwerfe.  Die  Strecke  ändert  ihre  Länge 
nicht.  Das  scheint  selbstverständlich  zu  sein.  Es 
ist  aber  nötig,  auf  diese  Voraussetzung,  die  wir 
über  die  Beschaffenheit  unseres  Raumes  machen, 
besonders  aufmerksam  zu  machen.  Was  wir  hier 
von  Strecken  behauptet  haben,  gilt  auch  von 
Figuren,  es  sind  das  die  Voraussetzungen,  die  wir 
bei  allen  Kongruenzsätzen  unserer  Geometrie 
machen :  Die  Figuren  lassen  sich  ohne  Verände- 
rung beliebig  verschieben.  Wichtig  ist,  daß  diese 
Eigenschaft  der  Unveränderlichkeit  des  Linien- 
elementes nicht  nur  in  der  Ebene,  sondern,  wie 
Gauß  gezeigt  hat,  auf  allen  Flächen  konstanten 
Krümmungsmaßes  erhallen  bleibt.  So  kann  ich 
ein  einmal  auf  einer  Kugel  gezeichnetes  Dreieck 
ohne  Änderung  an  eine  beliebige  Stelle  der 
Kugel  verschieben,  während  ich  das  beispielsweise 
auf  einer  eiförmigen  Fläche  nicht  kann.  Ebenso 
bleibt  das  Linienelement  in  seiner  Länge  erhalten, 
wenn  ich  von  einer  Fläche  zu  einer  anderen  auf 
ihr  abwickelbaren  übergehe.  Beispielsweise  kann 
ich  ein  Blatt  Papier  auf  einen  Zylinder  abwickeln, 
ich  kann  auch  das  Papier  zerknittern,  die  Längen 
bleiben  dieselben.  Ich  kann  aber  das  Stück  Papier 
nicht  lückenlos  auf  einer  Kugel  abwickeln. 


Bei  all  diesen  Übergängen  von  einem  System 
zum  anderen  bleibt  das  Linienelement  unver- 
änderlich, oder  wie  man  sagt,  invariant.  Da 
nun  zwischen  den  Koordinaten  des  einen  Systems 
X,  y  usw.  und  denen  des  anderen  Systems 
x',  y'  usw.  leicht  ableitbare  Beziehungen  bestehen, 
sogenannte  Transformationsgleichungen,  so  müssen 
diese  so  beschaffen  sein,  daß  wenn  in  den  Aus- 
druck für  ds  statt  der  dx  usw.  die  Größen  des 
gestrichenen  Systems  eingeführt  werden,  der  Aus- 
druck im  gestrichenen  System  dieselbe  Form  hat 
wie  im  ungestrichenen.  Das  ist  nun  aber  nicht 
nur  für  das  Linienelement  der  Fall ,  sondern  für 
alle  geometrischen  Eigenschaften  und 
auch  für  die  Naturgesetze.  Wir  wissen  seit 
Kopernikus,  daß  es  kein  oben  und  unten, 
kein  rechts  und  links  mehr  gibt,  d.  h.,  daß  das 
Relativitätsprinzip  für  den  Raum  absolut  gültig 
ist.  Die  Naturgesetze  bleiben  invariant,  d.  h. 
wahren  ihre  Form,  von  welchem  der  zueinander 
ruhenden    Raumysteme    ich    sie    auch    betrachte. 

5.  Die  Galilei -Transformation. 

Wie  ist  es  nun  aber,  wenn  die  Systeme  in 
Bewegung  gegeneinander  sind  ?  Stellen  wir 
uns  wieder  zwei  Laboratorien  vor,  die  zunächst 
in  gleichförmiger  Translation  gegeneinander  be- 
griffen sind.  Das  in  bezug  auf  A  ruhende  Ko- 
ordinatensystem ,  in  dem  A  die  Vorgänge  der 
Natur  beschreibt,  sei  x,  y,  z,  die  Zeit  t.  Die  ent- 
sprechenden Werte  in  B  seien  x',  y',  z',  t'.  Be- 
wegt sich  nun  B  mit  gleichförmiger  Geschwindig- 
keit V  längs  der  X-Achse  des  Systems  A,  so  daß 
die  X'-Achse  in  die  Richtung  der  X  Achse  fällt, 
und  die  Y'-  bzw.  Z'-Achse  den  Achsen  in  A 
parallel  bleiben,  so  gelten  die  Transformalionen : 
(2)         x'  =  X  —  vt,  y'  =  y,  z'  =  z,  t'  =  t. 

Diese  Transformationsgleichungen  sind  seil 
Galilei  die  Grundlage  der  Mechanik.  Die  Natur- 
gesetze bleiben  invariant,  wenn  man  mit  Hilfe 
dieser  Gleichungen  von  einem  System  zum  anderen 
übergeht.  Das  wichtigste  Merkmal  der  Gleichungen 
ist,  daß  die  Zeit  in  allen  Systemen  dieselbe  bleibt. 
Ist  also  in  einem  die  Zeit  so  definiert,  daß  das 
Licht  in  einer  Sekunde  c  Meter  zurücklegt,  so 
gilt  die  gleiche  Definition  nicht  mehr  in  einem 
zweiten.  Lasse  ich  z.  B.  zur  Zeit  Null  einen 
Lichtstrahl  von  A  ausgehen,  so  zeigt  die  Uhr  in 
B,  wenn  der  Lichtstrahl  dort  angekommen  ist, 
AB 

die  Zeit .      Denke    ich    mir    nun    als    zweites 

c 

Laboratorium  ein  Luftschiff,  das  von  A  aus  nach 
B  fährt,  so  könnte  dieses  seine  Uhren  nicht  nach 
derselben  Definition  stellen ,  es  müßte  vielmehr 
seine  Uhren  nach  den  gerade  unter  ihm  befind- 
lichen des  Systems  A  regulieren,  denn  in  bezug 
auf  das  Luftschiff  würde  sich  ja  die  Lichtwelle 
ganz  anders  ausbreiten.  Welches  System  ist  nun 
aber  das  zu  bevorzugende?  Wir  sehen,  daß  wir 
hier   an  einer   bedeutsamen  Schwäche  der  früher 


ii6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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stets  als  richtig  angesehenen  Galilei-  Iransfornia- 
tion  angelangt  sind.  Die  Zeitdefinition  ist  in- 
konsequent. Wegen  der  Größe  der  Lichtge- 
schwindigkeit sind  die  Abweichungen  allerdings 
nicht  hervorgetreten,  aber  in  der  Optik  und 
Elektrodynamik  zeigte  sich,  daß  die  Maxwell- 
schen  Gleichungen  der  Galilei -Transformation 
gegenüber  nicht  invariant  sind. 

6.    Die  Lore  ntz-Transformation. 

Die  Frage,  wie  die  allgemeinen  Transforma- 
tionsgleichungen für  eine  gleichförmige  Trans- 
lation beschaffen  sein  müssen,  hat  zuerst  Lorentz 
beantwortet.  Bewegt  sich  wieder  das  gestrichene 
System  in  derselben  Weise  wie  im  vorigen  Ab- 
schnitt, und  setzt  man  fest,  daß  die  Zeiten  unab- 
hängig voneinander  nach  irgendeinem  vorher  fest- 
gesetzten Modus  definiert  werden,  so  ergeben  sich 
folgende  Gleichungen : 

k- I 

(3)    x'=k(x— vt),y'  =  y,z'  =  z,t'=k(t—        .,    -x), 

wo  k  eine  Größe  bedeutet,  die  mit  einer  Kon- 
stanten n  durch  die  Gleichung 

verknüpft  ist. 


n  muß  als  universelle  Raumkonstante  bezeichnet 
werden,  da  sie  rein  durch  die  mathematische 
Operation  der  Aufstellung  der  Transformations- 
gleichungen auftritt,  somit  von  keiner  physi- 
kalischen Erscheinung  abhängig  ist.  Um  den 
Zahlenwert  von  n  zu  bestimmen,  kann  man  ent- 
weder irgendeine  Längen-  oder  Zeitmessung  des 
Systems  A  von  B  aus  nachprüfen,  oder  irgend- 
eine physikalische  Erscheinung  von  beiden  Sy- 
stemen aus  beobachten.     Beide  Methoden  liefern: 


1.  Überlichtgeschwindigkeiten  gibt  es  nicht, 
da  für  V  >  c  die  Wurzeln  imaginäre  Werte  liefern. 

2.  Zwei  Ereignisse,  die  an  verschiedenen 
Orten  im  ersten  System  gleichzeitig  vor  sich 
gehen,  haben  im  zweiten  System  B  die  Zeit- 
differenz 


r 


3.  Die  Entfernung  zweier  Punkte  im  System 
A  :  Xj  —  Xj  =  a  verkürzt  sich,  wenn  sie  von  B  aus 
gemessen  wird,  nach  der  Formel; 


4.  Die  Zeit  ändert  sich  mit  der  Geschwindigkeit. 
Wie  die  Formel  (4)  für  t'  zeigt,  wird  die  Zeit 
mit  wachsendem  v  kleiner.  Die  bewegten  Uhren 
scheinen  vom  ruhenden  System  aus  betrachtet  lang-, 
samer  zu  gehen. 

5.  Es  wird: 

(5)       x'--f  y'-  +  z'-  — c^t'-  =  x^  -f  y-  +  z-  — c''t-, 

d.  h.  zur  Zeit  t  ist  das  Licht  in  A  bis  zur  Kugel 
mit  dem  Radius  et  gekommen  und  in  B  ebenfalls 
bis  zu  einer  Kugel  mit  dem  Radius  et'.  Das  ist 
aber  nichts  anderes  als  die  Forderung  unabhängiger 
Uhrenregulierung  in  beiden  Systemen.  Man  hätte 
anch  diese  Forderung  an  die  Spitze  des  ganzen 
Paragraphen  stellen  können  und  nach  den  Trans- 
formationsgleichungen fragen  können,  die  diese 
Gleichung  erfüllen.  Das  hätte  uns  auch  zur 
Lore  ntz-Transformation  geführt. 


Dann  heißen  die  Transformationsgleichungen,   die 
sog.  Lorentz-Transformation: 


6.    Führt    man    an    Stelle    der    Zeit   als    vierte 
Koordinate  die  Größe 


/     N  ,  X Vt 

(4)     X'  =  ~^=rr.=^=,,   y 


1/ 


=  y,  z'=  z,  t' 


f-^ 


Es  tritt  also  hier  die  Lichtgeschwindigkeit  c 
als  universelle  Konstante  auf.  Im  allgemeinen  wird 
natürlich  jede  Geschwindigkeit,  die  beobachtet 
wird,  einen  verschiedenen  Wert  ergeben,  je  nach 
dem  System,  von  dem  aus  sie  beobachtet  wird. 
Nur  die  Lichtgeschwindigkeit  ist  in  allen  Systemen 
dieselbe.  Zunächst  sollte  man  meinen,  daß  nur 
eine  unendlich  große  Geschwindigkeit  in  allen 
Systemen  denselben  Wert  haben  kann,  doch  die 
Loren tzschen  Gleichungen  zeigen,  daß  dies 
bereits  für  c  der  Fall  ist.  Außerdem  sind  noch 
einige  interessante  Folgerungen  aus  den  obigen 
Gleichungen  zu  ziehen: 


ein,  wo  1  =  }' — i,  so  nimmt  der  obige  Ausdruck 
die  Form  an: 


(6) 


5-  =  x-  +  y2  +  zä  +  F 


Das  ist  aber  ein  ganz  ähnlicher  Ausdruck,  wie 
wir  ihn  vorher  für  das  Linienelement  abgeleitet 
haben.  Die  Loren  tz-Transformationen  sagen 
dann  nichts  weiter  aus,  als  daß  diese  geraden 
oder  kürzesten  Linien  im  vierdimensionalen  Raum 
bei  beliebiger  Drehung  und  Verschiebung  des 
Koordinatensystems,  d.  h.  gleichförmiger  Trans- 
lation im  dreidimensionalen  Raum,  ihre  Länge 
nicht  ändern.  Die  gleichförrnige  Translation  ist 
damit  zurückgeführt  auf  eine  Änderung  der  Zeit- 
koordinatenachse, die  Physik  wird  eine  Erweiterung 
der  Geometrie.  Die  bisherigen  Erörterungen  ge- 
hören   zur     sog.     „speziellen"    Relativitätstheorie. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


7.    Erweiterung  auf  allge  me  i  n  e 
Bewegungen. 

Muß  nun  nicht  eine  Ausdehnung  der  bisherigen 
Betrachtungen,  die  nur  für  gleichförmige  Trans- 
lationen galten,  auch  auf  ganz  beliebige  Be- 
wegungen vorgenommen  werden  ?  Zunächst 
scheint  das  nicht  möglich  zu  sein.  Schon  bei 
der  gleichförmigen  Rotation  scheint  das  Relati- 
vitätsprinzip nicht  erfüllt  zu  sein.  Bisher  waren 
alle  Systeme,  die  sich  gleichförmig  geradlinig  be- 
wegten, einander  gleichberechtigt,  ihre  absolute 
Bewegung  konnte  man  nicht  feststellen,  es  waren, 
wie  man  sagt,  berechtigte  Systeme.  Bei  der 
Rotation  scheint  das  anders  zu  sein.  Wäre  auch 
der  Himmel  ständig  mit  Wolken  bedeckt,  so  daß 
wir  außer  der  Erde  liegende  Punkte  nicht  wahr- 
nehmen könnten,  so  würde  uns  doch  der 
Foucaultsche  Pendelversuch  die  Rotation  der 
Erde  zweifelsfrei  anzeigen.  Und  ähnlich  ist  es 
mit  beschleunigten  Systemen,  die  wesent- 
liche Abweichungen,  bereits  in  den  mechanischen 
Gesetzen,  zeigen  würden.  Und  doch  sprechen 
verschiedene  Gründe  für  eine  Erweiterung  der 
vorhergehenden  Betrachtungen  auf  allgemeine  Be- 
wegungen. 

Zunächst  ein  er  ke  nn  t  n  i  s  t  h  eore  t  isc  her 
Grund,  auf  den  zuerst  Mach  aufmerksam  gemacht 
hat.  Es  seien  zwei  flüssige  Massen  gegeben,  die 
genügend  weit  voneinander  entfernt  sind,  um 
gegenseitig  keinen  Einfluß  aufeinander  auszuüben. 
Beide  Massen  rotieren  um  die  gemeinsame  Ver- 
bindungslinie, wenn  sie  gegenseitig  von  Punkten 
der  jeweilig  anderen  Masse  beobachtet  werden. 
Die  Messung  soll  nun  zeigen,  daß  die  eine  Masse 
eine  Kugel,  die  zweite  Masse  ein  Rotationsellip- 
soid ist.  Welche  Erklärung  würden  wir  für  diesen 
Vorgang  abgeben?  Wir  sagen:  der  Raum,  für 
den  die  kugelförmige  Masse  in  Ruhe  ist,  ist  ein 
berechtigter  Raum,  für  ihn  gelten  die  Naturgesetze, 
während  der  Raum,  in  bezug  auf  den  das  zweite 
System  in  Ruhe  ist,  kein  berechtigter  Raum  ist. 
Man  darf  aber  nur  beobachtbare  Tatsachen 
als  erklärende  Ursachen  zulassen.  Der  „berechtigte 
Raum"  ist  nicht  beobachtbar.  An  sich  liegt  kein 
Grund  vor,  den  einen  Raum  als  berechtigt,  den 
anderen  als  unberechtigt  zu  erklären.  Der  Grund 
liegt  vielmehr,  wie  wir  wissen,  in  den  sonst  noch 
vorhandenen  Massen.  Die  Naturgesetze  müssen 
also  so  beschaffen  sein,  daß  sie  beide  Räume 
als  berechtigt  anerkennen,  und  die  verschiedenen 
Vorgänge  von  beiden  Systemen  aus  mit  Hilfe  der 
fremden  Massen  erklären.  Die  Gesetze  der  Physik 
müssen  demnach  für  beliebig  bewegte  Systeme 
gelten.  Das  folgt  allein  aus  der  besprochenen 
erkenntnistheoretischen  Forderung,  nur  beob- 
achtbare Tatsachen  zur  Erklärung  der  Wirkungen 
heranzuziehen.  Aber  auch  physikalische 
Gründe  sprechen  für  die  P>weiterung. 

Denken  wir  uns  wieder  unsere  beiden  Labora- 
torien A  und  B  etwa  als  zwei  Fahrstühle  in  Be- 
wegung gegeneinander  begriffen.    A  soll  ruhen  und 


B  in  beschleunigter  Bewegung  nach  oben  begriffen 
sein.  Dann  scheinen  alle  außerhalb  befindlichen 
Gegenstände  in  bezug  auf  B  nach  unten  zu  fallen. 
Kann  nun  ein  Beobachter  in  B  wirklich  behaupten, 
daß  er  sich  in  beschleunigter  Bewegung  befindet? 
Etwa  aus  der  Tatsache,  daß  alle  Gegenstände 
unabhängig  von  ihrer  physikalischen  und  chemi- 
schen Beschaffenheit  sich  gleichmäßig  beschleunigt 
nach  unten  bewegen  ?  Offenbar  nicht.  Denn  wir 
kennen  eine  Kraft,  die  dieselben  Wirkungen  auf 
die  Körper  ausübt:  die  Gravitationskraft.  Auch 
diese  erteilt  allen  Körpern,  ganz  unabhängig  von 
der  stofflichen  Zusammensetzung,  dieselbe  Be- 
schleunigung. Diese  Gleichheit  der  trägen 
und  schweren  Masse  ist  von  jeher  ange- 
nommen, sie  ist  durch  die  peinlich  genauen  Ver- 
suche von  Eötvös  noch  besonders  bewiesen 
worden.  Ich  kann  also  auch  B  als  ruhendes  und 
berechtigtes  System  ansehen.  Durch  die  Koordi- 
natentransformation „erzeuge"  ich  dann  ein  Gra- 
vitationsfeld. 

Ähnlich  ist  es  bei  den  Rotationen.  Die  bei 
ihnen  auftretenden  Zentrifugalkräfte  können  auch 
auf  die  Rotation  der  ponderablen  fernen  Massen 
der  Umgebung  zurückgeführt  werden.  Zentri- 
fugalkraft und  Schwerkraft  werden  ja  durch  ein 
und  dieselbe  Naturkonstante,  die  Gravitations- 
konstante, gemessen.  Das  Zentrifugalfeld  des 
rotierenden  Körpers  kann  auch  als  Schwere- 
feld eines  ruhenden  Körpers  gedeutet  werden. 
Wir  wollen  dazu  einige  Beispiele  geben. 

Newton  schloß  auf  den  absoluten  Charakter 
der  Rotation ,  indem  er  ein  zylindrisches  Gefäß 
mit  Wasser  in  schnelle  Rotation  versetzte.  Zu- 
erst nimmt  nur  das  Gefäß  die  Rotation  auf  und 
solange  bleibt  die  Oberfläche  des  Wassers  hori- 
zontal. Je  mehr  aber  das  Wasser  von  den 
Wänden  mitgerissen  wird,  um  so  mehr  höhlt  sich 
durch  den  Einfluß  der  Zentrifugalkraft  die  Ober- 
fläche aus,  Die  relative  Rotation  der  Gefäßwände 
löst  also  in  dem  Wasser  keine  Zentrifugal- 
kräfte aus. 

Das  ist  natürlich  kein  zwingender  Beweis. 
Denn  es  ist  wohl  möglich,  daß,  wenn  das  Gefäß 
eine  Dicke  von  mehreren  Kilometern  hat,  auch 
eine  Zentrifugalwirkung  zu  beobachten  wäre.  Die 
Brüder  F'riedländer  haben  zur  Prüfung  dieser 
Frage  folgenden  Versuch  vorgeschlagen.  Das 
Wasser  wird  durch  eine  empfindliche  Drehwage 
ersetzt  und  das  Gefäß  durch  die  Masse  großer 
Schwungräder.  Die  Zentrifugalkraft  muß  sich  in 
einem  Druck  äußern,  der  von  der  Rotationsachse 
des  Schwungrades  weg  gerichtet  ist.  Stellen  wir 
also  eine  drehbare  Nadel  so  auf,  daß  ihr  Dreh- 
punkt in  der  Verlängerung  der  Achse  liegt,  so 
muß  sich  die  Ebene  der  Nadel  der  des  Schwung- 
fades parallel  stellen,  da  dann  alle  Punkte  der 
Nadel  möglichst  weit  von  der  Achse  entfernt 
sind.  Daß  der  Versuch  kein  Ergebnis  gehabt 
hat,  spricht  nicht  gegen  die  Überlegungen, 
da  die  Massen  des  Weltalls  immer  noch  unendlich 
groß  gegenüber  der  des  Schwungrades  sind. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


8.    Das  Trägheits-  und  Gravitations- 
gesetz. 

Einstein  erkannte,  daß  die  Schwierigkeiten, 
die  sich  der  Erklärung  dieser  Vorgänge  bieten, 
in  dem  der  Mechanik  zugrunde  liegenden  Träg- 
heitsgesetz ihren  Ursprung  haben.  Nach  diesem 
Gesetz  Galileis  soll  sich  ein  äußeren  Kräften 
nicht  unterworfener  Körper  mit  gleichförmiger 
Geschwindigkeit  in  gerader  Bahn  bewegen.  Be- 
trachtet man  dieses  Gesetz  näher,  so  merkt  man, 
daß  es  sehr  wenig  streng  definierte  Grundlagen 
besitzt.  Zunächst  fehlen  zwei  Bestimmungen: 
Auf  welches  Koordinatensystem  bezieht  sich  die 
geradlinige  Bewegung,  und  wie  soll  die  Zeit  de- 
finiert werden,  nach  der  die  Gleichförmigkeit  vor 
sich  gehen  soll.  Existiert  allein  der  sich  be- 
wegende Körper,  so  hat  das  Trägheitsgesetz 
natürlich  keinen  Sinn,  ebenso  wenn  das  Bezugs- 
system allein  gegeben  ist.  Auch  wenn  das  System 
unabhängig  von  einem  greifbaren  Körper  gegeben 
ist,  können  wir  dem  Gesetz  keinen  Sinn  beilegen. 
Ist  aber  das  Koordinatensystem  mit  der  Erde 
oder  Sonne  verbunden,  so  treten  auch  bereits 
Gravitationswirkungen  auf. 

IVIit  dem  alten  Trägheitsgesetz  hängt  nun  aber 
die  Definition  des  Massebegrififs  aufs  engste  zu- 
sammen. Über  die  Schwierigkeit ,  die  Masse  zu 
definieren,  wird  sich  wohl  jeder  Physiker  einmal 
den  Kopf  zerbrochen  haben.  Nun  stellte  sich, 
zunächst  bei  den  Kathodenstrahlen,  heraus,  daß 
die  Masse  der  Elektronen  abhängig  von  der  Ge- 
schwindigkeit ist.  Man  ging  dann  dazu  über,  eine 
wahre  Masse  überhaupt  zu  leugnen ,  und  die 
Masse  nur  auf  Selbstinduktion  der  Elektronen 
zurückzuführen.  Damit  scheint  aber  auch  das 
Gesetz  von  der  Gleichheit  der  trägen  und  schweren 
Masse  zu  fallen.  Einstein  hat  daher  für  die 
Formulierung  dieses  Gesetzes  folgende  Fassung 
vorgeschlagen : 

Der  Satz,  daß  die  Schwerkraft  auf  alle  Körper 
gleich  stark  wirkt,  soll  in  aller  Strenge  gültig  sein. 
Bewegt  sich  dann  ein  Beobachter  mit  gleichförmiger 
Beschleunigung,  so  scheint  ein  allen  Kräften 
entzogener  Körper  sich  gleichförmig  beschleunigt 
zu  bewegen,  geradeso  als  ob  er  in  einem  Schwere- 
felde fiele.  Umgekehrt  erscheint  ein  fallender 
Körper  ruhend,  wenn  der  Beobachter  sich  mit 
derselben  Beschleunigung  in  Richtung  des  Gravi- 
tationsfeldes bewegt.  Diese  Tatsache  wird  von 
Einstein  folgendermaßen  verallgemeinert  und 
als  Äquivalenzprinzip  an  die  Spitze  seiner 
Mechanik  gestellt:  Jede  unter  der  Wirkung  irgend- 
welcher Kräfte  stattfindende  Bewegung  eines 
Körpers  kann  durch  geeignete  Bewegung  des 
Beobachters  aufgehoben  werden.  Und  umgekehrt: 
Jede  durch  Bewegung  des  Beobachters  entstehende 
Änderung  der  Erscheinungen  kann  als  Wirkung 
von  Gravitationsfeldern  aufgefaßt  werden.  Es 
müssen  also  die  Naturgesetze  ganz  beliebigen 
Transformationen  gegenüber  invariant  bleiben, 
wenn  nur  auf  das  Auftreten  der  Gravitationsfelder 


Rücksicht  genommen  wird.  Trägheits-  und  Gravi- 
tationsgesetz sind  somit  zu  einem  Gesetz 
zusammengefaßt.  Daß  die  Naturgesetze  beliebigen 
Transformationen  gegenüber  invariant  sein  sollen, 
kann  man  sich  zunächst  nicht  vorstellen.  Doch 
es  ist  hier  an  die  geometrischen  Eigenschaften 
einer  Fläche  zu  denken,  die,  wie  bereits  erwähnt 
wurde,  bei  Verbiegung  und  Verschiebung  un- 
verändert bleiben,  wenn  nur  der  Abstand  be- 
nachbarter Punkte,  das  Linienelement,  konstant 
bleibt.  Das  ist  eine  Analogie  zur  vollständigen 
Relativität. 

9.    Die  Einstein  -  Transformation. 

Daß  nun  bei  der  allgemeinen  Relativitätsich 
außer  der  Zeit  auch  die  gewöhnlichen  Begrifte 
vom  Raum  nicht  aufrecht  erhalten  lassen,  zeigt 
Einstein  auf  folgende  Weise:  Wir  denken  uns 
zwei  Systeme  x,  y,  z  und  x',  y',  z'  mit  gemein- 
samer Z-Achse.  Das  zweite  System  rotiert  um 
die  Z-Achse.  In  den  beiden  zusammenfallenden 
X,  Y-Ebenen  denken  wir  uns  einen  Kreis  und  nun 
Umfang  und  Durchmesser  dieses  Kreises  einmal  im 
ruhenden,  einmal  im  bewegten  System  gemessen. 
Im  ruhenden  ergiebt  sich  als  Maß  für  das  Verhältnis 
dieZahl  TT.  Mit  dem  bewegtenMaß  gemessen, kommt 
aber  eine  Zahl  heraus,  die  größer  als  n  ist. 
Denn  der  am  Umfang  angelegte  Maßstab  erfährt 
eine  Loren  tz- Verkürzung,  der  am  Durchmesser 
aber  nicht.  Das  gewöhnliche,  sog.  euklidische 
Maßsystem  läßt  sich  also  nicht  mehr  anwenden. 
Ähnlich  ist  es  mit  der  Zeit.  Liest  man  z.  B.  die 
am  Umfang  des  bewegten  Kreises  angebrachten 
Uhren  vom  ruhenden  System  aus  ab,  so  scheinen 
sie  infolge  der  Bewegung  langsamer  zu  gehen. 
Die  Ganggeschwindigkeit  einer  Uhr  scheint  also 
vom  Orte  abzuhängen,  da  die  an  der  Peripherie 
des  Kreises  angeordneten  Uhren  langsamer  gehen 
als  die  im  Koordinatenanfangspunkt.  Da  sich 
kein  bestimmtes  Maßsystem  für  Raum  und  Zeit 
finden  läßt,  kommt  man  dazu,  den  Raum  oder 
die  Welt  ganz  allgemein  als  drei-  bzw.  vierdimen- 
sionale  Mannigfaltigkeit  aufzufassen  und  alle 
denkbaren  Koordinatensysteme  als  gleich- 
berechtigt anzusehen. 

Den  Begriff  der  M  a  n  n  i  g  f  a  1 1  i  g  k  e  i  t  entlehnt 
Einstein  von  dem  Mathematiker  Riemann. 
Als  Beispiel  für  eine  solche  Mannigfaltigkeit  sei 
hier  das  System  der  Töne  genannt.  Ordnen  wir 
die  Töne  nach  Höhe  und  Stärke,  so  erhalten  wir 
eine  zweidimensionale  Mannigfaltigkeit.  Zu  jedem 
Ton  gehören  zwei  Zahlen.  Über  die  Maß- 
verhältnisse  in  der  Mannigfaltigkeit  ist  aber 
zunächst  gar  nichts  auszusagen,  darüber  muß  die 
Erfahrung  entscheiden.  Bei  den  Tönen  ist  es  ja 
so,  daß  jede  Dimension  mit  einem  besonderen 
Maß  gemessen  wird.  Ähnlich  können  wir  beim 
Raum  jedem  Punkt  drei  Zahlen  zuordnen  x,,  Xj,  x^, 
die  irgendwelche  Abmessungen  bezeichnen,  aber 
nicht  etwa  geradlinige  Koordinaten. 

Es    entsteht   nun   die  Frage:    Welchen  mathe- 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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matischen  Ausdruck  kann  man  dann  für  den  Ab- 
stand zweier  Punkte  wählen?  Darüber  lassen 
sich  folgende  allgemeine  Regeln  aufstellen: 

1.  Sind  die  beiden  benachbarten  Punkte 
Xj,  X2,  x';  und  x'i+dx,,  x.,  +  dxg,  Xg  +  dxg,  so 
soll  die  Entfernung  ds  proportional  mit  den  dx 
wachsen. 

2.  Die  Maßrichtung  soll  keinen  Einfluß  auf 
das  Vorzeichen  von  ds  haben,  d.  h.  ds  soll  das 
Zeichen  bewahren,  wenn  die  dx  ihr  Zeichen 
wechseln. 

3.  ds  soll  nach  allen  Seiten  zunehmen  und 
im  Anfangspunkt  ein  Minimum  haben.  Es  muß 
also  der  erste  Difterentialquotient  verschwinden 
und  der  zweite  von  Null  verschieden  sein.  Also 
muß  der  Ausdruck,  der  die  Entfernung  definieren 
soll,  gleich  ds-  sein,  wo  ds  die  Quadratwurzel  aus 
einer  positiven  ganzen  homogenen  Funktion 
zweiten  Grades  in  den  dx  ist.     Wir  erhalten  also : 

(7)  ds  =  y  gl,  dxi 2  +  gi2  dx,  dxa  +  . . .  +  ggg  dXg-, 
wo  die  g  stetige  Funktionen  der  drei  Größen 
x,,  X.,,  X3  sind. 

Dabei  sind  über  die  Maße,  in  denen  die  x  zu 
messen  sind,  gar  keine  Voraussetzungen  gemacht. 
Legt  man  spezielle  Kartesische  Koordinaten  zu- 
grunde, so  haben  wir  nach  den  früheren  P^ormeln 
für  die  g  die  Zahl  i  zu  setzen.  Dieser  Spezialfall 
bedeutet  nichts  anderes  als  daß  das  Linienelement 
von  der  speziellen  Lage  des  Punktes  ganz  un- 
abhängig ist,  es  ist  beliebig  verschiebbar.  Dem- 
gegenüber hat  nun  die  verallgemeinerte  Darstellung 
des  Linienelementes  den  Vorteil,  daß  sie  nicht 
nur  V^erschiebungen,  sondern  ganz  beliebige 
Transformationen  zuläßt  und  doch  die  P'orm  be- 
wahrt. Es  muß  also  zugrunde  gelegt  werden, 
wenn  wir  die  Lwarianz  der  Naturgesetze  beliebigen 
Transformationen  gegenüber  verlangen. 

Lassen  wir  auch  noch  Bewegungen  der 
Koordinatensysteme  zu,  so  können  wir  diese,  wie 
wir  gesehen  haben,  durch  Zuhilfenahme  der  vierten 
Koordinate  Xj,  die  durch  die  Zeit  bestimmt  wird, 
in  einer  vierdimensionalen  Mannigfaltigkeit  deuten. 

Aus  den  Gleichungen  für  das  Linienelement 
kommt  man  nun  zwanglos  zu  den  physikalischen 
Grundsätzen : 

Ein  kräftefreier  Körper  soll  sich  nach  dem 
Hamiltonschen  Prinzip  auf  geradester  Bahn 
bewegen.  Von  den  verschiedenen  ds ,  die  von 
einem  Punkt  aus  möglich  sind,  soll  das  kleinste 
ausgesucht  werden.  Das  wird  mathematisch  aus- 
gedrückt durch  den  Ausdruck,  der  für  die  geodä- 
tischen oder  kürzesten  Linien  auf  einer  Fläche  gilt ; 
(S)  dfds  =  o, 

d.  h.  die  Variation  zwischen  zwei  genügend  nahen 
Punkten  der  Bahn  soll  verschwinden.  Darin  steckt 
natürlich  das  alte  Trägheitsgesetz.  Ebenso  die 
Forderung  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit 
der  speziellen  Relativitätstheorie.  Legen  wir 
nämlich  die  einfache  Form 
(9)  ds-  =  dx-  +  dy-  +  dz'-'  —  c'-  dt' 


zugrunde,    so    ergibt    sich    daraus    die    Gleichung 
für  die  Lichtausbreitung 

x2  +  y2  +  z2  — cH'^  =  0, 
die  wir  bereits  früher  abgeleitet  haben  (5). 

In  der  neuen  Einst ein'schen  Fassung  liefert 
aber  die  Gleichung  (8)  ein  viel  allgemeineres 
Gesetz. 

Unter  dem  Einfluß  von  Trägheit  und  Schwere 
schreitet  jeder  Punkt  auf  einer  geodätischen  Linie 
der  Raum -Zeit -Mannigfaltigkeit  fort.  Das  sind 
natürlich  im  allgemeinen  keine  geraden  Linien, 
da  das  Gravitationsfeld  mit  dem  Zwang  zu  ver- 
gleichen ist,  der  den  Punkt  veranlaßt,  sich  auf 
einer  bestimmten  Fläche  zu  bewegen. 

Die  g  (Gravitationspotentiale)  sind  dabei 
Funktionen,  die  von  den  umgebenden  Massen 
abhängen. 

Ist  kein  Gravitationsfeld  vorhanden,  bewegt 
sich  der  Punkt  also  kräftefrei,  so  gilt  die  Gleichung: 

df]'  dx-  +  dy-  +  dz-^c"^Mt^=  O. 

L^nterwerfe  ich  diesen  Ausdruck  irgendeiner 
Beschleunigungstransformation,  so  treten  in  ihm 
die  Größen  g  auf.     Es  wird: 


(•o)      öf]  gji  dxi^  -f  gi2  dx.j2  -f  .  .  .  .  gii  dx,'^  =  O. 

Es  können  also  die  durch  die  Transformation 
„erzeugten"  Funktionen  g  auch  als  Wirkungen 
eines  Gravitationsfeldes  erklärt  werden,  so  daß 
das  Äquivalenzprinzip  erfüllt  ist.  Die  Gravitations- 
probleme sind  somit  Folgerungen  einer  allge- 
meinen Bewegungslehre  der  Relativitätstheorie. 

Aus  (10)  gelang  es  Einstein,  die  Gesetze 
der  Planetenbewegung  abzuleiten,  und  zwar  folgt 
das  Newton'  sehe  Gesetz  als  Spezialfall   aus  ihnen 

10.    Bestätigungen  der  Theorie. 

1.  Betrachten  wir  zunächst  ein  zeitliches 
Linienelement,  d.  h.  setzen  wir  dx,  =  dxj  =  dx.,  =  o, 
so  wird: 

ds- =  gii'dx^-. 

Da  nun  g^^  von  Ort  zu  Ort  sich  ändert,  heißt 
das :  die  Zeit  ist  mit  dem  Ort  und  dem  Gravi- 
tationsfeld veränderlich.  Man  kann  aber  jedes 
schwingende  Gebilde  als  L'lir  auffassen,  und  es 
müßten  die  Schwingungszahlen  dieser  Uhr  in  der 
Nähe  großer  Massen  mit  dem  Gravitationspoten- 
tial g  sich  ändern.  Diese  Änderung  hat  sich  bei 
den  Spektrallinien  der  Sonne  tatsächlich  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  gezeigt.  Es  ergab  sich 
in  dem  größeren  Gravitationsfeld  der  Sonne  eine 
langsamere  Schwingung  der  Natriumteile  als  auf 
der  Erde,  d.  h.  eine  X'^erschiebung  der  Spektral- 
linie nach  rot. 

2.  Nehmen  wir  ein  räumliches  Linienele- 
ment, d.  h.  setzen  wir  dt  =  o,  so  wird,  wenn  wir 
der  Einfachheit  halber  auch  dx,  und  dx.,  -=  o  setzen  : 

ds-=g,idxi-. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Das  ist  im  aligemeinen  eine  krumme  Linie, 
d.  h.  auch  die  Bewegung  des  Lichts  kann  im 
Gravitationsfeld  nicht  geradlinig  sein.  Das  ist  ja 
auch  unmittelbar  einzusehen.  Denn,  denken  wir 
uns  einen  Lichtstrahl  durch  das  Fenster  ins  Zimmer 
treten  und  dieses  in  stark  beschleunigter  Bewegung, 
so  muß  der  Strahl  eine  parabolische  Bahn  sein, 
wie  aus  der  Analogie  mit  der  VVurfparabel  folgt. 
Die  Abweichung  würde  für  einen  gerade  am 
Sonnenrand  vorbeigehenden  Strahl  etwa  2"  be- 
tragen. Ein  Stern  müßte  also  um  diesen  Betrag 
gegen  seinen  wahren  Ort  versetzt  erscheinen. 
Für  die  Beobachtung  eines  solchen  Strahles 
kommen  aber  nur  die  totalen  Sonnenfinsternisse 
in  Frage.  Wegen  des  Kriegsausbruchs  hat  die 
geplante  Beobachtung  1914  nicht  stattfinden 
können. 

3.  Die  dritte  Möglichkeit  der  Bestätigung  liegt 
in  der  Abweichung  des  Einst  einschen  Gesetzes 
für  die  Planetenbewegung  von  dem  Newtonschen. 
Nach  dem  Newtonschen  Gesetz  beschreibt  jeder 
Planet  eine  Ellipse  um  die  Sonne,  in  deren  einem 
Brennpunkte  die  Sonne  steht.  Dabei  ruht  die  Lage 
der  Achsen  dieser  Ellipse  zum  Fixsternsystem.  Es 
ist  nun  aber  bei  den  meisten  Planeten  eine  lang- 
same Drehung  der  Ellipse  im  Sinne  der  Bahn- 
bewegung festgestellt.  Bei  den  meisten  gelang 
eine  Erklärung  mit  Hilfe  der  Störungseinflüsse 
anderer  Planeten.  Dagegen  gelang  diese  Er- 
klärung nicht  beim  Merkur,  der  eine  Drehung  seines 
sonnennächsten  Punktes  (Perihel)  um  etwa  45" 
im  Jahrhundert  zeigt.  Einsteins  Ansatz  für 
die  geradeste  Bahn  des  Merkur  führt  in  erster 
Annäherung  auf  die  Newtonschen  Gleichungen, 
in  zweiter   liefert  sie  aber  die  Drehung  qualitativ 


und  quantitativ  richtig.  Es  gibt  natürlich  zahl- 
reiche Theorien,  die  den  Merkureffekt  auch  auf 
andere  Weise  erklären  können.  Aber  fast  alle 
müssen  noch  nicht  beobachtete  unbekannte  Massen 
zur  Hilfe  nehmen,  während  Einstein  die  Wirkung 
nur  aus  der  Sonnengravitation  folgert. 

II.   Schluß. 

Wenn  so  auch  die  praktischen  Ergebnisse,  die 
für  die  verallgemeinerte  Relativitätstheorie  sprechen 
(von  den  Beweisen  der  speziellen  sollhier  abgesehen 
werden),  nur  gering  an  Zahl  und  Wirkung  sind,  so 
ändert  das  an  der  großen  Bedeutung  der  Grundge- 
danken der  Theorie  nichts.  Sie  enthält  die  spezielle 
Theorie  (Lo  rentz -Transformation)  in  sich,  da 
diese  im  unendlich  kleinen  gilt,  und  ebenso  enthält 
sie  die  klassische  Theorie,  die  für  c  =  00  folgt. 
Daß  die  praktischen  Abweichungen  von  der 
klassischen  Theorie  so  gering  sind,  liegt  natürlich 
an  dem  großen  Wert  für  die  Lichtgeschwindigkeit. 
Wenn  also  auch  die  Theorie  eine  Preisgabe  der 
realen  Bedeutung  von  Raum  und  Zeit  verlangt, 
so  liefert  sie  doch  Gesetze,  die  allgemein,  sowohl 
für  die  Bewegung  der  Himmelskörper  als  auch  für 
die  Bewegung  der  Atome,  gelten.  Alle  mechanischen 
Kräfte  sind  aufGravitationswirkungen  zurückgeführt. 
Ob  die  bei  der  Gravitation  hier  mit  Erfolg  vorge- 
nommene Ausschaltung  des  Begriffes  Kraft,  wie 
dies  bereits  Heinrich  Hertz  anstrebte,  von 
der  Gravitation  auf  alle  Kräfte  ebenso  erfolgreich 
ausgedehnt  werden  kann,  muß  allerdings  weiteren 
Untersuchungen  vorbehalten  bleiben.  Erfreulich 
ist,  daß  an  dem  Ausbau  der  Theorie  hauptsächlich 
deutsche  Forscher  Anteil  haben. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Beobachtungen  über  das  Vogelleben  im 
Sommegebiet.  In  den  Monaten  Oktober  und 
November  1916,  in  denen  unser  Regiment  an  der 
Somme  lag,  hatte  ich  Gelegenheit,  interessante 
Beobachtungen  über  die  dortige  Vogelwelt  zu 
machen.  In  der  genannten  Zeit  tobte  ununter- 
brochen Tag  und  Nacht  der  Kampf  der  Geschütze 
aller  Kaliber,  buchstäblich  keine  Minute  gab  es 
Ruhe  in  dem  Tosen  und  Krachen.  Und  trotz 
alledem  konnte  man  ein  reiches  Vogelleben  be- 
obachten, wieder  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Vögel 
nicht  durch  den  Geschützdonner,  ja  selbst  nicht 
durch  einschlagende  Granaten  und  platzende 
Schrapnells  veranlaßt  werden,  ihre  gewohnten 
Nist-  und  F'utterplätze  zu  verlassen.  So  konnte 
ich  in  Hof  und  Garten  meines  Ouartieres  in  P., 
das  täglich  beschossen  wurde,  Buchfinken,  Meisen 
und  Sperlinge  munter  sich  tummeln  sehen.  L'nd 
dabei  stand  gar  nicht  weit  davon  eine  schwere 
deutsche  Batterie,   die  häufig  über  unser  Quartier 


hinweg  feuerte.  Wenn  wir  im  Morgengrauen  zu 
unserer  Infanteriebeobachtung  in  der  Nähe  eines 
Parkes  bei  P.  wanderten,  begrüßte  uns  jeden 
Morgen  das  heisere  Krächzen  mehrerer  Krähen- 
paare, die  in  den  Bäumen  des  Parkes  ihr  Heim 
aufgeschlagen  hatten.  Wenn  der  Park,  der  jeden 
Tag  ein  paar  Hundert  Granaten  und  Schrapnells 
von  den  Franzosen  zugesandt  bekam,  unter  Feuer 
lag,  kreisten  die  Krähen  gleichsam  über  die 
Munitionsverschwendung  schimpfend  über  den 
Bäumen,  bis  es  wieder  Ruhe  gab.  Als  eines 
Tages  unser  Graben,  der  Park  und  der  dazwischen 
liegende  Acker  besonders  stark  im  P"euer  lagen, 
erhob  sich  in  einer  F"euerpause  aus  dem  Acker 
eine  Lerche  und  stieg,  als  ginge  sie  das  alles 
nichts  an,  trillernd  in  die  Höhe.  Das  Scheren- 
fernrohr zeigte  auch  reizvolle  Vogelbilder,  vor 
uns  lag  eine  Kiesgrube  umstellt  von  hohen 
Bäumen,  in  ihren  Asten  trieb  ein  ganzer  Schwärm, 
wohl  20 — 30  Stück  von  Eichelhähern  sein  munteres 
Spiel.     Und    in    der  Kiesgrube    landeten    täglich 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


schwere  Minen  und  Granaten.  In  dem  daneben 
hegenden  Waldstückchen,  meist  Erlen,  beobachtete 
ich  Tag  für  Tag  einen  Schwärm  Zeisige  und 
Elstern.  Vom  Obergeschoß  meines  Quartieres  in 
P.  hatte  man  einen  weiten  Blick  über  das  Sumpf- 
gebiet der  Somme.  Manche  Stunde  habe  ich  dort 
zugebracht  mit  der  Beobachtung  der  grünfüßigen 
Teichhühner,  die  in  großer  Zahl  die  Wasserflächen 
belebten,  und  der  allerdings  weniger  zahlreichcTi 
Stockenten.  Mit  dem  Glase  sah  man  die  munteren 
Tierchen  herumrudern  und  tauchen.  Daß  hier 
öfters  schwere  Granaten  einschlugen,  war  ihnen 
offenbar  völlig  gleichgültig,  ja  sie  hatten  sogar 
schon  allerlei  im  Kriege  gelernt.  Eines  Tages 
beobachtete  ich  nämlich  ein  äußerst  komisches 
Bild.  In  der  Nähe  einer  Wasserfläche,  auf  der 
sich  etwa  15  Teichhühnchen  tummelten,  schlug 
eine  schwere  Granate  ein,  die  V\'asserfläche  mit 
Erde,  Holzstückchen  usw.  überschüttend.  Sowie 
die  Granate  krepierte,  waren  alle  Tcichhülmchen 
untergetaucht,  sie  „nahmen  volle  Deckung",  als 
der  Wasserspiegel  sich  einigermaßen  beruhigt 
hatte,  erschienen  sie  wieder  auf  der  Bildfläche  und 
schwammen  umher,  als  sei  nichts  geschehen. 

Um  so  mehr  war  ich  überrascht,  als  ich  in  und 
unmittelbar  bei  dem  Dörfchen  H.  fast  gar  keine 
Vögel  entdecken  konnte,  trotzdem  es  hier  viel 
ruhiger  war  als  an  den  -Stellen,  von  denen  ich 
oben  sprach.  Ich  glaube  des  Rätsels  Lösung 
darin  finden  zu  können,  daß  es  hier  zahlreiche 
wildernde  Katzen  gab,  die  von  der  Zivilbevölkerung 
zurückgelassen  waren.  Kam  man  weiter  vom 
Dorfe  ab  zur  Somme  hin,  so  erschienen  auch 
wieder  die  Vögel,  und  in  mancher  Nacht  mischte 
sich  in  das  scharfe  Tak-tak-fak  der  feindlichen 
Maschinengewehre  das  laut  prahlende  Tak-tak-tak- 
tak  der  Enteriche  auf  der  Somme. 

An  anderer  Stelle  sah  ich,  wie  zwei  Granaten, 
die  einem  von  uns  besetzten  Dorfe  galten,  durch 
die  Kronen  einer  l'appejgruppe  fuhren,  ein 
Schwärm  von  wohl  mehreren  Tausenden  von 
Staren  erhob  sich,  kreiste  einige  Zeit  und  ließ 
sich  dann  ruhig  wieder  am  alten  Platze  nieder. 
Gänzlich  erloschen  ist  das  Tierleben  nur  dort  in 
der  Kampfzone,  wo  von  den  Dörfern  kaum  noch 
die  Grundmauern  stehen,  wo  die  Bäume  nur  zer- 
splitterte Strünke  sind  und  wo  auf  dem  Lande 
ein  Granattrichter  neben  dem  andern  liegt.  An 
solchen  Stellen  sah  ich  tierisches  Leben  nur  noch 
in  den  Gräben:  Ratten  von  der  Größe  der  Katzen 
und  Läuse  in  Stärke  ganzer  Divisionen. 

E.  Zieprecht. 

Mineralöl  als  Speiseöl.  Die  tiefgreifenden 
Änderungen,  die  der  Krieg  auf  dem  Nahrungs- 
und Genußmittelmarkt  hervorgerufen  hat,  haben 
es  mit  sich  gebracht,  daß  wir  manche  unserer 
Anschauungen  über  die  Zulässigkeit  gewisser  Er- 
satzprodukte einer  Revision  unterzogen  haben.  Es 
genügt,  hier  an  das  jetzt  so  willkommene 
Saccharin   als  Zuckerersatz  zu    erinnern.     Infolge- 


dessen darf  es  nicht  wundernehmen,  daß  auch 
die  Frage,  ob  Mineralöle  sich  zum  mensch- 
liche Genüsse  eignen,  ernstlich  in  Erwägung  ge- 
zogen wird.  In  der  Fachzeitschrift  „Petroleum" 
machte  Dr.  Ed.  Graefe,  einer  unserer  bekann- 
testen Erdölforscher,  vor  kurzem  den  Vorschlag, 
als  Notbehelf  für  Speiseöl  zur  Zubereitung  von 
Salaten  usw.  hochsiedende,  gereinigte  Mineralöle 
zu  verwenden.  Voraussetzung  ist  hierbei,  daß 
die  Mineralöle  auf  chemischem  \\'ege  so  weit  ge- 
reinigt sind,  daß  sie  ihren  typischen  Mineralöl- 
geschmack und  -geruch  verloren  haben.  Graefe 
hat  seit  längerer  Zeit  Versuche  im  eigenen  Haus- 
halt mit  Paraffinöl  und  mit  gereinigten  Schmier- 
öldestillaten rumänischer  Herkunft  angestellt  und 
niemals  unangenehme  oder  schädliche  Wirkungen 
feststellen  können.  Es  wäre  daher  erwünscht, 
wenn  das  Reichsgesundheitsamt  sich  mit  dieser 
Frage  befassen  würde,  da  bei  Bestätigung  der  Er- 
fahrungen Graefe's  auf  diese  Weise  ein  in  be- 
zug  auf  Geschmack  und  Wirkung  vollwertiges 
Salatölersatzmittel  gewonnen  werden  könnte.  Der 
einzige  Unterschied  zwischen  einem  derartigen 
Mineralöl  und  einem  Speiseöl  besteht  darin,  daß 
ersterem  kein  Nährwert  zukommt;  die  Verhält- 
nisse liegen  hier  also  genau  so  wie  beim  Saccharin 
und  Zucker.  Da  durch  die  Ausführung  des 
Graefe 'sehen  Vorschlags  große  Mengen  von 
Speiseölen  für  die  Kunstspeisefettherstellung  ge- 
wonnen würden,  die  bei  der  Verwendung  als 
Salatöl  zum  Teil  verloren  gehen,  so  verdient  die 
Anregung  jedenfalls  zur  Diskussion  gestellt  zu 
werden.  Dr.  B. 


Farbenvariationen  von  Helix  nemoralis  auf 
dem  westlichen  Kriegsschauplatz.  Die  jedermann 
bekannte,  im  größten  Teile  Europas  sehr  häufige 
Zirkelschnecke  Helix  nemoralis  L.  oder  Tachea 
nemoralis  (L.)  neigt  im  Süden  und  Südwesten 
Europas  zu  erheblicherer  Variabilität  an  Größe, 
Gewindehöhe,  Schalenskulptur  und  durch  Auf- 
lösung der  Bänder  in  Fleckenreihen  als  sonst  in 
ihrem  Verbreitungsgebiet,  wo  sie  zwar,  wie  z.  B. 
in  Deutschland,  recht  viele  der  89  mathematisch 
möglichen  Bändervariationen  durch  Ausbleiben 
und  Zusammenfließen  der  fünf  Bänder  bildet, 
auch  in  der  Grundfarbe  des  Gehäuses  etwas  ab- 
ändert, im  übrigen  aber  doch  recht  konstant  ist. 
Schon  auf  dem  westlichen  Kriegsschauplatze  fanden 
sich  an  der  Aisne  weitergehende  Abänderungen 
als  bei  uns.  Nicht  ganz  selten  bemerkte  ich 
pigmentlose,  hyaline  Bänder  und  die  Auflösung 
der  Bänder  in  Fleckenreihen,  was  man  beides, 
namentlich  das  letztere,  in  Deutschland  viel  weniger 
oft  findet.  Eine  recht  bemerkenswerte  Abänderung 
"ist  die  in  Abbildung  1,  a  u.  b  dargestellte:  es 
handelt  sich  um  Stücke,  bei  denen  die  Grundfarbe 
des  letzten  Umganges  auf  der  unteren  Hälfte  vom 
dritten  Bande  ab  oder,  wenn  dieses  fehlt,  von  der 
Linie,  die  seine  obere  Begrenzung  bilden  würde, 
bis    zum    Nabel    wesentlich    heller    gefärbt   ist  als 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


die  obere  Hälfte ,  und  zwar  stoßen  die  hellere 
und  die  dunklere  Farbe  mit  äußerst  scharfer 
Gtenzlinie  aneinander.  Besonders  auffällig  sind 
rötliche  Stücke  dieser  Varietät  dadurch,  daß  die 
untere    Hälfte    des    Umgangs     nicht    nur    heller, 


sondern  zugleich  viel  gelber  bis  rein  gelb  gefärbt 
ist  Solche  Stücke  sind  also  in  der  Grundfarbe 
ausgesprochen  zweifarbig,  mit  den  dunkelbraunen 
Bändern  dreifarbig.  Von  den  Bändern  fehlt  bei 
ausgeprägten    Stücken    dieser    Varietät    stets    das 


erste  und  zweite  und  sehr  oft  (Abb.  i  b)  das  dritte, 
und  es  ist  bemerkenswert,  daß  Gehäuse  mit 
solcher  Bänderung,  also  mit  der  Formel  OOO45, 
an  sich  bei  dieser  Art  und  ähnlichen  überaus 
selten  sind.  Ist  das  dritte  Band  vorhanden,  so 
ist  es  doch  nur  fadendünn  oder  (Abb.  i  a)  noch 
dünner.  Das  vierte  und  fünfte  Band  sind  stets 
vorhanden,  kräftig  ausgebildet  (Abb.  i  b)  und  oft 
zusammenfließend  (Abb.  1  a).  Neben  ausgeprägten 
Stücken  dieser  P^arben-  und  Bändervarietät,  die 
zusammen  mit  gewöhnlichen  vorkommen,  finden 
sich  auch  Mittelformen  zwischen  jenen  und  diesen. 
Eine  andere  dort  in  einer  Mehrzahl  von  Stücken 
aufgefundene,  sonst  noch  nicht  beschriebene 
Farben-  oder,  genauer  gesagt,  lediglich  Bänder- 
varietät besteht  darin,  daß  in  der  Mitte  zwischen 
dem  dritten  und  vierten  Bande  ein  fadendünnes 
überzähliges  Band  zieht,  wie  in  Abb.  i  c.  Genauer 
werde  ich  diese  beiden  Varietäten  an  anderer 
Stelle  beschreiben  und  die  erstere  „var.  tricolor" 
benennen.  V.  Franz. 


Einzelberichte. 


Paläontologie.  Die  zunehmende  Kenntnis 
triadischer  Faunen  aus  allen  Teilen  der  Erdober- 
fläche ermöglicht  es,  eine  zusammenfassende  Dar- 
stellung der  paläogeographischen,-  biologischen 
und  klimatischen  Verhältnisse  während  derTrias- 
periode  zu  geben,  um  so  mehr  als  bereits  eine 
derartige  Abhandlung  für  den  Jura  und  die 
Unterkreide  vorliegt.  C.  Diener  behandelt  die 
marinen  Reiche  der  Triasperiode  (Denkschriften 
der  Kaiser!.  Akad.  d.  Wissensch.  in  Wien,  Mathem.- 
naturw.  Klasse.   92.  Bd.). 

Für  die  Aufstellung  mariner  Reiche  in  der 
Trias  erscheinen  die  Cephalopoden  wegen  ihrer 
kurzen  Lebensdauer,  ihrer  großen  und  raschen 
Verbreitungsfähigkeit,  der  leichten  Veränderlich- 
keit ihrer  spezifischen  Merkmale  besonders  geeignet. 
Von  den  anderen  Wirbellosen  können  die  I^amelli- 
branchiaten,  namentlich  die  Gattungen  Halobia, 
Daonella,  Pseudomonotis,  Myophoria,  bei  paläo- 
geographischen Untersuchungen  wichtig  werden. 
Im  allgemeinen  lassen  sich  in  der  Trias  vier 
große  marine  Reiche  unterscheiden:  I.  das  boreale 
Reich,  2.  das  mediterrane  Reich,  3.  das  hima- 
malayischc  Reich,  4.  das  andine  Reich.  Das 
boreale  Reich  umfaßt  die  marinen  Ab- 
lagerungen von  Spitzbergen,  der  Bäreninsel,  des 
unteren  Olenek,  nördlichen  Sibiriens,  von  Elles- 
merland,  Alaska,  Britisch  Kolumbien  bis  Vancouver. 
Es  ist  charakterisiert  durch  eine  Anzahl  Cephalo- 
podengattungen,  die  wieSibyllonautilus,  Arctoceras, 
Czekanowskites,  Olenekites,  Keyserlingites,  Telle- 
rites,  Nathorstites,  Dawsonites  spezifisch  boreal  sind, 
und  in  den  anderen  Reichen  nicht  vorkommen. 
Namentlich    in    der    Unter-    und    Mitteltrias    des 


zirkumpolaren  Gebietes  macht  sich  eine  starke  Ab- 
geschlossenheit der  borealen  gegenüber  der  ge- 
mäßigt-äquatorialen Fauna  geltend;  erst  in  der 
hämischen  Stufe  gleichen  sich  die  faunistischen 
Gegensätze  immer  mehr  aus.  Das  mediterrane 
Reich  umfaßt  den  Westabschnitt  der  Tethys  von 
der  Straße  von  Gibraltar  bis  Hocharmenien,  greift 
aber  zeitweise  über  die  astrachanische  Steppe  bis 
in  das  Ouellgebiet  des  Jenissei  hinein.  Der  fau- 
nistische  und  liihologische  Unterschied  zwischen 
der  alpinen  Trias  und  den  sie  im  Norden,  Westen 
und  Süden  umgebenden  neritischen  Randgürtel 
in  Binnenmeerfacies  zwingt  zur  Sonderung  einer 
germanischen  Provinz  im  Bereich  des  heutigen 
Deutschland  und  der  Provence  sowie  einer  iberisch- 
nordafrikanischen  Provinz  von  dem  eigentlichen 
mediterranen  Reich.  Die  Errichtung  anderer 
Provinzen  innerhalb  der  mediteranen  Trias  läßt 
sich  faunistisch  nicht  begründen.  Dem  medi- 
teranen Reich  sind  10  Nautiloiden  und  60  Ammo- 
noiden  Genera  bzw.  Subgenera  eigen,  deren 
wichtigste  Gruppen  Syringoceras,  Epiceratites, 
Kellnerites,  Hauerites,  Cochloceras,  Glyphidites, 
Heraclites,  Judicarites,  Norites,  Phyllocladiscites 
Psilocladiscites,  Klipsteinia,  Sphingites  sind.  Von 
den  Bivalven  zeichnen  sich  durch  Niveaubeständig- 
keit aus  Pseudomonotis  in  der  skythischen  Stufe, 
und  Monotis  in  der  Obertrias.  Die  Aufstellung 
eines  himamalayischen  Reiches  erhäh 
seine  Berechtigung  infolge  übereinstimmender 
Faunenentwicklung  im  Himala_\'a,  in  Südchina, 
Tonkin,  Japan,  bei  Wladiwostok,  auf  Madagaskar, 
dem  malayischen  Inselarchipel ,  Neucaledonien 
,  und  Neuseeland.  Wie  im  mediterranen  Reich  ist 
auch   in    diesem  Lebensbezirk   eine  über  1000  m. 


N.  F.  XVr.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


123 


mächtige  Aufeinanderfolge  geschichteter,  tonig 
mergeliger,  schiefriger,  dolomitischer  und  kalkiger 
Sedimente  von  einer  gering  mächtigen  bathyalen 
Kalk-  und  Marmorfacies  (Tibetanische  Klippen, 
Timor)  zu  trennen.  Innerhalb  des  himamalayischen 
Reiches  ist  die  Himalayische  oder  indische  Trias- 
provinz von  der  IWalayischen  Provinz  zu  unter- 
scheiden; zwischen  beiden  vermittelt  die  chine- 
sisch-hinterindische Provinz  oder  Subregion. 
Eine  ziemlich  gesonderte  Stellung  nimmt  ferner 
die  IVIaorische  Provinz  (Neucaledonien  und  Neu- 
seeland) ein.  Faunistisch  schließt  sich  das  hima- 
malayische  Reich  an  das  mediterrane  an.  Zur 
skythischen  Zeit  macht  sich  allerdings  ein  fau- 
nistischer  Gegensatz  bemerkbar;  doch  sind  zur 
amisischen  und  namentlich  karnischen  Zeit  die 
Beziehungen  zum  mediterranen  Reich  sehr  eng. 
Zahllose  Gattungen  sind  beiden  Reichen  gemeinsam. 
Andererseits  sind  über  40  Genera  oder  Subgenera 
spezifisch  himanialayisch,  unter  denen  Buddhaites, 
Kashmirites,  Parajuvavites,  Tibetites  die  häufigsten 
und  wichtigsten  Formen  abgeben.  Als  bezeich- 
nendes negatives  Merkmal  ist  die  Abwesenheit 
der  im  mediterranen  Reich  stark  entwickelten 
Gattungen  ßalatonites,  Judicarites,  Norites,  Phyllo- 
cladiscites,  Sibyllites  usw.  hervorzuheben.  Ent- 
wicklungsgeschichtlich ist  das  himamalayische 
Reich  wichtig  als  Heimat  der  Meecoceratiden 
und  Ceratitiden,  deren  gemeinsame  Wurzel  in 
der  permisch-skythischen  Gattung  Xenodiscus  zu 
suchen  ist.  Das  andine  Reich  erstreckt  sich 
einerseits  über  die  nordamerikanischen  Staaten 
Californien,  Oregon,  Idaho,  Nevada,  andererseits 
über  Mexiko,  sowie  Bolivien  und  Peru,  zwar  derart, 
daß  eine  californischc,  peruanische  und  mexika- 
nische Provinz  innerhalb  des  einheitlichen  andinen 
Reiches  zu  unterscheiden  sind.  Obschon  es  mit 
den  drei  anderen  Reichen,  vor  allem  dem  medi- 
terranen Reich,  durch  manche  gemeinsame  Typen 
verbunden  ist,  bleibt  seine  Selbständigkeit  als 
mariner  Lebensbezirk  gesichert.  Sie  äußert  sich 
in  einer  beträchtlichen  Anzahl  „andiner"  Cephalo- 
podengattungen,  als  auch  in  dem  völligen  Fehlen 
der  in  den  übrigen  Triasreichen  verbreiteten 
Cladiscitiden  und  Pleuronautiloideen.  Eine  Eigen- 
tümlichkeit der  Californischen  Provinz  ist  die 
starke  Differenzierung  der  Ichthyosaurier  sowie 
der  Reptiliengruppe  der  Thalattosaurier. 

Die  Verbreitung  der  marinen  Faunen  in  den 
vier  Reichen  gestattet,  die  Hauptlandkomplexe 
von  den  dauernd  vom  Meer  bedeckten  Geosyn- 
klinalregionen  abzugrenzen  und  deren  Umrisse  in 
den  Grundzügen  festzulegen.  Ein  großer  Kontinent 
im  Norden  der  Tethys,  aus  Fennoskandia  und 
Angaraland  gebildet;  zwei  der  Tethys  im  Süden 
vorgelagerte  Landkomplexe,  Indoafrika  im  Westen, 
Australien  im  Osten;  auf  der  westlichen  Halbkugel 
Laurentia  einschließlich  des  Mississippigebietes  und 
Brasilia.  Die  zugehörigen  Meere  sind:  i.  Das 
Arktische  Meer  im  Zirkumpolargebiet.  Es 
hatte  zur  Zeit  der  karnischen  Transgression  seine 
größte  Ausdehnung,  doch  war  Nordsibirien  west- 


lich der  Lenamündung,  Nowaja  Semlja,  Franz 
Josephs  Land  und  das  mit  Laurentia  verschmolzene 
Grönland  Festland.  Die  Verbindung  mit  dem 
pazifischen  Randmeer,  die  auf  Grund  faunisti- 
scher  Übereinstimmungen  angenommen  werden 
muß,  fand  vom  Ochotskischen  Meer  quer  über 
Ostsibirien  zur  Olenek- Mündung  statt.  2.  Die 
Tethys  erstreckte  sich  von  der  Straße  von 
Gibraltar  im  Bereich  der  jungen  P'altengebirge 
bis  nach  Tonkin;  zur  skythischen  Zeit  greift  sie 
über  die  astrachanische  Steppe  hinüber  und  stand 
vielleicht  an  der  Ostseite  des  Ural  entlang  mit 
dem  Eismeer  in  Verbindung.  Dem  westlichen 
Teil  der  Tethys  ist  angegliedert  das  germanische 
und  spanisch  nordafrikanische  Binnenmeer.  Ersteres 
ist  von  der  Tethys  durch  den  sich  s.  w.  bis  n.  ö. 
erstreckenden  vindelizischen  Rücken  getrennt. 
Die  Verbindung  mit  der  alpinen  Trias  ging  im 
Osten  über  Oberschlesien,  die  Tatra  und  die 
Beskiden  nach  den  inneren  Karpathen  und  dem 
Bakony,  im  Westen  über  das  Rhünetal  und  die 
Provence,  wo  es  mit  dem  spanisch  -  nordafrika- 
nischen Binnenmeer  zusammentraf.  Letzteres  ist 
seinerseits  von  der  alpinen  Tethys  durch  den 
korsisch  -  sardinischen  Inselrücken  getrennt.  Die 
alpine  Tethys  ist  als  ein  Meer  von  mäßiger  Tiefe 
mit  einzelnen  herausragenden  Inseln  (Montblanc 
Massiv,  östliche  Zentralalpen,  Karnische  Kette, 
Serbisches  Massiv,  Rhodope  Masse)  aufzufassen. 
Die  Grenzen  mit  der  östlichen  Tethys  sind  noch 
unsicher.  Südlich  der  Indusmündung  schob  sich 
das  langgestreckte  äthiopische  Mittelmeer  bis 
Madagaskar  zwischen  den  afrikanischen  Kontinent 
unddiemadagassisch-indischeHalbinsel(Gondwana- 
halbinsel),  im  Norden  war  Russisch-Asien  und  das 
mittlere  China  P'estland.  Im  Gebiet  des  heutigen 
Hinterindien  trennte  die  Insel  von  Kambodscha 
einen  ostchinesischen  von  einem  burmanischen 
Meeresarm,  die  sich  beide  im  Sunda  Archipel 
wieder  vereinigten.  Ein  Ozean  im  morphologischen 
Sinne  war  die  Tethys  nicht;  sie  stellt  sich  uns 
vielmehr  dar  als  eine  Aneinanderreihung  einzelner 
inselreicher,  zerlappter  Ingressionsmeere  mit 
wechselnder,  aber  meist  geringer  Tiefe  und  einer 
Maximalbreite  von  2000  km;  zeitweise  muß  eine 
Überbrückung  dieses  Mittelmeergürtels  vorhanden 
gewesen  sein,  worauf  die  engen  Beziehungen  der 
Landwirbeltierfauna,  namentlich  der  Labyrintho- 
donten  von  Schwaben,  Südafrika  und  Indien  hin- 
weisen. 3.  Das  pazifische  Randmeer,  dessen 
Ablagerungen  von  Neuseeland ,  Neucaledonien, 
den  Molukken,  den  japanischen  Inseln,  der  Mamga- 
Bucht  am  ochotskischen  Meer,  Alaska,  der  nord- 
amerikanischen Westküste  bis  Nieder-Californien, 
von  Columbien  und  Peru  bekannt  sind ,  kommt 
dem  Umriß  des  heutigen  Pazifischen  Ozeans 
ziemlich  nahe.  Wie  in  der  Gegenwart  war  auch 
zur  Obertrias  das  pazifische  Randmeer  von  einem 
Kranz  von  \''ulkanen  umgeben.  Für  die  Annahme 
eines  in  der  Mitte  des  heutigen  pazifischen  Ozeans 
gelegenen  triadischen  Kontinentes  (Hang)  sind 
keine     positiven     Beweise     vorhanden.       4.    Die 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


califo mische  See  bildet  eine  Erweiterung  des 
pazifischen  Raiidmeeres  und  reichte  vom  Puget 
Sound  über  Oregon,  Wyoming,  Idaho,  Nevada 
und  CaUfornien.  Ihre  Ostgrenze  wird  durch  die 
kontinentalen  redbeds  bezeichnet,  die  von  den 
Rocky  Mountanis  bis  in  das  westliche  Texas  und 
weiter  östlich  dieser  Linie  nachgewiesen  sind. 
5.  Der  Poseidon.  Wenngleich  marine  Ablage- 
rungen dieses  „miitelatlantischen"  Meeres  nicht 
bekannt  sind,  muß  seine  Existenz  aus  den  fau- 
nistischen  Beziehungen  zwischen  der  californischen 
und  mediterranen  Trias  angenommen  werden. 
Die  Verbindung  fand  im  Osten  über  die  betische 
KordiUere,  im  Westen  über  die  durch  Meeres- 
ablagerungen gekennzeichnete  Straße  von  Zacatecas 
in  Mexiko  statt.  Ob  eine  zweite  Verbindung 
nach  dem  andinen  Reich  über  Columbien  vor- 
handen war,  läßt  sich  nicht  mit  Sicherheit  nach- 
weisen. Während  der  Obertrias  war  der  nörd- 
liche Atlantik  von  dem  arktischen  Meer  durch 
eine  wahrscheinlich  in  einen  Inselarchipel  auf- 
gelöste Landbrücke  getrennt,  über  die  die  Land- 
Labyrinthodonten  und  Reptilien  Mittel- Europas 
ihren  Weg  nach  den  westlichen  Staaten  Nord- 
amerikas fanden.  Nach  Süden  dehnte  sich  der 
Poseidon  etwa  in  seinem  heutigen  Umfang  aus; 
positive  Beweise  für  eine  Landverbindung  des 
Festlandes  von  Süd-Afrika  mit  Brasilia  lassen  sich 
aus  der  Wirbeltierfauna  und  der  Flora  beider 
Kontinente  nicht  entnehmen.  6.  Die  Ausdehnung 
des  Indischen  Ozeans  während  der  Trias 
ist  nicht  bekannt,  da  Triassedimente  im  Küsten- 
bereich des  heutigen  Indischen  Ozeans  nur  von 
Tenasserim,  Malaka,  Sumatra  angegeben  sind. 
Die  Ähnlichkeit  der  Wirbeltierfauna  und  der  Flora 
von  Cambodscha  und  dem  während  der  Trias 
festländischen  Australkontinent  macht  eine  zeit- 
weilige Verbindung  beider  Gebiete  über  die 
Inselbrücke  des  hinterindschen  Archipels  wahr- 
scheinlich. Die  andere  Begrenzung  des  indischen 
Ozeans  ist  zu  suchen  in  der  langgestreckten 
Gondwanahalbinsel,  deren  Existenz  aus  den  engen 
verwandtschaftlichen  Beziehungen  der  Landwirbel- 
tierfauna der  südafrikanischen  Karroo-  und  der 
indischen  Gondwana-Schichten  allgemein  aner- 
kannt wird.  Die  Annahme  eines  indischen  Ozeans 
macht  zudem  das  unvermittelte,  fast  gleichzeitige 
Auftreten  der  Tropitiden  und  Haloritiden  im 
Mittelmeer,  im  Himalaya  und  in  der  californischen 
See  erklärlich,  da  für  diese  kryptogenen  Typen 
der  Indische  Ozean  eine  ungestörte  Entwicklung 
ermöglichte. 

Im  allgemeinen  betrachtet ,  erhält  man  ein 
Kartenbild  von  der  Trias,  das  dem  der  Gegenwart 
ziemlich  nahe  kommt  und  mit  der  Annahme  von 
der  Stetigkeit  der  Kontinente  und  Ozeane  gut 
übereinstimmt.  Schon  für  die  Trias  ergibt  sich 
ein  Überwiegen  der  Landbedeckung  auf  der  nörd- 
lichen, der  Wasserbedeckung  auf  der  südlichen 
Halbkugel,  im  Gebiet  des  Nordpols  ein  arktisches 
Meer,  auf  dem  entgegengesetzten  Pol  ein  ant- 
arktisches  Festland.     Der  Nachweis   von   Klima- 


gürteln während  der  Trias,  wie  sie  Neumayer  für 
den  Jura  und  die  Kreide  annimmt,  läßt  sich  aus 
der  Betrachtung  der  marinen  Faunen  allein  nicht 
erbringen,  wenngleich  der  ausgeprägte  Gegensatz 
der  borealen  von  der  gemäßigt  äquatorialen  Fauna 
während  der  skythischen  und  anisischen  Stufe 
den  Gedanken  einer  klimatischen  Differenzierung 
als  Ursache  dieser  Faunensonderung  leicht  auf- 
kommen läßt.  Dagegen  spricht  das  Auftreten 
einer  karnischen  Fauna  auf  den  Neusibirischen 
Inseln,  die  kein  boreales  Gepräge  besitzt,  vielmehr 
enge  Beziehungen  zum  himalayischen  Reich 
aufweist,  sowie  das  Vorkommen  rift'bauender 
Korallen  in  Alaska  unter  6o-'  nördlicher  Breite. 
Auch  die  über  weite  Flächen  übereinstimmende 
Verbreitung  der  Landfauna  und  Flora  spricht 
mehr  für  ein  gleichförmigeres  Klima.  Gleichwohl 
werden  klimatische  Differenzierungen  vorhanden 
gewesen  sein ,  nur  gibt  uns  Fauna  und  Flora 
hierüber  einstweilen  keine  x'^nhaltspunkte.  Sehr 
wichtig  ist  in  diesem  Zusammenhang  die  Tatsache, 
daß  alle  bisher  bekannten  Triasfloren  aus  den 
Randgebieten  der  Meere  stammen,  daß  aus  dem 
Innern  der  Kontinente,  wo  die  Annahme  exzessiven 
Klimas  sehr  wahrscheinlich  ist,  bisher  fossile  Floren 
nicht  bekannt  sind.  Auch  dürfte  die  Verteilung 
von  Land  und  Meer  während  der  Trias,  die  Aus- 
bildung einer  einheitlichen  Wasserbedeckung  im 
Bereich  der  heutigen  äquatorialen  Gebiete  rings 
um  die  Erde  ein  wesentlich  gleichmäßigeres 
Klima  als  in  der  Gegenwart  bewirkt  haben.     L. 

Zoologie.  Der  Generationswechsel  im  Tier-  und 
Pflanzenreich.  Goeldi  und  F'ischer  ^),  Zoologe 
und  Botaniker,  ziehen  einen  Vergleich  zwischen 
dem  Entwicklungsverlaufe  bei  geschlechtlicher  Fort- 
pflanzung im  Tier-  und  Pflanzenreich  und  kommen 
zu  dem  Resultat,  daß  „der  artliche  Lebenszyklus 
bei  Pflanze  und  Tier  in  bezug  auf  Entwicklung 
und  Fortpflanzung  in  übereinstimmender  Weise 
verläuft"  (Goeldij.  Der  von  Hofmeister  bei 
den  höheren  Kryptogamen  um  die  Mitte  des 
vergangenen  Jahrhunderts  entdeckte  Generations- 
wechsel, der  regelmäßige  Wechsel  zwischen  un- 
geschlechtlicher und  geschlechtlicher  Generation, 
zwischen  Sporophyt  und  Gametophyt,  findet  sich 
nicht  nur  auch  bei  Phanerogamen  und  niederen 
Kryptogamen,  sondern  er  kommt  nach  Goeldi 
und  Fischer  überhaupt  allen  geschlechtlich  sich 
fortpflanzenden  Organismen  zu,  wenn  er  auch  bei 


')  Goeldi,  E.  A.,  Vergleich  zwischen  dem  Entwicklungs- 
verlauf bei  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  im  Pflanzen- 
und  im  Tierreich  und  Vorschlag  zu  einer  Verständigung 
zwischen  Zoologen  und  Botanikern  auf  Grund  einer  einheit- 
lichen biologischen  Terminologie.  Verhandl.  d.  Schweiz. 
Xalurf.   Ges.,  97.  Sitz.,  11.  Teil,  Genf  191;. 

Goeldi,  E.  A.  u.  Fischer,  Ed.,  Der  Generations- 
wechsel im  Tier-  und  Pflanzenreich,  mit  Vorschlägen  zu  einer 
einheitlichen  biologischen  Auffassung  und  Benennungsweise. 
Ein  Beitrag  zur  Förderung  des  höheren  naturkundlichen  Unter- 
richts und  des  Verständnisses  fundamentaler  Lebensvorgänge. 
Milteil.  d.  Naturf.  Ges.  in  Bern  aus  dem  Jahre  1910,  Bern  1916. 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


Naturvvissenscliaftliche  Wochenschrift. 


[2S 


den  höheren  Organismen  meist  stark  modifiziert 
ist  und  sich  sein  Vorhandensein  nur  noch  durch 
theoretische  Erwägungen  erkennen  läßt.  Das 
veranlaßt  sie ,  Vorschläge  zu  einer  einheitlichen 
biologischen  Auffassung  und  Benennungsweise  zu 
machen ,  deren  Annahme  oder  wenigstens  Dis- 
kussion sie  im  Interesse  der  biologischen  Forschung 
für  dringend  erwünscht  halten.  Diese  Auffassung, 
des  Generalionswechsels  ist  nicht  neu,  und  be- 
sonders G  o  e  1  d  i  betont  auch  wiederholt ,  daß 
sein  Interesse  an  diesen  Fragen  ganz  wesentlich 
durch  die  Lektüre  einer  vor  einigen  Jahren  er- 
schienenen Schrift  des  französischen  Entomologen 
Jan  et')  geweckt  und  angefacht  wurde.  Janet 
hat  indessen  seinerzeit  wenig  Gegenliebe  für  seine 
Ideen  gefunden,  und  nach  einigen  Aufsätzen  zu 
urteilen ,  die  das  gleiche  Thema  behandeln  und 
ungefähr  zur  gleichen  Zeit  erschienen  sind  wie 
die  Abhandlungen  von  Goeldi  und  Fischer, 
dürfte  es  diesen  niciit  viel  anders  ergehen.  Doch 
betrachten  wir,  ehe  wir  die  Einwände  anderer 
Forscher  erörtern,  zunächst  die  Vorschläge 
G  o  e  1  d  i '  s  und  F  i  s  c  h  e  r '  s. 

Will  man  den  Begriff  „Generationswechsel", 
wie  ihn  die  Botaniker  seit  Hofmeister  ver- 
wenden, auf  das  Tierreich  übertragen,  so  muß 
man,  um  Verwirrungen  vorzubeugen,  für  den 
„zoologischen  Generationswechsel"  eine  andere 
Bezeichnung  suchen.  Denn  der  Generationswechsel 
der  Zoologen,  den  A.  v.  Chamisso  1819  zuerst 
bei  den  Salpen  entdeckte,  ist  durchaus  verschieden 
von  dem  Hofmeister' sehen  Generationswechsel. 
Während  dieser,  auch  „antithetischer  (ienerations- 
wechsel"  genannt,  sich  innerhalb  des  onto- 
genetischen  Lebenslaufes  eines  und 
desselben  Individuums  abspielt,  stellt  jener 
einen  Lebenszyklus  zweier  oder  auch 
mehrerer,  häufig  sogar  zahlreicher 
Individuen  einer  und  derselben  Art  dar.  Beim 
botanischen  Generationswechsel  folgt  in  strengem 
Rhythmus  auf  die  sporophytische  Generation  die 
gametophytische  oder,  wenn  wir  die  verschiedene 
Chromosomenzahl  der  beiden  Generationen  in 
der  Bezeichnung  zum  Ausdruck  bringen  wollen, 
die  diploide  auf  die  haploide  Generation.  Beim 
zoologischen  Generationswechsel  können  auf  die 
geschlechtliche  Generation  mehrere  ungeschlecht- 
liche folgen,  auch  ist  die  Fortpflanzungsweise  der 
ungeschlechtlichen  Generation  (durch  Teilung  oder 
Knospung)  eine  ganz  andere  als  dort,  und  sodann 
sind  alle  Generationen ,  geschlechtliche  wie  un- 
geschlechtliche,  diploid,  d.  h.  alle  besitzen  die 
„normale",  die  doppelte  Chromosomengarnitur. 
Wollte  man  nach  derh  Prioritätsgesetze  verfahren, 
so  müßten  freilich  die  Botaniker  auf  ihre  Be- 
zeichnung verzichten,  da  ihr  „Generationswechsel" 
der  jüngere  ist,  aber  in  diesem  Falle  dürfte  es 
wohl  auch  den  meisten  Zoologen  zweckmäßig 
erscheinen,    für    den    Hofm  eist  er  "sehen  Gene- 


'j  Janet,    Ch.,    Le    sporophyte    et    le    gamctophyte    du 
vegetal;    le    soma    et    le   germen   de  l'insecte.     Limoges   1912. 


ralionswechsel  diese  Bezeichnung  beizubehalten, 
zumal  da  für  den  alten  zoologischen  Generations- 
wechsel bereits  eine  andere  Bezeichnung  existiert  — 
Metagenesis.  Sodann  wird  der  Begriff  von  den 
Zoologen  in  sehr  verschiedenem  Sinne  gebraucht; 
die  einen  bezeichnen  nur  den  Wechsel  zwischen 
geschlechtlichen  und  ungeschlechtlichen  Genera- 
tionen (Metagenesis)  als  Generationswechsel,  die 
anderen  rechnen  auch  den  Wechsel  zwischen 
zw  ei  geschlechtlichen  und  eingeschlechtlichen, 
d.  h.  parthenogenetischen,  Generationen  (Hetero- 
gonie)  dazu.  Dem  Vorschlage  von  Goeldi  und 
Fischer,  die  zoologische  Auffassung  des  Be- 
griffes vom  Generationswechsel  aufzugeben,  kann 
man  also,  wie  mir  scheint,  ohne  Bedenken  zu- 
stimmen. 

Die  beiden  Hauptabschnitte  beim  antithetischen 
Generationswechsel  sind  der  sporobiontische  und 
der  gametobiontische  Abschnitt,  Sporobi  ont 
und  Gametobiont  oderDiplont  und  Haplont. 
Der  Moment  der  Reduktionsteilung  stellt  den 
Übergang  von  der  ungeschlechtlichen  zur  geschlecht- 
lichen Generation  dar.  Jeden  der  beiden  Abschnitte 
teilen  Goeldi  und  Fischer  wieder  in  vier  Unter- 
phasen ein.  Die  ungeschlechtliche,  diploide  Gene- 
ration beginnt  mit  der  Zygote.  Aus  dieser  ent- 
wickelt sich  das  Soma  desSporobionten. 
Die  dritte  Unterphase  bezeichnen  sie  alsSporo- 
gonarium,  das  die  Gonotokonten  erzeugt, 
d.  h.  diejenigen  Zellen,  welche  die  Redukiions- 
teilung  eingehen.  Die  Gonotokonten  werden 
durch  zweimalige  Teilung,  die  sog.  Tetradenbildung, 
in  vier  Zellen  aufgeteilt.  Damit  erhalten  wir  das 
erste  Stadium  des  Gametobionten,  die  Tetracyte. 
Aus  dieser  entsteht  das  Soma  des  Gameto- 
bionten. Die  dritte  Unterphase  dieser  Generation 
ist  das  Ga  melangium  ,  welches  unmittelbar  die 
Gameten  erzeugt.  Das  Produkt  der  Vereinigung 
zweier  Gameten  ist  wieder  die  Zygote,  und  damit 
ist  der  Kreislauf  geschlossen. 

Betrachten  wir  den  Generalionswechsel  bei 
einem  kryptogamischen  Gewächs  mittlerer  Organi- 
sationshöhe, z.  B.  einem  Moose,  so  ist  es  nicht 
schwer,  die  beiden  Hauptabschnitte  und  die  acht 
Unterphasen  herauszufinden.  Beide  Generationen, 
Sporobiont  und  Gametobiont,  sind  wohl  entwickelt. 
Aus  der  befruchteten  Eizelle,  der  Zygote,  geht 
ein  Embryo  hervor,  welcher  zum  Sporogonium, 
dem  Soma  des  Sporobionten,  heranwächst.  Die 
Mooskapsel  stellt  die  dritte  Unterphase  der  sporo- 
biontischen  Generation,  das  Sporogonarium,  dar, 
in  dem  als  Sporenmutterzellen  die  Gonotokonten 
entstehen.  Die  Sporen  sind  gleich  den  Tetracyten, 
also  das  erste  Stadium  des  Gametobionten.  Sie 
liefern  das  Soma  des  Gametobionten,  bei  den 
Moosen  als  Protonema  und  Moospflanze  bezeichnet. 
Tn  den  beiden  letzten  Phasen  erfolgt  die  Bildung 
der  Sexualorgane.  Antheridien  und  Archegonien 
sind  gleich  dem  Gametangium,  Spermatozoiden 
und  Eizellen  sind  die  Gameten. 

Bei  den  höheren  Pflanzen,  den  Pteridophyten 
und     vor     allem    den    Phanerogamen,     tritt    der 


126 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr 


Gametobioiil  gegenüber  dem  Sporobionten  mehr 
und  mehr  zurück,  so  daß  es  bei  den  Angio- 
spermen schwer  wird,  im  Gametobiontabschnitt 
noch  vier  Unterphasen  zu  unterscheiden.  Zygote  — 
Embryo,  beblätterte  Pflanze  —  Pollensack  und 
Nucellus  der  Samenanlage  —  Pollenmutterzelle 
und  Embrj'osackmutterzelle  sind  nach  Goeldi 
und  Fischer  die  vier  Unterphasen  des  Sporo- 
bionten. Der  Gametobiont  beginnt  bei  den 
Angiospermen  mit  dem  Pollenkorn  einerseits,  dem 
Embryosack  -f  3  degenerierten  Schwesterzellen 
andererseits  (Tetracyten).  Das  Soma  des  Gameto- 
bionten  ist  außerordentlich  reduziert;  es  besteht 
im  männlichen  Geschlecht  nur  aus  der  vegetativen 
Zelle  (Pollenschlauch),  im  weiblichen  aus  den 
Antipoden  und  den  Polkernen  sowie  den  Syner- 
giden. Die  dritte  Unterphase  läßt  sich  nur  im 
männlichen  Geschlecht  konstatieren:  generative 
Zelle  gleich  Gametangium.  Die  Spermakerne  und 
die  Eizelle  sind  die  Gameten. 

Noch  schwieriger  ist  die  Erkennung  der  ein- 
zelnen Stadien  des  antithetischen  Generations- 
wechsels bei  den  höheren  Tieren.  (Von  den 
Protozoen,  die  Goeldi  in  einem  eigenen  Ab- 
schnitte behandelt,  wollen  wir  in  dieser  Be- 
sprechung absehen.)  Beginnen  wir  wieder  mit 
dem  Sporobionten  (im  speziellen  auch  S  p  o  r  o  z  o  i  t 
genannt  im  Gegensatz  zum  Sp  orophy  t  e  n). 
Aus  der  Zygote  entstehen  Blastula  und  Soma  des 
Tieres.  Anlage  und  Differenzierung  der  Keim- 
drüsen bezeichnen  die  dritte  Unterphase ,  das 
Sporogonarium.  Spermatocyte  und  Oocyte 
I.  Ordnung  sind  die  Gonotokonten.  Die  beiden 
Reifungsteilungen  leiten  zum  Gametobionten  (auch 
Gametozoit  im  Gegensatz  zum  Gameto- 
phyten)  über,  die  Spermatiden  und  die  jungen 
Eier  (-|-  3  Richtungskörperchen)  sind  die  Tetra- 
cyten. Das  Soma  des  Gametozoiten  und  die 
Gametangium-Phase  fehlen  bei  allen  Metazoen 
vollständig,  und  auch  die  vierte  Unterphase  ist 
fast  gleich  der  ersten:  Spermatiden  und  junges 
Ei  werden  zu  den  Gameten,  den  Spermien  und 
dem  Reif- Ei. 

Es  ist  gewiß  nur  zu  begrüßen ,  wenn  die 
beiden  biologischen  Disziplinen,  Botanik  und 
Zoologie,  mehr  und  mehr  Hand  in  Hand  arbeiten. 
Wie  notwendig  es  ist,  daß  einheitliche  Probleme 
von  Botanikern  und  Zoologen  unter  einheitlichen 
Gesichtspunkten  bearbeitet  werden,  wenn  unnütze 
Arbeit  vermieden  werden  soll,  das  zeigt  neuer- 
dings zur  Genüge  die  Vererbungsforschung.  Gleiche 
Erscheinungen  sollten  auch  gleiche  Benennungen 
finden.  Als  Motto  stellen  Goeld  i  und  Fischer 
ihrer  Abhandlung  die  Worte  O.  Hertwig's 
voran :  „Tiefere  P^orschung  deckt  überall  die  Einheit 
in  den  fundamentalen  Lebensprozessen  der  ganzen 
Organismenwelt  auf"  Gern  wird  man  dem  zu- 
stimmen. Diese  Erkenntnis  darf  uns  indessen 
nicht  verleiten,  nun  alles  in  ein  Schema  zwängen 
zu  wollen.  Goeldi  und  P"ischer  postulieren 
den  Generationswechsel  „als  eine  dem  Individuum 
zukommende  Allgemeinerscheinung".  Sie  vermögen 


aber  bei  den  Metazoen  nur  eine  Generation  nach- 
zuweisen. „Von  einer  Generation",  sagt  G  o  e  b  e  U) 
ganz  mit  Recht,  „kann  man  eigentlich  nur  reden, 
wenn  es  sich  um  einen  wenigstens  einigermaßen 
selbständig  für  sich  bestehenden  Entwicklungs- 
abschnitt handelt,  also  einen  solchen,  bei  welchem 
der  Bildung  der  Fortpflanzungszellen  vegetative 
Teilungen  vorangehen,  oder  doch  —  wie  aus 
vergleichenden  Gründen  angenommen  werden 
muß  —  ursprünglich  vorangegangen  sind."  Irgend- 
ein Beweis  für  die  ehemalige  Existenz  einer 
zweiten  Generation   bei  Metazoen    fehlt    indessen. 

Goeldi  und  Fischer  gehen  aber  auch 
bereits  zu  weit,  wenn  sie  behaupten,  daß  die 
Botaniker  allgemein  „den  Generationswechsel 
als  eine  jedem  Pflanzenindividuum  zu- 
kommende, generelle  Allgemein- 
erscheinung postulieren".  So  schreibt  erst 
kürzlich  Renner'-)  zu  dieser  Frage:  „Die  Ein- 
beziehung der  niedersten  Kryptogamen  und  der 
Tiere  in  das  Generationswechselschema  hätte  nur 
dann  eine  gewisse  Berechtigung,  wenn  Grund  zu 
der  Annahme  vorhanden  wäre,  daß  die  jeweils 
durch  die  minimale  Zellenzahl  repräsentierte 
, Generation'  durch  Reduktion  in  den  rudimentären 
Zustand  gekommen  sei.  Diese  Annahme  hat  aber 
noch  niemand  wahrscheinlich  gemacht.  Ohne 
Beziehung  auf  höhere  Formen  würde  niemand  in 
dem  Entwicklungsgang  einer  Grünalge  wie  Oedo- 
gonium,  um  bei  den  Pflanzen  zu  bleiben,  einen 
.antithetischen'  Generationswechsel  entdecken,  und 
wenn  wir  eine  tatsächliche  phylogenetische  Be- 
ziehung im  absteigenden  Sinne  leugnen,  müssen 
wir  sagen:  Oedogonium  hat  keinen,  oder  wenn 
wir  wollen,  hat  noch  keinen  Generationswechsel. 
Ebensowenig  wissen  wir  von  den  pennaten  Dia- 
tomeen, wie  sie  zu  ihrem  diploiden  Vegetations- 
körper gekommen  sind,  der  wie  ein  Tier  nur 
haploide  Gameten  erzeugt,  und  so  lange  wir 
nicht  urteilen  können:  Surirella  hat  keine  aus- 
gebildete haploide  Generation  mehr,  so  lange 
wenigstens  müssen  wir  sagen:  Surirella  besitzt 
keinen   Generationswechsel." 

Zum  Schluß  auch  noch  das  Urteil  eines 
Zoologen:  „Unserer  Meinung  nach",  sagt  Hart- 
mann,'')  „handelt  es  sich  hierbei  um  eine  Über- 
tragung eines  Schemas,  das  bei  höheren  Pflanzen 
durch  die  konstante  Verbindung  von  Sporen- 
bildung mit  der  Reduktion  zustande  gekommen 
ist  und  hier  seine  teilweise  Berechtigung  hat,  das 
aber  nur  mit  Zwang  und  in  voller  Verdrehung  des 
Ausdrucks  Generation  und  Generationswechsel 
auf  die  meisten  Algen  und  Pilze  übertragen 
werden  kann.  Denn  es  ist  doch  eine  Verkennung 
des  Begriffs  Generation,    wenn   eine  sog.  Genera- 


')  Goebel,  K.,  Organographie  der  Pflanzen.  2.  Aufl., 
Jena   1901. 

'-)  Renner,  O.,  Zur  Terminologie  des  pflanzlichen  Gene- 
rationswechsels.    Biol.  Centralbl.,  Bd.  36,   19 16. 

')  Hartmann,  M.,  Mikrobiologie.  Allgemeine  Biologie 
der  Protisten.  In:  Die  Kultur  der  Gegenwart,  3.  Teil,  4.  Abt., 
I.  Bd.,  Allgemeine  Biologie.     Leipzig  u.  Berlin   1915. 


N.  F.  XVI.  Nr.  9 


Naturwissenscliaftliche  Wochenschrift. 


tion  als  solche  überhaupt  keine  Generation,  keine 
Vermehrung  zeigt.  Dazu  führt  aber  die  skizzierte 
Auffassung  der  Botaniker,  die  ohne  weiteres 
Gametophytmit  haploider,  Sporophyt  mit  diploider 
Generation  identifiziert,  wenn  man  sie  auf  die 
Protozoen  und  viele  Algen  anzuwenden  sucht. 
Bei  fast  allen  Protozoen  (und  Metazoenj,  und 
dasselbe  gilt  für  die  Diatomeen  und  Fucus  unter 
den  Algen,  bestände  der  Gamont  (Gametophyt) 
nur  aus  einer  Zelle,  der  Gamete,  die  sich  als 
solche  nicht  fortpflanzt,  sondern  nur  kopuliert. 
Alle  fortpflanzungsfähigen  Generationen  zu- 
sammen aber,  die  agamen  wie  die  gameten- 
bildenden ,  entsprächen  dem  Sporonten  (Sporo- 
phyten).  Umgekehrt  ist  für  die  konjugaten  Algen 
der  Sporophyt  auf  ein  Zellindividuum,  die  Zygote, 
beschränkt,  und  alle  übrigen  sind  haploid,  bilden 
also  zusammen  den  Gametophyten.  Ganz  un- 
durchfühibar  ist  diese  Auffassung  aber  bei  einem 
Flagellat  mit  extremer  Autogamie,  da  hier  die 
gleiche  Zelle  nacheinander  erst  die  diploide,  dann 
die  haploide,  dann  wieder  diploide  Generation 
darstellen  würde.  Wenn  man  in  dieser  Weise 
den  Generationswechsel  faßt,  dann  muß  eben 
jedem  Organismus  mit  Befruchtung  ein  solcher 
zukommen;  denn  wie  Weis  mann  in  genialer 
Konzeption  theoretisch  vorausgesagt  hat,  und  wie 
in  allen  Arbeiten  aufs  neue  bestätigt  wird,  ist  mit 
jeder  Befruchtung  auch  eine  Reduktionsteilung 
verbunden,  und  neuere  Befunde  bei  Amöben, 
Algen  und  Pilzen  zeigen  so  recht  deutlich ,  daß 
die  Reduktion  nur  eine  Folge  der  Caryogamie  ist, 
gleichgültig,  ob  sie  sofort  in  der  Zygote  erfolgt 
(Spirogyra)  oder  erst  vor  einer  neuen  Befruchtung 
(Protozoen,  Diatomeen)  oder  in  der  Mitte.zwischen 
zwei  Befruchtungen.  Da  aber  die  Befruchtung 
ein  Vorgang  ist,  der  ursprünglich  nichts  mit  der 
Fortpflanzung  (Generation)  zu  tun  hat,  so  kann 
auch  die  Reduktion  ursprünglich  nichts  mit  Fort- 
pflanzung zu  tun  haben  (dies  zeigen  auch  gerade 
dieReduktionsvorgänge  bei  den  primitiven  Amöben), 
und  ist  erst  sekundär  aus  ökonomischen  Gründen 
mit  zur  Fortpflanzung  verwendet  worden." 

Nachtsheim. 


Der  deutsche  Vogelschutz  im  Kriegsjahr  191 6. 
Die  diesmaligen  Jahresberichte  über  Vogel- 
schutz im  ersten  Heft  der  Ornithologischen 
Monatsschrift,  Jahrgang  1917,  klingen  zum  Teil 
weniger  optimistisch  als  die  vorm  Jahre.  Der 
deutsche  Verein  für  Vogelschutz  hat  nicht  nur 
ein  erschwertes  Durchhalten,  sondern  sieht  manche 
von  seinen  Zielen  in  weitere  Ferne  gerückt  als 
je.  So  beklagt  er  die  Wiedereinführung  des 
Dohnenstiegs,  die  bekanntlich  1916  zu  spät  kam, 
als  daß  sie  viele  Krammetsvögel  hätte  auf  den 
Markt  bringen  können,  und  hebt  die  wirtschaftliche 
Geringfügigkeit  dieser  Maßregel  hervor,  während 
der  Waidmann  ihre  Bedeutungslosigkeit  für  die 
Vogelwelt,  namentlich  bei  nicht  international  ge- 
übtem Schutz,    zu  betonen  pflegt.     Die   auf  Jahre 


hinaus  eingetretene  Hemmung  der  internationalen 
Bestrebungen  wird  gleichfalls  tief  beklagt,  die  Zer- 
störung von  Vogel freistätten  an  der  Nordseeküste, 
die  fortschreitende  Kultivierung  der  Moore  und 
das  vielfache  Aufhören  der  Vogelfütterung  be- 
dauert. In  diesen  Punkten  hat  der  Vogelschutz 
hinter  wichtigeren  Aufgaben  zurücktreten  müssen. 
Ein  Lichtblick  ist  die  Einführung  der  Katzensteuer. 
Die  Beschaffung  von  Wohnstätten  für  Vögel  ist 
während  des  Krieges  fortgesetzt   worden. 

Da  der  „Ellenbogen"  von  Sylt  militärischen 
Zwecken  dienen  mußte,  ist  eine  überaus  reiche, 
seit  Naumann's  Tagen  hoch  berühmte  Möven- 
brutkolonie  fast  vollständig  zerstört  und  damit 
die  einzige  Brutstätte  der  Kaspischen  See- 
schwalbe, Sterna  caspica,  in  Deutschland  voraus- 
sichtlich für  immer  dahin. 

Durch  Eierraub  schwand  nach  Berg  der 
Säbelschnabler,  Recurvirostra  avosetha  bis 
auf  wenige  Paare  von  Hiddensee;  13  haben  nach 
Hübner  gebrütet.  Auch  andere  dortige  Vogel- 
arten hatten  unter  Eierraub  mehr  denn  je  zu  leiden, 
trotzdem  haben  die  schon  vorher  überaus  zahl- 
reichen Kiebitze  nach  übereinstimmenden  An- 
gaben von  Hübner  und  Berg  noch  zugenommen, 
ebenso  der  Rotschenkel,  Totanus  totanus  und  bei- 
läufig bemerkt,  das  schwarze  Wasserhuhn  und  die 
Brandgans.  Neue  Brutvögel  sind  der  Bruchwasser- 
läufer und,  wenigstens  zum  ersten  Male  sichergestellt, 
der  Wachtelkönig.  Aus  nicht  zu  erklärenden 
Gründen  waren  die  Turnierplätze  der  Kampfläufer 
weniger  besucht  als  früher,  eine  wahrscheinlich 
vorübergehende  Erscheinung. 

An  der  pommcrschen  Küste  stellte  Professor 
Hübner  eine  Verspätung  des  Frühjahrszuges 
unter  anderem  beim  Kiebitz  fest.  Die  ersten 
Kiebitze  erschienen  am  17.  März,  während  ihre 
mittlere  Ortsankunft  auf  den  i.  März  fällt.  Dies 
und  das  Eintreffen  ungeheurer,  die  Sonne  ver- 
finsternder Scharen  von  Kiebitzen  am  29.  März 
wird  auf  die  Kriegsereignisse  an  der  Westfront 
zurückgeführt.  Ich  habe  an  der  Aisne  191 5  und 
1916  keine  Störung  des  Kiebitzdurchzuges  infolge 
von  Kriegsereignissen  bemerkt,  ebenso  wenig 
Weyland,  der  in  der  Deutschen  Jägerzeitung 
Band  68,  Nr.  17,  S.  266 -2ö8  über  den  von  der 
ansässigen  Bevölkerung  gewerbsmäßig  in  großem 
Maßstabe  betriebenen  Kiebitzfang  in  der  Champagne 
berichtet.  Die  allerersten  Kiebitze  erschienen  an 
der  Aisne  1916  in  der  Nacht  vom  27.  zum 
28.  Januar,  bis  zum  März  wurden  ihrer  immer 
mehr  und  einmal  an  10000  Stück  auf  einem 
Platze,  worüber  ich  berichtet  habe. 

Erfreuliches  berichtet  L  e  e  g  e  von  der  Vogel- 
kolonie Memmert  an  der  Nordsee.  Dort  vollzog 
sich  im  Angesicht  des  Feindes  der  Vogelschutz 
wie  mitten  im  tiefsten  Frieden.  Nur  unter  Sturm- 
fluten hat  der  Memmert  gelitten  und  stellenweise 
eine  Salzflora  anstatt  der  früheren  Pflanzendecke 
erhalten;  ein  schöner  Süßwasserteich  wurde  zu 
Jauche  mit  Stichlingen,  Gasterosteus  aculeatus,  die 


[28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  0 


früher  fehlten,  als  einzigem  Tierlebcn,  alle  anderen 
zahlreichen  Süßwassertiere,  darunter  im  Frühjahr 
191 1  angesiedelte  Süßwasserschnecken  verschie- 
dener Art,  die  sich  fabelhaft  vermehrt  hatten, 
waren  geschwunden,  ebenso  fast  das  ganze  reiche 
Schneckenleben  am  feuchten  Uferboden  und  die 
Amphibien,  während  Slurmmöven  geduldig  das 
Fallen  des  Wassers  abwarteten,  Enten  wieder- 
kehrten, das  Schwarze  Wasserhuhn  auch  hier  zunahm 
und  Brandseesch walben  gerade  in  der  ni  it  Trümmern 
besäten  Stätte  einen  willkommenen,  obschon  ver- 
änderten Brutplatz  wiederfanden.  Rotschenkel 
als  besondere  Freunde  des  Brackwassers  kamen 
gut  auf  ihre  Rechnung.  So  bemerkt  man  im  all- 
gemeinen eine  Gleichgültigkeit  der  Strandvögel 
gegen  Veränderungen  des  Brutplatzes.  Stare  zogen, 
vielleicht  wegen  der  eintöniger  gewordenen  Nahrung, 
frühzeitiger  als  sonst  ab. 

Wie  es  auf  den  anderen  Freistätten  in  der 
Nordsee,  insbesondere  auf  Norderoog,  Jordsand 
und  Trischen  aussieht,  darüber  läßt  sich  gegen- 
wärtig nichts  sagen.  V.  PVanz. 

Botanik.  Die  Gefährdung  der  amerikanischen 
Wälder  durch  den  Weymouthkieferblasenrost. 
Während  noch  vor  kurzem  der  Weymouihkieier- 
blasenrost  in  der  Heimat  der  Weymouthkiefer 
unbekannt  war,  taucht  er  neuerdings  allenthalben 
in  den  Vereinigten  Staaten  und  in  Kanada  auf  und 
hat  jetzt  eine  solche  Verbreitung  erreicht,  daß 
ganze,  große  Waldgebiele  mit  Vernichtung  be- 
droht sind.  Wie  gefährlich  die  Pflanzenkrankheit 
in  den  amerikanischen  Waldungen  wütet,  ver- 
anschaulicht am  besten  die  Tatsache,  daß  der 
Vorsitzende  der  American  Forestry  Association, 
Charles  Lathrop  Pack,  die  Gouverneure 
aller  Staaten  der  Union,  in  denen  die  Weymouth- 
kiefer wächst,  sowie  Vertreter  der  kanadischen 
Regierung  für  den  Januar  dieses  Jahres  zu  einer 
Versammlung  nach  Washington  eingeladen  hat, 
die  ausschließlich  darüber  beraten  soll,  welche 
gesetzlichen  Maßregeln  zur  Eindämmung  der 
Krankheit  nötig  sind  und  wie  sie  durchgeführt 
werden  können.  Ergriffen  sind  bisher  die  Weymouth- 
kieferwaldungen  des  Staates  New  York  —  diese 
am  stärksten  — ,  die  der  Neuenglandstaaten,  die 
Kanadas  und  die  benachbarter  Gebiete;  in  der 
Grafschaft  Essex  des  Staates  New  York  und  in 
der  Gegend  westlich  des  Champlain-Sees  sollen 
bereits  außerordentlich  viele  Bäume  vernichtet 
sein.  Es  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  der 
Kieferblasenrost  aus  Europa  eingeschleppt  ist. 
Die  amerikanischen  I-'achleute  behaupten  aufs  be- 


.stinimteste,  daß  der  Erreger  der  Krankheit, 
Peridermium  Strobi ,  vor  zehn  Jahren  mit  einer 
großen  aus  Deutschland  bezogenen  Sendung  junger 
Weymouthkiefern  eingeschleppt  worden  sei;  man 
habe  das  Unheil  erst  nach  ein  paar  Jahren  be- 
merkt, als  die  eingeführten  Kiefern  schon  längst 
auf  mehrere  Staaten  verteilt  waren.  Während 
nun  die  der  Weymouthkiefer  nahe  verwandte 
Pinus  cembra  wenig  empfindlich  gegen  den  Pilz 
ist,  leidet  in  Deutschland  die  Weymouthkiefer 
schwer  unter  ihm,  und  in  der  neuen  Welt  hat 
der  Pilz  die  denkbar  besten  Lebensbedingungen 
angetroffen.  In  den  ausgedehnten  Weymouth- 
kieferwaldungen ,  zwischen  denen  die  jungen 
Kiefern  angepflanzt  sind,  wachsen  nämlich  wilde 
Stachelbeeren  in  Mengen,  und  zudem  werden  in 
den  oben  angeführten  Staaten  Johannisbeeren  und 
Stachelbeeren  in  großem  Maßstabe  angebaut. 
Gerade  die  Ribes-Arten,  auf  denen  Peridermium 
Strobi  seine  Uredo-  und  Teleutosporen  bildet, 
sind  massenhaft  in  nächster  Nähe  vorhanden ! 
Da  der  Pilz  Generations-  und  Wirtswechsel  hat, 
gibt  es  einen  sicheren  Weg  zu  seiner  Ausrottung, 
und  diesen  denken  die  Amerikaner  in  der  Tat 
einzuschlagen,  obwohl  es  sich  um  eine  tief  in  das 
wirtschaftliche  Leben  einschneidende  Maßregel 
handelt.  Man  steht  vor  der  Wahl,  entweder  die 
Weymouthkieferwaldungen  zu  verlieren  oder  die 
Beerenobststräucher  opfern  zu  müssen,  und  da  das 
Holz  der  „white  pine",  wie  die  Amerikaner  die 
Kiefer  nennen,  volkswirtschaftlich  die  bedeutend 
wichtigere  Rolle  spielt,  will  man  die  wildwachsenden 
Beerensträucher  der  betroftenen  Gebiete  ausrotten, 
und  die  gebauten  gleichfalls  vernichten,  womit  die 
Marmeladen-,  die  Geleeerzeugung  und  die  verwandten 
Erwerbszweige  einiger  Staaten  mit  einem  Schlage 
ihrer  Rohstotle  beraubt  werden.  Die  Beobachtung 
hat  gezeigt,  daß  nur  vollkommene  Ausrottung  der 
Wirtspflanzen  aus  der  Gattung  Ribes  zum  Ziele 
führen  kann;  während  des  herbstlichen  Blattfalles 
kann  der  Pilz  nämlich  über  Entfernungen  von 
vielen  Meilen  verweht  werden.  Neben  der  Aus- 
rottung der  Beerensträucher  ist  noch  eine  sorg- 
fältige Überwachung  aller  Weymouthkieferbestände 
nötig,  bei  der,  da  die  Krankheit  bei  den  Kiefern 
nicht  immer  leicht  zu  erkennen  ist,  P'achleute  die 
Wälder  planmäßig  nach  erkrankten  Bäumen  ab- 
suchen müssen.  Der  Staat  Neu  York,  in  dem  die 
Weymouthkiefer  alle  anderen  Bäume  überwiegt, 
hat  im  vorigen  Sommer  für  diesen  Zweck  schon 
15000  Dollars  aufgewandt,  und  in  diesem  Jahre 
soll  annähernd  die  doppelte  Summe  zur  Aus- 
rottung des  Weymouthkieferblasenrostes  zur 
Verfügung  gestellt  werden.  H.  P. 


Inhalte  P.  Riebesell,  ReUuivilät  und  Gravitation.  (2  Abb.)  S.  113.  —  Kleinere  Mitteilungen:  E.  Zieprecht,  Beob- 
achtungen über  das  Vogelleben  im  Sommegebiet.  S.  I20.  üraefe,  Mineralöl  als  Speiseöl.  S.  121.  V.  Kranz, 
Farbenvariationen  von  Helix  nemoralis.  (I  Abb.)  S.  121.  —  Einzelberichte:  C.  Diener,  Die  mannen  Reiche  der 
Triasperiode.  S.  122.  Goeldi  und  Fischer,  Der  Generationswechsel  im  Tier-  und  Pflanzenreich.  S.  124.  — 
Der  deutsche  Vogelschutz  im  Kriegsjahr  1916.  S.  127.  Charles  Lathrop  Pack,  Die  Gefährdung  der  amerikanischen 
Wälder  durch  den  Weymoulhkieferblasenrost.  S.    128. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena, 
hen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Druck  der  G.  Pätz's 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  ii.  März  1917. 


Nummer   10. 


Das  Stickstoffproblem  und  seine  Lösungen. 


[Nachdn 


Von  Prof.  Dr.  Alfred  Coehi 


Wenn  wir  Lebendiges  zerstören  und  durch 
alle  Hilfsmittel,  die  wir  kennen,  durch  mechanische 
und  chemische  Einwirkungen,  in  seine  letzten 
Bestandteile  zerlegen,  so  finden  wir,  daß  alles 
Organische  —  Pflanzen,  Tiere  und  Menschen  —  in  der 
Hauptsache  vier  Elemente,  d.  h.  durch  menschliche 
Kunst  nicht  weiter  zerlegbare  Stoffe  enthält, 
nämlich  Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stick- 
stoff. Damit  also  Lebendiges  existieren  und 
wachsen  kann,  müssen  ihm  diese  Stoffe  in  immer 
neuen  Mengen  zugeführt  werden.  Das  einzige 
aber  dieser  vier  Elemente,  das  von  allen  Lebe- 
wesen ohne  weitere  Zubereitung  aufgenommen 
werden  kann,  ist  der  Sauerstoff.  Ein  Fünftel  unserer 
Luft  besteht  daraus,  und  Tiere  und  Menschen 
können  den  Luftsauerstoff  einatmen  und  ihn  in 
ihrem  Innern  zur  Aufrechterhaltung  der  Lebens- 
vorgänge verarbeiten.  Auch  die  Pflanzen  atmen  — 
allerdings  wahrnehmbar  nur  während  der  Nacht, 
wenn  kein  Licht  auf  sie  wirkt  —  den  Luftsauer- 
stoff ein.  Die  übrigen  drei  notwendigen  Elemente 
können,  wenn  sie  rein  sind,  weder  von  Menschen 
und  Tieren  noch  im  allgemeinen  von  Pflanzen 
aufgenommen  werden.  Reinen  Wasserstoff,  Kohlen- 
stoff und  Stickstoff  kann  man  weder  einatmen 
noch  essen  oder  trinken.  Sie  müssen,  um  ge- 
nießbar zu  sein,  schon  vorher  untereinander  ver- 
bunden, in  „chemischer  Verbindung"  sein.  Zur 
Aufnahme  des  Wasserstoffs  stellt  uns  die  Natur 
als  einfachste  genießbare  P'orm  seine  Verbindung 
mit  Sauerstoff,  das  Wasser,  zur  Verfügung.  Wird 
das  starke  Bedürfnis  der  Tiere  und  Pflanzen  nach 
dieser  Verbindung  nicht  befriedigt,  so  verdürsten 
sie,  wie  sie  beim  Mangel  an  .Sauerstoff  ersticken. 
Für  die  }""orm  aber,  in  der  die  beiden  anderen 
Elemente,  Kohlenstoff  und  Stickstoff,  aufgenommen 
werden,  gehen  die  Bedürfnisse  der  Pflanzen,  Tiere 
und  Menschen,  auseinander.  Die  Pflanzen  können 
den  Kohlenstoff,  den  sie  zu  ihrem  Aufbau  brauchen, 
der  Atmosphäre  entnehmen ,  in  der  stets  eine 
kleine  Menge  einer  Kohlenstoff-  Sauerstoffver- 
bindung, die  Kohlensäure,  vorhanden  ist.  Unter 
der  Mitwirkung  des  Tageslichts  wird  diese  von 
den  Pflanzen  in  für  den  Aufbau  der  Pflanze  nutz- 
barer Weise  zerlegt  und  mit  Wasserstoff  und  Sauer- 
stoff Stärke,  Holz,  Zucker  usw.  daraus  gebildet. 
Daher  denn  die  Pflanzen  ihrem  „Hunger"  nach 
Kohlensäure  und  Licht  Ausdruck  geben ,  indem 
sie  ihre  hier  allein  wirksamen  Bestandteile,  die 
grünen  Blätter,  in  großen  Flächen  der  Luft  und 
dem  Licht  entgegenbreiten.  Auf  solche  Weise 
kommt  ja  das  dem  beobachtenden  Menschen 
immer  wieder  erstaunlich  erscheinende  Ergebnis 
zu.stande,    daß    der  Stoff  zu    dem    dicken  Stamm 


(Göttingenl. 

eines  alten  Baumes  den  verschwindend  kleinen 
Spuren  von  Kohlensäure  entnommen  ist,  die  in 
der  Lult  enthalten  sind.  Daß  dieser  Gehalt  der 
Luft  an  Kohlensäure  trotz  des  Verbrauchs  durch 
die  Pflanzen  nicht  abnimmt,  dafür  sorgen  wieder 
Tiere  und  Menschen,  indem  sie  den  eingeatmeten 
Sauerstoff,  nachdem  er  sich  mit  bereits  im  Körper 
vorhandenem  Kohlenstoff  verbunden  hat,  als 
Kohlensäure  wieder  ausatmen.  Woher  aber  kommt 
dieser  Vorrat  an  Kohlenstoff  im  tierischen  Körper? 
Durch  die  Nahrungsmittel.  Die  Tiere  können 
nicht,  wie  die  Pflanzen,  ihren  Kohlenstoffbedarf 
der  Kohlensäure  der  Luft  entnehmen,  sondern 
müssen  dazu  essen  und  trinken.  Dabei  genießen 
sie  den  Kohlenstoff  in  der  Form  von  Verbin- 
dungen mit  Wasserstoff  und  Sauerstoff,  wie  sie 
die  Pflanze  bei  ihrem  Lebensprozeß  hergestellt 
hat,  z.  B.  als  Zucker.  Kohlenstoff,  Wasserstoff 
und  Sauerstoff  bilden  zusammen  auch  noch  eine 
andere  für  die  Ernährung  sehr  notwendige  Art 
von  Verbindung,  die  Fette.  Auch  diese  werden 
von  den  Pflanzen  —  von  einigen  z.  B.  den  Oliven 
in  sehr  großer  Menge  —  hervorgebracht.  Wollten 
aber  Lebewesen  auch  noch  so  viel  Zucker  und 
Fett  aufnehmen ,  so  müßten  sie ,  wenn  sie  dies 
allein  hätten,  verhungern.  Denn  es  fehlt  ja  darin 
das  vierte  der  allem  Leben  notwendigen  Elemente 
-    der  Stickstoff. 

Während  aber  Menschen  und  Tiere  den  Stick- 
stoft'  nur  in  der  Form  sehr  komplizierter  Ver- 
bindungen mit  Kohlenstoff,  Wasserstoff  und  Sauer- 
stoff, den  sogenannten  P^iweißverbindungen,  auf- 
nehmen können,  sind  die  Pflanzen  viel  anspruchs- 
loser. Sie  können  ihren  Stickstoffbedarf  decken 
und  daraus  Eiweißverbindungen  aufbauen  mit 
Hilfe  von  ganz  einfachen  chemischen  Verbin- 
dungen, den  anorganischen  Salzen.  Sie  entnehmen 
diese  als  Ammoniakverbindungen  —  Stickstoff  an 
Wasserstoff  gebunden  ■ —  oder  als  Salpetersäure- 
verbindung —  Stickstoff  an  Sauerstoff  gebunden  — 
dem  Erdboden.  Wenn  wir  aber  für  die  Zwecke 
unserer  Ernährung  alljährlich  dem  Acker  mit  den 
Ernten  große  Mengen  an  Stickstoffverbindungen 
entziehen,  so  verarmt  er  daran  und  die  Ernten 
fallen  immer  weniger  ertragreich  aus.  Man  hat 
deshalb  früher  die  Äcker  nach  mehreren  Ernte- 
jahren ruhen  lassen,  damit  aus  dem  Inneren  durch 
die  Einflüsse  der  Witterung  neue  Stickstoffver- 
bindungen an  die  Oberfläche  gelangen  können. 
Auch  hat  man  schon  sehr  früh  erkannt,  daß  durch 
den  Dünger  —  die  tierischen  Exkremente  — ■  ein 
teilweiser  Ersatz  geschaffen  werden  kann.  Mit 
der  Zeit  aber,  als  die  überall  dichter  werdende 
Bevölkerung  die   bessere  Ausnützung  des  für  den 


[30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   10 


Anbau  zu  Ernährungszwecken  noch  verbleibenden 
Bodens  erforderlich  machten ,  begann  man  alle 
dem  Boden  bei  der  Ernte  entzogenen  Stofte  in 
Form  einfacher  chemischer  Verbindungen  als 
„künstlichen  Dünger"  zu  verwenden.  Als  man 
sich  nun  nach  billigen  Stickstoffverbindungen  für 
solche  Zwecke  umsah,  zeigten  sich  die  Ammoniak- 
verbindungen, zu  denen  man  die  Abfallprodukte 
der  Kokereien  und  Gasfabriken  verarbeiten  konnte, 
als  geeignet.  Denn  die  dazu  verwendete  natür- 
liche Kohle,  die  aus  uralten  Wäldern  entstanden 
ist,  ist  nicht  reiner  Kohlenstoff,  sondern  enthält 
—  ihrem  Ursprung  entsprechend  —  auch  Stick- 
stoffverbindungen. Der  Bedarf  an  Leuchtgas  aber 
ist  ein  viel  zu  geringer,  als  daß  die  Deckung  des 
Stickstoffbedarfs  an  die  Gasfabriken  sich  binden 
konnte.  Beträchtlichere  Mengen  konnten  schon 
die  sogenannten  Kokereien  liefern,  in  denen  die 
gewöhnliche  Steinkohle  in  Koks  verwandelt  wird, 
in  welcher  Form  sie  erst  für  die  Herstellung  des 
Eisens  aus  seinen  Erzen  geeignet  ist.  Aber  auch 
damit  kann  dem  Bedarf  nicht  genügend  ent- 
sprochen werden.  Nun  hat  die  Natur  an  einigen 
Stellen  der  Erde,  vor  allem  in  Chili,  ein  unge- 
heures Lager  von  Stickstoffverbindungen  ge- 
schaffen. Chili  wurde  der  Lieferant  künstlichen 
Düngers  für  die  ganze  Welt,  und  diese  wurde 
ihm  tributpflichtig.  Im  Jahre  191 2  war  der 
Verbrauch  der  ganzen  Welt  an  Chilisalpeter 
2525000  Tonnen,  der  von  Deutschland  allein 
788000  Tonnen.  Natürlich  wurde  es  ein  Problem 
der  Chemiker  aller  Länder,  die  Stickstoffvei- 
bindungen  in  ihrem  Lande  selbst  künstlich  her- 
zustellen. Nicht  weil  man  dachte,  daß  jemals 
die  Menschheit  einen  so  unseligen  Krieg  anfangen 
würde,  der  die  Zufuhr  des  Chilisalpeters  ab- 
schneiden könnte,  sondern  weil  es  bei  dem  Un- 
geheuern Bedarf  an  Chilisalpeter  den  ackerbau- 
treibenden Ländern  sehr  bedeutungsvoll  war,  die 
Summe  dafür  im  Lande  zu  behalten.  Und  weiter 
kam  hinzu,  daß  die  Stickstoffverbindungen  nicht 
nur  als  künstlicher  Dünger  sehr  stark  begehrt 
wurden,  sondern  auch,  wenn  auch  in  geringerer 
Menge  (20  "/o  des  Ganzen)  für  andere  wichtige 
Zwecke.  So  vor  allem  für  die  Sprengstofftechnik. 
Die  friedliche,  mit  der  man  Felsen  sprengt,  um 
Wege  zu  Schäften,  damit  die  Menschen  zueinander 
kommen  können,  und  die  kriegerische,  mit  der 
die  Menschen  einander  durch  Explosivgeschosse 
vernichten.  Weitere  Mengen  braucht  die  Farb- 
stoffmdustrie ,  die  Herstellung  des  Celluloids,  die 
Fabrikation  künstlicher  Seide  und  andere  Gebiete 
der  Technik. 

Man  kann  danach  verstehen,  daß  die  chemische 
Wissenschaft  es  seit  langer  Zeit  als  eine  wichtige 
Aufgabe  angesehen  hat ,  die  für  die  Ernährung 
und  die  Technik  so  wichtigen  Stickstoftver- 
bindungen  aus  einfachen,  überall  zur  Verfügung 
stehenden  Substanzen  herzustellen.  Der  Stickstoff 
selbst  steht  uns  ja  in  Ungeheuern,  unerschöpflichen 
Mengen  kostenlos  zur  Verfügung;  besteht  doch 
unsere  Atmosphäre  zu  vier  Fünfteln  daraus.     Der 


über  der  Erde  lagernde  Luftraum  reicht  etwa 
70  km  in  die  Höhe;  schon  der  über  einem  Zehntel 
Quadratkilometer  Grundfläche  vorhandene  Stick- 
stoff würde  ausreichen,  den  jährlichen  Bedarf  der 
ganzen  Welt  an  Stickstoffverbindungen  zu  decken. 
Die  Aufgabe  der  Chemie  ist,  diesen  Luftstick- 
stoff in  nutzbare  Form  zu  bringen,  am  einfachsten 
ihn  entweder  an  Wasserstoff  zu  Ammoniakver- 
bindungen oder  an  Sauerstoff  zu  Salpetersäure- 
verbindungen zu  binden.  Daß  beides  möglich  ist, 
hatten  Laboratoriumsversuche  längst  gezeigt.  Ein 
technisch  brauchbares  Verfahren  aber  hatte  sich 
nicht  finden  wollen.  Der  Stickstoff  erwies  sich 
als  ein  überaus  träges  Element,  d.  h.  seine 
Neigung,  Verbindungen  einzugehen,  als  sehr 
gering. 

Der   Energiebedarf   bei    der   Siickstoff- 
b  i  n  d  u  n  g. 

Es  gibt,  vom  technischen  Standpunkte  aus 
angesehen,  zwei  prinzipiell  verschiedene  Arten 
chemischer  Verbindungen  und  dementsprechend 
auch  zwei  prinzipiell  verschiedene  Methoden,  die 
Entstehung  chemischer  Verbindungen  zu  bewirken  . 
Sie  unterscheiden  sich  in  derselben  Art,  wie 
wenn  man  einen  schweren  Gegenstand  eine  schiefe 
Ebene  herabgleiten  läßt  oder  wenn  er  auf  ihr  in 
die  Höhe  gebracht  werden  soll.  Der  erste  dieser 
beiden  Vorgänge  geht  von  selbst  vor  sich.  Warten 
wir  lange  genug,  so  kommt  der  schwere  Gegen- 
stand von  selbst  unten  an.  Seine  Reibung  auf 
der  schiefen  Ebene  kann  bewirken,  daß  das 
Herabgleiten  nur  sehr  langsam  geschieht.  Wollen 
wir  es  beschleunigen,  so  können  wir  diese  Reibung 
verringern,  indem  wir  z.  B.  etwas  Schmieröl  an- 
wenden. Alles  Schmieröl  der  Welt  aber  würde 
uns  nichts  helfen,  wenn  wir  den  schweren  Gegen- 
stand die  schiefe  Ebene  hinauf  bringen  wollten. 
Dazu  müssen  wir  Arbeit  aufwenden  und  zwar 
eine  genau  bestimmte  Menge  von  Arbeit,  deren 
Größe  von  dem  Gewicht  des  Gegenstandes  und 
der  Höhe,  um  die  wir  ihn  nach  oben  bringen 
wollen,  abhängt.  Geradeso  ist  es  mit  den  che- 
mischen Verbindungen.  Viele  bilden  sich  mit 
der  Zeit  von  selbst,  z.  B.  die  Vereinigung  von 
Schwefel  mit  Sauerstoff  zu  Schwefelsäure.  Es 
geht  aber  so  ungeheuer  langsam,  daß  wir  für 
unseren  Bedarf  an  Schwefelsäure  darauf  nicht 
warten  können.  Es  ist,  als  ob  da  auch  eine  Art 
von  Reibungswiderstand  vorhanden  wäre.  Die 
Aufgabe  der  Technik  in  solchen  Fällen  ist  nichts 
anderes  als  die  rechte  Art  von  „Schmieröl"  hinzu- 
zufügen, damit  der  Reibungswiderstand  über- 
wunden und  damit  der  Ablauf  des  Vorganges 
beschleunigt  wird.  Solche  Zusatzstoffe,  die  bei 
chemischen  Vorgängen  dieselbe  Rolle  spielen  wie 
das  Schmieröl  bei  mechanischen ,  nennt  man 
„Katalysatoren".  Leider  aber  gibt  es  für  che- 
mische Vorgänge  kein  solches  Universal-Schmier- 
mittel,  wie  das  Öl  für  mechanische.  Und  die 
Technik   steht    vor   der    mühsamen    Aufgabe,    für 


N.  F.  XVI.  Nr.   lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


jeden  einzelnen  der  zwar  von  selbst  aber  zu 
langsam  ablaufenden  chemischen  Vorgänge  den 
geeigneten  Katalysator  zu  finden. 

Bei  der  zweiten  Klasse  chemischer  Verbindungen 
müssen  wir,  damit  sie  überhaupt  (gleichviel  ob 
schnell  oder  langsam)  vor  sich  gehen,  Arbeit  in 
irgendeiner  Form  aufwenden.  Dazu  gehört  z.  B. 
die  Zerlegung  von  Wasser  in  Wasserstoff  und 
Sauerstoff  oder  auch  die  von  Schwefelsäure  in 
Schwefel  und  Sauerstoff.  Wie  beim  Heben  eines 
bestimmten  Gewichtes  um  eine  bestimmte  Höhe 
hat  auch  hier  die  für  einen  bestimmten  chemischen 
Vorgang  erforderliche  Arbeit  eine  ganz  bestimmte 
Größe.  Die  Arbeit  kann  dabei  in  irgendeiner 
F"orm  z.  B.  als  Wärme  oder  als  elektrische 
Energie  den  Stoffen,  die  chemisch  aufeinander 
wirken  sollen,  zugeführt  werden. 

Unter  den  Stickstoffverbindungen,  deren  Her- 
stellung die  Technik  anstrebt,  sind  beide  Klassen 
vertreten:  die  einen  bilden  sich  von  selbst,  die 
anderen  fordern  zu  ihrer  Entstehung  eine  Zufuhr 
von  Energie.  Die  Bildung  von  Ammoniak  aus 
Stickstoff  und  Wasserstoff  ist  ein  von  selbst  ver- 
laufender Vorgang.  Bringen  wir  die  beiden 
Elemente  zusammen,  so  sind  sie,  wie  man  sich 
ausdrückt,  nicht  im  Gleichgewicht,  so  wenig  wie 
eine  Kugel,  die  sich  oben  auf  einer  schiefen  Ebene 
befindet.  Sind  dabei  Ebene  und  Kugel  etwa  aus 
Eisen  und  stark  rostig,  so  geht  der  von  selbst 
verlaufende  Vorgang,  das  Herabgleiten,  nicht  recht 
vor  sich.  Bringen  wir  aber  einige  Tropfen  Schmieröl 
dazwischen,  so  stellt  sich  das  Gleichgewicht  ein: 
die  Kugel  rollt  „von  selbst"  zu  dem  tiefsten  Punkt, 
den  sie  erreichen  kann.  In  solchem  Sinne  erweisen 
sich  Stickstoff  und  Wasserstoff  als  stark  rostig; 
dem  Vorgang,  von  dem  wir  genau  wissen,  daß  er 
von  selbst,  das  heißt  ohne  Arbeitsaufwand  von  unserer 
Seite  verlaufen  muß,  setzen  sich  starke  Reibungs- 
widerstände entgegen.  Worin  eigentlich  solche 
chemischen  Reibungswiderstände,  sogenannte  Reak- 
tionswiderstände, bestehen,  das  wissen  wir  nicht. 
Würden  wir  eine  ganz  geringe  Menge  von 
„Schmieröl",  das  heißt  in  diesem  Falle  von  dem 
richtigen  Katalysator  hinzubringen,  dann  können 
wir  erwarten,  daß  Stickstoff  und  Wasserstoff  rasch 
zu  Ammoniak  sich  vereinigen.  Ganz  anders  ist 
es  mit  der  Vereinigung  von  Stickstoff  und  Sauer- 
stoff. Deren  Verbindung  kann  niemals  von 
selbst  vor  sich  gehen.  Hier  haben  wir  die  Kugel 
den  Berg  hinaufzubringen.  Die  Theorie  kann  genau 
berechnen,  welche  Menge  von  Arbeit  nötig  ist, 
um  eine  bestimmte  Menge  von  Stickstoff  mit 
Sauerstoff  zu  vereinigen.  Diese  Arbeit  ergibt  sich 
als  recht  beträchtlich.  Man  kann  also  von  vorn- 
herein sagen,  daß  diese  Methode  der  Stickstoff- 
bindung, die  Vereinigung  mit  Sauerstoff,  sehr  teuer 
sein  muß,  während  man  von  der  ersteren  Methode, 
der  Vereinigung  mit  Wasserstoff,  ebenso  behaupten 
darf,  daß  sie  billig  sein  kann. 

Trotzdem  aber  hat  sich  die  Auffindung  eines 
gut  wirksamen  Katalj'sators  für  die  direkte  Ammo- 
niakbildung aus  Wasserstoff  und  Stickstoff  und  die 


sonstige  Ausgestaltung  des  „von  selbst"  verlaufen- 
den Vorgangs  als  so  schwierig  erwiesen,  daß  man 
doch  eher  dazu  gelangte,  die  einen  hohen  Arbeits- 
aufwand erfordernde  Bindung  des  Stickstoffs  an 
Sauerstoff  auszubilden.  Hatte  man  bei  dieser 
Methode  neben  dem  genannten  Nachteil  doch  den 
Vorteil,  daß  beide  aneinander  zu  bindende  Elemente 
kostenlos  in  der  Luft  zur  Verfügung  stehen. 

Salpeter  aus  Luft. 

Wir  haben  vorhin  gesehen,  daß  sich  Stickstoff 
und  Sauerstoff  nicht  von  selbst  miteinander  ver- 
binden. Fügen  wir  nun  Arbeit  in  Form  von 
Wärme  hinzu,  so  tritt  Vereinigung  ein.  Es  bildet 
sich  eine  Verbindung,  das  Stickoxyd.  Und  zwar 
eine  um  so  größere  Menge  Stickoxyd  im  Verhält- 
nis zu  dem  vorhandenen  Stickstoff  und  Sauer- 
stoff, je  höher  wir  die  Temperatur  steigern.  Für 
jede  Temperatur  stellt  sich  ein  „Gleichgewicht" 
zwischen  den  drei  Stoßen  Stickstoff,  Sauerstoff  und 
Stickoxyd  ein.  Bei  1200"  sind  z.  B.  weniger  als 
0,1  "/n  Stickoxyd,  bei  2000"  etwas  über  i  7,i.  bei 
3000 *•/„  schon  über  4  "'1,,  bei  5000'^  '3%  '"  '^^^ 
Luft  enthalten.  Da  nun  aber  außerdem  alle  chemi- 
schen Vorgänge  bei  hoher  Temperatur  rascher 
verlaufen  als  bei  niederen ,  so  stellt  sich  das 
günstigere  Gleichgewicht  für  die  hohen  Tempera- 
turen noch  obendrein  sehr  viel  schneller  ein  als 
das  ungünstigere  bei  den  niederen  Temperaturen. 
Es  scheint  also,  daß  wir  Luft,  um  viel  Stickoxyd 
daraus  zu  gewinnen,  nur  sehr  hoch  zu  erhitzen 
brauchen.  Nun  müssen  wir  ja  aber  das  Stickoxyd 
schließlich  wieder  auf  unsere  gewöhnliche  Tempe- 
ratur bringen,  um  es  zu  benutzen  oder  weiter  zu 
verarbeiten.  Würden  wir  dazu  einfach  die  Heiz- 
vorrichtung abstellen  und  das  aus  den  drei  Stoffen 
bestehende  Gas  sich  abkühlen  lassen,  dann  würde 
für  jede  niedere  Temperatur,  die  es  durchläuft, 
sich  wieder  das  dieser  entsprechende  Gleichgewicht 
mit  immer  kleinerem  Stickoxjdgehalt  einstellen. 
Und  wenn  wir  schließlich  bei  gewöhnlicher  Tem- 
peratur ankämen,  so  wäre  alles  Stickoxyd  wieder 
zerfallen  und  wir  hätten  wieder  Luft.  Nun  haben 
wir  bereits  erwähnt,  daß  —  ganz  abgesehen  von 
der  Lage  des  Gleichgewichts  —  alle  chemischen 
Reaktionen  bei  hohen  Temperaturen  sehr  viel 
rascher  verlaufen  als  bei  niederen.  Es  brauchen 
z.  B.  Vorgänge,  die  bei  1000"  in  einem  Bruchteil 
einer  Sekunde  verlaufen,  bei  gewöhnlicher  Tem- 
peratur viele  Jahre.  Würden  wir  daher  das  Gas 
von  dem  Gleichgewicht  mit  großem  Stickoxyd- 
gehalt, das  sich  bei  hoher  Temperatur  eingestellt 
hat,  mit  ungeheurer  Schnelligkeit  auf  gewöhnliche 
Temperatur  abkühlen,  dann  würde  es  in  den  mitt- 
leren Temperaturgebieten  zu  kurze  Zeit  verweilt 
haben,  um  sich  stark  in  ungünstigem  Sinne  zu 
verändern,  und  unten  angekommen  wäre  der  bei 
der  hohen  Temperatur  eingestellte  Zustand  gleich- 
sam eingefroren.  Das  heißt,  wir  hätten  dann  bei 
gewöhnlicher  Temperatur  einen  hohen  Stickoxyd- 
gehalt, 


32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Die  Lösung  des  Problems  der  Bindung  von 
Stickstoff  an  Sauerstoff  besteht  also  darin,  daß 
Vorrichtungen  ausfindig  gemacht  werden,  welche 
es  ermöglichen,  Stickstoff  und  Sauerstoff  sehr  hoch 
—  mehrere  tausend  Grad  —  zu  erhitzen  und  dann 
momentan  auf  tiefe  Temperatur  abzukiihlen.  Zu 
den  erforderlichen  hohen  Temperaturen  kann  man 
nun  nicht  gelangen,  indem  man  in  üblicher  Weise 
eine  Wärmequelle  zur  Heizung  eines  Ofens  benutzt. 
Cavendish  hatte  schon  im  Jahre  1775  gefunden, 
daß  beim  Durchschlagen  elektrischer  Funken  durch 
Luft  sich  Stickoxyd  bildet.  Es  ist  die  hohe 
Temperatur  des  elektrischen  Funkens,  die  hier 
wirksam  ist.  Man  kann  den  Vorgang  ausgiebiger 
gestalten,  wenn  man  statt  elektrischer  Funken  den 
elektrischen  Lichtbogen  benutzt,  wie  er  in  unseren 
Bogenlampen  verwendet  wird.  In  seiner  unmittel- 
baren Xähe  ist  die  Temperatur  der  Luft  mehrere 
tausend  Grad.  Hier  stellt  sich  also  sofort  das  Gleich- 
gewicht mit  etlichen  Proz.  Stickoxyd  ein.  Und  es 
kommt  darauf  an,  diesen  Zustand  „einfrieren"  zu 
lassen,  das  heißt,  sehr  rasch  auf  niedere  Tem- 
peraturen abzukühlen. 

Dazu  kann  man  entweder  den  Lichtbogen  selbst 
oder  auch  die  Luft  sehr  rasch  bewegen.  In  ersterem 
Falle  würde  man  den  Lichtbogen  in  rascher  Folge 
zünden  und  wieder  verlöschen  lassen,  während  die 
Luft  langsam  vorübergeführt  wird ;  im  zweiten  Falle 
würde  man  den  Lichtbogen  ruhig  brennen  lassen, 
aber  die  Luft  sehr  rasch  daran  entlang  jagen. 
Beide  Methoden  sind  technisch  benutzt  worden. 
Da  sie  für  die  großen  Lichtbögen  großen  Aufwand 
an  Energie  erfordern,  so  zog  sich  die  Fabrikation 
an  solche  Stellen  der  Erde,  wo  Energie  in  Gestalt 
großer  Wasserkräfte  billig  zur  Verfügung  steht. 
Die  erste  größere  Anlage  wurde  an  den  Niagara- 
fällen errichtet.  Sie  bediente  sich  rotierender 
Zylinder  mit  Platinspitzen,  zwischen  denen  die 
Lichtbögen  beim  Rotieren  immer  wieder  abrissen 
und  sich  neu  entzündeten.  Die  erforderliche 
Apparatur  aber  war  so  kompliziert,  daß  man  eifrig 
nach  Vereinfachungen  suchte.  Eine  solche  wurde 
von  Birkeland  undEyde  durchgeführt  in  ihrer 
Heimat  Norwegen,  wo  ja  auch  Wasserfälle  große 
Energiemengen  billig  darbieten.  Der  elektrische 
Lichtbogen  ist  ein  Stück  eines  elektrischen  Stromes. 
Nun  kann  jeder  bewegliche  elektrische  Leiter  durch 
Magnete  aus  seiner  Stellung  abgelenkt  werden. 
Der  Lichtbogen  kann  also  aus  seiner  ursprüng- 
lichen Stellung  durch  Magnete  stark  zur  Seite  ge- 
führt und  bei  geeigneter  Anordnung  der  mag- 
netischen Kräfte  fortschreitend  an  immer  anderen 
Stellen  aus  der  ursprünglichen  geraden  Linie 
herausgeblasen,  schließlich  so  rasch  im  Kreise 
herumgewirbelt  werden,  daß  er  dem  Auge  eines 
Beschauers  als  mächtige  leuchtende  Scheibe  er- 
scheint. In  Wahrheit  aber  entsteht  nur  ein  Licht- 
bogen an  immer  neuen  Stellen.  Der  unmittelbar 
daran  sich  einstellende,  der  hohen  Temperatur 
entsprechende  Stickoxydgehalt  bleibt  also  bestehen, 
da  gleich  nach  seiner  Bildung  am  Ort  des  Ent- 
stehens  mit   dem  Weiterrücken   des   Lichtbogens 


schon  wieder  niedrige  Temperatur  herrscht.  Man 
sieht  also,  daß  beim  langsamen  Vorüberführen  eines 
Luftstromes  an  der  scheinbar  zusammenhängenden 
leuchtenden  Scheibe  sich  sehr  annähernd  der  der 
Temperatur  des  Lichtbogens  entsprechende  Stick- 
oxydgehalt gewinnen  läßt.  Das  Verfahren  von 
Birkeland  und  Eyde  arbeitet  vortrefflich.  In 
Notodden  in  Norwegen  werden  einer  Wasserkraft 
60000  Pferdekräfte  dafür  entnommen. 

Eine  andere  Methode,  den  elektrischen  Licht- 
bogen scheinbar  zu  einer  breiten  Fläche  auseinander 
zu  ziehen,  ist  von  den  Gebrüdern  Pauli ng  aus- 
gearbeitet worden.  .Sie  benutzen  den  sog.  Hörner- 
Blitzableiter,  zwei  unter  einem  Winkel  gegen  ein- 
ander gebogene  Metallstäbe,  an  deren  tiefster,  am 
nächsten  benachbarter  Stelle  ein  Lichtbogen  sich 
entzündet,  der  durch  die  heiße  Luft  selbst  nach 
oben  an  die  breitere  Stelle  getrieben  wird,  bis  er 
abreißt,  wobei  er  aber  am  tiefsten  Ende  schon 
wieder  entstanden  ist,  so  daß  es  aussieht,  als  ob 
der  Raum  zwischen  den  beiden  schräg  gegen  ein- 
anderstehenden  Stäben  von  einer  ruhenden  leuch- 
tenden Scheibe  erfüllt  wäre.  Man  sieht  leicht,  daß 
die  Wirkung  ähnlich,  wenn  auch  nicht  ganz  so 
stark  ist,  wie  im  vorigen  Falle.  Auch  dieses  Ver- 
fahren hat  sich  naturgemäß  an  Stellen  mit  großen 
natürlichen  Energiequellen  ziehen  müssen;  es 
wurde  in  Patsch  bei  Innsbruck  in  Tirol  im  Jahre 
1904  von  der  Salpeterindustriegesellschaft  in 
Gelsenkirchen  eingerichtet.  Auch  in  Frankreich 
ist  eine  derartige  Anlage  ausgeführt  worden:  La 
Nitrogene    in    La    Roche   de  Rame    bei  Brianron. 

Die  Weiterverarbeitung  des  Stickoxyds  geschieht 
in  einfacher  Weise  so,  daß  man  aus  dem  Stick- 
oxyd durch  überschüssige  Luft  ein  höheres  Oxyd 
des  Stickstoffs,  das  Stickstoffdioxyd,  erhält,  das  mit 
Wasser  leicht  Salpetersäure  gibt.  Da  .Salpeter- 
säure selbst  schlecht  verwendbar  ist,  so  leitet  man 
sie  auf  Kalkstein  und  erzeugt  so  salpetersauren 
Kalk,  den  sog.  Kalksalpeter  oder  Norgesalpeter, 
oder  bringt  sie  mit  Soda  zusammen,  wobei  Natriuni- 
nitrit  entsteht. 

Während  die  Verfahren  von  Birkeland-Eyde 
und  Pauli  ng  die  rasche  Abkühlung  dadurch  be- 
wirken, daß  sie  den  Lichtbogen  beweglich  machen, 
läßt  das  von  Schönherr  ausgearbeitete  und  von 
der  Badischen  Anilin-  und  Sodafabrik  ausgeführte 
Verfahren  die  Luft  um  einen  ruhig  brennenden 
Lichtbogen  stark  herumwirbeln.  Das  Verfahren 
ist  einfacher  und  billiger  als  die  vorher  genannten. 
Schönherr  läßt  den  elektrischen  Lichtbogen  in 
einem  engen  Rohr  brennen,  und  es  gelingt,  ihn 
dort  auf  mehrere  Meter  auseinanderzuziehen.  Um 
diesen  aufrecht  stehenden  ungeheuren  Lichtbogen 
wird  nun  die  unten  seitlich  eintretende  Luft  herum- 
gewirbelt. Bei  Berührung  mit  dem  Lichtbogen 
bildet  sich  die  dem  Gleichgewicht  für  die  hohe 
Temperatur  entsprechende  Stickoxydmenge,  die 
erhalten  bleibt,  da  die  stark  wirbelnde  Bewegung 
immer  neue  Teile  der  Luft  an  den  Rand  des 
Lichtbogens  bringt.  Auch  dieses  Verfahren  war 
wie  die  andern  durch  seinen  hohen  Energieverbrauch 


N.  F.  XVI.  Nr.  lO 


Naturwissenscliaftliche  Wochenschrift. 


'33 


darauf  angewiesen,  Stellen  aufzusuchen,  wo  Energie 
billig  zur  Verfügung  steht.  Es  wurde  von  der 
Badischen  Anilin-  und  Sodafabrik  in  Rjukan  in 
Norwegen  eingerichtet.  Da  aber  die  Wasserlalle 
und  ihre  Energie  zwar  von  der  Natur  dem  Menschen 
frei  zur  Verfügung  gestellt  aber  doch  im  Besitz 
von  Menschen  sind,  die  sich  des  Wertes  ihres 
Besitztums  und  seiner  steigenden  Inanspruchnahme 
immer  mehr  bewußt  geworden  sind,  so  konnten 
Verfahren,  welche  schon  theoretisch  großen  Energie- 
aufwand erforderten,  auch  wenn  die  zu  verarbeiten- 
den Rohstofte  in  der  Luft  kostenlos  zur  Verfügung 
stehen,  niemals  sehr  billig  werden.  Einen  so  großen 
Erfolg  der  Wissenschaft  und  der  Technik  die  ge- 
schilderten Verfahren  darzustellen  so  war  es  doch 
sehr  fraglich,  ob  es  auf  diesem  Wege  gelingen 
würde,  die  Stickstoff-Sauerstoffverbindungen  billiger 
zu  erhalten,  als  sie  der  Welt  von  Chili  in  dem 
natürlichen  Salpeter  geboten  wurden.  Im  Notfall 
freilich,  wenn  die  Kosten  nicht  in  Betracht  kommen, 
z.  B.  wenn  in  einem  Kriege  die  Zufuhr  von  Chili- 
salpeter abgeschnitten  wird,  hatte  man  jetzt  die 
Möglichkeit  sich  zu  helfen ,  besonders  in  einem 
Lande,  das  reich  an  Kohle  ist  und  diese  als 
Energiequelle  benutzen  kann.  Aber  eben  nur  in 
solchem  Notfall' —  im  Frieden  wäre  man  gern 
wieder  zum  Chilisalpeter  zurückgekehrt. 

Der  Kalkstickstoff. 

Nach  dem  in  der  Einleitung  Gesagten  konnte 
vom  Standpunkte  der  Theorie  ein  weit  günstigeres 
Ergebnis  erwartet  werden,  wenn  man  Erfolge  er- 
ringen würde  mit  dem  gar  keine  Energie  erfor- 
dernden ,  von  selbst  verlaufenden  Vorgange  der 
Vereinigung  von  Stickstoff  und  Wasserstoff  zu 
Ammoniak. 

Bevor  man  aber  damit  noch  einen  praktischen 
Erfolg  erreichte,  wurde  ein  Verfahren  der  Stickstoff- 
bindung entdeckt,  dem  man"  unter  dem  in  unserer 
Betrachtung  hervorgehobenen  Standpunkte  des 
Energieverbrauchs  eine  Art  Zwischenstellung  ein- 
räumen kann  insofern  als  dabei  die  eigentliche 
Bindung  des  Stickstoffs  in  einem  keine  Energie 
erfordernden  „von  selbst  verlaufenden"  Prozesse 
erfolgt;  die  Substanz  aber,  an  die  dabei  der  Stick- 
stoff gebunden  wird,  existiert  nicht  frei  in  der 
Natur,  bildet  sich  auch  nicht  von  selbst,  sondern 
muß  von  uns  mit  Aufwand 'von  Energie  erst  her- 
gestellt werden.  Dieser  Stoff  ist  das  Kalziumkarbid, 
eine  Verbindung  aus  Kalzium'und  Kohlenstoff,  die 
man  dadurch  erhält,  daß  man  ein  Gemisch  von 
Kalk  und  Kohle  im  elektrischen  Ofen  auf  hohe 
Temperatur  bringt.  Es  wird  dazu  eine  gewisse 
Menge  elektrischer  Energie  erfordert.  Leitet  man 
nun  über  pulverisiertes  Kalziumkarbid  reinen  Stick- 
stoff, so  wird  dieser  gebunden.  Der  von  selbst 
verlaufende  Vorgang  erfolgt  unter]  Wärmeentwick- 
lung ganz  wie  eine  Verbrennung.  Gerade  so,  wie 
man  die  auch  Wärme  entwickelnde  Verbrennung 
z.  B.  von  Holz  oder  Kohle  in  Sauerstoff,  damit 
sie  mit  merklicher  Geschwindigkeit  verläuft,  durch 


vorheriges  kurzes  Anwärmen,  das  Anzünden,  erst 
anregen  muß,  so  muß  man  auch  hier  das  Kalzium- 
karbid erst  einmal  kurz  auf  etwa  looo''  erwärmen, 
damit  es  den  Stickstoff  rasch  aufnimmt.  Weitere 
Wärmezufuhr  ist  dann  nicht  erforderlich:  die 
Reaktion  geht  von  selbst  unter  Wärmeentwicklung 
weiter  und  hält  das  Ganze  bei  so  hoher  Tempe- 
ratur, daß  sie  genügend  rasch  verläuft. 

Wie  aber  alle  von  selbst  verlaufenden  chemi- 
schen Vorgänge,  so  kann  man  auch  diesen  durch 
Hinzubringen  eines  geeigneten  Katalysaters  be- 
schleunigen. Ein  solcher  wurde  von  Polzenius  im 
Chlorkalzium  gefunden.  Bei  Hinzufügen  von  Chlor- 
kalzium geht  eine  lebhafte  Stickstoffbindung  des 
Kalziumkarbids  schon  bei  700"  vor  sich.  Die  ent- 
stehende Verbindung  besteht  aus  Kalzium-Kohlen- 
stoffstickstoff und  wird  Kalziumcyanamid  oder 
Kalkstickstoff  genannt. 

Freilich  ist  zum  Überleiten  über  das  Kalzium- 
karbid der  Stickstoff  nicht  einfach  so  verwendbar, 
wie  die  Natur  ihn  uns  in  der  Luft  im  Gemisch 
mit  Sauerstoff  bietet.  Der  Sauerstoff  würde  auf 
das  Kalziumkarbid  noch  viel  energischer  wirken 
als  der  Stickstoff.  Er  muß  also  aus  der  Luft  zu- 
erst entfernt  werden.  Das  kann  durch  jeden 
gewöhnlichen  Verbrennungsprozeß,  z.  B.  von  Kohle, 
geschehen.  Dadurch  aber  würde  Kohlensäure  ent- 
stehen, und  auch  diese  würde  sich  bei  dem  von 
uns  schließlich  beabsichtigten  Prozeß  als  schädlich 
erweisen.  Man  bindet  daher  den  Sauerstoff  der 
Luft  durch  einen  Oxydationsvorgang,  bei  dem 
keine  Kohlensäure  entsteht,  sondern  bei  dem  ein 
festes  Oxyd  sich  bildet.  Dies  geschieht,  wenn 
man  die  Luft  über  glühendes  Kupfer  leitet.  Dabei 
bildet  sich  Kupferoxyd,  und  der  gleichzeitig  vor- 
gewärmte Stickstoff  wird  dann  auf  das  Kalziuni- 
karbid  geleitet.  Um  das  Kupferoxyd  wieder  für 
neue  Sauerstoffbindung  brauchbar  zu  machen, 
leitet  man  sog.  Wassergas  darüber,  ein  Gas,  wel- 
ches entsteht,  wenn  man  Kohle  mit  Wasserdampf 
behandelt,  und  welches  die  Eigenschaft  hat,  das 
Kupferoxyd  wieder  zu  metallischem  Kupfer  zu 
reduzieren. 

Noch  auf  einem  anderen  sehr  interessanten 
Wege  hat  man  es  möglich  gemacht,  den  Sauer- 
stoff und  den  Stickstoff  der  Luft  zu  trennen.  Es 
ist  bekannt,  daß  man  die  Luft  durch  sehr  starke 
Abkühlung  verflüssigen  kann.  Die  ersten  technisch 
brauchbaren  Maschinen  dazu  hat  Prof.  Linde  in 
München  gebaut.  Läßt  man  die  flüssige  Luft 
langsam  wieder  verdampfen,  so  trennen  sich  ihre 
Bestandteile  infolge  ihrer  verschiedenen  Flüchtig- 
keit, und  man  kann  es  so  einrichten,  daß  der 
Stickstoff  verdampft,  während  der  Sauerstoff  als 
Flüssigkeit  zurückbleibt. 

Den  so  auf  die  eine  oder  die  andere  Weise  er- 
haltenen reinen  Stickstoff  leitet  man  also  über 
Kalziumkarbid.  Da  aber  dessen  Herstellung,  wie 
wir  gesehen  haben,  Energiezufuhr  erfordert,  so 
wird  die  Erzeugung  des  Kalziumkarbids  —  gerade 
wie  die  direkte  Salpetcrgewinnung  aus  der  Luft  — 
sich  mit  Vorliebe  an  Orte  ziehen,  wo  Energie  in 


134 


Naturwissenschaftliche  Wochenschriit. 


N.  F.  XVI.  Nr.  10 


Form  von  Wasserfällen  billig  zur  Verfügung  steht. 
Man  richtet  deshalb  auch  die  Weiterverarbeitung 
des  Karbids  zu  Kalkstickstoff  gleich  an  solchen 
Stellen  ein.  Ja,  man  kann  die  besondere  Her- 
stellung von  Kalziumkarbid  umgehen  und  kann 
nach  einem  Verfahren  von  Siemens  &  Halske 
das  Zusammenschmelzen  von  Kalk  und  Kohle 
gleich  mit  der  Stickstoffabsorption  verbinden. 
Natürlich  auch  wieder  an  Orten  mit  billiger  Energie. 
Eine  solche  Fabrik  wurde  von  Siemens  &  Halske 
in  Piano  d'Orte  bei  Pescara  in  Oberitalien  ein- 
gerichtet, eine  andere  befindet  sich  in  Odda  in 
Norwegen. 

Der  so  erhaltene  Kalkstickstoff  kann  nun  ohne 
weiteres  als  Düngemittel  verwendet  werden.  Aber 
man  kann  ihn  auch  leicht  zu  anderen  wertvollen 
Stickstoffverbindungen  verarbeiten,  zu  Cyaniden, 
vor  allem  auch  zu  Ammoniak.  Und  dieses  letztere 
ist  besonders  deshalb  wichtig,  weil  der  Kalkstick- 
stoff kein  langes  Lagern  an  der  Luft  verträgt  und 
bald  zur  Düngung  benutzt  werden  muß.  Erhitzt 
man  ihn  aber  mit  gespanntem  Wasserdampf,  so 
entwickelt  sich  Ammoniak  daraus.  Bindet  man 
dieses  Ammoniak  an  eine  Säure,  z.  B.  Schwefel- 
säure, so  erhält  man  in  dem  Ammoniaksulfat  ein 
unbegrenzt  lange  aufbewahrbares  Düngemittel.  Ein 
noch  viel  wertvolleres,  weil  noch  mehr  Stickstoff 
enthaltendes  Erzeugnis  aber  entsteht,  wenn  man 
als  Bindemittel  für  das  Ammoniak  an  Stelle  der 
Schwefelsäure  Salpetersäure  verwendet.  Und  so 
ergibt  sich  ganz  von  selbst  ein  Zusammenwirken 
der  beiden  bisher  besprochenen  an  Orte  mit  natür- 
lichen Energiequellen  gebundenen  Verfahren,  der 
Salpetersäureherstellung  aus  der  Luft  und  der 
Ammoniakdarstellung  durch  vorhergehende  Er- 
zeugung von  Kalkstickstoff.  Man  bringt  also  die 
Endprodukte  der  beiden  Fabrikationsweisen  mit- 
einander chemisch  verbunden  als  Ammoniumnitrat 
oder  Ammonsalpeter  zur  Verwendung.  Wie  reich 
an  Stickstoff  dieses  Produkt  ist,  mag  aus  dem  Ver- 
gleich mit  Kalksalpeter  ersehen  werden;  während 
dieser  nur  13  "/„  Stickstoff  enthält,  sind  im  Ammon- 
salpeter 35  "/o   enthalten. 

Beiläufig  sei  noch  bemerkt,  daß  man  als  Aus- 
gangsstoff für  die  Ammoniakdarstellung  auf  dem 
Wege  über  Karbide  auch  andere  als  Kalziumkarbid 
verwenden  kann.  So  hat  der  (Österreicher  .S  e  r  p  e  k 
ein  Verfahren  ausgearbeitet,  welches  sich  des 
Aluminiumkarbids  bedient. 


Die  direkte  A;mmoniaksy nthese. 

Über  das  Erreichte  hinaus  aber  suchte  man 
nach  vollständiger  Befreiung  von  der  Notwendig- 
keit, für  die  Stickstoffbindung  selbst  oder  für  die 
Herstellung  des  Bindungsmittels  abgelegene  Stellen 
der  Erde  mit  den  natürlichen  Energiequellen 
großer  Wasserfälle  aufzufinden.  Das  Ziel  wäre 
erreicht,  sobald  es  gelänge,  für  den  ohne  Energie- 
zufuhr „von  selbst",  aber  unter  gewöhnlichen 
Umständen  mit  unmeßbar  kleiner  Geschwindigkeit 
verlaufenden  Prozeß  der  direkten  Vereinigung  von 


Stickstoff  und  Wasserstoff  den  geeigneten  die 
Reaktionsgeschwindigkeit  genügend  steigernden 
Katalysator  zu  finden. 

Einen  gewissen,  aber  gegenüber  seinen  Vor- 
teilen zurücktretenden  Nachteil  gegen  die  Salpeter- 
säuregewinnung aus  der  Luft  würde  das  Verfahren 
der  direkten  Ammoniakgewinnung  allerdings 
immer  darin  haben,  daß  der  Stickstoff  erst  von 
Sauerstoff  befreit  und  der  Wasserstoff"  auf  irgend- 
eine Weise  aus  seiner  einfachsten  Verbindung, 
dem  Wasser,  dargestellt  werden  muß.  Wir  haben 
aber  bereits  gesehen,  daß  wir  reinen  Stickstoff 
aus  der  Luft  auf  zwei  verhältnismäßig  leicht  zu- 
gänglichen Wegen  erhalten  können.  Für  die 
Wasserstoffgewinnung  aus  dem  Wasser  hat  man 
eine  ganze  Reihe  brauchbarer  Verfahren  aus- 
gearbeitet. Ein  Bedürfnis  darnach  lag  ja  bereits 
seit  einiger  Zeit  vor,  seit  man  sich  dieses  Gases 
zur  P'üllung  der  Luftschiffe  in  immer  steigendem 
Maße  bedient.  Im  Prinzip  gleichen  die  Verfahren 
denen  zur  Stickstoffgewinnung.  Es  kommt  in  beiden 
Phallen  darauf  an,  den  neben  dem  gewünschten 
Gase,  Wasserstoff' oder  Stickstoff,  noch  vorhandenen 
Sauerstoff  zu  binden.  Man  kann  dazu  z.  B.  Kohle 
verwenden.  Leitet  man  Wasserdampf  über 
glühende  Kohle,  so  wird  der  Sauerstoff  in  die 
beiden  Verbindungen  Kohlenoxyd  und  Kohlen- 
säure übergeführt.  Das  Gasgemisch,  das  danach 
Wasserstoff,  Kohlenoxyd  und  Kohlensäure  enthält, 
nennt  man  Wassergas.  Man  kann,  um  daraus  den 
Wasserstoff  allein  zu  gewinnen,  ähnlich  verfahren, 
wie  bei  der  Trennung  der  Bestandteile  der  Luft 
nach  dem  Linde'  sehen  Verfahren :  Man  kühlt 
stark  ab.  Dabei  kondensieren  sich  zunächst  der 
Wasserdampf,  dann  Kohlensäure  und  Kohlenoxyd. 
Der  Wasserstoff  ist  so  schwer  zu  verflüssigen,  daß 
er  hier  allein  als  Gas  übrig  bleibt. 
•  Oder  aber  man  bringt  zu  dem  Wassergas  erst 
noch  Luft  und  kann  dann  durch  einfache  Prozesse 
und  durch  schließliches  Abkühlen  bewirken,  daß 
ein  Gemisch  von  Wasserstoff  und  Stickstoff  übrig 
bleibt.  Das  Verfahren  läßt  sich  so  leiten,  daß 
dieses  Gemisch  gerade  die  zur  Ammoniakbildung 
erforderliche  Zusammensetzung  hat. 

Dieses  Gemisch  aus  Wasserstoff  und  Stickstoff 
gilt  es  also  zu  Ammoniak  zu  vereinigen.  Deutsch- 
land ist  das  Land  der  Theorie,  und  so  hatte  man 
hier  lange,  bevor  irgendein  praktisch  brauchbarer 
Erfolg  in  Aussicht  stand,  in  Laboratorien  für 
physikalische  Chemie,  insbesondere  in  den  Labora- 
torien von  Nernst  und  von  Haber,  den  Vor- 
gang der  Ammoniakbildung  genau  studiert.  Man 
hatte  dabei  erkannt,  daß  zwar,  wie  alle  chemischen 
Reaktionen,  so  auch  die  Vereinigung  von  Stick- 
stoff und  Wasserstoff  durch  Temperaturerhöhung 
beschleunigt  wird,  daß  aber  die  Vereinigung 
selbst  bei  um  so  geringerem  Ammoniakgehalt 
des  Gasgemisches  Halt  macht,  je  höher  die 
Temperatur  ist.  Es  ist  also  gerade  umgekehrt, 
wie  bei  der  Stickoxydbildung.  Je  höher  wir 
Stickstoff'  und  Sauerstoff'  erhitzen,  desto  größer 
war  im  endlich  erreichten  Gleichgewichtszustände 


N.  F.  XVI.  Nr.  10 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


135 


die  Konzentration  der  entstehenden  Verbindung, 
des  Stickoxyds.  Je  höher  wir  aber  hier,  bei 
Stickstoff  und  Wasserstoff  die  Temperatur  steigern, 
desto  kleiner  ist  im  Gleichgewichtszustande  der 
Gase  der  Gehalt  an  Ammoniak. 

Man  ist  also  in  einem  Dilemma.  Beschleunigt 
man  die  Reaktion  durch  Temperaturerhöhung,  so 
tritt  sie  zwar  schneller  ein,  sie  macht  aber,  je 
mehr  wir  sie  auf  solche  Weise  beschleunigen,  bei 
um  so  kleinerer  Ammoniakkonzeiitration  halt. 
Die  minimale  Spur,  die  bei  mehreren  tausend  Grad 
vorhanden  sein  kann,  stellt  sich  sofort  ein,  die 
große  Menge  aber,  die  bei  gewöhnlicher  Tempe- 
ratur vorhanden  sein  kann,  würde  eine  sehr  große 
Anzahl  von  Jahren  erfordern.  Und  darin  eben 
besteht  die  Aufgabe ;  die  Langsamkeit  der 
Reaktion  bei  niederer  Temperatur  durch 
Zufügen  eines  die  Reaktionswiderstände  über- 
windenden „Schmieröls",  eines  Katalysators  zu 
überwinden. 

Nach  langem  Suchen  hat  Haber  einen  solchen 
im  Osmium,  später  im  Uran  gefunden.  Im  An- 
schluß an  seine  Arbeiten  ist  noch  eine  Unzahl 
von  Substanzen'  auf  ihre  Brauchbarkeit  als  Kata- 
lysatoren für  die  Stickstoff-  und  Wasserstoffver- 
einigung  durchprobiert  worden.  Man  ist  dabei 
zu  sehr  wirksamen  Resultaten  gelangt.  Es  ist 
verständlich,  daß  diejenigen,  die  sie  gefunden 
haben,  kein  Interesse  daran  haben,  sie  öffentlich 
bekanntzugeben. 

Weiter  aber  hatte  die  rein  theoretischeForschung 
auch  den  Einfluß  des  Druckes  auf  die  Reaktion 
untersucht.  Indem  Stickstoff  und  Wasserstoff 
sich  zu  Ammoniakgas  vereinigen,  tritt  eine  Kon- 
traktion, eine  Verringerung  des  Gasvolumens  ein; 
aus  drei  Volumina  Wasserstoff  und  einem  Volumen 
Stickstoff  werden  nicht  vier  Volumina  Ammoniak, 
sondern  nur  zwei.  Diesen  Vorgang  der  Volumen- 
verkleinerung  kann  man  nur  dadurch  unterstützen, 
daß  man  von  außen  einen  starken  Druck  auf  das 
Gasgemisch  wirken  läßt.  In  der  Tat  läßt  sich 
theoretisch  berechnen  und  hat  sich  experimentell 
gezeigt,  daß  z.  B.  für  die  Temperatur  von  500 " 
das  Gleichgewicht,  also  der  dabei  überhaupt  mög- 
liche Gehalt  an  Ammoniak,  bei  gewöhnlichem 
Druck  noch  nicht  1  "/^  beträgt,  bei  einem  Druck 
von  100  Atmosphären  etwa  1 1  "/„,  und  bei  200 
Atmosphären  schon  über  iS^'/o- 

Die  Prinzipien  für  die  direkte  Ammoniakge- 
winnung aus  Wasserstoff  und  Stickstoff  sind  damit 
also  gegeben :  Man  hat  bei  möglichst  tiefer  Tem- 
peratur und  bei  möglichst  hohem  Druck  zu  arbeiten. 
Wie  tief  man  mit  der  Temperatur  heruntergehen 
kann,  das  hängt  ab  von  der  Wirksamkeit  des  an- 
gewandten Katalysators.  Selbst  die  wirksamsten 
machen  immer  noch  eine  Temperatur  von  einigen 
hundert  Grad  erforderlich.  In  dieser  Hinsicht  liegt 
also  die  Möglichkeit  für  weitere  Vervollkommnung 
des    Verfahrens    vor.      Wie    hoch    man    mit  dem 


Druck  gehen  kann,  das  hängt  von  der  Haltbarkeit 
des  Materials  für  die  Gefäße  und  von  der  Möglich- 
keit, die  Verschlüsse  dicht  zu  halten,  ab.  Es  ist 
ein  großer  Erfolg  der  Technik,  daß  sie  Apparaturen 
schaffen  konnte,  welche  ein  sicheres  Arbeiten  bei 
200  Atmosphären  ermöglichen. 

Die  Ausführung  des  Verfahrens  geschieht  im 
I^rinzip  so,  daß  man  Wasserstoff  und  Stickstoff  in 
einer  vollständig  geschlossenen  Apparatur,  in  der 
ein  Druck  von  200  Atmosphären  herrscht,  einen 
Kreislauf  ausführen  läßt.  An  einer  Stelle  des 
Kreises  streichen  die  Gase  über  den  auf  mehrere 
hundert  Grad  erwärmten  Katalysator  und  werden 
dabei  zu  etlichen  Proz.  Ammoniak  vereinigt.  Das 
weitergehende  Gasgemisch  gelangt  in  einen  anderen 
Teil  des  Apparates,  der  so  tief  abgekühlt  ist,  daß 
das  im  Vergleich  zu  Wasserstoff  und  Stickstoff 
leicht  kondensierbare  Ammoniak  sich  verflüssigt. 
Dieses  kann  dort  von  Zeit  zu  Zeit  abgezapft  werden, 
die  unverbunden  gebliebenen  Gase  gelangen  im 
Kreislauf  wieder  über  den  Katalysator. 

Mit  diesem  Verfahren  wurde  man  zum  ersten 
Male  unabhängig  von  den  Stätten,  an  denen  natür- 
liche Energiequellen  zur  Verfügung  stehen.  Die 
Sprengstofftechnik  bedarf  freilich  des  Stickstoffs 
nicht  in  der  Form  von  Ammoniak,  sondern  in  der 
der  Salpetersäure.  Es  bietet  aber,  wenn  der  träge 
Stickstoff  überhaupt  erst  einmal  in  eine  chemische 
Verbindung  eingefangen  ist,  keine  Schwierigkeit, 
ihn  in  andere  überzuführen.  Die  Oxydation  des 
Ammoniaks  zu  Salpetersäure  geht  wieder  in  einem 
„von  selbst"  verlaufenden  Prozesse  vor  sich.  Und 
man  kennt  Katalysatoren,  welche  diesen  Prozeß  mit 
ausreichender    Geschwindigkeit    verlaufen    lassen. 

So  sehen  wir,  wie  es  dem  Menschengeist  ge- 
lungen ist,  das  große,  für  die  Ernährung  und  die 
Technik  bedeutungsvolle  Problem  der  Stickstoff- 
gewinnung in  erstaunlich  einfacher  Weise  zu  lösen. 
Als  Ausgangsstoffe  brauchen  wir  für  die  Salpeter- 
säuregewinnung nichts  als  die  Luft  und  für  die 
Ammoniakgewinnung  Luft  und  Wasser. 

F'ür  die  europäischen  Länder  ohne  eigne  große 
Energiequellen,  ist  das  neue  Verfahren  der  Am- 
moniakgewinnung noch  von  besonderer  Bedeutung. 
Sie  sind  damit  nicht  nur  unabhängig  gemacht  von 
der  Zufuhr  desChilisalpeters  von  jenseits  des  Meeres, 
sondern  auch  unabhängig  von  der  Notwendigkeit, 
in  Europa  Länder  mit  großen  Wasserfällen  aus 
diesem  Grunde  sich  geneigt  halten  zu  müssen. 
Für  Deutschland  ist  noch  weiter  darüber  hinaus 
die  Aussicht  wertvoll,  daß  es  nach  Wiederkehr 
friedlicher  Zeiten  an  den  Erzeugnissen  der  gewal- 
tigen Einrichtungen,  die  es  jetzt  zur  Stickstoff- 
gewinnung getroffen  hat,  auch  andere  Länder  teil- 
nehmen lassen  kann.  Daß  heißt,  daß  es  Stick- 
stoffverbindungen, die  es  bisher  einführen  mußte, 
dann  exportieren  kann.  Hoffen  wir,  für  lange  Jahre 
nur  zu  friedlichen  Zwecken.     (G.G.) 


Natiirwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  10 


Anregungen  und  Antworten. 


„Bremen".  Sie  fragen ;  Sind  Untersuchungen  darüber 
angestellt  (quantitative  und  qualitative) ,  ob  in  der  Luft  eine 
besondere  Verteilung  (Schichtung)  von  dort  vorwiegend  (zeit- 
weise) lebenden  Organismen  statthat  in  der  Weise,  daß  ge- 
wisse Tiere  nur  oder  vorwiegend  in  gewissen  Höhen  oder 
über  gewissen  besonderen  Bodenformationen  (Wald,  Wasser, 
Wiese  usw.)  angetroffen  werden  r  Gibt  es  eine  Schwebefauna 
der  Luft  entsprechend  etwa  dem  Plankton  des  Wassers? 
Sind  z.  B.  Fänge  vom  Ballon  aus  gemacht  worden? 

Die  Organismen,  die  in  der  Luft  gefunden  werden,  sind  in 
ihrer  Gesamtheit  mit  dem  Plankton  desWassers  nicht  ohne  weiteres 
zu  vergleichen ,  da  das  Luftmeer  nicht  dasselbe  geschlossene 
Produkiionsgebiet  sein  kann,  wie  das  Wasser.  Hier  sind  die 
Ernährungsbedingungen  für  Pflanzen  gegeben,  so  daß  sich  von 
hier  aus  ein  vollständiger  Kreislauf  der  Stoffe  herstellen  kann. 
In  der  Luft  dagegen  können  Pflanzen  nicht  leben.  Als 
Produzent  organischer  Stoffe  würde  also  nur  die  Pflanzendecke 
des  Bodens  anzusehen  sein.  Das  würde  aber  nicht  ausschließen, 
daß  gewisse  Tiere  theoretisch  dauernd  in  der  Luft  leben  und 
sich  vermehren  könnten,  indem  sie  sich  von  anderen  zeitweilig 
emporsteigenden  und  schwebenden  Tieren  ernähren.  In 
Wahrheit  wird  es  aber  solche  Tiere  nicht  geben.  Mindestens 
zur  Ablage  der  Brut  oder  der  Eier  werden  sie  auf  das  große 
Produktionsgebiet  des  Bodens  zurückkehren  müssen  und  die 
Jungen  werden  hier  ausnahmslos  ihre  ersten  Entwicklungs- 
stadien durchlaufen.  Zudem  würde  in  der  gemäßigten  und 
der  kalten  Zone  die  allgemeine  -Abnahme  der  Schwebefauna 
auch  die  etwa  dauernden  Luftorganismen  auf  den  Boden  oder 
nach   anderen  Breiten   hin  zwingen. 

Es  bliebe  nur  noch  die  Frage  zu  erörtern ,  ob  vielleicht 
ganz  einfach  sich  ernährende  Mikroorganismen,  etwa  Bakterien, 
dauernd  in  der  Luft  gedeihen  könnten.  Daß  sie  in  Sporen  form 
ebenso  wie  andere  die  Austrocknung  überstehende  Ver- 
mehrungsorgane von  Pflanzen  (Moosen,  Farnen  usw.)  lange 
schweben  und  horizontal  und  vertikal  weit  verbreitet  werden 
können,  ist  bekannt  genug.  Die  Lehrbücher  der  Bakteriologie 
und  Hygiene  bieten  auch  genug  Zahlenangaben,  die  teils  auf 
hohen  Gebäuden,  teils  auf  Bergen,  teils  im  Ballon  gewonnen 
wurden.  Aus  ihnen  geht  hervor,  daß  die  Zahl  von  Bakterien- 
keimen nach  der  Höhe  parallel  mit  derjenigen  der  schwebe- 
fähigen toten  Teilchen  überhaupt  rasch  abnimmt.  Auch  ein 
Zusammenhang  mit  der  Beschaffenheit  der  Erdoberfläche 
unterhalb  der  untersuchten  Luftschichteil  ergibt  sich  insofern, 
als  um  so  mehr  Keime  in  der  Luft  gefunden  werden,  je  besser 
die  Wachstumsbedingungen  und  die  Versläubbarkeit  auf  dem 
Boden  sind.  So  ist  (starke  Horizontalströmungen  natürlich 
ausgeschlossen)  der  Keimgehalt  über  dem  Meere  oder  großen 
Binnengewässern  oder  über  großen  Schneefeldern  sehr  gering ; 
im  hohen  Norden  hat  man  in  Tausenden  von  Litern  keine 
Keime  gefunden.  Wie  sich  die  Luft  über  großen  Wüsten- 
flächen verhält,  ist  nicht  untersucht  worden.  Ob  nun  eine 
spezifische  Mikroorganismenflora  in  der  Luft  in  dauernder 
Lebenstätigkeit  sich  erhalten  kann,  ist  nicht  speziell  fest- 
gestellt; es  würde  die  Entscheidung  darüber,  was  Spore  oder 
wachsender  Keim  ist,  auch  sehr  schwer  zu  fällen  sein.  Man 
kann  es  aber  wohl  als  sehr  unwahrscheinlich  bezeichnen,  daß 
je  ein  solches  „Luftplankton"  im  strengsten  Sinne  existiert. 
Denn  wenn  vielleicht  auch  unter  besonders  günstigen  Be- 
dingungen dauernd  Feuchtigkeit  zur  Verfügung  stünde,  so 
fehlten  doch  die  Nährstoffe.  Aus  Wasserstoff,  Stickstofi', 
Sauerstoff  und  Kohlensäure  vermag  sich  ,  soweit  wir  bis  jetzt 
'  wissen,  kein  Lebewesen  aufzubauen. 

Ihre  Frage  läßt  sich  also  ganz  allgemein  dahin  beant- 
worten, daß  es  eine  eingeborene  Lebewelt  in  der  Luft  nicht 
gibt,  daß  vielmehr  nur  passiv  beförderte  Keime  oder  zeitweilig 
ins  Luftmeer   vordringende  Organismen    in   Betracht    kommen. 


Daß  bei  den  letzteren  wieder  alle  möglichen  Abstufungen  der 
Aufenthaltsdauer,  der  vertikalen  und  horizontalen  Verbreitung 
e.sislieren,  ist  selbstverständlich.  Systematische  Untersuchungen 
darüber  sind  mir  nicht  bekannt,  dagegen  wird  es  eine  große 
Menge  Einzelangaben  über  das  Antreffen  von  Vögeln,  In- 
sekten usw.  in  verschiedenen  Höhen,  resp.  ihre  Wander- 
fähigkeit geben.  Die  Angaben  sind  wohl  für  die  betreffende 
Tierart  interessant,  haben  auch  oft  Kuriositätswert  oder 
können  für  besondere  physiologische  Probleme  wichtig  sein, 
ihre  Bedeutung  für  große  allgemein  -  naturwissenschaftliche 
Fragen  aber,  vergleichbar  denen,  wie  sie  uns  das  Leben  im 
Wasser  stellt,  dürfte  aus  den  eingangs  gegebenen  Erwägungen 
heraus  nur  recht  gering  sein.  Vielleicht  kann  einer  der  Leser 
besondere  Angaben  darüber  machen,  in  welchen  Höhen  be- 
stimmte Tiere  bei  gewissen  Gelegenheiten  angetroffen  wurden. 

M. 


Zunahme  der  Elster  in  Deutschland.  Wie  bei  Frankfurt  a.  M. 
seit  Herbst  1914,  so  hat  auch  bei  Lüneburg  wenigstens  seit 
Sommer  1916,  wie  mir  von  dorther  mitgeteilt  wird,  die  Elster 
merklich  zugenommen.  Fr.  Keyl  wird  gewiß  nicht  fehl- 
gehen, wenn  er  den  von  ihm  beobachteten  Fall  auf  verminderten 
Abschuß  des  Vogels  infolge  der  Kriegsverhältnisse  zurück- 
führt und  anderwärts  ähnliches  vermutet.  Unterscheidet  sich 
doch  die  deutsche  Ornis  von  derjenigen  der  beiden  in  Jagd- 
und  Forstpflege  hinter  ihm  zurückstehenden  östlichen  und 
westlichen  Nachbarländer  in  kaum  etwas  anderem  so  augen- 
fällig wie  in  der  viel  geringeren  Häufigkeit  der  Elster,  wie 
zahlreiche  Beobachtungen  von  Kriegsteilnehmern  lehren. 
V.  Franz. 


Herrn  L.  R.  —  Ein  kleineres  Bestimmungsbuch  für  die 
bei  uns  kultivierten  nicht  einheimischen  Slräucher  und  Bäume 
(einschließl.  Nadelhölzer)  ist  mir  nicht  bekannt.  Gute  Dienste 
leistet  jedenfalls  das  gründliche  Werk  von  E.  Koehne, 
Deutsche  Dendrologie  (Stuttgart  1893,  F.  Enke;  antiq.  9  Mk.), 
das  Nadel-  und  Laubgehölze  umfaßt.  Ein  empfehlenswerter 
Auszug  daraus,  der  aber  nur  die  Laubhölzer  berücksichtigt, 
ist  O.  E.  Kunze,  Kleine  Laubholzkunde  (Stuttgart  1899, 
antiq.  2  Mk.).  Für  Nadelhölzer  benutzt  man  sehr  viel  das 
Werk  von  C.  von  Tubeuf,  Die  Nadelhölzer  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  in  Mitteleuropa  winterharten  Arten 
(Stuttgart  1897;  4  Mk.).  —  Viele  verbreitete  Arten  sind  auch 
in  den  gangbaren  Bestimmungsbüchern  von  A.  Garcke 
(Fl.  von  Deutschland)  und  O.Wünsche  (Die  höheren  Pflanzen) 
enthalten.  H.  Harms. 


Literatur. 

Kunkel,  K.,  Zur  Biologie  der  Lungenschnecken.  Er- 
gebnisse vieljähriger  Züchtungen  und  Experimente.  Mit  48 
Textabbildungen  und  einer  farbigen  Tafel.  Heidelberg  '16, 
C.  Winter.  —   16  M. 

Löhner,  L.,  Die  Exkretionsvorgänge  im  Lichte  ver- 
gleichend-physiologischer Forschung.  Tena'16,  G.  Fischer. — 
0,80  M. 

Haberlandt,  Dr.  L.,  Über  Stoffwechsel  und  Ermüd- 
barkeit der  peripheren  Nerven.  Jena  '16,  G.  Fischer.  — 
0,80  M. 

Eversheim,  Prof.  Dr.  P.,  Angewandte  Elektrizitätslehre. 
Ein  Leitfaden  für  das  elektrische  und  elektrotechnische 
Praktikum.   Mit  215  Textfiguren.  Berlin '16,  J.  Springer.  —  SM. 


Inhalt:  Alfred  Cochn,  Das  Stickstotfproblem  und  seine  Lösungen.  S.  129.  —  Anregungen  und  Antworten:  Schwebe- 
fauna der  Luft.  S.  13b.  Zunahme  der  Elster  in  Deutschland.  S.  136.  Bestimmungsbuch  für  Sträucher  und  Bäume. 
S.   136.  —  Literatur:  Liste  S.    136. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  i8.  März  1917. 


Nummer  11. 


Der  Alraun  (Mandragora). 


Eine  natur-  und  kulturhistorische  Studie  vo 
[Nachdruck  verboten.]  Mit  4   Abb 

Es  war  in  dieser  Zeitschrift  schon  einmal  im 
Rahmen  eines  größeren  Aufsatzes ')  die  Rede  von 
der  berühmten  Zauberpflanze  des  Akertums  und 
iVIittelahers,  der  Alraunwurzel  (Mandragora 
officinarum  L.).  Ich  möchte  hier  neue  Lesefrüchte 
vorlegen  und  namentlich  an  der  Hand  der  Quellen 
selbst  den  Fortschritt  der  Wahrheit  und  des  Irr- 
tums,   der  sich  an  diese  Pflanze  bindet,  schildern. 

Der  Name  mandragora,  bei  Dioskorides  mandra- 
goras  (männlich),  wird  hergeleitet  -j  von  mandra 
(griech.)  Stall  und  ageiro  (griech.j  sammeln,  weil 
die  Pflanze  außer  anderen  Wunderkräften  auch  die 
Viehherden  zusaÄimenhalten  sollte,  oder  weil  sie 
vielfach  in  der  Nähe  von  Viehställen  auf  gedüngtem 
Boden  gefunden  wurde.  Der  deutsche  Name  Al- 
raun hängt  mit  alrüna  ■•)  —  die  allwissende  — 
zusammen. 

Die  Mandragora  ist  kein  einheimisches  Gewächs, 
sondern  im  Mittelmeergebiet  zuhause.  Sie  gehört 
zu  den  Solanaceen,  ist  im  allgemeinen  betrachtet 
ein  stengelloses,  rübenförmiges  Kraut  mit  dicker, 
oft  zweiteiliger  Wurzel,  großen,  fast  ganzrandigen 
Blättern  und  Beerenfrüchten  gleich  der  Tollkirsche. 
Es  ist  eine  kleine  Gattung  mit  höchstens  4  Arten, 
von  denen  eine  auch  im  Himalayagebiete  vor- 
kommt. Abbildungen  finden  sich  bei  Engler- 
Prantl,  Natürliche  Pflanzenfamilien  IV.  Teil, 
3.  Abt.  b,  Fig.  12  M,  bei  Reichenbach,  Icones 
Bd.  XX  (1862)  Taf.  6  u.  7.;  eine  ältere,  m.  E.  sehr 
gute  Darstellung  im  Herbarium  Blackwellianum  *), 
Centuria  IV,  Tab.   364. 

Nach  E.  de  Haläcsy*)  sind  die  mediterranen 
Mandragora-Arten  in  zwei  Gruppen  zu  bringen: 
Die  eine  mit  grünlichgelber  Korolle,  kugeliger 
Beere,  weißer  Wurzel  und  stinkenden  Blättern 
M.  officinarum  L.  —  die  andere  mit  violetter  Ko- 
rolle, länglicher  Beere  und  schwarzer  Wurzel 
M.  autumnalis  Sprengel.  Dazu  gehört  noch  die 
von  Heldreich*)  aufgestellte  ebenfalls  blau- 
blühende M.  Haußknechtii  Heldr.  Außerdem  wird  ein 
Bastard  officinarum  ~ ■;^  Haußknechtii  unterschieden. 


')  H.  Marzell,  Über  Zauberpflanzen  in  alter  und  neuer 
Zeit.     Naturw.  Wochenschr.,    N.  F.  VIII  (1909),  S.   160—169. 

^)  Leunis,  Synopsis  der  Pflanzenkunde.  2.  Bd.,  S.  586, 
Anm.  9.  So  übrigens  schon  von  M.  de  Lobelius,  Nova 
Slirpium  adversaria  (Antverpiae   I=;76),  p.   106. 

3)  J.  A.  Seh  melier,  Bayerisches  Wörterbuch,  I.  Bd. 
(München  1872),  Spalte  56.     Grimm,  Wörterbuch,  I.  Bd.,  246. 

^)  Vermehrtes  und  verbessertes  Blackwellisches  Kräuter- 
buch usvi-.  verlegt,  gcmahlet  und  in  Kupfer  gestochen  von 
N.  Fr.  Eisenberger,  Nürnberg   1760. 

")  Conspectus  Florae  graecae  Volumen  II,  Lipsiae  1902, 
S.  366—368. 

"j  Mitteil,  der  geogr.  Gesellsch.  Thüringen,  V,  S.  77. 


a.  Prof.  Dr.  S.  Killermann,  Regensburg. 

M.  officinarum  findet  sich  in  Griechenland  auf 
sonnigen  unkultivierten  Stellen  der  niederen  Region, 
in  Thessalien,  um  Korinih,  auf  Kreta,  den  Kykladen 
usw.  und  blüht  im  Winter,  Dezember  bis  März. 
M.  autumnalis  wächst  an  ähnlichen  Orten,  in  Attika, 
Eleusis  usw.;  sie  scheint  nicht  so  verbreitet  zu  sein 
und  blüht  im  Herbst  von  September  bis  November. 
M.  Haußknechtii  hat  ihren  Standort  im  Küsten- 
sand und  ihre  Blütezeit  im  März  und  April. 

A.  Bertoloni\),  der  diese  Pflanzengruppe  in 
einer  Monographie  behandelte,  stellt  3  Arten  auf: 
M.  vernalis,  officinarum  L.  und  microcarpa.  Die 
erste  davon,  welche  nach  Bertoloni  große 
stinkende  Blätter,  grünlich- weiße  Blüten  und  gelbe 
Beeren  größer  als  der  Kelch  hervorbringt,  ist 
unsere  officinarum  L.  Die  anderen  zwei  Berto- 
loni'schen  Arten,  seine  officinarum  L.  und  die 
microcarpa  (s.  Abb.  i)  werden  wegen  ihrer  vio- 
letten Blüten,  kleinen  Beeren  und  schmäleren 
Blättern  von  Haläcsy  wohl  mit  Recht  zu  autum- 
nalis Sprengel  gerechnet.  Nach  Bert  o  loni  wird 
die  erste  Art  allgemein  in  den  Gärten  Italiens  seit 
ältester  Zeit  kultiviert;  sie  dürfte  demnach  schon 
die  wahre  M.  officinarum  Linne's  (Spec.  181)  sein. 
Die  zweite  .Art  bekam  Bertoloni  aus  Sizilien 
und  die  dritte  aus  Sardinien  von  Professor  Morisio. 
Auch  in  Italien  ist  die  Verbreitung  der  autumnalis 
viel  beschränkter  als  die  der  officinarum.  Diese 
letztere  wird  ferner  angegeben  v.  Tenore-)  für 
Kampanien  (Mte  Kassino),  von  Reichenbach-') 
für  Ragusa.  Die  Funde  bei  Salzburg  (vgl.  Hoppe, 
Taschenbuch  1799  p.  121)  und  Tirol  sind  irrtümlich. 

Die  Alraunpflanze  ist  wie  viele  Solaneen  giftig. 
Über  das  in  ihr  wirksame  Alkaloid  verlautet  in 
der  Literatur  nicht  viel.  H.  Karsten*)  gibt  nach 
Ahres  an,  daß  es  dem  Hyoscyamin  isomer  er- 
scheine, ein  sprödes  bei  77  —  79"  schmelzendes 
Harz  sei,  dessen  Sulfat  in  glänzenden  Blättchen 
kristallisiere  und  gleich  dem  Atropin  pupillen- 
erweiternd wirke.  Ich  finde  an  meiner  in  meinem 
Besitze  befindlichen  alten  Wurzel  das  Zellgewebe 
von  dem  anderer  Pflanzen  wenig  verschieden; 
es    ist    ziemlich    hart,    fast    etwas    holzig")    oder 

')  Commentarius  de  Mandragoris.  Bononiae  1835  mit 
3  Tafeln. 

2)  Sylloge  plantarum   vascularium  Florae  neapolitanae  etc. 
(Neapoli   1831),  S.   114. 
-        ■■')  a.  a.   O.  Bd.  XX,  S.  4- 

*)  H.  Karsten,  Flora  von  Deutschland,  2.  Aufl.,  II.  Bd. 
(1895),  S.  544.  S.  auch  H.  Molisch,  Mikrochemie  der 
Pflanze  (Jena   1913),  S.  258. 

'■'^  So  schildert  sie  schon  Albertus  s.  u.  Auch  die 
Abbildung  bei  Post  (Flora  of  Pal.iestina)  gibt  eine  fast 
holzige   Wurzel. 


138 


Naturwissenschaftliche  VVoclienschrift. 


N.  V.  XVI.  Ni 


korkig.  Mit  Kalilauge  aufgeweiciit  riecht  die 
Wurzel  ähnlich  wie  eine  rohe  Kartoffel.  Einige 
Zellen  von  etwas  kubischer  Form  (6o  /(  groß) 
enthalten  eine  gelbliche  Substanz,  wohl  jenes 
Harz.  Mit  Jodkali  tritt  keine  Reaktion  auf  et- 
waigen Stärkegehalt  ein. 

Die  Beeren  sind  bei  beiden  Arten  in  reifem 
Zustand  durch  scharfen  Geruch  ausgezeichnet. 
Bertoloni  sagt  von  der  Art  officinarum  L. :  cum 
jucunditate  quadam  graveolens,  odore  caput  ten- 
tante,  also  etwas  angenehm,  aber  betäubend 
riechend;  von  der  Art  autumnalis  Spr. :  odore  gravi, 
tarnen  non  ingrato,  praedita.  Der  Duft  der  Blüten 
ist  bei  der  ersteren    leicht  unangenehm  (ingratus. 


auf   Brachfeldern    vor    und    zwar    nur    die    Art  M. 
officinarum  L.  'J 

Bertoloni'-)  ist  dagegen  der  Ansicht,  daß 
es  sich  in  jenen  Stellen  nicht  um  eine  der  Man- 
dragoraarten handelt ;  denn  sie  blühen  spät  und  tragen 
im  Frühjahr  Beeren,  nicht  „zur  Zeit  der  Weizen- 
ernte"; ihr  Duft  sei  auch  nicht  besonders  ange- 
nehm. F!r  möchte  die  Dudaim  für  süßschmeckende 
und  aromatisch  duftende  Melonen  anspreclien,  viel- 
leicht für  die  von  Finne  oben  darnach  genannte 
Cucumis  Melo  var.  Dudaim.  Aber  die  Melonen 
scheinen  dem  grauen  Altertum  nicht  bekannt  ge- 
wesen zu  sein.  Weder  wird  diese  Frucht  in  der 
altägyptischen    Flora  ■')   aufgeführt,    noch    für   den 


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Kelch  und  Frucht  (Mandragora  autumnalis  Sprengel), 
raf.  -' 


sed  levis),  bei  der  zweiten  etwas  narkotisch  (sub- 
narcoticus). 

Eingehend  auf  die  Geschichte  unserer  Pflanze, 
finden  wir  sie  zum  erstenmal  erwähnt  in  der  Bibel. 
Die  „Dudaim",  welche  Kuben  zur  Zeit  der  Weizen- 
ernte auf  den  Feldern  fand  und  seiner  Mutter  Lia 
verehrte  und  die  dann  bei  der  Zeugung  indirekt 
eine  Rolle  spielten  (s.  Moses  Kap.  30,  14 — 16), 
werden  als  Alraunfrüchte  erklärt;  desgleichen  die 
„Liebesäpfel",  welche  auf  dem  Türgesimse  nach 
dem  Hohenliede  (Kap.  7,  14)  duften.  Das  Wort 
Dudaim  wurde  zuerst  von  den  70  Übersetzern  der 
hebräischen  Bibel  mit  Mandragora  wiedergegeben. 
Die  Pflanze  kommt  auch  tatsächlich  im  hl.  Lande 


jetzigen  Orient  von  Boissier  als  einheimisch  be- 
trachtet. Er  wie  auch  Dinsmore^)  sprechen  sie 
für  Palästina  nur  als  Kulturpflanze  an,  die  sich 
allerdings  auf  Schutthaufen  und  sich  selbst  über- 
lassenen  Böden  mit  Leichtigkeit  einbürgere.  Nach 
De  Candolle,'')  der  sich  auf  die  Ausführungen 


')  Vgl.  S.  Killermann,  Die  Blumen  des  hl.  Landes. 
Leipzig  1915,  S.  38  u.  132.  j.  E.  Dinsraore,  Die  Pflanzen 
Palästinas.  Leipzig  1911,  S.  64.    Auch  Boissier,  Pos  t  u.  a.  m. 

■')  a.  a.  O.  S.  3  u.  4- 

■')  S.  Fr.  Woenig,  Die  Pflanzen  im  alten  Ägypten. 
2.  Aufl.,  Leipzig   1886. 

*]  J.  E.  Dinsmore,  a.  a.  O.  S.  40. 

■')  A.  de  C  and  olle,  Der  Ursprung  der  Kulturpflanzen, 
übersetzt  von  E.  Goeze.     Leipzig  1884,  S.  322—328. 


N. 


XVI.  Nr.   .  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


i.V; 


N  a  u  d  i  n  '  s  und  H  o  o  k  e  r '  s  stützt,  sind  die  Melonen 
teils  in  Britisch-lndien  und  Beludschistan,  teils  in 
Afrika  zuhause  und  erst  mit  Anfang  der  christlichen 
Zeitrechnung  bei  den  Griechen  und  Römern  ein- 
geführt worden.  So  müßte  man  demnach  doch 
unter  den  „Dudaim"  Alraune  verstehen.  Die  Frage 
wird    niemals  sicher  entschieden  werden    können. 

In  der  profanen  Literatur  des  Altertums  er- 
scheint unsere  Mandragorazuerstals«c,!/^iu7r(J,((o(ir/)ot; 
(anthrupumorphos)  in  einer  verloren  gegangenen 
Schrift  des  i^seudo  -  Pythagoras  'j  und  dann  bei 
Theophrast  (hb.  IX,  Kap.  8  am  Ende  u.  g).-) 
Was  sich  aber  Theophrast  unter  der  Mandragora 
vorstellte,  ist  nach  Bertoloni  zweifelhaft;  nach 
der  Beschreibung  scheint  sie  einen  Siengel  und 
weintraubenähnhche  schwarze  Früchte  zu  besitzen. 
Vielleicht  hatte  Theophrast  (das  ist  mein  Gedanke) 
eine  Bryonia  im  Auge.  Noch  seltsamer  mutet  uns 
die  Kunde  an:  „Den  Mandragoras  soll  man  drei- 
mal mit  einem  Schwerte  umschreiben  und  aus- 
siechen mit  nach  Westen  gerichtetem  Antlitz;  ein 
anderer  aber  soll  im  Kreise  herumtanzen  und  so- 
viel als  möglich  von  Liebessachen  sprechen." 

Eine  ähnliche  Erzählung,  aber  noch  abenteuer- 
licher und  gruseliger,  bringt  Fl  a  vi  US  Josephus, 
wie  schon  Marzell  andeutet,  in  seiner  Geschichte 
„Vom  Jüdischen  Kriege"  (7.  Buch,  6.  Kap.):  „Das 
Tal,  welches  die  Stadt  (Machärusj  auf  der  Noid- 
seite  einschließt,  heißt  Baara,  und  erzeugt  eine 
wunderbare  Wurzel  gleichen  Namens.  Sie  ist 
flammendrot  von  I'^arbe.  und  wirft  des  Abends 
Strahlen  aus;  sie  auszureißen  ist  sehr  schwer, 
denn  dem  Nahenden  entzieht  sie  sich  und  hält 
nur  dann  Stand,  wenn  man  Urin  oder  Blutfluß 
vom  Weibe  daraufgießt.  Auch  dann  ist  bei  jeder 
Berührung  der  Tod  gewiß,  es  trage  denn  Einer 
die  ganze  Wurzel  in  der  Hand  davon.  Doch  be- 
kommt man  sie  auf  andere  Weise  geiahrlos  und 
zwar  so.  Man  umgräbt  sie  rings  so,  daß  nur  noch 
ein  kleiner  Rest  von  der  Wurzel  unsichtbar  ist: 
dann  bindet  man  einen  Hund  daran,  und  wenn 
dieser  dem  Anbinder  schnell  folgen  will,  so  reißt 
er  die  Wurzel  aus,  stirbt  aber  auf  der  Stelle  als 
ein  stellvertretendes  Opfer  dessen,  der  die  Pflanze 
nehmen  will.  Hat  man  sie  einmal,  so  ist  keine 
Gefahr  mehr.  Man  gibt  sich  aber  soviel  Mühe 
um  sie,  wegen  folgender  Eigenschalt.  Die  Dämonen, 
d.  h.  bösen  Geister  schlechter  Menschen,  welche 
in  die  Lebenden  hineinfahren  und  sie  töten,  wenn 
nicht  schnelle  Hilfe  geleistet  wird,  werden  von 
dieser  Pflanze  ausgetrieben,  sobald  man  sie  den 
Kranken  auch  nur  nahe  bringt."  '') 

')  Vgl.  auch  L.  Fuchs,  New  Kreuterbuch.  Basell  1^43, 
Cap.  CCl. 

''}  Theophiasti  Eresii  histoiia  plantarum  ed.  Kr. 
Wimraer,  VraUslaviae  1842,  S.  314.  Die  Stelle  lautet; 
TTeoiyjjcicfeiv  de  x«i  töi'  fiavöoayöijai'  eis  Tpiä  liy'''  reiifeir 
Oe  Tioö^  eoneQni^  ^keTtOfja'  töv  ö'  eieooi'  y.vyÄm  TteotoQyeTaüai 
y.ai  /.(yen-  (hs  Tikelaia  rrepe  äfpoÖioicot: 

")  Die  Werke  des  Flavius  Josephus,  übers,  von 
Cotta  und  Gfrörer.  Philadelphia  1838,  S.  762.  Die 
Herausgeber  bemerken  zu  dem  Berichte:  Schade,  daß  diese 
naturhistorischc    Merkwürdigkeit    nicht    mehr    vorhanden    ist  I 


Die  erste  naturwissenschaftliche  Beschreibung 
unserer  Pflanze  verdanken  wir  Dioskorides 
(lib.  IV  cap.  76  und  lib.  VI  cap.  16.)')  „Die  Man- 
dragora, von  einigen  Gegengift,  von  anderen 
Hexenkraut  (Circaea)  geheißen,  weil  die  Wurzel 
zu  Liebeskünsten  zu  führen  scheine,  ist  zwei- 
geschlechtlich:  die  schwarze,  welche  für  das  Weib- 
chen gehalten  wird,  thridacias  genannt,  hat  schmä- 
lere und  kleinere  Blätter  als  der  Lattich;  sie  sind 
gitiig,  stinken  und  bilden  eine  Rosette  auf  dem 
Boden;  Äpfel  hat  sie,  den  Vogelkirschen  ähnlich, 
blaß,  wohlriechend  und  birnartigen  Samen;  sie 
haftet  gut  mit  starken  Wurzeln,  die  zu  zwei  oder 
drei  inemander  verschlungen,  außen  schwarz,  innen 
weiß  und  mit  einer  dicken  Rinde  bekleidet  sind; 
die  Pflanze  ist  ohne  Stengel.  Der  andere  Alraun 
ist  der  weiße,  das  Mannchen,  von  einigen  Norion 
geheißen;  seine  Blätter  sind  groß,  weit,  breit  und 
glatt  wie  die  der  Runkelrüben.  Die  Äpfel  sind 
nochmal  so  groß  als  bei  der  vorigen,  safranfarben, 
angenehm,  aber  etwas  betäubend  riechend;  von 
ihnen  werden  manchmal  die  Hirten,  wenn  sie 
davon  essen,  betäubt.  Die  Wurzel  ist  der  anderen 
gleich,  dabei  größer  und  weißlicher,  auch  sie  ohne 
Siengel  .  .  .  Man  sagt,  daß  noch  ein  anderer 
Alraun  namens  Morion  vorkäme,  der  an  schattigen 
Orten  neben  Höhlen  wächst;  die  Blätter  sind  ähn- 
lich denen  der  weißen  Mandragora,  kleiner,  weiß 
und  eine  Rosette  um  die  Wurzel  bildend;  diese 
ist  zart,  weiß,  etwas'  größer  als  eine  Hand  und 
etwa  daumendick." 

Über  die  Blütenverhältnisse,  die  P'arbe  und 
den  Geruch  derselben,  schweigt  sich  Dioskorides 
aus.  Wir  dürfen  mit  Bertoloni  in  den  zwei 
Geschlechtern,  die  Dioskorides  vor  allem  unter- 
scheidet, die  zwei  Hauptarien  der  Mandragora  er- 
kennen :  Das  Männchen  mit  den  großen  Früchten 
und  Blättern  ist  M.  olficinarum  L.,  das  Weibchen 
mit  den  schmalen  Blättern  und  kleinen  Früchten 
autumnalis  Spreng.  (Bei  Bertoloni  sind  die  Be- 
zeichnungen vertauscht.)  Mit  der  dritten  Art  des 
Dioskorides  könnte  eine  der  Nebenformen  der 
autumnalis  (s.  o.)  gemeint  sein. 

Des  Josephus  Erzählung  von  ihr  hat  ungefähr  gleichen  Wert 
mit    seinen  Nachrichten  von  Salomos  Weisheit   und  Schriften. 

'j  Mandragoram,  aliqui  antimalum,  alii  circaeara  vocant, 
quoniam  videatur  radix  ad  amatoria  conducere.  Duo  eins 
gcnera:  niger,  quae  femina  cxistimatur,  thridacias  appellatus, 
angusiioribus  foliis ,  ac  minoribus  quam  lactucae,  virosis  ac 
graveolentibus,  in  terra  spaisis ;  mala  gerit  sorbis  similia, 
pallida,  odoraia,  in  ijuibus  Ecmen  veluti  pirorum :  radicibus 
inhacret  bene  raagnis,  bims  ternisve,  inter  se  convolutis,  nigris 
foris ,  intus  albis,  crasso  cortice  vestitis;  caule  viduus  est. 
Alter  candidus,  qui  mas  dicitur,  nonnuUis  norion  vocilatus ; 
huius  folia  magna,  alba,  lata,  laevia  ut  betae:  mala  quam 
altcrius  duplo  maiora,  colore  in  crocum  inclinanle,  iucunde 
cum  gravidate  quadam  olentia:  quorum  pomorum  cibo ,  ali- 
quantum  opiliones  soporamur.  radix  altenus  similis,  maior  et 
candidior,  orbaia  et  haec  caule  .  .  .  Alium  tradunt  esse 
mandragoram,  nomine  morion,  in  opacis  juxla  specus  enatum : 
foliis  aloi  mandragorae,  minoribus,  albis,  dodrantalibus,  radicem 
ambientibus;  quae  mollis  est  et  Candida,  paulo  maior  palmo, 
pollicemque  crassitudine   aequat. 

Dioscoriaes  Lib.  IV,  Cap.  7b.  Pariser  Ausgabe  1549, 
S.  218—220.  In  der  Wellmann'schen  Ausgabe  iBerlin  1906} 
Cap.    75   (nur  griechisch). 


140 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrilt. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Daß  unsere  Autfassung  richtig  ist,  ergibt  sich 
auch  aus  den  ältesten  Bildern,  die  von  der  Man- 
dragora erhalten  sind  und  in  einer  der  Wiener 
Dioskorides- Handschriften,  im  sog.  Codex  Neapo- 
litanus ')   stecken    (s.  Abb.  2).     Diese  Handschrift 


M.  aulumnalis  Spr. 


(Co 


großen  Früchten 


Alraunbilder  aus  Dioscorides 
Vindob.  Neapol.  fol.  90.) 


entstand  im  7.  Jahrh.  in  Neapel  und  führt  uns  wie 
der  gleichberühmte  Codex  Constantinopolitanus 
über  400  Pflanzen  in  farbigen  Abbildungen  vor, 
die     in     ihrer     Art     einzig     dastehen     und     die 


Neapolilanu.s,  sacculi  terc  Vif. 
Supplcni.  gracc.   Nr.  28. 


ältesten  botanischen  Urkunden  der  Welt  dar- 
stellen. >j 

In  dem  genannten  Codex  Neapolitanus  er- 
scheinen auf  fol.  90  zwei  Bilder  (s.  Abb.  2)  von 
der  Mandragora  als  Weibchen  {^r,h:)  thelu  und 
Männchen  ctQQiv  (arren)  bezeichnet;  das  erstere 
mit  kleinen  Blättern,  blauen,  über  die  Blätter  hinaus- 
ragenden Blüten  und  roten,  zwischen  den  Kelch- 
zipfeln steckenden  Früchten;  das  Männchen  mit 
großen  Blättern  und  braunen,  kugeligen  Beeren 
(Blüten  fehlen).  Die  Wurzeln  sind  bei  beiden 
braungefärbt  und  sichtlich  der  Menschengestalt 
nachgeformt.  Das  „Männchen"  ist  offenbar  die 
Art  M.  officinarum  L.,  das  „Weibchen"  die  Art 
autumnalis  Sprengel  I microcarpa  Bert.) '') 

Der  zweite  Wiener  Dioskorides,  der  sog.  Codex 
Constantinopolitanus,  ■■)  wäre  noch  älter,  wurde 
um  512  n.  Chr.  gemalt;  aber  es  fehlen  in  ihm 
(zwischen  fol.  2l6  u.  217)  die  Mandragorenbilder, 
die  irgend  einmal,  wie  es  scheint,  herausgeschnitten 
wurden.  Dafür  aber  weist  er  in  dem  einleitenden 
Teile  ein  Bild  (Nr.  5)  auf,  das  für  die  nebenher- 
laufenden abergläubischeMandragorenkunde  charak- 
teristisch ist.  Es  wird  uns  der  Autor  Dioskorides 
vorgestellt,  wie  er  nach  der  Mandragora  greift, 
welche  in  menschlicher  Gestalt  mit  fünf  Blättern 
auf  dem  Kopf  abgebildet  ist  und  von  einer  weib- 
lichen Figur,  der  tigioig  (heuresis  =  inventio),  ge- 
halten wird,  während  zu  seinen  Füßen  der  eben 
verendende  Hund  rücküber  fällt.  Auf  einem  anderen 
Blatt  ist  als  Schlußzeichnung  ein  springendes 
Alraunmännchen  zu  sehen,  dem  die  Blätter  aus 
dem  Kopfe  wachsen. 

Der  echte  Dioskorides  weiß  von  diesen  Sachen 
nichts,  die  offenbar  eine  spätere,  aus  jüdisch-christ- 
lichen Kreisen  stammende  Zugabe  darstellen.  Er 
behandelt  die  Gewinnung  des  Alraunsaftes  durch 
Pressen  der  Wurzel  und  Destillation,  sowie  die 
Anwendung  desselben  als  einschläferndes,  schmerz- 
stillendes Mittel  bei  chirurgischen  Operationen. 
Der  Saft  wurde  mit  Wein  gereicht,  die  Dosis 
wird  genau  angegeben.  Die  Blätter  seien  für 
Augenleiden  gut,  die  Wurzel  gerieben  für  Schlangen- 
bisse; die  Früchte  führen  schon  beim  Riechen 
Schlaf  herbei,  im  Übermaß  erzeugen  sie  Bewußt- 
losigkeit; die  Samen  seien  gut  für  Frauenleiden 
u.  a.  m.  Seltsam  ist  die  Kunde,  daß  sich  sogar 
Elfenbein,  wenn  es  in  Alraunsaft  gekocht  werde, 
weich  machen  lasse.  Ähnliches  erzählt  auch 
Plinius  in  seiner  Naturgeschichte  25.  Buch, 
Kap.  13  (94). 

Wenn    wir    ins    Mittelalter    hinaufsteigen,    so 

')  Verfasser  ist  im  Begriffe,  diese  Pflanzenbilder  nach 
ihrer  Art  zu  identifizieren. 

'■')  Diese  letztere  Art  soll  zuerst  1562  Matthioli  in 
Italien  und  dann  Tragus  in  Deutschland  gekannt  haben. 
Vgl.  P.  A.  Saccardo,  Cronologia  della  Flora  italiana 
(Padova  1909),  S.  233;  ferner  K.  Wein,  a.  a.  O.,  S.  506, 
Anm.  3.  F.igentlich  war  die  Pflanze  als  besondere  Form  schon 
den  Alten  bekannt. 

')  Codex  Aniciae  Julianae,  picturis  illustratus.  W.  Hof- 
bibliothek Med.  graec.  Nr.  I.  Jetzt  herausgegeben  phototypisch 
von   A.   W.  .Sijtlioff.      Lugduni   Batav.    1906. 


N.  F.  XVI.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


141 


finden  wir,  daß  sich  vor  allem  mit  dem  Alraun 
sehr  eingehend  die  hl.  Hildegard  beschäftigt, 
die  als  die  früheste  deutsche  Naturforscherin  gilt 
(t  1179  als  Äbtissin  auf  dem  Rupertsberge  bei 
Bingen).  Auf  diese  Quelle  haben  bereits  P".  A.R  e  u  ß , ') 
R.  V.  Fischer- Benzon  ■)  und  in  neuerer  Zeit 
P.  Kaiser")  aufmerksam  gemacht.  Hildegard 
kannte  kaum  den  Alraun  selbst,  höchstens  vielleicht 
die  Wurzel ;  sie  beschreibt  ihn  auch  nicht,  sondern 
weiß  nur  von  seinen  W'underwirkungen  zu  be- 
richten. Volkskundlich  ist  dieses  Kapitel  (Physica 
lib.  I  de  plantis,  Cap.  de  Mandragora)  sehr  interessant. 
Nach  Hildegard ')  ist  ,.die  Mandragora  warm, 


';  F.  A.  Reuss,  Der  hl.  Hildegard  subtilitalum  diver- 
sarum  naturarum  crealurarum  libri  IX.  Annalen  des  Vereins 
für  Nassauische  Altertumskunde  und  Geschichte  (1859),  Bd.  VI. 

'')  R.  V.  Fischer-Benzon,  Altdeutsche  Garteuflora 
(Kiel   1894),  S.   191. 

')  P.  K:user,  Die  naturwissenschaftlichen  Schriften  der 
Hildegard  von  Bingen.  Berlin  1901.  Programm  des  Königs- 
städtisclien   Gymnasiums,  N.   59. 

•■)  Die  ganze  Stelle  lautet  im  Urtexte:  Mandragora 
calida  est  et  aliquantulum  aquosa,  et  de  terra  illa,  de  qua 
Adam  crcatus  est,  dilatata  est;  homini  aliquantulum  assimilatur. 
Sed  tarnen  herba  haec,  et  propter  similitudinem  hominis, 
suggestio  diaboli  huic  plus  quam  aliis  herbis  adest  et  insi- 
diatur.  L'nde  etiam  secundum  desideria  sua  homo,  sive 
bona,  sive  mala  sint,  per  eam  suscilatur,  sicut  etiam  olim 
cum  idolis  fecit.  Cum  autem  de  terra  etfoditur,  mox  in 
fontem,  id  est  queckbormii,  per  diem  et  per  noctem  unam 
ponatur,  et  sie  omne  malum  et  contrarius  humor  qui  in  ipsa 
est  ejicitur,  id  est  ussge/'issm,  ila  quod  amplius  ad  magica  et 
ad  fantaslica  non  valet.  Sed  cum  de  terra  eradicatur,  si  tunc 
cum  terra  sibi  adhacrente  deponitur,  ila  quod  in  ijn,-/;6oni 
non  purgatur,  ut  dictum  est,  tunc  ad  multas  utilitates  magi- 
corum  et  fantasmagorias  nociva  est,  velut  etiam  multa  mala 
cum  idolis  aliquando  facta  sunt.  Quod  si  quis  vir  aut  per 
magica,  aut  per  ardorem  corporis  sui  inconlinens  est,  recipiat 
speciem  leminae  huius  herbae  quae  in  praeHicto  fönte  purgala 
est,  et  hoc  quod  in  eadem  herba,  inter  pectus  et  umbilicum 
suum  per  tres  dies  et  per  Ires  nocies  ligatum  habeat,  et 
postea  eumdem  fruclura  in  duas  partes  dividat,  atque  super 
utrumque  lancktin  (ilium)  partem  unam  per  tres  dies  et  per 
tres  noctes  ligatum  teneat.  Sed  et  sinistram  manum  eiusdcm 
imaginis  pulverizet,  et  huic  pulveri  modicum  gamphora  addat, 
et  cum  ita  comedat  et  curabitur.  Quod  si  femina  eumdem 
ardorem  in  corpore  suo  patitur,  speciem  masculi  eiusdem 
imaginis  inter  pectus  et  umbilicum  recipiat,  et,  sicut  supra 
dictum  est,  et  ipsa  cum  ea  faciat.  Sed  et  dexteram  manum 
eins  pulverizet  et  modicum  de  gamphora  addat,  et  pulverum 
istum,  sicat  praefatum  est,  comedat,  et  ardor  ille  in  ca  ex- 
stinguilur.  Sed  qui  in  capite  qualicumque  infirmitate  dolet, 
de  capite  eiusdem  herbae  comedat,  quomodocunque  velit; 
aut  si  in  collo  suo  dolet,  de  coUo  illius  comedat;  vel  si  in 
dorso,  et  de  dorso  illius;  vel  si  in  brachio  et  de  brachio 
illius;  vel  si  in  manu  et  de  manu  illius,  vel  si  in  genu  et  de 
genu  illius,  vel  si  in  pede,  et  de  pcde  illius  comedat;  aut  in 
quocunque  membro  dolet  et  de  simili  membro  eiusdem 
imaginis  raanducet,  et  melius  habebit.  Species  autem  masculi 
eiusdem  imaginis  ad  medicaraenta  plus  valet  quam  species 
mulieris,  quoniam  masculus  muliere  fortior  est. 

Et  si  aliquis  homo  in  natura  sua  indissinatns  est,  .[uod 
semper  tristis  est  et  quod  in  aerumpnis  est  semper,  ita  quod 
defectum  et  dolorem  assidue  in  corde  suo  habet,  recipiat 
mandragoram,  cum  jam  de  terra  eradicatur,  et  in  qtiechborn, 
ut  praedictum  est,  per  diem  et  per  noctem  ponat,  et  tunc  de 
fönte  ablatum  in  lectum  suum  juxta  se  ponet,  ita  de  sudore 
suo  eadem  herba  incalescat  et  dicat:  „Deus,  qui  homincm  de 
limo  terrae  absque  dolore  fecisti,  nunc  terram  istam,  quae 
nunquam  transgressa  est,  juxta  nie  pono,  ut  etiam  terra  mea 
pacem  illani  sential ,  sicut  eam  creasti."  [Quod  si  mandra- 
goram non  habes,   accipe  inicium,  id  est  primum  ccspitem  de 


etwas  wässerig  und  von  der  Erde,  aus  der  Adam 
geschaffen,  bereitet;  sie  gleicht  einigermaßen  dem 
Menschen.  Doch  wohnt  dieser  Pflanze  eben  wegen 
ihrer  Menschenähnlichkeit  der  teuflische  Versucher 
mehr  inne,  als  anderen  Kräutern  und  stellt  (uns) 
nach.  Daher  wird  der  Mensch  in  seinen  Gefühlen, 
ob  sie  nun  gut  oder  schlecht,  durch  sie  gereizt, 
wie  er  es  auch  mit  den  Götzenbildern  gemacht 
hat.  Wenn  man  sie  nun  aus  der  Erde  gezogen, 
soll  man  sie  baldigst  in  Quellwasser  (queckborn) 
einen  Tag  und  eine  Nacht  legen;  so  wird  alles 
Böse  und  jede  schädliche  Feuchtigkeit  in  ihr  aus- 
getrieben („ausgebissen"),  so  daß  sie  zu  magischen 
und  zauberischen  Künsten  nichts  mehr  taugt. 
Wenn  man  sie  aber  aus  der  Erde  auszieht  und 
mit  den  anhaftenden  Erdteilchen  aufhebt,  sie  also 
nicht  in  der  beschriebenen  Weise  wäscht,  dann 
ist  sie  zu  vielen  magischen  und  zauberischen  Ge- 
bräuchen (verwendbar  und  wirkt)  schädlich,  wie 
auch  viele  schlechte  Dinge  mit  den  Götzenbildern 
ausgeführt  wurden.  Wenn  nun  ein  Mann  infolge 
magischer  Einflüsse  oder  aus  Begierlichkcit  des 
Körpers  unenthaltsam  ist,  dann  soll  er  die  weib- 
liche Gestalt  dieser  Pflanze,  nachdem  sie  in  Quell- 
wasser gereinigt  worden  ist,  nehmen  und  ihren 
Inhalt  zwischen  Brust  und  Nabel  drei  Tage  und 
drei  Nächte  lang  anbinden;  sonach  diese  FVucht 
I  Wurzel)  in  zwei  Teile  spalten  und  über  beiden 
Lenden  (lanckum)  ebensolang  binden;  ferner  die 
linke  Hand  dieser  Gestalt  zerreiben,  mit  etwas 
Kampfer  mischen  und  so  essen,  dann  wird  er 
geheilt  werden."  Für  das  weibliche  Geschlecht 
wird  von  Hildegard  natürlich  dasselbe  Mittel  emp- 
fohlen, nur  mit  dem  Unterschied,  daß  die  männliche 
Gestalt  und  die  rechte  Hand  benutzt  werden  soll. 
P'erner  wird  die  Mandragora  als  Heilmittel  für 
Kopf-  und  Halsweh  usw.  erklärt,  wobei  die  ent- 
sprechenden Teile  der  wie  gesagt  menschenähn- 
lichen Pflanze  verwendet  werden  müssen.  Das 
Männchen  soll  dabei  wirksamer  sein,  als  die  weib- 
liche Pflanze,  wie  eben  auch  der  Mann  stärker  als 
das  Weib  sei. 

Endlich  sagt  Hildegard:  Wenn  ein  Mensch 
von  Natur  aus  melancholisch  (d.  h.  immer  traurig, 
bei  seinen  Leiden  und  Widerwärtigkeiten  voll 
Herzeleid)  sei,  dann  nehme  er  die  Mandragora  und 
lege  sie  gewaschen,  wie  oben  beschrieben,  neben 
sich  in  sein  Bett ,  bis  das  Kraut  von  seinem 
Schweiße  warm  wird,  und  sage:  „Gott,  der  du  den 
Menschen  aus  Erde  ohne  Schmerz  geschaffen,  jetzt 
lege  ich  diese  Erde,  die  niemals  gesündigt,  neben 
mich,  damit  auch  mein  irdischer  Leib  den  Frieden 
fühle,  wie  du  ihn  geschaffen."  Hat  man  keine 
Mandragora,  dann  tügt  Hildegard  noch  bei,  dann 
genügen  auch  Buchentriebe. 

"Es  eröffnet  sich  in  diesem  Kapitel  ein  großes 
Stück  Aberglauben,  das  in  schroffem  'Gegensatz 
zu  den    nüchternen  Darlegungen    des  Dioskorides 


fago,     quoniam     eamdem     naturam     feliciter    in    hoc    opere 
habent  etc.] 

S.  Hildegardis  Physica,  lib.  I  de  plantis  cap.  de  Mandragora 
Migne,  S.  lat.  Tom.   197,  Col.    1151    u.   11 52. 


142 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  1 1 


steht.  Ob  Hildegard  wirklich  des  Glaubens 
war,  daß  die  Pflanze  solche  Wunder  wirke,  oder 
ob  sie  nur  die  Anschauungen  ihrer  Zeit  wieder- 
gibt, kann  ich  nicht  entscheiden.  Es  war  ein 
jugendliches  Volk,  das  gleich  den  heutigen  Natur- 
völkern überall  Spuk  und  Zauberei  witterte,  das 
aber  auch  die  Missionare  und  Klosterleute  als 
Heilkünstler  und  „Medizinmänner"  verehrte  (nach 
P.  Kaiser). 

Die  religiösen  Ideen,  die  Hildegard  in  ihrer 
Betrachtung  der  Alraunwurzel  einflocht,  scheinen 
zu  ihrer  Zeit  sehr  im  Schwange  gewesen  zu  sein. 
Wir  begegnen  der  Pflanze  öfters  in  theologischen 
Werken  jener  Zeit.  So  bildet  Swarzenski 
in  seinem  Buch  „Salzburger  Malerei"  ^)  eine  alte 
Miniatur  ab:  eine  nackte  Frau  hält  in  der  Linken 
einen  Zweig,  in  der  Rechten  eine  (Mandragora-) 
Frucht.  Noch  merkwürdiger  ist  das  Bild,  das 
J.  A.  Fndres")  aus  einem  alten  Kommentar  des 
mittelalterlichen  Gelehrten  Honorius  Augusto- 
dunensis  veröffentlichte.  Da  wird  die  Mandra- 
gora (so  auch  genannt  in  der  Überschrift  des 
Bildes)  als  nackter  Frauenleib  von  Christus  und 
den  Heiligen   zum  Leben    erweckt.     Unter  diesen 


Abb.  3.     Die  drei  SclioUenmönche 

und  links  davon  die  Alr.iunwurzel, 

am  Portal  der  Schottenkirche  in  Regensburg. 

(Phot.   von  Kill  er  mann.! 

Umständen  könnte  man  auch  eine  der  seltsamsten 
Gestalten  an  dem  berühmten  Jakobsportal  in 
Regensburg  als  Mandragora  deuten.  Die  aus 
Stein  gehauene  Figur  (s.  Abb.  3)  hat  etwas 
Menschengestalt  und  ist  in  zwei  lange  schweif- 
artige Extremitäten  ausgezogen;  der  Kopf  fehlt 
oder  wurde  einmal  weggeschlagen.  Gewöhnlich 
wird  die  Gestalt  als  Meerweibchen,  wie  auch 
manch  andere  Tiergestalten  des  Bestiarius  an  dem 
Portal  als  Symbole  verewigt  sind,  angesprochen; 
nach  Endres  könnte  es  aber  auch  die  Mandragora 
sein,  als  Symbol  der  Weisheit  der  neben  ihr  er- 
scheinenden drei  Stifter  des  Klosters,  die  aus  Schott- 
land stammten. 

Echt  naturwissenschaftlich  gehalten  ist  dagegen 
die    Darstellung,    welche     der    auf    Hildegard 


folgende  Albertus  Magnus^)  von  der  Mandra- 
gora bringt;  er  sagt  von  dem  abergläubischen 
Zeug  keine  Silbe,  wie  er  auch  sonst  in  seinen 
Werken  sehr  wissenschaftlich  verfährt.  In  der 
Hauptsache  sich  an  Avicenna  anschließend,  nennt 
er  die  Mandragorawurzel  iahro  (auch  labro).  „Sie 
ist  groß,  hat  Menschenähnlichkeit;  das  Wort 
mandragora  klingt  unserem  Autor  wie  hominis 
imago  (Menschenbild).  Die  Wurzel  ist  hölzern, 
aschenfarben  und  innen  etwas  schwarz.  Sie  ist 
kalt  und  trocken,  überhaupt  ein  starkes  Desikkativ; 
die  Rinde  der  Wurzel  ist  schwach.  Die  Pflanze 
hat  narkotische  Eigenschaften,  hat  eine  tränen- 
artige Flüssigkeit  und  einen  Saft;  der  letztere  ist 
stärker  als  der  erstere.  Bei  der  Mandragora  sind 
zwei  Geschlechter  zu  unterscheiden:  Männchen 
und  Weibchen,  ersteres  mit  rübenähnlichen,  letzteres 
mit  lattichartigen,  aber  etwas  rauhen  Blättern." 
Die  Unterscheidung  deckt  sich  ziemlich  mit  der 
des  Dioskorides  und  betrifft  die  beiden  Arten 
officinarum  L.  und  autumnalis  Spreng.,  wie  schon 
Jessen  findet. 

Der  übrige  Teil  des  Kapitels  handelt  von  den 
medizinischen  Wirkungen;  die  erste  Übersetzung 
davon  gibt  (Mitte  des  14.  Jahrhunderts)  Kon  rad 
von  M  e  g  e  n  b  e  r  g  -).  Ev  legt  (Buch  V.  Nr.  48)  der 
Mandragora  bereits  den  Volksnamen  „Alraun"  bei 
und  bemerkt:  „Kinder,  die  die  Wurzel  fanden 
und  davon  aßen,  starben  in  großer  Zahl,  einigen 
iedoch  kam  man  mit  Butter  und  Honig  zu  Hilfe. 
Die  Pflanze  bringt  sehr  wohlriechende  F'rüchte, 
Erdäpfel  genannt.  Wurzel,  Rinde,  Blätter  und 
Früchte  des  Alrauns  sind  als  Arznei  zu  gebrauchen 
und  wirken  zusammenziehend  und  wegbeizend. 
Will  man  einem  Kranken  Schlaf  verschaffen,  so 
mische  man  gepulverte  Alraunwurzel  mit  Frauen- 
milch und  Eiweiß,  bereite  daraus  ein  Pflaster  und 
lege  es  auf  die  Stirne  und  die  Schläfen  bei  den 
Ohren.  Gegen  Kopfweh  durch  Erhitzung  soll 
man  die  zerquetschten  Blätter  auf  die  Schläfen - 
gegend  legen.  Alraunöl  wird  so  hergestellt :  man 
zerquetscht  Alraunblätter  gründlich,  mischt  sie 
mit  Baumöl,  siedet  alles  zusammen  und  seiht  es 
durch  ein  Tuch.  Das  ist  dann  das  Alraunöl.  Es 
bringt  den  Schlaf,  vertreibt  Kopfschmerz  und  die 
Fieberhitze,    wenn    man    Stirn    und    Schläfen    mit 


')  Lambacher  Kodex  in  der  Herliner  Bibliolhelj. 
tlieol.  lat.  IV  0  150. 

-)  J.  A.  Endres,  Uas  St.  Jakobsportal  in  Regensbur; 
KiMiipton   1903.     Vgl.   besonders  S.  63--O5. 


')  Alberti  Magni,  ex  ordine  praedicatorum,  de  Vege- 
tabilibus  libri  VII.  Ausgabe  von  C.  Jessen  (Berolini  1867), 
S.  535 — 536.  Die  Stelle  lautet:  Mandragora  est  herba,  cuius 
radix  iabro  vocatur.  Et  est  radis  magna,  habens  similitudinem 
cum  forma  hominis,  ut  dicit  Avicenna:  et  ideo  etiam  mandra- 
gora vocatur,  quod  sonat  hominis  imago.  Est  autem  radix 
lignea,  cinericia,  et  invenitur  aliquando  nigra.  Est  autem 
frigida  et  sicca  ;  et  radix  eius  est  fortiter  desiccativa,  et  cortex 
radicis  eius  est  dcbilis.  Est  autem  narcoticam  habens  virtufem, 
et  habet  lacrimam  et  succum ,  sed  succus  eius  est  fortior 
lacrima  ipsius.  Est  autem  in  mandragora  masculus  et  femina; 
et  mas  quidem  habet  folia  similia  foliis  bliti;  sed  femina 
habet  folia  sicut  lactuca,  sed  asperiora  aliquanlulum  etc. 
Der  Ausdruck  iabro  hat  sich  als  jabrüh  jetzt  noch  in  Palästina 
im  Volksdialekt  erhalten;  vgl.  G.  Dal  man  bei  Dinsmore 
a.  a.  O.  S.  64. 

■-)  „Das  Buch  der  Natur".  Die  erste  Naturgeschichte  in 
deutscher  Sprache.  Ausgabe  von  II.  Schulz  (Grcifswald 
1897),  S.  349. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


ihm  einreibt.  Koch  Alraunwurzel  mit  Wein  und 
gib  ihn  dem  zu  trinken,  dem  ein  Glied  abgenommen 
werden  soll;  er  fühlt  dann  in  dem  tiefen  Schlaf 
die  Schmerzen  nicht.  Bringt  man  ein  Stückchen 
der  Wurzel,  besonders  der  männlichen,  in  Wein, 
so  wirkt  dieser  schneller  berauschend.  Wenn 
aber  jemand  die  Wurzel  öfter  anwendet,  auch 
viel  daran  riecht,  so  bekommt  er  die  fallende 
Sucht  (Apoplexia).  Zur  Erleichterung  der  Geburt 
stellt  man  den  Frauen  etwas  von  dem  Wurzel- 
saft unter.  Alraunsamen  wirkt  reinigend  auf  die 
Gebärmutter,  und  wenn  eine  Frau  über  einer 
Mischung  des  Samen  mit  Schwefel,  der  nie  ans 
F'euer  gekommen  ist,  sitzt,  so  wird  sie  von  Metror- 
rhagie befreit." 

Wir  sehen,  daß  sowohl  Albertus  Magnus 
wie  Konrad  von  Megenberg,  der  sonst 
Märchen  nicht  abhold  ist,  von  den  abergläubischen 
Gebräuchen,  die  mit  der  Mandragora  in  Verbindung 
stehen,  nichts  wissen  wollen  oder  überhaupt  keine 
Kunde  hatten.  Mir  scheint,  daß  erst  mit  der 
llumanistenzeit  diese  Gebräuche  sich  einbürgerten. 

Das  Rankenwerk,  daß  sich  in  den  eigentlich 
nicht  naturwissenschaftlichen  Kreisen  um  den 
Alraun  wand,  wurde  immer  krauser.  Nach 
Perger')  erzählt  die  deutsche  Mythe  —  aus 
welcher  Zeit,  ist  nicht  angegeben;  „Diese  glück- 
bringende Wurzel  wächst  nur  unter  dem  Galgen 
und  zwar  nur  dann,  wenn  ein  Erbdieb,  der  jedoch 
noch  vollkommen  reiner  Jüngling  sein  muß,  ge- 
hängt wird,  der  bei  der  Vollstreckung  des  Urteils 
den  Harn  ließ  aut  sperma  efü'undit.  Sie  schreit, 
wenn  sie  ausgegraben  wird,  so  entsetzlich,  daß 
man  vor  Angst  stirbt,  weshalb  man.  wie  Odysseus 
bei  den  Syrenen  die  Ohren  mit  Wachs  verstopfen 
muß"  usw. 

Der  Alraun  wurde  zum  glückbringenden  Haus- 
geist, zum  Kobold  und  Heinzelmännchen,  zum 
Spiritus  familiaris,  -')  den  man  in  hohen  Ehren  hielt 
und  in  Eiebes-  aber  auch  wohl  in  anderen  Nöten 
um  Hilfe  rief. 

Wie  sehr  die  fabelhafte  Mandragora  auch  die 
Gedankenwelt  der  Renaissanze  beschäftigte,  er- 
sehen wir  aus  dem  Kupferstich  A.Dürer 's,  der 
unter  dem  Namen  der  „vier  Hexen''  geht,  und 
aus  Machiavelli's  Komödie  ,,la  Mandragola". 
Dürer,  der  sich,  wie  ich  hier  schon  öfters  dar- 
legte, für  naturwissenschaftliche  Dinge  sehr  in- 
teressierte, hat  in  jenem  aus  dem  Jahre  1491 
stammenden  Stiche  über  den  vier  nackten  Frauen 
deutlich  einen  Alraunapfel  abgebildet  (s.  Abb.  4). 
Der  Stiel  der  F'rucht  ist  zwar  knopfartig  verdickt 
und  unrichtig  wiedergegeben,  aber  die  fünf  Kelch- 
blätter, die  an  der  Beere  erhalten  bleiben,  sind 
deutlich  gesägt  und  umfassen  sie  nur  zu  einem 
Drittel,  wie  es  für  die  Art  M.  officinarum  L. 
charakteristisch  ist.  Die  Frucht  selbst  erscheint 
gerieft,  vielleicht  weil  es  ein  altes,  eingetrocknetes 


Separat.     Wien   lS62(?). 
')  Vgl.  Schnicllci 


Exemplar  war,  das  Dürer  abzeichnete.  Wir  er- 
blicken darauf  eingegraben  die  Jahreszahl  1491  und 
die  Buchstaben  O.  G.  H.  Nach  R.  W  u  s  t  ma  n  n  ') 
läge  hier  ein  Fehler  vor  und  müßte  M  gelesen 
werden,  die  Abkürzung  für  omnium  gentium  matres, 
d.  h.  der  drei  rheinisch-keltischen  Mütter.  Er  sieht 
in  den  F"rauen  nicht  gerade  Hexen,  deren  Typus 
bei  Dürer  ein  anderer  sei,  sondern  Alraunen, 
die  bei  der  Zeugung  eine  Rolle  spielen.  Eine 
ältere  Deutung,  welche  Sandrart  (Deutsche 
Akademie  II  222)  gibt,  dünkt  uns  besser,  zumal 
hier  auch  wirklich  der  dritte  Buchstabe  für  ein 
H  genommen  wird:  „O  Gott  hüte"  (d.  h.  behüte 
uns  vor  Zauberei).  Ob  dann  nicht  auch  Kon  rad 
von  Megenberg,  den  wir  im  Wortlaut  vor- 
führten und  den  Dürer  sicherlich  kannte,  zur 
Erklärung  des  Bildes  herbeigezogen  werden  muß? 

Machiavelli's  Theaterstück '-)  entstand  etwas 
später,  wahrscheinlich  um  1519.  Die  Idee  ist 
eine  ähnliche;  es  soll  durch  den  Alrauntrunk 
leibliche  Fruchtbarkeit  verliehen  werden. 

Im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  artete  die  Vor- 
liebe für  die  Alraunpflanze  zu  einer  förmlichen 
Manie    aus  —  ein    merkwürdiges    Gegenstück   zu 


Abb.  4^      Die  Alraunfrucht  auf  Uürer's  .Stich 
,,Dic  %'ier  Hexen"  (Ausschnitt). 

der  damals  auflebenden  Naturwissenschaft  und  eine 
Parallele  zu  der  bekannten  Tulpen-  und  Nelken- 
manie. Bei  den  Pflanzenvätern  wird  natürlich  die 
Mandragora  viel  genannt  und  oft  abgebildet.  Nach 
dem  Zeugnis  des  Lobelius'')  brachte  man  die 
Wurzeln  und  den  Samen  aus  Kreta  und  den  Ky- 
kladen  in  die  Gärten  von  Italien,  Frankreich  und 
Spanien;  selbst  in  England  gedieh  die  Pflanze  in 
Gärten  und  brachte  es  zu  Blüten  und  Früchten. 
In  Deutschland  mußte  man  sich  anscheinend 
mehr  mit  getrockneten  Exemplaren  begnügen, 
oder  mit  Fälschungen,  wozu  hauptsächlich  die 
Zaunrübe  (Bryania)  verwendet  wurde.  Val. 
Cordus  bemerkt  bezüglich  der  Verbreitung  des 
.\lrauns  in  deutschen  Gärten  im  16.  Jahrhundert: 
„apud  nos  a  paucissimis  colitur." ')     Der  berühmte 


M  Von  einigen  Tieren  und  Pllanzeu  bei  Uürer.  Zeit- 
schrift für  bildende  Kunst.     N.  F.  XXII.  Heft  5. 

-)  J.  Sparapanato,  la  Mandragola  ncUa  comedia  e 
nella  vita  ilal.   del  500.      Noia    1897. 

■')  a.  a.   O.  Nova  Stirpium  adversaria,  S.   lou. 

'J  Vgl.  K.  Wein,  Deutschlands  Gartenpflanzen  um  die 
MiUc  des  16.  Jahrhunderts.  Beihefte  zum  Bot.  Contralbl,, 
l;d.  XXXI  (I9I4\  Abt.  II,  S.  506. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   1 1 


Garten  der  F'ürstbischöfe  von  Eichstätt  in  Bayern 
weist  um  i6oo  die  Pflanze,  die  auch  heute  noch 
in  botanischen  Gärten  eine  Seltenheit  sein  dürfte, 
gar  nicht  auf.  ^) 

Die  Mandragoramanie,  wie  wir  sie  nennen 
wollen,  grassierte  weniger  in  den  naturwissen- 
schaftlichen als  in  den  sog.  Liebhaberkreisen.  Die 
Pflanze,  die  einmal  einen  Ruf  genoß  und  bei  uns 
nicht  zu  haben  war,  wurde  um  Gold  gekauft,  mit 
ehrerbietiger  Scheu  betrachtet  und  aufs  zärtlichste 
behandelt.  Besonders  war  für  diese  Seltenheiten 
Kaiser  Rudolf  II.  eingenommen,  dem  übrigens  die 
Gartenbotanik  durch  Einführung  vieler  orientalischer 
Arten  viel  verdankt.  In  der  k.  k.  Hofbibliothek 
werden  aus  seiner  Zeit  noch  zwei  Alraune  und 
zwar  ein  Männchen  und  ein  Weibchen,  beide  in 
Sammtröcke  gehüllt,  aufbewahrt;  sie  sind  nach 
Perger  aus  dem  „Cimeliarchicum  physicum" 
Kaiser  Rudolfs  II.  i68o  in  die  genannte  Hofbiblio- 
thek  gelangt.  Sie  sind  abgebildet  in  Nessel 's 
Katalog  der  Handschriften  der  kaiserlichen  Biblio- 
thek, pars  VII.  -)  P-ine  Vorstellung  von  solchen 
Alraunmännchen  im  Sinne  des  i6.  Jahrhunderts 
gibt  uns  eine  Zeichnung  bei  Thümen").  Auch 
bei  Shakespeare*)  wird  die  Mandragora  genannt, 
doch  mehr  in  medizinischer  Bedeutung  als 
Schlafmittel : 

Mohnsaft  nicht  noch  Mandragora, 
Noch  alle  Schlummerkrafte  der  Natur 
Verholfen  je  dir  zu  dem  süßen  Schlaf, 
Den  du  noch  gestern  hattest. 

((Jthello   III.  3,  3}(<.-^ 

Im  Laufe  des  i6.  Jahrhunderts  lassen  sich  be- 
reits Stimmen  gegen  den  Alraunaberglauben,  der 
von  Betrügern  weidlich  ausgenutzt  wurde,  ver- 
nehmen: so  die  Pflanzenväter  L.  Fuchs  (1534) 
und  P.  A.  M  a  1 1  h  i  o  1  i  ( 1 563)^ ),  auch  Nichtbotaniker, 

>)  Vgl.  J.  Seh  wert  Schlager,  Der  botanische  Galten 
der  Fürstbischöfe  von   Eichstätt.     {Dortselbst   1890.)     S.  65. 

■-)  Ich  habe  die  Sachen  in  Wien  nicht  gesehen.  Nach 
Perger  sind  selbst  diese  Alraune  gefälscht  (vgl.  März  eil 
a.  a.  O.). 

3)  F.  V.  Thümen,  Die  Pflanze  als  Zaubermittel.  Wien 
1881.  Der  Vortrag  ist  zum  Teil  nach  einer  Abhandlung 
ünger's  bearbeitet. 

■*)  Vgl.  H.  W.  Seagcr,  Natural  Hislory  in  Shakespearc's 
Time  (London  1S96),  S.  195— 19S.  Dort  auch  zwei  charakte- 
ristische Zeichnungen  von  einem  Alrauomännchcn  u.  -Weibchen. 
Andere  Stellen  s.  bei  E.  O.  von  Lippmann,  ,, Naturwissen- 
schaftliches aus  Shakespeare".  Zeitschr.  f.  Naturw.,  Bd.  74 
(Stuttgart   1901),  S.  347   u.  34S. 

■■■')  Die  Stelle,  welche  bei  Matthioli  und  Fuchs  ziem- 
lich   gleich    lautet,    ist    von    II.    März  eil    (1.  c.)    ausführlich 


wie  der  Jurist  Martin  del  Rio  (1578)')  und 
Anhorn  (1674).^)  Mit  der  Zeit  hörte  der  Glaube 
an  die  Wunderkraft  der  Mandragora,  wie  es  scheint, 
von  selber  auf.  Um  1703  schreibt  ein  Anonymus: 
„Die  Historien  von  solcher  Alraunwurzel  oder 
Kobolgen,  welche  meistens  von  alten  Weibern  und 
einfältigen  Leuten  geglaubt  werden,  weil  sie  wider 
alle  Vernunft,  Billigkeit  und  Ordnung  der  Natur 
streiten,  halte  ich  für  unmöglich,  abergläubisch 
und  bloße  Einbildungen."  ^) 

Man  kennt  jetzt  in  deutschen  Landen  den 
Alraun  wohl  nur  mehr  vom  Hörensagen; ')  nur  in 
Volkssprüchen  hat  sich  das  Wort  da  und  dort  er- 
halten: Z.  B  jetzt  schaust  grad  aus  wie  „D'Olrau" 
d.  h.  Hexe  (so  in  Oberfranken,  Oberpfalz)  *)  oder 
„Der  muß  ein  Oranel  (Alräunchen)  im  Sack  haben", 
wie  man  in  Wien  ")  sagt,  wenn  einer  besonderes 
Glück  im  Kartenspiel  hat.  Die  östlichen  Länder 
Europas  (Walachei,  Südrußland)  sollen  noch  Gegen- 
den sein,  wo  der  Mandragorakult  in  Blüte  steht. ') 
Vielleicht  könnten  unsere  Feldgrauen  dort  noch 
wirkliche  Alraune  und  Heinzelmännchen  entdecken. 


wiedergegeben.  L.  Fuchs,  New.  Kräuterbuch.  Basel  1534, 
S.   201. 

')  Als  ich  anno  1578  das  Richterliche  Ampt  anoch  ver- 
waltet, ist  mir  unter  eines  beklagten  Licentiaten'confiscirten 
Schriften ,  neben  einem  mit  wunderlichen  Charakteren  und 
Zeichen  erfüllten  Zauberbuch  auch  ein  Lädlein,  wie  ein  Todten- 
sarg  formiret,  zur  Hand  gekommen,  in  welchem  ein  alt  schwarz 
Alraun-Männlein  gelegen ,  mit  sehr  langem  Haar  aber  ohne 
Bart,  welches  zu  Zauberei  und  Vermehrung  des  Geldes  ge- 
braucht worden.  Ich  habe  die  Arme  von  dem  .Alraun  weg- 
gerissen. Die  welche  das  gesehen,  haben  gesagt,  es  werde 
mich  zu  Hause  ein  großes  Unglück  angehen.  Ich  hab'  aber 
darüber  gelacht  und  gesagt,  wer  sich  fürchte,  der  könne  wohl 
hinweg  gehen.  Ich  hab  endlich  das  Buch,  Lädlein  und  Allraun- 
Männlein  in  das  F'eucr  geworfen  und  hievon  keinen  anderen 
Gebrauch,  als  den  einer  verbrannten  Wurzel  gerochen."  Dis- 
<|uisitiones  magicarum  (Lovanii  1595),  !.  IV.  c  2.  m  547  (nach 
Pe  rgcr). 

'-)  ,, Diese  Allraun  ist  nichts  Anderes,  als  eine  natürliche 
Wurzel,  in  und  bei  deren  der  lebendige  Teufel  selber  sich, 
dem  Geizigen  zu  dienen,  darstellet,  damit  er  von  ihnen  als 
ihr  Gott  und  Gutthäter  hinwiederumb  geehrt  werde  und  reißet 
endlich  anstatt  des  Zinses  die  Seele  in  den  Abgrund  der  Höllen  !'' 
Magiologia  Basel,   1674,  8.  P.   II,  Cap.  3  (nach  Perger"). 

3)  Nach  Thümen  a.  a.  O.  S.   16. 

■*)  Eine  sehr  drastische,  kaum  wahrscheinliche  Schilderung 
des  Mandragorakulles  aus  der  Gegend  von  Neuötting  am  Inn 
s.  im  bayer.  Familienblatt,  lahrg.  VIII,  Nr.  1  (l.  X.  1910I; 
Verfasser  der  Novelle  M.   ].  Lehn  er. 

••■•)  Schmeller's  Wörterbuch  s.  o.  Bd.  II,  Sp.    107. 

")  Daselbst  soll  noch  in  den  70  er  Jahren  ein  damals 
viel  genannter  Minister  in  wichtigen  Angelegenheiten  sein 
kostbar  gehaltenes  Alräunchen  gefragt  haben. 

•j   Vgl.   Mar  Zell   a.  a.   Ü.,   S.    163. 


Der  Sang  der  Unsichtbaren  im  Fölirenwalde. 

Von  Prof.  Dr.  Wilhelm  von  Reichenau. 


Ein  warmer  Tag  im  Sominerhalbjahr  lädt  uns 
ein,  den  von  Mainz  aus  viel  besuchten  Lenneberg- 
wald  zu  begehen,  wo  köstlicher  Kiefernadelduft 
uns  umgibt  und,  oben  angekommen,  eine  herrliche 
Aussicht    dem    überraschten    Spaziergänger   lohnt, 


In  dem  Föhrenbestand  herrscht  zurzeit  völlige 
Windstille.  Kein  Zweiglein  zuckt  an  den  Wipfeln, 
nicht  der  schwankste  Grashalm  am  Boden  regt 
sich.  Auch  der  Horizont  teilt  die  allgemeine  Ruhe, 
denn  die  Umrisse  jener  weißen  Wolke  hinter  dem 


N.  F.  XVI.  Nr.   1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


145 


Taunus  bleiben  gänzlich  unverändert.  Die  Sonne 
hat  für  heute  ihren  höchsten  Stand  erreicht  und 
spendet  uncrehindert  ihre  lebenerweckenden  Strahlen. 
Kein  Vogellaut  ertönt  ringsum,  denn  die  befiederten 
Waldeskinder    halten    Mittagsruhe  —  Pan    schläft. 

Dennoch  ist  die  Luft  nicht  klanglos:  Wie  aus 
unbekannten  Fernen  trifft  eine  eigentümliche  Musik 
unser  Ohr,  ein  Summen,  wie  sich  verlierender 
Glockenklang.  Und  dieses  Tönen  ist  überall  ver- 
breitet, auf  stundenweges  weit,  wohin  wir  uns 
nur  wenden  in  diesem  singenden  Walde. 

Welches  sind  nun  die  Hervorbringer  des  Sanges 
—  oder  sollte  gar  jener  Physiker  das  richtige  ge- 
troffen haben,  der  ausströmende  Elektrizität  aus 
den  Nadelspilzen  für  jenes  Konzert  verantwortlich 
machen  wollte? 

Schon  Landois  in  Münster  schrieb  ganz  all- 
gemein'): „Auch  jede  Gegend  bietet  ihre  eigenen 
Klänge.  Der  hohe  Berg,  das  tiefe  Tal;  die  öde 
Heide  wie  die  fruchtende  Flur,  Sumpf,  Wald, 
Röhricht  und  weite  Wasserflächen  haben  ihren 
eigenen  Ausdruck,  ihren  Dolmetscher,  in  der 
Stimme  ihrer  Bewohner." 

Vor  Jahren  hat  jener  Sang  in  hohem  Grade 
meine  Aufmerksamkeit  angezogen,  doch  gelang  mir 
es  damals  nicht  wie  jetzt,  die  Chorsänger  mit 
Sicherheit  zu  ermitteln. '-)  Der  freundliche  Leser 
soll  aber  Mitentdecker  dieser  Wesen  sein.  Er 
strenge  sich  daher  an,  den  vielleicht  schon  ge- 
übten Blick  in  die  lichten  Räume  zwischen  dem 
Gezweige  zu  richten  ...  sie  müssen  zu  weit  ab 
sein,  die  Summer,  denn  wir  sehen  nichts.  Aber 
Geduld!  Die  Wolke  da  drüben  hebt  sich,  ein 
leichter  Wind  streicht  über  die  Wipfel :  Sogleich 
kommt  der  Gesang  näher,  denn  er  wird  viel  lauter! 
Der  Wind  verstärkt  sich,  der  Sang,  dessen  Viel- 
stimmigkeit jetzt  außer  allem  Zweifel  steht,  senkt 
sich  zwischen  die  Wipfel  herab,  endlich  unter  die- 
selben. Stärkere  und  feinere  Stininien  sind  zu 
unterscheiden.  Endlich,  es  rauschen  die  Wipfel, 
sehen  wir  auch  kleine  dunkle  Punkte  durcheinander 
sausen  oder  auch  wie  angenagelt  in  der  Luft 
schweben:  Insekten  sind  es,  Zweiflügler! 

Mit  vielen  weißen  Wölkchen,  die  einen  Schirm 
nach  dem  anderen  vor  der  Sonne  bilden,  fährt  ein 
kühlerer  Windstoß  daher,  und  die  Schtvebcr  kom- 
men mehr  und  mehr  herab:  Zweiflügler  vieler 
Gattungen,  das  Hauptkontingent  der  himmlischen 
Heerscharen  aber  stellen  die  Schweb-  oder 
Seh  wirr  fliegen  (Syrphus).  Wir  hören  nun 
-deutlich,  daß  gerade  sie  den  Grundton  angeben 
und  festhalten.  Im  Weiterschreiteii  geht  es  überall 
„summ  summ",  bald  näher,  bald  ferner,  von  Kopf- 
höhe bis  zu  den  sausenden  Zweigen  hinauf 
schweben  die  Syrphiden.  Hier  kleinere,  dort 
größere.  Alle  schwirren  und  singen  mit  ihren 
Bruststimmen.     Denn  es  ist  der  mit  Leidenschaft, 

')  Tierstimmen.  Von  Dr.  II.  Landois,  Professor  der 
Zoologie.     Freiburg  i.  B.,   1874,  Herder'sche  \'erlagshandlung. 

-)  Bilder  aus  dem  Naturleben.  Nacli  eigenen  Erfahrungen 
alsjägeru. Sammlergeschildert  von  W  il  hei  m  v.  Reichcnau 
Leipzig,  Ernst  Günther's  Verlag,  1892,  S.  70. 


bald  stärker,  bald  mäßiger  willkürlich  ausgestoßene 
Ton,  den  wir  vernehmen,  eine  richtige  Singstimme, 
kein  Flügelgeräusche.  Für  die  Gattung  Eristalis 
hat  in  dem  angeführten  Werke  Landois  sehr 
schön  die  Tonapparate  erläutert  (S.  73  ff),  Syrphus 
hat  er  nicht  untersucht,  und  doch  macht  gerade 
diese  Gattung  den  Wald  si  n  gen.  Sie  ist  wirk- 
lich tonangebend  und  spielt  ihre  Instrumente  zu 
Millionen  im  Chorus,  soweit  es  Bäume  gibt,  den 
Wald  erfüllend.  Aber  auch  zudringliche  Sänger 
gibt  es  unter  der  Masse,  freilich  nur  zufällig  an 
ihrem  Schwebeort  von  uns  aufmerksam  gemachte 
einzelne  und  dabei  nur  die  ganz  großen  Arten  mit 
dem  fast  papierdünnen,  eiförmigen  schwarzen 
Hinterleib,  dessen  Ringe  querüber  mit  zwei  Mond- 
flecken gezeichnet  sind.  Sobald  wir  nämlich  vor- 
bei sind,  wittern  sie  unseren  warmen  Dunstkreis. 
„Hier  ist  gut  sein",  so  empfinden  sie  wohl,  und 
die  Stimme  hinter  uns  erhöht  sich,  wird  nahezu 
piepend,  wie  bei  Immen  und  Mücken,  die  stechen 
wollen,  und  unwillkürlich  fahren  wir  herum,  ziehen 
den  Nacken  ein  und  erheben  die  abwehrende  Hand. 
Doch  wir  fassen  uns,  denn  es  ist  ja  lächerlich, 
sich  von  einer  ganz  unschädlichen  Zierfliege  ein- 
schüchtern lassen  zu  sollen.  Wir  lassen  sie  ruhig 
gewähren.  „Uüh,  ühi  hiiü"  (jetzt  hätte  der  Stich 
zu  kommen  —  aber  er  bleibt  aus)  und  das  hübsche 
Fliegentier  sitzt  stille  am  Rande  unseres  Kragens, 
da,  wo  im  Nacken  die  warme  Körperluft  unterm 
Hemde  aufsteigt.  Es  wärmt  sich  an  uns  als  seinem 
willkommenen  Kachelofen.  Mittlerweile  hat  die 
Bewölkung  abgenommen,  der  Wind  hat  aufgehört, 
die  Sonne  brütet  wieder  unbehindert,  die  Wärme- 
.strahlen  heben  sich  vom  Boden  aufwärts  —  und 
mit  ihnen  die  Waldessänger,  die  Syrphiden.  Beim 
Verlassen  des  Waldes  ertönt  wieder  hoch  über 
den  Wipfeln,  vom  Himmel  herab,  der  Sang  der 
Unsichtbaren.  ,L'ns  bleibt  nur  noch  übrig,  die 
Gegenwart  der  Jahr  für  Jahr  in  unzählbarer  und 
unschätzbarer  Menge  den  Föhrenwald  bewohnender 
Syrphusarten  zu  erklären.  Dies  geschieht  un- 
schwer, wenn  man  ihre  Lebensweise  in  Betracht 
zieht.  Die  F"iiege  leckt  Blumensäfte,  aber  auch  den 
süßen  Auswurf,  d.  h.  den  flüssigen,  dextrinhaltigen, 
mittels  der  Hinterfüße  fortgeschleuderten  Kot  der 
Blattläuse.  Die  letzteren  finden  sich  in  einer  so 
trockenwarmen  Gegend  zwischen  den  Nadeln  der 
jungen  Triebe  in  unübersehbaren  Massen.  Sie 
dienen  vielen  Tieren  als  Nahrung,  vornehmlich  den 
Singvögeln  für  die  erst  kürzlich  ausgebrüteten 
Jungen,  als  ausschließliche  Nahrung  u.  a.  für  die 
Sonnenkälbchen,  Herrgotts-  oder  Marienkäferchen 
(Coccinellae)  und  deren  Larven,  für  die  Blattlaus- 
löwen oder  Florfliegen  (Chrysopa),  dann  für  die 
Maden  der  Schwebfliegen.  Diese  haben  einige 
Ähnlichkeit  mit  Blutegeln,  sofern  letztere  ausge- 
streckt sind,  doch  auch  wieder  mit  Spannerraupen, 
wiewohl  diese  ja  einen  Kopf  besitzen.  Es  sind 
wurmförmige,  köpf-  und  beinlose,  vorn  gegen  den 
Saugmund  zu  allmählich  zugespitzte  grünliche  oder 
rötliche  Larven,  die  mittels  geeigneter  Wülste  ihrer 
hintersten  Leibesringe  sich  fortbewegen,  mit  dem 


146 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  I 


Rüssel  dabei  wie  echte  Bünde  umhertastend.  Haben 
sie  eine  Blattlaus  erwischt,  so  wird  dieselbe  flugs 
ausgesaugt,  so  daß  nur  die  farblose  Haut  übrig  bleibt. 
So  leben  sie  zwischen  ihren  Nährtieren,  bis  sie 
sich  verpuppen. ')     Aus  der  Puppentonne  erscheint 


')  Näheres  hierüber  bei  Brehms 
Dr.  E.  L.  Taschen  berg. 


erleben,    Di( 


nach  einiger  Zeit  durch  Absprengung  der  deckei- 
förmigen vordersten  Ringe  die  Schwebfliege.  Sie 
zeigt  zunächst  noch  Flügelläppchen  und  pumpt 
mit  gewaltiger  Wirkung  Luft  in  ihren  Körper.  Ist 
sie  erst  „trocken  hinter  den  Ohren",  so  beginnt 
ihr  Flugwesen,  das  lediglich  der  Lebens- 
freude gilt. 


Einzelberichte. 


Medizin.  In  der  Neuzeit  wurde  häufig  zu  theore- 
tischen und  praktischen  Zwecken  von  dem  Ver- 
fahren der  Transplantation  Gebrauch  gemacht; 
dieselbe  besteht  darin,  daß  Gewebsstücke  von 
einem  lebenden  Tier  oder  Menschen  auf  ein  anderes 
Individuum  verpflanzt  und  dort  zum  Einheilen  ge- 
bracht werden.  Letzteres  gelingt  um  so  leichter, 
je  gleichartiger  das  Serum  des  Organismus,  von 
welchem  das  Transplantat  genommen  wurde,  und 
der  Gewebssaft  des  anderen  Lebewesens  ist,  mit 
dem  das  Transplantat  verbunden  werden  soll.  Die 
Übereinstimmung  im  Gewebssaft  des  Transplantats 
und  des  Empfängers  ist  am  größten,  wenn  dieses 
nur  an  eine  andere  Stelle  des  gleichen  Körpers 
verpflanzt    wird    (autoplastische    Transplantation). 

Etwas  größere  Schwierigkeiten  bietet  die  Trans- 
plantation auf  ein  zwar  arilich  gleiches,  aber 
individuell  verschiedenes  Lebewesen  (homoioplasti- 
sehe  Transplantation).  Bis  zum  Nichtgelingen  ist 
die  Schwierigkeit  gesteigert  bei  der  Überpflanzung 
zwischen  zwei  minder  oder  mehr  verschieden  ge- 
arteten Organismen  (heteroplastische  Transplan- 
tation). In  diesem  Fall  stirbt  der  nicht  genügend 
eingeheilte  und  daher  schlecht  ernährte  Pfropf  ab, 
zersetzt  sich,  die  dabei  gebildeten  Toxine  gelangen 
in  den  Säftestrom  des  Individuums,  auf  welches 
transplantiert  wurde,  und  vergiften  es. 

In  der  Kriegschirurgie  ist  häufig  eine  Trans- 
plantation von  Hautstücken,  Nerven  oder  Knochen 
nötig. 

In  der  Sitzung  der  Pariser  Akademie  der 
Wissenschaften  vom  26.  Dezember  19 16  sprach 
O.  Laurent  über  die  vorübergehende  Vereinigung 
zweier  Individuen  zum  Zwecke  der  sicheren  Ernäh- 
rung des  Transplantats  (Realisation  du  siamoisisme 
chez  les  animaux.  Presentce  par  Ed.  Perrier.  C.  R. 
Ac.  sc.  Paris  No.  i ,  1917).  Er  habe  zweimal 
zwei  Verwundete  miteinander  verbunden,  um  das 
Transplantat  lebend  zu  erhalten.  Den  Wert  dieses 
neuen  Verfahrens  hätte  er  im  Tierversuch  erprobt, 
indem  er  zahlreiche  Versuche  mit  den  verschie- 
densten Wirbeltieren  anstellte,  mit  Säugetieren, 
Vögeln,  Reptilien,  Lurchen  und  Fischen.  Die 
Versuche  waren  in  der  Veterinärschule  von  Alfort 
im  Laboratorium  von  Professor  Roule  ausge- 
führt worden.  Beim  Betreten  des  neuen  Gebietes 
in  der  Biologie  sei  er  auf  bedeutende  Hindernisse 
gestoßen,     sowohl     auf    solche     allgemeiner    als 


spezieller  Natur.  Mit  Chamäleon,  Salamander, 
Frosch,  Goldfisch  und  Schleie  hätte  er  positive 
Resultate '  erzielt.  Bei  Vögeln  und  Säugetieren 
hätte  er  sehr  interessante  Entdeckungen  ge- 
macht. So  wären  zwei  Hühnchen  während  eines 
ganzen  Monats  miteinander  verbunden  geblieben. 
Ein  anatomisches  Präparat  zeigte  deutlich  die 
Verlötung  zweier  Hühnchen  miteinander  nach 
I  Monat;  ein  anderes  Präparat  bezöge  sich  auf 
dieselbe  Erscheinung  bei  zwei  Pferden,  welche  die 
Operation  34  Tage  überlebten.  Während  es  sich 
in  den  genannten  Versuchen  um  einen  „siamoisisme 
homologue"  (homoioplatische  Transplantation)  ge- 
handelt hätte,  wäre  es  ihm  gelungen  auch  ganz 
verschiedenartige  Tiere  miteinander  zu  verbinden 
(heteroplastische  Transplantation),  z.  B.  eine  Taube 
und  ein  Huhn,  sowie  einen  F"asan  und  eine  Ente. 
P'reilich  seien  diese  Versuche  sehr  zeitraubend  und 
es  käme  häufig  vor,  daß  sich  die  Tiere  ganz  un- 
erwartet voneinander  trennten.  Der  ,, Siamoisisme" 
eröffnete  seiner  Ansicht  nach  ganz  neue  Aus- 
bücke in  Medizin,  Biologie  und  Botanik. 

Laurent  denkt  vielleicht  zu  optimistisch  über 
die  von  der  Transplantation  zu  erhoffenden  Erfolge. 
Viel  weniger  verheißend  klingt  der  Bericht  von 
H  e  n  r  i  J  u  d  e  t  in  der  Sitzung  der  Pariser  Akademie 
der  Wissenschaften  vom  26.  Dezember  1916.  Bei 
drei  Verwundeten,  welchen  durch  einen  Schuß  die 
Vorderarmknochen  bis  7-  ihrer  Länge  zerschmettert 
worden  waren ,  wurden  Überpflanzungen  der 
Knochenhaut  der  Rippe  vom  Kalb  vorgenommen. 
Obwohl  das  aseptisch  übertragene  Transplantat 
ohne  jede  Komplikation  vertragen  wurde,  galt  es 
doch  wie  in  allen  anderen  Fällen  von  heteroplasti- 
scher Transplantation  nur  als  Fremdkörper  und 
gab  zur  Knochenneubildung  keinerlei  Anstoß.  Noch 
viel  merkwürdiger  war  das  Resultat  bei  einer 
autoplastischen  Transplantation.  Hier  wurde  näm- 
lich Knochenhaut  vom  Schienbein  desselben 
Patienten  genommen  und  zwar  solches  mit  und 
ohne  Knochenbildungskerne,  aber  auch  hier  kam 
es  nicht  zu  einer  davon  ausgehenden  Knochen- 
neubildung. 

In  allen  3  I-'ällen  wurde  nur  in  kosmetischer 
Beziehung  etwas  erreicht,  indem  die  eingesunkenen 
Narben  verschwanden.  In  funktioneller  Beziehung 
dagegen  war  der  Mißerfolg  vollständig;  das 
fibröse  Bindegewebe  um  das  eingekapselte  Trans- 
iMantat  trat  als  mechanische  Stütze   an  die  Stelle 


N.  F.  XVI.  Nr.   II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


147 


des  verschwundenen  Knochens,  aber  nicht  einmal 
Pro-  und  Supinationsbewegungen  konnten  dadurch 
von  einem  Stück  des  Radius  auf  das  andere  über- 
tragen werden.     (gTc.)  Kathariner. 

Eine  der  merkwürdigsten  Beobachtungen  auf 
medizinischem  Gebiet  hat  im  gegenwärtigen 
Weltkrieg  ihre  Bestätigung  und  eine,  wie  es 
scheint,  befriedigende  Erklärung  gefunden.  Es 
ist  das  im  Jahre  1867  von  dem  amerikanischen 
Forscher  entdeckte  und  nach  ihm  benannte 
Weir-Mitscheir sehe  Phänomen. 

Es  besteht  darin,  daß  jemand,  welcher  durch 
Amputation  Hand  oder  Fuß  verloren  hat,  noch 
längere  oder  kürzere  Zeit  nach  der  Operation, 
bisweilen  monatelang  glaubt,  er  mache  noch 
Gefühlswahrnehmungen  mit  den  längst  nicht  mehr 
vorhandenen  Körperteilen.  Er  glaubt  Hand  oder 
Fuß  noch  zu  fühlen  und  zwar,  als  wenn  er  damit 
die  gewohnte  Tätigkeit  ausübte,  also  etwa  die 
Hand,  als  hielt  er  darin  ein  Werkzeug,  den  Fuß, 
als  triebe  er  damit  eine  Schleifmaschine  oder  ein 
Rad.  Gewöhnlich  geht  dem  Eintritt  der  eigen- 
tümlichen Empfindung  ein  Kribbelgefühl,  das  sog. 
„Ameisenlaufen"  der  Medizin,  in  der  Umgebung 
der  Amputationsnarbe  voraus.  Nach  dem  fran- 
zösischen Forscher  Amar  ist  diese  Erscheinung 
nicht  die  Folge  einer  Veränderung  in  der  Sinnes- 
sphäre des  Gehirns,  wie  der  Entdecker  glaubte, 
sondern  erklärt  sich  folgendermaßen.  Die  von 
den  Hautsinnesorganen  der  Hand  oder  des  Fußes 
gemachten  Gefühlswahrnehmungen  gelangen  durch 
die  den  Aim  bzw.  das  Bein  durchziehenden  zentri- 
petalen Nerven  ins  Gehirn.  Hier  wird  jede  Er- 
regung eines  Sinneszentrums  ohne  weiteres  auf 
eine  entsprechende  Erregung  des  normalen  End- 
apparats bezogen,  auch  wenn  derselbe  wie  hier 
durch  Amputation  entfernt  wurde.  Die  Erregung 
der  zentripetalen  Nerven  kommt  nun  nach  A.  in 
folgender  Weise  zustande:  Der  in  umgekehrter 
Richtung  vom  Gehirn  nach  der  Hand  verlaufende 
zentrifugale  motorische  Reiz,  welcher  früher  die 
dort  vorhandenen  Muskeln  in  Tätigkeit  setzte, 
kann  am  Ende  des  Amputationsstumpfes  angelangt, 
nicht  wie  normalerweise  in  die  Nervenbahnen  der 
Bewegungsmuskeln  ausstrahlen,  und  wird  sich  des- 
halb an  der  Amputationsnarbe  stauen,  um  schließ- 
lich auf  den  umgekehrt  leitenden  Gefühlsnerven 
überzuspringen;  diese  Stauung  kommt  im  Gefühl 
des  „Ameisenlaufens"  zum  Ausdruck.  Mutatis  mu- 
tandis  gilt  das  Gleiche  für  den  Fuß."  Dafür,  daß 
mit  dieser  Deutung  das  Richtige  getroffen  wird, 
spricht  die  Erfahrung,  daß  sich  die  Erscheinung  mit 
der  Zeit  verliert,  und  zwar  um  so  eher,  wenn  durch 
zweckmäßige  Apparate  die  Betätigung  des  Am- 
putationsstumpfes und  somit  der  normale  Verbrauch 
des  zentrifugalen  motorischen  Nervenreizes  er- 
möglicht wird.     (G.C.)  Kathariner. 

Hygiene.  Mückenvertilgung  durch  Fische. 
Das  schon  im  .Mtertum  bekannte  und  gefürchtete 


Wechselfieber,  die  Malaria,  ist  in  ihrem  Auftreten  an 
das  Vorhandensein  freier  Gewässer  in  den  von  ihm 
heimgesuchten  Gegenden  gebunden,  was  schon  in 
dem  Namen  „Sumpffieber"  zum  Ausdruck  kommt. 
Jahrhundertelang  schrieb  man  die  Schuld  an  der 
Ungesundheit  eines  von  ihm  heimgesuchten  Land- 
striches aus  den  Sümpfen  aufsteigenden  Dünsten, 
„Miasmen",  zu.  Erst  Ende  der  90er  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts  fand  der  italienische  Forscher 
Grassi,  daß  das  Wechselfieber  lediglich  von 
im  Blut  lebenden  einzelligen  Tieren,  „Sporozoen" 
verursacht  wird  und  daß  der  Malariaerreger 
durch  eine  Stechmücke,  Anopheles,  vom  kranken 
auf  den  gesunden  Menschen  übertragen  wird. 
Die  Mücke  nimmt  mit  dem  Blutkörperchen 
auch  den  darin  enthaltenen  Malariaerreger  auf; 
derselbe  vermehrt  sich  in  ihr,  und  beim  Saugen 
ati  einem  gesunden  Individuum  überträgt  sie  Sporen 
des  Malariaparasiten  auf  dieses.  Grassi  zeigte 
durch  den  Versuch,  daß  man  in  den  gefürchteten 
Fiebergegenden  unbedenklich  weilen,  selbst  im 
Freien  übernachten  kann,  wenn  man  sich  nur  vor 
der  Anophelesmücke,  der  Trägerin  des  Malaria- 
kcinis,  schützt. 

Schon  den  .Alten  war  es  bekannt,  daß  durch 
Entwässerung  die  Gesundheitsverhältnisse  in  einem 
wegen  des  Fiebers  verrufenen  Land  gebessert 
werden  konnten.  Der  Grund,  warum  dies  infolge  der 
Trockenlegung  eintrat,  blieb  neuerdings  noch 
Jahrhundertelang  unbekannt.  Jetzt  wissen  wir, 
daß  die  Zahl  der  Überträger  der  Krankheit  und 
somit  auch  die  der  Krankheitsfälle  dort  geringer 
sein,  eventuell  verschwinden  muß,  weil  die  Ano- 
lihelesmücke  aus  einer  in  Gewässern  lebenden 
I.arvc  entsteht.  Alles,  was  die  Larve  vertilgt, 
kommt  also  auch  der  Gesundung  des  betreffenden 
Landes  zugute. 

In  der  Sitzung  der  Pariser  Akademie  der 
Wi-ssenschaften  vom  9.  Okt.  1916  berichtet 
Jean  Legendre  über  die  Erfahrungen,  welche 
man  mit  der  Einbürgerung  von  Süßwasserfischen 
bezüglich  der  Mückenvertilgung  in  den  fran- 
zösischen Kolonien  gemacht  hat.  (Destruction 
des  moustiques  par  les  poissons.  Presentee  par 
Ed.    Perrier.      C.    R.  Ac.  sc.    Paris  Nr.   15,    1916.) 

Für  die  Reisfelder  in  den  Kolonien  kämen 
namentlich  solche  Cypriniden  in  Betracht,  welche 
in  ruhigem  warmem  Wasser  gediehen.  Der 
Generalgouverneur  der  Insel  Madagaskar,  deren 
Reisfelder  eine  Fläche  von  über  300000  Quadrat- 
kilometern einnehmen  und  deren  Bevölkerung 
vom  Sumpffieber  dezimiert  wurde,  hätte  es  ihm 
ermöglicht,  in  der  Bannmeile  von  Tananarivo  dies- 
bezügliche Versuche  vorzunehmen.  Er  hätte  zu 
dem  Zweck  zwei  Arten  von  Cypriniden  eingeführt, 
den  Spiegelkarpfen  aus  Frankreich  und  Maillard- 
Karpfen  von  der  Insel  Reunion.  Er  hätte  außer- 
dem Versuche  mit  dem  Goldfisch  (Carassius 
auratus)  angestellt  und  gefunden,  daß  der  Goldfisch 
in  den  Reisfeldern  Mückenlarven  vertilgte  und 
ungemein  schnellwüchsig  würde.  Dafür  wolle  er 
nun    ein    Beispiel    angeben.      Ende   Januar    1916 


148 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


hätte  man  auf  ungefähr  i  ha  1300  Fische  im 
Gesamtgewicht  von  6  kg  ausgesetzt;  dieselben 
vermehrten  sich  in  5  IVIonaten  auf  18000  Stück 
im  Gesam.tge wicht  von  120  kg;  das  schwerste 
Stück  wog  1 59  g.  Daraus  ginge  hervor,  daß  der 
Goldfisch  in  den  Reisfeldern  außerordentlich  gut 
gedeihe.  Derselbe  nähme,  wie  die  Magen- 
untersuchungen zeigten,  an  der  Vertilgung  der  Ano- 
pheleslarven  intensiven  Anteil,  trage  also  wesent- 
lich zur  Sanierung  des  betreffenden  Landstriches 
bei.  Kathariner. 


Geologie.  Das  französisch -lothringische  Indu- 
striegebiet, besonders  das  Becken  Briey-Longwy, 
bildet  nach  Joh.  Wütschke  (Geographischer 
Anzeiger  S.  164,  1916)  zusammen  mit  dem  deutsch- 
lothringischen und  luxemburgischen  Erzgebiet  wie 
mit  dem  südlicher  gelegenen  Becken  von  Nancy 
das  lothringisch-luxemburgische  Minetterevier,  das 
am  Ostrande  des  Pariser  Beckens  gelegen  ist.  Die 
Mi  nette  ist  ein  30— 40"^,  phosphorhaltiges  ooli- 
thisches  Eisenerz,  welches  in  kalkigen  und  mehr 
kieseligen  Lagen  vorkommt  und  so  durch  Mischung 
eine  unmittelbare  Verhüttung  ohne  Zusätze  ermög- 
licht. Es  sind  ursprüngliche  Meeresablagerungen, 
die  dem  unteren  Dogger  angehören. 

Der  reiche  \\'echsel  harter  und  weicher  Schichten 
hat  ein  vielgestaltiges  Landschaftsbild  geschaffen. 
Auf  der  Fahrt  von  Metz  nach  Longuyon-Montmedy 
fallen  2  Geländestufen  auf,  die  sich  auch  in  der 
langsamen  Fahrt  des  Zuges  von  beiden  Seiten 
her  bemerkbar  machen;  einerseits  die  Moselhöhcn 
mit  der  Woevre-Ebene  (Lias-Dogger),  andererseits 
die  mehr  gegen  das  Beckeninnere  (nach  Frankreich 
hinein  1)  gelegenen  Maashöhen  (Cote  Lorraine,  aus 
Malm  bestehend). 

Der  nördliche  Teil  der  Woere-Ebene,  etwa  die 
Gegend  östlich  der  Bahn  Conflans-Longuyon  bis 
zu  den  Moselhöhen,  ist  der  wichtigste  Teil  des 
französisch  lothringischen  Industriegebiets  und  um- 
faßt das  Becken  von  Briey-Longwy.  In  die  ein- 
tönige Hochebene  sind  die  Täler  der  unteren 
Orne,  Crusnes,  Chiers  usw.  tief  eingeschnitten. 
Weiter  nordwärts  im  nordöstlichen  Zipfel  F'ranzö- 
sich-Lothringens,  Südbelgiens  und  Südluxemburgs 
wird  die  Landschaft  mit  ihren  tiefen  Tälern  und 
romantischen  Schluchten  reizvoller.  Überall  deuten 
Hochöfen,  Fördertürme  und  Schornsteine  darauf- 
hin, daß  wir  uns  inmitten  des  Erzgebietes  befinden. 
In  den  Tälern  der  Chiers,  F>nsch,  Orne  und  ihrer 
Nebenflüßchen  ist  teilweise  Tagebau  möglich,  weiter 
westwärts  um  Conflans  und  Landres  sind  Schächte 
bis  über  200  m  Tiefe  abgeteuft.  Die  Verhüttung 
ist  auf  einige  engbegrenzte  Gebiete  beschränkt; 
in  F"ranzösisch-Lothringen  um  Briey  und  Longwy 
mit  ca.  50  Hochöfen,  in  Deutsch-Lothringen  im 
Ornetal  (de  Wendel),  im  FenSchtal  (de  Wendel), 
Moseltal  (Röchling  bei  Diedenhofen,  Stumm  bei 
Uckingen)  und  um  Deutsch  Oth  (Gelsenkirchener 
B.A.G.)  mit  zusammen  60  Hochöfen,  in  Luxemburg 
bei  Esch,  Differdingen  und  Petingen  mit  30  Hoch- 


öfen und  in  Belgien  um  Halanzy  und  Athus  mit 
6  Hochöfen. 

Der  abbauwürdige  Vorrat  an  Minetteerzen  wird 
in  F'ranzösisch- Lothringen  auf  3  Milliarden  t  ge- 
schätzt gegen  nahezu  2  Milliarden  t  in  Deutsch- 
Lothringen  und  ^j^  Milliarde  t  in  Luxemburg. 
Der  etwa  5  Milliarden  t  betragende  Erzvorrat 
entspricht  einer  Roheisenmenge  von  etwa  iV.,  Mil- 
liarden t.  Es  sind  das  ungeheure  Werte,  von 
denen  der  Hauptanteil  auf  Frankreich  entfällt.  Die 
Erze  kommen  uns  heute  um  so  mehr  zu  gute. 

Die  Förderung  betrug: 

Franz.Lothr.     Deutsch-Lothr.     Luxemburg 
1872      1009000  t  678000  t  I  174000  t 

1892     2928000  „         3571000  „  3370000  „ 

1902     4129000  ,,         8753000  „  5130000  „ 

1913   18499000  „       21  134000  „  7331000  „ 

Aus  diesen  Zahlen  geht  hervor,  daß  Frankreichs 
Förderung  seit  1892  von  Deutschland  überflügelt 
worden  ist. 

DieGesamteisenförderung  von  Frankreich  betrug 

1912  18500000  t,  wovon  93*'/o  (17235000  t) 
auf  F"ranzösisch-Lothringen  entfallen.  Wir  sind  also 
augenblicklich  im  Besitze  fast  der  gesamten  Eisen- 
erzförderung Frankreichs.  Die  französisch-lothrin- 
gischen Erze  hatten  schon  im  Frieden  eine  große 
Bedeutung  für  unsere  deutsche  Roheisenproduktion. 
Die  Erzausfuhr  nach  Deutschland  ist  von  900  000  t 
im   Jahre    189S    auf    über    3  800  000  t    im    Jahre 

1913  gestiegen.  Etwa  20"/,,  der  in  P"ranzösisch- 
Lothringen  geförderten  Erze  wandern  nach  Deutsch- 
land, wo  eine  ständig  wachsende  Plisenindustrie 
ihrer  bedarf  Den  Wert  der  französisch  lothringi- 
schen Eisenerze  hat  Geh.  Rat  F'rech  auf  ca. 
8  Milliarden  Mark  geschätzt,  also  das  Doppelte  der 
Kriegsentschädigung  von   187 1. 

Wir  haben  somit  ein  gutes  Faustpfand  in  unseren 
Händen,  das  uns  im  Kriege  wertvolle  Dienste 
leistet  und  das  wir  unbedingt  uns  angliedern 
müssen.  Der  P'ranzose  allerdings  denkt  anders. 
Er  trachtet  nach  unseren  Kalisalzlagern  im  Ober- 
el>aß  und  nach  unserem  lothringischen  Erzgebiet. 
Da  er  mit  den  Erzen  allein  bei  der  in  PVankreich 
herrschenden  Kohlenarmut  nichts  anzufangen  ver- 
mag, so  möchte  er  auch  noch  nach'den  Kohlen 
des  Saargebietes  greifen.  Demgegenüber  ist  zu 
betonen,  daß  die  Angliederung  des  französisch- 
lothringischen Minettereviers  Briey-Longwy  für 
die  deutsche  P.isenindustrie  und  wegen  des  etwa 
1,2  —  1,6"/,,  betragenden  Phosphorreichtums  der 
Minette  (Thomasmehl)  auch  für  die  deutsche  Land- 
wirtschaft eine  Lebensfrage  ist.      V.  Hohenstein. 


Die  Bodenschätze  Elsaß  -  Lothringens  werden 
in  einem  Vortrag  des  Straßburger  Geologen 
Leopold  vonWerveke  (Schriften  der  Wissen- 
schaftlichen Gesellschaft  in  Straßburg)  zusammen- 
fassend behandelt. 

In  erster  Linie  sind  Kohlen  zu  nennen.  Doch 
sind  die  P^rwartungen,  die  man  an  die  Bohrungen 


N.  !■ .  XVI.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliclie  Woclienschrift. 


149 


in  Französisch- l.othringen  geknüpft  hat,  nicht  so 
erfreulich  gewesen.  In  der  Kreuzwalder  Ebene 
findet  sich  das  Kohlengebirge  bei  Rossein  unter 
einer  Bedeckung  von  75  m,  in  Spittel  unter  172  m. 
Unter  Muschelkalk  lagert  es  in  Falkenberg  bei 
590  m,  in  Baumbiedersdorf  bei  405  m  und  in 
Bolchen  bei  462  m  Tiefe.  InFranzösisch-Lolhringen 
liegt  bei  P^ply  die  Kohle  659  ni  und  bei  Greey  in 
955  m  Tiefe.  Bei  Fply  hat  man  zwischen  1273  m 
und  1505  m  Tiefe  8,  davon  7  abbauwürdige  Flöze 
gefunden.  Bei  Dombasle  fand  man  unter  4  Flözen 
3  abbauwürdig.  Ebenfalls  4  bauwürdige  Flöze  wies 
man  bei  Aboucourt  nach.  Hohe  Temperatur  und 
allzu  reichliches  Wasser  werden  einen  gewinn- 
bringenden Abbau  erschweren.  Weitere  Bohrungen 
waren  aussichtslos  und  in  Luxemburg  ist  mit 
einem  Vorkommen  der  Kohlenformation  nicht  zu 
rechnen.  Auf  deutsch -lothringischem  Gebiete 
liegen  die  Saarbrückener  Schichten  nur  in  einem 
Sattel,  nicht  aber  an  den  Flügeln,  in  denen  nur 
die  flözarmen  Oitweiler  Schichten  angetroffen 
wurden.  Mit  der  Tatsache,  durch  neuere  Bohrungen 
günstigere  Aussichten  zu  bekommen,  darf  nicht  ge- 
rechnet werden. 

Von  Bedeutung  ist  das  Kohlenbecken  von 
Ronchamp  am  Südfuß  der  Vogesen.  Es  reicht 
zwar  nicht  bis  ins  Gebiet  des  Reichslandes,  aber 
der  Vorrat  von  Fett-  und  Kokskohle  wird  als  sicher 
3  Millionen  Tonnen,  wahrscheinlich  noch  weitern 
3  Mill.  Tonnen,  möglicherweise  10  Mill.  Tonnen 
angegeben. 

Aus  dem  Rotliegenden  und  dem  Buntsandstein 
sind  keine  Erzlager  bekannt  geworden,  wohl  aber  im 
Vogesensandstein  und  Oberen  Buntsandstein  Durch- 
setzungen von  Blei-  und  Kupfererzen,  die  in  der 
Gegend  von  Hargarten,  Lubeln  und  St.  Avold 
früher  abgebaut  wurden. 

Salz  lagert  in  Lothringen  im  mittleren  Muschel- 
kalk und  im  unteren  Keuper.  Das  Gebiet  zwischen 
Saralben,  Mulsach,  Luneville,  Nancy  und  Salzburg 
ist  salzführend.  In  einer  Bohrung  bei  Duss  (Dieux) 
wurden  im  Salzkeuper  in  19  Lagern  70  m  Salz, 
im  mittleren  Muschelkalk  in  6  Lagern  15,65  m 
Salz  angetroffen.  Bergbau  auf  Salz  betreibt  man 
nicht  mehr.  Alles  Salz  gewinnt  man  aus  Solen, 
während  in  Französisch  Lothringen  das  Salz  so- 
wohl durch  Bergbau  als  auch  durch  Solen  ge- 
wonnen wird.  1905  wurden  in  Deutsch-Lothringen 
I  475070  m  Salz  gewonnen.  Auf  der  Salzgewinnung 
baut  sich  die  Sodabereitung  auf.  Die  Nester  von 
Polyhalit  in  der  Keupersalzlagerstätte  sind  für  einen 
Abbau  zu  wenig  mächtig,  wie  nach  L.  v.  Wer- 
veke  in  Deutsch-  sowie  Französisch-Lothringen 
keine  Kalilager  zu  erwarten  sind. 

In  der  mittleren  Abteilung  des  Muschelkalkes 
und  in  dem  Roten  Mergel  des  Keupers  findet  sich 
Gips,  der  aus  Anhydrit  entstanden  ist. 

Die  Keuperkohlen  bei  Balbronn  im  Elsaß,  bei 
Pieblingen  und  Hilsprich  in  Lothringen  sind  wegen 
des  Reichtums  an  Eisenkies  (bis  58  "/o)  "'cht  ab- 
bauwürdig. 


Toneisensteinknollen  aus  dem  Keuper  im  Wald 
von  Walwingen  wurden  früher  für  die  Hochöfen 
von  Kreuzwald  ausgebeutet. 

L.  v.  Werveke  weist  auf  den  Posidonien- 
schiefer  des  Oberen  Lias  hin  als  Lieferant  von 
Öl,  der  in  Lothringen  wegen  seiner  ungestörten 
Lagerung  mehr  als  im  Elsaß  dazu  geeignet  ist. 

Die  wichtigen  Eisenerze  aus  dem  Unteren 
Dogger,  die  sogenannten  Minetten,  deren  Ver- 
breitung in  Lothringen  zur  Grenzfestlegung  nach 
dem  Kriege  1870/71  von  Einfluß  war,  sind  auf 
größerem  Räume  verteilt,  wie  man  damals  ange- 
nommen hatte.  Aber  auch  heute  halten  wir  be- 
setzt, was  die  Franzosen  nach  1871  auf  ihrem 
Gebiete  neu  entdeckt  haben.  Die  Minetten  ver- 
teilen sich  auf  zwei  Becken;  das  eine  liegt  bei 
Nancy  auf  französischem  Gebiete,  das  andere  bei 
Briey  verteilt  sich  auf  französisches  und  deutsch- 
lothringisches Gebiet.  Sie  reichen  auch  nach 
Luxemburg  und  Belgien  hinein.  70 — 80 000  abbau- 
würdige Lager  verteilen  sich  so,  daß  40—50000  ha 
auf  Französisch-Lothringen,  27  —  2800  ha  auf 
Deutsch-Lothringen  und  2500  ha  auf  Luxemburg 
kommen.  Belgien  bekommt  davon  nur  einige 
hundert  Hektar.  Nach  der  Meinung  von  Fach- 
leuten stimmen  die  Angaben  nicht  ganz  und  es 
wäre  zu  wünschen,  wenn  neue  Beobachtungen 
über  die  Verbreitung  der  Minetten  gesammelt 
würden.  Einen  weiteren  bedeutenden  Wert 
besitzen  die  Minetten  wegen  ihres  Phosphor- 
gehaltes, den  man  der  deutschen  Landwirtschaft 
zuführt.  Seit  1874  entphosphorisiert  man  die 
Minetten,  gewinnt  Stahl  daraus,  während  die 
Schlacke  den  Phosphor  bindet.  Die  Thomas- 
schlacken haben  unsrer  Landwirtschaft  in  dem 
Kriege  großen  Nutzen  gewährt,  da  alle  Einfuhr 
von  Rohphosphaten  aufhörte. 

Wichtig  sind  die  tertiären  Bohnerze,  die  früher 
trotz  ihrer  geringen  Mächtigkeit  von  i- — 2  m, 
selten  5  m  im  Kreise  von  Altkirch  und  Hagenau, 
in  Lothringen  westlich  der  Mosel  abgebaut  wurden. 
Im  Eocän  lagern  Braunkohlenlager,  die  ebenfalls 
früher  im  Unterelsaß  bei  Buxweiler  und  Lobsann 
von  1816 — 1881  abgebaut  wurden.  0,50 — 2,00  m, 
selten  2,20  m  ist  sie  bei  Buchsweiler  mächtig, 
enthält  aber  in  den  oberen  0,50  m  12  —  13%  Eisen- 
kies, aus  dem  man  Alaun  gewann. 

Im  Oberelsaß  erbohrte  man  bei  Niederbruck 
in  445  m  Tiefe  Steinsalz  mit  Kalisalz.  Zwei 
Lager  Kalisalze  hat  man  bis  jetzt  entdeckt.  Die 
Kalisalze  sind  Sylvinit,  Sylvin  und  Chlornatrium. 
Das  untere  Lager  ist  4,15  m,  das  obere  1,16  m 
mächtig.  Bei  einer  Flächenausdehnung  von  172  qkm 
für  das  untere  Lager  hat  man  6o3  250000cbm  be- 
rechnet, für  das  untere  84  qkm  große  1 7  750000  cbm. 
Dem  Werte  nach  sind  für  gegen  50  Milliarden  Mark 
Kalisalze  dem  Boden  eingelagert.  Nach  der  Bur- 
gundischen Pforte  hin  sind  Kalifunde  aussichtslos. 

Im  Unteroligocän  des  Unterelsaß  findet  sich 
Petroleum  und  gegen  das  Mitteloligocän  hin  zeigen 
sich  Asphaltablagerungen.  „Keine  der  zahlreichen 
Bohrungen  im  Oberelsaf.^  hat  Ol  in  nennenswerter 


ISO 


Natuiwissenschaftliclic  Wochenschrift. 


N.  R  XVI.  Nr.    I 


Länge  aufgeschlossen.  Das  Salzgebiet  schließt, 
wie  es  scheint,  das  Erdölvorkommen  aus."  Nur 
das  Pechelbronner  (Tcbiet  läßt  Petroleumschätze 
erwarten.  Asphalt  ist  nur  auf  eng  umgrenztem 
Gebiet  nachgewiesen.  Zu  bituminösen  Schiefern 
gehören  die  Fischschiefer  des  mittleren  Oligocäns, 
aus  denen  Bitumen  zu  gewinnen  ist. 

Die  diluvialen  Eisenerze,  die  ehemals  ge- 
wonnen wurden,  bieten  keine  Aussicht  wieder, 
abgebaut  zu  werden.  Gold  enthält  der  Rheinkies, 
dessen  Gewinnung  daraus  durch  die  Reinkorrektion 
und  die  Steigerung  des  Tagesverdienstes  zum  Er- 
liegen gekommen  ist.  Daubree  berechnete  den 
Goldwert  aus  den  Rheinkiesen  zwischen  Rheinau 
und  Philippsburg  auf  1 14  ',,,  Mill.  Gold. 

Torf  findet  sich  an  verschiedenen  Stellen  des 
Reichslandes  in  der  Umgebung  von  Siürzelbronn, 
Neudörfel,  Dambach,  Haspelheid,  im  Gebirge  auf 
der  Nordseite  und  Westseite  des  Weißen  Sees, 
auf  dem  Hochfelde,  am  Schneeberg,  am  Donon 
und  bei  Salm.    (g.  c.)       Rudolf  Hundt,  z.  Z.  i.  F. 

Über  den  Krusteneisenstein  in  den  deutsch- 
afrikanischen Schutzgebieten.  —  In  den  afrikanischen 
Tropen  treten  im  Boden  weitverbreitet  harte  Eisen- 
krusien  auf,  die  man  in  der  älteren  Literatur  viel- 
fach Raseneisenstein,  in  der  neueren  als  Laterit 
bezeichnet  hat.  Da  für  die  Begriffsbestimmung 
des  Laterits  mehr  und  mehr  die  chemische  Be- 
griffsbestimmung M.  Bau  er 's,  in  welcher  be- 
sonders auf  den  Gehalt  freier  Tonerde  verwiesen 
wird,  eingebürgert  ist,  so  schlägt  W.  Koert') 
den  Namen  Krusteneisenstein  vor.  W.  Koert 
hat  solchen  eingehend  in  Togo  und  im  Hinter- 
lande von  Tanga  (Deutsch  Ostafrika)  studiert. 
Der  Form  nach  sind  unter  den  Kisenkrusien  zu 
unterscheiden:  Rinden,  welche  zumeist  aus  zahl- 
reichen dünnen  Lagen  von  dichtem  Brauneisen  ge- 
bildet sind;  Konkretionen  wie  Knauern  und  Bohn- 
erz;  Bindemittel  im  Sand,  Kies  und  Gesteinsschutt, 
welche  zu  Eisensandsteinen,  Konglomeraten  und 
Breccien  verkittet  sind;  Imprägnationen  z.  B.  in  fein- 
sandigen Schiefertonen.  Alle  diese  sind  von  Koert 
chemisch  und  mineralogisch  sorgsam  untersucht 
worden.  In  Togo  fehlt  der  Krusteneisenstein  gänzlich 
auf  der  sandigen,  alluvialen  Nehrung  der  Togoküste, 
auf  den  tonigen  Bildungen  der  hinter  der  Nehrung 
gelegenen,  zeitweise  austrocknenden  Lagune  und 
in  den  tonigen  und  sandigen  Flußalluvionen,  in 
welchen  gelegentlich  hÄhstens  eisenschüssige 
Tone  angetroffen  werden.  Auf  dem  fluviatilen 
Diluvialgüriel  des  südlichen  Togo  tritt  Krusten- 
eisen noch  wenig  hervor,  nur  im  Steilufer  der 
Lagune  war  ein  Maschenwerk  von  Eisensandstein 
im  grünlichgrauen  sandigen  Lehm  als  beginnende 
Bildung  einer  Eisenkruste  anzusehen.  Eine  ober- 
flächliche   Eisenkruste    ist    aber    im    Süden     des 

')  Beiträge  zur  geologischen  Erforschung  der  deutschen 
Schutzgebiete.  Heft  13:  W.  Roert,  Der  Ivrusteneisenstein 
in  den  deutsch-afrikanischen  Schutzgebieten,  besonders  in 
Togo  und   im   Hinterland   von   Tanga.      Berlin   1916. 


Diluvialgürtels  noch  nirgends  vorhanden,  dies  ist 
erst  am  Nordrande  des  Gürtels  der  Fall,  wo  im 
t^bergang  zu  der  noch  auf  primärer  Lagerstätte 
befindlichen  Verwitterungsboden  des  altknstallinen 
Gebietes  größere  Blöcke  auf  einer  mit  Busch  und 
Ölpalmen  bedeckten  Platte  auftreten.  Häufiger 
trifft  man  Krusteneisenbildungen  auf  den  Rumpf- 
ebenen des  südlictien  und  östlichen  Togo,  welche 
in  das  aus  Gneisen  und  alten  Tiefengesieinen  ge- 
bildete Grundgebirge  eingeschnitten  sind.  Von 
hier  werden  überaus  wertvolle  Profile  von  Brunnen  - 
bohrungen und  Bahnbauten  mitgeteilt,  welche 
zeigen,  daß  Krusteneisen  häufig  unter  humosen, 
meist  sandigen  Oberkrumen  auftritt.  Auf  dem 
Togogebirge  sind  W.  Koert 's  Krusteneisen 
hauptsächlich  in  dem  plateauartig  entwickelten 
Teil,  weniger  im  Bereich  der  Ketten  und  der 
Vorberge.  Auf  den  Gipfeln  und  Kämmen  wurde 
es  nicht  beobachtet,  sondern  höchstens  an  den 
Flanken.  Im  Westen  wird  das  Togogebirge  von 
Vorgebirgen  und  Vorhügeln  begleitet,  welche 
sich  aus  den  stark  gestörten  Sedimenten  der  wohl 
paläozoischen  Buemformation  zusammensetzen.  In 
dieser  Schollengebirgsiandschatt  findet  sich  Krusten- 
eisen hauptsächlich  in  den  Längstälern  und  auf 
den  Stufen  zwischen  den  Gebirgsteilen,  weniger 
auf  den  Rücken  und  Hügeln.  Der  Nordwesten 
Togos  wird  von  einem  weiten  Becken  durchzogen, 
dessen  Schichten,  Schiefertone  mit  Kalklagen  und 
Sandsteine,  wahrscheinlich  mesozoischen  Alters 
sind.  Die  Schichten  liegen  flach,  außerdem 
herrscht  nur  geringes  Gefälle,  so  daß  während  der 
Regenzeit  weite  P'lächen  unter  Wasser  stehen  und 
versumpfen.  Hier  ist  vielfach  Krusteneisen  flächen- 
artig verbreitet  und  hat  nicht  selten  auch  beträcht- 
liche IVlächtigkeit.  So  sah  W.  Koert  an  einer 
Stelle  ein  kleines  Gewässer  über  eine  i  in  hohe 
Stufe  von  Krusteneisen  herabfallen.  Die  Stufe 
war  unterspült  und  zahlreiche  große  Blöcke  von 
ihr  abgebrochen. 

Bei  Tanga  und  dessen  Hinterland  in  Deutsch- 
Ostafrika  weisen  schon  die  Diluvialschichten 
deutlich  Anfänge  der  Krusteneisenbildung  auf. 
In  einem  Siraßeneinschnitt  sah  W.  Koert  1902/3 
einen  grünlichgrauen  Lehm  mit  haselnußgroßen 
Brauneisenknauern  erfüllt.  11  Jahre  später  war 
die  Wand  des  Einschnittes  stark  verfestigt  und 
von  löcherigen  Eisenkrusten  durchzogen.  Weiter 
andeinwarts  war  Krusteneisen  auf  den  Karoo- 
schichten  weit  verbreitet,  wo  ebenfalls  während 
der  Regenzeil  starke  Überschwemmungen  herrschen 
und  Parklandsciiaft  auftritt.  Dagegen  lehlt  Krusten- 
eisen in  der  Rumpfebene  von  Bamba,  deren  Boden 
eluvialer  Rotlehm  bildet,  welcher  von  Hoch-  und 
Buschwald  bestanden  ist.  .An  der  Südostseite  von 
Ostusambara,  wo  noch  1902  Baumsavanne  vor- 
herrschte, fand  sich  Krusteneisen  häuhg,  während 
es  im  Gebirgslande  von  Ostusambara  fehlte.  Hier 
waren  im  Lateritlehm  gelegentlich  eisenreiche 
dichte  Konkretionen  ohne  den  Lagen-  oder 
Schalenbau  der  Krusteneisensteine  zu  finden.  Aus 
anderen   Teilen    Deutsch-Ostafrikas    werden    diese 


N.  I<'.  XVI.  Ni 


Naturwlsseiiscliaftliclic  VVocheiisclirift. 


nach  Literaturstellen  nachgewiesen,  ferner  z.  T. 
nach  Sammlungsproben  aus  Kamerun  und  Südwest. 
Den  Eingeborenen  hat  früher  Krusteneisenslein 
vielfach  als  tisenerz  zur  Verhüttung  gedient,  doch 
erreicht  der  Eisengehalt  selten  30  "/„.  Als  Eisen- 
erz im  europäischen  Sinne  kommt  es  nicht  in  Frage. 
Dagegen  ist  es  ein  wertvolles  Schottermatenal, 
auch  vermögen  die  Eingeborenen  einen  brauch- 
baren Estrich  daraus  herzustellen.  Agronomisch 
ist  Krusteneisen  als  sehr  schlechter  Boden  an- 
zusehen, doch  gedeiht  \'amskultnr  auf  dem  mit 
Knauern  und  Bohnerz  durchsetzten  Boden,  während 
Baumwolle    auf  einem    solchen    schlecht    gedeiht. 


Da  VV.  Kocrt  Krusteneisenstein  hauptsächlich 
bei  Savannenvegetation  fand,  so  muß  nach  seiner 
Ansicht  dieser  die  bezeichnende  Oberflächenbildung 
der  Savanne  bilden.  Zu  einem  beträchtlichen 
Teile  seien  beide  das  Werk  des  mit  dem  Feuer 
rodenden  und  jagenden  Menschen.  Doch  war  an 
der  Ostseite  des  Viktoriasees  Krusteneisen  bereits 
in  voruniermiocäner  Zeit  gebildet.  Den  Haupt- 
anleil  an  der  lagenweisen  .Ausbildung  der  Rinden 
habe  die  periodische  V^ersumpfung  während  der 
Regenzeit,  w-elche  Eisen-  und  Manganverbindungen 
zur  Lösung  und  zum  Absatz  als  kolloide  Oxyd- 
hydrate bringt.  Stramme. 


Bücherbesprechuugen. 


H.  Boruttau,  Fortpflanzung  und  Ge- 
schlechtsunterschiede des  Menschen. 
„Aus  Natur  und  Geisteswelt",  Bd.  540.  Leipzig 
1916,  B.  G.  Teubner. 

Dieses  neue  Bändchen  der  Te  ubne  r 'sehen 
Sammlung  gibt  eine  Zusammenfassung  vieler 
schon  geraume  Zeit  bekannter  Tatsachen  aus  der 
.Sexualbiologie,  es  gewährt  aber  auch  einen  Ein- 
blick in  die  neuesten  Forschungen  auf  diesem 
Gebiet.  Wir  lesen  zunächst  von  den  anatomischen 
Erscheinungen  bei  der  Fortpflanzung  der  Ein- 
zelligen und  denen  der  geschlechtlichen  Fort- 
pflanzung, sodann  über  die  physiologischen  Grund- 
lagen der  Befruchtung.  Es  folgt  eine  Besprechung 
der  Geschlechtsunterschiede  und  der  allmählichen 
Entwicklung  der  Geschlechtsfunktion  bis  zu  ihrem 
Erlöschen.  Dabei  wird  auch  der  Geschlechts- 
bestimmung gedacht.  Zwei  volle  Kapitel  sind 
den  modernen  I-'orschungen  über  die  Funktion 
der  Geschlechtsdrüsen,  insbesondere  auch  ihrer 
inneren  Sekretion  und  Korrelation  mit  anderen 
Drüsen  und  ihrem  Einfluß  auf  die  Geschlechts- 
merkmale, eins  den  Beziehungen  des  Geschlechts- 
lebens zum  Nervensystem  (Geschlechtsirieb !)  ge- 
widmet. —  Von  den  Erscheinungen  der  Brut- 
pflege bei  den  höheren  Tieren  leitet  Verf.  sodann 
auf  die  Rolle  des  weiblichen  Geschlechts  im 
Leben  der  höheren  Tiere  und  des  Menschen  über 
und  kommt  so  auch  zu  einer  biologischen  Be- 
trachtung der  Frauenfrage.  Ein  Schlußkapitel  ist 
den  für  die  Erhaltung  der  Art  wichtigen  Faktoren 
gewidmet.  Hiermit  ist  in  ganz  kurzen  Umrissen 
der  Inhalt  des  Buches  angedeutet.  Im  einzelnen 
hat  es  einen  erstaunlich  reichen  Inhalt  und  ist 
dabei  so  klar  geschrieben,  daß  es  auch  einem 
Neuling  verständlich  und  lehrreich  sein  wird. 
Hübschmann. 

K.  Baisch,  Gesundheitslehre  für  Frauen. 

„Aus  Natur  und  Geisteswelt",  Bd.  5 38.    Leipzig 

1916,  B.  G.  Teubner. 

„Die  Unkenntnis  unserer  Frauen  und  Mädchen 
über  ihren  eigenen  Körper,  seine  einzelnen  Organe 
und  Aufgaben  ist  unglaublich  groß.  Es  muß  im 
Interesse    der    kommenden  Generationen    als  eine 


dringende  Aufgabe  angesehen  werden,  den  künftigen 
Müttern  klarere  Vorstellungen  über  alle  diese  sie 
am  nächsten  berührenden  Dinge  zu  vermitteln. 
Alle  Gründe ,  die  rückständige  Prüderie  gegen 
diese  Aufklärungsarbeit  anführt,  sind  leicht  zu 
widerlegen.  Der  überreiche  Zuspruch,  den  Vor- 
träge und  Lehrkurse  über  diese  Gegenstände  beim 
weiblichen  Publikum  aller  Kreise  finden ,  ist  ein 
untrügliches  Zeichen,  daß  ein  lebhaftes  Bedürfnis 
nach  einer  solchen  Fortbildung  besieht,  und  wir 
haben  nicht  nur  das  Recht,  sondern  vielmehr  die 
zwingende  Verpflichtung,  dieses  Bildungsbedürfnis 
zu  fördern  und  zu  befriedigen.  Sache  der  Lehrenden 
ist  es,  den  richtigen  Mittelweg  zwischen  ober- 
flächlichem Dilettantismus  und  spezialärztlicher 
Detaildarstellung  zu  finden." 

Das  sind  Worte  des  Verf.  selbst,  denen  ich 
mich  anschließen  möchte,  indem  ich  zugleich  be- 
tone, daß  ihm  die  Darstellung  in  seinem  Sinne 
wohl  gelungen  ist.  Wir  lesen  in  9  Kapiteln  von 
dem  Bau  und  den  Funktionen  der  weiblichen 
Geschlechtsorgane,  von  der  Menstruation,  von  der 
Hygiene  der  Kindheit  und  der  Pubertätsjahre,  von 
den  Gefahren  des  Geschlechtsverkehrs,  von  der 
Hygiene  der  Schwangerschaft,  der  Geburt,  des 
Wochenbetts,  der  Wechseljahre  und  endlich  von 
der  Verhütung  der  Frauenkrankheiten.  Das  Büch- 
lein kann  allen  Kreisen  warm  empfohlen  werden. 
Hübschmann. 

Leopold  Löhner,  Pri  v.-Doz.  Dr.,  DieExkretions- 
vorgänge    im    Lichte    vergleichend- 
physiologischer   Forschung.     (Sammig. 
anatom.  u.  physiol.  Vorträge  u.  Aufsätze,  Heft  28). 
Jena   1916.   —  Preis  o,.So  M. 
Durch  jeden  Organismus  ergießt  sich  dauernd 
ein  Strom    von  Stoffen.      Der  Austritt    der   Stoff- 
wechselendprodukte aus  dem  Stoffwechsel  des  Orga- 
nismus ist  (im  weitesten  Sinne)  als  Exkretion  zu 
bezeichnen.     So    unendlich  mannigfaltig   die  Auf- 
nahme von  Stoffen  in  den  Organismus  ist,  ebenso 
mannigfaltig    die    verschiedensten    Methoden    der 
Abgabe.      Die     vorliegende     Arbeit     will     einen 
knappen    Überblick    über    diese    Mannigfaltigkeit 
geben ,    indem    sie    versucht ,    die    verschiedenen 


IS2 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   11 


Methoden  der  Kxkreliun  nach  Ähnlichkeiten  zu 
gruppieren  und  die  Gruppen  nach  Differenzierungs- 
stufen zu  ordnen. 

Zunächst  wird  eine  U  e  f  i  n  i  t  i  o  n  der  Exkretion 
gegeben  als  „Ausscheidung  der  nichtgasförmigen 
Abfallstoffe  unter  Ausschluß  der  unresorbierten 
Nahrungsreste"  (nach  Burian),  wobei  leider  das 
Wort  „Abfallstoff"  bereits  sehr  schwer  zu  be- 
handeln ist,  weil  sich  ein  Gegensatz  zur  Sekretion 
so  schwer  begriinden  läßt:  wie  wollen  wir  den 
„Nutzen"  erkennen?  Besser  wäre  es,  als  Defini- 
tion das  Prinzip  zu  wählen:  „die  Beseitigung,  d.  h. 
also  Unschädlichmachung  der  Stoffwechselend- 
produkte". 

Dann  wird  ein  System  versucht,  das  in  seinen 
Hauptteilen  erstens  die  räumliche  Trennung  der 
Abfallstoffe  von  der  Zelle  (Zellularexkretion), 
zweitens  die  räumliche  Trennung  von  dem  Orga- 
nismus (Individualexkretion)  enthält.  Die  Zell- 
arbeit erfolgt    im   ersten  Fall    im    ganzen  Umfang 


der  Zelle  oder  an  besonderen  Fxkreiiünspunklen 
oder  durch  besondere  Organellcn.  Die  Individual- 
exkretion dagegen  geschieht  auf  sehr  mannig- 
fache Weise:  direkt  durch  Ausscheidung  in  Leibes- 
höhlen oder  an  Oberflächen,  indirekt  durch  Trans- 
port vermittels  Wanderzelleii  oder  durch  Auf- 
sammlung in  bestimmten  Emunktorien  (Burian). 
Die  einzelnen  Typen  sind  gekennzeichnet  durch 
Benennung  der  betreffenden  Tierarten,  bei  denen 
sie,  wieder  mannigfach  variiert,  vorkommen,  was 
den  Vorteil  hat,  daß  dem  Zoologen  viele  Tier- 
gattungen vorgeführt  werden,  aber  den  Nachteil, 
daß  nur  er  ein  wirkliches  Bild  der  Differen- 
zierungssteigerung bekommt,  da  der  Vortrag  sich 
jeder  Einzeldarstellung  und  jedesßildes  enthält.  Dem 
Fachmann  aber  bietet  sich  eine  recht  interessante 
Gedankenarbeit  zur  vergleichenden  Physiologie, 
die  sich  müht,  eine  ebenbürtige  Schwester  der 
älteren  vergleichenden  Anatomie  zu  werden. 
Gottwalt  Chr.  Hirsch. 


Anregungen  und  Antworten. 


Vor  wenig  Wochen  brachte  die  Frankfurter  „Umschau" 
eine  Mitteilung  von  W.  Lamprecht  über  ein  von  ihm  zu- 
fällig in  dem  fernen,  hoffentlich  in  nicht  zu  langer  Zeit  wieder 
reichsdeutschen  Milau  in  dessen  kurliindischem  Museum  auf- 
gefundenes „eigentümliches  llerbar",  über  eine  in  die  Form 
von  Büchern  gebrachte  Sammlung  von  45,  zum  Teil  nicht 
kurländischen  Hölzern.  Er  konnte  feststellen,  daß  sie  von 
einem  Generalleutnant  is'icol.  Friedr.  Gg.  von  Korff, 
zweifellos  von  einer  seiner  vielen  Reisen  nach  Deutschland 
mitgebracht,  und  nach  seinem  Tode  im  Jahre  1823  etwa  dem 
Museum  gespendet  worden  ist.  Bald  darauf  teilte  Prof. 
Seb.  Hillermann  aus  Regensburg  mit,  dafl  auch  dort  ein 
ähnliches  Herbar  sich  befände,  und  daß  von  einem  Kardinal 
Haynal,  einem  berühmten  Botaniker,  ein  anderes  dem 
Museum  in  Budapest  vererbt  worden  sei,  das  er  dort  zu 
sehen  Gelegenheit  gehabt  hätte.  Die  beiden  Sammlungen 
gehen  auf  eine  zurück,  über  die  ich  im  Jahre  1905  schon  in 
einer  offenbar  nur  sehr  wenig  bekannt  gewordenen  Schrift 
„Pflanzensammlungen  und  Kräuterbücher  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  dem  Casseler  Museum  gehörigen",  hin- 
gewiesen habe.  Außer  dem  damals  ältest  bekannten  Ratzen- 
ber  ge  r  'sehen  liegt  hier  noch  eine  sog.  „Holzbibliothek", 
340  ,, Bücher",  mit  Säge  und  Hobel  in  Buchform  gebrachte 
Siücke  zumeist  von  Hölzern  aus  den  weltbekannten  herr- 
lichen den  bei  der  Stadt  gelegenen  damals  landgräflichen 
Parkanlagen.  Ihr  Kücken  zeigt  die  charakteristische  Rinde 
mit  ihren  Epiphylen;  in  dem  .ausgehöhlten  Innern  sind 
Blätter,  Blüten,  die  auf  dem  Baume  lebende  Tierwelt,  phyto- 
chemische  und  technische  Angaben  usw.,  schön  übersichtlich 
angebracht,  ähnlich,  aber  natürlich  wesentlich  anscliaulichcr 
als  es  in  den  vielen  Abbildungswerken  geschehen  kann. 
Karl  Schildbach,  seit  1771  der  Verwalter  der  von  Land- 
graf Carl  angelegten,  jetzt  nur  dem  Namen  nach  noch  be- 
kannten „Menagerie"  (kein  geringerer  als  Sömraerring  hat 
seine  Studien  an  Präparaten  angestellt,  die  aus  ihren  Resten 
angefertigt    wurden,    und    Goethes    Augen    haben    hier    mit 


Interesse  auf  ihnen  geruht!),  hat,  als  der  sparsame  Nach- 
komme Wilhelm  IX.  sie  eingehen  ließ,  als  Direktor  der 
•Jkonomie  Weißenstein  sich  die  Mühe  gemacht,  nach  von  ihm 
erdachten  Plan  die  Sammlung  anzufertigen.  „Die  Arbeit 
stellt  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  sich  als  eine  äußerst 
geistreiche  und  zweckentsprechende  dar  und  verdient  auch 
von  rein  technischem  Standpunkt  die  größte  Hochachtung. 
Durch  Beigabe  von  Präparaten,  wie  sie  die  moderne  Zeit  er- 
möglicht, durch  Beigabe  weiterer  Ergebnisse  phytochemischer 
Arbeiten  usw.  ergänzt,  gäbe  sie  oder  ihres  gleichen  ein  un- 
übertreffliches Lehrmittel  ab",  sagte  ich  damals,  und  ich  bin 
der  gleichen  Meinung  auch  jetzt  noch.  Camper,  Buffon, 
Günderode,  der  Gießener  Professor  Müller  zollten  ihr 
uneingeschränktes  Lob  und  stellten  sie  weit  über  die  Gleiches 
bezweckenden  von  Albert  Seba,  Ilitzcl  in  Coblenz  und 
eine    Holzsammlung    in    Dresden.       1788    schon    erschien    im 


nd    für    Deutschland"    eine    Beschreibu 


ng   aer 


Seh  ildbach 'scheu  Holzbibliothek,  1816  starb  der 
schlägische  Mann,  nachdem  es  ihm  gelungen  war,  sein  Werk 
für  ein  lebenslängliches  Ruhegehalt  von  450  Tl.  jährlich,  dem 
Landgrafen  zu  verkaufen.  Wenngleich  die  Casseler  Samm- 
lungen bis  in  die  preußische  Zeit  kaum,  und  dann  nur  gegen 
ein  hohes  Eintrittsgeld,  das  in  die  landgräfliche,  dann  kur- 
fürstliche Tasche  geflossen  sein  soll,  dem  Volk  zugängig 
waren,  drängten  sich  doch  viele  Fremde,  darunter  Ritler  vom 
Geiste  dazu ,  die  Wunder  der  Stadt  zu  sehen.  Daß  unsere 
Sammlung  auch  in  Rußland  bekannt  war,  erhellt  daraus,  daß 
Kaiserin  Catharina  dem  Verfertiger  2000  Taler  für  sie  ge- 
boten hat.  Jene  Sammlung  in  Dresden,  die  Prof.  Ernst 
Dominik  Wittmann  angelegt  hat  und  von  der  1812  viel 
„Spektakel"  gemacht  wurde,  stützte  sich  gewiß  auch  auf  die 
Seh  il  d  bach 'sehe,  das  Mitauer  und  das  Regensburger  und 
Budapester  tun  es  aller  Wahrscheinlichkeit  auch.  Die  Holz- 
bände machen  auf  jeden  Beschauer  in  der  Tat  den  allerbesten 
Eindruck  und  erwecken  den  Wunsch  des  Besitzes.  Für  Lehr- 
zwecke kann  ich  mir,  wie  schon  gesagt,  kaum  etwas  zweck- 
mäßigeres denken.  Hermann  Schelenz. 


Inhaiti  S.  Killermann,  Der  Alraun  (Mandragora).  (4  Abb.)  S.  137.  Wilhelm  von  Reicbenau,  Der  Sang  der 
Unsichtbaren  im  Föhrenwalde.  S.  144.  —  Einzelberichte:  O.  Laurent,  Transplantation.  S.  I46.  Amar,  Weir- 
Mitschell'sche  Phänomen.  S.  147.  Jean  Legendre,  Mückenvertilgung  durch  Fische.  S.  147.  Joh.  WUtschke, 
Das  französisch-lothringische  Industriegebiet,  besonders  das  Becken  Briey-Longwy.  S.  148.  Leopold  von  Werveke, 
Die  Bodenschätze  Elsaß-Lothringens.  S.  148.  W.  Kocrt,  Über  den  Krusteneisenstem  in  den  deutsch-afrikanischen 
Schutzgebieten.  S.  150.  —  Bücherbesprechungen:  H.  Boruttau,  Fortpflanzung  und  Geschlechtsunterschiede  des 
Menschen.  S.  15t.  K.  Baisch,  Gesundhcilslehre  für  Frauen.  S.  151.  Leopold  Löhner,  Die  Exkretionsvorgänge  im 
Lichte  vergleichend-physiologischer  Forschung.  S.  151.  —  Anregungen  und  Antworten:  „Eigentümliches  Herbar".  S.  152. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden 


Druck  der  G.  I 


Prof.   Dr.   H.  M 

Fisch 


Berlin  N  4,   Invalidenstraße  42,   erbeten. 


Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena, 
■ätz'schen  Buchdr.  I.ippert  .^  Co.   G.m.b.H.,   Naumburg  a.  d.  S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  25.  März  1917. 


Nummer  13. 


Einige  Betrachtungen  über  die  Begriffe  Parasit,  Raubtier 
und  Pflanzenräuber. 


[Nachdruck  verboten.)  Von  Prof.  Dr.  O. 

Über  Parasiten  und  Parasitismus  ist  in  der 
letzten  Zeit  sowohl  auf  streng  wissenschaftlichem 
Gebiete  wie  in  der  allgemeinverständlichen  Literatur 
so  oft  und  so  viel  geschrieben  worden,  daß  man 
meinen  könnte,  dies  Thema  sei  nachgerade  er- 
schöpft. Doch  eine  solche  Annahme  müßte  sich 
bei  eingehender  Beschäftigung  mit  diesem  ebenso 
umfangreichen  wie  interessanten  Gegenstande  sehr 
bald  als  Irrtum  des  urteilenden  Laien  erweisen; 
denn  der  Fachmann  ist  sich  nur  zu  gut  bewußt, 
daß  beim  Studium  der  Natur  und  im  besonderen 
der  organischen  Schöpfung  von  einer  wirklich  ab- 
schließenden Erkenntnis  kaum  je  die  Rede  sein 
kann;  denn  für  ihn  bleibt  das  Wort  eine  ewige 
Wahrheit,  daß  man  sehr  viel  wissen  muß,  um  zu 
wissen,  wie  wenig  man  weiß.  Aber  auch  dem 
Laien,  der  ernstlich  nach  Bereicherung  seiner  Kennt- 
nisse strebt,  kann  es  nicht  verborgen  bleiben,  daß 
gerade  die  eigenartige  Lebensweise,  die  man 
Parasitismus  nennt ,  immer  von  neuem  zur  Er- 
weiterung und  Vertiefung  unseres  Wissens  anregt, 
da  der  Mensch  selbst  gar  zu  häufig  Gefahr  läuft, 
in  den  Wirkungskreis  solcher  Organismen  hinein- 
gezogen und  an  seiner  Gesundheit  geschädigt,  so- 
gar mit  dem  Tode  bedroht  zu  werden.  Haben  doch 
gerade  die  Erfahrungen,  die  im  Laufe  des  schwer 
auf  der  Menschheit  lastenden  Weltkrieges  gemacht 
sind,  in  nicht  mißzuverstehender  Weise  gezeigt, 
wie  die  gewaltigen  Anstrengungen  und  Leiden 
der  wackeren  Streiter  für  Sein  und  Nichtsein 
unserer  Zukunft  noch  um  vieles  vermehrt  werden 
durch  jene  lästigen  Parasiten,  die  es  ebenfalls  nach 
unserem  Blute  gelüstet  und  die  uns  überdies  noch 
mit  viel  schlimmeren  Feinden  zu  infizieren  ver- 
mögen und  so  zu  Vermittlern  todbringender  Krank- 
heiten werden  können.  Doch  über  die  Wichtigkeit 
der  Kenntnis  solcher  Parasiten  vom  sanitären 
Standpunkte  aus  und  über  die  großen  Schwierig- 
keiten, einen  klaren  Einblick  in  deren  oft  ver- 
wickelten und  geheimen  Lebensgang  zu  gewinnen, 
soll  hier  nicht  gehandelt  werden,  auch  soll  nicht 
auf  einzelne,  besonders  interessante  Vertreter  aus 
der  gewaltigen  Schar  derer,  die  den  Namen 
Parasiten  mit  Recht  verdienen,  eingegangen  werden 

—  darüber     findet    der    Belehrungsbedürftige    in 
Büchern  und  Einzelartikeln  genügende  Aufklärung 

—  es  liegt  vielmehr  in  der  Absicht  des  Verfassers, 
auf  gewisse  allgemeine  Fragen  etwas  näher  • 
einzugehen,  die  nur  dann  aufgeworfen  und  beant- 
wortet werden  können,  wenn  man  das  Gesamtgebiet 
der  parasitischen  Lebensweise  und  deren  Zusammen- 
hang mit  anderen  Formen  der  Betätigung  tierischen 
und    pflanzlichen  Lebens    und  Kämpfens    um    die 


Taschenberg. 

Existenzbedingungen  zu  überschauen  und  damit 
zu  beurteilen  vermag,  wo  wir  überhaupt  berechtigt 
sind,  von  Parasitismus  zu  sprechen,  wo  die  Grenzen 
gegenüber  anders  gearteten  Lebenserscheinungen 
zu  ziehen  sind  und  daß  sich  auch  hier,  wie  überall 
im  Reiche  des  Organischen,  dem  prüfenden  Blicke 
des  Forschers  allmähliche  Übergänge  da  er- 
schließen, wo  der  Laie  schroffe  Gegensätze  zu 
erblicken  geneigt  ist.  Wenn  ein  solcher  nach  dem 
Wesen  des  Parasitismus  gefragt  wird,  so  pflegt 
er  wohl  einzelne  prägnante  Beispiele  für  diese 
eigenartige  Lebensweise  anzuführen,  wie  etwa  den 
Bandwurm,  die  Trichine,  vielleicht  auch  gewisse 
auf  mikroskopische  Organismen  zurückzuführende 
Krankheitserscheinungen,  aber  eine  Definition 
des  Begriftes  „Parasitismus"  zu  geben,  wird  er 
schwerlich  imstande  sein,  und  das  ist  auch  keines- 
wegs zu  verwundern;  denn  die  Beantwortung 
dieser  Frage  ist  auch  für  den  Fachmann  so 
schwierig,  daß  er  ihr  in  seinen  eigenen  Dar- 
stellungen über  diesen  Gegenstand  in  der  Regel 
aus  dem  Wege  geht  und  nach  einigen  allgemeinen 
Bemerkungen  kühn  medias  in  res  hineinspringt,  um 
über  Einzelfälle  zu  berichten.  Es  ist  tatsächlich 
nicht  leicht,  eine  Definition,  d.  h.  eine  scharfe  Um- 
grenzung und  für  alle  Einzelheiten  gültige  Charak- 
terisierung da  zu  geben,  wo  es  sich  nicht  um 
Dinge  handelt,  die  lediglich  der  menschlichen 
Psyche  ihr  Dasein  verdanken,  sondern  um  Vor- 
gänge der  „lebendigen  Natur,  da  Gott  den  Men- 
schen schuf  hinein".  Der  menschliche  Geist,  dem 
gewisse  Schranken  der  Erkenntnis  gesetzt  sind, 
vermag  sich  in  einer  Vielheit  von  Dingen  und  Er- 
scheinungen nicht  anders  zurechtzufinden  als  da- 
durch, daß  er  Gleiches  oder  genauer  gesprochen, 
das  ihm  als  gleich  Erscheinende  von  dem  davon 
Verschiedenen  trennt,  beides  einander  gegenüber- 
stellt und  durch  Über-  und  Unterordnen  ein  System, 
eine  Art  Fachwerk  schafft,  wie  es  ihm  für  seine 
Zwecke  am  geeignetsten  erscheint.  Anders  kann 
er  auch  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  der  Natur 
nicht  gegenübertreten,  und  da  kommt  er  gar 
häufig  in  Kollision,  besonders  im  Reiche  des  Orga- 
nischen, wo  „alles  fließt",  nirgends  Stillstand  herrscht, 
ein  ewiges  Werden  und  Sichverändern  sich  voll- 
zieht und  der  Tod  nur  ein  „Mittel  ist,  viel  Leben 
zu  haben".  Einem  solchen  dauernden  Entwick- 
lungsprozesse gegenüber  hat  das  Ruhebedürfnis 
der  menschlichen  Psyche  wahrlich  keinen  leichten 
Stand.  In  diesen  Tatsachen  liegt  die  Begründung 
für  die  Schwierigkeit  der  Definition  organischer 
Vorgänge,  und  diese  wird  noch  dadurch  erhöht, 
daß  eine    kurzgefaßte  klare  Fassung,    wie  sie  von 


154 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


vornherein  erwünsclit  ist,  selten  erschöpfend,  eine 
allen  Anforderungen  entsprechende  aber  langatmig 
und  schwerfällig  ausfällt.  So  ist  es,  wenn  man 
die  Begriffe  „Organismus",  „Leben",  „Tier",  „Para- 
sitismus" usw.  definieren  will.  Bei  diesem  letzteren 
wollen  wir  nun  nach  den  einleitenden  Betrachtungen 
stehen  bleiben. 

Eine  der  wenigen  Definitionen  dieses  Begriff"es 
verdanken  wir  dem  hervorragendsten  Forscher  auf 
diesem  Gebiete,  unserem  Rudolf  Leuckart, 
der  in  die  zweite  (von  1879  an  veröffentlichte) 
Auflage  seines  berühmten  Werkes  „Die  Parasiten  des 
Menschen"  wörtlich  heriibergenommen  hat,  was  er 
bereits  in  der  ersten  (1863)  ausgesprochen:  „Als 
Parasiten  bezeichnen  wir  im  weiteren 
und  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  alle 
diejenigen  Geschöpfe,  die  bei  einem 
lebendigen  Organismus  Nahrung  und 
Wohnung  finden."  Diese  Fassung  ist  kurz 
und  klar,  sie  läßt  im  großen  und  ganzen  auch 
nichts  unberücksichtigt,  was  in  das  Bereich  dieser 
eigenartigen  Lebensweise  hineingehört;  was  viel- 
leicht zu  Irrungen  Veranlassung  geben  könnte, 
werden  wir  im  Laufe  unserer  weiteren  Betrach- 
tungen noch  zu  berühren  haben.  Das  Wort  „Ge- 
schöpfe" umfaßt  Tiere  und  Pflanzen  —  und  tat- 
sächlich treft"en  wir  in  beiden  organischen  Reichen 
Parasiten.  Als  Erfordernis,  einen  Organismus  so 
nennen  zu  dürfen,  steht  im  Vordergrunde  die 
Nahrung,  die  bei  einem  anderen  lebenden 
Organismus  gefunden  wird.  Tiere  oder  Pflanzen, 
die  ihre  Nahrung  von  toten  Organismen  entnehmen, 
können  nie  und  nimmer  Parasiten  genannt  werden. 
Man  hat  es  alsdann  mit  Aasfressern,  „Leichen- 
würmern", Saprophytcn  und  Saprozoen,  d.  h. 
Fäulnisbewohnern  zu  tun,  und  an  diese  reihen 
sich  solche  Tiere  an,  die  ihr  Leben  mit  den  un- 
verdauten, nach  außen  abgegebenen  Speiseresten 
anderer  zu  fristen  vermögen,  die  Kotfresser  oder 
Koprophagen. 

Der  Parasitismus  ist  in  erster  Linie  eine  Form 
der  Ernährung  und,  wie  wir  des  weiteren  noch 
sehen  werden,  nicht  sowohl  was  die  Art  der 
Nahrung,  den  Nährstoff  anlangt,  als  vielmehr 
die  Art  und  Weise,  wie  diese  gewonnen  wird. 
Um  auf  diesen  wichtigen  Punkt  näher  eingehen 
zu  können,  müssen  wir  zunächst  einmal  die  Pflanzen 
beiseite  lassen  und  uns  nur  den  Tieren  zuwenden; 
denn  beide  Naturreiche  unterscheiden  sich  im  all- 
gemeinen wesentlich  in  ihrem  Nahrungsbedürfnis. 
Während  die  Pflanzen  hauptsächlich  anorganische 
Stoffe  aus  dem  Erdboden  und  der  Atmosphäre 
aufnehmen  und  durch  den  chemischen  Prozeß  in 
ihren  Geweben  höher  zusammengesetzte,  organische 
Verbindungen  aufbauen,  bedarf  jedes  Tier  vor  allen 
Dingen  organischer  Stoffe,  die  sich  zum  mindesten 
in  den  Resten  abgestorbener  Organismen,  auch  im 
Schlamme,  im  Sande  und  in  der  Erde  finden,  wo- 
mit manche    Tiere    ihren  Nahrungskanal  anfüllen. 

Halten  wir  also  vorläufig  einmal  daran  fest, 
daß  die  parasitische  Lebensweise  im  wesentlichen 
eine  besondere  Form  der  Ernährung:  dar- 


stellt. Und  das  offenbart  sich  dem  Sprachkundigen 
schon  durch  das  bloße  Wort;  denn  „Parasit",  aus 
dem  griechischen  jniQÜatioc,  in  fast  alle  modernen 
Sprachen  herübergenommen,  bedeutete  im  Alter- 
tume  ursprünglich  einen,  der  neben,  mit  oder  bei 
einem  anderen  ißt,  und  wurde  in  durchaus  unver- 
fänglichem Sinne '  von  den  beim  Opfer  gemein- 
schaftlich und  wohl  auf  öffentliche  Kosten  speisen- 
den Priestern  gebraucht,  deren  Versammlungsort 
darum  auch  naqaaiTinv  genaimt  wurde  und  gleich- 
zeitig auch  das  Gebäude  bezeichnete,  in  dem  die 
den  Tempeln  zufallenden  Getreideabgaben  auf- 
bewahrt wurden.  Denn  die  zweite  Hälfte  des 
Wortes  (a/TOi,')  heißt  zunächst  Weizen,  Getreide, 
Korn,  dann  auch,  was  daraus  bereitet  wird,  Mehl, 
Brot,  und  noch  mehr  verallgemeinert:  Nahrung, 
Speise,  Lebensmittel  im  Gegensatz  zu  Fleisch, 
schließlich  sogar  auch  dies  einbegriffen  im  Gegen- 
satz zu  Getränk.  So  die  ursprüngliche  und 
einzige  Bedeutung  des  Parasiten.  Erst  durch  die 
neuere  attische  Komödie  erhielt  das  Wort  eine 
ganz  andere,  stark  anrüchige  Bedeutung,  indem  es 
für  die  in  der  älteren  Komödie  Schmeichler 
[y.olai)  genannten  Persönlichkeiten  gebraucht  wird, 
die  für  ein  gutes  Gericht  und  leckere  Bewirtung, 
zu  der  sie  sich  auch  ungeladen  einfinden,  sich  zur 
Zielscheibe  des  ausgelassenen  Spottes  machen  oder 
sich  die  schmachvollste  Behandlung  seitens  des 
Wirtes  und  seiner  Gäste  gefallen  lassen  müssen 
und  zu  jedem  Dienste  benutzt  werden.  Diese 
Gattung  Komödie  ist  auch  von  den  Römern  nach- 
geahmt, so  von  Plautus  in  seinem  'Curculio'  und 
von  Terentius  in  seinem  'Phormio',  wo  in  beiden 
Fällen  der  Titel  gleichlautend  ist  mit  dem  Namen 
des  im  Stücke  gekennzeichneten  „Parasiten";  denn 
auch  diesen  Ausdruck  (Parasitus,  und  auch  als 
Femininum  Parasita)  haben  die  Römer  von  den 
Griechen  angenommen.  Und  so  ist  denn  dieses 
Wort  zur  Anwendung  auf  eine  Kategorie  von 
Menschen  gelangt  zu  einer  Zeit,  in  der  man  nicht 
entfernt  ahnte,  eine  wie  große  Menge  anderer 
Organismen  es  gibt,  die  denselben  Namen  mit 
einem  gewissen  Rechte  verdienen,  nur  daß  sie 
für  eine  derartige  Lebensweise  nicht  ebenso  ver- 
antwortlich gemacht  werden  können,  wie  jene 
Subjekte,  die  uns  noch  heutzutage  genau  so  be- 
lästigen und  darum  unter  der  gleichen  Bezeichnung 
zum  Vergleiche  mit  gewissen  Tieren  herausfordern. 
Wir  Deutschen  haben  für  sie  noch  einen  anderen 
Namen,  der,  soviel  uns  bekannt,  von  keiner  anderen 
Sprache  angenommen  ist,  nämlich  Schmarotzer, 
früher  vielfach  auch  Schmarutzer  und  ferner 
Schranze,  besonders  in  der  Zusammensetzung 
von  Hofschranze,  da  die  „Höfe"  der  Großen 
und  Reichen  die  beste  Entwicklungsstätte  für 
„Höflinge"  d.  h.  Schmarotzer  abgeben.  Woher  das 
Wort  „Schmarotzer"  und  das  gleichlautende  Zeit- 
wort „schmarotzen",  das  seit  dem  i  5.  Jahrhundert 
bekannt  ist,  stammt,  wie  es  abzuleiten  ist,  weiß 
man  nicht;  ebenso  ist  es  zweifelhaft,  ob  „Schranze", 
gelegentlich  auch  als  Femininum  auf  einen  Mann 
angewandt,  und  selten  auch  als  Verbum  (schranzen, 


N.  F.  XVI.  Nr.  12 


Naturwi-ssenschaftliche  Wochenschrift. 


155 


cl.  h.  sich  nach  Schranzenart  benehmen)  gebraucht, 
mit  dem  mittelhochdeutschen  Wort  Schranz  („d^ 
Riß")  zusammenhängt.  Schranze  bedeutete  übrigens 
früher  noch  nicht  den  typischen  Schmarotzer, 
sondern  einen  „jungen  Mann"  mit  der  Eigenschaft 
sich  zu  putzen,  dann  verächtlich  den  „Stutzer" 
oder  „Gecken",  also  in  gewissem  Sinne  eine  Vor- 
stufe des  eigentlichen  Schranzen.  In  der  Zoologie 
und  Botanik  ist  die  Bezeichnung  Schmarotzer  voll- 
kommen gleichbedeutend  mit  Parasit;  man  spricht 
vielleicht  häufiger  von  „Schmarotzerpflanzen"  und 
tierischen  Parasiten,  aber  lediglich  aus  Gewohnheit; 
jedenfalls  ist  das  international  verständliche  „Parasit" 
und  „parasitisch"  vorzuziehen,  namentlich  das  Adjek- 
tivum  dem  schweraussprechbaren  „schmarotzerisch", 
wogegen  wiederum  das  Partizip  „schmarotzend" 
bequemer  erscheint  als  „parasitierend". 

Kehren  wir  nach  dieser  sprachlichen  Ab- 
schweifung zum  Ausgangspunkt  unserer  Betrach- 
tungen zurück,  daß  der  Begriff  des  Parasitismus  in 
der  Nahrungsaufnahme  wurzelt  und  daß  die  Nahrung 
der  Tiere  neben  gewissen  anorganischen  Stoffen 
(Salzen  und  Wasser)  aus  organischen  Stoffen 
bestehen  muß.  Diese  können  von  anderen  Tieren 
und  deren  Produkten  oder  von  Pflanzen  herrühren, 
stammen  aber,  da  nur  die  Pflanze  imstande  ist, 
aus  anorganischen  Substanzen  organische  aufzu- 
bauen, in  letzter  Instanz  aus  dem  Pflanzenreiche. 
Für  die  Ernährung  des  Tieres  sind  also  drei  Mög- 
lichkeiten vorhanden:  sie  leben  ausschließlich  von 
tierischer  oder  ausschließlich  von  pflanzlicher 
Kost  oder  verbinden  beiderlei  Nahrung  mitein- 
ander, wie  es  der  Mensch  zu  tun  pflegt,  sofern 
er  nicht  aus  Gesundheitsrücksichten  oder  Schrulle 
reiner  Vegetarianer  ist,  der  es  aber  dennoch  meist 
so  hält  wie  der  strenggläubige  Katholike  an  Fasten- 
tagen mit  dem  Fleische.  Wenn  diese  verschiedenen 
Ernährungsweisen  für  die  Tiere  in  ihrer  Allgemein- 
heit in  F"rage  kommen,  so  können  auch  die  Para- 
siten unter  ihnen  keine  Ausnahme  machen,  und 
das  tun  sie  auch  nicht.  Sie  berechtigen  uns  daher, 
zwischen  tierischen  Parasiten  bei  Tieren  und 
tierischen  Parasiten  bei  Pflanzen,  zwischen  Zoo- 
parasiten  und  Phytoparasiten  zu  unter- 
scheiden. Wenn  die  Verhältnisse  aber  tatsächlich 
so  liegen,  so  drängt  sich  uns  unwillkürlich  die 
Frage  auf,  woran  erkennen  wir  dann  eigentlich 
den  Parasiten?  Er  entnimmt  seine  Nahrung  ent- 
weder einer  Pflanze,  z.  B.  die  Blattläuse  und 
Schildläuse,  welch  letztere  im  weiblichen  Ge- 
schlechte sogar  ihren  Saugrüssel  dauernd  in  das 
Pflanzengewebe  versenken  und  darum  fest  mit  ihm 
verbunden  sind,  oder  einem  Tiere,  wie  etwa  der 
Floh,  der  auf  Blutsaugen  angewiesen  ist  oder  der 
Bandwurm,  der  seine  Nahrung  denselben  Stoffen 
entnimmt,  die  seinen  Träger,  seinen  „Wirt"  am 
Leben  erhalten.  Dasselbe  gilt  aber  auch  von  den 
Nicht  Parasiten,  unter  denen  man  in  bezug  auf  ihre 
Nahrung  zu  unterscheiden  pflegt  nach  der  volks- 
tümlichen Ausdrucksweise  zwischen:  Alles- 
fressern  (Omnivora),  Pflanzenfressern  (Herbi- 
vora)  und  P'l  eise hfr esse rn  (Carnivora).     Diese 


Klassifizierung  ist  für  unsere  weiteren  Auseinander- 
setzungen von  besonderer  Wichtigkeit.  Der  auf- 
merksame Leser  wird  leicht  eine  gewisse  Inkonse- 
quenz in  der  Benennung  dieser  drei  Kategorien, 
genauer  gesprochen,  im  Namen  der  dritten  davon 
herausmerken:  warum  stellt  man  den  Pflanzen- 
fressern nicht  die  „Tierfresser"  gegenüber?  Weil 
man  sich  daran  gewöhnt  hat,  in  diesem  Zusammen- 
hange „F'leisch"  statt  „Tier"  zu  sagen  und  dabei 
doch  das  ganze  Tier  zu  meinen.  Und  das  kommt 
daher,  daß  man  zu  der  Zeit,  wo  man  jene  Aus- 
drücke einführte  und  sie  aus  dem  Lateinischen  zu 
Termini  technici  erhob,  in  erster  Linie  nur  die 
höheren,  dem  Menschen  selbst  am  nächsten 
stehenden  Tiere  im  Auge  hatte  und  in  der  Um- 
gangssprache das  Fleisch,  worunter  man  streng 
genommen  ausschließlich  die  Muskulatur  zu  ver- 
stehen hat,  als  das  allein  Genießbare  „Haut  und 
Knochen"  gegenüberzustellen  pflegt.  Vielleicht 
hat  man  sich  auch  des  biblischen  Sprachgebrauchs 
erinnert,  wo  das  Wort  „Fleisch"  in  gewissen 
Redewendungen  nicht  nur  mit  Tier,  sondern  mit 
Lebewesen  überhaupt  identifiziert  wird.  So:  „alles 
Fleisch  ist  wie  Heu",  „den  Weg  alles  Fleisches 
gehen";  dann  im  Gegensatze  zum  Geiste  „der 
Geist  ist  willig,  aber  das  Fleisch  ist  schwach". 
Um  auch  niedere  Tiere  als  Nahrung  anderer  be- 
sonders hervorzuheben,  hat  man  den  besonderen 
Namen  der  Insektenfresser  (Insectivora)  eingeführt 
und  ihn  weitgenug  gefaßt,  darunter  auch  solche 
mitzubegreifen,  die  sich  mit  „Würmern"  ernähren, 
wie  denn  der  Name  „Wurm"  vom  Volke  sehr 
gewöhnlich  da  gebraucht  wird,  wo  ihn  der  Fach- 
mann nicht  gelten  lassen  kann.  Daß  „Fleisch- 
fresser" sowohl  wie  „Insektenfresser"  zu  den  „Tier- 
fressern" gehören,  wird  niemand  bestreiten,  aber 
der  Sprachgebrauch  ist  gegen  diesen  Ausdruck, 
wie  man  sich  auch  gescheut  hat,  den  entsprechen- 
den lateinischen  Namen  Animalivora  zu  schaffen, 
obgleich  er  grammatikalisch  nicht  zu  beanstanden 
wäre.  Aber  Carnivora  „liegt"  unserer  Zunge 
besser!  Damit  jedoch  nicht  genug!  Man  hat 
sich  in  der  Umgangssprache  daran  gewöhnt,  dem 
Gegensatze  von  Tier-  und  Pflanzenfressern  noch 
anderen  Ausdruck  zu  verleihen  und  von  Raub- 
tieren und  Pflanzenfressern  als  Gegen- 
sätzen zu  sprechen.  Darin  liegt  der  Kernpunkt 
dieser  Betrachtungen,  die  vielleicht  manchem  ziem- 
lich banal  erscheinen,  die  aber  nicht  unterbleiben 
konnten,  wenn  die  w  eiteren  Folgen  unseres  Sprach- 
gebrauchs ins  richtige  Licht  gestellt  werden  sollen. 
Wenn  man  von  Raubtieren  spricht,  denkt  man 
unwillkürlich  an  die  ausgeprägtesten  Vertreter 
dieser  Ernährungsweise,  man  denkt  an  Löwe, 
Tiger,  Wolf,  Marder  u.  a.,  die  man  tatsächlich  auch 
in  der  Zoologie  speziell  in  eine  besondere  Ordnung 
unter  dem  Namen  Carnivora  vereinigt;  ebenso 
spricht  man  von  Raubvögeln  und  meint  Geier, 
Adler,  Falken  usw.;  gewöhnlich  vereinigte  man 
auch  diese  im  zoologischen  Systeme  in  eine  Gruppe, 
die  Rapaces.  Nur  ganz  beiläufig  sei  hier  bemerkt, 
daß  man    neuerdings    die  tiulen    oder  Nachtraub- 


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Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i: 


vögel  im  Systeme  von  den  übrigen  oder  Tagraub- 
vögeln trennt.  Man  ist  sich  wohl  auch  in  Laieii- 
kreisen  bewußt,  daß  manches  Tier,  das  nicht  zu 
den  „Raubtieren"  unter  den  Säugern  und  nicht 
unter  die  „Raubvögel"  gestellt  wird,  nichtsdesto- 
weniger eine  ganz  ähnliche  Lebensweise  führt, 
z.  B.  Krähen  und  Würger.  Da  pflegt  man  dann 
von  argen  „Räubern"  zu  sprechen,  wie  man  be- 
kanntlich auch  „Raubfische"  den  „Friedfischen" 
gegenüberstellt.  Wenn  nun  aber  der  Sachkenner 
kommt  und  erklärt  Nachtigall  und  Schwalbe  für 
Raubtiere,  da  macht  mancher  große  Augen  und 
denkt,  man  will  ihn  zum  besten  haben.  Aber  wie 
soll  man  einen  Vogel,  der  notorisch  ausschließlich 
von  Tieren  lebt,  die  er  noch  dazu  im  Fluge  lebend 
verschluckt,  anders  nennen  als  Raubtier,  wenn 
man  nicht  daran  gewöhnt  ist,  von  „Tierfressern" 
zu  sprechen!  Durch  die  pointierte  Gegenüber- 
stellung von  Raubtier  und  Pflanzenfresser  erscheint 
andererseits  der  letztere  in  einem  zu  milden  IJchte. 
Man  denkt  dabei  an  „harmlose"  Tiere,  etwa  an 
das  gutmütige  Schaf  („fromme  Schäfchen")  und 
vergißt  darüber,  daß  auch  der  wilde  Stier  mit 
seinen  gefährlichen  Hörnern,  das  Wildschwein  mit 
den  erdaufwühlenden  Hauern,  der  Hirsch  mit  seinem 
kampfbereiten  Geweih  dahin  gehören;  man  erinnert 
sich  vielleicht  auch  nicht  der  Vögel,  die  durch 
ihre  Nahrungsgelüste  unseren  Getreidefeldern  und 
Obstpflanzungen  gewaltigen  Schaden  zufügen,  gar 
nicht  hervorzuheben  die  in  den  Plantagen  der  Tropen 
arg  hausenden  Papageien  und  Affen.  Freilich 
bleiben  alle  diese  Tiere  Pflanzenfresser,  man  wird 
sich  aber  nicht  wundern  dürfen,  wenn  wir  sie 
nachher  als  „Pflanzen  r  ä  u  b  e  r"  brandmarken,  weil 
sie  .ihrer  pflanzlichen  Nahrung  genau  so  gewalt- 
sam zusetzen,  wie  ein  Raubtier  seiner  Beute.  Mit 
dem  Begriffe  „Pflanzenräuber"  wird  aber  der 
Gegensatz  von  Pflanzenfresser  und  Raubtier  illu- 
sorisch. Doch  zunächst  werden  wir  wieder  zu 
der  Frage  zurückgedrängt,  wie  unterscheiden  sich 
die  bei  Tieren  lebenden  Zooparasiten  von  den 
Raubtieren?  Beide  gehören  nach  ihrer  Nahrung 
zweifellos  zu  den  Tierfressern,  wie  auch  die  Aas- 
fresser, die  aber  durch  die  Art  ihrer  abgestor- 
benen Nahrung  in  keine  der  beiden  anderen 
Gruppen  hineinpassen.  Wenn  Parasiten  wie  Raub- 
tiere auf  lebende  tierische  Nahrung  angewiesen 
sind,  so  kann  eben  nicht  die  Nahrung  als  solche, 
sondern  die  Art  und  Weise  ihrer  Ge- 
winnung den  Unterschied,  den  wir  zwischen 
ihnen  festzustellen  berechtigt  und  genötigt  sind, 
bedingen.  Und  das  ist  es,  worauf  unsere  Be- 
trachtungen hinauswollen.  Das  Charakteristische 
des  Raubtieres  liegt  in  dem  Gewaltsamen ,  mit 
dem  der  Stärkere  den  Schwächeren  überfällt,  um 
ihn  entweder  „mit  Haut  und  Haaren"  zu  ver- 
schlingen oder  ihn,  nachdem  er  getötet,  allmählich 
ganz  oder  teilweise  zu  zerreißen  und  zu  fressen. 
In  jedem  Falle  handelt  es  sich  bei  dieser  Er- 
nährungsweise um  Vernichtung  der  Beute, 
um  Aufhebung  der  Individualität.  Dem- 
gegenüber  ist    der  Parasit,    der   seiner    Nahrungs- 


quelle, seinem  „Wirte"  gegenüber  von  vornherein 
?ils  der  Schwächere  erscheint,  darauf  angewiesen, 
in  weniger  gewaltsamer  Weise  seinen  Zweck  zu 
erreichen,  ja  er  ist  es,  so  zu  sagen,  sich  im  eigenen 
Interesse  schuldig ,  schonend  zu  Werke  zu 
gehen,  denn  durch  öftere  Anzapfung  und  allmähliche 
Nahrungsentziehung  gewinnt  er  den  V^orteil,  seine 
Ernährungsquelle  möglichst  lange  zur  Verfügung 
zu  haben;  er  richtet  seinen  Wirt,  wenn  überhaupt, 
was  durchaus  nicht  immer  der  Fall  ist,  nur  nach 
und  nach  zugrunde.  Somit  kann  man  auf  den 
Parasiten  mit  Recht  jenes  Wort  anwenden,  welches 
Faust  dem  Mephisto  ins  Gesicht  sagt 

„Nun  kenn'  ich  deine  würd'gen  Pflichten. 
Du  kannst  im  Großen  nichts  vernichten 
Und  fängst  es  nun  im  Kleinen  an." 

Ich  hoffe,  gezeigt  zu  haben,  daß  parasitische 
und  räuberische  Lebensweise  aufs  engste  mitein- 
ander zusammenhängen,  daß  sie  eigentlich  prin- 
zipiell übereinstimmen  und  nur  zwei  verschiedene 
Wege  darstellen,  um  das  gleiche  Ziel  zu  erreichen. 
Das  würde  freilich  nicht  ohne  weiteres  einleuchten, 
wenn  man  zwei  eklatante  Beispiele  einander  gegen- 
überstellen wollte,  Beispiele,  die  das  höchste  Maß 
jeder  Art  der  Nahrungsgewinnung  verkörpern. 
Man  vergegenwärtige  sich  einen  Tiger,  der  in  den 
indischen  Dschungeln  auf  der  Lauer  liegt  und  mit 
einem  kühnen  Sprunge  den  Büffel  überfällt  und 
mit  Pranken  und  Zähnen  trotz  seiner  Größe  und 
Stärke  niederzwingt,  oder  man  erinnere  sich  an 
des  Dichters  Schilderung,  wie  der  Wüstenkönig 
die  Girafie  bewältigt:  „Plötzlich  regt  es  sich  im. 
Rohre;  mit  Gebrüll  auf  ihren  Nacken  springt  der 
Löwe;  welch  ein  Reitpferd  1"  Und  dann  stelle 
man  sich  einen  Bandwurm  vor,  jene  lange  Glieder- 
kette, die  mittels  eines  „Kopfes"  (dem  sog.  Skolex), 
der  Saugnäpfe  und  dazu  vielleicht  auch  noch 
Haken  trägt,  in  der  Darmschleimhaut  seines  Wirtes 
—  es  kann  der  Mensch  sein  —  festgeheftet,  gleich- 
sam umspült  von  ernährender  Flüssigkeit,  die  in 
Ermangelung  eines  Mundes  und  Darmes  auf  der 
ganzen  Oberfläche  in  das  Innere  des  Körpers  ein- 
dringt und  ihn  so  reichlich  ernährt,  daß  Glied 
an  Glied  sich  reiht,  bis  ein  oft  meterlanges  Band 
zur  Ausbildung  gelangt  ist,  das  von  der  Stelle 
losgerissen  und  auf  natürlichem  Wege  aus  dem 
Darme  ins  Freie  gelangt,  nie  mehr  imstande  ist, 
in  dieser  Form  unter  Bedingungen  der  Fortexistenz 
zu  geraten  —  ein  Bild  der  Ohnmacht  und  Schwäche 
trotz  der  gewaltigen,  muskeldurchsetzten  Körper- 
massel Oder  man  wähle  gar  die  Trichine  zum 
Vergleiche,  die,  wenn  sie  erst  einmal  in  die  Mus- 
kulatur gelangt  ist,  in  der  charakteristischen  zitronen- 
förmigen  Zyste  eingekapselt  Jahre  lang  wohl  lebens- 
fähig bleibt,  aber  niemals  geschlechtsreif  wird, 
wenn  sie  nicht  samt  ihrer  fleischigen  Umwallung 
in  den  Magen  und  Darm  eines  anderen  Wirtes 
übertragen  wird,  also  vollkommen  auf  passive  Be- 
freiung angewiesen  ist.  Wenn  es  nur  solche  Raub- 
tiere und  solche  Parasiten  gäbe,  würde  man  sich 
nicht  zu  bemühen  brauchen,  eine  Grenze  zwischen 


N.  F.  XVI.  Nr.   12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


15; 


beiden  Formen  der  Nahrungsgewinnung  zu  suchen 
und  zu  finden.  Demgegenüber  aber  gibt  es 
Fälle,  wo  ein  und  dasselbe  Tier,  dasselbe  Indivi- 
duum bald  die  Rolle  eines  Parasiten,  bald  die  eines 
Raubtieres  übernimmt.  Gewisse  Blutegel,  die  im 
Wasser  leben,  und  darauf  angewiesen  sind,  sich 
von  den  Säften  anderer  Tiere,  zuweilen  vom  Blute 
eines  Warmblüters  zu  ernähren,  zu  dem  sie  sich 
mittels  einschneidender  Kiefer  den  Zugang  ver- 
schaffen, saugen  sich,  wenn  die  Gelegenheit  günstig 
ist,  an  ein  wassersaufendes  Lasttier,  an  einen 
badenden  Menschen  an  und  bleiben  da  so  lange 
angeheftet,  bis  sie,  völlig  gesättigt,  abfallen.  So 
macht  es  der  Parasit.  Wenn  ihm  aber  ein  solcher 
Wirt  nicht  zur  Verfügung  steht,  dann  überfällt  er 
ein  kleineres  Tier,  etwa  eine  Kaulquappe,  und 
tötet  seine  Beute  ohne  weiteres,  damit  wird  er 
zum  Raubtiere! 

Was  man  hier  von  derselben  Tierart  beobachten 
kann,  das  zeigt  sich  in  anderen  Fällen  auf  nahe 
verwandte  Tiergruppen  verteilt.  Die  bekannten, 
wegen  ihres  beim  Fliegen  erzeugten  brummenden 
Tones  als  Bremsen  bezeichneten  Fliegen  sind, 
soweit  es  sich  wenigstens  um  die  Weibchen  handelt, 
auf  Blutsaugen  angewiesen  und  können  oftmals, 
besonders  bei  schwüler  Witterung,  für  Mensch 
und  Tier  eine  Plage  werden.  Eine  im  System 
nahestehende  P'amilie  der  Fliegen  führt  nach  ihrer 
Lebensweise  den  Namen  der  Raubfliegen 
(Asilidae);  sie  überfallen  andere  Insekten,  denen  sie 
regelrecht  wie  die  Wegelagerer  auflauern,  und 
saugen  sie  aus.  So  gibt  es  auch  unter  den  von 
anderen  Tieren  sich  ernährenden  Wanzen  —  die 
meisten  saugen  Pflanzensäfte  —  solche,  die  ein 
Räuberleben  führen  und  danach  genau  so  wie  die 
eben  genannten  Fliegen,  benannt  werden  :  Raub- 
wanzen (Reduviidae),  wegen  ihrer  Bewegungsart, 
die  sie  mit  ihren  langen  dünnen  Beinen  ausführen, 
auch  Schreit  Wanzen  geheißen,  und  andere,  die 
das  Blut  höherer  Tiere  saugen,  wie  die  unrühm- 
lich bekannte  Bettwanze  (Cimex  lectularius), 
der  Schrecken  schlaf  bedürftiger  Menschen,  die 
übrigens  gelegentlich  einer  in  unseren  Behausungen 
vorkommenden  Raubwanze  (Reduvius  personatus) 
zum  Opfer  fällt. 

Wenn  es  nun  aber  auch  nach  diesen  Mitteilungen 
zugegeben  werden  muß,  daß  die  Grenze  zwischen 
Parasit  und  Raubtier  willkürlich  ist  und  auf  schwan- 
kenden Merkmalen  beruht,  so  werden  wir  darum 
die  Unterscheidung  dieser  beiden  Formen  der 
tierischen  Ernährungsweise  doch  ebensowenig  auf- 
geben, wie  wir  nach  wie  vor  Botanik  und  Zoologie 
nebeneinander  bestehen  lassen  müssen,  obgleich 
wir  längst  zu  der  Überzeugung  gelangt  sind,  daß 
die  beiden  Reihen  von  Organismen,  die  wir  als 
Pflanzen  und  Tiere  zu  unterscheiden  von  altersher 
gewöhnt  sind,  in  einer  gemeinsamen  Basis  wurzeln, 
vergleichbar  zweien  Stromgebieten,  die  aus  einer 
Quelle  entspringen,  im  Laufe  der  eingeschlagenen 
Bahnen  aber  immer  weiter  sich  voneinander  ent- 
fernen, nun  schließlich  den  gemeinsamen  Ursprung 
nirlit  mehr  erkennen  zu  lassen,  während  sie  doch  bis 


zuletzt  aus  dem  gleichen  Stofife  bestehen  und  sich 
am  Ende  in  dem  großen  Weltmeere  wieder  ver- 
einigen. 

Übrigens  hat  man  es  in  der  Wissenschaft  in 
der  letzten  Zeit  aufgegeben,  neben  den  Pflanzen- 
fressern von  Raubtieren  statt  von  Tierfressern  zu 
sprechen,  pflegt  für  beide  Kategorien  die  Termini 
technici  auch  nicht  mehr  dem  Lateinischen  zu  ent- 
lehnen, sondern  der  Sprache  der  alten  Griechen, 
die  für  solche  Zwecke  dank  ihrer  Bildsamkeit  und 
besonders  leichten  Möglichkeit  der  Wortzusammen- 
setzung viel  geeigneter  erscheint.  Man  spricht 
darum  jetzt  meist  von  Phytophagen  und 
Zoophagen,  die  man  in  weitere  Untergruppen 
zu  zergliedern  gelernt  hat.  Wenn  man  aber  kon- 
sequenterweise auch  die  „Allesfresser"  nicht  mehr 
als  Omnivora  bezeichnen  will,  so  sollte  man  sie 
nicht  sowohl  Polyphaga,  wie  vielfach  geschieht, 
sondern  Pantophaga  oder  Pamphagen  — 
ein  schon  von  Aristoteles  für  eine  biologische 
Gruppe  von  Tieren  gebrauchter  Ausdruck  — 
nennen.  Denn  Polyphaga  bedeutet  im  Grunde 
das,  worunter  wir  mit  einem  Anfluge  von  Miß- 
billigung manchen  Menschen  als  „Vielfraß"  kenn- 
zeichnen, und  das  nimmt  lediglich  auf  Quantität 
und  nicht  auf  Qualität  der  Nahrung  Bezug,  während 
wir  doch  unter  dem  alten  Ausdruck  Omnivora 
Tiere  verstehen,  die  sowohl  aus  dem  Tier-  wie  aus 
dem  Pflanzenreiche  ihren  Nahrungsbedarf  wählen. 
Darum  könnte  man  sie  auch,  ohne  Mißverständnisse 
zu  veranlassen,  Amphoterophagen  nennen. 
Ebensowenig  wie  Polyphaga  trifft  der  entsprechende 
Name  Oligophaga  den  Kern  der  Sache;  denn 
er  soll  nicht  Tiere  bezeichnen,  die  mit  einer  ge- 
ringen Nahrungsmenge  vorlieb  nehmen,  sondern 
solche,  die  bezüglich  ihrer  Auswahl  zwischen 
Monophagen  und  Pantophagen  stehen:  ,, Wahl- 
fresser"; man  kann  sie  folgerichtig  Pleophaga 
heißen  —  ein  Ausdruck,  der,  wie  ich  nachträglich 
gesehen  habe,  in  der  Botanik  in  dem  gleichen 
Sinne  schon  Anwendung  gefunden  hat. 

Doch  wir  sind  mit  unseren  Erörterungen  über 
das  Schwankende  der  Begriffe  Parasit  und 
Raubtier  noch  nicht  am  Ende;  denn  wir  haben 
bisher  lediglich  die  Tiere  untereinander  zum  Gegen- 
stande unserer  Betrachtungen  erhoben,  und  müssen 
nun  auch  einen  Blick  auf  das  Verhältnis  der  Tiere 
zu  den  Pflanzen  vom  ernährungsphysiologischen 
Standpunkte  aus  werfen.  Da  ist  denn  zunächst 
zu  betonen,  daß  es  auch  unter  den  pflanzen- 
fressenden Tieren,  den  Phytophagen,  sehr  viele 
Parasiten  gibt,  so  daß  man,  wenn  man  nicht  etwa 
behaupten  will,  sie  seien  sämtlich  so  zu  bezeichnen, 
von  vorneherein  einen  ähnlichen  Gegensatz  wie  unter 
den  Zoophagen  erwarten  muß.  Da  komme  ich  zu- 
rück zu  der  Einleitung  Leuckart's  in  sein  großes 
Parasitenwerk.  Nach  der  oben  angeführten  kurzen 
Kennzeichnung  des  Parasiten,  mit  der  er  seine 
Einleitung  „Natur  und  Organisation  der  Parashen" 
beginnt,  fährt  er  also  fort:  „Nach  dieser  Definition 
gibt  es  nicht  bloß  pflanzliche  und  tierische  Para- 
siten (Phytoparasiten    und    Zooparasiten),    sondern 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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auch  Parasiten  an  Pflanzen  und  an  Tieren.  Die 
Larve,  die  das  Holz  eines  Baumes  oder 
das  Fleisch  einer  Frucht  bewohnt,  ist 
danach  ebensogut  ein  Parasit,  wie  der 
Spulwurm  imDarmkanale  des  Me  nschen, 
und  der  Käfer,  der  unsere  Waldungen 
entblättert,  ebensogut  wie  die  Spinn- 
fliege zwischen  den  Federn  der  Schwalbe." 
Hier  kann  ich  unserem  großen  Helminthologen  und 
hervorragenden  Zoologen  nicht  beistimmen! 
Wohl  darin,  daß  ein  Holzbohrer  und  Fruchtbohrer 
den  typischen  Parasiten  beizuzählen  ist,  nicht  aber 
darin,  daß  auch  der  „Käfer"  —  es  darf  im  speziellen 
dabei  an  den  Maikäfer  gedacht  werden  —  „der 
unsere  Waldungen  entblättert".  Wo  bleibt  da  der 
Begriff  des  Parasiten,  wenigstens  in  dem  Sinne, 
wie  wir  vorher  den  Unterschied  zwischen  der 
Nahrungsgewinnung  eines  Raubtieres  und  eines 
Parasiten  zu  charakterisieren  versucht  haben ' 
Leuckart  freilich  beruft  sich  auf  seine  Definition, 
nach  der  jedes  Geschöpf,  „das  bei  einem  lebenden 
Organismus  Nahrung  und  Wohnung  findet"  ein 
Parasit  sei.  Wo  bleibt  dann  aber  überhaupt  die 
Berechtigung  zwischen  einem  solchen  und  einem 
anderen  Tier-  bzw.  Pflanzenfresser  zu  unterscheiden  r 
Findet  nicht  auch  das  ausgeprägteste  Raubtier  seine 
Nahrung  bei  einem  anderen  Tiere?  Von  der 
weiteren  Voraussetzung,  die  sich  auf  die  „Wohnung" 
bezieht,  sehen  wir  zunächst  ab,  wollen  aber 
schon  jetzt  bemerken,  daß  sie  auch  für  einen 
zweifellosen  Parasiten  nicit  bedingungslos  zu 
fordern  ist.  Und  wenn  der  Maikäfer  den  Parasiten 
zugezählt  werden  soll,  warum  dann  nicht  auch 
die  Heuschrecken,  von  denen  gewisse  Arten  die 
blühendsten  Gefilde  in  wenigen  Stunden  in  ver- 
ödete, wie  vom  Hagel  vernichtete  Steppen  zu 
verwandeln  vermögen,  oder  die  Raupen  des  Kohl- 
weißlings, die  ganze  Felder  bis  auf  die  Strünke 
entblättern  oder  der  „Nonne",  die  tatsächlich  ganze 
Wälder  für  immer  vernichten  kann?  Leuckart 
müßte  und  würde,  nach  dem  von  ihm  gewählten 
Beispiel,  auch  die  hier  hinzugefügten  in  seinem 
Sinne  in  Anspruch  nehmen.  Aber  muß  dann  nicht 
auch  der  Hase,  der  in  strengen  Wintern  schon 
manchmal  die  auf  den  Ertrag  edeln  Spalierobstes 
gesetzten  Hoffnungen  gründlich  zerstört  hat,  oder 
das  Hochwild,  das  namentlich  in  den  Alpenländern 
so  manchen  Bauern  das  Gewehr  in  die  Hand  ge- 
zwungen und  aus  Verzweiflung  zur  schweren  Be- 
strafung als  Wilddieb  verführt  hat,  überhaupt  jeder 
„harmlose"  Krautfresser  zu  den  Parasiten  gerechnet 
werden?  Im  Prinzip  vermag  ich  in  der  Ernährungs- 
weise eines  Maikäfers  und  eines  Wiederkäuers 
keinen  Unterschied  zu  entdecken.  Wenn  man 
aber  zugibt,  daß  der  Laubentblätterer  ein  Parasit 
sei,  wo  soll  man  noch  die  Grenze  zwischen  einem 
solchen  und  einem  „Pflanzenfresser''  schlechthin 
ziehen  ?  Und  diese  Grenze  ist  tatsächlich  nicht  zu 
ziehen,  so  lange  man  auf  die  Nahrungsstoffe  aus- 
schließlich Rücksicht  nimmt  und  nicht  gleichzeitig 
die  Art  und  Weise  betont,  wie  sie  gewonnen 
werden.     Legen  wir  aber  an  die  parasitischen  und 


die  gewöhnlichen  Pflanzenfresser  denselben  Maß- 
stab, den  wir  oben  zur  Unterscheidung  von  Zoo- 
parasiten und  Raubtieren  vorgeschlagen  haben  — 
und  was  kann  uns  hindern,  in  beiden  Fällen  mit 
dem  gleichen  Maße  zu  messen?  —  dann  können 
und,  wie  mir  scheint,  müssen  wir  logischerweise 
einander  gegenüberstellen  Pflanzenfresser,  die  nach 
Parasitenart  ihre  Nahrung  gewinnen  und  solche, 
die  es  auf  Raubtierart  tun,  wobei  im  ersteren 
Falle  also  das  Schonende,  im  anderen  das  Ge- 
waltsame in  den  Vordergrund  tritt  und  so  einen 
Unterschied,  wenn  auch  nicht  in  der  Nahrung  als 
solcher,  so  doch  in  der  Form  der  Erwerbung  zu 
formulieren  berechtigt.  Ich  nehme  keinen  Anstoß, 
von  diesen  Gesichtspunkten  aus  von  Parasiten  an 
Pflanzen  und  von  Pflanzenräubern  zu  sprechen 
und  habe  seit  Jahren  in  meinen  Vorlesungen  für 
letztere  die  wissenschaftliche  Bezeichnung  Phyto- 
harpakten  vorgeschlagen.  Wo  man  zwischen 
beiden  die  Grenze  ziehen  soll,  das  ist  allerdings 
mit  so  großen  Schwierigkeiten  verbunden,  daß 
ich  es  hier  nicht  wage,  ihr  näherzutreten.  In 
vielen  Fällen,  wie  bei  den  von  Leuckart  ge- 
wählten des  Holz-  und  Fruchtbohrers,  ist  es  nicht 
zweifelhaft,  sich  für  den  Parasitismus  zu  entscheiden, 
ebensowenig  bei  den  außerordentlich  zahlreichen 
Blattminierern  unter  den  Insektenlarven,  bei  den 
Bewohnern  von  Pflanzensamen,  den  Borkenkäfern, 
den  säftesaugeriden  Pflanzenläusen  —  in  allen  diesen 
Fällen  liegen  die  Analogien  mit  Blutsaugern  und 
Krätzmilben  auf  der  Hand;  aber  es  bleiben  noch 
genug  andere  Formen  des  Insektenfraßes  übrig, 
wo  berechtigte  Zweifel  über  die  Einordnung  in 
das  von  unserem  beschränkten  Verstände  aufge- 
baute Fächerwerk  —  oder  sollen  wir  gleich 
sagen  „Kartenhaus"?  —  bestehen,  und  das  noli 
längere  vorsichtiger  erscheint  als  Vergewaltigung. 
Eine  besondere  und  hoch  interessante  Form  von 
tierischen  Parasitismus,  die  aber  auch  vom  Ge- 
sichtspunkte der  Symbiose  im  allgemeinen  Sinne 
betrachtet  werden  kann,  zeigt  sich  in  den  sehr 
zahlreichen  Pflanzen  gall  e  n,  die  durch  Insekten 
verschiedener  Ordnungen  und  andere  Organismen 
(auch  Pilze),  verursacht  werden. 

Daß  auch  hier  die  Grenze  keine  natürliche, 
sondern  nur  eine  vom  praktischen  Standpunkte 
eingegebene,  also  eine  künstliche  ist,  kann  und 
soll  nicht  einen  Augenblick  geleugnet  werden. 
Hier  befindet  man  sich  eben  in  der  Lage,  von  der 
früher  die  Rede  war,  die  Schwierigkeiten  zu  er- 
kennen, die  sich  durch  die  Natur  der  Dinge  dem 
Wunsche  nach  einer  ,, Definition"  entgegenstellen. 
Und  diese  Schwierigkeiten  sind  in  diesem  Falle 
noch  erheblich  größer  als  bei  dem  Versuche,  einen 
Gegensatz  zwischen  Raubtier  und  Parasit  zu  kon- 
struieren. Denn  dort  durften  wir  als  unausbleib- 
hche  Folge  des  gewaltsamen  Nahrungserwerbs 
eines  Raubtieres  die  Aufhebung  der  Individualität 
des  Beutetieres  feststellen.  Das  Gleiche  gelingt 
uns  nicht  beim  Pflanzenräuber.  Das  liegt  aber 
nicht  daran,  daß  hier  etwa  die  gleichen  Vorbe- 
dingungen in  der  Wahl  der  Mittel  fehlten  —  denn 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Räuber  bleibt  Räuber  —  sondern  daran,  daß  die 
Organisation  der  Pflanze  eine  andere  ist  als  die  des 
Tieres,  daß  die  einfacher  gebaute  Pflanze  viel 
widerstandsfähiger  gegen  feindliche  Eingrift'e  als 
das  viel  komplizierter  gebaute  und  darum  viel  zarter 
besaitete  Tier  ist.  Ein  Baum  kann  unter  Um- 
ständen völlig  entlaubt,  zum  mindesten  eines  großen 
Teils  seines  aus  so  zahlreichen  Einzelorganen  zu- 
sammengesetzten Rlätterwerks  beraubt  werden,  die 
Adventivknospen  entwickeln  sich  noch  im  gleichen 
Jahre  zu  neuen  Blättern ;  eine  Wiese  kann  in  ihrem 
ganzen  oberirdischen  Bestandteile  abgegrast  sein, 
so  lange  die  „Grasnarbe"  unversehrt  ist,  läßt  sie 
neues  Grün  emporsprossen;  von  einem  Baum- 
stamme  ist  zuweilen  nicht  viel  mehr  als  eine  Wand 
übrig  —  man  denke  an  Weiden-  und  Olivenbäume 
—  und  oben  grünen  die  Blätter  und  reifen  eventuell 
die  Früchte.  Die  Pflanzen  —  abgesehen  natürlich 
von  den  niedrig  organisierten  Einzelligen  —  können 
mit  Recht  als  aus  zahlreichen  Einzelindividuen 
zusammengesetzt  angesehen  werden,  und  eben 
darum  können  sie  einer  ganzen  Anzahl  solcher 
Individuen  entbehren,  um  doch  noch  lebensfähig 
zu  bleiben.  Aus  diesem  Grunde  also  ist  die  Ein- 
wirkung gewaltsamer  P^ingriffe  von  selten  pflanzen- 
fressender Tiere  auf  Pflanzen  zumeist  viel  weniger 
wirkungsvoll  als  die  gleiche  Schädigung  eines 
Tieres.  Nichtsdestoweniger  gibt  es  noch  gerade 
genug  Beispiele,  wo  die  Angriffe  von  Pflanzen- 
räubern zu  dem  gleichen  Resultate  führen,  wie 
die  Ernährungsart  eines  Raubtieres:  einzellige 
Pflanzen  sind  selbstverständlich  vernichtet,  wenn 
sie  Tieren  zum  Opfer  fallen;  ferner  sind  es  die 
einjährigen  Pflanzen  viel  leichter  als  mehrjährige, 
jugendliche  leichter  als  alte.  Wenn  ein  Weidetier 
eine  einjährige  Pflanze  mit  der  Wurzel  herausreißt 
und,  wie  man  hier  zu  sagen  pflegt,  „mit  Stumpf 
und  Stiel"  in  seinem  Maule  verschwinden  läßt,  ist 
sie  natürlich  ebenso  umgebracht  wie  ein  Tier, 
das  „mit  Haut  und  Haaren"  hinuntergewürgt  war, 
und  dem  jungen  Bäumchen  geht  es  nicht  anders, 
wenn  es  aus  dem  Boden  gerissen  ist,  wie  anderer- 
seits das  Absterben  jedweder  Pflanze  die  fast  un- 
vermeidliche P'olge  vom  Durchnagen  ihrer  Pfahl- 
wurzel ist.  Werden  dieselben  Pflanzen  von  ver- 
einzelten Raupen  an-  oder  auch  über  der  Erde 
abgefressen,  so  braucht  ihre  Individualität  durchaus 
nicht  immer  aufgehoben  zu  sein  —  eben  dank 
der  eigenartigen  Organisation  der  Pflanze  gegen- 
über dem  Tiere,  das  aber  auch  vielfach  gewisse 
Verstümmelungen  seines  Körpers  zu  überstehen 
vermag.  Die  Unterschiede  zwischen  Raubtier  und 
Pflanzenräuber,  auf  die  besonders  hinzuweisen  wir 
für  unsere  Pflicht  hielten,  sind  also  schließlich  doch 
nur  relative  und  gradweise  und  können  unserer 
Parallesierung  beider  Ernährungsformen  nicht 
hinderlich  sein. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  die 
Beutetiere  sowohl  wie  die  Wirte  durch  die 
Nahrungsaufnahme  anderer  Tiere  in  jedem  Falle, 
bald  mehr  bald  weniger  geschädigt  werden. 
Es  soll  aber   noch   besonders  darauf  hingewiesen 


sein,  daß  manche  Geschöpfe,  namentlich  die  im 
Boden  festgewurzelten  Pflanzen,  die  vor  einem 
Feinde  nicht  Reißaus  nehmen  können,  zuweilen 
ganz  unabhängig  von  dessen  Ernährungsgelüsten 
Schaden  erleiden  und  zwar  durch  rein  mechanische 
Eingriffe.  Eine  Krähe  z.  B.  bricht  zuweilen  durch 
ihr  Körpergewicht  von  einem  jungen  Bäumchen 
einen  Zweig  ab,  was  bei  wertvollem  Spalierobste 
für  den  Gärtner  sehr  verdrießlich  ist ;  Wühlmäuse, 
Maulwürfe  und  die  in  ihrer  Erdarbeit  ähnliche 
Maulwurfsgrille  unter  den  Insekten,  richten  oft 
großen  Schaden  an  durch  Entblößen  junger  Wurzeln, 
die  damit  ihrer  Ernährungsfunktion  verlustiggehen 
und  die  Pflänzchen  zum  Absterben  bringen; 
Hirsche  beschädigen  beim  ,, Fegen"  d.  h.  bei  dem 
Versuche  die  Geweihe  von  der  anfänglich  darüber 
gelagerten  Haut  zu  befreien,  die  Bäume  des  Waldes; 
wo  Herden  der  großen  Huftiere,  der  Büffel,  Nas- 
hörner, Elefanten  sich  umhertreiben,  da  lassen  sie 
„kein  Gras  wachsen",  und  auf  andere  Weise,  näm- 
lich durch  ihre  massenhaft  abgelagerten  Exkre- 
mente, vernichten  die  Kolonien  von  Krähen,  Reihern, 
Kormaranen  den  Untergrund  der  Wälder;  in 
Nordamerika  lichtet  der  Biber  die  Urwälder  durch 
sein  Baumfällen,  das  er  zum  Deichbauen  betreibt. 
In  allen  diesen  Fällen  kann  der  Schaden  nicht 
dem  Nahrungserwerb  zur  Last  gelegt  werden, 
kennzeichnet  also  weder  einen  Räuber  noch  einen 
Parasiten.  Wir  werden  später  auch  gewisse 
Pflanzen  zu  erwähnen  haben,  die  auf  rein  mecha- 
nischem Wege  andere  Pflanzen  so  zu  schädigen 
vermögen,  daß  sie  zum  Absterben  gelangen.  Man 
spricht  dann  in  bezeichnender  Weise  von  „Pflan- 
zenwürgern", hat  sie  aber  früher  vielfach  als 
Schmarotzerpflanzen  angesprochen.  Mit  Unrecht, 
denn  die  Grundbedingung  für  den  Parasitismus, 
die  Entnahme  der  Nahrung  von  einem  lebenden 
Organismus,  liegt  nicht  vor. 

Um  dies  Kennzeichen  der  parasitischen  Lebens- 
weise als  eine  besondere  Form  der  Ernährung,  die 
ganze  Angelegenheit  in  erster  Linie  als  eine  er- 
nährungsbiologische Frage  in  das  rechte  Licht  zu 
stellen,  haben  wir  bisher  ein  anderes  Merkmal,  das 
sehr  häufig,  sogar  in  den  weitaus  meisten  Fällen  den 
Parasiten  viel  eher  verrät,  als  uns  seine  Ernährungs- 
art klar  wird,  absichtlich  außer  Acht  gelassen,  um 
es  nunmehr  besonders  zu  besprechen.  Ich  meine  die 
Tatsache,  die  in  der  Leuckart 'sehen  Definition 
so  deutlich  hervortritt:  daß  als  Parasiten  alle  die- 
jenigen Geschöpfe  anzusehen  seien,  die  bei  einem 
lebenden  Organismus  nicht  nur  Nahrung,  sondern 
auch  Wohnung  finden.  Diese  Vereinigung  zweier 
verschiedener  Tierarten  zu  einem  engeren  Ver- 
bände, wie  sie  in  den  meisten  Fällen  des  Para- 
sitismus hervortritt,  ist  tatsächlich  ein  so  in  die 
Augen  springendes  Merkmal,  daß  es  auch  dem 
-Laien  nicht  entgehen  kann,  der  sich  darum  den 
Parasiten  meist  nur  in  dieser  Abhängigkeit  von 
einem  anderen  Tiere  denkt  und  zu  dieser  An- 
nahme um  so  mehr  berechtigt  zu  sein  scheint,  als 
sehr  viele  Parasiten,  von  ihrem  Wohntiere  getrennt, 
völlig  hilflos,    dem   Untergange  geweiht  sind,  wie 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sie  denn  auch  in  ihrer  körperlichen  Beschaftenheit 
einen  durchaus  unvollkommenen,  man  darf  sagen, 
heruntergekommenen  Zustand  darstellen.  Diese 
hilfsbedürftige  Verfassung  des  Parasiten  findet 
darum  auch  weiteren  Ausdruck  in  der  Bezeichnung 
seines  VVohntieres  und  Wohltäters  als  seines 
Wirtes.  Das  klingt  freilich  ein  wenig  euphe- 
mistisch, wenn  man  sich  bewußt  wird,  daß  ein 
solcher  Gast  sich  ungeladen  einstellt  und  von 
seinem  Wirte  nicht  nur  einen  Anteil  an  seinen 
Nahrungsvorräten  erwartet  und  fordert,  sondern 
es  auf  dessen  „Fleisch  und  Blut"  abgesehen  hat. 
Und  lediglich  in  diesem  Gelüste  des  Parasiten  liegt 
die  Berechtigung,  ihn  so  zu  nennen.  Wenn  er 
bloß  einen  Anteil  von  dem  beansprucht,  was  sein 
Wirt  für  den  eigenen  Bedarf  erworben  und  als 
guter  Hausvater  angesammelt  hat,  dann  wäre  er 
eben  kein  Parasit  —  wir  werden  noch  sehen,  wie 
ihn  in  einem  solchen  Falle  die  heutige  Wissen- 
schaft zu  benennen  pflegt  — ,  sein  eigentlicher 
Zweck  ist  die  Gewinnung  einer  ganz  bestimmten 
Nahrung,  und  es  ist  lediglich  die  Folge  dieses 
seines  natürlichen  Ernährungsinstinktes,  daß  er  da, 
wo  er  die  Bedingungen  dafür  verwirklichen  kann, 
sich  auch  häuslich  niederläßt.  Die  „Wohnung", 
die  er  bei  dem  anderen  Organismus  findet  und 
sucht,  ist  erst  etwas  Sekundäres,  etwas  allmäh- 
lich Erworbenes,  eine  besondere  Anpassungs- 
erscheinung, die  um  so  begreiflicher  erscheinen 
muß,  als  die  Vorteile,  die  mit  der  Aufgabe  der 
P'reiheit  gewonnen  werden,  unschwer  zu  erkennen 
sind.  Das  Leben  der  Tiere  und  ganz  besonders 
das  Ernährungsbedürfnis,  hat  so  viel  Ähnlichkeit 
mit  den  Verhältnissen,  unter  die  der  Mensch  selbst 
gestellt  ist,  daß  sich  die  Vergleichspunkte  uns 
geradezu  aufdrängen.  Man  denke  an  eins  von 
jenen  Subjekten,  die  wir  in  unserem  sozialen  Leben 
von  altersher  als  Schmarotzer  zu  bezeichnen 
pflegen.  Angeborene  Unlust  zur  Arbeit  führt  zum 
Müßiggang  und  damit  allmählich  zur  Verarmung; 
der  Hunger  macht  den  Bettler,  die  Wohltätigkeit 
der  Mitmenschen  schützt  vor  dem  Untergange, 
erhöht  aber  gleichzeitig  die  Sucht  nach  dieser 
bequemen  Versorgung;  der  Bettler,  der  anfanglich 
nur  in  gewisser  Zeit,  ab  und  zu,  um  ein  Almosen 
bitten  kam,  stellt  sich  allmählich  immer  häufiger 
ein ;  wenn  es  ihm  nicht  gewehrt  wird,  nächtigt  er 
auch  in  der  Nähe  seiner  Nahrungsquelle,  er  wird 
immer  dreister  und  seßhafter;  denn  er  findet  es 
viel  bequemer,  den  gedeckten  Tisch  gleich  vor- 
zufinden, wenn  es  ihn  hungert,  als  erst  die  Wander- 
schaft danach  anzutreten ;  die  Gabe ,  die  früher 
mit  Bitten  erlangt  und  mit  Dank  in  Empfang  ge- 
nommen wurde,  wird  schließlich  zur  selbstverständ- 
lichen Forderung;  eine  Verweigerung  zeitigt  den 
heimlichen  Dieb,  der  unter  Umständen  seine 
schmachvolle  Karriere  mit  dem  Räuberhandwerke 
abschließt,  das  zur  P>reichung  seines  Zweckes 
auch  nicht  vor  Totschlag  und  Mord  zurückschreckt. 
So  der  Lebensgang  manches  Verbrechers,  wie  ihn 
nicht  nur  die  Phantasie  ausmalt,  sondern  ,,dic 
himmlischen  Mächte"  ihn  entstehen  lassen. 


In  ähnlicher  Weise  haben  wir  uns  den  Werde- 
gang vorzustellen,  den  die  Natur  solche  Geschöpfe 
nehmen  läßt,  denen  mit  dem  Mangel  eines  „mora- 
lischen" Bewußtseins  auch  die  Verantwortlichkeit 
für  ihre  Handlungsweise  fremd  ist.  Der  Hunger 
ist  überall  das  Leitmotiv,  die  jedesmalige  Organi- 
sation schreibt  den  Weg  vor,  ihn  zu  stillen,  die 
Konkurrenz  mit  vielen  gleichzeitigen  Bewerbern 
lehrt  Gewalt  oder  List,  schafft  je  nachdem  Räuber 
und  Mörder  oder  Bettler,  Schmarotzer  und  Ein- 
mietler.  Alle  diese  Abstufungen  treffen  wir  tat- 
sächlich im  Tierreiche  verwirklicht  und  wir  haben 
berechtigte  Veranlassung,  sie  als  allmähliches 
Resultat  des  ganz  allgemein  hin  und  her  wogenden 
Kampfes  ums  Dasein  aufzufassen.  Der  Parasitismus 
im  besonderen  erklärt  sich  uns  als  Anpassungs- 
erscheinung an  eine  ganz  bestimmte  Art  des 
Nahrungserwerbs,  die  Aufgabe  der  freien  Orts- 
bewegung, die  von  vornherein  einer  der  hervor- 
ragendsten Charaktere  des  Tieres  ist,  wird  Mittel 
zur  bequemeren  Erreichung  des  Zieles;  je  seß- 
hafter der  Parasit  wird,  um  so  mehr  büßt  er  an 
Selbständigung  und  Vollkommenheit  der  Organi- 
sation ein,  aber  um  so  leichter  fließen  ihm  die 
Nährstoffe  zu,  er  wird  schließlich  ein  degenerierter 
Körper,  der  nur  eine  Fortpflanzungsmaschine  dar- 
stellt. Diesen  rückschreitenden  Entwicklungsgang 
brauchen  wir  uns  nicht  auf  dem  Wege  der  Kom- 
bination künstlich  zu  konstruieren,  wir  können  ihn 
in  vielen  Fällen  im  Leben  eines  Individuums 
Schritt  für  Schritt  verfolgen  und  damit  den  Ge- 
danken der  Deszendenztheorie  verkörpert  sehen. 
Aber  nicht  nur  im  Entwicklungsgange  desselben 
Tieres,  sondern  auch  in  Form  verschiedener  Ab- 
stufungen durch  die  Reihe  der  Tiere  hindurch, 
von  denen  die  einen  auf  diesem,  die  anderen  auf 
jenem  Stadium  der  Ontogenie  stehen  bleiben  und 
dann  verschiedene  Grade  des  Parasitismus  ver- 
gegenwärtigen. Es  wurde  schon  hervorgehoben, 
daß  die  „VVohnung"  bei  einem  anderen  Organis- 
mus für  den  Parasiten  erst  etwas  Sekundäres,  etwas 
allmählich  Erworbenes,  man  könnte  sagen;  durch 
die  Not  Anerzogenes  ist.  Wenn  das  wirklich  wahr 
ist  —  so  wird  der  aufmerksame  Leser  unsere 
Darlegung  mit  Recht  unterbrechen  —  so  müßte 
es  also  auch  Parasiten  geben,  die  ihre  Freiheit  völlig 
bewahren  und  sich  bei  keinem  „Wirte"  vor  Anker 
legen !  Und  solche  Parasiten  gibt  es  in  der  Tat, 
und  damit  wird  das  Kennzeichen  der  Wohnung 
als  conditio  sine  qua  non  für  den  Begriff  des 
Parasitismus  hinfällig  I  Zu  einer  solchen  Einsicht 
sind  wir  allerdings  erst  allmählich  gelangt;  nicht 
als  ob  man  in  früheren  Zeiten  die  freilebenden 
Parasiten  nicht  gekannt  hätte,  man  hat  sie  aber 
nicht  unter  diesen  Gesichtspunkten  beurteilt,  weil 
man  durch  die  Analogie  mit  den  tausenden  von 
anderen  Beispielen  verleitet  und  im  Urteil  be- 
fangen war  und  meinte,  mit  dem  Begriffe  des 
Parasiten  wäre  eo  ipso  die  dauernde  Vergesell- 
schaftung mit  einem  Wirte  unzertrennbar  verknüpft. 
Damals  formulierte  man  nicht  nur  den  Gegensatz 
von    „Parasit"    und    „freilebendes    Tier",    sondern 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


i6i 


man  sah  in  den  ersteren  sogar  eine  Gruppe  von 
Lebewesen,  die  allen  anderen  Tieren  gegenüber 
eine  unüberbrückbare  Stellung  einnahmen  und 
hauptsächlich  unter  dem  Namen  der  Helminthen 
eine  hervorragende  Rolle  spielten.  Die  Blutegel, 
die  wir  früher  als  Beispiel  für  die  Schwierigkeit 
einer  Abgrenzung  von  Raubtier  und  Parasit  heran- 
gezogen haben,  rechnet  man  erst  seit  Leuckart 
zu  den  letzteren,  und  doch  lag  diese  Auffassung 
gerade  hier  gar  nicht  so  fern,  weil  man  eine  An- 
zahl von  Arten  fast  immer  auf  dem  Körper  von 
Fischen  oder  Krebsen  antrifft,  ohne  daß  sie  dazu 
gezwungen  wären,  denn  sie  vermögen  unter 
Schlängelung  ihres  Körpers  sehr  geschickt  frei  im 
Wasser  zu  schwimmen. 

Jedenfalls  gibt  es  aber  auch  solche,  die  ihren 
Wirt  lediglich  zum  Blutsaugen  aufsuchen  und  ihn 
nach  Stillung  ihres  Hungers  für  ziemlich  lange 
Zeit  wieder  verlassen,  ein  völlig  freies,  durchaus 
nicht  an  die  Lebensweise  eines  typischen  Parasiten 
erinnerndes  Wasserleben  führen.  Zu  dieser  gehört 
auch  der  medizinische  Blutegel ,  mit  dem  es 
Leuckart  in  seinem  Werke  über  Parasiten  des 
Menschen  in  erster  Linie  zu  tun  hatte.  Daß  er 
ihn  den  Parasiten  einreihte,  war  durchaus  berechtigt, 
weil  er,  wenn  auch  nur  im  erwachsenen  Zustande, 
und  zur  Erlangung  der  Geschlechtsreife  seine  Nah- 
rung einem  warmblütigen  Tiere  in  Form  von 
flüssigem  Blute  zu  entnehmen  genötigt  ist.  Daß 
er  sich  zu  diesem  Zwecke  eine  gewisse  Zeitlang 
an  seinem  Wirte  festsaugen  muß,  kann  aber  wohl 
kaum  dazu  berechtigen,  diesen  als  „Wohnung"  in 
Anspruch  zu  nehmen.  Denn  sonst  gehörte  auch 
eine  Spinne,  die  ihre  Beute  niemals  vollständig 
verzehrt,  sondern  nur  aussaugt  und  sich  natür- 
licherweise dazu  eine  Zeillang  bei  ihr  aufhalten 
muß,  zu  den  Tieren,  die  „bei  einem  lebenden 
Organismus  Nahrung  und  Wohnung  finden";  es 
würde  damit  also  der  Unterschied  zwischen  Raub- 
tier und  Parasit  im  Sinne  der  Leuckart 'sehen 
Definition  des  letzteren  hinfällig  werden. 

Die  Blutegel,  ich  meine  die  ganze  Klasse  der 
Hirudinea,  die  man  jetzt  längst  nicht  mehr  mit 
den  Saugwürmern  vereinigt,  sondern  dem  Formen- 
kreise der  Ringelwürmer  (Annelides)  zurechnet, 
sind  übrigens  ein  sehr  lehrreiches  Beispiel  für  das 
Ineinandergreifen  von  räuberischerund  parasitischer, 
von  freilebender  und  festsitzender  Lebensweise. 
Nicht  nur,  daß  manche  Arten  in  einer  Person  bald 
Raubtier  bald  Parasit  darstellen,  es  gibt  auch  solche, 
bei  denen  das  Raubtiernaturell  ausschließlich  zu 
Tage  tritt  und  damit  stets  eine  freie  Ortsbewegung 
Hand  in  Hand  geht,  wie  z.  B.  bei  dem  bekannten 
„Pferdeegel"  (Aulostomum  gulo,  nach  der  neueren 
Nomenklatur  Haemopis  sanguisuga  zu  nennen) 
unserer  stehenden  Gewässer,  der  sehr  zu  Unrecht 
und  nur  vom  Laien  mit  dem  medizinischen  Blut- 
egel identifiziert  wird,  sowie  bei  den  nahe  verwandten 
Clepsine-Arten  gleicher  Aufenthaltsorte  —  beide 
fressen  Schnecken  und  Würmer,  zuweilen  auch 
junge  Fischchen  —  und  es  gibt  andererseits  typi- 
sche Parasiten,  von  denen  aber  die  einen  nur  zeit- 


weise ihren  Wirt  aufsuchen,  während  andere  dauernd 
auf  seiner  Haut  oder  seinen  Kiemen  ihren  Wohn- 
sitz aufschlagen.  Den  letzteren  Sitz  wählt  ein 
Parasit  unseres  Flußkrebses,  den  man  die  längste 
Zeit  hindurch  den  Blutegeln  zurechnete,  neuerdings 
aber  den  Oligochäten  einreiht,  Branchiobdella 
parasita.  Sehr  zutreffend  nennt  darum  Leuckart 
(in  der  2.  Auflage  seines  Parasitenwerkes)  die 
Lebensweise  der  Hirudineen  nicht  so  ausschließ- 
lich eine  parasitische,  wie  etwa  die  der  Trema- 
toden.  „Sie  gestaltet  sich  im  großen  und  ganzen 
freier  und  selbständiger  und  zeigt  die  mannigfachsten 
Übergänge  von  dem  parasitischen  Leben  zum 
räuberischen.  Deutlicher,  als  irgend  wo  anders, 
zeigt  sich  hier  die  Gemeinschaft  der  in  ihren 
Extremen  anscheinend  so  verschiedenen  Lebens- 
formen. Unverkennbar,  daß  der  Parasit  eigentlich 
ein  Raubtier  ist,  nur  ein  solches,  daß  zu  schwach 
und  zu  klein,  seine  Beute  zu  überwältigen,  sich 
darauf  beschränkt,  dieselbe  zu  plündern".  Diese 
Tatsachen  haben  aber  für  uns  auch  darum  ein 
besonderes  Interesse  —  und  sind  aus  diesem  Grunde 
hier  ausführlicher  auseinandergesetzt  —  weil  das, 
was  uns  hier  als  „Übergänge"  des  gegenwärtig 
bestehenden  Zustandes  erscheint,  im  Laufe  der 
Zeiten  erst  so  entstanden  sein  muß.  Anders  aus- 
gedrückt: aus  der  ursprünglichen  Lebensweise  des 
freilebenden  Raubtieres  hat  sich  durch  Anpassung 
an  besondere  Existenzbedingungen  allmählich  ein 
Parasit  herausgebildet,  der  bei  seiner  Gewohnheit 
nur  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Wohntier  aufzusuchen, 
als  „temporärer"  Parasit  gekennzeichnet  ist, 
sehr  leicht  aber  durch  dauernden  Aufenthalt  auf 
jenem  zum  „stationären"  wird  und  seine  frühere 
freie  Lebensweise  nach  wie  vor  als  „Ekto- 
parasit"  dokumentiert,  ebensogut  aber,  wozu 
der  erste  Schritt  durch  die  Kiemenbewohner  ge- 
tan ist.  zum  Entoparasitismus  übergehen 
kann  und  damit  die  intimste  Form  des  Parasitis- 
mus anzunehmen  begotmen  hat.  Mit  diesen  ver- 
schiedenen Bezeichnungen  sind  gleichzeitig  die 
verschiedenen  Gruppen  von  Parasiten  hervorge- 
hoben, die  man  zu  unterscheiden  pflegt,  um 
die  einzelnen  Grade  dieser  im  allgemeinen  so 
außerordentlich  mannigfaltigen  Lebensweise  ins 
richtige  Licht  zu  stellen.  Immer  wieder  erkennen 
wir,  daß  das  Wesentlichste  für  die  Kennzeich- 
nung des  Parasitismus  nicht  sowohl  die  Vergesell- 
schaftung mit  dem  Wirtstiere  als  vielmehr  die 
An  der  Nahrungsgewinnung  ist,  für  die  ein  engerer 
Anschluß  an  die  Nahrungsquelle  freilich  ein  viel 
wirksameres  Mittel  wird. 

Derartiges  lehren  uns  aber  keineswegs  nur  die 
zunächst  als  Beispiel  gewählten  Blutegel.  Noch 
viel  befremdender  könnte  es  erscheinen,  namentlich 
im  Vergleiche  mit  den  Anschauungen  früherer 
.Zeiten,  wenn  wir  auch  für  die  Stechmücken 
die  Bezeichnung  Parasiten  geltend  machen  :  sie,  die 
mit  Hilfe  ihrer  Flügel  als  freie  Bewohner  der  Luft  sich 
betätigen,  in  ihr  „spielen"  und  „Tänze"  aufführen, 
Rauchwolken  ähnlich  zu  gewaltigen  Schwärmen 
vereinigt,    hier   bald    unbeweglich    still    zu    stehen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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scheinen,  um  im  nächsten  AugenbHcke  weiter 
hinaufzusteigen  oder  wie  im  Falle  sich  herabzu- 
stürzen, Bewegungsmodulationen,  die  eben  zu  jenen 
volkstümlichen  Ausdrücken  Veranlassung  gegeben 
haben.  Und  leise,  ganz  vorsichtig  naht  sich  so  ein 
leichtbeschwingter  Scheinheiliger,  nimmt  auf  unserer 
entblößten  Haut  unbemerkt  Platz  —  die  Empfindung 
eines  feinen  Stiches  schreckt  uns  aus  der  beschau- 
lichen Ruhe  unserer  Naturbetrachtung,  und  da  ist 
der  Plagegeist  auch  schon  wieder  entflohen,  nach- 
dem er  ein  winziges  Tröpfchen  unseres  Blutes  mit 
seinem  spitzen  Rüssel  dem  Nahrungskanale  zu- 
geführt hat.  Haben  wir  ihn  für  den  Bruchteil 
einer  Minute  als  „Wohnung'  gedient?  Diesen 
Ausdruck  zu  wählen,  würde  uns  wohl  schwerlich 
einfallen ;  aber  den  Wirt  für  einen  Parasiten  haben 
wir  tatsächlich  abgeben  müssen  —  für  einen 
Parasiten,  der  ein  völlig  freies  Leben  führt.  Und 
was  noch  eine  besondere  Eigentümlichkeit  der 
Stechmücken  ist:  sie  betätigen  sich  nur  im  weib- 
lichen Geschlecht  als  Blutsauger,  die  Herren 
Gemahle  begnügen  sich  mit  ein  wenig  Feuchtig- 
keit und  überlassen  den  besonderen  Saft  ihren 
Weibern,  die  ihn  brauchen,  um  die  Eier  in  ihrem 
Leibe  zur  Reife  zu  bringen !  So  ist  es  auch  bei 
gewissen  anderen  blutsaugenden  Fliegen,  die  nicht 
in  die  nähere  Verwandtschaft  der  „langhörnigen" 
Mücken  gehören,  wie  z.  B.  die  Viehbremse  n 
(Tabanidae),  zu  denen  auch  die  dem  Menschen 
besonders  unangenehmen  Blind  fliegen  oder 
Grünaugen  (Chrysops)  und  Rogenbremsen 
(Haematopota  pluvialis)  zu  zählen  sind.  Diese 
Tatsachen  zwingen  uns,  unweigerlich  anzuer- 
kennen, daß  es  Tiere  gibt,  die  nur  in  einem  Ge- 
schlechte mit  Recht  als  Parasiten  angesprochen 
werden  können,  während  das  andere,  wie  wir 
sahen,  das  männliche  nicht  unter  den  gleichen 
Gesichtspunkten  zu  betrachten  ist  —  wahrlich 
ein  Beispiel  für  das  ganz  gelegentliche  Auf- 
treten dieser  eigenartigen  Lebensweise,  wie  es 
geeigneter  nicht  gedacht  werden  kann,  uns  vor 
einer  schablonenmäßigen  Behandlung  der  Er- 
scheinungen in  der  Natur  zu  warnen  und  zugleich 
ein  Beweis  dafür,  daß  Parasitismus  überall  Platz 
greifen  kann,  wo  es  für  die  Ernährungsfrage  von 
Vorteil  ist. 

P^s  gibt  nun  noch  eine  ganze  Gruppe  von 
eigenartigen  F"liegen,  die  in  allen  ihren  Mitgliedern 
und  auch  in  beiden  Geschlechtern  blutsaugende 
Parasiten  enthält  und  uns  ähnliche  Übergänge  von 
der  freien  zur  festsitzenden  Lebensweise  zeigt  wie 
die  Blutegel.  Das  sind  die  sog.  Laut  fliegen  oder 
Pu  ppengebärer  (Pupipara),  wie  sie  nicht  ganz 
mit  Recht  genannt  werden  —  sie  sind  lebendig 
gebärend  und  entledigen  sich  ihrer  Larven  in 
einem  so  weitvorgeschritienen  Larvenstadium,  daß 
dieses  alsbald  zur  Puppe  wird  und  deshalb  früher  die 
Meinung  des  Puppengebärens  vorgetäuscht  hatte  — ; 
sie  schmarotzen  auf  Säugetieren  und  Vögeln, 
gewisse  Arten  auf  beiden  zugleich;  nur  eine  einzige 
Art  entnimmt  ihre  Nahrung  der  Honigbiene.  Mit 
manchen   „Spinn fliegen",    wie   sie   auch    noch 


heißen,  kann  auch  der  Mensch  gelegentlich  nähere 
Bekanntschaft  machen,  wenn  er  an  schönen  Herbst- 
tagen in  gewissen  Waldungen  spazieren  geht  und 
von  den  schnellfliegenden,  plattgedrückten  Tierchen 
umschwärmt  wird,  die  sich  nicht  selten  auf  seinem 
Anzüge  niederlassen  oder  im  Barthaar  verfangen. 
Sie  saugen  Blut  von  gewissen  Waldvögeln  (Hühner- 
vögeln), denen  gegenüber  sie  sich  als  temporäre 
Parasiten  benehmen,  wozu  ihnen  einerseits  die 
F"lügel,  andererseits  die  Einrichtung  ihrer  Klammer- 
füße als  geeignete  Hilfsmittel  zur  Verfügung  stehen. 
In  einer  bestimmten  Zeit  aber  geben  sie  die  vaga- 
bundierende Lebensweise  auf  und  schlagen  dauernd 
ihren  Wohnsitz  auf  einem  Wirte  auf,  den  sie  darum 
nicht  wieder  verlassen,  weil  sie  nunmehr  ihre 
Flügel  verlieren.  Eine  verwandte  Art,  diePferde- 
lausfliege  (Hippobasca  equine)  behält  ihre  Flügel 
dauernd,  macht  daher  auch  gelegentlich  davon 
Gebrauch,  um  den  Wirt  zu  wechseln  oder  auch 
nur  eine  Körperstelle  desselben  mit  einer  anderen 
—  am  liebsten  wählt  sie  die  wenig  behaarten  — 
zu  vertauschen.  Wieder  andere  Arten,  wie  die 
„Schaf zecke",  Schafteke  (Melophagus  ovinus) 
und  ganz  eigenartig  gestaltete  Schmarotzer  auf 
Fledermäusen,  die  Nycteribiidae,  sind  zu  stationären 
Parasiten  geworden  und  bringen  überhaupt  niemals 
Flugorgane  zur  Entwicklung,  zeigen  also  den  am 
weitesten  vorgeschrittenen  Grad  der  Anpassung 
an  diese  Lebensweise;  haben  z.  T.  auch  die  Seh- 
organe verloren,  wie  auch  die  ebenfalls  völlig 
flügellose  Bienenlaus  (Braula  coeca),  die  nach 
neueren  Beobachtungen  wegen  ihrer  Ernährungs- 
weise vom  wirklichen  Parasitismus  ausgeschlossen 
werden  zu  müssen  scheint.  Solche  allmäh- 
liche Übergänge  von  freilebenden  zu  fest- 
sitzenden Parasiten  sind  auch  unter  Milben,  Krebsen 
usw.  zu  beobachten,  worauf  hier  unmöglich  weiter 
eingegangen  werden  kann.  F'ür  unsere  Zwecke 
genügt  es,  auf  die  verschiedenen  Abstufungen  in 
der  parasitischen  Lebensweise  und  auf  ihre  ver- 
mutliche oder  tatsächlich  nachweisbare  Entstehung 
hinzuweisen. 

Aber  etwas  anderes  muß  in  diesem  Zusammen- 
hange noch  zur  Sprache  kommen.  Wir  sahen, 
daß  mit  dem  Parasitismus  eine  Vergesellschaftung 
mit  dem  Wirtstiere  verknüpft  sein  kann,  sogar  in 
den  weitaus  meisten  Fällen  verknüpft  ist.  Dürfen 
wir  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  da,  wo  eine 
solche  Vergesellschaftung  tatsächlich  zur  Beobach- 
tung kommt,  immer  ein  F"all  von  Parasitismus  vor- 
liegt? Nein,  und  abermals  nein  I  Diesen  F'ehler 
hat  man  früher  nicht  selten  gemacht,  indem  man 
das  Zusammenleben  zweier  verschiedener  Tierarten 
ohne  weiteres  als  das  Verhältnis  von  Parasit  und  Wirt 
angesehen  hat,  ohne  zu  untersuchen,  ob  der  Name 
des  ersteren  durch  seine  Ernährungsweise  berechtigt 
wird.  Diese  Berechtigung  besieht  nur  dann,  wenn 
das  eine  der  beiden  eine  Gemeinschaft  verschiedener 
Arten  bildenden  Individuen  den  Geweben  oder 
Säften  des  anderen  seine  Nahrung  entnimmt; 
nicht  aber,  wenn  es  nur  an  den  Nahrungsmitteln 
des   anderen   Anteil   hat.     Daß   das  letztere   aber 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


163 


oft  genug  der  Fall  ist,  hat  man  schon  vor  ge- 
raumer Zeit  erkannt,  und  der  ältere  van  Beneden 
hat  für  eine  derartige  „Bewirtung"  den  Namen 
T  i  s  c  h  g  e  n  o  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t  (C  o  m  m  e  n  s  a  1  i  s  m  u  s) 
eingeführt;  die  Beteiligten  heißen  Kommen- 
salen  oder  Mitesser.  Doch  da  diese  F'orm 
der  Vergesellschaftung  wieder  nur  eine  besondere 
Form  eines  noch  allgemeiner  auftretenden  gegen- 


seitigen Anschlusses  darstellt,  wollen  wir  gleich 
etwas  weiter  ausholen  und  dem  Begriffe  des 
Parasitismus  noch  von  einem  anderen  Gesichts- 
punkte als  dem  des  bisher  in  den  Vordergrund 
gestellten  Nahrungserwerbs  zu  Leibe  zu  gehen 
suchen. 

^.Schluß  folgt.) 


Siliciunu'heiiiie  und  Kohleustotfcheinie. 


Ein  unter  besonderer  Berücksichtigung  der    neueren  Arbeiten  von  Alfred  Stock   erstatteter  Bericht. 


üie  PVage,  ob  sich  der  vom  vierwertigen 
Kohlenstoffatom  abgeleiteten  Kohlenstoffchemie 
eine  vom  vierwertigen  Siliciumatom  abzuleitende 
.Siliciumchemie  gegenüber  stellen  lasse,  ist  oft  dis- 
kutiert worden  und  besonders  in  der  allerletzten 
Zeit,  seitdem  Stock  sein  großes  experimentell- 
präparatives  Geschick  in  den  Dienst  der  Silicium- 
chemie gestellt  hat,  wieder  in  den  Vordergrund 
des  Interesses  getreten. 

Stocks  Untersuchungen  gehen  von  den  Sili- 
ciumwasserstoffen  aus,  die  bei  der  Zersetzung  des 
Magnesiumsilicids  durch  Säuren  entstehen.  ^)  Das 
„Magnesiumsilicid",  ein  MagnesiumSiliciumKom- 
plex  von  unbestimmter  Formel,  entsteht  bei  der 
Entzündung  eines  Gemisches  von  i  Teil  ganz  ge- 
ringe Mengen  von  Alkali  als  Verunreinigung  ent- 
haltenden, wasserfreien  Siliciumdioxyds  mit  2  Teilen 
Magnesiumpulver  mittels  eines  Sturmstreichholzes 
„magnesio- thermisch"  unter  Selbsterhitzung  des 
reagierenden  Gemisches  bis  zur  Weißglut  als  eine 
schön  blau  gefärbte,  krystallinisch  glänzende  Masse, 
die  mit  Salzsäure  unter  Hinterlassung  eines  weiß- 
lichen Rückstandes  ein  aus  einem  Gemisch  von 
Siliciumwasscrstoften  und  gewöhnlichem  Wasser- 
stoffbestehendes selbstentzündliches  Gas  entwickelt. 
Die  Ausbeute  von  Siliciumwasserstoffcn  hängt  von 
den  Versuchsbedingungen  ab,  und  zwar  erwies  es 
sich  am  zweckmäßigsten,  das  Magnesiumsilicid  in 
Form  eines  groben  Pulvers  in  lO^gige  .Salzsäure 
zu  schütten.  Der  bei  Berührung  mit  Luft  ein- 
tretenden Selbstentzündung  der  Siliciumwasser- 
stoffe  wegen  mußte  diese  Reaktion  in  einem  mit 
Wasserstoft'  gefüllten  geschlossenen  Apparat  vor- 
genommen werden.  Das  Rohgas  wurde  mittels 
flüssiger  Luft  kondensiert  und  die  Flüssigkeit  dann 
durch  fraktionierte  Destillation  im  Vakuum  in  eine 
Reihe  einheitlicher  Fraktionen  zerlegt.  Diese  be- 
standen zum  weitaus  größten  Teile  aus  Monosilan 
SiH^  und  enthielten  daneben  auch  beträchtliche 
Mengen  von  Disilan  Si.,H,.  und  Trisilan  Si^H,,, 
eine  geringe  Menge  von  Tetrasilan  Si^H^    sowie 

>)  Alfred  Stock  und  Carl  SomiesUi,  Silicium- 
wasserstoffe.  I.  Die  aus  Magnesiumsilicid  und  Säuren  ent- 
stehenden Siliciumwasscrstoffe.  Ber.  d.  D.  c:heni.  Ges.  4!» 
1916),  S.    111  —  157. 


Werner  Mecklenburg. 

möglicherweise  etwas  Pentasilan  SijHj.^;  so  betrug 


bei  einem  Versuche  das  Molekularverhältnis 

SiH,  :  Si.Hß :  SigHs :  Si^Hj,, 
I      :  0,39   :  0,15    :  0,06 
Von  der  Gesamtmenge    des    im  Magnesiumsilicid 
enthaltenen  Magnesiums  wird  bei  den  Stockschen 
Versuchsbedingungen  etwa  ein  Viertel  in  Silicium- 
wasserstoffe  verwandelt;  der  Rest  geht  im  wesent- 
lichen in  eine  amorphe,    nichtflüchtige,    wasserun- 
lösliche Substanz,  die  sog.  „Silico-oxalsäure" 
/SiO-OH\ 

VSiO-OHA 
über. 

Der  Besprechung  der  im  einzelnen  erhaltenen 
Resultate  muß  eine  kurze  Besprechung  der  von 
Stock  vorgeschlagenen  Nomenklatur  derSilicium- 
verbindungen ')  vorangeschickt  werden:  Die  den 
gesättigten  Kohlenwasserstoffen  C„H_,n_^,  Methan 
CH^,  Aethan  C.,H„,  Propan  QH^,  Butan  C,Hju  usw. 
entsprechenden  gesättigtenSilicium  Wasserstoffe  wer- 
den allgemein  als  S  i  1  a  n  e  und  die  einzelnen  Glieder 
der  Reihe  SinH^^  ___ ,  nach  der  Anzahl  der  in  ihnen 
enthaltenen  Siliclumatome  als  Monosilan  SiH^,  Di- 
silan SioH,,,  Trisilan  Si.,H^  usw.  bezeichnet.  Von 
den  Namen  der  Silane  werden  die  Bezeichnungen 
für  die  anderen  Siliciumverbindungen  nach  den 
Regeln  der  rationellen  Nomenklatur  der  Kohlen- 
stofifverbindungen  abgeleitet,  z.  B.  SiH.,  :  SiH,  = 
Disilen ,  SiH,  _  =  Monosilyl ,  SiHCL  =  Trichlor- 
monosilan,  SiH^  •  OH  =  Monosilanol,  (SiO  •  OH)j  = 
Disilandisäure  usw.  -)  Nur  für  die  in  der  Sili- 
ciumchemie sehr  wichtigen  sauerstoffhaltigen  Ver- 
bindungen, deren  Sauerstoft'  ebenso  wie  in  der 
Kohlenstoffchemie  der  Äthersauerstoff  gebunden 
ist,  wird  eine  Ausnahme  gemacht,  da  die  Äther 
der  Kohlen^toffchemie  und  die  ihnen  formell  ent- 
sprechenden SauerstoHVerbindungen  der  Silicium- 
chemie in  ihrem  Verhalten  einander  so  unähnlich 


')  .-Mfred  Stock,  Die  Nomenklatur  der  Silicium-  und 
Borverbindungen.   Ber.  d.  D.  Chem.  Ges.  49  (iqi6),  S.  108— UI. 

-)  In  gleicher  Weise  läßt  sich  eine  Nomenklatur  der 
Borverbindungen  mit  dem  —  noch  nicht  bekannten  —  Mono- 
boran  BH^  als  Ausgangspunkt  ableiten. 


104 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  12 


sind,  daß  eine  gleichartige  Nomenklatur  unange- 
bracht erscheint.  Die  von  Stock  für  sie  vorge- 
schlagene Nomenklatur  ')  geht  von  den  als  Stamm- 
formen betrachteten,  bisher  nicht  dargestellten 
wasserstofifhaltigen  Verbindungen 

H,Si— 0-SiHo  usw. 
■  ' 0— 


H^Si— O— SiHs 


aus,  die  allgemein  Siloxane  und  im  einzelnen 
nach  der  Zahl  der  vorhandenen,  abwechselnd  mit- 
einander verbundenen  Sl-  und  OAtome  Disiloxan, 
Disildioxan,  Trisildiox-an  usw.  benannt  werden 
sollen.  So  heißt  z.  B.  die  Verbindung  ClaSi— O— SiClg 
Hexachlordisiloxan  und  die  Verbindung 

{C6Hi),Si— O— Si(CeH,)o-  O  -Si(CoH6)j-0-Si(CeH.,)2 

'l -0 ' 

Octaphenyl-tetrasil-tetroxan. 

„Ist  die  Summe  der  Si-  und  0-Atome  eine  un- 
gerade Zahl,  so  handelt  es  sich  um  eine  ofifene 
Kette,  ist  sie  gerade,  um  einen  geschlossenen  Ring; 
die  ringförmigen  Siloxane  sind  Polymere  von 
H^SiO."  Bei  den  Polykieselsäuren  und  den  Poly- 
silikaten  soll  die  eingebürgerte  Bezeichnungsweise 
zunächst  beibehalten  werden. 

Nach  diesen  Zwischenbemerkungen  über  die 
Stock  'sehe  Nomenklatur  der  Siliciumverbindungen 
kehren  wir  zur  Siliciumchemie  zurück  und  wenden 
uns  zunächst  der  Besprechung  der  gesättigten 
Siliciumwasserstoffverbindungen,  der  Silane,  zu, 
von  denen  einzelne  Glieder,  besonders  das  schon 
im  Jahre  1857  vonWöhler  und  Buff  entdeckte 
und  später  häufig  untersuchte  Monosilan,  bereits 
seit  langem  bekannt  sind. 

Die  Affinität  zwischen  Siliciuni  und  Wasser- 
stoff ist  klein,  viel  kleiner,  als  die  zwischen 
Kohlenstoff  und  Wasserstoff.  Selbst  das  bei 
weiten  beständigste  Silan,  das  Monosilan  SiH^ 
zerfällt  bereits  bei  300  bis  400"  in  seine  Kompo- 
nenten; durch  Wasser  wird  es  langsam  schon 
bei  Zimmertemperatur  nach  der  Gleichung 

SiH,  +  2H.,0  =  SiO.  +  4H., 
in  Kieselsäure  und  Wasserstoff  zerlegt.  Mit  Laugen 
reagiert    es,    je    konzentrierter    sie    sind,    um    so 
rascher  nach  der  Gleichung 

SiH,  +  2NaOH  +  H^O  =-  SiO.Na.,  +  4H2 ; 

mit  30  "/o  igei'  Natronlauge  geht  die  Zersetzung 
bei  Zimmertemperatur  quantitativ  bereits  inner- 
halb etwa  zwei  Stunden  von  stattefi,  so  daß  sie 
zur  quantitativen  Bestimmung  des  Monosilans  be- 
nutzt werden  kann.  An  der  Luft  fängt  das 
Monosilan,  auch  wenn  es  ganz  rein  ist,  häufig 
Feuer:  „augenscheinlich  hängt  es  von  Zufällig- 
keiten ab,  ob  sich  SiH^  an  der  Luft  entzündet 
oder  nicht". 

Die  anderen  Siliclumwasserstofi'e ,  die  von 
Stock  näher  untersucht  worden  sind,  nämlich 
das  gasförmige  Disilan  sowie  das  flüssige  Trisilan 


und  das  ebenfalls  flüssige  Tetrasilan  zeigen  im 
wesentlichen  das  gleiche  Verhalten  wie  das  Mono- 
silan. 

Silicium-Kohlenstoffverbindungeni)  sind  in 
großer  Zahl  bekannt;  außer  dem  Siliciumkarbid 
(SiC)„ ,  dem  Karborundum,  sind  einige  Verbindungen 
von  dem  Typus  SiHRg  sowie  zahlreiche  Verbin- 
dungen vom  Typus  SiRj  hergestellt  worden  -), 
von  denen  insbesondere  die  mit  asymmetrischem 
Bau,  wie  die  komplizierte  Sulfosäure 
C0H3       CH-, 

r      r 

SOH3 .  C,;H,  •  CR,-  Si— O— Si-CH,j .  C„H,  •  SO3H 
C3H,       QH, 

interessant  sind,  weil  sie  die  von  der  Theorie  vor- 
ausgesehene Erscheinung  des  optischen  Drehungs- 
vermögens besitzen. 

Die  Festigkeit  der  Siliciumhalogenverbindungen 
ist  ziemlich  groß;  sie  steigt  vom  Jod  über  das 
Brom  und  Chlor  zum  Fluor.  Auch  Verbindungen 
mit  Silicium  -  Stickstofifbindungen  sind  gewonnen 
worden. 

Ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  den 
Silicium-  und  den  Kohlenstoffverbindungen  liegt 
in  der  Neigung  zur  Kettenbildung.  Die  Stabilität 
der  Bindung  ^Si— Si:,  ist  verhältnismäßig  ge- 
ring, und  darum  zerfallen  alle  Verbindungen  mit 
mehreren,  kettenartig  aneinander  gereihten  Silicium- 
atomen  mehr  oder  minder  leicht.  Verbindungen 
dieser  Art,  die  eine  definierte  Struktur  hätten, 
sind,  von  den  nichtsubstituierten  Silanen  abge- 
sehen, überhaupt  nur  vom  Disilan  bekannt.  Die 
bereits  erwähnte  „Silicooxalsäure" 
SiO-OH 


/biU-UM\ 

Isio-ohA 


sowie  die  „Silico-mesoxalsäure" 
SiO-OH^ 


Si(OH), 

I 
.SiO-OH 


entsprechen  ihren  organischen  Namensvettern 
nicht;  sie  sind  amorphe,  nicht-flüchtige,  wasser- 
unlösliche, also  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hoch- 
molekulare, aber  trotzdem  wenig  beständige  Ver- 
bindungen; die  Silico-oxalsäure  zerfällt  beim  Er- 
wärmen, die  Silico-mesoxalsäure  sogar  schon  in 
der  Kälte  explosionsartig  unter  Abgabe  von 
Wasserstoff. 

Verbindungen  mit  doppelter  oder  dreifacher 
Bindung  zwischen  den  Siliciumatomen  sind  —  das 
erscheint    nach    dem    Gesagten   ja   begreiflich    — 


i)  Alfred    -Stock,    Zur    Nomenkbtur    der    Siliciumver- 
bindungen.    Ber.  d.  U.  Chem.  Ges.  50  (191 7).   i^-  169— i?"- 


')  Vgl.  zum  Folgenden:  Alfred  Stock,  „Siliciumchemie 
und  Kohlenstoffchemie",  Ber.  d.  D.  Chem.  Ges.  50  (1917). 
S.   170—182. 

■')  R  bedeutet  hier  wie  -stets  in  derartigen  Darstellungen 
ein  aliphatisches  oder  aromatisches  Radikal. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliclie  Wochensclirift. 


165 


bisher  nicht  bekannt.     Auch  kennt  man    zur  Zeit 
nur  eine  Verbindung  mit  der  Atomgruppe 

=  Si  =  C=, 
das  i.  J.  191 2  von  Seh  lenk  hergestellte 
(QH,),Si:CH2. 
Von  größter  Bedeutung  und  vielleicht  charak- 
teristisch für  die  Siliciumchemie  ist  die  Festigkeit 
der  Bindung  zwischen  Silicium  und  Sauerstoff.    Das 
einzige    Beispiel,    in  welchem  die  Bindung  Si — O 
schon  bei  gewöhnlicherTemperatur  gelöst  wird,  liegt 
in  der  Einwirkung   der  Flußsäure  auf  die  Kiesel- 
säure und  ihrer  Salze  vor: 

SiOi,  +  6HF  =3  SiF„H.,  +  2H.,0. 
Neben  den  weniger  interessanten  Verbindungen 
wie  den  Silanolen  RgSi-OH,  den  Silandiolen 
R,,Si(OH)o  und  den  sofort  bei  ihrer  Entstehung 
in"SilansäürenRSiO-OH  übergehenden  Silantriolen 
RSi(0H)3  und  ähnlichen  Verbindungen  sind  hier 
als  besonders  wichtig  die  sich  außerordentlich 
leicht  bildenden  Siloxane,  d.  h.  Verbindungen  von 
der  Kettenstruktur 

.  .  .  -Si-O-Si-0— Si-  .  .  . 
anzuführen.  So  liefert  z.  B.  das  Tetrachlormono- 
silan  SiCl^  bei  der  Oxydation  das  Hexachlordisil- 
oxan  SiCla-0'SiC].j,  während  der  Tetrachlorkohlen- 
stoff unter  ähnlichen  Bedingungen  in  das  Phosgen 
COCU  übergeht.  Die  den  Ketonen  der  Kohlen- 
stoffchemie entsprechenden  Silanone  R„SiO,  die 
durch  Wasserabspaltung  aus  Silandiolen  R„Si(OH)., 
entstehen  sollten,  polymerisieren  sich  den  Unter- 
suchungen von  Kipping  zufolge  sogleich  bei 
ihrer  Entstehung  zu  Abkömmlingen  des  Di-,  Tri- 
oder  Tetrasiloxans;  als  Beispiel  sei  das  Diphenyl- 
monosilandio!  (C„H,-,).2Si(0H).,  angeführt,  unter 
dessen  Kondensationsprodukten  sich  ein  Tctrasil- 
trioxan-Derivat  von  der  F'ormel 
(HO)(CaH,)sSi— 0-Si(C,H6)2-0— Si(C8H5)„-0-Si(CeH5)j(OH) 
sowie  das  bereits  weiter  oben  erwähnte  Octaphenyl- 
tetrasil-tetroxan  haben  nachweisen  lassen.  Auch 
die  Kieselsäure  und  ihre  Salze  sind  nach  Stock 
ein  Beweis  für  die  Neigung  des  Siliciums  zur  Bil- 
dung von  Siloxanen. 

Schon  diese  wenigen  hier  angeführten  Beispiele 
lassen  erkennen,  daß  zwischen  dem  Kohlenstoff- 
und  dem  Siliciumatom  ein  wesentlicher  Unter- 
schied besteht.  „Die  Kohlenstoffchemie,  sagt 
Stock,  verdankt  ihre  Mannigfaltigkeit  hauptsäch- 
lich den  gleichmäßigen  Bindungskräften  des 
Kohlenstoffatomes  gegenüber  den  verschieden- 
artigen Liganden. ')     Positive  und  negative  Höchst- 


•)  Als  „Liganden"  (von  ligare  binden)  bezeichnet  Stock 
in  sehr  zweckmäßiger  Weise  allgemein  die  Atome  oder  Atom- 
gruppen, die  von  einem  Atom  oder  einer  Atomgruppe  ge- 
bunden sind  oder  gebunden  werden  können. 


Wertigkeit  des  Kohlenstoffs  sind  übereinstimmend 
gleich  vier",  auch  ist  die  Bindung  zwischen  dem 
Kohlenstoffatom  und  positiven  und  negativen 
Liganden  ungefähr  gleich  fest.  „Wasserstoff,  Sauer- 
stoff, Schwefel,  Stickstoff,  Halogene,  andere  Kohlen- 
stoffatome werden  vom  Kohlenstoff  mit  annähernd 
gleicher  Festigkeit  gebunden."  Anders  das  Silicium. 
Obwohl  in  maximo  vierwertig  wie  der  Kohlenstoff, 
besitzt  es  doch  zu  negativen  Liganden  vor  allen 
Dingen  zum  Chlor,  zum  Fluor  und  zum  Sauerstoff 
eine  viel  größere  Verwandschaft  als  zu  positiven 
Liganden.  So  erklärt  sich  der  ausgesprochene 
Gegensatz  im  Verhalten  des  verhältnismäßig  sehr 
beständigen,  nach  Schlenk  bei  354"  unzersetzt 
siedenden  Hexaphenyldisilans 

(QU,).ßi  -  Si(C,;H, ). 

und  des  sich  spontan  in  zwei  Moleküle  Triphenyl- 
methyl,  d.  h.  zwei  Moleküle  mit  je  einem  drei- 
wertigen Kohlenstoffatom  spaltenden  Hexaphenyl- 
aethans : 

(C,H5)3C-C(C„H,),  :<=>  2(C«HJX. 

Hierzu  kommt  die  ausgesprochene  Neigung  der 
Silicium-Sauerstoffverbindungen  zu  spontaner  Kon- 
densation durch  Sauerstoffverkettung,  eine  Neigung, 
die  sich  z.  B.  schon  dadurch  bemerkbar  macht, 
daß  im  Gegensatz  zu  dem  im  wesentlichen  mono- 
molekularen Kohlenstoffdioxyd  des  Siliciumdioxyd 
SiO.,  ein  alle  Anzeichen  starker  Polymerisation 
aufweisender  Stoff  ist. 

„Der  Existenz  des  stabilen  gasförmigen  Oxydes 
CO.,  verdankt  der  Kohlenstoff  zum  wesentlichen 
Teil  seine  Rolle  in  der  Natur.  Nachdem  es  in 
Pflanze  und  Tier  zahllose  chemische  Verwand- 
lungen durchgemacht  hat,  erscheint  es  dank  der 
oxydierenden  Wirkung  der  Atomsphäre  immer 
wieder  als  flüchtiges,  überall  hindringendes  CO^, 
dank  seiner  reichen  Affinitätsfähigkeiten  von  neuem 
bereit,  die  F'üUe  organischer  Verbindungen  zu  er- 
zeugen. Beim  Silicium  dagegen  muß  die  ausge- 
sprochene Neigung  zur  Bindung  von  Sauerstoff 
und  zur  Kondensation  der  einfacheren  Moleküle 
zur  „Petrifizierung"  führen.  Wie  die  Mannigfaltig- 
keit der  Kohlenstoffverbindungen  dem  vielseitigen 
Charakter  des  Kohlenstoft'atomes  entspricht,  so 
erklärt  sich  das  natürliche  Vorkommen  des  Sili- 
ciums in  der  starren  Form  der  Kieselsäure  und 
der  Silikate  durch  die  einseitigen  Affinilätsverhält- 
nisse  der  Siliciumatome.  Auch  dort,  wo  Silicium 
in  der  organischen  Natur  auftritt,  wie  in  Pflanzen, 
Seetieren,  Haaren,  F"edern ,  geschieht  dies  wohl 
immer  als  Kieselsäure  oder  Silikat.  Das  von 
Ladenburg  für  möglich  gehaltene  Vorkommen 
organischer  Siliciumverbindungen  ist  wenig  wahr- 
scheinlich, weil  es  eben  in  der  Natur  für  die  Sili- 
ciumoxvde  kein  Zurück  zu  andere  Verbindungen 
gibt." 


166 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   i: 


Bücherbesprechuugeu. 


Ludwig  Haberland,  Priv.  Doz.  Dr.,  Ü  b  e  r  S  t  o  f  f - 
Wechsel  und  Ermüdbarkeit  der  peri- 
pheren Nerven.  (Sammlung  anatomischer 
und  physiol.  Vorträge  u.  Aufsätze,  Heft  29.) 
Jena  1916.  —  Preis:  0,80  M. 
Jedem  ist  der  Zustand  der  Ermüdung  bekannt. 
Die  Physiologie  arbeitet  nun  seit  vielen  Jahren 
daran,  das  Wesen  der  Ermüdung  und  mit  ihr  das 
Wesen  der  Arbeitsleistung  eines  Organs  kennen 
zu  lernen.  Da  sind  Skelettmuskeln  und  Ganglien- 
zellen die  vorzüglichsten  Objekte  gewesen,  und 
ihre  Ermüdung  durch  andauernde  Arbeit  und 
ihre  Erholung  zurzeit  der  „Ruhe"  sind  urts  heute 
in  vielen  Phasen  des  Arbeitsablaufs  bekannt.  All- 
gemein gesagt:  in  einem  nicht  arbeitenden 
Organ  herrscht  Stoffwechselgleichgewicht,  d.  h. 
Stoffaufbau  und  Sioffabbau  halten  sich  die  Wage. 
Trifft  nun  ein  Reiz  das  betreffende  Organ,  so  gibt 
dies  eine  erkennbare  Arbeit  nach  außen  ab,  was 
in  vielen  Fällen  so  geschieht,  das  bestimmte  Stoffe 
plötzlich  abgebaut  werden  und  nun  wieder  von 
neuem  aufgebaut  werden  müssen.  Ist  nun  der 
Abbau  größer  als  der  Aufbau,  so  werden  nach 
einiger  Zeit  die  Reserven  knapp  und  die  Abbau- 
produkte als  schädliche  „Ermüdungsstoffe"  häufen 
sich  an :  das  Organ  kann  zuletzt  keine  Arbeit  mehr 
leisten  und  ermüdet. 

Eine  solche  Ermüdung  ist  an  vielen  Organen 
nachweisbar.  Aber  seit  längerer  Zeit  wurde  be- 
hauptet, daß  es  im  Körper  der  höheren  Tiere  ein 
Funktionssystem  gäbe,  daß  nicht  ermüdbar  sei: 
die  periphere  Nervenfaser.  Die  Geschichte  dieser 
Frage:  gibt  es  von  der  allgemeinen  Erscheinung 
der  Ermüdbarkeit  eine  Ausnahme,  behandelt  sehr 
geschickt  vorliegender  Vortrag.  Er  gibt  nach 
einigen  einleitenden  Abschnitten  zunächst  die  Ver- 
suche, die  für  eine  Unermüdbarkeit  der  peripheren 
Nervenfaser  sprachen,  und  dann  ausführlicher  die 
Versuche,  die  auch  ihre  Ermüdbarkeit  nachweisen. 
Zwei  Wege  gab  es  für  diesen  Zweck:  Die  Beob- 
achtung des  allmählichen  Sinkens  des  Aktions- 
stroms und  zweitens  der  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit. Zum  Schluß  werden  die  Bedingungen  der 
Ermüdung  kurz  angegeben,  die  denen  anderer 
Organe  gleich  sind,  woraus  man  schließen  kann, 
daß  auch  die  Vorgänge  der  Ermüdung  in  allen 
verschiedenen  Organen  prinzipiell  ähnlich  sind. 
Es  wurde  nämlich  erstens  beobachtet,  daß  die  bei 
den  Stoffwechselvorgängen  während  der  Arbeit  in 
den  Nerven  abgespaltene  Kohlensäure  hemmend 
wirkt;  und  zweitens,  daß  Sauerstoffmangel  die 
gleiche  Wirkung  hat.  Es  muß  also  bei  nor- 
maler Nervenleitung  Kohlensäure  abtransportiert 
und  Sauerstoff  zugeführt  werden. 

Also  auch  die  peripheren  Nerven  sind  ermüd- 
bar, d.  h.  sie  besitzen  einen  Stoffwechselkreislaul, 
der  bei  starker  Arbeit  einer  gewissen  Zeit  bedarf 
um  abgelaufen  zu  sein.  Aber  diese  Zeit,  in  welcher 
die  abgebaute  Substanz  durch  neuaufgebaute  er- 
setzt wird,    ist  bei  ihnen  so  kurz,  daß  man  unter 


normalen  Verhältnissen  von  einer  praktischen  „Un- 
ermüdbarkeit" sprechen  darf. 

All    dies    setzt   vorliegender  Vortrag  klar    aus- 
einander. Goltwalt  Chr.  Hirsch. 


V'erhandlungen  der  außerordentlichen  Tagung  der 
Deutschen  Vereinigung  für  Krüppelfürsorge, 
E.  V.  (Deutsche  Krüppelhiffe,  Ergänzungs- 
hefte der  Zeitschrift  für  Krüppelfürsorge,  heraus- 
gegeben von  K.  Biesalski  und  H.  Würtz). 
Leipzig  1916,  Leopold  Voß. 
Es  ist  wohl  nicht  nötig,  im  allgemeinen  auf 
die  großen  Aufgaben  hinzuweisen ,  die  dem 
deutschen  Volke  nach  der  siegreichen  Beendigung 
des  Krieges  erwachsen.  Unter  diesen  Aufgaben 
wird  die  Krüppelhilfe  eine  hervorragende  Stellung 
einnehmen,  und  sie  wird  nicht  nur  die  Ärzte- 
schaft, sondern  die  weitesten  Volkskreise  in  An- 
spruch nehmen.  Ein  Hinweis,  was  heute  schon, 
der  hohen  Bedeutung  der  Sache  entsprechend, 
geschieht,  erscheint  darum  auch  an  dieser  Stelle 
zweckmäßig.  Die  Deutsche  Vereinigung  für 
Krüppelfürsorge  besteht  schon  seit  1909.  Die 
Richtlinien  für  ihre  neuen  Aufgaben,  für  die  Kriegs- 
krüppelfürsorge, wurden  vor  etwa  2  Jahren  fest- 
gelegt und  unter  der  Förderung  einflußreicher 
Persönlichkeiten  energisch  in  Angriff  genommen. 
Das  vorliegende  Heft,  ein  stenographischer  Be- 
richt der  außerordentlichen  Tagung  im  Reichstag- 
gebäude am  7.  Februar  1916,  gibt  einen  guten 
Einblick  in  die  bisherige  Tätigkeit  und  die  weiteren 
Ziele.  Der  Inhalt  ist  so  reich,  daß  er  im  Rahmen 
dieses  Hinweises  auch  nicht  annähernd  erschöpft 
werden  kann.  Die  Vorträge  sind  nur  zum  Teil 
von  Ärzten  gehalten;  in  Anbetracht  der  Viel- 
seitigkeit des  Gegenstandes  wenden  sie  sich  an 
jedermann.  Und  jeder,  der  an  der  Hand  dieses 
Berichtes  sich  mit  der  Sache  beschäftigen  wird, 
wird  auch  einen  Weg  finden,  wie  er  selbst  bei 
der  Erfüllung  der  hohen  Aufgaben  mitwirken 
kann.  —  Es  möge  noch  betont  werden,  daß  die 
„Deutsche  Krüppelhilfe"  im  Buchhandel  erhählich 
ist  und  daß  Mitglieder  der  Vereinigung  öffent- 
liche Verbände,  Korporationen,  Vereine  und 
Einzelpersonen  werden  können.  Die  Satzungen 
der  Vereinigung  sind  dem  Bericht  angefügt. 

Hübschmann. 


F.  Thedering,    Das    Quarzlicht    und    seine 
Anwendung     in     der     Medizin.      Olden- 
burg i.  Gr.   1916,  Gerhard  Stalling. 
Diese    Monographie    ist    wohl    nur    für    Ärzte 
geschrieben    und  wird  auch  wohl  nur  diesen  ver- 
ständlich   sein.      Im    ersten    Teil   sind    die    physi- 
kalischen Grundlagen  der  Quecksilber-Quarzlampen 
oder  , .künstlichen  Höhensonnen"   besprochen,   so- 
wie die  allgemein  biologischen  und  physiologischen 
Wirkungen  des  Ouarzlichtes  kurz  zusammengefaßt. 


N.  F.  XVI.  Nr 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


167 


Im  zweiten  reii  bringt  Verf  seine  eigenen  Er- 
fahrungen über  die  Anwendung  der  neuen  Licht- 
behandlung auf  mannigfache  Hautkrankheiten  und 
auch  auf  Allgemeinerkrankungen.  —  Willkommen 
ist  das  ausführliche  Literaturverzeichnis. 

Hübschmann. 


Der  Ameisenlöwe,  Eine  biologische,  tierpsycho- 
logische    und     reflexbiologische    Untersuchung 
von  Dr.  Franz  Doflein.     Mit  10  Tafeln  und 
43  Abbildungen    im   Text.     Jena   1916,    Verlag 
von  Gustav  Fischer.  —  Geh.  9  M. 
Die    moderne    Tierpsychologie    hat    mit    dem 
Standpunkt,     als    ob    allen    Tieren    menschliche 
Empfindungen    und    Gefühle    zukommen    würden, 
gründlich  aufgeräumt.  Ein  Werk  wie  Maeterlink's 
Leben  der  Bienen    ist    eine   wissenschaftliche  Un- 
möglichkeit.     Haben    doch    die    neueren    Unter- 
suchungen ergeben,  daß  die  Bienenkönigin  durch- 
aus   kein    volks- beherrschendes    Wesen,    sondern 
im  Gegenteil    ein    Mitglied    des  Staates    ist,    dem 
sogar  zahlreiche  Fähigkeiten  seiner  Volksgenossen 
abgehen.      Sie    ist    zur    Eierlegemaschine    herab- 
gesunken. 

Die  neueren  Ergebnisse  lassen  sich  kurz  zu- 
sammenfassen. Der  eine  Teil  der  Handlungen 
eines  Tieres  geht  rein  reflektorisch  vor  sich.  Was 
man  als  Instinkt  bezeichnet,  sind  komplizierte 
Reflexe.  Der  andere  Teil  der  Handlungen  wird 
durch  die  Fähigkeit  zu  lernen  ermöglicht.  Während 
die  reflektorischen  Vorgänge  starr  und  unver- 
änderlich sind,  gewährleisten  die  mnemischen 
Leistungen  dem  Tier  eine  gewisse  Regulierbarkeit 
der  Handlungen ,  eine  Anpassungsfähigkeit  des 
Individuums  an  die  wechselnde  Umgebung.  Die 
Fähigkeit  zu  lernen,  und  sich  die  Bedingungen 
der  Außenwelt  unterzuordnen,  ist  bei  den  höheren 
Tieren  verschieden  entwickelt;  das  Höchstmaß 
wird  dort  erreicht,  wo  das  Individuum  die  re- 
flektorischen Vorgänge  bemeistert,  die  Reize  der 
Außenwelt  in  Assoziationen,  Gedankengängen  und 
logischen  Verknüpfungen  verarbeitet ,  wo  nicht 
nur  örtlich,  sondern  auch  zeitlich  verschiedene 
Eindrücke  dem  immer  reicher  werdenden  Ge- 
dächtnisschatz einverleibt  werden.  Umgekehrt 
steht  ein  Tier  auf  einer  ganz  niederen  Stufe 
psychischer  Fähigkeiten,  wenn  kaum  von  einer 
Lernfähigkeit  gesprochen  werden  kann,  während 
die  reflektorischen  Vorgänge  sein  Leben  und 
Treiben  beherrschen. 

Bisher  sind  nur  wenige  Tiere  nach  dieser 
Richtung  hin  monographisch  bearbeitet  worden. 
Das  Buch  von  H.  von  Buttel-Reepen  über 
Leben  und  Wesen  der  Biene  hat  mit  einer  großen 
Zahl  von  Reflexen  und  mnemischen  Handlungen 
der  verschiedenen  Stockinsassen  bekannt  ge- 
macht. Hier  liegen  die  Verhältnisse  aber  außer- 
ordentlich schwierig.  Die  Biene  ist  nicht  an  den 
Ort  gebunden  und  erschwert  dadurch  die  Be- 
obachtung. Sie  hat  aber  außerdem  einen  Reichtum 
von  psychischen  Fähigkeiten  aufzuweisen,  der  der 


übergroßen  Mehrzahl  der  anderen  Insekten  abgeht. 
Wesentlich  günstiger  gestaltet  sich  die  wissen- 
schaftliche Untersuchung  an  Tieren,  die  wegen 
ihrer  beschränkten  Beweglichkeit  beinahe  als  fest- 
sitzend betrachtet  werden  können.  Sie  unter- 
stehen der  ständigen  Kontrolle.  Als  ein  außer- 
ordentlich günstiges  Objekt  hat  sich  hier  die  Larve 
des  Ameisenlöwen  erwiesen. 

Man  findet  Ameisenlöwen  meist  an  sonnigen 
Waldrändern,  wo  sie  in  der  Tiefe  eines  in  feiner 
Erde  oder  Sand  eingesenkten  Trichters  auf  Beute 
lauern.  Während  nämlich  den  meisten  seßhaften 
Tieren  in  genügendem  Maße  Nahrung  zur  Ver- 
fügung steht,  ist  der  Ameisenlöwe  gezwungen, 
sich  selbst  zu  versorgen.  Er  lebt  von  den  Insekten, 
die  der  Zufall  ihm  in  seine  Falle  spielt.  Eine 
Menge  von  Lebensschwierigkeiten,  die  ihm  die 
Außenwelt  bereitet,  hat  er  durch  diese  spezielle 
Art,  sich  Nahrung  zu  verschaffen,  zu  überwinden. 
Er  wird  ihrer  Herr  durch  die  Eigenart  seiner 
psychischen   Verfassung. 

Seit  Rösel  von  Rosenhof,  also  seit  etwa 
150  Jahren  ist  der  Ameisenlöwe  das  Schulbeispiel 
von  Ausdauer  und  Schlauheit.  Diese  wesent- 
lichen Eigenschaften  sollen  ihm  ersetzen,  was  ihm 
durch  den  Mangel  anderer  Naturanlagen  versagt  ist. 

In  seinem  ausgezeichneten  Buch :  Der  Ameisen- 
löwe zerstört  Doflein  dieses  alte  Märchen,  das 
der  Larve  höchste  psychische  Fähigkeiten  an- 
dichtet. Seine  Untersuchung  führt  ihn  dazu  den 
Ameisenlöwen  geradezu  als  Reflexautomaten  zu 
bezeichnen.  Trotz  der  jahrelangen  Beobachtungen 
hat  Doflein  kaum  Anklänge  an  mnemische 
Fähigkeiten  feststellen  können.  Alle  komplizierten 
Handlungen  des  Trichterbaues,  des  Ameisenfanges, 
die  Bewegungen  beim  Umdrehen,  beim  Einbohren 
in  den  Sand,  bei  der  Ortsveränderung  sind  auf 
ganz  einfache  Reflexe  zurückzuführen. 

Die  eingehende  Untersuchung  der  körperlichen 
Verhältnisse  des  Ameisenlöwen  ergibt,  daß  das 
Tier  in  engster,  einseitigster  Weise  an  das  Leben 
im  Sand  und  an  die  Art  der  Nahrungserwerbung 
angepaßt  ist.  Die  äußere  Form  des  Kopfes,  Halses 
und  Rumpfes,  die  Zuspitzung  des  Hinterleibes,  der 
Bau  und  die  Einlenknng  der  Beine  und  vor  allem 
die  Menge  der  in  zweckmäßigster  Weise  ange- 
ordneten Borsten  bedingen  die  Art  der  Bewegungen 
des  Tieres.  Was  an  allen  anderen  Orten  unter 
allen  anderen  Bedingungen  der  Umgebung  den 
Ameisenlöwen  zu  einem  hilflosen  Geschöpf  macht, 
das  gibt  ihm  im  lockeren  Sand  eine  vollkommene 
Überlegenheit  über  andere  Tiere. 

So  innig  die  körperliche  Abhängigkeit  des 
Tieres  von  seiner  Umgebung  ist,  so  eng  ist  der 
Zusammenhang  zwischen  den  morphologischen 
Eigenschaften  und  den  Reflexen.  Nur  so  ist  es 
■dem  Tier  möglich,  seine  Hauptlebensfunktionen 
zu  erfüllen,  noch  dazu  mit  einer  geradezu  staunens- 
werten Armut  an  Reflexen. 

Sobald  die  Larve  die  Eihülle  verläßt,  sucht  sie 
eine  geeignete  Stelle  für  den  Trichter  aus.  Die 
Reaktion     auf    das    einfallende    Licht     und     den 


i68 


Natur wisseiischaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Wechsel  der  Wärme,  sowie  die  auf  den  iastsinn 
wirkenden  Reize  bestimmen  die  Auswahl  des 
Ortes.  Phototaxis,  Thermotaxis  und  Thigmo- 
taxis  beherrschen  das  Tier.  Nun  beginnt  der 
Trichterbau.  Hier  spielt  der  Einbohrreflex  die 
ausschlaggebende  Rolle.  Taktile  Reize  der  Unter- 
seite des  Abdomens  lösen  wiederholte  zuckende 
Bewegungen  der  Hinterleibsspitze  aus,  und  der 
Körper  gleitet  nach  rückwärts  in  den  Sand  hinein. 
Kaum  beginnt  der  Kopf  in  ihn  einzutauchen,  so 
daß  sich  einige  Sandkörner  auf  seiner  Oberfläche 
ansammeln,  so  schnappt  der  Kopf  mit  dem  Hals 
und  den  ersten  Brustsegmenten  nach  rückwärts: 
Der  Tastreiz  erzeugt  den  Schleuderreflex.  Solche 
Schleuderbewegungen  erfolgen  schnell  und  ruck- 
weise aufeinander  nach  verschiedenen  Richtungen 
hin.  Alle  Sandkörnchen,  die  den  Kopf  berühren, 
werden  weggeschaufelt  und  der  entstehende 
Trichter  wird  tiefer  und  tiefer,  wobei  das  Tier 
selbst  einsinkt.  Ist  der  von  der  Größe  des  Tieres 
abhängige  Trichterumfang  erreicht,  so  bleibt  dieses 
ruhig  am  Grunde  sitzen,  Augen  und  Fühler  aus 
dem  Sand  hervorstreckend.  Wenn  Sand  herab- 
rieselt, so  wird  er  hinausgeschleudert,  gleitet  aber 
ein  Beutetier  in  die  Falle,  so  tritt  ein  neuer  Reflex, 
der  Schnappreflex,  in  Tätigkeit.  Er  wird  aus- 
gelöst, wenn  die  Mundgliedmaßen  und  die  vorderen 
Regionen  des  Kopfes  berührt  werden  und  kann 
für  sich  oder  in  Verbindung  mit  dem  Schlcuder- 
reflex  erfolgen.  Die  Beute  wird  mit  den  Mandibeln 
ergriffen  und  ausgesaugt  in  der  gleichen  Weise, 
wie  dies  von  den  Larven  der  Leuchtkäfer  oder 
von  Dytiscus  bekannt  ist.  Die  unverdaulichen 
Reste  nach  der  Mahlzeit  werden  aus  dem  Trichter 
herausgeschleudert. 

Außer  den  geschilderten  Reflexen  läßt  sich 
wohl  noch  eine  Reihe  anderer  feststellen,  man 
kann  sie  aber  alle  auf  diese  drei  zurückführen. 
Einbohrreflex,  Schleuderreflex  und  Schnappreflex 
beherrschen  also  die  Lebenserscheinungen  des 
Ameisenlöwen. 

Hat  der  Ameisenlöwe  bei  seinen  anfänglichen 
Suchbewegungen  keinen  für  seinen  Trichter  ge- 
eigneten Platz  gefunden,  an  dem  auch  Ameisen 
vorhanden  sind,  so  verläßt  er  seinen  Trichter  und 
wandert  ruhelos,  um  in  neuer  Umgebung  einen 
neuen  Trichter  zu  bauen  und  dort  auf  Beute  zu 
lauern.  Diese  Wanderungen  erstrecken  sich  aber 
kaum  über  weite  Entfernungen,  denn  schon  das 
Imago  hat,  dem  Triebe  aller  Insektenmütter 
folgend ,  bei  der  Eiablage  den  geeigneten  Platz 
gewählt. 


Alle  Bewegungen,  alle  Handlungen  vom  Ver- 
lassen des  Eies  an  bis  zur  Verpuppung  verlaufen 
also  gesetzmäßig.  Der  Ameisenlöwe  ist  tatsächlich 
ein  echter  Reflexautomat.  Keine  Handlung,  kein 
Vorgang  deutet  auf  eine  höhere  psychische  Fähig- 
keit hin,  nicht  einmal  komplizierte  Instinkte 
konnte  Doflein  ausfindig  machen.  Damit 
stimmt  auch  der  primitive  Bau  des  Xerven- 
systemes  und  des  Gehirnes  überein. 

So  klar  und  sicher  die  Reflexe  ablaufen,  wenn 
das  Tier  normale  Verhältnisse  findet,  so  gefährlich 
wird  die  Lage  unter  ungewohnten  Bedingungen. 
Als  ausgeprägter  Lebensspezialist,  der  nur  mit 
ererbten  Fähigkeiten  operiert  und  nichts  dazu 
lernen  kann,  muß  das  Tier  dann  unrettbar  zu- 
grunde gehen. 

Schon  aus  dem  Wenigen,  was  hier  mitgeteilt 
werden  konnte,  geht  hervor,  welch  wesentlichen 
Fortschritt  das  Doflein 'sehe  Buch  bedeutet. 
lO  Tafeln  und  43  Textabbildungen  erläutern  den 
Inhalt.  Slellwaag. 


Literatur. 

Leidecker,  C,  Im  Lande  des  Paradiesvogels.  Ernste 
und  heitere  Erzählungen  aus  Deutsch-Neuguinea.     Leipzig  '16, 

F.  Haberland.  —  3  M. 

Stempel,  Prof.  Dr.  W.  und  Koch,  Dr.  A.,  Elemente 
der  Tierphysiologie.  Ein  Hilfsbuch  für  Vorlesungen  und 
praktische  Übungen  an  Universitäten  und  höheren  Schulen 
sowie  zum  Selbststudium.    Mit  360  Textabbildungen.    Jena '16, 

G.  Fischer.  —   16  M. 

Winter,  D.  F.  W.,  Aufklärung  zur  Pilzernte.  Tafel. 
Frankfurt  a.  M.,  Werner  und  Winter. 

Kultur  der  Gegenwart.  Physiologie  und  Ökologie.  1.:  Bo- 
tanischer Teil.  Unter  Redaktion  von  G.  Haberlandt  bearbeitet 
von  Fr.  Czapek,  II.  v.  Guttenberg  und  E.  Baur.  Mit  119  Te.\t- 
abbildungen.     Leipzig  und  Berlin  '17,  B.  G.  Teubner. 

D  a  n  e  e  1 ,  Dr.  H.,  Elektrochemie.  I. :  Theoretische  Elektro- 
chemie und  ihre  physikalisch- chemischen  Grundlagen.  Mit 
16  Figuren.  3.  Aufl.  Berlin  und  Leipzig  16,  J.  Göschenschc 
Vcrlagshandlung.  —   IM. 

Henning,  H.  Privatdozent  Dr.,  Der  Geruch.  Leipzig'i6, 
J.  A.  Barth.   —   15   M. 

Schaffer,  Prof.  Dr.  Fr.  X.,  Grundzüge  der  allgemeinen 
Geologie.     Mit   i   Farbcndrucktafel  und  480  Textabbildungen. 


■ipzig 


Wien  '16,   F.  Deuticke 


17   M. 


Rabenhorst's,  Kryptogamen- Flora.  6.  Band;  Die 
Lebermoose.  Mit  vielen  Textabbildungen  von  Dr.  K.  Müller. 
2S.  Lieferung  (Schlußheft).     Leipzig  '16,  E.  Kummer.  —  4M. 

Hegi,  Prof.  Dr.  G.,  Illustrierte  Flora  von  Mittel-Europa. 
VI.  Band,  9.  Lieferung.    München,  J.  F.  Lehmann.  —   1,50  M. 

Th  orbecke,  F.,  Im  Hochland  von  Mittelkamerun, 
2.  Teil.  Mit  37  Abbildungen  und  2  Kartenskizzen.  Hamburg 
'16,  L.   Friedrichsen  u.  Co.   —  6  M. 


Inhalt a  O.  Taschenberg,  Einige  Betrachtungen  über  die  Begriffe  Parasit,  Raubtier  und  Pflanzenräuber.  S.  153. 
Werner  Mecklenburg,  Siliciumchemie  und  Kohlenstoftchemie.  S.  163.  —  Bücherbesprechungen:  Ludwig 
Haberland,  Über  Stoffwechsel  und  Ermüdbarkeit  der  peripheren  Nerven.  S.  166.  K.  Biesalski  und  H.  Würtz, 
Verhandlungen  der  außerordentlichen  Tagung  der  Deutschen  Vereinigung  für  Krüppelfürsorge,  E.^V.  S.  166. 
F.  Thedering,    Das  Quarzlicht    und    seine    Anwendung    in    der    Medizin.    S.   166.     "  ^     -    • 

löwc.  S.    167.  —  Literatur:  Liste  S.    16S. 


inz  Dofl 


.\meisen- 


Manuskripte  und  Zuschriften 
Druck  d 


den  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42, 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
G.  Pätz'schen  Buchdr.  I.ippert  S:  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


rbeten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  i.  April  1917. 


Nummer  13. 


Einige  Betrachtungen  über  die  Begriffe  Parasit,  Raubtier 
und  Pflanzenräuber. 


(Nachdruck  vcrbutcu.]  Von    Prof.    Dr. 

Bei  der  imponierenden  Harmonie,  die  das  All 
durchdringt  und  die  sich  auch  in  dem  unentwirr- 
baren Getriebe  der  Lebewesen  geltend  macht,  ist 
das  Einzelwesen  an  sich  gar  nicht  denkbar  und 
kann  nur  als  winziges  Glied  einer  großen  Gemein- 
schaft, in  der  alles  in  gegenseitiger  Abhängigkeit 
steht,  beurteilt  und  verstanden  werden.  Diese  Ab- 
hängigkeit ist  nicht  nur  bedingt  durch  die  innere 
Beschaffenheit  d.  h.  durch  die  Organisation  jeder 
Art,  sondern  ebenso  von  den  äußeren  Lebensver- 
hältnissen, von  der  umgebenden  Natur,  von  der 
anorganischen  sowohl  wie  von  den  zahllosen 
Mitgeschöpfen,  die  alle  von  dem  einen  Triebe 
beherrscht  werden:  zu  leben.  Darum  kann  man 
die  Gesamtheit  der  Geschöpfe,  die  unsere  Erd- 
oberfläche bevölkern,  als  eine  große  Lebens- 
gemeinschaft ansehen,  die  zwar  in  Abhängigkeit 
von  der  geographischen  Verteilung  je  ein  anderes 
Bild  zeigt,  aber  im  großen  und  ganzen  sich  durch 
lange  Zeiträume  im  Gleichgewicht  erhält,  besonders 
wenn  „der  kleine  Gott  der  Welt"  seine  Hand  dabei 
aus  dem  Spiele  läßt.  Solche  Lebensgemeinschaften 
oder  Biozönosen,  wie  sie  die  neuere  Wissen- 
schaft genannt  hat,  nehmen  einen  anderen  Charakter 
an,  je  nachdem  sie  zwischen  Mitgliedern  einer 
Art  Zustandekommen  und  dann  zu  dem  führen, 
was  man  in  Analogie  mit  menschlichen  Verhält- 
nissen, als  Ehe,  Familie,  Herde,  Staat  bezeichnen 
kann  —  das  gemeinsame  Band  ist  hier  in  der 
Erhaltung  der  Art,  also  in  letzter  Instanz  in  der 
Ausübung  des  Geschlechtstriebes  zu  erkennen  — 
oder  sich  aus  verschiedenen  Arten  zusammensetzen, 
die  der  Selbsterhaltungstrieb  zusammenführt.  Es 
erscheint  hier  im  großen  Rahmen  für  die  Allgemein- 
heit dasselbe  Antlitz,  mit  dem  uns  das  menschliche 
Leben  von  altersher  anblickt: 

„Warum  treibt  sich  das  Volk  so  und  schreit  ?    Es 
will  sich  ernähren, 
Kinder    zeugen    und    die    nähren,    so   gut    es 
vermag. 
Merke  dir,  Reisender,  das  und  tue  zu  Hause  des- 
gleichen! 
Weiter  bringt  es  kein  Mensch,  stell'    er  sich, 
wie  er  auch  will". 

Im  Zusammenhange  mit  unserem  Thema  gehen 
uns  hier  nur  die  Vergesellschaftungen  zwischen 
Mitgliedern  verschiedener  Arten  an,  wobei  nicht 
nur  Tiere  und  Pflanzen  je  untereinander,  sondern 
auch  Vertreter  beider  organischer  Reiche  in  Frage 
kommen  können.  Man  kann,  ohne  dem  Begriffe 
Gewalt  anzutun,  auf  diese  Art  von  Lebensgemein- 
schaft   das    ursprünglich    in    viel    beschränkterem 


O.  Taschenberg.  (Schluß.) 

Sinne  gebrauchte  Wort  Symbiose^)  anwenden 
das  schon  durch  seine  Bedeutung  „Zusammen 
leben"  den  weiten  Umfang  andeutet,  in  dem  es 
gebraucht  werden  kann  und  die  bequeme  Ablei 
tung  Symbionten  für  die  Beteiligten  zuläßt 
Aber  eben  wegen  dieser  großen  Dehnbarkeit  des 
Begriffes  der  Symbiose  werden  weitere  Unterab 
teilungen  nötig.  Da  das  Zusammenleben  zweier 
verschiedener  Tierarten  ein  mehr  oder  weniger 
zufälliges,  ihre  Existenzfähigkeit  nicht  direkt  be- 
dingendes sein,  andererseits  aber  sich  zu  einem 
Verhältnis  ausbilden  kann,  bei  dem  der  eine  der 
Symbionten  notwendig  auf  den  anderen  angewiesen 
ist  oder  bei  dem  beide  einander  gegenseitig  be- 
dürfen, so  liegt  es  nahe,  von  Symbiose  mit  ein- 
seitiger und  solcher  mit  gegenseitiger  An- 
passung zu  reden,  und  dann  dürfte  es  nicht 
schwer  fallen,  dem  Parasitismus  seinen  richtigen 
Platz  innerhalb  dieser  Lebensgemeinschaften  an- 
zuweisen. Denn  daß  er  eine  bymbiose  darstellt, 
muß  selbstverständlich  erscheinen.  Jemand,  der 
bei  einem  anderen  „Nahrung  und  Wohnung  tindet", 
ist  eben  ohne  den  anderen  nicht  denkbar;  der 
„andere"  aber  hat  nicht  nur  kein  Interesse  daran, 
den  Wirt  zu  spielen,  sondern  wird  von  seinen 
ungebetenen  Gasten  sogar  benachteiligt,  zuweilen 
in  so  hohem  Grade,  daß  er  unter  dieser  „PVeund- 
schafi"  zugrunde  geht;  die  Anpassung  ist  also  eine 
sehr  einseitige.  Da  bei  dem  Verhältnis  zwischen 
Beutetier  und  Raubtier  der  Vorteil  genau  so  ein- 
seitig und  die  Lage  für  ersteres  insoiern  noch  viel 
bedenklicher  ist,  weil  es  von  vornherein  im  Kampfe 
zu  unterliegen  pflegt,  so  hatte  es  seine  Schwierig- 
keiten, zwischen  beiden  Lebensweisen  eine  scharte 
Grenze  zu  ziehen.  Vom  Gesichtspunkte  der  Ver- 
gesellschaftung aus  ist  es  leichter;  denn  das  Beute- 
tier wird  sich  hüten,  mit  einem  ausgesprochenen 
l*"einde  ein  Bündnis  einzugehen,  und  das  Raubtier 
kann  nur  bei  seinesgleichen,  aber  auch  da  keines- 
wegs   immer    auf    Freundschaft    rechnen.      Wenn 


')  Kraepelin  (Die  Beziehungeu  der  Tiere  und  Pflanzen 
zueinander,  2.  Aufl.,  Leipzig  1913,  TeubnerJ  gebraucht  den 
Namen  Symbiose  nur  lür  ein  Zusammenleben  mit  gegen- 
seitiger Anpassung,  im  Sinne  von  iMutualismus ,  und 
nennt  das,  was  hier  als  Symbiose  bezeichnet  ist,  Synökie  im 
weiteren  Sinne,  der  mithm  ein  solche  im  engeren  Sinne  unter- 
geordnet ist.  Namen  tun  hier  nichts  zur  Sache,  die  Auf- 
lassung der  Verhältnisse  ist  in  beiden  Fällen  die  gleiche. 
B.emerljenswert  ist  übrigens,  daß  gerade  derjenige  Fall  von 
Genossenschaft,  für  den  zu  allererst  von  de  Bary  der  Name 
Symbiose  in  Anwendung  gebracht  ist,  von  den  Botanikern 
der  heutigen  Zeit,  nicht  mehr  in  diesem  Sinne  aufgefaül, 
nämlich  die  Vereinigung  gewisser  Pilze  mit  Algen  zu  den 
F'lechten,  sondern  als  He  1  o tis m us ,  d.  h.  eine  Art  von 
„Sklaverei",    in  der   sich  die   Alge   seitens  des  Pilzes  befindet. 


170 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   13 


wir  also  außer  dem  Parasitismus  noch  andere 
Formen  von  Symbiose  zu  erwarten  haben,  so 
müssen  sie  auf  weniger  einseitigen,  wenigstens  auf 
solchen  Neigungen  beruhen,  die  mit  denen  des 
Partners  nicht  direkt  kollidieren.  Tatsächlich  sind 
die  Motive  zu  einem  für  beide  Teile  erträglichen 
Zusammenleben  so  zahlreich,  die  damit  verbundenen 
Vorteile  für  einen  oder  für  alle  beide  so  ver- 
lockend, daß  wir  in  sehr  passender  Weise  mit  Karl 
Kraepelin')  drei  große  Gruppen  von  Symbionten 
unterscheiden  können:  Epöken,  Synöken  und 
Paröken.  Wenn  ein  Gast  auf  oder  in  dem 
Körper  seines  Wirtes  lebt,  erscheint  er  als  Epök; 
wenn  er  nur  die  Wohnung  desselben  mitbenutzt, 
als  Synök  und  wenn  er  sich  gar  nur  in  der 
Nähe  des  ihm  sympathischen  Wesens  aufhält,  als 
Parök.  Mag  nun  die  räumliche  Vereinigung  so 
oder  so,  enger  oder  weniger  eng  stattfinden,  eine 
besondere  Stellung  nimmt  der  Gast  dann  ein, 
wenn  er  bei  diesem  Zusammenwohnen  auch  noch 
einen  gewissen  Anteil  an  der  Nahrung  seines 
Wirtes  erhält.  Solche  Mitbewohner  heißen  dann 
Mitesser;  der  Kommensalismus  ist  mithin  nur 
eine  besondere  Form  der  Symbiose  mit  einseitiger 
Anpassung.  Damit  sind  wir  an  dem  Punkte  an- 
gelangt, von  dem  wir  im  Zusammenhange  mit 
dem  Einmieten  ausgingen.  Jetzt  werden  wir  aber 
hoffentlich  etwas  besser  darüber  Bescheid  wissen, 
warum  man  nicht  berechtigt  ist,  aus  dem  Zu- 
sammenleben zweier  verschiedener  Organismen 
ohne  weiteres  auf  das  Verhältnis  von  Parasit  und 
Wirt  zu  schließen.  Das  Kriterium  dafür  bildet 
immer  erst  der  Nachweis,  daß  der  Gast  seine 
Nahrung  dem  „Fleische  und  Blute"  seines  Wirtes 
entnimmt.  Daß  dieser  immer  leicht  zu  führen 
sei,  soll  keineswegs  behauptet  werden.  Daher 
sind  auch  heute  noch  in  manchen  Fragen  auf 
diesem  Gebiete  die  Ansichten  der  Fachleute  ge- 
teilt, ganz  abgesehen  davon,  daß  man  in  gewissen 
Fällen  darüber  streiten  könnte,  ob  ein  Nährstoff 
des  Symbionten  noch  mit  Recht  als  integrierender 
Teil  eines  lebenden  Organismus  angesprochen 
werden  darf;  darüber  später  noch  einige  Worte. 
Auf  die  mannigfachen  und  sehr  interessanten 
Fälle  der  hier  angedeuteten  Verhältnisse  genauer 
einzugehen,  liegt  nicht  in  der  Absicht  dieser  Dar- 
legungen. Nur  einige  Bemerkungen  zum  näheren 
Verständnis  des  Gesagten  erscheinen  unerläßlich. 
Es  ist  hervorgehoben,  daß  neben  dem  Nahrungs- 
bedürfnis auch  noch  andere  Motive  zur  Symbiose 
hinführen.  Unter  diesen  spielen  der  Wunsch  nach 
persönlichem  Schutze,  nach  Sicherung  der  hilfs- 
bedürftigen Brut  und  nicht  an  letzter  Stelle  die 
Notwendigkeit,  irgendwo  in  der  Welt  „festen  Fuß  zu 
fassen"u.dgl.,einehervorragendeRolle.  Was  letzteren 
Punkt  anlangt,  so  muß  daran  erinnert  werden,  daß 
außer  festsitzenden  Parasiten  auch  noch  eine 
nicht  geringe  Zahl  von  anderen  Tieren  eine 
festsitzende  Lebensweise  führt,  zu  der  sie  aller- 
dings in  der  Regel  erst  nach  einer  Zeit  des  freien 


')  In  dem  oben  bereits  zitierten  Werkchen. 


Herumschwärmens  sich  anschicken.  Solche  Tiere 
finden  ihre  Lebensbedingungen  fast  ausschließlich 
im  Wasser,  denn,  weil  sie  nicht  wie  die  Pflanze  ihre 
Nahrung  dem  Erdboden  und  der  Atmosphäre  zu 
entnehmen  vermögen,  im  festsitzenden  Zustande 
aber  unmöglich  auf  die  Nahrungssuche  „ausgehen" 
können  —  darum  ist  die  freie  Ortsbewegung  im 
allgemeinen  ein  Hauptcharakter  des  Tieres  — ,  so 
bleibt  ihnen,  da  Parasiten  hier  nicht  in  Frage 
kommen,  nichts  weiter  übrig,  als  es  so  zu  machen, 
wie  der  Junge  im  Märchen,  der  sich  die  gebratenen 
Tauben  ins  offene  Maul  fliegen  läßt,  d.  h.  auf  die 
nüchterne  Wirklichkeit  reduziert:  sie  sind  auf  das 
angewiesen,  was  ihnen  von  außen  zugetragen  wird, 
und  die  Rolle  des  Zuträgers  kann  eben  nur  das 
flüssige  und  fließende  Medium,  das  Wasser,  über- 
nehmen. Daher  finden  wir  festsitzende,  nicht 
parasitische  Tiere  sowohl  im  Süßwasser  als  auch, 
und  zwar  noch  unendlich  viel  zahlreicher,  in  den 
weiten  und  tiefen  Gründen  des  Meeres,  der  Ge- 
burtsstätte alles  Lebens.  Da  handelt  es  sich  nun 
zuerst  darum,  eine  Stätte  zu  finden,  wo  ein  solches 
Tier  festen  Fuß  faßt.  Dazu  bieten  sich  mannig- 
fache Gelegenheiten  und  beim  Ergreifen  irgend- 
einer solchen  dürfte  häufig  der  „Zufall"  den  Aus- 
schlag geben.  Der  Untergrund  des  Wassers,  der 
Stein,  der  darin  liegt,  der  Rand  des  Ufers,  die 
Klippe  des  Meeres,  die  Wand  eines  Schiffes,  ein 
treibendes  Stück  Holz  usw.  usw.,  aber  ebensogut 
auch  eine  Pflanze  oder  ein  anderes  Tier,  vor  allem 
ein  Weichtier  mit  fester  Schale,  ein  Krebs  mit 
derbem  Chitinpanzer,  aber  auch  die  Haut  des 
Fisches,  des  Wales,  kurz  alles,  was  einen  Halt 
bietet,  und  daß  dazu  auch  lebende  Organismen 
gehören,  ist  der  brennende  Punkt  in  dem  uns  hier 
interessierenden  Zusammenhange ;  denn  der  lebende 
und  besonders  der  sich  einer  treien  Ortsbewegung 
erfreuende  Organismus  gibt  wieder  neue  Gelegen- 
heit zur  Anknüpfung  von  mancherlei  intimeren 
Beziehungen.  In  der  Seßhaftigkeit  vieler  Tiere 
haben  wir  also  den  Schlüssel  zum  Verständnis  des 
Zusammenltbens  verschiedener  Arten.  Der  lebende 
Träger  bietet  nicht  nur  den  festen  Stützpunkt, 
durch  den  er  zum  „Wohntiere"  für  andere  wird, 
sondern  vielfach  auch  Schutz  vor  feindlichen  Ele- 
menten, Gelegenheit,  hier  und  da  einen  Bissen 
aufzuschnappen,  der  von  des  Wirtes  Mahle  abfällt, 
in  nahrungsreichere  Regionen  versetzt  zu  werden, 
das  Atmungswasser  häufiger  zu  wechseln  usw.  — 
alles  Vorteile,  die  den  einen  der  Symbionten 
wesentlich  fördern,  ohne  daß  für  den  anderen 
Nachteile  damit  verbunden  zu  sein  brauchen.  Man 
versteht,  wie  die  mannigfaltigsten  Beziehungen 
zwischen  beiden  zustande  kommen  können,  wie 
sich  ein  Kommensalismus  ausbildet,  wie  der  Epöke 
durch  Benutzung  freier  Zugänge  von  der  Ober- 
fläche seines  Wirtes  in  dessen  Inneres  (Kiemen, 
Mantelhöhle,  Rachen  oder  auch  in  die  entgegen- 
gesetzte Öffnung  des  Nahrungsrohres)  eindringt, 
wie  er  sich  nicht  bloß  an  seiner  Haut  anklammert, 
sondern  auch  tiefer  in  sie  eingräbt,  wie  er  aber 
auch  den  eigentlichen  Körper  seines  Trägers  ver- 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


171 


lassen  und  nur  dessen  Wohnung  (Muschel-  und 
Schneckenschalen,  Wurmröhren)  mit  benutzen, 
mithin  vom  Epöken  zum  Synöken  und  schließlich, 
wenn  es  sich  z.  B.  nicht  um  Einzeltiere,  sondern 
um  Tierstöcke  (Korallenriffe)  handelt,  auch  zum 
Paröken  werden  kann;  man  begreift  aber  auch, 
wie  sich  aus  einem  solchen  Zusammenleben  für 
den  anderen  Teil  Vorteile  herausstellen  können, 
Vorteile,  die  für  jeden  unentbehrlich  werden  und 
zu  einem  dauernden  und  ganz  intimen  Freund- 
schaftsbündnisführen, wie  sich  mit  anderen  Worten 
eine  Symbiose  mit  gegenseitiger  Anpassung,  die 
Symbiose  im  engsten  Sinne,  oder  der  Mutualis- 
mus  entwickelt. 

Es  braucht  wohl  nicht  bezweifelt  zu  werden, 
daß  solche  Erwägungen  nicht  bloß  theoretischer 
Natur  sind,  sondern  daß  man  zu  der  Annahme 
berechiigt  ist,  daß  in  dieser  Weise  die  mannig- 
fachen Formen  des  Zusammenlebens  verschiedener 
Tierarten  wirklich  zustande  gekommen  sind  und 
auch  noch  weiter  zustande  kommen  können. 
Ebensowenig  aber  kann  bestritten  werden,  daß  in 
der  Synökie  im  weiteren  Sinne  Kraepelin's  die 
Basis  tür  gewisse  Fälle  des  Parasitismus  zu  erkennen 
ist  und  daß  speziell  der  Kommensalismus  dem 
letzteren  so  ähnlich  ist  wie  ein  Ei  dem  anderen, 
ein  Vergleich,  der  bekanntlich  nur  dazu  dient, 
gewisse  Verschiedenheiten  bei  scheinbarer  Gleich- 
heit aufzudecken.  Dasselbe  Ziel  wird  oft  auf  ver- 
schiedenen Wegen  erreicht:  der  Parasitismus  kann 
ebensogut  als  abgeschwächtes  Raubsystem  wie 
als  gesteigerte  Tischgenossenschaft  erscheinen,  der 
Parasit  im  ersten  Falle  einem  heruntergekommenen 
Raubritter,  im  anderen  einem  frechen  Mitesser  ver- 
glichen werden.  Es  ist  darum  nur  zu  leicht  ver- 
ständlich, driß  man  früher  beiderlei  Lebensformen 
miteinander  verwechselte  und  erst  verhältnismäßig 
spät  unterscheiden  lernte.  Das  soll  noch  an 
einigen  Beispielen  erläutert  werden. 

Der  in  der  Mantelhöhle  von  Muscheln  unserer 
deutschen  Meere,  besonders  regelmäßig  von 
Cypridina  islandica  lebende  Schnur  wurm 
(Nemertine),  Malacobdella  grossa,  ein  3 — 4cm  langes, 
ziemlich  breites  Tier,  galt  lange  Zeit  als  typischer 
Parasit  und  schien  nicht  nur  durch  diesen  Aufenthalts- 
ort, sondern  auch  durch  den  an  seinem  hinteren 
Körperende  befindlichen  großen  Saugnapf,  dessent- 
wegen man  ihn  früherden  Blutegeln  zurechnete,  als 
solcher  gekennzeichnet  zu  sein,  vergreift  sich  aber 
nie  an  den  Geweben  der  Muschel ,  sondern  lebt 
lediglich  von  den  Diatomeen,  anderen  kleinen  Algen 
und  Krebschen,  die  die  Muschel  ebenfalls  genießt 
und  dem  umgebenden  Wasser,  das  von  ihr  herbei- 
gestrudelt, ständig  durch  die  Mantelhöhle  zirkuliert, 
entnimmt.  Unser  Wurm  erweist  sich  somit  im 
wirklichen  Sinne  des  Wortes  als  ein  Mitesser,  dem 
die  Erreichung  seines  Zwecks  durch  den  gewählten 
Aufenthaltsort  sehr  bequem  gemacht  wird.  Ein 
noch  etwas  intimeres,  höchst  originelles  Verhältnis 
hat  sich  zwischen  einem  sehr  eigenartigen  scheiben- 
förmigen, in  seiner  systematischen  Stellung  lange 
Zeit  unsicheren  und  jetztden  Anneliden  zugezählten 


Wurme,  Myzostoma  geheißen,  und  einem  im 
Mittelmeere  häufigen  Haarsterne  (Comatula  medi- 
terranea,  nach  neuerer  Nomenkiaiur:  Aniedon 
bifida)  herausgebildet.  Der  Wurm  krallt  sich  mit 
Hilfe  seiner  Fußhaken  in  der  Umgebung  des 
Mundes  seines  Wirtes  derart  ein,  daß  sein  Rüssel 
direkt  in  den  ersteren  hineinreicht  und  so  unmittel- 
bar an  den  aus  den  zehn  Armen  des  Haarsterns 
hier  zusammenmündenden  Nahrungsströmen  abzu- 
schöpfen vermag.  Da  der  Wirt  gar  nicht  selten 
mehrere  solcher  liebenswürdigen  Gäste  auf  einmal 
zu  Tische  hat,  so  wird  er  immerhin  ziemlich  stark 
ausgenutzt  und  benachteiligt,  so  daß  man  einer 
Definition  der  Synöken  als  „Tieren,  welche  mit 
anderen  Arten  in  enger  Gemeinschaft  leben,  ohne 
jenen  zu  sc had e n ,  sich  selberaberzum Nutzen" 
nicht  vollkommen  beipflichten  möchte.  Man  hat 
Tiere,  die  bei  anderen  Organismen  nur  Unter- 
kunft finden,  ohne  ii'gendwelchen  Anspruch  auf 
Ernährung  zu  erheben,  vielfach  als  Raumpara- 
siten bezeichnet  und  diesen  Ausdruck  zuerst  auf 
gewisse  Rädertierchen  angewandt,  die  sich  dauernd 
in  den  sog.  Wasserschläuchen  von  Lebermoosen 
einnisten.  Meines  Erachtens  ist  diese  Bezeichnung 
durchaus  unstatthaft;  denn  sie  ist  eine  Art  von 
contradictio  in  adjecto.  Wenn  Parasitismus  eine 
besondere  Art  der  Ernährung  ist,  die  in  vielen 
Phallen  durch  die  Einmietung  beim  Wirte  noch 
wirkungsvoller  wird,  so  ist  der  bloße  Anteil  an 
der  Wohnung  ohne  gleichzeitige  Nahrungsent- 
ziehung aus  dem  Körper  des  Wirtes  überhaupt 
kein  Parasitismus;  also  ist  „Raumparasitismus", 
oder  wie  von  anderer  Seite  gesagt  wird,  „Woh- 
nungsparasitismus"  Nonsens.  Man  nenne 
sie  Wohnungsgenossen,  wodurch  sie  in 
einen  gewissen  Gegensatz  zu  den  Tischgenossen 
gestellt  werden,  aber  lasse  den  „Parasitismus"  bei- 
seite, wo  er  nicht  hingehört.  Am  meisten  ver- 
unglückt dürfte  der  gelegentlich  in  der  Literatur  vor- 
kommende Ausdruck  „T  ransportschmarotzer" 
sein  zur  Bezeichnung  der  Gewohnheit  jenes  als 
Schiffshalter  (Echeneis  naucrator)  bekannten 
Fisches,  der  sich  mit  Hilfe  seiner  kopfständigen 
Saugscheibe  an  Schiffen  oder  größeren  anderen 
Frischen  oder  Walen  festsaugt,  lediglich  um  bei  der 
damit  erzielten  schnelleren  Durchsegelung  des 
Meeres  bessere  Beute  machen  zu  können,  die  er 
nach  Räuberart  gewinnt.  Wenn  man  in  solchem 
Zusammenhange  das  Wort  „Parasit"  verwendet, 
so  gibt  man  ihm  einfach  die  Bedeutung  von  Mit- 
bewohner. Um  einen  völlig  indifferenten  Namen 
für  einen  solchen  zur  Verfügung  zu  haben,  schlage 
ich  Öket  (vom  griech.  oiy.iii]^)  vor.  Damit  hat 
man  die  Möglichkeit,  einmal  eine  gemeinsame  Be- 
zeichnung für  Epöken,  Synöken,  Paröken  und 
Kommensalen  anzuwenden,  dann  aber  den  allge- 
meinen Begriff,  wenn  es  erwünscht  ist,  durch  Vor- 
setzung eines  geeigneten  Adjektivs  zu  spezialisieren, 
indem  man  von  einem  kommensalen,  murualisti- 
schen  (bzw.  symbiontischen) ,  sogar  parasitischen 
Öketen  spricht;  jedenfalls  würden  Mißverständnisse 
durch  solche  Bezeichnungen  nicht  zu  befürchten  und 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


der  Pleonasmus  „Nähr ungsparasii"  (der  sich 
zusammen  mit  dem  Transportschmarotzer  findet) 
zu  vermeiden  sein.  Etwas  anders  verhält  es  sich 
mit  wieder  einer  besonderen  und  zwar  besonders 
interessanten  Lebensgemeinschaft,  die  man  als 
Brutparasitismus  bezeichnet  hat.  Es  würde 
aber  zu  weit  führen,  darauf  an  dieser  Stelle  näher 
einzugehen,  vielleicht  einmal  in  einem  eigenen 
Artikel,  nur  die  Bemerkung  mag  hier  noch  Platz 
finden,  daß  auch  in  diesem  Zusammenhange  der 
„Parasitismus"  nicht  recht  hingehören  dürfte.  Die 
Gewohnheit  des  Kuckucks,  seine  Eier  in  fremden 
Nestern  von  anderen  Vögeln  ausbrüten  und  die 
Jungen  alsdann  ebenso  grolälüttern  zu  lassen,  scheint 
mir,  bei  all  ihrer  Eigenart,  noch  am  ehesten  dem 
Kommensalismus  angereiht  werden  zu  können;  es 
ist  eine  Tischgenossenschaft,  die  bis  zur  Unver- 
schämtheit gesteigert  ist,  und  für  die  Pflegeeltern 
mit  dem  Verzicht  auf  eigene  Nachkommenschaft 
zusammenfällt.  — 

Auch  sonst  gibt  es  noch  Biozönosen,  die  nicht 
ohne  Berührungspunkte  mit  dem  Parasitismus  sind, 
gewissermaßen  (jrrenzgebiete  darstellen,  wie  sie  bei 
der  großen  Mannigfaltigkeit  der  Existenzbe- 
dingungen und  der  Anpassungsfähigkeit  der  Orga- 
nismen nicht  unerwartet  erscheinen  können,  aber 
dem  schematisierenden  menschlichen  Geiste  Schwie- 
rigkeilen bereiten.  Um  so  mehr  sollte  man  im 
Gebrauche  der  Worte  Parasitismus  und  Parasit 
etwas  gewissenhafter  sein  und  an  dem  alten  Grund- 
satze tesihalten  „doch  ein  BegrifT  muß  bei  dem 
Worte  sein".  Ein  rühmlichst  bekannter,  auf  ver- 
schiedenen Gebieten  hervorragender  französischer 
Zoologe,  E.  L.  Trouessart,  hat  ein  recht  brauch- 
bares populäres  Büchelchen  geschrieben  unter 
dem  Titel  „Les  parasites  des  habitations  humaines 
et  des  densees  alimentaires  ou  commerciales",  der 
eigentlich  schon  genügt,  um  den  Verdacht  eines 
Mißbrauches  des  Wortes  „Parasiten"  aufkommen 
zu  lassen.  Das  Buch  behandelt  tatsächlich  nicht 
etwa  nur  die  bekannten  Plagegeister  des  Menschen, 
wie  Wanzen,  Flöhe,  Läuse,  Stechmücken,  Milben 
und  ferner  gewisse  Zooparasiten  bei  Pflanzen, 
sondern  ist  eine  Art  von  Fauna  der  Gliederfüßer 
der  menschlichen  Behausungen  in  der  Heimat  des 
Verfassers.  Wenn  der  Gegenstand  nicht  auf  diesen 
Verwandtschaftskreis  beschränkt  wäre,  hätten  folge- 
richtig auch  Ratten  und  Mäuse  und  wer  weiß  was 
noch  zur  Sprache  gebracht  werden  müssen.  Und 
das  alles  unter  der  Bezeichnung  „Parasiten"! 
Dann  freilich  ist  es  nur  noch  ein  kleiner  Schritt, 
um  das  bekannte  Wort  gelten  zu  lassen,  der 
Mensch  sei  ein  „Parasit  der  Erde";  aber  das  ist 
nur  eine  bildliche  Ausdrucksweise,  die  nicht  in 
eine  wissenschaftlicheBetrachtunggehört;  überigens 
ist  der  Vergleich  nicht  einmal  zutreftend,  denn  der 
Mensch  ist  nach  seinem  wahren  Charakter  das 
größte  und  brutalste  Raubtier  unter  der  Sonne: 
„er  nennt's  Vernunft  und  braucht's  allein,  nur 
tierischer  als  jedes  Tier  zu  sein"! 

Von  anderer  Seite  wird  für  den  Begriff  des 
Parasiten  der  Grad  der  Schädlichkeit,  die  er 


dem  Wirt  gegenüber  hat,  in  Anspruch  genommen. 
Das  ist  meines  Erachtens  prinzipiell  unrichtig. 
Daß  jedes  Geschöpf,  welches  „auf  Kosten"  eines 
anderen  lebenden  Organismus  sich  ernährt,  mag 
es  ein  Raubtier  oder  ein  Parasit  sein,  dieses  andere 
mehr  oder  weniger  schädigt,  ist  einlach  selbst- 
verständlich, verschieden  ist  nur  der  Grad  des 
Schadens,  der  in  dem  einen  Falle  vollständig 
gleich  Null  sein  kann,  d.  h.  so  gering,  daß  er  sich 
der  Beobachtung  völlig  entzieht  und  gar  nicht 
empfunden  wird,  im  anderen  Fall  eine  Intensität 
erreicht,  die  den  Ausdruck  „Schaden"  beinahe 
als  Zynismus  erscheinen  läßt,  weil  er  mit  der 
völligen  Vernichtung  des  Beutetieres  identisch 
ist!  Im  ersteren  Falle  ändert  die  geringe  Ein- 
wirkung ebensowenig  an  der  Berechtigung,  von 
Parasitismus  zu  sprechen,  wenn  die  Nahrungs- 
entnahme sich  in  dem  von  uns  genügend  hervor- 
gehobenen Sinne  vollzieht,  wie  ein  das  Leben 
bedrohender  Eingriff  die  Anwendung  dieser  Be- 
zeichnung verbieten  würde,  wenn  der  Schaden 
auf  rein  mechanischem  Wege,  ohne  durch  die 
Nahrungsaufnahme  bedingt  zu  sein,  ')  zustande 
kommt.  Eine  Krankheit  kann  in  sehr  ver- 
schiedener Weise  entstehen,  unter  anderem  auch 
durch  tierische  und  pflanzliche  Parasiten,  aber 
solche  Krankheitserreger  bleiben  ihrer  Natur  nach 
auch  dann  „Parasiten",  wenn  sie  im  gegebenen 
Falle  es  einmal  nicht  zur  Krankheit  kommen 
lassen.  Wenn  also  P.  Megnin  die  van  Be- 
neden'sehe  Definition,  nach  der  Parasiten  im 
eigentlichen  Sinne  solche  Organismen  sind  'qui 
ont  besoin,  pour  vivre  des  humeurs  qui  entretiennent 
la  propre  vie  de  leur  höte',  nicht  gelten  läßt  und 
einen  Unterschied  konstituiert  zwischen  'les  para- 
sites inoffensives  et  les  parasites  dangereux  ou 
pathogeniques',  so  ist  das  für  die  Bestimmung  des 
Begriffs  „Parasit"  nicht  berechtigt,  sondern  nur 
für  die  PVage  von  Wichtigkeit,  ob  man  gegen  den 
F"eind  energisch  vorgehen  oder  ihn  als  zu  un- 
bedeutend ignorieren  soll.  Dabei  verhält  es  sich 
beim  Übergange  vom  „Harmlosen"  zum  „Gefähr- 
lichen" beinahe  ebenso  wie  mit  dem  vom  Guten 
zum  Bösen,  und  der  gilt  bekanntlich  als  Maßstab 
für  den  Begrift'  der  Schnelligkeit! 

Wie  wenig  genau  es  übrigens  Megnin  mit 
seinen  Begriflsbestimmungen  nimmt,  geht  auch 
daraus  hervor,  daß  er  gleich  im  Anfange  seines 
Buches  behauptet,  van  Beneden  teile  die  Para- 
siten in  drei  Klassen:  in  Kommensalen,  Mutualisten 
und  eigentliche  Parasiten,  während  er  den  Tat- 
sachen entsprechend  sagen  mußte,  der  belgische 
Zoologe  habe  die  zahlreichen  Tiere,  die  man  bis- 
her unter  dem  Namen  von  Parasiten  zusammen- 
zufassen pflegte,   in    solche    geteilt,    die  diese  Be- 


')  Es  gibt  auch  Schädigungen,  die  mit  der  xNahrungs- 
aufnähme  der  Parasiten  eng  verbunden  und  mechanischer 
Art  sind,  wie  die  Verstopfung  von  Hohlräumen,  Durch- 
bohrungen von  Organen,  Uruckerscheinungen,  Reize  infolge 
von  Körperbewegungen  u.  dgl.,  was  besonders  bei  den  von 
manchen  Parasiten  innerhalb  des  Wirtstiers  vorgenommenen 
Wanderungen  zur  Beobachtung  liommt. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zeichnung  wirklich  verdienen  und  andere,  für  die 
er  die  Namen  Kommensalen  und  Mutualisten  vor- 
schlägt; denn  bei  van  Beneden  heißt  es  am 
Schlüsse  seiner  Einleitung  —  mir  liegt  allerdings 
nur  die  Übersetzung  vor  —  „in  dem  ersten  Buche 
wollen  wir  uns  mit  den  Mitessern,  in  dem  zweiten 
mit  den  Mutualisten  und  in  dem  dritten  mit  den 
Schmarotzern  beschäftigen",  und  an  einer  früheren 
Stelle  ist  zu  lesen :  „wir  glauben  ihnen  gegenüber" 
—  nämlich  denen,  die  gegenseitig  aufeinander  ange- 
wiesen sind  —  „gerechter  zu  sein,  wenn  wir  sie 
Mutualisten  nennen  und  dem  Mutualismus  einen 
Platz  neben  dem  Kommensalismus  und  dem  Para- 
sitismus einräumen."  Deutlicher  kann  man  sich 
doch  nicht  ausdrücken,  um  den  Parasitismus  den 
beiden  anderen  Formen  des  Zusammenlebens 
gegenüberzustellen. 

In  der  Wissenschaft  ist  mit  der  landläufigen 
Redensart  „der  Name  tut  nichts  zur  Sache" 
schlechterdings  nichts  anzufangen.  Man  könnte 
zwar  in  Anlehnung  an  das  bekannte  Dichterwort 
auch  in  unserem  Zusammenhange  sagen:  was  ist 
ein  Name?  Das,  was  wir  Parasiten  nennen,  bleibt's 
seinem  Wesen  nach,  auch  wenn  es  anders  hieße! 
Ja  „with  any  other  name"  —  aber  einen  Namen 
muß  es  tragen,  wenn  unsere  Sprache  sich  darüber 
äußern  soll,  und  ein  Begriff"  muß  bei  dem  Namen 
sein,  wenn  wir  uns  durch  die  Sprache  über  ein 
Ding  verständigen  wollen.  Und  eben  darum  ist 
es  sehr  wünschenswert,  daß  die  Vertreter  der 
Wissenschaft  eine  gegenseitige  Verständigung  nicht 
erschweren  durch  Ungenauigkeit  im  Ausdruck  und 
Unstimmigkeit  zwischen  Name  und  Begriff.  Wir 
alle  empfinden  die  Segnungen  der  seit  I. inne 
eingebürgerten  binären  Nomenklatur  und  leiden 
gegenwärtig  nicht  wenig  unter  den  Schwierigkeiten 
der  Durchführung  einer  einheitlichen  Benennung 
aller  Lebewesen  in  völliger  Unabhängigkeit  der 
zahlreichen  Sprachen;  aber  man  sollte  es  nicht 
weniger  ernst  mit  unseren  Kunstausdrücken,  den 
sog.  Termini  technici,  nehmen,  die  oft  unter  den 
Mitgliedern  einer  Nation  zu  Mißverständnissen 
führen  müssen,  wenn  man  die  Sorgfalt  in  ihrer 
Handhabung  beiseite  läßt!  Dafür  liefert  unser 
Thema  mancherlei  Beispiele  und  sie  sind  z.  T. 
schon  in  diesen  Darstellungen  entgegengetreten: 
ich  erinnere  nur  an  den  verschiedenen  Gebrauch 
des  Wortes  „Symbiose".  Wendet  man  es  so 
an,  wie  es  hier  geschehen  —  und  darin  ist  uns 
Oskar  Hertwig  in  seinem  hübschen  Schriftchen 
„Die  Symbiose  im  Tierreiche"  (Jena  1S83)  voran- 
gegangen — ,  dann  vermeidet  man  leicht  die  zwei- 
malige Wiederkehr  von  Synökie,  einmal  im  weiteren 
und  dann  im  engeren  Sinne.  Die  sehr  mannigfachen 
Formen  des  Parasitismus  haben  eine  Reihe  be- 
sonderer Bezeichnungen  nötig  gemacht,  die  meist 
leicht  verständlich  sind  und  auch  keine  Mißdeutungen 
veranlassen:  wie  Ekto-  und  Entoparasiten 
(Außen-  und  Binnenschmarotzer)  nach  dem  räum- 
lichen Verhalten  —  durch  die  freie  Kommuni- 
kation gewisser  innerer  Organe  mit  der  Körper- 
oberfläche    nicht     ohne    Übergänge ;     tempo- 


räre (zeitweilige)  und  stationäre  (dauernde) 
Parasiten  nach  der  Zeitdauer,  wobei  die 
ersteren  auch  als  freie  den  festsitzenden 
gegenübertreten  —  natürlich  nur  Stadien  im 
NA'crdegange.  Ferner  hat  man  gelegentliche 
(fakultative)  und  konstante  oder  obligato- 
rische Parasiten  darum  einander  gegenüberstellen 
zu  müssen  gemeint,  weil  zuweilen  Tiere,  die  unter 
normalen  Verhältnissen  als  Saprozoen  auftreten, 
in  die  Lage  kommen,  sich  als  Parasiten  zu  be- 
tätigen, dann  nämlich,  wenn  sie  bei  einem  lebenden 
Organismus  ähnliche  Bedingungen  (faulende  und 
gärende  Stoffe  —  in  eiternden  Wunden ,  im 
Magen  — )  vorfinden,  unter  denen  sie  im  Freien 
zu  leben  pflegen  (Beispiele  sind  verschiedene 
Fliegenlarven,  gewisse  Rundwürmer).  Als  „ge- 
legentliche" hat  man  manche  Parasiten  aber 
auch  in  einem  anderen  Sinne  bezeichnet :  nämlich 
nicht  als  Tiere,  die  gelegentlich  schmarotzen, 
während  sie  sonst  in  Unabhängigkeit  von  anderen 
Organismen  leben,  sondern  als  Parasiten,  die  statt 
ihres  gewohnten  Wirtes  gelegentlich  einen  anderen 
Wirt  wählen.  Im  letzteren  F'alle  bezieht  sich  das 
„gelegentlich"  eigentlich  auf  den  Wirt  und  nicht 
auf  den  Parasiten,  das  kann  man  aber  der  Zu- 
sammenstellung „gelegentlicher  Parasit" 
nicht  ansehen;  man  sollte  sie  also  lieber  ver- 
meiden, um  keine  Mißverständnisse  herbeizuführen. 
Es  handelt  sich  hier  im  Grunde  um  etwas,  was 
auch  Nicht-Parasiten  betrifft,  nämlich  um  die 
Beschränkung  oder  Ausdehnung  in  der  Wahl  der 
Nahrungsquelle.  Denn  ein  Parasit,  der  nur  eine 
geringe  Anzahl  verschiedener  Tier-  oder  Pflanzen- 
arten zu  seiner  Nahrung  wählt,  verhält  sich 
schließlich  nicht  anders  als  ein  Räuber,  der  beim 
Beutemachen  ebenfalls  wählerisch  ist.  Man  kann 
also  recht  gut  auch  von  monophagen  und 
pleophagen  Parasiten  reden  und  unter 
ersteren  noch  besondere  „Spezialisten"  mar- 
kieren. Eine  besondere  Bezeichnung  für  einen 
„Wechselbalg",  dem  ausnahmsweise  einmal  ganz 
besondere  Gelüste  überkommen,  fehlt  bisher,  und 
doch  deutet  ein  solcher  Befund  vielleicht  nur  den 
Weg  an,  wie  ein  Spezialist  zum  Monophagen  usw. 
geworden  ist,  vielleicht  auch  —  und  das  wäre 
noch  interessanter  —  wie  ein  Parasit  entstanden 
ist,  der  regelmäßig  im  Laufe  seiner  Entwicklung 
zwei  oder  mehrere  verschiedene  Wirte  heimsucht, 
der,  wie  man  es  bekanntlich  nennt,  eines  Wirts- 
wechsels bedarf.  Dieser  komplizierte  Ent- 
wicklungsgang kommt,  wenn  auch  viel  seltener 
als  bei  Tieren,  auch  bei  Pflanzen  zur  Beobachtung, 
und  danach  unterscheidet  der  Botaniker  heter- 
ökische  Parasiten  von  autökischen.  Aus- 
drücke, die  man  in  demselben  Sinne  auch  in  der 
Zoologie  anwenden  könnte,  bisher  aber,  soweit 
mir  bekannt,  nicht  gebraucht  hat.  Doch  um  auf 
die  „gelegentlichen  Parasiten"  in  der  Bezüglichkeit 
auf  den  Wirt  zurückzukommen,  so  könnte  man 
vielleicht  von  verirrten  Parasiten  sprechen  und, 
wenn  es  dann  ohne  Terminus  technicus  nicht  ab- 
gehen darf,  dafür  das  Adjektivum  paratropisch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


einführen.  Auf  die  gelegentlichen  Parasiten  im 
anderen  Sinne,  also  auf  die  fakultativen,  hat  man 
wohl  auch  manchmal  den  Ausdruck  „Pseudo- 
parasiten"  angewandt,  wovor  aber  schon 
Leuckart  warnt,  um  Mißverständnisse  zu  ver- 
meiden; denn  auch  dieser  Terminus  tritt  in  ver- 
schiedenem Sinne  auf.  In  der  Botanik  spricht 
man  gelegentlich  von  Scheinschmarotzern 
—  und  das  ist  doch  nur  die  Verdeutschung  da- 
von — ,  um  „Überpflanzen",  die  zwar  auf 
anderen  Pflanzen  wachsen ,  ohne  aber  diese  ihre 
Unterlagen  der  Nahrungssäfte  zu  berauben ,  den 
wirklichen  Schmarotzern  gegenüberzustellen, 
während  sie  in  früheren  Zeiten  vielfach  mit  diesen 
auf  gleiche  Stufe  gestellt  wurden.  Es  verhält  sich 
also  damit  genau  so  wie  mit  den  Epöken 
unter  den  Tieren.  In  der  Zoologie  dagegen  hat 
man  von  Pseudoparasiten  gesprochen,  um  Tiere, 
die  vollkommen  irrigerweise,  zum  Teil  sogar  in 
absichtlich  irreführender  Weise  als  gelegentliche 
Bewohner  des  menschlichen  Körpers  vorgewiesen 
sind,  wie  Frösche,  Eidechsen,  Spinnen,  ja  nicht 
nur  Tiere,  sondern  überhaupt  Fremdkörper,  wie 
Pflanzenfasern,  Apfelsinenzelien ,  Rosinenstengel, 
Knöchelchen,  Zwirnsfäden  usw.,  mit  einem  Namen 
zusammenzufassen.  Und  Leuckart  meint,  auf 
solche  Dinge  möge  man  den  Ausdruck  „Pseudo- 
parasiten" beschränken.  Wenn  es  an  und  für 
sich  recht  gewagt  erscheinen  muß,  von  wahren 
oder  echten  und  falschen  oder  unechten  Parasiten 
zu  sprechen,  denn  ein  Wesen  ist  entweder  ein 
Parasit  oder  es  ist  kein  Parasit  und  im  letzteren 
P'alle  könnte  man  den  Gegensatz  am  einfachsten 
mit  „Nicht-Parasit"  hervorheben  (sein  oder  nicht 
sein,  das  ist  hier  die  Frage  I),  so  möchte  man 
eigentlich  die  Berechtigung  eines  besonderen 
Kunstausdruckes  überhaupt  bestreiten,  wenn  es 
sich  um  nichts  anderes  handelt,  als  die  einfältigen 
Ansichten  von  Laien  oder  die  betrügerischen 
Absichten  von  Gaunern  mit  einem  besonderen 
Gewände  zu  bekleiden.  Sollte  nicht  auch  hier 
die  bekannte  Nebenbedeutung  von  „Blech"  am 
Platze  sein?  Zum  mindesten  im  AIltagsge>ipräche, 
und  in  die  Wissenschaft  gehört  die  Durhmheit  nur, 
wenn  sie  Gegenstand  der  Analyse  oder  sanktio- 
niert ist,  d.  h.  nicht  dafür  gehalten  wird.  Man 
hat  auch  wohl  von  „Hyperparasitismus" 
gesprochen  und  damit  die  gar  nicht  so  selten 
vorkommenden  Fälle  besonders  hervorheben 
wollen,  wo  ein  Parasit  zum  Wirt  eines  anderen 
Parasiten  wird  (bei  gewissen  Krebsen  und  be- 
sonders bei  Schlupfwespen  und  Verwandten).  Der 
Name  „Überp  arasi  t",  wie  es  zu  deutsch  heißen 
würde,  scheint  mir  nicht  besonders  glücklich  ge- 
wählt zu  sein;  denn  das,  was  der  Parasit  des 
Parasiten  in  seiner  Lebensweise  betätigt,  geht 
keineswegs  über  das  Maß  irgendeines  anderen 
Parasiten  hinaus,  und  das  müßte  man  doch  von 
dem  „Über"  oder  „Hyper"  in  der  Wortzusammen- 
setzung erwarten ,  wie  man  von  einem  ,, Über- 
menschen" oder  in  anderem  Zusammenhange  von 
„Überstunden"   bezüglich   der  Arbeit  spricht.    So 


gut  wie  man  Zoo-  und  Phytoparasiten  unter- 
scheidet, könnte  man  für  die  in  Rede  stehenden 
Geschöpfe  das  Wort  Parasitoparasiten  ge- 
brauchen und  auch  noch  Zooparasitoparasiten  von 
Phytoparasitoparasiten  trennen,  obgleich  man  für 
gewöhnlich  sich  nicht  bewußt  wird,  daß  nicht 
nur  eine  Schlupfwespe,  die  von  einer  anderen 
Schlupfwespenart  bewohnt  wird,  als  Beispiel  dient; 
denn  die  erste  Schlupfwespe  ist  stets  ein  Parasit, 
z.  B.  bei  einer  Schmetterlingsraupe,  sondern  daß 
sich  der  Parasit  eines  Apfelwicklers  in  genau  der 
gleichen  Lage  befindet,  da  letzterer  sich  auch 
als  Parasit  ausweist,  aber  freilich  als  Phytoparasit. 
Man  hat  übrigens  statt  Hyperparasitismus  ange- 
messener auch  von  einem  Parasitismus 
zweiten  Grades  und  von  einem  sekun- 
dären Parasiten  dem  primären  gegenüber 
gesprochen. 

Es  war  vorher  davon  die  Rede,  daß  zuweilen 
ein  Tier,  das  der  Regel  nach  zu  den  Saprozoen 
gehört,  zum  Parasiten  werden  kann,  wenn  nämlich 
die  „Gelegenheit  Diebe  macht".  Daß  es  auch 
Fälle  gibt,  wo  man  im  Zweifel  sein  könnte,  ob 
man  es  mit  einem  Kotfresser  oder  mit  einem 
Parasiten  zu  tun  hat,  sollte  man  von  vornherein 
kaum  für  möglich  halten,  zumal  man  voraussetzt, 
daß  ein  Kotfresser  in  keinem  anderen  Abhängig- 
keitsverhältnisse zu  einem  anderen  Tiere  steht, 
als  daß  er  auf  dessen  nicht  verdaute  Nahrungs- 
reste angewiesen  ist.  Wenn  er  es  nun  aber  nicht 
abwartet,  bis  diese  den  Weg  aus  dem  Darme  des 
anderen  ins  Freie  gefunden  haben,  sondern  ihnen 
gewissermaßen  entgegengeht,  indem  er  sich  im 
Enddarme  des  betreffenden  Tieres  häuslich  nieder- 
läßt? So  machen  es  tatsächlich  gewisse  Infusorien 
(Opalina),  die  im  Enddarme  von  Batrachiern  leben, 
und  gewisse  Rädertiere  (Albertia),  die  denselben 
Teil  des  Nahrungsschlauches  bei  Schnecken  und 
Regenwürmern  zur  Wohnung  wählen  und  in  beiden 
Fällen  nichts  als  die  verdauten  Nahrungsreste  be- 
anspruchen. Übrigens  dürfte  es  hier  immerhin 
gewiesen  sein ,  die  genannten  Organismen  nicht 
den  Koprophagen  einzureihen,  sondern  unter  dem 
Gesichtspunkte  des  Kommensalismus  zu  beurteilen; 
denn  ihre  Nahrung  besteht  wörtlich  aus  Abfallen 
von  des  Wirtes  Mahlzeit.  Ähnlich  liegen  die  Ver- 
hältnisse in  einem  anderen  Falle.  Es  gibt  Krebse 
verschiedenen  Verwandtschaftsgrades,  die  den 
volkstümlichen  Namen  „Fischläuse"  führen, 
weil  sie  in  ähnlicher  Weise  wie  wirkliche  Läuse 
auf  der  Haut  von  Fischen,  Seeschildkröten  und 
Walen  leben  und  sich  hier  hauptsächlich  von  dem 
ausgeschiedenen  Schleim  dieser  ihrer  Wirte  er- 
nähren. Man  kann  K.  Kraepelin  nur  bei- 
stimmen, wenn  er  in  diesem  Zusammenhange 
bemerkt:  „Es  gehört  entschieden  eine  gute  Dosis 
juristischen  Scharfsinns  dazu,  um  mit  Sicherheit 
zu  entscheiden ,  ob  diese  Abscheidungsprodukte 
der  Haut  noch  als  „Teile"  des  betreffenden 
Wirtskörpers  aufzufassen  sind  oder  nicht." 

Wenn  übrigens  der  genannte  Forscher  fortfährt: 
„Ähnlich    verhält    es    sich    mit    den    Haarlingen 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


•75 


(Trichodectes)  und  Federungen  (Mallophagen), 
denen  vornehmlich  die  Abfallprodukte  der  Haut 
von  Landtieren,  also  die  Schuppen  und  Feder- 
scheiden, aber  auch  wohl  die  Haare  zur  Nahrung 
dienen" ,  so  kann  ich  ihm  in  dieser  von 
P.  van  Beneden  angebahnten  Auffassung  nicht 
beistimmen.  Der  verdiente  ehemalige  Professor 
von  Loewen  sagt  in  seinem  schon  einmal 
herangezogenen  Buche  „Die  Schmarotzer  des 
Tierreichs"  (Leipzig  1876,  F.  A.  Brockhaus)  wört- 
lich, wie  folgt  (5.  78):  „Eine  Anzahl  Insekten 
siedeln  sich  im  Pelz  von  Säugetieren,  andere  in 
den  Flaumfedern  von  Vögeln  an ,  um  von  den 
Haaren  oder  Federn  die  herumliegenden  Haut- 
schuppen und  Epidermisreste  aufzulesen.  Indem 
sie  so  für  die  Toilette  ihres  Wirtes  sorgen,  leisten 
sie  ihm  gleichzeitig  einen  großen  Dienst  in 
hygienischer  Hinsicht."  Van  Beneden  führt 
daher  die  Mallophagen  als  Vertreter  der  Mutualisten 
an.  Diese  optimitische  Auffassung  von  der  Er- 
nährungsweise der  Mallophagen,  die  seitdem  von 
vielen  Seiten  wiederholt  ist,  trifft  aber  keineswegs 
mit  der  Wirklichkeit  zusammen.  Man  muß  Vögel 
gesehen  haben ,  die  von  zahlreichen  Federungen 
bewohnt  —  und  zuweilen  „wimmelt"  es  in  ihrem 
Gefieder  von  diesen  zierlichen  Tierchen  —  und 
zugerichtet  sind.  Ihre  Toilette  ist  arg  „derangiert"; 
die  Federn  sind  abgebissen  und  gelichtet,  so  daß 
das  Gesamtgefieder  zerschlissen  erscheint;  sie 
sehen  mit  einem  Worte  „ruppig"  aus.  Ebenso 
lehrt  eine  Untersuchung  des  Mageninhalts  solcher 
Läuse,  daß  keineswegs  bloße  „herumliegende" 
Hautschuppen  und  Epidermisreste  „aufgelesen" 
sind,  ^]  er  ist  oft  gefüllt  mit  einem  ganzen  Ballen 
von  Feder-  und  Haarteilchen  (wenn  es  sich  um 
die  Bewohner  von  Säugetieren  handelt),  die  in 
einem  mikroskopischen  Präparate  als  unschöne 
Flecke  im  Körper  ihrer  Wirte  erscheinen  und  so 
von  manchem  Zoologen  auch  im  Bilde  wieder- 
gegeben sind.  Aber  noch  etwas  anderes  spricht 
gegen  die  Annahme,  daß  die  Mallophagen  („Pelz- 
fresser") lediglich  mit  abgestorbenen  Teilen  der 
Epidermis  vorliebnehmen.  Wenn  der  Wirt  eines 
solchen  Insekts  mit  Tode  abgegangen  ist  (bei 
geschossenen  oder  geschlachteten  Vögeln  ist  das 
leicht  zu  beobachten),  so  verlassen  ihn  diese  Be- 
wohner ebenso  schleunig  wie  es  blutsaugende 
Läuse  tun ,  obgleich  doch  die  Pelzfresser  nach 
wie   vor    im    Vollbesitze    ihres  Nahrungsmaterials 


')  Die  Mundwerkzeuge  der  Mallophagen  sind  auch  durch- 
aus geeignet  zum  Beißen,  nicht  nur  zum  Ergreifen  loser 
Hautschüppchen.  Davon  können  sich  oft  genug  die  Mägde 
auf  dem  Lande  an  ihrem  eigenen  Körper  überzeugen;  wo 
nämlich  die  Sitte  oder  vielmehr  Unsitte,  noch  richtiger  Roheit 
besteht,  lebende  Gänse,  ehe  sie  zum  Schlachten  reif  sind, 
mehrere  Male  zur  Bettfedergewinnung  zu  rupfen ,  kriechen 
nicht  selten  Federlinge,  von  denen  eine  ziemlich  grofle  (etwa 
6  mm  lange)  Art  (Trinotum  comspurcatum)  unsere  Hausgans 
bewohnt,  auf  die  Mägde,  die  den  Vogel  bei  dieser  grausamen 
Beschäftigung  zwischen  den  Beinen  festzuhalten  pflegen,  über 
und  zwicken  sie  ganz  empfindlich  in  die  Haut;  daher  nennt 
man  die  Parasiten  auch  mit  einem  volkstümlichen  Namen 
,, Gänsekneifer". 


bleiben.  Sie  rühren  es  nicht  mehr  an,  wenn  die 
Blutwärme  aus  dem  Körper  ihres  Wirtes  gewichen 
ist;  sie  werden  darum  auch  niemals  unabhängig 
von  einem  solchen  an  Hornsubstanzen  angetroffen, 
wie  es  doch  sonst  eine  Anzahl  von  anderen  In- 
sekten gibt,  die  das  Kreatin  als  Nährstoff  aus- 
beuten. Die  Mallophagen  suchen  nach  dem  Tode 
ihres  ursprünglichen  Trägers  möglichst  schnell 
einen  anderen  Wirt  zu  erreichen,  wobei  es  vor- 
kommen mag,  daß  sie  einen  „falschen"  erwischen 
und  dadurch  Irrungen  in  den  Angaben  der 
Spezialforscher  veranlassen;  denn  die  sehr  zahl- 
reichen Arten,  die  man  von  solchen  Mallophagen 
bisher  kennt,  haben  ebenso  wie  andere  Parasiten 
im  allgemeinen  ihre  ganz  besonderen  Wirte,  von 
denen  einer  öfter  mehrere  Parasitenarten  be- 
herbergt als  eine  solche  verschiedenen  Wirten 
eigen  zu  sein  pflegt ;  wo  dies  der  Fall,  stehen  die 
Wirte  in  näherer  Verwandtschaft,  und  Einzelbefunde 
von  Abweichungen  davon  erwecken  von  vorn- 
herein den  Verdacht,  daß  hier  unfreiwillige  Ver- 
hältnisse vorliegen.  Jedenfalls  wird  durch  die  an- 
geführten Tatsachen  bewiesen,  daß  die  Mallophagen 
sich  von  Teilen  eines  lebenden  Organismus  er- 
nähren und  damit  gehören  sie  zu  den  Parasiten. 
Wie  es  sich  mit  den  Krebsegeln,  Würmern 
verschiedener  und  z.  T.  unsicherer  systematischer 
Stellung,  verhält,  die  man  zwischen  den  am 
Schwänze  von  Krebs-  und  Krabben  -  Weibchen 
befestigten  Eierballen  herumkriechend  antrifft, 
mag  dahingestellt  bleiben.  Man  sagt  ihnen  nach, 
daß  sie  nur  die  abgestorbenen  Eier  verzehren ; 
ob  das  wirklich  so  sichergestellt  ist?  Und  wenn 
es  so  wäre,  so  könnte  man  das  Verhältnis  der 
Würmer  zu  ihren  Trägern  wohl  kaum  als 
Kommensalismus  bezeichnen;  denn  bei  den  Eiern 
handelt  es  sich  nicht  um  Nahrungsreste  des  Wirts, 
sondern  um  eine  Schutzeinrichtung  im  Zusammen- 
hange der  Brutpflege.  Wer  die  normalen  lebenden 
Eier  frißt,  ist  ein  Raubtier,  darüber  ist  kein  Streit; 
wenn  er  nur  abgestorbene  aussuchte,  müßte  er 
unter  die  Aasfresser,  bzw.  Saprophagen  gerechnet 
werden. 

Man  sieht  aus  solchen  und  ähnlichen  Bei- 
spielen, daß  es  keineswegs  immer  leicht  ist,  die 
biologischen  Gruppen  der  Tiere  gegeneinander 
abzugrenzen  und  daß  infolgedessen  wohl  Irrungen 
in  den  Deutungen  der  einzelnen  Autoren  unter- 
laufen können,  daß  sich  vielleicht  auch  noch 
manches  im  Laufe  der  Zeit  als  irrig  erweist,  was 
man  gegenwärtig  für  sichergestellt  ansieht. 

Das  sehr  interessante  Gebiet  des  Mutualis- 
mus  näher  zu  betreten,  liegt  nicht  im  Zwecke 
dieser  Betrachtungen;  denn,  wenn  es  richtig  ab- 
gegrenzt ist,  kann  es  weder  mit  dem  Parasitismus 
noch  mit  der  Lebensweise  des  typischen  Raub- 
tieres verwechselt  werden.  Aber  ein  anderes 
muß  dem  ursprünglichen  Plane  gemäß,  wenigstens 
noch  angeschnitten,  wenn  auch  nicht  ausführlich 
behandelt  werden,  nämlich  der  Parasitismus 
im  Pflanzenreiche.  Dies  Thema  ist  bisher 
absichtlich   beiseite   geschoben  worden    und  zwar 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


wegen  des  im  allgemeinen  verschiedenen  Er- 
nährungsprozesses bei  Tieren  und  Pflanzen. 

Wenn  von  den  letzteren  ausnahmslos  gelten 
würde,  was  früher  als  das  Charakteristische  im 
Gegensatz  zu  den  Tieren  hervorgehoben  ist,  daß 
sie  nämlich  mit  anorganischen,  der  Erde,  dem 
Wasser,  der  Luft  entnommenen  Substanzen  sich 
ernähren,  dann  wäre  ein  Parasitismus  bei  ihnen 
von  vornherein  und  grundsätzlich  ausge- 
schlossen, denn,  wie  wir  sahen,  ist  die  Grund- 
bedingung für  diese  Ernährungsweise  die  Entnahme 
der  Nährstoffe  von  anderen  lebenden  Or- 
ganismen. Wie  notwendiges  ist,  dieses  Kenn- 
zeichen des  Parasitismus  immer  und  immer  wieder 
in  den  Vordergrund  zu  stellen,  werden  unsere 
Betrachtungen  zur  Genüge  klargestellt  haben; 
darum  aber  wurden  in  ihnen  die  Pflanzen  zunächst 
ganz  ausgeschaltet,  um  nicht  immer  auf  gewisse 
Gegensätze  und  Ausnahmen  hinweisen  zu  müssen. 
Denn  eine  parasitische  Pflanze  kann  im  allgemeinen 
als  Ausnahme    von  der  Regel   angesehen  werden. 

Die  Fähigkeit  der  Pflanze,  sich  mit  anorg^anischen 
Stoffen  zu  ernähren,  beruht  auf  der  Zerlegung  der 
in  der  atmosphärischen  Luft  vorhandenen  Kohlen- 
säure in  ihre  Bestandteile:  Sauerstoff  und  Kohlen- 
stoff; der  dabei  freiwerdende  Kohlenstoff  geht 
die  verschiedenartigsten  Verbindungen  mit  den 
durch  die  Pflanzenwurzeln  aufgenommenen  Nähr- 
salzen ein  und  so  entstehen  die  organischen  Stoffe, 
aus  denen  sich  ieder  Organismus  aufbaut,  nämlich 
Kohlehydrate,  Eiweißkörper,  P'ette  usw.,  die  wieder- 
um dem  Tiere  zur  Ernährung  notwendig  sind, 
ohne  daß  es  imstande  ist,  sie  selbst  aufzubauen. 
Die  Kohlensäurezerlegung,  ein  als  Reduktion  be- 
zeichneter Prozeß,  wird  der  Pflanze  ledielich  durch 
jenen  grünen  Farbstoff,  der  für  diese  Organismen 
so  charakteristisch  ist,  durch  das  Chlorophyll 
ermöglicht  und  nur  unter  Einwirkung  des  Sonnen- 
lichts. Wenn  der  Pflanze  das  Chlorophyll  fehlt, 
ist  sie  unfähig  Kohlensäure  zu  reduzieren  und 
damit  auch  unfähig,  aus  anorganischen  Stoffen 
organische  aufzubauen;  dann  muß  sie,  um  leben  zu 
können,  sich  den  Kohlenstoff  auf  eine  andere  Art 
verschaffen,  und  das  ist  genau  dieselbe,  die  auch 
das  Tier  hat,  nämlich  organische  Nahrung.  Und 
in  dieser  Lage  sind  gewisse  Pflanzen,  denn  es 
gibt  solche,  die  des  Chlorophylls  entbehren  und 
darum  auch  nicht  grün  aussehen.  Dahin  gehört 
vor  allem  die  große  Menge  aller  Pilze,  aber  auch 
eine  Anzahl  von  Samenpflanzen,  wie  in  unserer 
engeren  Heimat  die  Arten  von  Sommerwurz 
(Orobanche),  die  durch  ihre  weißliche,  gelblich- 
braune oder  rötliche  Färbung  sofort  auffallen,  und 
der  ihnen  ähnliche  strohgelbe  „F  i  c  h  t  e  n  s  p  a  r  g  e  1" 
(Monotropa  hypopitys),  während  in  wärmeren 
Zonen  noch  andere  solche  wachsen.  Diese  be- 
dürfen also,  um  sich  ernähren,  um  leben  zu  können, 
unbedingt  eines  organischen  Substrats,  und  das 
finden  sie  in  der  Natur  entweder  in  Form  von 
abgestorbenen  und  der  Fäulnis  ausgesetzten  Lebe- 
wesen oder  als  lebende  Geschöpfe;  im  ersteren 
Falle  erscheinen  die  chlorophyllfreien  Pflanzen  als 


Fäulnisbewohner  (Saprophyten),  im  anderen 
als  Schmarotzer  (Parasiten  oder,  wie  der  Bo- 
taniker auch  sagt,  als  paratroph  e*)  Pflanzen). 

Nun  gibt  es  aber  auch  chlorophyllhaltige 
Pflanzen  unter  den  Algen  wie  unter  den  Blüten- 
pflanzen, die  dennoch  als  Parasiten  leben;  sie 
entnehmen  aber  ihren  Wirten  nur  einen  Teil  ihrer 
Nahrung,  nämlich  Wasser  und  mineralische  Nähr- 
salze, während  sie  die  organischen  Stoffe  (Kohle- 
hydrate usw.)  in  eigener  Fabrik  herstellen,  wie 
die  vollständig  frei  lebenden  chlorophvllführenden 
Pflanzen,  d.  h.  durch  Assimilation  von  Kohlensäure 
mittels  ihres  Chlorophylls.  Zu  dieser  Kategorie 
von  Parasiten  gehören  aus  unserer  Heimat  die 
bekannte  Mistel  (Viscum)  die  mit  zahlreichen 
anderen  in  den  Tropen  lebenden  Arten  zur 
Familie  der  Loranthaceen  gehört  und,  wie  auch 
diese,  auf  Bäumen  und  Sträuchern  schmarotzt, 
während  noch  andere  Familien,  die  Santalaceen 
und  Rhinantaceen,  erstere  durch  Thesium,  letztere 
durch  Melampyrum,  Rhinanthus  und  Euphrasia 
bei  uns  vertreten,  Wurzelparasiten  sind.  Der  Bo- 
taniker unterscheidet  die  chlorophyllhaltigen  Para- 
siten als  H  em  i  parasi  t  en  von  den  übrigen,  den 
Holoparasiten,  ohne  aber  scharfe  Grenzen 
zwischen  ihnen  aufstellen  zu  können,  ebensowenig 
wie  solche  bestehen  zwischen  Saprophyten  und 
Parasiten,  so  daß  man  sogar  von  Hemisapro- 
phyten  spricht  und  darunter  gewisse  Schlauch- 
pilze (Botrytis  z.  B.)  versteht,  die  höhere  Pflanzen 
befallen,  deren  Gewebe  aber,  ehe  sie  von  ihnen 
zehren,  durch  Ausscheidung  von  Giften,  abtöten. 
Darin  die  Lebensweise  von  Saprophyten  zu  er- 
kennen, erscheint  mir  allerdings  eine  eigenartige 
Auffassung,  über  deren  Berechtigung  man  doch 
wohl  streiten  könnte.  Bei  uns  Zoologen  wenigstens 
ist  man  zu  einer  ähnlichen  Deutung  bisher  nicht 
gelangt,  und  doch  kennen  wir  Beispiele  genug, 
wo  dem  Verzehren  der  Nahrung  eine  Vergiftung 
vorausgeht.  Wir  halten  eine  Spinne  wie  eine 
Viper  für  Raubtiere,  die  ihre  Giftsekretion  dazu 
benutzen,  um  Beute  zu  fangen  und  festzuhalten; 
und  ob  diese  Beute  vergiftet  oder  einfach  tot- 
gebissen wird  auf  mechanischem  Wege,  ist  dabei 
gleichgültig.  Wenn  man  dem  Tropfen  Gift,  mit 
dem  eine  Mordwespe  die  Raupe  paralysiert,  die 
sie  für  ihre  Nachkommenschaft  als  Nahrung  ein- 
trägt, gleichzeitig  die  Eigenschaft  zuschreibt,  den 
Tierkörper  zu  konservieren,  so  kann  man  ihn 
noch  nicht  einmal  zu  den  Fäulnisprodukten 
rechnen  und  die  Wespenlarve  nicht  zu  den  Sapro- 
zoen. 

Doch  mag  dem  sein,  wie  ihm  wolle,  uns  in- 
teressiert hier  vor  allen  Dingen,  daß  in  den  beiden 


')  Das  Wort  besagt  genau  dasselbe  wie  parasitisch ,  nur 
daß  seine  zweite  Hälfte  in  letzterem  auf  ein  griechisches  Sub- 
stantiv, das  Nahrung  bedeutet,  in  ersterem  auf  ein  griechisches 
Verbum,  das  „ernähren"  heißt,  zurückzuführen  ist,  daher  könnte 
paratrophisch  ebensogut  auf  tierische  Schmarotzer  angewendet 
werden.  —  Paratrophisch  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  dem 
oben  vorgeschlagenen  paratropisch,  das  auf  dasselbe  Verbum 
zurückzuführen  ist  wie  polytropes,  das  bekannte  Beiwort  des 
„in  der  Welt  herumgeworfenen"  Odysseus. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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großen  Reichen  der  Organismen  trotz  eines  im 
allgemeinen  entgegengesetzten  Stoffwechsels  doch 
ganz  ähnliche  Ernährungsverhältnisse  zur  Be- 
obachtung kommen.  Der  Begriff  des  Parasitismus 
basiert  für  Tiere  und  Pflanzen  auf  genau  den 
gleichen  Voraussetzungen ;  in  der  Botanik  hat 
man  sein  eigentliches  Wesen  sogar  eher  scharf 
hervorzuheben  verstanden,  als  in  der  Zoologie; 
denn  in  der  1720  erschienenen  Sciirift  von  Micheli 
,De  Orobanche'  wird  zum  ersten  Male  der  Aus- 
druck „Schmarotzer"  gebraucht  für  Gewächse,  die 
lebenden  Pflanzen  und  Tieren  organische  Ver- 
bindungen entnehmen  und  sich  die  Arbeit  ersparen, 
selbst  solche  Verbindungen  aus  Wasser,  Nährsalzen 
und  Gemengteilen  der  Luft  zu  bilden.  Wenn 
man  in  der  Botanik  früher  auch  zahlreiche  „Über- 
pflanzen" (Epiphyten),  bloß  weil  sie  auf  anderen 
Pflanzen  wachsen,  jedoch  ohne  diese  ihre  Unter- 
lagen der  Nährungssäfte  zu  berauben,  zu  den 
Schmarotzern  rechnete,  so  war  das  genau  der 
gleiche  Irrtum,  der  in  der  Zoologie  gegenüber 
den  Epöken,  Synöken  und  Paröken,  bzw.  den 
Kommensalen  herrschte.  Was  wir  heutzutage 
unter  den  letzteren  Namen  verstehen,  be- 
zeichnet Kerner  von  Marilaun  als  Schein- 
schmarotzer. Da  das  Wort  dasselbe  bedeutet 
wie  Pseudoparasiten,  so  würde  die  Anwendung 
dieser  Bezeichnung  in  der  Botanik  und  Zoologie 
sich  nicht  decken.  Beiläufig  sei  noch  einmal 
hervorgehoben,  worauf  schon  bei  früherer  Gelegen- 
heit hingewiesen  wuide,  daß  solche  Überpflanzen 
die  von  ihnen  bewohnten  Pflanzen  in  ihren 
Lebensfunktionen  arg  beeinflussen  (u.  a.  durch  Be- 
schränkung des  Atmungsprozesses)  und  sogar  töten 
können  —  man  nennt  gewisse  Arten  mit  Recht 
Baumwürger  — ,  daß  derartige  mechanische 
Wirkungen  aber  als  Kriterium  für  einen  Parasiten 
nicht  geltend  gemacht  werden  dürfen.  Der 
Laie  ist  wohl  auch  geneigt,  in  Flechten  und 
Moosen,  die  unter  Umständen  durch  ihren  dichten 
Überzug  der  Baumrinde  die  Bäume  schädigen  — 
man  erinnere  sich  des  kümmerlichen  Aussehens, 
das  z.  B.  die  so  belagerten  Ebereschen  in  unseren 
Gebirgen  häufig  zeigen  — ,  Schmarotzer  zu  er- 
kennen, was  natürlich  vom  wissenschaftlichen 
Standpunkte  aus  ebensowenig  berechtigt  ist.  Die 
heutige  Botanik  kennzeichnet  unzweideutig  und 
präzise  die  Schmarotzerpflanzen  als  solche  Ge- 
wächse, die  andere  Lebewesen  befallen,  sich  auf 
oder  in  ihnen  ansiedeln  und  ihnen  Nahrung  ent- 
ziehen, ohne  ihnen  Gegendienste  zu  leisten.  Mit 
den  letzten  Worten  werden  die  Mutualisten  aus- 
geschlossen, durch  das  sehr  passend  gewählte 
Wort  „befallen"  auch  die  nicht  stationären,  frei- 
lebenden Parasiten  einbegriffen.  Zu  den  letzteren 
gehören  die  einzelligen  Vampyrellen  (die  aller- 
dings von  manchen  Forschern  den  Tieren  zu-- 
gerechnet  werden).  „Wenn  sich  eine  länger 
dauernde  Lebensgemeinschaft  zwischen  Parasit 
und  Wirt  ausbildet,  die  dem  ersteren  zum  Nutzen 
gereicht",  so  liegt  „symbiotischer  Para- 
sitismus" vor.     Dieser  Ausdruck  deckt  sich  also 


mit  dem  bei  den  Zoologen  üblichen  „stationärer 
Parasitismus."  Man  darf  sich  daher  durch  die  Be- 
zeichnung des  Botanikers  nicht  irreleiten  lassen 
und  etwa  an  eine  Identifizierung  mit  Symbiose 
im  Sinne  von  Mutualismus  denken;  den  letzteren 
unterscheidet  auch  der  Botaniker,  wenngleich  von 
mancher  Seite,  wie  schon  gelegentlich  bemerkt 
wurde,  die  von  de  ßary  zuerst  als  Symbiose 
bezeichnete  Form  des  auf  Gegenseitigkeit  be- 
ruhenden Zusammenlebens  jetzt  unter  dem  Gesichts- 
punkte des  Helotismus  beurteilt  wird.  Es  beruht 
das  wieder  auf  einer  sehrpeniblen,  vielleicht  zu  penib- 
len Abwägung,  wieweit  der  Nutzen  beiden  Symbion- 
ten  zu  gleichen  Teilen  oder  in  Bevorzugung  des  einen 
davon  zufällt;  obgleich  Eug.  Warming  von 
vornherein  bemerkt,  „ob  es  einen  Mutualismus 
mit  vollkommener  Gegenseitigkeit,  einem  für  beide 
Teile  gleich  vorteilhaften  Zusammenleben,  gebe,  ist 
zweifelhaft".  W.  Niemburg  (in  seinem  Artikel 
„Symbiose"  im  Handwörterbuch  der  Naturwissen- 
schaften, IX.  Bd.  iqi3,  S.  938)  sagt  bezüglich  des 
Verhältnisses  von  Pilz  zur  Alge  in  den  Flechten: 
„er  gleicht  einem  klugen  Herren,  der  seine  Sklaven 
gut  füttert,  damit  er  sie  dann  um  so  besser  aus- 
nutzen kann".  Dieser  Vergleich  paßt  vollkommen 
auf  das  Verhältnis  des  Menschen  zu  seinen  Haus- 
tieren —  und  auch  dies  muß  als  eine  Symbiose, 
als  ein  Fall  von  Mutualismus  angesehen  werden, 
der  bis  zu  einem  gewissen  Grade  sogar  als  Ideal 
bezeichnet  werden  darf  und  sein  Ebenbild  in  den 
sklavenhaltenden  Ameisenstaaten  findet.  Ideal 
glaube  ich  dies  Gegenseitigkeitsverhältnis  nennen 
zu  dürfen,  weil  auch  im  menschlichen  Leben 
dauernde  Beziehungen  viel  leichter  unter  nicht 
völlig  gleichen,  sondern  verschieden  beanlagten, 
einander  aber  in  richtiger  Weise  ergänzenden 
Individuen  möglich  sind  und  zustande  kommen. 
So  ist  es  in  der  Ehe,  in  der  Freundschaft  und  im 
Geschäftsleben.  Darum  darf  man  auch  annehmen, 
daß  das  symbiotische  Zusammenleben  verschiedener 
Arten  von  Organismen  als  das  Resultat  eines  langen 
Entwicklungsprozesses  im  Kampfe  ums  Dasein 
gerade  auf  den  beiden  Teilen  adäquaten  Eigen- 
schaften und  Bedürfnissen  beruhen  werde,  wobei 
es  gleichgültig  ist,  ob  in  menschlicher  Beurteilung 
der  eine  von  beiden  besser  weggekommen  zu  sein 
scheint,  zumal  zugegeben  werden  wird,  daß  es  in 
vielen  P'ällen  recht  schwer  sein  dürfte,  einen 
richtigen  Einblick  in  diese  verwickelten  Verhält- 
nisse und  daher  ein  richtiges  Urteil  zu  gewinnen. 
Doch,  mag  dem  sein,  wie  ihm  wolle,  für  uns 
kommt  es  hier  nur  darauf  an,  festzustellen,  in 
wieweit  in  der  Botanik  und  Zoologie  bezüglich 
des  Zusammenlebens  verschiedener  Arten  analoge 
Verhältnisse  bestehen  und  darum  auch  die  gleichen 
Bezeichnungen  dafür  zu  erwarten,  jedenfalls  für 
ein  leichteres  Verständnis  zu  wünschen  wären. 

Da  kann  dann  bemerkt  werden,  daß  auch  der 
Botaniker  zwischen  Ekto-  und  Entoparasiten') 


')   Wenn    man    bald    Entoparasiten ,    bald    Endoparasiten 
geschrieben  findet,    so    handelt  es  sich  dabei  weder  um  einen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


unterscheidet,  wobei  die  Kriterien  ein  wenig  anders 
ausfallen,  als  in  der  Zoologie,  da  die  Ernährungs- 
organe beider  Organismen  einen  wesentlich  anderen 
Charakter  haben.  Bei  der  ektoparasiiischen  Pflanze 
müssen  die  der  Nahrungsaufnahme  dienenden  Or- 
gane selbstverständlich  in  das  Innere  der  Wirts- 
pflanze eingesenkt  werden  (beim  Tiere  event.  nur 
der  Saugapparat  bis  in  die  Haut).  Eine  Mittel- 
stellung nehmen  unter  den  Pflanzen  diejenigen 
ein,  die  zwar  ihre  vegetativen  Organe  im  Innern 
des  Wirtes  ausbilden,  ihre  Fruktifikationsorgane 
aber  ins  Freie  ragen  lassen. 

Ferner  unterscheidet  auch  der  Botaniker  zwischen 
obligatorischen  und  fakultativen  Parasiten 
und  versteht  unter  letzteren  solche,  die  bald  sapro- 
phytisch,  bald  parasitisch  oder  autophytisch  leben. 
Wenn  er  aber  auch  von  temporären  Para- 
siten spricht  und  damit  solche  meint,  die  im 
Laufe  normalen  Entwicklungsganges  zeitweise 
saprophyt  leben  (wie  z.  B.  Ustilago  und  Cordiceps 
militans  unter  den  Pilzen),  so  deckt  sich  dieser 
Begriff  nicht  mit  dem,  was  der  Zoologe  mit 
temporären  Parasiten  bezeichnet,  nämlich  ein  im 
allgemeinen  frei  lebendes  Tier,  das  seinen  Wirt 
nur  behufs  der  Nahrungsentnahme  befällt.  Für 
den  Zoologen  ist  der  temporäre  Parasit  im  Sinne 
des  Botanikers  ein  periodischer  stationärer 
gegenüber  dem  lebenslänglichen  Parasiten. 

Wenn  wir  nach  dem  langen  Wege,  den  wir 
zusammen  über  das  ins  Auge  gefaßte  Thema 
zurückgelegt  haben,  zum  Schluß  noch  einmal  auf 
die  L  e  u  ckar  t 'sehe  Definition  des  Parasiten  einen 
prüfenden  Blick  werfen,  so  erscheint  uns  der  Begriff 
dieser  eigenartigen  Lebens-  und  Ernährungsweise 
an  fünf  Grundbedingungen  geknüpft:  es 
handelt  sich  i.  um  Organismen  im  Gegensatz 
zu  anorganischen  Naturkörpern ;  2.  um  andere 
Organismen,  von  denen  sie  abhängig  sind, 
3.  diese  müssen  im  lebenden  Zustande  zur 
Verfügung  stehen  —  dies  im  Gegensatze  zu  sapro- 
trophischen  Geschöpfen;  4.  die  Abhängigkeit  be- 
ruht nicht  auf  einer  morphologischen  Beschaffen- 
heit, sondern  auf  einem  physiologischen  Prozesse, 
nämlich  der  Ernährung  und  5.  die  Nahrungs- 
entnahme macht  eine,  wenn  auch  zeitlich  noch  so 
geringe,  räumliche  Vereinigung  (die  gleiche 
„Wohnung")  zur  Notwendigkeit.  Fragen  wir  uns 
nun,  ob  bei  der  Le u  ckar t' sehen  sehr  präzisen 
Fassung  „Geschöpfe,  die  bei  einem  lebenden 
Organismus  Nahrung  und  Wohnung 
finden"  alles,  was  wir  bei  unseren  langen  Be- 
trachtungen in  den  zahlreichen  Einzelfällen  para- 
sitischer Lebensweise  kennen  gelernt  haben,  ein- 
begriffen und  nichts  ausgeschlossen  ist,  aber  auch 
nichts  darunter  Platz  finden  kann,  was  nach  der 
gewonnenen  Überzeugung   nicht   hineingehört,    so 

Druckfehler  noch  um  eine  falsche  Schreibweise  ;  im  Griechischen 
gibt  es  den  Stamm  fi'itoi'  und  ttjoi  in  der  Bedeutung  von 
„innen"  und  „innerhalb".  In  der  Zoologie  hat  jetzt  die 
Schreibweise    mit  dem  t  eine  weitere  Verbreitung   gewonnen. 


können  diese  Fragen  nicht  ohne  weiteres  in  be- 
jahendem oder  verneinendem  Sinne  beantwortet 
werden;  denn  fassen  wir  Nahrung  und  Wohnung 
gleichsam  als  eine  Bedingung  auf,  d.  h.  als  zwei 
inhärente  Bedingungen,  von  denen  eine  nicht  ohne 
die  andere  gedacht  werden  kann,  dann  sind  i.  die 
sog.  freilebenden  ,. temporären"  Parasiten  aus- 
geschlossen, es  sei  denn,  man  täte  der  üblichen 
Auffassung  des  Begriffes  „Wohnung"  starken 
Zwang  an;  und  2.  findet  die  Definition  auch  An- 
wendung sowohl  auf  die  Kommensalen  wie  auf 
die  Raubtiere  und  Pflanzenräuber  und  auf  die 
Mutualisten,  lassen  wir  dagegen  Nahrung  und 
Wohnung  auch  getrennt  voneinander  gelten,  dann 
gehören  der  ersteren  nach  auch  Raubtiere  zu  den 
Parasiten,  der  zweiten  entsprechend  aber  alle 
Epöken,  Synöken  und  Paröken,  sofern  sie  nicht 
gleichzeitig  Kommensalen  sind. 

Da  es  nicht  dem  geringsten  Zweifel  unterliegt, 
daß  Leuckart  in  Wirklichkeit  den  Begriff  „Para- 
sit" nur  darin  etwas  anders  hat  aufgefaßt  wissen 
wollen,  als  es  hier  geschehen,  daß  er  ihn  auch 
noch  auf  die  „Pflanzenräuber"  ausgedehnt  hat,  so 
ergibt  sich  aus  der  scheinbaren  Unstimmigkeit, 
daß  seine  Definition  zu  allgemein  gehalten 
ist  und  wahrscheinlich  absichtlich,  um  sie  durch 
Einengung  nicht  zu  langatmig  und  vielleicht  gar 
unklar  zu  gestalten.  Die  meisten  Autoren,  die 
über  dies  Thema  von  allgemeineren  Gesichts- 
punkten aus  gehandelt  haben,  sind  in  ihren  Be- 
griffsbestimmungen des  Parasitismus  im  wesent- 
lichen Leuckart  gefolgt,  wenn  sie  auch  seine 
Worte  nicht  einfach  wiederholt  haben.  Der  häufig 
gebrauchte  Ausdruck,  „auf  Kosten  anderer  Or- 
ganismen ('aux  depens'  bei  den  Franzosen)  sich 
ernähren"  ist  zu  allgemein  gehalten,  um  nicht 
auch  die  Ernährungsweise  des  Räubers  mit  ein- 
zuschließen. Über  die  unzulässigen  Zusammen- 
setzungen mit  -parasiten  und  -parasitismus  ist  zur 
genüge  gesprochen  worden. 

Vielleicht  wird  der  Zweck  einer  etwas  ge- 
naueren Definition  unter  Vermeidung  zu  großer 
Breite  und  Unverständlichkeit  erreicht,  wenn 
folgende  Form  vorgeschlagen  wird: 

Parasiten  (Schmarotzer,  paratrophe 
Tiere  und  Pflanzen)  sind  solche  Orga- 
nismen, die  ihre  Nahrung  einem  anderen 
lebenden  Organismus  entnehmen  (wie 
die  Raubtiere),  aber  ohne  dessen 
Existenz  damit  gleichzeitig  zu  ver- 
nichten (oder  dies  wenigstens  erst 
allmählich  tun  können),  vielmehr  sehr 
gewöhnlich  sich  auf  oder  in  dessen 
Körper  einquartieren  und  auf  kürzere 
oder  längere  Zeit  mit  ihm  vereinigt 
bleiben,  sogar  infolge  bestimmter 
Anpassungen  an  diese  Lebensweise 
nicht  mehr  ohne  ihren  „Wirt"  existiere  n 
können,  ihm  dafür  aber  keine  Gegen- 
dienste leisten. 


N.  F.  X\l.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Einzelberichte. 


Geologie.  Die  schwäbischen  Eisenerzvor- 
kommen. Der  würltembergische  Landtag  hat  in 
seiner  Sitzung  vom  14.  Dezember  1916  das  Berg- 
gesetz von  1874  und  1906  dahin  abgeändert,  daß 
das  Schürfen  nach  Eisen  und  Eisenerzen  ebenso 
wie  schon  vorher  nach  Steinsalz  und  anderen 
Salzen,  sowie  nach  Solquellen  dem  Staate  vor- 
behalten bleibt.  Durch  königl.  Verordnung  kann 
das  Schürfen    dritten    Personen    gestattet    werden. 

Die  württembergischen  Eisenerze  gehören  dem 
unteren  Dogger  (Brauner  Jura)  an  und  finden  sich 
zwischen  Geislingen  und  Aalen  (schwäbischer  Jura) 
in  horizontal  liegenden  Flözen.  Stratigraphisch 
liegen  sie  etwas  höher  als  die  lothringischen 
Minetten.  Bei  Wasseralfingen  sind  es  2  Flöze, 
ein  oberes  (1,7  m)  und  ein  unteres  (1,4  m)  Flöz,  von 
denen  aber  nur  das  untere  abgebaut  wird;  bei 
Kuchen  und  Aalen  ist  nur  noch  ein  Flöz  entwickelt. 
Nach  Schätzungen  von  Geh. -Rat  Wüst  in  Aachen 
sind  1600  Millionen  t  verhüti barer  Toneisenerze 
vorhanden,  die  eine  lohnende  Eisenindustrie  im 
Neckartal  mit  Eisen  versorgen  könnten.  Das  Erz 
ist  ein  40"/,,  kieselhaltiges  oolithisches  Toneisen- 
erz (ca.  31  "/o  Ausbeute),  das  der  Qualität  nach 
zur  Minette,  wenn  auch  nicht  erster  Güte,  gehört. 
Leider  enthalten  die  Erze  sehr  viel  Kieselsäure, 
die  nur  durch  einen  starken  Zuschlag  von  Kalk 
bei  einem  erheblichen  Aufwand  an  Kohle  als 
Schlacke  abgeschieden  werden  kann.  Das  Fehlen 
von  Kohlen  in  Württemberg  und  die  ungünstigen 
Verkehrsverhältnisse  haben  bisher  die  Konkurrenz 
mit  den  weit  günstiger  gelegenen  rheinischen  und 
lothringischen  Industriegebieten  erschwert.  Dies 
hat  zur  Einstellung  verschiedener  Erzgruben  z.  B. 
bei  Kuchen  geführt  und  das  staatliche  Eisenwerk 
in  Wasseralfingen  arbeitet  ohne  großen  Nutzen. 
Ein  lohnender  Abbau  der  an  sich  abbaufähigen 
Eisenerzlager  wird  einmal  möglich  sein,  wenn 
der  geplante  Neckarkanal  bis  Plochingen  geführt 
sein  wird  und  Kohle  auf  dem  Wasserwege  billiger 
als  auf  der  Eisenbahn  herangeschafi"!  werden  kann. 
Das  Gesetz  bezweckt,  der  Allgemeinheit  einen 
entsprechenden  Anteil  an  dem  bereits  eingetretenen 
und  noch  zu  erwartenden  Wertzuwachs  der  Eisen- 
erzlager zu  sichern.     (OTC.)         V.  Hohenstein. 

Über  die  Bodenschätze  Belgiens  hat  Geh.  Berg- 
rat Krusch  eine  Reihe  von  Abhandlungen  in 
der  „Berg-  und  Hüttenmännischen  Zeitschrift 
Glückauf"  erscheinen  lassen.  Er  geht  zunächst 
auf  Belgiens  Reichtum  an  Kohlen  ein. 

Das  belgische  Kohlenvorkommen  ist  vorzugs- 
weise auf  den  Norden  und  den  Süden  des  Brabant- 
Plateaus,  dessen  Silur-  und  Kambriumkern  seine 
Entstehung  der  vordevonischen  kaledonischen 
Faltung  verdankt,  beschränkt.  Das  Südbecken 
ist  das  von  „Haine  Sambre-Maas",  das  nördliche 
das  der  „Campine".  Das  Haine  Sambre-Maas- 
Gebiet  ist  ini  Süden  von  der  großen  Überschiebung 


begrenzt,  die  bewirkte,  daß  ältere  Schichten  — 
Kambrium,  Silur,  Devon  —  weit  nach  Norden, 
die  Kohlen  bedeckend,  verschoben  wurden,  so 
daß  die  Kohlen  viel  weiter  nach  Süden  reichen 
wie  sie  im  Norden  ausstreichen.  Nördlich  lagern 
sich  dem  Brabant  Plateau  Kohienkalke  an.  Wenn 
man  das  Brabant  Plateau  nördlich  überschreitet, 
so  liegt  an  dessen  Nordkante  ebenfalls  Kohlen- 
kalk und  weiter  nördlich  der  ahpaläozoischen 
Schichten,  dem  Plateau  angelagert,  produktives 
Karbon. 

Am  weitesten  südlich  tritt  das  Steinkohlen- 
gebirge in  der  Devonmulde  von  Dinant  zu  Tage. 
Nördlich  davon  liegt  die  Haine-Sambre-Maas- 
Mulde,  die  wieder  in  einzelne  kleinere  Mulden 
zerfällt.  Und  weiter  nördlich  vom  Brabantplateau 
liegt  das  Kohlengebiet  der  Campine. 

In  der  Dinantmulde  streichen  die  Steinkohlen- 
gebirgsschichten  aus,  während  sie  in  der  Haine- 
Sambre-Maas-Mulde  erst  in  den  tieferen  Tälern 
angeschnitten  sind,  weil  sie  hier  wie  in  der 
Campine  unter  einem  Deckgebirge  ruhen.  Die 
Abrasion  der  Ardennen  hat  auch  das  Kohlen- 
gebirge der  Dinantmulde  stark  mitgenommen, 
so  daß  nur  noch  in  den  tiefsten  Teilen  der  Mulden 
Karbon  vorhanden  ist.  Dagegen  sind  die  beiden 
anderen  belgischen  Kohlenvorkommen  noch  zu- 
sammenhängende Flächen.  Bergbaulich  ist  das 
Kohlengebiet  von  Dinant  ohne  Bedeutung,  während 
die  Haine-Sambre-Maas-Mulde  schon  seit  Jahr- 
hunderten   ein    wichtiges    Kohlengebiet    darstellt. 

In  der  Campine  entdeckte  man  die  Kohlen 
erst  1901,  und  jetzt  ist  man  durch  Abteufen  von 
12  Schächten  im  Begriff,  diese  wichtige  Kohlen- 
gebiete zu  erschließen. 

Die  belgischen  Kohlengebiete  hängen  mit  dem 
deutschen,  dem  rheinisch-westfälischen  zusammen. 
Die  herzynische  Faltung  läßt  nach  Westen  hin 
immer  mehr  nach  und  macht  dort  einem  Schollen- 
gebirge Platz.  Aber  trotz  aller  tektonischen 
Störungen,  aller  postkarbonischen  Abrasionen, 
aller  F"altungen  besteht  ein  zusammenhängendes, 
ununterbrochenes  Kohlenbecken  von  Münster  und 
Aachen  bis  nach  Kent.  Nach  Krusch 's  neuen 
Forschungen  bildet  das  Kentkarbon  nördlich  von 
Stour  eine  Decke,  die  flach  auf  alte  paläozoische 
Schichten  aufgeschoben  und  von  der  herzynischen 
Bewegung  losgerissen  wurde,  während  die  ähnlichen 
Vorgänge  im  Süden  von  Brabant  nur  zu  einer 
Überschiebung   führten. 

Die  Mulde  von  Haine-Sambre  Maas  ist  in 
Belgien  170  km  lang,  3 — 17  km  breit  und  von 
einem  Flächeninhalt  von  1400  qkni.  Getrennt 
wird  die  Mulde  durch  einen  Qiiersattel  im  Samson- 
tale  bei  Lüttich,  der  im  mittleren  Oberkarbon 
hochgefaltet  wurde.  Von  da  aus  fallen  die  Schichten 
sowohl  nach  Westen  als  auch  nach  Osten  ein,  so 
daß  eine  Parallelisierung  der  Schichten  unmöglich 
ist.     Das  Gebiet   gehört   zu    den   paralischen,   die 


[8o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


in  der  Nähe  des  Meeres  sich  bildeten.     Man  teilt 
die  Kohlen  nach  ihrem  Gasgehalt  so  ein : 


Gasgehalt 

Antei 

an 

der  Gesamtförderung 

7o 

Flenus 

25 

rd   10 

Gras 

16-25 

„    26 

Demi-gras 

11—16 

..   43 

Maigre 

unter   il 

>•   21 

Das  südliche  belgische  Kohlengebiet  ist  eine 
überkippte  Mulde,  die  ein  überkippter  Sattel  im 
Süden  begrenzt.  Di^e  Grenze  zwischen  Sattel  und 
Mulde  bildet  eine  Überschiebungszone.  So  trügt 
das  Deckgebirge  beim  Aufsuchen  von  Kohlen 
sehr  oft.  Man  setzt  z.  B.  die  Bohrung  im  Devon 
an,  durchsinkt  Silur  und  stößt  dann  erst  im 
Liegenden  auf  Kohlen.  Die  Mulde  zerfällt  in 
einzelne  Teile,  die  rein  verwaltungstechnisch  zu 
ihrer  Abgrenzung  und  Bezeichnung  kamen.  Das 
östliche  Becken  ist  das  von  Lüttich,  in  dem  die 
tektonischen  Verhältnisse  sehr  kompliziert  sind. 
Das  produktive  Karbon  ist  hier  17 — 1800  m 
mächtig  und  enthält  59  bauwürdige  Flöze,  wovon 
20  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  ertragreich  sind 
und    45  Flöze   zusammen  35  m  Kohle    enthalten. 

An  dieses  Becken  schließt  sich  das  des  Henne- 
gaus. Hier  steht  Karbon  im  Osten  unter  Alluvium, 
bei  Charleroi  unter  Tertiär  und  Kreide  an,  die 
bei  Mons  eine  Mächtigkeit  von  300—350  m  er- 
reicht. Die  tektonischen  Verhältnisse  sind  hier 
noch  schwieriger  wie  im  Osten.  Mitten  im  Karbon 
treten  wurzellose  Stöcke  von  Devon  und  Silur 
auf,  die  Spuren  der  Überschiebungsdecke  dar- 
stellen. Man  kennt  8  solche  Überschiebungen, 
die  schuppenartig  übereinander  liegen  und  man 
hegt  Vermutungen,  daß  sogar  die  Karbonschichten 
eine  Verschiebung  nach  Norden  erlitten  hätten. 
Die  Flöze  des  Süd-  und  Nordrandes  sind  nicht 
leicht  zu  identifizieren,  da  die  Störungen  zu  groß 
und  die  Faltungen  von  Nord  nach  Süd  zunehmen. 
So  durchsank  der  Bohrer  bei  Ressaix  126  m  Devon, 
dann  209  m  Silur,  darauf  unter  einer  Über- 
schiebungszone 419  m  unteres  Oberkarbon,  eine 
zweite  Überschiebung,  im  Liegenden  dieser  8  Flöze 
des  oberen  Oberkarbons  mit  21,2 — 11%  Gas,  da- 
runter eine  dritte  Überschiebung,  in  deren  Unter- 
grund ein  9.  Flöz  mit  20%  Gas  in  907  m  sich 
fand.  Hier  wie  im  Becken  von  Lüttich  kann  man 
eine  flözreiche,  obere  Partie  und  eine  flözarme, 
untere  Partie  unterscheiden.  Im  großen  und 
ganzen  ist  man  über  die  stratigraphische  Stellung 
der  Flöze  nicht  klar.  Als  man  die  Überschiebungen 
noch  nicht  erkannt  hatte,  zählte  man  lOO  — 125 
Flöze,  die  nach  dieser  wichtigen  Erkenntnis  auf 
29  im  Becken  von  Charleroi  zusammenschmolzen. 
Man  kennt  Flöze  von  90  cm  Mächtigkeit  und 
darunter,  die  aber  nicht  in  ihrer  ganzen  Strecke 
bauwürdig  sind.  Der  Gasgehalt  der  Kohlen  nimmt 
mit  der  Tiefe  ab,  nach  Westen  hin  und  von  Norden 
nach  Süden  hin  zu. 


Ein  neues  belgisches  Kohlengebiet  hat  man  in 
der  Campine  zwischen  der  südlichen  Kulmgrenze 
von  Brabant  und  dem  nördlichen  holländischen 
Grabeneinbruch  durch  Bohrungen  abgetastet.  Das 
Deckgebirge  ist  außer  alluvialen  Sauden,  Tonen, 
Eisenerzen,  Diluvium,  Tertiär,  Kreide  und  Permo- 
Trias.  Unter  dem  Steinkohlengebirge  lagern 
Kohlenkalk,  Devon  und  Silur-Kambrium.  Das 
Deckgebirge  macht  im  Westen  700  m  und  im 
Osten  600  m  aus.  Die  Fossilien  des  Campine- 
SteinkohlenGebietes  deuten  auf  ein  gleiches  Alter 
der  Kohlen  hin,  wie  der  Englands,  Nordfrankreichs 
und  Westfalens.  Die  Zahl  der  bisher  erkannten 
Flöze  beträgt  46  (Westfalen  "](>,  Mons  112).  Die 
Campine  steht,  nach  dem  Kohlenreichtum  geschätzt, 
zwischen  dem  niederrheinisch-westfälischen  (0,9  m) 
und  dem  belgischen  Gebiet  (0,68  m).  Den  Vorrat 
an  Kohlen  in  der  Campine  schätzt  man  auf 
8  Milliarden  t,  davon  kommen  7  Milliarden  auf 
die  Provinz  Limburg  und  i  Milliarde  auf  Antwerpen. 
Die  Campine  enthält  also  über  eine  große  Fläche 
hingebreitet  einen  reichen  Kohlenschatz,  so  daß 
man  ernstlich  daran  geht,  jährlich  6  Millionen  t 
zu  fördern,  um  nach  Fertigstellung  weiterer 
Schächte  eine  Jahresförderung  von  20  Millionen  t 
zu  erreichen. 

Von  dem  Gebiet  der  Campine  hat  sich  der 
belgische  Staat  drei  Flächen  von  200  qkm,  zwei 
querschlägig,  eine  im  Streichen  verlaufend,  be- 
wahrt. Die  beiden  östlichen  Reservate  sind  wert- 
voller wie  das  dritte  westliche. 

Belgien  liefert  mit  seinem  Blei-Zinkerzbergbau 
ungefähr  1000  t.  Dagegen  beträgt  Hüttengewinn 
aus  den  östlichen  deutschen  und  importierten 
überseeischen  Erzen  im  Jahre  191 2  für  Zink 
205490  t  und  für  Blei   54940  t. 

An  die  Schnittstellen  der  Kalke  mit  den  Ver- 
werfungen sind  Blei-  und  Zinkerze  gebunden.  Die 
Verwerfungen  durchsetzen  vom  Karbon  bis  zum 
Kambrium  alle  Schichten  des  Paläozoikums  nord- 
westlich des  hohen  Venns.  Die  Spalten  entstanden 
schon  vor  der  Senontransgression.  Bis  zum  Dilu- 
vium geschahen  auf  diesen  Spalten  im  Westen 
Erdbewegungen.  Wo  Mitteldevon-  bis  unter 
Oberdevonkalk  und  Kohlenkalk  auftritt,  fanden 
sich  auch  die  Erze.  Die  Gruben  von  Eschbruch 
und  Mützhagen  bauen  die  Vorkommen  im  Kohlen- 
kalk ab.  Gänge,  Höhlenfüllungen,  hydrometaso- 
matische  Körper  liefern  die  Erze. 

Die  Erze  sind  sulfidisch  als  Schalenblende, 
Bleiglanz,  Schwefelkies  und  Markasit,  oxydisch  als 
Galmei  und  Willamit  vertreten. 

In  Belgien  gewann  man  bis  1900  aus  5  Gruben 
233031  t  Galmei,  27080  t  Blende  und  11  811  t 
Bleierz.  In  Moresnet  gewann  man  von  1850 — 1904 
2150000  t  Galmei  und  die  preußischen  Gruben 
lieferten  195543  t  Galmei,  201  619  t  Blende  und 
1 1 624  t  Bleiglanz.  In  Belgien  ist  der  Blende- 
Bleiglanzbergbau  im  Erlöschen,  denn  im  Jahre 
191 2  betrug  die  Ausbeute  i  167  t  Zinkblende  für 
141  500  Fr.  und   107  t  Bleiglanz  für  26850  M. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Woch  enschrift. 


r8i 


Von  1854 — 1873  lieferten  die  belgischen 
Eisenerzgruben  jährlich  durchschnittlich  778  000  t. 
Heute  sind  viele  Gruben  eingegangen.  Mit  dem 
Belgisch-Luxemburger  Minettevorkommen,  Ver- 
witterungslagerstätten in  der  Campine  zusammen 
beträgt  die  jetzige  Jahresförderung  200000  t.  Da- 
gegen brauclit  Belgien  jährlich  3  Millionen  t. 
Vier  Lager  kann  man  unterscheiden:  Das  wenig- 
wichtige oolitiiische  mitteldevonische  Roleisenlager 
der  Givetien  in  den  Provinzen  Namur  und  Lüttich, 
das  sehr  wichtige  oberdevonische  F'amennelager, 
daß  das  Kohlenlager  von  Lüttich  und  Namur  ein- 
faßt und  bis  2  m  starke  Lager  aufweist.  Die 
Erze  haben  hier  45  "/o  und  mehr,  die  ärmeren 
29%  Gehalt.  Die  Famenne-Erze  kommen  auf 
einer  Fläche  von  450  qkm  vor,  die  Vs  bauwürdig 
ist.  Eine  Erzplatte  von  i  m  Mächtigkeit,  15  qkm 
Fläche,  von  einem  spez.  Gewicht  von  3,5  hätte 
50  Millionen  t.  Erz. 

Die  Eisenkarbonate  des  Steinkohlengebirges 
von  Lüttich  kommen  für  einen  Abbau  nicht  in 
Frage. 

Die  oolithischen  Roteisenerze  der  Juraformation 
bei  Longwy  mit  einer  jetzigen  jährlichen  Ausbeute 
von  80000  t  gelten  als  erschöpft.  Bei  Ligny  und 
Tregrinne  baut  man  gangförmige  und  hydro- 
metasomatische  Eisenerze  ab,  die  nicht  nur  auf 
die  Provinz  Namur,  sondern  auch  in  Hainaut  und 
Lüttich  sich  finden.  Sie  sind  an  die  Zerrüitungs- 
zonen  der  Kalkgebiete  gebunden.  In  der  Campine 
hat  man  in  den  Provinzen  Antwerpen  und  Limburg 
das  Verwitterungsprodukt  eisenhaltiger  Sande 
(Tertiär)  abgebaut.  I  m  mächtig  in  40 — 50  cm 
Tiefe  gewinnt  man  auf  I  ha  6 — booo  t  Erz.  Das 
3''/o  Phosphor  enthaltende  Erz  bildet  sich  sehr 
schnell  (Gebiete,  die  man  seit  1846  dreimal 
schon  abgebaut  hat)  und  enthält  bis  5o"/o  Eisen. 
Wegen  des  Phosphorgehaltes  sah  man  die  Erze, 
deren  Vorrat  man  auf  7,5  Millionen  t  schätzt, 
sehr  gern. 

Die  Manganerzlagerstätten  ließen  eine  sehr 
wechselnde  Förderung  zu.  1902  erreichte  sie  mit 
14400  t  die  Höhe,  um  seit  dieser  Zeit  immer 
mehr  abzunehmen.  Die  Lagerstätten  liegen  im 
südlichen  hohen  Venn,  im  kambrisch-silurischen 
Kern  der  Ardennen.  Die  Erzlagerstätten  ent- 
standen durch  Oxydation  und  Verlehmung  der 
Manganschiefer  mit  metasomatischer  Verdrängung 
des  Gesteins.  In  Polianit,  Eisenmanganerz  und 
Mangan-Schiefereiz  tritt  Mangan  gewinnbringend 
auf. 

Phosphate    kennt    man    aus    der    Kreide    von 

Bergen    bei   Mons    und    bei    Lüttich.      Man    baut 

Phosphatkalke    ab.     Die    von    Bergen    zieht    man 

wegen  ihrer  Eisenlosigkeit  denen  von  Lüttich  vor. 

R.  Hundt,  als  Kriegsgeologe  im  Felde. 


Chemie.  Das  Kohlenoxysulfid  (COS),  das 
interessante  gasförmige  Zwischenglied  zwischen 
Kohlendioxyd  und  Schwefelkohlenstoff,  ist  der 
Gegenstand    einer    neueren    Veröffentlichung    von 


A.  Stock  und  E.Kuß  aus  dem  Kaiser- Wilhelm- 
Institut  für  Chemie  (Berichte  d.  D.  Chem.  Ges. 
50  (191 7),  Nr.  i).  Man  erhält  das  Kohlenoxy- 
sulfid leicht  und  rein  durch  Zersetzen  des  käuf- 
lichen thiocarbaminsauren  Ammoniums  mittels 
Säure.  Es  wird  durch  Wasser  langsam  unter 
Bildung  von  Kohlendioxyd  und  Schwefelwasser- 
stoff angegriffen.  Zur  völligen  Reinigung  kann 
man  das  Kohlenoxysulfid  mit  flüssiger  Luft  kon- 
densieren und  dann  im  Vakuum  fraktioniert  destil- 
lieren. In  reinem ,  trockenem  Zustand  ist  die 
Verbindung  vollständig  geruchlos.  Bei  Ausschluß 
von  Feuchtigkeit  hält  sie  sich  auch  in  der  Sonne 
bei  Zimmertemperatur  unverändert.  Mit  Baryt- 
wasser gibt  sie  im  ersten  Augenblick  keine  er- 
kennbare Reaktion,  zum  Unterschied  von  Kohlen- 
dioxyd; nach  einigen  Sekunden  erfolgt  eine 
Trübung,  und  bei  längerem  Schütteln  wird  das 
Gas  vollständig  absorbiert.  Von  Alkalilaugen  wird 
es  mehr  oder  weniger  rasch  absorbiert,  wobei  sich 
primär  Thiocarbonat  bildet.  Dr.  B. 

Versuche  über  die  Löslichkeit  von  Kohlensäure 
in  Chlorophyliösungen  haben  Robert  Kremann 
und  Norbert  Schniderschitsch  im  Che- 
mischen Institut  der  Universität  Graz  ausgeführt; 
sie  berichten  darüber  im  letzten  Heft  des  Jahr- 
gangs 1916  der  Wiener  Monatshefte  für  Chemie. 
Die  Assimilation  der  Kohlensäure  in  den  grünen 
Blättern  ist  bekanntlich  eine  photochemische  Re- 
aktion, bei  der  das  Chlorophyll  als  Katalysator 
wirkt.  Da  bei  den  meisten  chemischen  Reaktionen 
zunächst  eine  einfache  Addition  der  reagierenden 
Stoffe  vorhergeht,  so  liegt  es  nahe,  anzunehmen, 
daß  sich  auch  bei  der  Assimilation  der  Kohlen- 
säure zunächst  eine  Additionsverbindung  von 
Kohlensäure  mit  Chlorophyll  bildet.  Zur  Prüfung 
dieser  P>age  untersuchte  Kremann  mit  seinem 
Mitarbeiter,  ob  und  bis  zu  welchem  Betrage 
Chlorophyll  und  Kohlensäure  Additionsgleich- 
gewichte eingehen.  Wenn  ein  derartiges  Gleich- 
gewicht im  Licht  oder  Dunkeln  mit  erheblichem 
Grade  bestände,  müßte  die  Löslichkeit  der  Kohlen- 
säure in  einer  geeigneten  Lösung  von  Chlorophyll 
erheblich  größer  sein  als  im  reinen  Lösungsmittel. 
Es  ergab  sich  also  die  Aufgabe,  die  Löslichkeit 
der  Kohlensäure  in  Chlorophyliösungen  mit  der 
in  den  betreffenden  reinen  Lösungsmitteln  zu  ver- 
gleichen. Als  Lösungsmittel  wurde  95'7oiger  Al- 
kohol gewählt,  in  dem  das  Blattgrün  hinreichend 
löslich  ist,  und  chemische  Veränderungen  dieser 
Substanz  beim  Lösen  bei  gewöhnlicher  Temperatur 
nur  in  geringem  Grade  eintreten,  also  die  in  der  Natur 
vorliegenden  Verhältnisse  sehr  gut  nachgeahmt 
werden.  Die  Versuche  haben  nun  ergeben,  daß 
die  Löslichkeit  von  Kohlensäure  in  Alkohol  und 
alkoholischen  Chlorophyliösungen  unter  vergleich- 
baren Verhältnissen  praktisch  gleich  ist.  Die  oben 
gestellte  Frage  ist  also  dahin  zu  beantworten,  daß 
weder  im  Lichte  noch  im  Dunkeln  eine  Addition 
von  Kohlensäure  durch  Chlorophyll  in  alkoholischer 


l82 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


Lösung  in  analytisch  nachweisbarem  Betrage  statt- 
findet. Ebenso  konnte  auch  eine  Adsorption  von 
Kohlensäure  durch  in  etwa  45''/„igem  Alkohol 
aufgeschwemmtes  kolloidales  Chlorophyll  in  nen- 
nenswertem Betrage  nicht  beobachtet  werden. 


Petrographie.  Der  charakteristische  Bestand- 
teil der  im  wesentlichen  auf  das  eigentliche 
Laacher  See-Gebiet  beschränkten  grauen  Trachyt- 
tuffe  ist  der  nach  H.  v.  Dechen  sog.  „Laacher 
Trachyt".  An  der  Hand  einer  großen  Reihe  von 
Analysen  uniersuchte  nun  R.  Braun's  die  Be- 
ziehungen desselben  zu  anderen  Gesteinen  dieser 
Gegend  (Neues  Jahrb.  f.  Mm.  usw.,  Beil.-Bd.  41, 
420,  1916).  Man  unterscheidet  den  hellen  und 
dunklen  Laacher  Trachyt,  die  recht  verschieden 
in  ihrer  Zusammensetzung  sind,  zwischen  denen 
jedoch  eine  kontmuierliche  Ubergangsreihe  be- 
steht. —  Der  helle  Laacher  Trachyt,  das  ver- 
breiteste Gestein  im  engeren  Gebiet  des  Sees,  ist 
mit  dem  weißen  Bimsstein  und  dem  Dachsbusch- 
trachyt  der  benachbarten  Lagerstätten  so  nahe 
verwandt,  daß  alle  drei  als  aus  einem  Magma 
stammend  betrachtet  werden  können.  Die  Unter- 
schiede im  Habitus  sind  auf  die  Wirkung  der  ge- 
spannten Gase,  die  am  Anfang  der  Eruption  —  beim 
weißen  Bim->stein  —  am  stärksten  war.  Man  kann 
diese  Gesteme  ihrer  Zusammensetzung  nach  als 
phonolithoide  Trachyte  bezeichnen.  Eine  kleine 
Gruppe  dieser  Auswürflinge  zeigt  mehr  den  Cha- 
rakter trachytoider  Phonolilhe;  ihre  Bildung  kann 
durch  geringfügige  Spaltungen  im  Magma  und 
Auflösung  kristalliner  Schiefer  erklärt  werden. 
Beim  Dachsbuschtrachyt  fehlt  im  Gegensatz  zum 
Laacher  Trachyt  und  weißen  Bimstein  der  Hauyn, 
dagegen  führt  er  häufig  Nosean,  der  wahrscheinlich 
nachträglich  pneumatolytisch  gebildet  worden  ist. 

Der  dunkle  Laacher  Trachyt  erhält  seinen 
Namen  nur  durch  seinen  Zusammenhang  mit  dem 
hellen  Trachyt.  Er  nähert  sich  chemisch  mehr 
den  tephritischen  Laven  des  Gebietes.  Hier  hat 
wahrscheinlich  trachytisches  Magma  in  der  Tiefe 
Bestandteile  tephritischer  (lesteine  aufgenommen. 
Die  genannten  Laven  sind  die  ältesten  und  zu- 
gleich basischsten  Ergußgesteine  des  Laacher 
See-Gebietes.  Dann  folgen  nach  Alter  und  Säure- 
gehalt: Noseanphonolithe,  weißer  Bimsstein  und 
als  jüngstes  der  Laacher  Trachyt.  Ob  der  noch 
säurereichere  Dachsbuschtrachyt  noch  jünger  ist, 
läßt  sich  bis  jetzt  nicht  entscheiden.  Den  Aus- 
wurfmassen des  Laacher  Gebietes  fehlt  im  Gegen- 
satz zu  den  Noseanphonolithen  und  Leuzitphono- 
liihtuffen  des  Riedener  Gebietes  der  Leuzit  voll- 
kommen, ohne  daß  es  bisher  gelungen  wäre,  eine 
Erklärung   dafür    zu    finden.  —   Verf    weist    dann 


noch  auf  die  Möglichkeit  hin,  daß  sich  aus 
Laacher  Trachyt  pneumatolytisch  Hauynsanidinit 
entwickeln  kann  Er  nimmt  an,  daß  in  der  Tiefe 
unter  dem  Einfluß  heißer  Gase  eine  Um- 
kristallisation  stattgefunden  hat.  Darauf  deuten 
vor  allem  die  Auswürflinge  vom  Charakter  der 
Nephelinsynite  im  Riedener  Gebiet  hin. 

Scholich. 

Meteorologie.  Bemerkenswerte  Unterschiede 
in  der  vertikalen  Gliederung  der  täglichen  Wind- 
periode in  Zyklonen  und  Antizyklonen  konnte 
W.  Koppen  an  der  Windmeßstelle  Eilvese 
feststellen  (Ann.  d.  Hydrogr.  44,  537,  191 6).  Sechs 
Anemographen  registrieren  dort  die  Windstärke 
in  2  bis  124  m  Höhe.  Die  Pentadenmittel  zeigen 
bei  zyklonaler  Wetterlage  in  allen  Höhen  ein 
Maximum  der  Windstärke  zu  Mittag  und  ein 
Minimum  in  der  Nacht.  In  der  Antizyklone  zeigt 
sich  bereits  von  etwa  80  m  Höhe  aufwärts  eine 
ausgesprochene  Umkehrung  dieser  Periode  und 
zugleich  die  Überlagerung  einer  schwachen  Doppel- 
periode. Bemerkenswerte  Unterschiede  im  Tages- 
mittel der  Windstärke  waren  dabei  nicht  zu  be- 
obachten, wie  früher  bei  ähnlichen  Untersuchungen 
von  Hellmann,  Hergesell  und  Spitaler. 
Verf  führt  daher  die  Unterschiede  auf  das  ver- 
schiedene Maß  des  vertikalen  Luftaustausches  zu- 
rück. Frühere  Arbeiten  hatten  ergeben,  daß 
der  Austausch  die  Geschwindigkeitsunterschiede 
zwischen  den  Schichten  verringert.  Steht  bis  zu 
einigen  hundert  Metern  über  dem  Erdboden  eine 
bestimmte  Luftschicht  mit  höheren  im  Austausch, 
so  wird  die  Windgeschwindigkeit  in  ihr  erhöht, 
durch  eine  tiefere  aber  vermindert.  Dement- 
sprechend ist  bei  der  Tag  und  Nacht  fortdauernden 
Abnahme  der  Temperatur  mit  der  Höhe  in  den 
unteren  Luftschichten  der  Zyklone  ein  fort- 
währender vertikaler  Luftaustausch  bis  weit  über 
120  m  Höhe  vorhanden,  so  daß  auch  in  dieser 
„Zirkulationsschicht"  durchweg  die  gleiche  Perio- 
dizität des  Windes  zu  beobachten  ist.  Dagegen 
lagert  in  der  Antizyklone  des  Nachts  eine  starke 
Temperaturumkehr  auf  dem  Boden,  in  der  keine 
merkliche  vertikale  Zirkulation  stattfindet.  Durch 
die  Erwärmung  des  Bodens  hebt  sich  des  Morgens 
diese  „Sperrschicht"  in  die  Höhe.  Die  unmittelbar 
unter  ihr  liegende  Luft  vermag  nur  mit  den  tieferen 
Schichten  in  Austausch  zu  treten.  So  wird  am 
Vormittag  in  einer  bestimmten  Höhe  etwa  zur 
Zeit  des  Durchganges  der  unteren  Grenze  der 
Inversion  ein  Minimum  der  Windgeschwindigkeit 
eintreten.  Durch  weitere  Ausrüstung  der  Wind- 
meßstelle insbesondere  mit  Thermohygrographen 
sollen  diese  Verhältnisse  noch  eingehender  unter- 
sucht werden.  Scholich. 


N.  F.  XVI.  Nr.   13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


183 


Bücherbesprechuugen. 


Wasmann,    S.    J.    E.,     Das    Gesellschafts- 
leben   der  Ameisen.     Das  Zusammenleben 
von    Ameisen    verschiedener    Arten    und    von 
Ameisen  und  Termiten.     Gesammelte  Beiträge 
zur  sozialen  Symbiose  bei  den  Ameisen.     2.  be- 
deutend vermehrte  Auflage.    I.  Band.    XVIII  u. 
413  S.    Mit  7  Tafeln  und   16  Figuren  im  Texte. 
Münster  i.  W.   191 5,    Aschendorff'sche  Verlags- 
buchhandlung. —  Preis   12  M. 
Seit  12  Jahren  war  des  Verfassers  Buch  „Die  zu- 
sammengesetzten Nester  und  gemischten  Kolonien 
der    Ameisen"    (1891)    völlig    vergriffen.      Anstatt 
eine    Durcharbeitung    auf    veränderter   Grundlage 
vorzunehmen,    entschloß  Wasmann    sich,   einen 
Neudruck  zu  veranstalten    unter  Beibehaltung  der 
Seitenzahlen    der    ersten    Auflage.     Anmerkungen 
verweisen  auf  die  seither   gemachten  Fortschritte, 
die  in  den  folgenden  Teilen  des  Werkes  besprochen 
werden.     Die  zweite  Hälfte  bringt  die  Neuauflage 
der    verschiedenen    Abhandlungen     über    „Neues 
über  die    zusammengesetzten  Nester    und  die   ge- 
mischten   Kolonien    der   Ameisen",    unter   starker 
Vermehrung    des    Inhalts    auf  Grund    seither    ge- 
machter Beobachtungen. 

Leider  verbietet  der  jetzt  herrschende  Raum- 
mangel ein  näheres  Eingehen  auf  den  Inhalt  des 
eine  unendliche  Fülle  interessanter  Tatsachen 
bietenden  Werkes,  dessen  II.  Band  noch  aussteht 
und  wohl  erst  nach  Beendigung  des  Krieges  er- 
scheinen dürfte.  In  diesem  II.  Bande  soll  einer- 
seits die  Stammesgeschichte  der  Sklaverei  und 
des  sozialen  Parasitismus  behandelt  und  anderer- 
seits eine  ganz  neu  ausgearbeitete  kritische  Über- 
sicht über  die  Tatsachen  der  sozialen  Symbiose 
bei  den  Ameisen  und  über  die  zu  ihrer  Erklärung 
aufgestellten  Hypothesen  gegeben  werden. 

Während  andere  Werke  (Escherich, 
Wheeler)  eine  zusammenfassende  Darstellung 
des  ganzen  Ameisenlebens  bieten,  hat  Wasmann, 
dessen  ausgezeichnete,  wissenschafthch  gründliche 
Leistungen  auf  diesem  Gebiete  nicht  weiter  hervor- 
gehoben zuwerden  brauchen,  in  der  vorliegenden 
Arbeit  nur  das  Gesellschaftsleben  der  Ameisen, 
d.  h.  die  Beziehungen  dargestellt,  die  in  den  zu- 
sammengesetzten Nestern  und  den  gemischten 
Kolonien  zwischen  Ameisen  verschiedener  Arten 
oder  Rassen  und  zwischen  Ameisen  und  Termiten 
walten.  Zugleich  ergiebt  sich  durch  die  besondere 
Art  der  Veröffentlichung  ein  lehrreicher  Überblick 
über  die  Geschichte  der  biologischen  Theorien 
und  deszendenztheoretischen  Betrachtungen. 

Besonderes  Interesse  verdienen  auch  die  Aus- 
führungen über  die  Psychologie  der  Ameisen- 
gesellschaften. Hier  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß 
der  Verfasser  als  Jesuitenpater  aus  dogmatischen 
und  sonstigen  Rücksichten  von  der  Bahn  streng 
wissenschaftlicher  Forschung  abgleiten  könne. 
Das  Gebiet  liegt  aber  so  günstig,  daß  die 
Forschungsergebnisse  nicht  hierdurch  berührt  er- 
scheinen,   trotzdem    mancherlei    besondere     Auf- 


fassungen dadurch  gezeitigt  werden.  So  heißt 
es  beispielsweise  bei  der  Ablehnung  einer 
Ameisenintelligenz  in  bezug  auf  den  Instinkt  der 
Amazonenameise  (Polyergus):  „aber  mit  einer 
kunstreichen  Maschine  hat  er"  (nämlich  dieser 
Instinkt)  „doch  die  eine  treffende  Ähnlichkeit, 
daß  die  Intelligenz,  welche  das  ganze  Getriebe 
der  Federn  und  Rädchen  geordnet,  nicht  im  Tiere 
selber  zu  suchen  ist,  sondern  in  einem  höheren 
Werkmeister"  (p.  205).  Tatsache  ist,  daß  die  Re- 
sultate, die  bei  Wasmann  über  die  Psychologie 
der  Ameisen  herausspringen,  sich  so  gut  wie 
völlig  decken  mit  den  Ergebnissen,  die  bei  anderen 
staatenbildenden  Insekten  —  den  Bienen  —  auf 
diesem  Gebiet  seitens  der  Referenten  gewonnen 
wurden.  Auch  hier  mußten  eine  eigentliche  In- 
telligenz und  die  Vermenschlichungen  abgelehnt 
werden,  die  so  vielfach  in  diese  Insektenkolonien 
hineingeheimnißt  worden  sind. 

Für  die  Stellung  Wasmann's  zur  Deszen- 
denztheorie genüge  folgender  Satz:  „Wir  können 
daher  mit  vollem  Recht  sagen,  daß  die  Deszendenz- 
theorie allein  uns  den  Schlüssel  biete  zum  ein- 
heitlichen Verständnis  der  Erscheinungen  des 
Sklavenhaltens  und  des  sozialen  Parasitismus  bei 
Ameisen"  (p.  334). 

Das  Werk,  über  das  beim  Erscheinen  des 
II.  Bandes  noch  Eingehenderes  zu  sagen  sein 
dürfte,  erscheint  für  den  Ameisenforscher  un- 
entbehrlich und  bietet  auch  weiteren  Kreisen  viel 
Interessantes,  zumal  die  Darstellung  eine  leicht 
verständliche  ist.  v.  Buttel-Reepen. 


Sommer,  G.,  Geistige  Veranlagung  und 
Vererbung.  ,,Aus  Natur  und  Geisteswelt", 
Bd.  512.  B.  G.  Tcubner,  Leipzig-Berlin  1916. 
Das  vorliegende  Büchlein,  eine  der  letzten 
Errungenschaften  der  Teubnerschen  Sammlung, 
bedeutet  für  sie  einen  recht  schönen  Zuwachs. 
Klar  und  fließend  werden  die  nicht  immer  gerade 
leichten  Probleme  entwickelt  und  erörtert,  so  daß 
der  Leser  von  Anfang  bis  zum  Ende  gefesselt  ist. 
Nach  kurzen  Vorbemerkungen  über  die  Grund- 
lagen der  Vererbungsforschung  auf  psychischem 
Gebiet  werden  die  psychischen  Eigenschaften  und 
damit  die  Grundzüge  der  Psychologie  überhaupt 
besprochen,  sodann  das  körperliche  Substrat  der 
Seele,  das  Nervensystem;  inwieweit  hier  die  physio- 
logische Forschung  mit  der  Psychologie  Hand  in 
Hand  zu  gehen  vermag,  ersehen  wir  aus  diesem 
Kapitel.  In  dem  Abschnitt  „Die  ererbte  seelische 
Konstitution"  werden  dann  diese  Fäden  weiter 
gesponnen  und  insbesondere  die  Anwendung  der 
X'ererbungslehre  auf  seelische  Eigenschaften  im 
allgemeinen  näher  zergliedert.  Am  anziehendsten 
wirkt  dann  aber  das  nächste  Kapitel,  das  sich 
mit  speziellen  Anlagen,  Instinkt,  Sprache,  Be- 
gabung, Talent  und  Genie,  und  ihren  Beziehungen 
zur  Vererbung  beschäftigt.     Mannigfache  Beispiele 


[84 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  13 


aus  Geschichte  und  Literatur  beleben  dies  Kapitel 
auf  das  Vorteilhafteste.  Auch  das  letzte  Kapitel, 
das  sich  mit  der  Vererbung  im  Individualleben 
erworbener  psychischer  Eigenschaften  beschäftigt, 
hat  dieselben  Vorzüge  und  gibt  außerdem  einen 
lehrreichen  Beitrag  zur  Frage  der  Vererbung  er- 
worbener Eigenschaften  überhaupt.  Nicht  nur 
gebildeten  Laien,  sondern  auch  engeren  wissen- 
schaftlichen Kreisen  dürfte  dies  Büchlein  wertvoll 
sein.  Hübschmann. 


ist  aber  nicht  zu  leugnen,  daß  diese  leicht  faßliche 
Physiologie  des  Menschen  dem  wißbegierigen 
Laien  von  Nutzen  sein  wird.  Hübschmann. 


Sachs,  H.,  Bauund  Tätigkeitdesmensch- 
lichen Körpers.  „Aus  Natur  und  Geistes- 
welt" Bd.  32.  4.  Auflage.  B.  G.  Teubner,  Leipzig- 
Berlin.  19 16. 
Das  Büchlein  stellt  eine  Einführung  in  die 
Physiologie  des  Menschen  dar.  Der  Sache  und 
dem  Zweck  entsprechend  sind  aber  auch  die 
anatomischeu  Verhältnisse  recht  genau  geschildert. 
Das  Buch  gliedert  sich  in  vier  Abschnitte.  Der 
erste  behandelt  allgemeine  Gesichtspunkte:  der 
Körper  wird  als  Zellenstaat  bezeichnet,  seine 
Funktionen  mit  denen  einer  Maschine  verglichen, 
wobei  einige  chemische  und  physikalische  Gesetze 
kurz  gestreift  werden,  endlich  die  Art  seiner 
Erhaltung,  insbesondere  durch  Zuführung  der 
Nahrungsmittel,  geschildert.  Der  zweite  Abschnitt 
handelt  von  der  Ernährung,  bzw.  den  vegetativen 
Funktionen:  Verdauung,  Blutumlauf,  Atmung,  Ab- 
sonderung, einschheßlich  der  Drüsen  mit  innerer 
Sekretion,  und  der  VVärmeproduktion.  Das  dritte 
Kapitel  spricht  von  den  Leistungen  des  Körpers: 
Funktion  der  Knochen  und  Gelenke,  der  Muskeln, 
des  Nervensystems  und  der  Sinnesorgane.  Der 
vierte  Abschnitt  endlich  enthält  die  Lehre  von 
der  Entstehung  neuer  Zellen  und  Organismen.  — 
Die  Darstellung  ist  sehr  populär  und  leicht  ver- 
ständlich, oft  durch  Bilder  aus  dem  alltägUchen 
Leben  unterstützt,  die  Abbildungen  sind  rein 
schematisch.  Das  Erscheinen  des  Büchleins  in 
vierter  Auflage  spricht  für  seine  Beliebtheit.  Um 
so  mehr  ist  es  vielleicht  angebracht,  bei  ferneren 
Auflagen  etwas  anspruchsvoller  gegen  die  Leser 
zu  werden,  vielleicht  auch  hier  und  da  das  Tat- 
sachenmaterial noch  etwas  zu  kontrollieren.  Nur 
ein  Beispiel  möchte  ich  bemerken.  Daß  der 
Besprechung  des  menschlichen  Kostmaßes  die 
Voit'schen  Zahlen  ohne  Kommentar  zugrunde 
gelegt  werden,  kann  zumal  in  der  jetzigen  Zeit 
nur  verwirrend  wirken.  —  Im  ganzen  genommen 


Anfangsgründe   der  Chemie    und  Mineralogie. 

mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Bedürfnisse 
des     praktischen     Lebens.      9.     erw.     Auflage. 
Unter  Mitwirkung  von  W.  Haber,  Hildesheim, 
neubearbeitet    von  M.    Mittag,    Cöthen.      Mit 
112    in    den   Text    gedruckten,    z.    T.    farbigen 
Abbildungen  und  einer  farbigen  Nahrungsmiitel- 
tafel.     Hildesheim    und    Leipzig   1916.     August 
Lax,  Verlagsbuchhandlung. 
Das  äußerlich  unscheinbare  Büchlein  hat  einen 
erfreulich  gediegenen  Inhalt.     Die  Notwendigkeit, 
zu  vereinfachen  und   gemeinverständlich   im   Aus- 
druck   zu    sein,    führt    hier    und    da    natürlich    zu 
Kompromissen    in    der   Darstellung    des    Stoffes; 
trotzdem  sind  Unrichtigkeiten  und  offenbare  Ver- 
flachungen des  Themas  vermieden.     Überall  wird 
geschickt  angeknüpft  an  die  Bedürfnisse  des  täg- 
lichen Lebens,    und   auch  die    volkswirtschaftliche 
Bedeutung  der  Chemie  findet  gebührende  Hervor- 
hebung.    Daß    die    im   Kriege    erschienene    Neu- 
auflage   auch    die    Wichtigkeit    der    Chemie    für 
Deutschlands   Heer    und    Volk    betont,    ist    selbst- 
verständlich.    Der   Leser,    der   das    Büchlein    mit 
Verständnis    durchgearbeitet    hat    und    sich    auch 
über    die    zahlreichen    Fragen    am    Schluß    jedes 
Kapitels   Gedanken    gemacht    hat,    wird   es,    auch 
wenn  ihm  chemische  Vorkenntnisse  gefehlt  haben, 
reich  belehrt    wieder  aus   der  Hand    legen.     (Für 
die  nächste  Auflage  ein  kleiner  Wunsch  des  Re- 
zensenten :    Streichung    des   Wortes   „Asche",   das 
häufig  an  Stelle   von  Oxyd  gebraucht  wird;   der- 
artige termini  technici  durch  deutsche  Wörter  er- 
setzen   zu    wollen,    heißt    das  Wesen   der  Sprach- 
reinigung verkennen  1)  Bugge. 


StofT    und    Kraft    im    Kriege.     Von    Prof.    Dr. 
V.  Pöschl,  Direktor    des  Instituts  für  Waren- 
kunde   an    der   HandelsHochschule   Mannheim. 
Verlag    von    J.  Bensheimer.     Mannheim,    Berlin 
und  Leipzig.     1916.  —  Preis  1,20  M. 
Eine    nützliche    kleine    Broschüre,    die    in    an- 
schaulicher Darstellung  schildert,  was  Chemie  und 
Physik  im  Kriege  von  heute  leisten.    Ein  Anhang 
geht    näher   aut    Einzelheiten    ein;    auch    die    ge- 
schichtliche Entwicklung  der  Kriegswerkzeuge  und 
-hilfsmittel  wird  gestreut.  Bugge. 


Inhalts  ü.  Tascheaberg,  Einige  Betrachtungen  über  die  Begriffe  Parasit,  Raubtier  und  Pflanzenräuber.  (Schlufl.)  S.  169.  — 
Einzelberichte:  V.  Hohenstein,  Die  schwabischen  Eisenerzvorkommen.  S.  179.  Krusch,  Über  die  Bodenschätze 
Belgiens.  S.  179.  A.  Stock  und  E.  Kuß,  Das  Kohlenoxysulfid.  S.  l8i.  Robert  Kreraann  und  Norbert 
Schniderschitsch,  Versuche  über  die  Löslichkeit  von  Kohlensäure  in  Chlorophyllösungen.  S.  181.  R.  Braun, 
„Laacher  Trachyt".  S.  182.  W.  Koppen,  Vertikale  Gliederung  der  täglichen  Windperiode  in  Zyklonen  und  Anti- 
zyklonen. S.  182.  —  Bücherbesprechungen:  E.  Wasmann,  Das  Gesellschafisleben  der  Ameisen.  S.  183. 
G.  Sommer,  Geistige  Veranlagung  und  Vererbung.  S.  183.  H.  Sachs,  Bau  und  Tätigkeit  des  menschlichen 
Körpers.  S.  184.  M.  Mittag,  Anfangsgründe  der  Chemie  und  Mineralogie.  S.  184.  V.  Pöschl,  Stoff  und  Kraft 
im  Kriege.    S.   184. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  8.  April  1917. 


Nummer  14. 


Der  Arbeitsrhythmus  der  Ganglienzellen. 


[Nachdruck  verboten.]  Von    Gottwalt   Chr. 

Rhythmische  Vorgänge  aus  unserem  eigenen 
Körper  sind  jedem  eine  ganze  Anzahl  bekannt: 
z.  B.  die  Herzarbeit,  die  Atmungsarbeit,  Wachen 
und  Schlafen.  Die  Physiologie  ist  nun  seit  ihrem 
Entstehen  darauf  aus,  das  Wesen  solcher  perio- 
discher Erscheinungen,  das  heißt  ihre  Bedingung;en 
näher  zu  analysieren.  Aber  wie  schwer  das  ist, 
zeigt  die  Tatsache,  daß  es  bisher  weder  für  die 
Herz-  noch  die  Atemperiodizität  vollkommen  ge- 
lungen ist,  ihre  Bedingungen  aufzudecken;  über 
viele  Punkte  herrschen  große  Meinungsverschieden- 
heiten, über  andere  haben  wir  nicht  einmal  eine 
Meinung.  Der  Grund  dafür  ist  einfach  der:  das 
Arbeitssystem,  welches  in  beiden  Fällen  rhythmisch 
arbeitet,  ist  sehr  kompliziert,  setzt  sich  aus  so 
vielen  Einzelsystemen,  die  sich  gegenseitig  be- 
einflussen, zusammen,  daß  es  bis  heute  schwierig  ist, 
in  das  Getriebe  eines  solchen  Teils  hineinzublicken. 
Schwieriger  noch  ist  es,  das  Ganze  zu  überschauen. 
Ebenso  steht  es  mit  den  Untersuchungen  des 
Rhythmus  pflanzlicher  Organismen. 

Man  hat  infolgedessen  sich  mit  der  Arbelt 
kleinerer  Arbeitssysteme  beschäftigt,  hat  deren 
Rhythmus  beobachtet  und  zu  ihrem  Verständnis 
manches  gewonnen.  Es  stellte  sich  dabei  heraus, 
daß  vielerlei  lebendige  Systeme  imstande  sind, 
rhythmisch  zu  arbeiten:  z.  B.  Muskeln,  Nerven, 
Ganglienzellen.  Ich  möchte  hier  den  Rhythmus 
der  letzten:  der  Ganglienzellen  referierend  ab- 
handeln, indem  ich  mich  vorwiegend  dazu  jenes 
schönen  Werkes  Verworn's  bediene:  Erregung 
und  Lähmung  (Jena  1914),  das,  als  Muster- 
beispiel starker  gedanklicher  Verarbeitung  eines 
Tatsachenmaterials,  über  den  Rhythmus  der 
Ganglienzellen  zerstreut  Ausgezeichnetes  bringt, 
das  auch  für  weitere  Kreise  interessant  ist. 


Um  die  Bedeutung  der  Ganglienzellarbeit 
zu  würdigen,  wollen  wir  aus  ihren  Aufgaben  einen 
Teil  herausschneiden.  Es  ist  jedem  bekannt,  daß 
die  Bewegung,  also  die  Kontraktion  der  Glied- 
maßenmubkeln,  in  hohem  Maße  von  der  Erregung 
durch  Ganglienzellen  abhängt.  Es  hat  nun  seiner- 
zeit berechtigtes  Aufsehen  erregt,  als  man  fand, 
wie  groß  die  Anzahl  der  Muskelkontraktionen  in 
der  Sekunde  sein  kann,  fand  man  doch  bei  In- 
sekten weit  über  100,  für  die  Stubenfliege  sogar 
330  Kontraktionen  in  der  Sekunde.  Es  ist  nun 
wahrscheinlich,  daß  jede  solcher  einzelnen  Kon- 
traktion auf  einer  besonderen  Erregung  durch 
Reize  der  betreffenden  Ganglienzellen  des  Insektes 
beruhen.     Auch  wenn  wir  Menschen  einen  Muskel 


Hirsch,  z.  Zt.  im  Felde. 

längere  Zeit  hindurch  anspannen,  so  erhält  er 
von  seinen  Ganglienzellen  in  der  Sekunde  viele 
Impulse,  deren  Zahl  man  früher  auf  20 — 50  angab, 
neuerdings  auf  120  — 180  schätzt.  Tatsache  ist  also, 
daß  die  Ganglienzellen  in  großer  Zahl  Impulse  in 
rhythmischer  Folge  aussenden  können;  ob  nun 
alle  Muskelkontraktionen  in  der  Sekunde  allein  auf 
das  Diktat  der  Ganglienzellen  zurückgeführt  werden 
können,  oder  ob  die  Muskeln  auch  in  diesen 
Fällen  den  Rhythmus  der  Impulse  transformieren 
in  einen  besonderen  Eigenrhythmus,  diese  Frage 
steht  noch  offen,  und  wir  begnügen  uns  zu- 
nächst mit  der  Arbeit  der  Ganglienzellen,  deren 
Bedeutung  einleuchtet. 

Wir  erforschen  die  Arbeit  der  Ganglienzellen 
so,  daß  wir  sie  vermittels  des  elektrischen  Stromes 
(oder  durch  andere  Einwirkungen)  in  verschiedener 
Stärke,  Dauer  und  Reizfolge  reizen  und  nun  den 
Reizerfolg  beobachten  entweder  an  den  Zuckungen 
desjenigen  Muskels,  welcher  zu  den  betreffenden 
Ganglienzellen  gehört,  oder  an  den  Schwankungen 
eines  Saitengalvanometers.  Die  zunächst  zu  be- 
obachtenden Tatsachen  sind  sehr  einfach:  reizen 
wir  z.  B.  die  motorische  Sphäre  des  Großhirns 
am  Hund  mit  langsam  aufeinanderfolgenden  In- 
duklionsschlägen ,  so  bewirkt  jeder  Reiz  eine 
Zuckung  in  dem  zugehörigen  Muskel.  Wenn 
wir  jetzt  die  Reize  schneller  aufeinander  folgen 
lassen,  so  ruft  nicht  mehr  jeder  Reiz,  sondern 
nur  noch  jeder  zweite,  dritte  oder  vierte  eine 
Muskelzuckung  hervor.  Es  wird  also  nicht  mehr 
nach  Diktat  gearbeitet,  sondern  nach  einem 
Eigenrhythmus,  nur  unter  Mitwirkung  der 
fremden  Reize.  Dasselbe  zeigt  sich,  wenn  die 
Erregbarkeit  der  Ganglienzellen  durch  Strychnin 
stark  erhöht  wurde;  dann  genügt  ein  einziger 
Öffnungsinduktionsschlag  auf  die  Ganglienzellen, 
um  eine  lange  Reihe  rhythmischer  Impulse  in 
diesen  auszulösen,  d.  h.  ein  unrhythmischer  Reiz 
wird  rhythmisch  (im  Eigenrhythmus)  beantwortet. 
In  dem  ersten  Falle  dagegen  wurde  ein  rhyth- 
mischer Reiz  in  demselben  Rhythmus  beantwortet; 
Verworn  nennt  einen  solchen  einen  exonomen, 
dagegen  den  zweiten  Fall  (Eigenrhythmus)  einen 
endonomen  Rhythmus. ')  Von  der  Exonomie 
wollen  wir  nun  in  der  Folge  ganz  absehen,  weil 
hier  die  Bedingungen  klar  sind.  Dagegen  soll 
■  uns  jetzt  bei  dem  endonomen  Rhythmus  die 
Frage  beschäftigen:  welches  sind  die  Bedingungen 


1)  Von  weiteren  begrifflichen  Fassungen  anderer  Eigen- 
rhythmen, die  Verworn  gibt,  sehe  ich  hier  ab.  Zur  Nomen- 
klatur des  Eigenrhythmus  s.  Hirsch,  Gottwall,  Arbeits- 
rhythmus der  Verdauungsdrüsen.     Biol.  Zenlralbl.   1917. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  14 


eines    solchen    rhythmischen  Vorgangs,    wie    ent- 
steht er? 


Zunächst  ist  es  eine  alte  Beobachtung,  daß 
dieser  Rhythmus  aus  einer  Folge  von  Perioden 
besteht,  von  denen  jede  aus  einem  Impuls  und 
der  darauf  folgenden  Pause  sich  zusammensetzt; 
auch  ein  konstanter  Reiz  vermag  in  den  Ganglien- 
zellen nicht  einen  konstanten  Impuls  zu  wecken, 
den  diese  durch  den  Nerven  versenden,  sondern 
immer  nur  den  Wechsel:  Impuls -Pause -Impuls- 
Pause  usw.  Darin  also  besteht  zunächst  das 
Wesen  des  endonomen  Rhythmus,  daß  diese  zwei 
Phasen:  Impuls  und  Pause  notwendig  hinter- 
einander koordiniert  sind,  mag  nun  ein  ein- 
zelner, ein  rhythmischer  oder  ein  dauernder  Reiz 
die  Ganglienzellen  treffen. 

Um  noch  tiefer  einzudringen,  machen  wir 
uns  klar,  was  auf  den  die  Zellen  treffenden  Reiz 
in  ihnen  geschieht.  Verworn  hat  hier  eine 
Theorie  aufgestellt,  die  auch  an  anderen  Objekten 
eine  Bestätigung  erfahren  hat. 

Es  befindet  sich  die  Zelle,  wenn  kein  Reiz 
sie  trifft,  im  sogenannten  „Ruhestoffwechsel",  d.  h.: 
Aufbau  und  Abbau  halten  sich  die  Wage.  Der 
Begriff  „Ruhe"  ist  natürlich  nicht  als  ein  völliger 
Stillstand  der  P'unktionen  anzusehen,  vielmehr 
nur  als  ein  Gleichgewicht  von  Einnahme  und 
Ausgabe  der  Zelle,  verbunden  mit  chemischem 
Gleichgewicht  des  zellulären  Systems.  Trifft  nun 
ein  Reiz  die  Zelle,  so  wird  der  Ruhestoffvvechsel 
dadurch  gestört,  daß  an  einem  bestimmten,  be- 
sonders labilen  Punkte  des  Stoffwechsels  plötzlich 
ein  Körper  zerfällt;  die  uns  heute  näher  bekannten 
Reize  haben  vorzüglich  diese  dissimilatorische 
Wirkung.  Dieser  plötzlich  zerfallende  Teil  des 
sich  in  der  Zelle  abspielenden  Ruhestoffwechsels 
ist  der  „primäre  Angriffspunkt  des 
Reizes";    der  Zerfall    ist    dessen    erste  Wirkung. 

Diesen  plötzlichen  Abbau  eines  bestimmten 
Körpers  stellt  auch  nach  außen  die  erste  spezi- 
fische Arbeitsleistung  des  betreffenden  Systems 
dar,  in  unserem  Falle  den  Impuls  der  Ganglien- 
zelle. Der  Abbau  kann  durch  mannigfache 
Änderung  der  Lebensbedingung  der  Zelle  hervor- 
gerufen werden ;  z.  B.  auch  durch  erhöhte  Tempe- 
ratur: bringe  ich  meinen  Frosch  in  einen  Wärme- 
kasten von  40"  C,  so  zeigen  sich  an  ihm  in  Kürze 
tetanische  Krämpfe,  was  vermutlich  darauf  zurück- 
zuführen ist,  daß  die  „Temperatursteigerung  den 
Umfang  des  Ruhestoffwechsels  mehr  und  mehr 
erhöht.  Damit  steigt  die  Erregbarkeit,  bis  ausschließ- 
lich explosionsartige  Entladungen  erfolgen." 

Wäre  es  nun  möglich,  daß  dieser  explosions- 
artige Abbau  in  gleichem  Maße  fortschritte,  so- 
lange ein  gleichmäßiger  Reiz  die  Zelle  trifft,  dann 
würde  der  Impuls  der  Zelle  auch  gleichmäßig 
dem  Nerven  zufließen.  Da  dies  letztere  aber  nicht 
geschieht,  so  ist  offenbar,  daß  der  Abbau  einmal 
sein  Ende  haben  muß,  d.  h.  der  abgebaute  Körper 


muß  ersetzt  werden.  Nach  einiger  Zeit  setzt  also 
eine  „Restitution"  in  der  Zelle  ein. 

Diese  besteht  erstens  in  einem  Ersatz  des  ab- 
gebauten Körpers.  Dies  kann  entweder  aus  den 
Vorratskammern  der  Zelle  geschehen  oder  durch 
sofortige  Neubildung  der  betreffenden  Substanz. 
Zweitens  aber  ist  für  die  Begrenzung  des  Abbaus 
eine  andere  Bedingung  wichtig,  zum  Abbau  ge- 
hört Sauerstoff.  Besitzt  die  Zelle  ihn  nicht  mehr 
ausreichend,  so  muß  sie  den  Abbau  einstellen, 
was  sich  in  einem  Nichtreagieren  auf  die  äußeren 
Reize  kundtut:  die  Zelle  erstickt,  wird  gelähmt. 
Das  konnte  Verworn's  Schule  demonstrieren 
durch  Versuche,  bei  denen  das  Blut  eines  Frosches 
ersetzt  wurde  durch  kreisende  physiologische 
Kochsalzlösung,  die  sauerstofffrei  gemacht  war. 
Die  Pausen  der  Ganglienzellarbeit  wurden  immer 
länger,  bis  zuletzt  die  Zellen  nicht  mehr  erregbar 
waren;  wurde  dann  aber  sauerstoffhaltige  Koch- 
salzlösung durchgespült,  so  trat  die  Erregbarkeit 
wieder  auf 

Die  dritte  Bedingung  ist  die  Fortschaffung  der 
Abbaureste  vor  allem  durch  den  Blutstrom. 
Zirkulierte  in  den  Versuchen  die  Kochsalzlösung 
nicht,  sondern  stand  in  den  Gefäßen,  dann  trat 
die  Nichterregbarkeit  erheblich  schneller  ein  als 
beim  zirkulierenden  Strom.  Häufen  sich  also  die 
Abbauprodukte  in  den  Zellen  an,  so  wird  der 
Abbau  ebenso  begrenzt  wie  durch  Sauerstoff- 
mangel. 

Neubau  der  abgebauten  Substanz,  Sauerstoff- 
zufuhr und  Resteabfuhr  sind  also  vorzügliche  Be- 
dingungen der  Reizfähigkeit,  d.  h.  desjenigen  Stoff- 
wechsels, der  auf  den  Reiz  hin  einsetzt,  des  Reiz- 
stoffwechsels. Ob  er  von  dem  Ruhestoffwechsel 
qualitativ  verschieden  ist,  das  müssen  weitere 
Untersuchungen  lehren,  jedenfalls  ist  er  bezüglich 
der  Zeit  seines  Ablaufs  verschieden,  so  daß  man 
wohl  den  die  Zelle  treffenden  Reiz  als  einen  Be- 
schleuniger (Katalysator)  bezeichnen  kann. 

Die  primäre  Reizwirkung  ist  der  Zerfall  eines 
bestimmten  Körpers  in  der  Ganglienzelle,  die  se- 
kundäre Wirkung  dagegen  das  Einsetzen  der 
Restitution  dieses  Körpers.  Diese  Wiederher- 
stellung ist  (nach  Hering)  die  „Selbststeuerung 
des  Stoffwechsels"  genannt  worden.  Durch  die 
primäre  Reizwirkung  ist  das  Gleichgewicht  der 
Zelle  gestört  und  dieses  wird  nun  durch  eine 
Reihe  von  Arbeiten  selbsttätig  wiederhergestellt; 
dies  erfolgt  vermutlich,  indem  die  Zelle  aus  den 
Reserven  Stoffe  herbeiholt  oder  sie  neubaut  und 
indem  der  Organismus  Sauerstoff  liefert  und  Reste 
fortschafft.  Diese  Beteiligung  des  Organismus  hat 
aber  letztenendes  und  direkt  mit  dem  Aufbau 
des  spezifischen  Stoffes  nichts  zu  tun,  sondern 
ist  nur  eine  allgemeine  Arbeitsbedingung  der 
Zelle,  ebensowenig  wie  Kohlt-nzufuhr  und  Aschen- 
abfuhr nicht  besondere  Bedingungen  des  spezi- 
fischen Arbeitsablaufs  in  der  Maschine  sind,  sondern 
nur  allgemeine  Bedingungen  unendlich  verschie- 
dener Maschinen. 


N.  F.  XVI.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


[87 


Während  dieser  sekundären  Reizwirkung,  der 
Restitution,  ist  die  GangUenzelle  nicht  erregbar; 
wir  bemerken  eine  Pause  nach  dem  Impuls.  Ein 
solches  Stadium  der  Unerregbarkeit  nennt  man 
allgemein  das  Refra  ktärstadiu  m,  welches 
bei  sehr  verschiedenen  lebenden  Systemen  zu  be- 
obachten ist.  Der  erste  Versuch  über  ein  Re- 
fraktärstadium  bei  Ganglienzellen  ist  folgender- 
maßen aufgestellt  worden:  ein  Hund  hatte 
Veitstanz,  und  gewisse  Muskeln  zuckten  rhythmisch 
in  Intervallen  von  I  Sekunde;  wurde  nun  seine 
Großhirnrinde  elektrisch  gereizt,  so  zeigte  es  sich, 
daß  0,5  Sekunden  nach  einer  Zuckung  die  Ganglien- 
zellen nicht  erregbar  waren,  in  den  darauffolgenden 
0,25  Sekunden  nur  schwach,  in  weiteren  0,25  Se- 
kunden voll  erregbar.  Es  befanden  sich  also 
0,5  Sekunden  nach  einem  Anfall  die  Ganglien- 
zellen im  Refraktärstadium.  Seitdem  ist  für  die 
normale  Großhirnrinde  ein  solches  von  o,  i  Sekunden 
festgestellt;  ferner  ist  ein  solches  bei  dem  Lidreflex, 
dem  Hautreflex    und  dem  Kniereflex    beobachtet. 

Das  Refraktärstadium  findet  seine  natürlichste 
Erklärung  in  jener  Restitution,  hervorgerufen 
durch  die  Selbststeuerung  des  Stoffwechsels. 
Solange  derjenige  Körper,  auf  den  der  Reiz  primär 
einwirkt,  nicht  neugebildet  ist,  solange  nicht  Sauer- 
stoff herbei  —  und  Abfallstoffe  fortgeschafft 
sind  — ,  solange  ist  die  Zelle  nicht  reizbar,  sie 
ist  refraktär.  Daß  vielleicht  außerdem  noch  andere 
Bedingungen  eine  Herabsetzung  der  Erregbarkeit 
herbeiführen  können,  ist  möglich. 

Wenn  wir  eine  Ganglienzelle  in  einer  rhyth- 
mischen P'olge  reizen,  so  kommt  es  für  den  Erfolg 
also  darauf  an,  ob  die  Zeitspanne  zwischen  unseren 
Reizen  so  weit  ist,  daß  die  Zelle  Zeit  hat,  den 
zerfallenden  Körper  neu  aufzubauen  oder  ander- 
weitig zu  ersetzen.  Es  kommt  also  nicht  nur 
auf  die  Qualität  und  Quantität  des  Reizes  an, 
sondern  auch  ebenso  auf  den  Zustand,  in  welchem 
der  Reiz  das  lebendige  System  gerade  antrifft. 
Wir  können  uns  das  an  folgendem  Bild  veran- 
schaulichen. Der  Schlagbolzen  eines  Maschinen- 
gewehres löst  in  seiner  primären  Wirkung  durch 
Explosion  einer  gewissen  Pulvermenge  den  Schuß 
aus;  ehe  aber  ein  neuer  Schlag  des  Bolzens  einen 
neuen  Schuß  auslösen  kann,  muß  eine  bestimmte 
Kette  von  Vorgängen  in  dem  System  des 
Maschinengewehres  abgelaufen  sein,  welche  die 
sekundäre  Wirkung  des  Schlages  vorstellt:  Heraus- 
werfen der  alten  Hülse,  Neuspannung  der  Feder, 
Hineinschieben  einer  neuen  Patrone.  Es  ist  selbst- 
verständlich, daß  der  Schlagbolzen,  wenn  er  in 
der  Zeit  dieser  Vorgänge  aufschlüge,  kein  Pulver 
zur  Entzündung  bringen  könnte:  das  System  be- 
findet sich  im  „Restraktärstadium"  solange,  bis 
derjenige  Zustand  wiederhergestellt  ist,  von  dem 
der  Kreislauf  der  Geschehnisse  bei  der  Reizwirkung 
ausging. 

Ich  sprach  oben  von  der  Koordination 
der  Geschehnisse  in  der  Ganglieiizelle:  Impuls- 
Pause  -  Impuls  -  Pause  usw. ;  die  Notwendigkeit 
einer     solchen     Koordination      wird      durch     die 


Annahme  der  Restitution  des  ursprünglichen  Zu- 
standes  ver.ständlich.  Aber  auch  innerhalb  der 
Restitutionszeit  spielt  die  Koordination  der  Ge- 
schehnisse eine  ausschlaggebende  Rolle;  wir  wissen 
es  bei  anderen  Reizwirkungen  genauer  als  bei 
Ganglienzellen,  daß  die  Restitution  sich  in  ganz 
bestimmten  Bahnen,  die  diesen  Zellen  eigentümlich 
sind,  abspielen  muß.  Ist  es  doch  derjenige  Stoff, 
der  auf  den  Reiz  hin  „explodiert"  und  die  nach 
außen  erkennbare  primäre  Reizwirkung  darstellt, 
ein  spezifischer  Stoff,  dessen  Neubau  sich  in  be- 
stimmten spezifischen  Bahnen  abspielen  muß. 

Es  kommt  uns  bei  diesem  Neubau  wesentlich 
darauf  an,  in  welcher  Zeit  er  sich  vollziehen  kann; 
hängt  doch  davon  die  Zeit  ab,  binnen  der  die 
Ganglienzellen  wieder  erregbar,  das  heißt  arbeits- 
fähig sind.  Es  kommt  also  auf  die  Reaktions- 
geschwindigkeit des  betreffenden  lebenden 
Systems  an.  Die  Ganglienzellen  und  in  noch 
höherem  Maße  die  Nerven  gehören  nun  zu  den 
Systemen  mit  großer  Reaktionsgeschwindigkeit, 
das  heißt  die  abgebaute  Substanz  wird  mit  großer 
Schnelligkeit  wieder  ersetzt. 

Ferner  kommt  es  für  die  Wiedererregbarkeit, 
die  Überwindung  des  Refraktärstadiums,  sehr 
darauf  an,  ob  das  betreffende  lebendige  System 
auf  einen  bestimmten  Reiz  hin  viel  oder  wenig 
der  labilen  „Angriffssubstanz"  —  wie  ich  mal  kurz 
sagen  möchte  —  abbaut.  Wird  viel  abgebaut, 
so  ist  die  Zeit  der  Erneuerung  dieser  Substanz, 
der  Zufuhr  von  neuem  Sauerstoff  und  Abfuhr  von 
Resten  natürlich  länger  als  bei  geringem  Abbau. 
Vergifte  ich  z.  B.  die  Ganglienzellen  des  Frosch- 
rückenmarkes mit  Strychnin,  so  wird  die  Erreg- 
barkeit, will  sagen  die  Reaktionsgeschwindigkeit 
in  der  Zelle,  so  sehr  erhöht,  daß  auch  schwächere 
Reize,  die  in  den  normalen  Zellen  noch  gar  keine 
Reaktion  erzeugen,  hier  bereits  eine  vollständige 
„Entladung"  hervorrufen  und  daß  es  vor  allem 
nicht  möglich  ist,  durch  mehrere  aufeinander- 
folgende Reize  die  Reaktion  zu  summieren.  Bei 
anderen  lebendigen  Systemen  wird  die  vollständige 
Entladung  auf  einen  bestimmten  Reiz  auch  im 
normalen  Zustand  beobachtet;  das  heißt,  es  löst 
hier  jeder  überhaupt  wirksame  Reiz  sogleich  eine 
maximale  Wirkung  aus,  die  durch  stärkere  Reize 
also  nicht  überboten  werden  kann.  Man  hat 
diese  Erscheinung  das  „Alles-oder-Nichts- 
Gesetz"  genannt,  weil  ein  Reiz  alles  oder  Nichts 
hervorruft.  Zuerst  glaubte  man,  daß  diese  Er- 
scheinurg  eine  spezifische  Eigentümlichkeit  be- 
stimmter lebendiger  Systeme,  z.  B.  des  Herzens 
wäre.  Sollte  es  sich  jedoch  bewahrheiten,  daß  — 
wie  Verworn  meint  —  sich  das  Alles  -  oder - 
Nichts  -  Gesetz  auch  bei  der  einzelnen  Nerven- 
fibrille oder  der  einzelnen  Muskelzelle  und 
Ganglienzelle  bestimmten  Erregbarkeitsgrades 
findet,  dann  wäre  dies  Gesetz  der  Ausdruck 
eines  Erregbarkeitsgrades  jedes  lebenden  Systems, 
aber  nicht  mehr  der  Ausdruck  einer  spezifischen 
chemischen  Struktur  eines  besonderen  lebenden 
Systems.  — 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   14 


So  ergibt  sich  im  ganzen  eine  ziemlich  klare 
Vorstellung  von  der  primären  und  sekundären 
Wirkung  der  Reize.  Sie  ist  vor  allem  dann  klar, 
wenn  wir  einen  konstanten  Reiz  auf  die 
Ganglienzelle  einwirken  lassen,  auf  den  sie  nur 
rhythmisch  antwortet.  Dieser  plötzlich  einsetzende 
Reiz  ruft  einen  starken  Abbau  der  Angriffssubstanz 
in  der  Zelle  hervor,  der  bis  zu  einem  Grade  fort- 
schreitet, welcher  im  Verhältnis  steht  zum  Reiz 
und  zu  den  inneren  Bedingungen  der  Zelle.  Ist 
also  eine  gewisse  Menge  der  Substanz  abgebaut, 
dann  setzt  die  Restitution  ein  und  mit  ihr  die 
Unempfindlichkeit,  das  Restraktärstadium.  Ist 
darauf  eine  gewisse  Menge  der  Angriffssubstanz 
wieder  erneuert  und  ist  —  wie  in  normalen 
physiologischen  Umständen  wohl  meist  —  ge- 
nügend Sauerstoff  vorhanden  und  sind  die  Abfall- 
produkte fortgeschafft,  hat  sich  also  ein  kreis- 
förmiger koordinierter  Vorgang  abgespielt,  dann 
ist  der  Dauerreiz  erneut  wirksam,  eine  neue 
Menge  Angriffssubstanz  wird  abgebaut,  bis  das 
Refraktärstadium  mit  seiner  Restitution  erneut 
eintritt. 

Also  die  Erklärung  des  Eigenrhythmus  bei  kon- 
stantem Reiz.  Bei  rhythmischem  Reiz,  der  in 
einem  Eigenrhythmus  der  betreffenden  Ganglien- 
zelle transformiert  wird,  ist  die  Erklärung  die  gleiche. 
Schwieriger  dagegen  wird  die  Vorstellung,  wenn 
auf  einen  momentanen  Reiz,  z.  B.  einen 
kurzen  Öffnungsinduktionsschlag,  auch  eine  Reihe 
von  rhythmischen  Entladungen  sich  abspielt. 
Ist  z.  B.  das  Rückenmark  des  Frosches  durch 
Strychnin  in  einen  Zustand  starker  Erregbarkeit 
gesetzt,  so  genügt  ein  momentaner  Reiz,  um  eine 
lange  Reihe  rhythmischer  Entladungen  auszulösen. 
Früher  erklärte  man  diese  auffallende  Tatsache 
so,  daß  man  ein  Zurückfließen  des  Reizes  vom 
Muskel  zu  den  Ganglienzellen  annahm,  welches 
ein  Wiederreizen  zur  Folge  hat.  Ein  solches 
Rückfließen  soll  aber  durch  Verworn's  Schüler 
unmöglich  gemacht  worden  sein,  und  trotzdem 
zeigen  die  Ganglienzellen  weitere  rhythmische 
Entladungen.  Somit  bleibt  nach  Verworn's 
Ansicht  nichts  übt  ig,  als  anzunehmen,  daß  von 
dem  einmaligen  Reiz  in  den  Ganglienzellen  Reste 
zurückbleiben,  welche  nach  Überwindung  des 
Refraktärstadiums  durch  die  Zellen  von  neuem 
als  Reiz  wirken. 


Das  wäre  in  großen  Zügen  eine  Übersicht 
über  rhythmische  Vorgänge  in  Ganglienzellen  und 
ihre  Erklärung.  Wie  ich  eingangs  andeutete,  er- 
scheinen mir  diese  Tatsachen  und  ihre  gedankliche 
Verarbeitung  für  das  Verständnis  auch  anderer 
rhythmischer  Vorgänge  in  unseren  Körper  wie 
bei  allen  anderen  Organismen  nicht  ohne  Be- 
deutung. *)     Mag   sich  auch  im  Einzelnen  an  der 


Erklärung  noch  viel  ändern  —  die  Natur  ist 
immer  differenzierter  als  unser  Erkenntniswahn  es 
zugibt!  —  es  ist  hier  jedenfalls  eine  klare 
Arbeitshypothese  gegeben,  die  Experimente  ge- 
stattet; denn  es  gibt  nichts  Praktischeres  als  eine 
gute  Theorie. 

Zuletzt  läuft  diese  Theorie  meiner  Meinung  nach 
darauf  hinaus,  daß  es  zwei  Bedingungskomplexe 
sind,  welche  den  Arbeitsablauf  bedingen : 

Erstens  die  spezifische  Energie  der  be- 
treffenden Zellen.  Diese  besteht  zunächst  in  einer  be- 
stimmten Arbeitskoordination  der  Gescheh- 
nisse in  den  Zellen,  ausgedrückt  in  unserem  Falle 
durch  die  Restitution  der  abgebauten  Substanz. 
Man  könnte  es  so  formulieren:  In  einem  lebendigen 
System  rollen  die  physiologischen  Geschehnisse, 
ausgelöst  durch  einen  Reiz,  in  einer  bestimmten 
Reihenfolge  (Koordination)  ab;  diese  ist  bei 
normalen  Vorgängen  (auf  normale  Reize)  nicht 
abänderbar;  sie  bedarf  einer  gewissen  Zeit  zum 
Ablauf,  die  verschieden  ist  je  nach  der  Reaktions- 
geschwindigkeit des  betreffenden  Systems ;  während 
ihres  Ablaufes  ist  die  Reizbarkeit  des  Systems 
herabgesetzt  oder  erloschen  (Refraktärstadium). 
Der  zweite  Teil  der  spezifischen  Energie  besteht 
darin,  daß  der  „Angriffspunkt"  des  Reizes 
spezifisch  ist.  Verworn  formuliert  dies  so: 
„Jedes  lebendige  System,  solange  es  sich  in  dem 
gleichen  funktionellen  Zustand  und  der  gleichen 
Entwicklungsphase  befindet,  reagiert  auf  die 
physiologischen  Reize,  welcher  Art  sie  auch  sein 
mögen,  stets  primär  mit  einer  Intensitätswanderung 
seines  spezifischen  Lebensvorgangs.  Dabei  bildet 
dasjenige  Partialglied  des  Lebensvorganges,  das 
besonders  labil  ist,  den  primären  Ausgangspunkt 
für  die  Erregung  oder  Lähmung  seiner  spezifischen 
Leistung."  —  Diese  zwei  Eigentümlichkeiten  des 
lebendigen  Systems  bilden  den  einen  Bedingungs- 
komplex des  rhythmischen  Ablaufs;  sie  stellen 
sich  als  autonom  den  Bedingungen  der  Umwelt 
gegenüber. 

Den  zweiten  Bedingungskomplex  bilden  die  den 
koordinierten  Ablauf  treffenden  Reize.  Im  nor- 
malen Geschehen  verändern  sie  weder  die  Koor- 
dination noch  den  Angriffspunkt,  sondern  wirken 
—  wie  gesagt  —  nur  auf  den  einen  Punkt  der  koor- 
dinierten Kette  der  Geschehnisse  hemmend  oder 
anregend  ein,  wirken  also  zeitbestimmend.  Von 
ihren  weiteren  metamorphotischen  Wirkungen, 
welche  sich  auch  auf  die  innere  Arbeit  und  seine 
Koordination  erstrecken,  können  wir  hier  absehen. 

Wie  der  Rhythmus  einer  Melodie  zustande 
kommt  durch  eine  bestimmte  Koordination  von 
Tönen  und  durch  eine  bestimmte  zeitliche  Ein- 
ordnung dieser  Töne,  so  auch  der  Rhythmus  der 
Ganglienzellen  (und  gewiß  noch  vieler  anderer 
Zellen)  durch  eine  innere  Koordination  der  Arbeit 
und  äußeren  Zeitbestimmung. 


')  S.  die  ausführliche  Darlegung  bei  Hirsch,  Gottwalt 
Chr.,    ,, Arbeitsrhythmus    der   Verdauungsdriisen",    Biol.    Zenl- 


ralbl.  1917,  sowie  angedeutet,  „Erregung  und  Arbeitsablauf 
der  Verdauungsdrüseu",  Naturw.  Wochenschr.  1916,  Bd.  31, 
S.  553- 


N.  F.  XVI.  Nr.  I. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Einzelberichte. 


Geologie.  Die  Kohlenvorräte  der  Welt.  Die 
Redaktionskommission  des  I2.  Internationalen 
Geologenkongresses  zu  Toronto  in  Kanada  191 3 
hat  noch  kurz  vor  dem  Kriege  eine  Zusammen- 
stellung der  Kohlenvorräte  der  Welt  in  3  Bänden 
mit  Atlas  herausgegeben,  zu  welcher  die  geo- 
logischen Landesuntersuchungen  und  verwandte 
Anstalten  ausführlicheÜbersichten  des  Vorkommens, 
der    Vorräte    und   der  Produktionsziffern    geliefert 


haben.  Einen  kurzen  Überblick  über  dieses  große 
Werk  gibt  Fr.  Frech  im  Neuen  Jahrbuch  für 
Mineralogie,  Geologie  und  Paläontologie  1916, 
II.  Bd.  Die  Vorräte  sind  bis  2000  m  Tiefe  auf- 
genommen. Es  werden  zumeist  die  tatsächlich  nach- 
gewiesenen und  die  wahrscheinlich  vorhandenen 
(eingeklammert!)  Vorräte  an  Steinkohlen  und 
Braunkohlen    unterschieden.     Davon    besitzt 


Mill.  t 

Mill.  t 

Steinkohle 

Mill.  t  Braunkohle 

zusammen 

Österreich 

2970 

(25417)' 

12231 

(663)^ 

41  281 

Deutsches  Reich 

94865 

(315  HO) 

9313 

(4268) 

423556 

GrOßbrit.  u. 

Irland 

141  499 

(48034) 

— 

189533 

Rußland 

57 

(58391) 

12 

(1646) 

60106 

Frankreich 

4203 

(II  748) 

301 

{1331) 

17583 

Belgien 

(II  000) 

— 

II  000 

Spanien 

5826 

(2175) 

394 

(373) 

8768 

Spitzbergen 

(8750) 

— 

8750 

Niederlande 

209 

(4193) 

— 

4402 

Serbien 

2 

(43) 

58 

(426) 

529 

Bulgarien 

(30) 

(358) 

388 

Italien 

I 

(143) 

51 

(48) 

243 

Europa 

249632 

(485034) 

22360 

(9  113) 

766139 

Vereinigte  Staaten 
Canada 

29836 

(1975205) 
(256483) 

384968 

(1863452) 
(563482) 

3838657 
1234269 

Nordamerika 

29836 

(2231698) 

384968 

(2426934) 

5 073 426 

Südamerika 

2087 

(30010) 

— 

32097 

Amerika 

31923 

(2261709) 

384968 

(2426934) 

5  105  528 

Australien 

2504 

(131  636) 

I  569 

(34701) 

170410 

Afrika 

345 

(56440) 

154 

(9001 

57839 

Asien 


20205      (i  147  530) 


297 


554) 


1279586 

Davon  entfallen  995587  Mill.  t  auf  China,  174000  Mill.  t  auf  Sibirien,  1210  Mill.  t  auf  die 
Mandschurei,  79000  Mill.  t  auf  Indien,  20000  Mill.  t  auf  Indochina,  7970  Mill.  t  auf  Japan, 
81  Mill.  t  auf  Korea  und   i  S58  Mill.  t  auf  Persien. 


Vergleicht  man  die  Vorräte  der  einzelnen  Erd- 
teile, so  steht  Amerika  an  erster  Stelle;  dann 
folgen  Asien,  Europa,  Australien  und  Afrika. 

Deutschlands  Steinkohlenvorräte  betragen  410 
Milliarden  t  und  sind  10  mal  so  groß  wie  die- 
jenigen Österreichs.  Die  mittlere  jährliche  För- 
derung in  den  Jahren  1906 — 1912  betrug  in 
Deutschland  222  Mill.  t,  so  daß  die  deutschen 
Kohlenvorräte  1 800  Jahre  ausreichen 
würden. 

Großbrit.  und  Irland  besitzen  190  Milliarden  t. 
Das  jährliche  Produktionsmittel  beträgt  etwa  268 
Mill.  t.  Unter  Zugrundelegung  dieser  Ziffern 
würden  die  Kohlenvorräte  in  700  Jahren  auf- 
gebraucht sein. 


1)  Die  eingeklammerten  Zahlen  geben  die  wahrscheii 
Torhandenen  Kohlenvorräte  an, 


Rußlands  Vorräte  werden  auf  58 ■/2  Milliarden  t 
geschätzt ;  die  järliche  Produktion  beläuft  sich  auf 
27   Mill.  t. 

Frankreichs  Vorräte  betragen  etwa  16  Milli- 
arden t  und  würden  bei  einem  jährlichen  Abbau 
von  38  Mill.  t.  etwa  420  Jahre  reichen. 

Belgiens  Vorräte  reichen  bei  einer  jährlichen 
Förderung  von  24  Mill.  t.  etwa  450  Jahre. 

Da  der  Steinkohlenbergbau  immer  tiefer  geht 
und  dadurch  die  Selbstkosten  mit  wachsender 
Teufe  immer  größer  werden,  so  ist  für  künftige 
Zeiten  mit  rasch  anschwellenden  Betriebskosten  und 
Kohlenpreisen  zu  rechnen.  V.  Hohenstein. 

Zoologie.  Die  Nahrung  des  Fasans.  All- 
gemein gilt  der  Fasan,  Phasianus  colchicus  L., 
hauptsächlich  als  Körnerfresser.     Nach  Brehm's 


igo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   14 


Tierleben,  4.  Auflage,  wurde  er  in  den  90er  Jahren 
im  westlichen  Küstengebie  der  Vereinigten 
Staaten  als  Getreidefresser  so  schädlich ,  daß 
man  erörterte,  ob  sein  Nutzen  den  Schaden 
überwiege,  und  dieselbe  Frage  stellt  sich  bei  uns 
mancher  Landwirt,  auch  wenn  die  Fasanen  nicht 
so  zugenommen  haben,  wie  in  dem  amerikanischen 
Ansiedelungsgebiet.  Nach  dem  „Brehm"  frißt 
der  Fasan  Saat,  Körner  und  Beeren,  nebenbei 
Tiere.  Es  wird  interessieren,  was  A.  L.  Lörn 
in  der  deutschen  Jägerzeitung,  Bd.  68,  Nr.  24, 
hierüber  mitteilt.  Der  Kropf  einer  größeren  An- 
zahl von  Fasanen  barg  überwiegend  Schnecken 
mit  und  ohne  Gehäuse,  daneben  Käfer,  besonders 
Larven  des  „Blattkäfers",  in  einem  Falle  enthielt 
der  Kopf  eines  bei  Salzburg  erlegten  Fasans  fast 
ausschließlich  einen  faustgroßen  Ballen  aus  mehr 
als  700  Larven  des  öfter  überaus  schädlichen, 
namentlich  in  Österreich-Ungarn,  Rußland,  Posen, 
Preußen  und  Sachsen  wiederholt  massenhaft  auf- 
getretenen Getreidelaufkäfers,  Zabrus  tenebrioides 
Goeze,  der  als  Volltier  an  den  Ähren  zehrt, 
während  die  Larve  im  gleichen  Maße  der  Saat 
schadet.  Nur  in  einem  Falle  enthielt  ein  Fasanen- 
kropf Maiskörner;  das  war  im  harten  Winter,  und 
die  Körner  stammten  nachweislich  von  einem 
Futterplatze.  Der  Gewährsmann  stellt  nicht  in 
Abrede,  daß  Körneräsung  vom  Fasan  zur  Er- 
gänzung der  tierischen  Nahrung  genommen 
wird  und  regt  zu  weiteren  Untersuchungen  dieser 
Frage  an,  wozu  sich  öfter  auch  in  der  Küche 
Gelegenheit  finden  wird.  V.  F. 

Eine  entwicklungsgeschichilich  begründete  Ver- 
erbungsregel. Nur  auf  einfache  Weise  verur- 
sachte Merkmale,  meint  Valentin  Haecker*), 
fügen  sich  genau  den  Mendel' sehen  Regeln, 
oder,  wie  esHaecker  in  zwei  Sätzen  ausspricht: 
„I.  Merkmale  mit  einfach  verursachter,  frühzeitig 
autonomer  Entwicklung  weisen  klare  Spaltungs- 
verhältnisse auf.  2.  Merkmale  mit  komplex  ver- 
ursachter, durch  Korrelation  gebundener  Entwick- 
lung zeigen  häufig  die  Erscheinung  der  unregel- 
mäßigen Dominanz  und  der  Kreuzungsvariabilität 
sowie  ungewöhnliche  Zahlenverhältnisse  und  deut- 
liche Selektionswirkungen."  Was  auf  einem  all- 
gemeinen Chemismus  beruht,  wie  die  Unterschiede 
der  Haarfarbe  der  Neger,  soweit  sie  auf  Farbe 
und  Dichtigkeit  der  Pigmentkörner  beruht,  oder 
der  Albinismus,  spaltet  sich  rein  nach  den 
Mendel'  sehen  Regeln ,  nicht  aber  das  auf 
Strukturverschiedenheiten  beruhende  Taubenblau, 
ebensowenig  die  gelbe  Haarfarbe  der  Mäuse,  die 
korrelativ  mit  Fettsucht  und  Sterilität  auftritt, 
also  auf  einem  komplizierteren  Chemismus  beruht, 
oder  die  Rotäugigkeit  bei  dunklem  Haarkleid,  die 
durch   einen  Wechsel    der   Pigmentbildungsbedin- 

')  MitleilunKcn  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu 
Halle  a.  S.,  Bd.  4,  1916.  Eine  ausführlichere  Darstellung 
wird  in  der  Zeitschrift  für  induktive  Abstammungslehre  er- 
scheinen. 


gungen  zwischen  der  Retina-  und  der  Haar- 
entwicklung beruhen  muß.  Das  Wildgrau  wiederum 
beruht  auf  Anordnung  der  Pigmentkörner  in  Zonen 
im  Haar,  somit  auf  einem  ausgesprochen  rhyth- 
mischen und  schon  deshalb  einfachen  Wachstums- 
und Differenzierungsprozeß,  daher  mendelt  es  regel- 
mäßig. 

Die  Zeichnung  der  Wirbeltiere  scheint 
nach  Haecker's  Untersuchungen  am  Axolotl  mit 
der  „Wachstumsordnung"  des  Integuments 
zusammenzuhängen,  gehäufte  Zellteilungen  liegen 
bei  frühen  Stadien  in  einem  bestimmten  Muster, 
dem  später  die  Zeichnung  entspricht.  Bei  der 
primären  Längsstreifung  ist  dieses  Muster  offenbar 
ein  einfaches,  und  dem  entsprechen  die  zunächst 
bei  Hühnern  und  Schweinen  nachweisbaren  regel- 
mäßigen Spaltungsverhältnisse.  Anders  die  Mosaik- 
und  Metameroidscheckung  der  Säuger,  bei  der  an 
bestimmten  hochwichtigen  Körperstellen,  wie  am 
Auge,  Ohr,  Schulterblatt  und  Kreuzbein,  das 
Pigment  am  zähesten  festgehalten  wird;  ihren 
komplexen  Ursachen  entsprechen  eine  hochgradige 
individuelle  und  Kreuzungsvariabilität  sowie  häufig 
unklare  Zahlenverhältnisse.  Die  Zeichnung  der 
Vogelfedern  beruht  auf  der  Wachstumsordnung 
des  Federkeims,  eines  hochgradig  autonomen  und 
rein  epidermalen  Gebildes;  ist  sie  einfach,  wie 
bei  gesperberten  Hühnern,  so  mendelt  sie;  da- 
gegen zeigt  sie  in  der  Regelmäßigkeit  ihrer  Aus- 
bildung wie  ihrer  Vererbbarkeit  alle  Abstufungen 
bis  zu  den  kompliziertesten  Typen  bei  Fasanen. 
Unter  den  Kammformen  der  Hühner  mendeln 
die  einfacheren  regelmäßig,  wie  der  „einfache" 
und  der  Erbsenkamm,  aber  nicht  der  Rosenkamm 
und  der  V-Kamm.  Die  hohen  Nasenlöcher  bei 
den  Polen  und  Houdans  vererben  sich  unregel- 
mäßig, weil  sie,  wie  schon  Darwin  wußte,  durch 
Zusammenwirken  vieler  Skelett-  und  Mesenchym- 
teile  entstehen. 

Die  für  einige  der  vorigen  und  ähnliche  Fälle 
geltende  „Epidermis-Mesenchym-Rege  1", 
nach  der  ein  Merkmal  um  so  besser  mendelt,  je 
ausschließlicher  es  auf  der  Epidermis  beruht,  je 
weniger  auf  dem  Mesenchym,  bestätigt  sich  auch 
im  klaren  Mendeln  des  Angorismus  der  Kaninchen, 
der  gekräuselten  Haarform  des  Menschen,  der  ge- 
krümmten und  zerschlissenen  Federform  bei  Hühner- 
rassen, des  geschichteten  Stars  der  Augenlinse, 
wogegen  wiederum  die  Körpergröße  bei  Menschen, 
Tieren  und  Pflanzen  in  ihren  Übertragungsverhält- 
nissen unübersichtlich  ist.  Mikromelie  oder  Kurz- 
gliedrigkeit  des  Menschen  beruht  wahrscheinlich 
auf  einer  bestimmten  Funktionsweise  der  Hypo- 
physis,  ebenso  die  Form  der  Nase  und  sonstigen 
Gesichtszüge  im  Habsburger  Familientypus,  daher 
mendeln  diese  Eigenschaften  gleich  wie  Brachy- 
daktylie  und  Hypophalangie,  während  sonstige 
I-'ormen  der  Nase  und  die  nicht  korrelativ  mit 
anderen  Anomalien  auftretenden  Erscheinungen  der 
Hyperdaktylie,  Hyperphalangie  und  Syndaktylie 
es  nicht  tun. 

Wenn  die  Erblichkeitsverhältnisse  des  Chloro- 


N.  F.  XVI.  Nr.   14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


phyUmangels  der  Pflanzenkeimlinge,  der  Immunität 
von  Pflanzen  gegen  Brand  und  Rost  und  ihrer 
Kältefestigkeit  sich  in  die  Haecker'sche  Regel 
nicht  fügen,  sondern  von  Art  zu  Art  verschiedene 
sind,  so  mag,  meint  Haecker,  zu  bedenken  sein, 
daß  besonders  bei  chemisch  physiologischen  Vor- 
gängen zurzeit  noch  ein  wirklicher  Maßstab  für 
die  Beurteilung  des  Grades  der  Einfachheit  oder 
Komplexität  fehlt. 

Es  liegt  wohl  zweifellos  etwas  Erklärendes  in 
der  Anschauung,  daß  nur  das  einfach  Ent- 
standene einfache  Vererbungsverhältnisse  auf- 
weisen kann.  V.  Franz. 


Heidschnucken  in  freier  VVildbahn.  Nachdem 
bekanntlich  das  Muffelwild,  Ovis  musimon,  sich 
auf  deutschem  Boden  überall,  wo  es  ausgesetzt 
wurde,  gut  bewährt  hat,  gehen  neuerdings  Mit- 
teilungen durch  die  landwirtschaftliche  und  Jagd- 
presse, wonach  man  auch  mit  Heidschnucken 
in  freier  Wildbahn  gute  Erfahrungen  gemacht 
hat.  Über  solche  verfügt  seit  6  Jahren  Fürst 
zu  Leiningen  in  Schloßaue  im  Odenwald,  und  von 
dorther  erfahre  ich,  daß  1910  zunächst  ein  Bock 
und  zwei  einjährige  Lammschafe  ausgesetzt  wurden. 
Später  wurden  noch  weitere  Stücke  hinzugefügt. 
Sie  besuchen  nie  eine  Schutzhütte,  haben  vielmehr 
eine  aus  Fichtenholz  erbaute  aufgefressen,  und 
überstanden  auch  die  kalten  Wintertage  19 17  aus- 
gezeichnet. Ihre  Vermehrung  ist  sogar  besser  als 
in  der  Lüneburger  Heide,  da  die  Schafe  fast  all- 
jährlich Zwillingslämmer  werfen.  Sie  fressen  im 
Winter  gemeinsam  mit  Edel-  und  Dammwild  das 
diesem  gebotene  Heu,  kratzen  Äsung  unter  dem 
Schnee  hervor  und  nehmen  auch  gierig  Kiefern- 
und  Fichtenreisig  auf.  Genutzt  wird  der  Bestand, 
der  gegenwärtig  infolge  des  Krieges  eine  Ver- 
minderung erfahren  hat  und  sich  nur  noch  auf 
16  Stück  beläuft,  durch  regelmäßigen  Abschuß  — 
die  Stücke  sind  gut  von  ausgezeichnetem,  im  Ge- 
schmack wildartig  gewordenen  Wildpret  —  und, 
soweit  möglich,  durch  Schur  der  Wolle;  doch 
sind  die    wilden  Tiere    oft    gar  nicht  einzufangen. 

Anderwärts,  wo  junge  Tannenkulturen  nicht 
eingehordet  sind,  machen  sich  nach  der  Deutschen 
Jägerzeitung  vom  28.  Januar  1917  wild  gehaltene 
Heidschnucken  durch  starkes  Verbeißen  der 
Pflanzen  schädlich.  ^)  Dort  sowie  gelegentlich  in 
Schloßaue  hat  man  übrigens  beobachtet,  daß 
Böcke  sich  mitunter  mit  ihrem  Schneckengehörn 
in  die  Hals-  und  Nackenwolle  verwickeln  und 
dann  elend  verhungern  müssen. 

Herr  Rittergutsbesitzer  Wilke  in  Döbra  bei 
Kamenz,  Königreich  Sachsen,  teilt  mir  mit, 
daß  er  seit  November  1916  gleichfalls  Schafe,  und 
zwar     langwollige    Holsteiner,     in     freier 


')  Sollte  nicht  die  ganze  Lüneburger  Heide  ein  allein 
durch  die  Schafe  in  Ödland  verwandeltes  ehemaliges  Wald- 
gebiet sein? 


Wildbahn  hält.  Sie  sind  noch  in  keinen  Stall  ge- 
kommen und  haben  die  kalten  Januartage  gleich- 
falls gut  überstanden.  V.  Franz. 

Gelegentliches  Überwintern  von  Zugvögeln, 
wie  es  O.  Natorp  in  Myslowitz  im  November 
1916  an  zwei  Mönchsgrasmücken  und  einem 
Gartenrotschwänzchen  beobachtete,  kann  nach 
gelegentlichen  weiteren  Beobachtungen  des  Ge- 
nannten auf  Verletzung  der  Vögel  an  Telegraphen- 
drähten während  des  Herbstzuges  beruhen.  Über- 
winternde Singvögel,  die  verheilte  Verletzungen 
trugen,  sah  Natorp  1909,  eine  Gartengrasmücke 
und  eine  Weiße  Bachstelze.  Letztere  trug  übrigens 
Anfang  März  noch  Wintertracht,  hatte  also  im 
Gegensatz  zu  den  inzwischen  zurückgekehrten  ^ 
Artgenossen  die  wohl  in  den  Februar  fallende 
Wmtermauser  nicht  durchgemacht.  (Ornithol. 
Monatsschrift   191 7,  Nr.  2.)  V.  Franz. 

Der  Krieg  und  die  Wanderstraßen  der  Zug- 
vögel. Die  große  Mehrzahl  der  Zugvögel  hat 
seit  Wochen  bereits  die  alljährliche  Reise  in 
wärmere  Gegenden  angetreten,  aber  der  Mensch 
vermag  ihnen,  seitdem  der  Krieg  in  Europa  wütet, 
nicht  mehr  so  leicht  zu  folgen,  wie  er  es  früher 
vielleicht  gewohnt  war,  denn  die  Bahnverbindungen 
zwischen  den  feindlichen  Ländern  sind  unter- 
brochen, und  selbst  die  Schiffahrt  hat  ihre  Linien 
der  Minengefahr  und  sonstiger  durch  den  Krieg 
entstandener  Hindernisse  wegen  zum  Teil  verlegt, 
zum  Teil  sogar  für  die  Kriegsdauer  ganz  auf- 
gegeben. Aber  es  sind  nicht  nur  die  menschlichen 
Verkehrswege,  die  durch  den  Krieg  eine  Änderung 
erfahren  haben,  sondern  auch  die  Wanderstraßen 
der  Zugvögel,  aufweichen  diese  seit  Zehntausenden 
von  Jahren  daherziehen,  sind  durch  den  Weltkrieg 
in  Mitleidenschaft  gezogen  worden.  Sowohl  von 
der  Westfront  wie  auch  von  der  Ostfront  liegen 
Mitteilungen  darüber  vor,  daß  die  Vögel  sich  den 
Schlachtgebieten  möglichst  fernhalten,  vermutlich 
weil  der  andauernde  Kanonendonner  und  das 
Explodieren  der  Granaten  ihnen  als  eine  Art 
furchtbares  Unwetter  erscheinen,  dem  sie  möglichst 
aus  dem  Wege  zu  gehen  trachten.  —  Natürlich 
ist  die  Abneigung  gegen  das  Schlachtfeld  nicht 
bei  allen  Vogelarten  gleich  entwickelt,  sondern 
richtet  sich  ganz  nach  dem  Naturell  und  den 
Gewohnheiten  der  betreffenden  Art;  so  stört, 
z.  B.,  die  Raben  und  Krähen  das  Schlachtfeld 
nicht  im  geringsten  und  sie  zeigen  auch  keine 
Scheu  oder  Furcht,  sondern  sind  vielfach  in  ihrer 
unersättlichen  Beutegier  von  einer  früher  nicht 
gekannten  Dreistigkeit. 

Das  bisher  vorliegende  Beobachtungsmaterial 
über  die  Wirkungen  des  Krieges  auf  die  Vogel- 
welt ist  allerdings  noch  nicht  sonderlich  reichhaltig 
und  wird  sich  wohl  erst  nach  und  nach  vervoll- 
ständigen lassen;  einstweilen  beziehen  sich  die 
Beobachtungen  natürlich  vor  allem  auf  die  be- 
kannteren Vögel,   wie  Stare,    Schwalben,  Lerchen 


192 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


oder  solche  Vogelarten  wie  Schnepfen  und  Störche, 
deren  Körpergröße  es  möglich  macht,  sie  während 
des  Fluges  auch  auf  größere  Entfernungen  zu  beo- 
bachten. Die  meiste  Aufmerksamkeit  ist  in  allen 
kriegführenden  Ländern,  wo  er  noch  vorhanden 
ist,  dem  Storch  zugewendet  worden  und  alle  Mit- 
teilungen stimmen  darin  überein,  daß  der  Storch 
von  allen  Vögeln  den  Wirkungen  des  Krieges 
gegenüber  mit  am  empfindlichsten  ist.  Er  verläßt 
fluchtartig  die  Gegenden,  in  welchen  sichkriegerische 
Handlungen  abspielen  und  kehrt  nur  in  den  sel- 
tensten Fällen  und  auch  dann  voller  Scheu  und 
Mißtrauen  in  sie  zurück. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Wanderstraßen  der 
Zugvögel  mit  Vorliebe  den  Meeresküsten  und  den 
Flußiälern  folgen.  Über  Helgoland,  das  für  die 
riesigen  Scharen  der  dort  vorüberkommenden 
Zugvögel  bekannt  ist,  führt  der  Flug  an  der 
deutschen  und  der  holländischen  Nordküste  ent- 
lang und  schwenkt  dann  bei  der  Rheinmündung 
über  das  Festland  ein.  Hier  teilt  der  Zug  sich 
in  zwei  Teile;  der  eine  folgt  dem  Rheintal  und 
der  andere  dem  Maastal,  und  erst  im  im  Rhöne- 
tal  treffen  die  beiden  Züge  wieder  zusammen,  um 
sodann  gemeinsam  die  Reise  an  die  Miitelmeer- 
küste  fortzusetzen.  Man  sieht  also,  daß  die  eine 
der  großen  europäischen  Wanderstraßen,  diejenige 
durch  Belgien  und  Ostfrankreich,  gerade  durch 
diejenigen  Gebiete  führt,  in  denen  der  Krieg  nun 
seit  zwei  Jahren  mit  besonderer  Erbitterung  ge- 
führt wird. 

Die  soeben  erwähnte  Zugstraße  wird  außer 
von  vielen  anderen  Vögeln  auch  von  den  in 
Holland  und  Nordeuropa  wohnenden  Störchen  be- 
nutzt, da  der  Storch,  dank  dem  Schutz,  welcher 
ihm  dort  zuteil  wird,  in  diesen  Ländern  noch 
ziemlich  häufig  ist,  während  beispielsweise  in 
Mittelfrankreich  die  Störche  bereits  seit  längerer 
Zeit  vollständig  verschwunden  sind.  Das  Merk- 
würdige ist  nun,  das  seit  Kriegsausbruch  in 
Mittel-  sowohl  wie  in  Westfrankreich  die  Störche 
wiedergekehrt  sind  und  zwar  nicht  in  einzelnen 
Exemplaren,  sondern  zu  ganzen  Scharen.  Besonders 
stark  soll,  wie  die  Iranzösische  Presse  angibt,  die 
Zuwanderung  in  der  Umgegend  von  Orleans  und 
im  Departement  Seine-et  Oise  gewesen  sein.  Auch 
über  die  Schnepfen  und  Lerchen  liegen  Beobach- 
tungen vor,  aus  denen  hervorgeht,  daß  diese 
Vögel  von  ihren  gewöhnlichen  Zugstraßen  ab- 
gewichen sind  und  ihren  Weg  nun  durch  die 
Gebiete  des  mittleren  Frankreichs  nehmen. 

Auch  die  Mitteilungen,  welche  von  der  Ost- 
front vorliegen,  beziehen  sich  zum  großen  Teile 
auf   die  Störche:    so  ist    beobachtet   worden,    daß 


sie  in  allen  Gebieten  der  nördlichen  russischen 
Front,  also  in  den  baltischen  Provinzen,  in  Polen 
und  selbst  in  Galizien  seit  Ausbruch  des  Krieges 
ihre  Herbstreise  viel  früher  als  gewöhnlich,  antraten 
und  auch  viel  früher  über  Österreich  hinzogen, 
denn  während  sie  dort  sonst  erst  im  September 
einzutreffen  pflegten,  erschienen  sie  seit  dem 
Kriege  stets  berehs  um  die  Mitte  August.  —  Es 
wäre  natürlich  von  großem  Interesse,  möglichst 
viele  Einzelbeobachtungen  zur  Verfügung  zu  haben, 
um  sich  auf  Grund  dieser  ein  vollständigeres  Bild 
über  die  Einwirkung  des  Krieges  auf  das  Vogel- 
reich machen  zu  können,  leider  aber  sind  diese 
Beobachtungen  zurzeit  schwer  zugänglich,  da  sie 
in  den  verschiedenen  ornithologischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Zeitschriften  der  kriegführenden 
Länder  verstreut  sind.  Einer  dieser  Zeitschriften 
wird  von  einem  Vogelfreund  aus  der  österreichischen 
Stadt  Mastig  mitgeteilt,  daß  er  in  diesem  Jahre 
bereits  am  i8.  August  nach  Hunderten  zählende 
Scharen  von  Störchen  ziehen  sah,  die  sich  auf 
dem  Wege  nach  dem  Süden  befanden;  eine  andere 
Mitteilung  aus  den  baltischen  Provinzen  besagt, 
daß  auch  die  Stare  sich  in  diesem  Jahre  viel 
früher  als  sonst  auf  die  Reise  gemacht  haben, 
trotzdem  die  Witterungsverhältnisse  früheren  Jahren 
gegenüber  keineswegs  ungünstiger  waren.  Es 
scheint  demnach  doch  ein  gar  nicht  so  geringer 
Zusammenhang  zwischen  den  Wanderungen  der 
Zugvögel  und  den  Kriegsereignissen  zu  bestehen, 
der  sich  näher  allerdings  wohl  erst  nach  der 
Wiederkehr  normaler  Zeiten  wird  erforschen 
lassen.  W.  P.  L. 


Inhalt:  Gottwalt  Chr.  Hirsch ,  De 
Die  Kohlenvorräte  der  Welt.  S.  i8c 
enlwicklungsgeschichtlich  begründete 
O.  Natorp,  Gelegentliches  Cberwii 
der  Zugvögel.    S.    191.  —  Literatur 


Literatur. 

Trabert,  Prof.  Dr.  W.,  Meteorologie.  4.,  z.  T.  umge- 
arbeitete Aufl.  bearbeitet  von  Dr.  A.  Defant.  Berlin  u. 
Leipzig  '16,  Sammlung  Göschen.  —  i   M. 

Ligahn,"Dr.  A.,  Physiologische  Chemie.  Mit  2  Tafeln. 
2.,  neubearbeitete  Aufl.     Ebenda.  —   i   M. 

Vetter,  Dr.  R.,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  anelytischen 
Eigenschaften  der  Kohlcnstoffmodifikationen  und  orientierende 
Versuche  über  ihre  Entstehungsbedingungen.  Berlin-Oldenburg 
'16,   G.  Stelling.  —  3,50  M. 

Hirt,  Dr.  W.,  Ein  neuer  Weg  zur  Erforschung  der  Seele. 
München  '17,  F.  Reinhardt. 

Graetz,  Prof.  Dr.  L.,  Das  Licht  und  die  Farben.  4.  Aufl. 
17.  Kd.  der  Sammlung  ,,Aus  Natur-  und  Geisteswelt".  Leipzig 
und  Berlin  'ib,  B.   G.  Teubner.  —   1,25  M. 

Heuseling,  R.,  Sternbüchlein  für  1917.  Mit  55  Ab- 
bildungen.   Stuttgart  '17,  Frankh'sche  Verlagshandlung.  —  I  M. 

Deutsches  Fremdwörterbuch  für  die  gesamte  Optik.  Als 
Ratgeber  beim  Verdeutschen  für  Optiker,  Augenärzte,  Fein- 
mechaniker, Photographen  und  verwandte  Berufe.  Berlin, 
AI.   Ehrlich. 

■  Arbeitsrhythmus  der  Ganglienzellen.  S.  185.  —  Einzelberichte;  Fr.  Frech, 
.      A.   L.  Lörn,    Die  Nahrung   des  Fasans.    S.   189.      Valentin   Haecker,    Eine 

Vererbungsregel.  S.  190.  V.  Franz,  Heidschnucken  in  freier  Wildbahn.  S.  191. 
tern  von  Zugvögeln.   S.    191.      W.   P.   Larsen,    Der  Krieg  und   die  Wanderstraßen 

Liste  S.    192. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden 

Ve 

Druck  der  G.  Pätz'schec 


Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten, 
von  Gustav  Fischer  in  Jena, 
ichdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  15.  April  1917. 


Nummer  15. 


Zur  Entwicklung  und  Gliederung  der  Quartärbildungen  des  nördlichen 

Deutschlands. 


Von  H.  Menzel,  (t) 


A.    Einleitung. 


Während  in  den  älteren  Gebirgsformationen 
und  der  zugänglichen  Erdrinde  in  fast  allen  Stufen 
und  Ländern  eine  ebenso  allgemeingültige  wie 
eingehende  Gliederung  durchgeführt  worden  ist, 
während  wir  in  Absätzen  so  weit  zurückliegender 
Epochen,  daß  ein  nicht  an  geologische  Zeitvor- 
stellungen gewöhnter  Geist  sie  gar  nicht  mehr 
ausdenken  kann,  Abteilung  für  Abteilung,  Zone 
für  Zone  (ja  mitunter  auch  ganz  kleine  Bänkchen) 
über  Meilen  und  Länder  hinweg  verfolgen  können, 
treten  uns  aus  der  —  geologisch  gesprochen  — 
jüngsten  Zeit  unserer  Erde,  aus  der  Quartärzeit, 
noch  Rätsel  auf  Rätsel,  ungelöst  und  unergründet. 
Schritt  für  Schritt  entgegen,  und  die  Ablagerungen, 
die  wir  fast  noch  vor  unseren  Augen  haben  ent- 
stehen sehen,  sie  wollen  sich  nicht  dem  Zwange 
der  schematischen  Gliederung  fügen,  wenigstens 
nicht  in  dem  Maße  wie  ihre  älteren  Geschwister. 
Das  mag  fast  wie  ein  Spiel  des  Zufalls  er- 
scheinen, ist  es  aber  keineswegs.  Vielmehr  hängt 
es  durchaus  damit  zusammen,  daß  die  Faktoren, 
die  an  ihrer  Bildung  in  erster  Linie  beteiligt 
waren,  ganz  anderer  Art  sind  und  rascherem 
zeillichem  wie  örtlichem  Wechsel  unterworfen 
waren:  während  in  den  älteren  Formationen 
unserer  Gegenden,  dem  Mesozoikum  und  Paläo- 
zoikum, die  Meeresabsätze  bei  weitem  vorherrschen, 
treten  dieselben  —  im  nördlichen  Deutschland 
wenigstens  —  im  Känozoikum  mehr  und  mehr  zu- 
rück, und  in  der  zweiten  Hälfte  derselben,  zur 
Zeit  des  jüngeren  Tertiärs  und  vor  allem  zur 
Quartärzeit,  rücken  an  ihre  Stelle  die  Festlands- 
bildungen. 

Dazu  tritt  noch  eine  andere  Eigenschaft  der 
Quartärzeit.  Während  der  zweite  für  die  Ent- 
stehung geologischer  Absätze  und  für  die  Lebens- 
bedingungen der  gleichzeitigen  Tier  und  Pflanzen- 
welt ungemein  wichtige  Faktor,  das  Klima  und 
die  meteorologischen  Verhältnisse,  sonst  von 
annähernder  Konstanz  waren  und  nur  ganz  gesetz- 
mäßigen, langsam  wirkenden  Änderungen  unter- 
worfen gewesen  waren,  setzten  zum  Beginn  der 
Quartärzeit  jene  eigenartigen  abnormen  Klima- 
schwankungen ein,  die  uns  unter  dem  Namen 
der  Eiszeiten  geläufig  sind.  Beide  Eigenschaften 
der  Quartärbildungen  unserer  Gegenden,  die  Ent- 
stehung auf  dem  Festlande  mit  seinen  zeitlich 
wie  örtlich  rasch  wechselnden  Bildungsbedingungen, 
sowie  der  noch  erheblich  verstärkte  und  ver- 
mehrte Wechsel  infolge  der  meteorologischen 
Schwankungen,  haben  die  ungemein  mannigfache 


Ausbildung  und  Entwicklung  unserer  Quartär- 
bildungen hervorgerufen,  aber  auch  ihre  Sprödig- 
keit  gegenüber  allen  Gliederungsversuchen  be- 
dingt, besonders  wenn  dieselben  auf  größere 
Erstreckung  ausgedehnt  oder  gar  verallgemeinert 
werden  sollten. 


B.    Die  vorquartäre  Zeit. 

Festlandsbildungen  sind  immer  in  erhöhtem 
Maße  abhängig  von  dem  Untergrund  und  den 
älteren  P^ormationen ,  sowohl  hinsichtlich  ihrer 
Verbreitung  und  Erscheinung  wie  auch  ihrer 
stofflichen  Zusammensetzung. 

Die  Gebirge  Mitteldeutschlands  werden  wie 
bekannt  aufgebaut  aus  Schichten  fast  aller  Forma- 
tionsglieder vom  Cambrium  ab.  Im  Rheinischen 
Schiefergebirge,  im  Thüringer  Wald,  Franken- 
wald ,  Erzgebirge ,  Vogtland ,  Schlesien  ,  Bayern, 
Böhmen  usw.,  im  Harz  und  an  einigen  anderen 
Stellen  wie  Magdeburg  usw.  treten  Gesteine  des 
Paläozoikums  an  die  Tagesoberfläche.  Alle  übrigen 
Gebirge  werden  von  mesozoischen  Gesteinen  zu- 
sammengesetzt. Paläozoische  wie  mesozoische 
Formationen  bestehen  zum  weitaus  größten  Teile 
aus  den  weithin  gleichbleibenden  und  gut  ver- 
folgbaren Absätzen  meist  ruhiger  Meere.  Am 
Schlüsse  des  Paläozoikums  schiebt  sich  eine  Fest- 
landsbildung ein,  zur  Zeit  des  produktiven  Karbons, 
während  der  die  gewaltigen  Süßwasser-  und  Sumpf- 
bildungen entstanden.  Gleichzeitig  ereigneten  sich 
die  großen  tektonischen  Vorgänge,  die  unter  dem 
Namen  der  erzgebirgischen  Faltung  bekannt  sind 
und  in  nicht  geringem  Maße  zur  späteren  Ober- 
flächengestaltung des  Landes  beitrugen. 

Auch  im  Mesozoikum  überwiegen  die  marinen 
Absätze  noch.  Wohl  schwankt  der  Meeresspiegel 
zeitweise  auch  stark,  wohl  wechseln  positive  und 
negative  Strandverschiebungen  stetig  miteinander 
ab.  Es  kommt  zur  Festlandsbildung  zur  Keuper- 
zeit.  Dasselbe  wiederholt  sich  am  Ende  der  Jura- 
periode und  dauert  bis  tief  in  die  Kreide.  Hand 
in  Hand  gehen  starke  Erosionen ,  Abrasionen, 
Süßwasser-,  Sumpf-  und  Strandbildungen.  Aber 
immer  wieder  überzieht  das  Land  die  Meeresflut 
und  deckt  seine  Ablagerungen  darüber. 

Erst  von  der  Zeit  der  Oberen  Kreide  an  neigt 
sich  im  Kampf  des  Meeres  mit  dem  Festlande 
das  Zünglein  der  Wage  zugunsten  des  letzteren. 
Über  weite  Strecken  hin  fehlen  die  obersten 
Kreidebildungen  und  haben  wohl  immer  gefehlt. 
Das  gleiche  gilt  von  den  tiefsten  Schichten  des 
Tertiär,  dem  Paleozän  und  Eozän.     In  Frankreich, 


194 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  IS 


England,  Belgien  und  Dänemark  vorhanden,  sind 
sie  im  nördlichen  Deutschland  zum  Teil  nur  durch 
Geschiebe  und  durch  Bohrlochfunde  angedeutet. 
Eine  der  ältesten  im  nördlichen  Deutschland  auf- 
tretenden tertiären  Schichten  besitzt  ein  unter- 
oligozänes,  richtiger  wohl  eozänes  Alter,  sie  be- 
stehen aus  Festlandsbildungen,  Braunkohlen,  Tonen 
und  Sanden,  wie  sie  in  der  Gegend  von  Halle 
und  von  Frohse,  Egeln  usw.  auftreten.  Ihrer 
Ablagerung  vorausgegangen  ist  eine  Zeit  meist 
der  Abrasion  und  Erosion,  die  noch  eine  Zeillang 
anhält  und  begleitet  ist  von  ganz  erheblichen 
Bewegungen  der  Erdrinde,  die  stellenweise  zu 
Verwerfungen  geführt  haben.  Diese  Festlands- 
bildungen werden  wieder  von  marinen  Schichten 
des  Unteroligozän  bedeckt,  sodann  folgt  das 
Mitteloligozän  und  das  Oberoligozän.  Zur  unteren 
Miozänzeit  hebt  sich  aber  das  Land  wieder  weithin 
aus  dem  Meere  heraus,  und  weite  Süßwasserseen 
und  Sümpfe  nehmen  Norddeutschland  ein.  Es 
entstehen  die  Märkischen  Braunkohlenbildungen 
mit  ihren  Sanden,  die  weit  über  die  Mark  hinaus 
sich  nach  Osten,  Westen  und  Süden  fortgesetzt 
hatten. 

Am  Ende  der  Untermiozänzeit  erreichen  die 
tektonischen  Bewegungen  der  Erdrinde  wieder 
seinen  Höhepunkt  in  der  weithin  wirksamen 
herzynischen  Faltung,  die  den  Gebirgsbau 
Mitteldeutschlands  am  eingehendsten  beeinflußt 
hat.  Mit  ihr  trat  in  dem  weitaus  größten  Teile 
Norddeutschlands  die  Festlandszeit  endgültig  ihre 
Herrschaft  an. 

Nur  ganz  im  Nordwesten,  an  der  unteren 
Elbe,  im  nördlichen  Hannover,  in  Schleswig- 
Holstein  usw.  war  ein  Teil  des  Miozänmeeres 
zurückgeblieben.  Dazu  gesellte  sich  ganz  im  Osten 
von  Norddeutschland  ein  weiteres  umfangreiches 
Süßwassersee-  und  Sumpfgebiet:  im  Bereich  der 
Bildung  der  Posener  Flammentone.  In  beiden 
Wasserbecken  ergossen  sich  die  Wasserläufe  der 
damaligen  Zeit  und  zwar  wahrscheinlich  aus  den 
Posen  benachbarten  Gegenden  von  Brandenburg, 
aus  Schlesien  und  den  anliegenden  russischen 
Gebieten  in  den  Flammentonsee;  aus  dem  weit- 
aus größeren  Gebiete  des  mittleren  Norddeutsch- 
lands, also  aus  Pommern,  Brandenburg,  Mecklen- 
burg, Sachsen,  Hannover,  Westfalen  usw.  in  das 
Miozänmeer  der  heutigen  Unterelbe.  Die  heutige 
Verbindung  durch  den  Rhein  nach  Süddeutsch- 
land war  anscheinend  noch  nicht  offen.  Denn  in 
der  Gegend  des  heutigen  Mainzer  Beckens  bis  in 
die  Gegend  der  Wetterau  befand  sich  vom  älteren 
Miozän  ab  ebenfalls  ein  Brackwasserbecken,  das 
im  Laufe  der  Zeit  sich  immer  mehr  aussüßte. 
Nach  der  Donau  zu  war  das  nördliche  Deutsch- 
land in  hydrologischer  Beziehung  durch  eine 
ähnliche  wie  die  heutige  verlaufende  Wasserscheide 
gelrennt. 

In  dem  zum  Festlande  umgestalteten  Teile 
des  nördlichen  Deutschlands  herrschte  von  der 
Miozänzeit  ab  bei  weitem  die  Erosion  vor.  Es 
begannen  damals  sich  die  Gebirge  und  die  Fluß- 


läufe herauszugestalten,  wie  sie  vor  Eintritt  in  die 
Quartärzeil  beschaffen  waren  und  wie  sie  sich  in 
ihren  Grundzügen  heute  noch  unserem  Auge 
darbieten.  Ablagerungen  aus  jener  Zeit  fehlen 
auf  dem  Festlande  entweder  ganz  oder  sind  recht 
selten.  Zur  Pliozänzeit  finden  sich  an  einigen 
Stellen,  in  Thüringen,  der  Rhön,  im  Maingebiet, 
Ablagerungen  mit  Mastodonresten,  wie  sie  in 
Süddeutschland,  Frankreich,  Italien  und  an  anderen 
Orten  sich  aus  dieser  Zeit  erhalten  haben. 

Ganz  im  Nordwesten,  in  England,  befand  sich 
die  ganze  jüngere  Miozän-  und  Pliozänzeit  über 
das  Crag-Meer,  in  dessen  Ablagerungen  marine 
Bildungen  mit  Festlandsabsätzen  wechseln  und  in 
denen  deutlich  ein  Kühlerwerden  des  Klimas  und 
ein  allmähliches  Zunehmen  der  vorher  weiter 
nördlich  lebenden  Mollusken  erkennbar  ist.  Den 
Beschluß  dieser  pliozänen  Schichtenreihe  bilden 
die  Forest-beds  von  Cromer,  in  denen  unter  anderem 
noch  Hippopotamus  und  Elephas  meridionalis 
vorkommen.  Gleichaltrige  Bildungen  sind  un- 
längst auf  dem  Festlande  in  Belgien  entdeckt 
worden.  Ihnen  möchte  ich  in  der  Hauptsache 
Ablagerungen  gleichstellen,  die  sich  u.  a.  im  süd- 
lichen Hannover  bei  Eime  und  in  den  Braun- 
kohlen von  Wallensen  gefunden  haben.  Alles  in 
allem  sind  die  Funde  aus  dieser  Zeit  noch  selten. 

Am  Ende  der  Tertiärzeit  war  also  unser  nörd- 
liches Deutschland  schon  ganz  ähnlich  gestaltet 
wie  heutzutage  das  Gebirgsland.  Es  war  ein 
Festland,  von  Flüssen  durchschnitten,  die  aller- 
dings teilweise  wenigstens  eine  andere  Richtung 
halten,  und  sich  in  Meere  oder  Süßwasserseen 
von  etwas  abweichender  Lage  ergossen.  Auch 
die  klimatischen  Verhältnisse  halten  sich  im  Lauf 
des  Miozäns  und  Pliozäns  den  heuligen  Verhält- 
nissen erheblich  genähert.  Damit  war  eine  der 
jetzigen  schon  ganz  ähnliche  Flora  und  F"auna 
erwachsen ,  denen  allerdings  eine  große  Anzahl 
jetzt  ausgestorbener  Arten  eigen  waren. 

Ganz  am  Schlüsse  der  Pliozänzeit  scheinen 
Bewegungen  der  Erdrinde  stattgefunden  zu  haben, 
die  die  Ablagerung  mariner  Schichten,  z.  B.  noch 
über  den  Porestbed-Bildungen  verursachten.  Dahin 
rechne  ich  auch  die  Cardiensande,  die  von  Maas 
in  Westpreußen  über  den  Posener  Plammentonen 
und  als  Liegendes  der  Glazialbildungen  nachge- 
wiesen worden  sind.  Vielleicht  sind  hierher  auch 
die  präglazialen  Cardiensande  G.  Müller's  von 
Lauenburg  a.  Elbe  zu  stellen.  Ich  kann  hier  nicht 
ganz  den  Gedanken  unterdrücken,  ob  nicht  die  doch 
nur  kurze  Zeit  andauernde  marine  Transgression  vor 
Ablagerung  der  ältesten  Glazialbildungen  schon 
mit  dem  Herannahen  der  Eiszeit  zusammenhängt 
und  z.  T.  mit  durch  das  Verdrängen  des  Meeres 
in  nördlicheren  Gegenden  durch  das  vorrückende 
Eis  bedingt  gewesen  ist. 

C.    Die  Quartärzeit. 
Den  Beginn  der  Quartärzeit    rechnet    man  im 
nördlichen  Deutschland    von    dem  Zeitpunkte   ab, 
wo  die  ersten  Spuren  der  Eiszeil  auftreten. 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


195 


Man  mag  über  die  Ursachen  der  Eiszeiten 
denken  und  Theorien  entwickeln ,  welcher  Art 
sie  auch  sein  mögen.  Über  die  Tatsache  ihres 
Vorhandenseins  wird  man  nicht  hinwegkommen. 
Man  wird  auch  über  die  Tatsache  nicht  hinweg- 
kommen, daß  die  Eiszeit  nicht  eine  rein  örtliche, 
nordeuropäische  und  nordamerikanische  Erschei- 
nung war,  sondern  eine  Erscheinung,  die  auch  an 
den  Gebirgen  tropischer  Länder  zum  Ausdruck 
kommt,  ja  auch  in  der  südlichen  Hemisphäre 
nachgewiesen  ist,  also  eine  gewisse  Allgemein- 
gültigkeit für  unsere  Erde  besitzt.  Aus  diesem 
Grunde  kann  auch  der  Versuch  von  E.  Geinitz, 
die  Ursachen  der  Eiszeit  auf  örtliche  meteoro- 
logische Verhältnisse,  bedingt  durch  andersartige 
Konfiguration  der  Kontinente,  zurückzuführen,  nicht 
ganz  befriedigen,  obwohl  derartige,  wie  die  von 
ihm  geschilderten  Verhältnisse  mitgespielt  haben 
können. 

Will  man  das  Wesen  der  Eiszeit  und  zwar 
vorerst  nur  in  unserem  nördlichen  Deutschland 
definieren,   so  ergibt  sich    als  untrennbar  von  ihr 

1.  ein  kühleres  Klima  und 

2.  eine  Vermehrung  der  Nieder- 
schläge. * 

Es  soll  hier  nicht  weiter  darauf  eingegangen 
werden,  ob  und  wie  diese  beiden  Erscheinungen 
in  einem  ursächlichen  Verhältnis  zueinander  stehen 
und  welcher  das  primäre  ist.  Die  fossilen  Funde 
von  Pflanzen  und  Tieren  weisen  mit  voller  Be- 
stimmtheit darauf  hin,  daß  das  Jahresmittel 
während  der  Glazialzeit  niedrigerer  gewesen  sein 
muß  als  vorher  und  nachher;  und  die  ungeheuren 
Mengen  von  glazialem,  fluvioglazialem  und  fiuvio- 
tilem  Schutt  und  Schotter  ,aus  jener  Zeit  sind 
ein  unumstößlicher  Beweis  für  reichere  Nieder- 
schlagsmengen, mögen  sie  nun  Schnee  und 
Gletschereis  oder  Regen  gewesen  sein. 

Überraschend,  plötzlich,  katastrophenartig  brach 
nun  die  Eiszeit  nicht  herein;  aber  schnell  und 
rasch  im  Verhältnis  zu  der  vorherigen  Wandlung 
der  klimatischen  Verhältnisse  scheint  es  doch  bei 
der  Erniedrigung  der  Temperatur  vor  sich  ge- 
gangen zu  sein,  voi-  allem  aber  unvermittelt 
scheint  die  gewaltige  Vermehrung  der  Nieder- 
schläge gekommen  zu  sein. 

Die  auffälligsten  Folgeerscheinungen  derselben, 
die  ihr  auch  den  Namen  gegeben  haben,  sind  die 
Vereisungen,  d.  h.  die  Überdeckung  großer, 
vorher  eisfreier  Länderstrecken  mit  Inlandeis, 
wenn  dieses  auch  lange  nicht  die  einzigen  F"olgen 
sind. 

Den  Vorgang  bei  einer  Vereisung  werden  wir 
uns  etwa  folgendermaßen  denken  müssen.  Durch 
die  vermehrten  Niederschläge  bei  gleichzeitiger 
Erniedrigung  der  Temperatur  wuchsen  in  dem 
skandinavischen  Heimatgebiet  der  Vereisungen 
die  dort  schon  vorher  vorhandenen  Gletscher  fort 
und  fort  an.  Das  Eis  fing  infolgedessen  physi- 
kalischen Gesetzen  folgend  an,  sich  auszubreiten 
und  vom  Innern  nach  den  Seiten  zu  fortzuschreiten. 
Dieses  Fortschreiten  der  Ränder  dauerte  so  lange, 


als  die  Zufuhr  auf  dem  Eise  die  Menge  überwog, 
die  durch  Abschmelzen  alljährlich  im  Sommer 
verloren  ging.  Es  lassen  sich  nun  zwei  Phasen 
des  Vorschreitens  der  Vereisung  und  damit  zwei 
verschieden  zu  betrachtende  Gebiete  unterscheiden. 
Die  eine  reicht  von  dem  Ausgangsgebiet  bis  an 
die  heutige  Ost-  und  Nordsee,  die,  wenn  auch  in 
anderer  Gestalt,  so  doch  als  wassererfüllte  Senken 
zwischen  Deutschland  und  Skandinavien  lagen. 
Bis  zu  dieser  Senke  flössen  die  Gletscher  gewisser- 
maßen in  normaler  Weise  bergab.  Die  Schmelz- 
wasser sammelten  sich  vor  dem  Rande  in  der 
Senke  und  wurden  in  ihr  wahrscheinlich  nach 
Westen  abgeführt. 

Nachdem  indessen  das  Eis  die  Ost-  und  Nord- 
see überschritten  hatte,  tritt  es  in  eine  andere 
Phase  seines  Vorstoßes  ein.  Es  mußte  von  nun 
an  sozusagen  bergauf  strömen,  denn  das  Gelände 
Norddeutschlands  senkte  sich  im  allgemeinen,  wie 
oben  ausgeführt  worden  ist,  auch  damals  schon 
von  Süden  nach  Norden.  Das  hatte  aber  zur 
Folge,  das  von  nun  ab  nicht  mehr  nur  die 
Schmelzwasser  des  Eises  sich  vor  dessen  Rande 
aufstauten,  sondern  auch  das  Wasser  der  von 
Süden  her  nach  Norden  dem  Meere  zustrebenden 
Flußläufe.  Da  nun  aber  die  Niederschläge  in  der 
Eiszeit  nicht  nur  über  dem  Eise  selbst  eine  Ver- 
mehrung erfahren  hatten,  sondern  diese  vermehrten 
Niederschläge  auch  noch  südlich  des  Eisrandes,  in 
dem  bis  dahin  eisfrei  gewesenen  Gebiete  wirk- 
sam gewesen  waren,  so  waren  die  Flußläufe  auch 
über  ihr  normales  Maß  angeschwollen  und  führten 
infolgedessen  in  erhöhtem  Maße  aus  ihrem  Ober- 
laufe Schutt,  Geröll  und  suspendierte  Teile  mit 
sich.  Sobald  diese  Binnenwasser  aber  in  den  Be- 
reich des  vor  dem  Plise  aufgestauten  Schmelzwassers 
kamen,  mußten  sie  notgedrungen  ihren  Strom 
verlangsamen  und  waren  dadurch  gezwungen,  die 
mitgeführten  Massen  wenigstens  insoweit  fallen  zu 
lassen  und  abzulagern,  wie  ihre  Stoßkraft  und 
Transportfähigkeit  nachlies.  Je  weiter  nun  das 
Eis  vorschritt,  desto  höher  wurden  auch  die 
Wasser  angestaut,  desto  höher  erfolgte  auch  in- 
folgedessen die  Aufschüttung  und  desto  geringer 
war  das  Gefälle  der  Binnenflüsse.  Und  infolgedessen 
mußten  die  Flüsse  immer  eher  und  weiter  fluß- 
aufwärts ihre  Schotter  fallen  lassen,  und  so  schritt 
die  Akkumulation  immer  weiter  nach  rückwärts 
vor.  Das  Eis  schritt  aber  ebenfalls  immer  weiter 
nach  Süden  und  überdeckte  die  kurz  zuvor  vor 
seinem  Rande    aufgeschütteten   Sande    und  Kiese. 

Am  Rande  unseres  heutigen  Gebirgslandes 
etwa  machte  das  Eis  halt.  Stellenweise  drang  es 
noch  in  die  Täler  desselben  nicht  unerheblich  ein. 
Dadurch  gewann  es  aber  einen  Einfluß  auf  ein 
drittes  Gebiet,  das  sich  wieder  von  dem  vorigen 
■scharf  unterscheidet.  In  diesem  nicht  vereist 
gewesenen  Gebiete  hatten  die  Niederschläge 
dieselbe  Wirkung  gehabt,  wie  in  dem  nachher 
vom  Eis  überschrittenen  zweiten  Gebiet.  Die 
Flußläufe  waren  wasserreicher  geworden  und 
hatten  in  verstärktem  Maße  Geröll  und  Schlamm 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


talabwärts  geführt.  Nachdem  das  Eis  bis  in  ihre 
Täler  vorgedrungen  war  und  ihnen  den  Weg  tal- 
abwärts verlegt  hatte,  mußten  auch  sie  einen 
großen  Teil  ihrer  Lasten  ablegen,  ihre  Betten  er- 
höhen und  sich  andere  Wege  zum  Meere  suchen. 
So  macht  sich  auch  in  dem  nie  vereist  gewesenen 
Gebiete  der  Einfluß  der  Vereisung  hoch  hinauf 
geltend,  indem  er  Anlaß  gab  zu  immer  weiter 
rückwärts  schreitender  Akkumulation.  Die  Ab- 
lagerungen dieses  Abschnittes  unterscheiden  sich 
von  denen  der  zweiten  in  gleicher  Weise  ge- 
bildeten durch  ihren  völligen  Mangel  an 
nordischem  Material  und  dadurch,  daß  das  Eis 
sie  nachmals  nicht  mehr  überzog.  Aber  die  Eis- 
zeit hatte  nicht  nur  auf  die  Art  und  Beschaffen- 
heit der  unter  ihrer  Herrschaft  abgelagerten 
Bildungen  bestimmend  gewirkt,  sie  hat  auch  einen 
bedeutenden  Einfluß  auf  die  zeitgenössische  Flora 
und  Fauna  ausgeübt. 

Vor  dem  Herannahen  der  Eiszeit  war  die 
Verteilung  des  Klimas  und  der  klimatischen 
Zonen  völlig  ähnlich  der  heutigen.  Dem  Pol  zu- 
nächst folgte  die  arktische  Zone,  der  sich  südwärts 
die  subarktische  anschloß,  die  noch  weiter  nach 
Süden  in  die  gemäßigte  überging.  Eine  jede 
Zone,  innerhalb  deren  nun  wieder  kleinere  Unter- 
schiede stattfanden,  hatte  ihre  eigene  Flora  und 
Fauna. 

Mit  dem  Beginn  der  Eiszeit  und  dem  Vor- 
rücken des  Eises  beginnt  eine  Verschiebung  der 
klimatischen  Zonen  nach  Süden.  Hand  in  Hand 
damit  findet  eine  Verschiebung  der  arktischen 
und  subarktischen  Floren  und  Faunen  nach  Süden 
zu  statt.  Doch  ist  der  Vorgang  bei  dieser  Ver- 
schiebung nicht  ganz  einlach.  Schon  in  der 
Vermehrung  der  Niederschläge  liegt  ein  bedeut- 
samer Unterschied.  Sodann  ist  eine  Faunen-  und 
Florenverschiebung  nicht  so  ohne  weiteres  mathe- 
matisch möglich.  Die  Vorgänge  dabei  sind  viel- 
mehr recht  kompliziert.  Betrachten  wir  nur 
einmal  den  II.  Abschnitt,  das  vereist  gewesene 
Gebiet  Norddeutschlands.  Vor  dem  Heranrücken 
der  Vereisung  herrschte  hier  ein  gemäßigtes 
Klima  und  war  eine  gemäßigte  Flora  und  Fauna 
einheimisch.  Diese  setzt  sich  in  beiden  Fällen 
zusammen  einmal  aus  der  großen  Masse  weit 
verbreiteter  indifferenter  und  sehr  anpassungs- 
fähiger Pflanzen  und  Tiere;  zum  anderen  aus 
einer  kleinen  Zahl  von  Geschöpfen,  die  ihre 
Hauptverbreitung  in  südlicheren  Gegenden  haben, 
in  diesem  Gebiete  ihre  nördlichste  Verbreitung 
besitzen.  Diese  wird  gegen  ein  Sinken  der 
Temperatur  am  empfindlichsten  sein.  Und  schließ- 
lich lebt  eine  Anzahl  von  Pflanzen  in  dem  Gebiet, 
die  weiter  nördlich  zuhause  sind,  in  unserm  Ge- 
biete aber  die  Südgrenze  ihrer  Verbreitung  haben. 
Wenn  nun  das  Klima  infolge  der  einbrechenden 
Eiszeit  sinkt,  so  werden  vorerst  die  Masse  der  in- 
differenten Pflanzen  und  Tiere  ruhig  weiterleben, 
vielleicht  nur  ein  wenig  ihre  Gewohnheiten  ändern 
und  geschützte  Stellen  aufsuchen.  Auch  die  süd- 
licheren   Geschöpfe   werden    nicht    ohne    weiteres 


aufhören  zu  existieren.  Die  erwachsenen  Exem- 
plare ertragen  die  veränderten  klimatischen  Be- 
dingungen, ohne  Schaden  zu  nehmen.  Sie  können 
sich  ja,  bei  den  Tieren  wenigstens,  durch  bessere 
Unterschlüpfe  schützen.  Im  übrigen  ist  es  ja 
auch  nur  das  Jahresmittel,  das  insgesamt  fällt. 
Die  Sommer  der  Eiszeit  werden  durchaus,  wenn 
auch  nicht  lang,  so  doch  warm  gewesen  sein. 
Und  das  genügt  vielen  Geschöpfen  völlig  zum 
Wachstum.  Nur  wenn  der  junge  Nachwuchs  unter 
der  Kürze  der  warmen  Jahreszeit  zu  leiden  be- 
ginnt und  die  Zahl  der  heranwachsenden  Jungen 
immer  geringer  wird,  dann  beginnt  eine  Tier- 
oder Pflanzenart  an  einem  Orte  auszusterben.  So 
ist  das  Erlöschen  der  wärmeliebenden  Tiere  und 
Pflanzen  in  der  Eiszeit  außerhalb  der  Vereisungen 
auch  nur  ein  allmähliches  gewesen. 

Die  Klasse  der  kälteliebenderen  Organismen 
dagegen  ist  rascheren  Veränderungen  unterworfen 
gewesen ;  vor  allem  in  der  Verbreitung  der  größeren 
Tiere.  Die  anwachsenden  Eismassen  verdrängten 
sie  von  Norden  her  aus  ihren  Wohnplätzen.  Die 
an  Strenge  zunehmenden  Winter  zwangen  sie,  ihre 
winterlicHen  Wanderungen,  die  ja  die  nordische 
Säugetier-  und  Vogelwelt  noch  heute  unternimmt, 
länger  und  weiter  nach  Süden  auszudehnen.  So 
kamen  schon  nordische  Gäste  in  unsere  Gegenden, 
als  auch  die  wärmeliebenden  Tiere  hier  ihr  Leben 
noch  fristeten.  Die  große  Zahl  der  weniger  be- 
weglichen Tiere,  der  Schnecken  z.  B.,  und  der 
Pflanzen  kam  erst  später,  teils  langsam  sich  aus- 
breitend infolge  größerer  Vermehrung  unter  günsti- 
geren Lebensbedingungen,  teils  mechanisch  durch 
diese  und  auf  dem  Rücken  des  Eises  oder  durch 
die  größeren  Tiere  verschleppt.  So  erlischt  all- 
mähüch,  in  den  dem  Eise  näher  gelegenen,  den 
nördlicheren  Gegenden,  schneller,  im  Süden  lang- 
samer, die  Zahl  der  wärmeliebenden  Geschöpfe, 
und  es  stellten  sich  zu  den  überlebenden  indiffe- 
renten Formen  immer  mehr  nordische  Gäste  ein, 
die  zum  Schlüsse  überwiegen. 

Nachdem  der  Höhepunkt  erreicht  und  ein 
weiteres  Vordringen  des  Eises  nicht  mehr  möglich 
war,  weil  die  alljährlich  an  den  Rändern  und  an 
der  Oberfläche  abschmelzende  Menge  den  Nach- 
schub überwog,  einmal,  weil  vielleicht  die  Tem- 
peratur wieder  gestiegen  war  und  zum  anderen, 
weil,  was  wahrscheinlicher  ist,  die  Menge  der 
Niederschläge  nachgelassen  hatte,  begann  das 
allgemeine  Abschmelzen,  der  Rückgang  der  Ver- 
eisung, sowie  der  Vorstoß  in  zahlreichen  Schwan- 
kungen (Oszillationen). 

Die  dabei  frei  werdenden  ungeheuren  Mengen 
von  Schmelzwasser  im  Bunde  mit  den  aufgestauten 
Binnenwässern  der  Flüsse  suchten  ihren  Abfluß 
in  den  weiten  Urstromtälern,  aus  denen  sich  nach 
und  nach  unsere  heutigen  P'luß-  und  Seesysteme 
entwickelten.  Das  vom  Eis  und  Wasser  ver- 
lassene weite  Sand-  und  Schuttfeld  aber  besiedelte 
sich  allmählich  mit  den  Pflanzen  und  Tieren,  die 
vor  dem  Eisrande  außerhalb  der  vom  Wasser 
eingenommenen    Gegenden    gelebt    hatten.      Ehe 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


197 


sie  jedoch  noch  Besitz  ergriffen  hatten  von  der 
gesamten  Schuttlandschaft,  war  diese  der  nahm- 
haften Erosion  ausgesetzt,  die  die  heftigen  herr- 
schenden Stürme  ausübten  und  die  an  anderen 
Stellen  wieder  zu  einem  Absatz  führten.  So  ent- 
standen an  der  Wende  der  Eiszeit  die  ausgedehnten 
Flug(Dünen-)sand-  und  die  Lößbildungen,  die  erst 
nach  und  nach  aufhörten,  als  die  Vegetation  alle 
Flächen  überzog.  Von  da  ab  wirkte  nur  noch 
die  Wassererosion  in  den  sehr  wasserarm  ge- 
wordenen Flußläufen  und  die  Abspülung  an 
den  Steilhängen.  Dafür  begannen  sich  aber  an 
gewissen  Stellen  Ablagerungen  zu  bilden,  die  von 
denen  der  vorangegangenen  Glazialzeit  durchaus 
verschieden  waren.  Während  dort  entsprechend 
der  vermehrten  Wassermengen  in  der  Hauptsache 
gröberes  IVIaterial,  Kies  und  Sand,  zur  Ablagerung 
gekommen  war,  entstanden  -nun  fast  ausschließlich 
feinkörnigere  Absätze,  wie  wir  sie  z.  B.  heute 
noch  entstehen  sehen :  feinsandige  und  tonige 
Ausfüllungen  langsam  fließender  Wasserbecken 
oder  Überschwemmungsgebiete  (Schlick)  oder 
kalkige,  eisenhaltige  oder  humose  Absätze 
stehender  Gewässer  oder  schließlich  die  große 
Menge  der  Torfbilduhgen. 

Nach  dem  Abschmelzen  des  Eises  und  mit 
der  Rückkehr  des  trockneren  und  wärmeren 
Klimas  ging  auch  wieder  eine  Änderung  der 
Flora  und  F"auna  Hand  in  Hand.  Die  Masse  der 
indifferenten  Lebewesen ,  soweit  sie  ausgedauert 
hatte,  blieb  bestehen  und  nahm  etwas  mehr 
überhand.  Die  zum  Schlüsse  der  Eiszeit  über- 
wiegenden kälteliebenden  Formen  hielten  wohl 
noch  eine  Zeitlang  dem  Klima  stand,  nahmen 
aber  nach  und  nach  an  Häufigkeit  ab  und  ver- 
schwanden schließlich  fast  ganz.  Von  Süden  her 
aber  dringen  erst  vereinzelt,  dann  immer  zahl- 
reicher die  wärmegewohnten  Wesen  heran,  die 
nun  wieder  günstigere  Lebensbedingungen  haben. 

So  sehen  wir,  daß  bei  der  Beurteilung  von 
Floren  und  Faunen  aus  der  Eiszeit  und  Nach- 
eiszeit mit  großer  Vorsicht  verfahren  werden 
muß.  Vor  allem  ist  sehr  auf  die  petrographische 
Beschaffenheit  der  die  Flora  und  Fauna  um- 
schließenden Schichten  zu  achten.  Sodann,  und 
das  gilt  natürlich  nur  im  vereist  gewesenen  Ge- 
biete, auf  ihre  Lagerungsverhältnisse  zu  Eis- 
ablagerungen (Grundmoräne).  Erst  nach  Fest- 
stellung dieser  Verhältnisse  ist  eine  Beurteilung 
der  Floren  und  Faunen  nach  ihrer  Zusammen- 
setzung möglich. 

Wenn  nun  das  Eis  abgeschmolzen  und  aus 
unserer  Gegend  verschwunden  gewesen  ist  und 
Flora  und  Fauna  Zeit  gehabt  hatten,  sich  wieder  auf 
dem  verlassenen  Gebiete  niederzulassen  und  es 
erfolgte  dann  ein  neuer  Vorstoß  des  Eises,  der 
diese  bis  dahin  nacheiszeiilichen  Gebilde  wieder 
mit  eiszeitlichen  Ablagerungen  deckt,  so  wird 
diese  Nacheiszeit  zur  Zwischeneiszeit.  Solche 
Zwischeneiszeit  und  damit  eine  Wiederkehr  der 
Vereisung  ist  ohne  Zweifel  bei  uns  mindestens 
einmal  vorhanden.     Und   bei  der  Wiederkehr  der 


Eiszeit  und  damit  der  Vereisung  wiederholten  sich 
ganz  genau  die  Vorgänge  wie  bei  der  ersten  Ver- 
eisung. 

Um  aber  von  einer  wirklichen  Interglazialzeit 
nach  der  üblichen  Definition  sprechen  zu  können, 
verlangte  man  also,  daß  das  Eis  in  ihr  zum 
mindesten  bis  aus  dem  II.  Abschnitt  ganz  ver- 
schwunden gewesen  ist  und  zwar  für  so  lange 
Zeit,  daß  die  gemäßigte  Flora  und  Fauna  von 
dem  verlassenen  Lande  wieder  hat  Besitz  ergreifen 
können.  Denn  außer  einem  oder  mehreren  großen 
Rückzügen  haben  unzweifelhaft  noch  zahlreiche 
kleinere  Vorstöße  und  Rückzüge  stattgefunden, 
während  deren  sich  im  Grunde  genommen  die 
gleichen  Vorgänge  abspielten:  Erosion,  Bildung 
feinkörniger  Ablagerungen,  Nachdrängen  der 
Pflanzen-  und  Tierwelt  usw.,  wenn  auch  alles  nicht 
in  dem  Maße  wie  bei  einem  längeren  Rückzuge 
des  Eises.  Wir  werden  aber  ohne  weiteres  zu- 
geben müssen ,  daß  beide  Erscheinungen  nur 
graduell  verschieden  sind  und  man  sich  darüber 
verständigen  muß,  ob  man  beides  als  Interglazial- 
zeiten  anerkennen  will  oder  nur  die  Ablagerungen 
aus  der  großen  Rückzugsperiode.  Es  ist  aber 
mitunter  ungemein  schwer,  Ablagerungen  beider 
Art  auseinanderzuhalten.  Denn  es  ist  durchaus 
denkbar,  daß  durch  einen  Zufall  in  der  Zeit  des 
Abschmelzens  —  äußerhalb  der  Schmelzwasser- 
straßen etwa  auf  einer  Hochfläche  — ,  während 
das  Eis  noch  in  der  Nähe  lag,  eine  Ablagerung 
sich  bildet  mit  einer  Flora  oder  Fauna,  die  keine 
arktischen  Beimengungen  enthält,  sondern  nur 
eine  Gemeinschaft  von  Pflanzen  oder  Tieren,  die 
auch  noch  heute  bei  uns  lebt,  die  aber  auch 
weiter  im  Norden  munter  gedeiht.  Wenn  dieser 
Ablagerung  Formen,  die  unbedingt  für  wärmeres 
Klima  sprechen,  durchaus  fehlen,  so  sind  wir 
auch  nicht  gezwungen ,  ein  solches  anzunehmen 
und  die  Ablagerung  als  eine  Interglazialbildung 
anzusprechen,  man  wird  es  aber  auch  keinem 
verargen  können ,  die  Ablagerung  nicht  als  eine 
Glazialbildung  betrachten  zu  wollen.  Hier  wie 
überhaupt  bei  der  Beurteilung  fossilführender 
Diluvialablagerungen  ist  äußerste  Sorgfalt  und  Be- 
rücksichtigung aller  Umstände  und  vor  allem  ein 
ausgedehnteres  Vergleichsmaterial  nötig,  als  wir 
bisher  zur  Verfügung  haben. 

Es  erübrigt  nun  noch,  an  einer  Reihe  von 
allgemein  bekaniiten  Diluvialablagerungen  zu  ver- 
suchen, sie  in  dieser  theoretischen  —  aber  immer- 
hin der  Natur  entnommenen  und  durch  zahlreiche 
Beobachtungen  gestützte  —  Stockwerke  einzu- 
reihen und  so  an  der  Hand  der  Vorkommnisse 
versuchen  das  Diluvialgebäude  zu  errichten. 

Die  vorquartäre  Erosionsfläche  als  Unterlage 
ist  überall  da. 

Ablagerungen  der  sog.  Präglazialzeit,  d.  h.  der 
jüngsten  Tertiär-  oder  Pliozänzeit  sind  selten. 
Das  ist  naturgemäß,  denn  einmal  gab  es  deren 
im  Verhältnis  zur  Erdoberfläche  überhaupt  nicht 
sehr    ausgedehnte,    und    zum    anderen    sind    die 


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wenigen  noch  zum  weitaus  größten  Teile  tief 
unter  den  quarlären  Bildungen  verschüttet.  Einzelne 
mögen  auch  noch  übersehen  oder  verkannt  sein. 
Im  Abschnitt  III  zähle  ich  zu  ihnen  die  wenigen 
Mastodonfundstücke  Mitteldeutschlands.  Es  sind 
aber  auch  noch  unzweifelhaft  eine  Reihe  Vor- 
kommnisse kalkiger  und  humoser  Art,  vor  allem 
kleinere  Braunkohlenbildungen  hierherzuzählen. 

Im  II.  Abschnitt,  dem  vereist  gewesenen  Gebiet 
Norddeutschlands,  gehören  hierherdie  Ablagerungen 
von  Edertsleben,  die  Torfe  von  Eime  und  die 
Braunkohlen  von  Wallensen.  Es  ist  mir  auch 
nicht  ganz  unwahrscheinlich ,  daß  die  obersten 
Schichten  der  Posener  Flammentone  bis  ins  Pliozän 
und  zwar  bis  ins  jüngere  Pliozän  hineinragen. 
Immerhin  sind  die  Fundorte  noch  selten. 

Aus  dem  II.  Abschnitt,  dem  außerdeutschen 
Gebiete,  wenn  auch  dicht  an  der  Grenze,  haben 
die  Dänen  eine  Reihe  solcher  Bildungen  be- 
kannt gemacht:  Die  Ablagerung  von  Gudbjerg 
und  die  Corbicula  -  Sande  aus  dem  Freihafen 
von  Kopenhagen  und  von  Ffirslevgaard.  Außer- 
halb des  besprochenen  Gebietes  gehört  hierher 
vor  allem  die  klassische  Lagerstatt  von  Cromer 
und  völlig  gleichartige  Bildungen,  die  vor  kurzem 
Dubois  in  Belgien  gefunden  und  beschrieben 
hat.  Alle  diese  Bildungen  haben  das  gemeinsam, 
daß  sie  nach  Flora  und  Fauna  durchaus  auf  ein 
gemäßigtes,  vielleicht  noch  etwas  wärmeres  Klima 
als  das  heutige  hindeuten  und  in  einer  keinesfalls 
niederschlagsreicheren  Zeit  als  die  heutige  ent- 
standen sind. 

Diese  präglazialen  Bildungen  werden,  wo  sie 
nicht  zutage  liegen,  bedeckt  von  Bildungeil  einer 
Eiszeit,  d.  h.  einer  Zeit,  die  reicher  an  Nieder- 
schlägen und  kühler  war,  als  die  vorhergehende 
und  die  nachfolgende  Zeit.  Diese  Bildungen  sind 
im  nicht  vereistem  Gebiete  Kiese  und  Schotter, 
im  vereist  gewesenen  glaziale  Sande,  Kiese  und 
Grundmoränen.  Alle  diese  eiszeitlichen  Bildungen 
rechne  ich  zu  einer  und  derselben  und  zwar  zur 
ältesten  Eiszeit,  zu  der  ich  in  gleicher  Weise  alle 
Ablagerungen  der  tiefsten  Vereisung  rechnen  muß, 
so  lange  nicht  ihr  jüngeres  Alter  erwiesen  ist. 
Alsdann  ist  aber  immer  an  dieser  Stelle  eine 
Schichtenlücke.  Denn  vorausgesetzt  —  und  mit 
dieser  Voraussetzung  steht  und  fällt  meine  Aus- 
führung —  die  Eiszeiten  sind  nicht  nur  lokale, 
sondern  weitverbreitete  Allgemeinerscheinungen 
gewesen,  so  müssen  auch  ihre  Spuren  ungefähr 
gleichzeitig  auftreten.  Also  der  Beginn  der  Eis- 
zeit ist  überall  annähernd  gleichzeitig,  der  Beginn 
der  Vereisung  aber  nicht. 

Von  diesem  Satze  also  ausgehend,  rechne  ich 
zur  ältesten  überhaupt  vorhandenen  Vereisung 
die  Grundmoränen  und  glazialen  Schotter  des 
südlichen  Hannovers,  die  älteren  Glazialablage- 
rungen des  nördlichen  Hannovers  und  daran  an- 
schließend Schleswig -Holsteins,  Mecklenburgs, 
Brandenburgs,  Sachsens,  Pommerns,  Posens  usw. 
Also  überhaupt  die  ältesten  Glazialablagerungen 
Norddeutschlands. 


Aus  derselben  Zeit  stammen  nach  meiner 
Auffassung  sodann  weiter  die  ältesten  Kiese  des 
außerglazialeii  Teiles  Norddeutschlands,  die  hoch- 
gelegenen Kiesterrassen  des  südl.  Leinetales  und 
des  südl.  Wesertales,  die  G  r  u  p  e  beschrieben,  u.  a.  m. 
Ferner  die  nördlichen  Fortsetzungen  dieser  süd- 
lichen, einheimischen  Kiese  in  dem  vereist  ge- 
wesenen Gebiet,  wie  z.  B.  in  der  Hallenser  Gegend. 
Die  Kiese  von  Süßenborn.  Hierher  stelle  ich 
auch  die  Mosbacher  Sande.  Die  beiden  letztge- 
nannten zeigen  eine  Mischfauna,  die  zur  reinen 
Pliozänzeit  unmöglich  ist.  Die  nordischen  Bei- 
mengungen im  Bunde  mit  der  augenscheinlichen 
Verflachung  der  Wasserläufe ,  die  sie  abgesetzt 
haben,  deutet  den  Beginn  der  Eiszeit  an.  In  diese 
Zeit  möchte  ich  auch  die  Entstehung  der  älteren 
Rheinterrassen  setzen,  und  ich  möchte  an  die 
Herren  T  i  e  t  z  e  und  S  c  h  u  c  h  t  die  Frage 
richten,  ob  nicht  auch  ihre  präglazialen  Bildungen 
in  der  Emsgegend  aus  dieser  Zeit  stammen 
könnten. 

Diese  Kiese  führen  außerhalb  des  vereisten 
Gebietes  oder  an  den  Rändern  der  Vereisung 
eine  reiche  Fauna,  vor  allem  von  Conchylien  und 
Säugetiere.  Als  leitend  im  gewissen  Sinne  kann 
man  für  sie  Elephas  antiquus  Falc.  und  Rhinoceros  et- 
ruscus  Falc.  bezeichnen.  Nähere  vergleichende 
Studien  werden  wahrscheinlich  noch  weitere 
Leitformen,    vor    allem  von  Conchylien    ergeben. 

Nach  Beendigung  der  Eiszeit,  d.  h.  nach  Nach- 
lassen der  Niederschläge  und  Zunahme  der  Tem- 
peratur trat  ausgedehnte  Erosion  ein,  und  es 
bildeten  sich  die  ältesten  Interglazialschichten. 
Dazu  stelle  ich  vor  allem  die  Paludinenbänke  der 
Berliner  Gegend.  Da  ich  aber  den  dieselben 
unterlagernden  Geschiebemergel  für  gleichaltrig 
halte  mit  dem  südhatmoverschen  —  aus  den  oben 
angeführten  Gründen  — ,  so  parallelisiere  ich  die 
Paludinenbänke,  allerdings  ohne  faunistischen  Be- 
weis, mit  dem  Wallenser  Interglazial.  Dasselbe 
ist  aber  faunistisch  gleichaltrig  mit  Taubach,  mit 
den  Beiziger  Kalk-  und  Torfbildungen,  mit  den 
Nordhannoverschen  Kalk-  und  Diatomeenlagern, 
mit  dem  Schwanebecker  Kalktuft",  dem  Kalktuff 
von  Cannstadt  und  einer  Reihe  anderer  Bildungen, 
die  erwiesenermaßen  diesen  Bildungen  gleichaltrig 
sind.  Allzugroß  ist  ihre  Zahl  indessen  nicht.  Vor 
allem  fehlen  uns  im  nördlichen  Deutschland,  in 
Pommern,  Mecklenburg,  Posen,  West-  und  Ost- 
preußen, Schleswig-Holstein  noch  fast  ganz  oder 
völlig  ident  mit  diesen  durch  Art  der  Ausbildung 
und  Fossilführung  erwiesene  Bildungen.  In 
West-  und  Ostpreußen  einerseits  und  an  der 
unteren  Elbe  (Stade)  wie  in  Schleswig-Holstein 
andererseits  scheinen  an  ihre  Stelle  marine  Ab- 
sätze zu  treten. 

Aus  diesen  Ablagerungen  bestimmte  Leit- 
fossilien zu  nennen ,  bin  ich  heute  noch  nicht 
imstande.  Dazu  wird  wohl  mit  in  erster  Linie 
die  Paläobotanik  berufen  sein.  Im  übrigen  zeigt 
sich  in  der  Fauna  dieser  Schichten  deutlich,  daß 
ebenso   wie   heute   oder   vielleicht   noch  schärfer 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


199 


ein     allmähliches     Abnehmen     wärmeliebenderer 
Wesen  nach  Norden   zu  zu  bemerken  ist. 

Es  kam  die  zweite  Vereisung,  von  unten  ge- 
rechnet, und  damit  wieder  reichere  Niederschlags- 
mengen und  ein  kühleres  Klima.  Als  Absätze 
aus  dieser  Zeit  haben  in  erster  Linie  die  Glazial- 
bildungen zu  gelten,  die  über  den  genannten 
Interglazialschichten  liegen.  Im  südlichen  Han- 
nover, bis  wohin  diese  zweite  Vereisung  nicht 
gelangt  ist,  sind  in  dieser  Zeit  die  Schotter  der 
Leine  und  Weser  entstanden,  in  denen  sich  eine 
ziemlich  reiche  Fauna  sowohl  an  Säugetieren,  wie 
an  Conchylien  gefunden  hat.  In  dieser  Fauna 
herrscht  bei  weitem  das  Mammut  und  das  woll- 
haarige Rhinozeros  vor.  Vereinzelt  hat  sich  Ovibos 
gefunden.  Auch  die  ziemlich  reiche  Conchylien- 
fauna  deutet  durchaus  kühleres  Klima  an.  Für 
ungefähr  gleichaltrig  mit  diesen  Kiesen  halte  ich 
nun  auch  den  Rixdorfer  Horizont.  Dieser  ent- 
hält allerdings  eine  Mischfauna,  in  der  Elephas 
antiquus  und  Rhinoceros  etruscus  vorkommt.  Be- 
denkt man  aber,  daß  diese  Tiere  vor  Anbruch 
der  jüngeren  Eiszeit,  in  der  Interglazialzeit,  in  der 
Gegend  lebten,  wie  ihr  Vorkommen  im  Kalktuff 
von  Taubach  beweist,  und  bedenkt  man,  daß  die 
Rixdorfer  Sande  und  Kiese  nach  meinen  obigen 
Ausführungen  südlich  des  Eisrandes  durch  die 
Staugewässer  aufgeschüttet  worden  sind,  so  wird 
man  sich  diese  Mischung  der  F'auna  ohne  weiteres 
erklären  können,  zumal  der  übrige  Teil  derselben 
durchaus  ident  ist  mit  der  Säugetierfauna  aus 
den  Weserkiesen  bei  Hameln.  Gleichaltrig  mit 
den  Rixdorfer  Sanden,  d.  h.  gebildet  während  der 
jüngeren  Eiszeit,  aber  außerhalb  der  Vereisung, 
sind  aber  nach  meiner  Ansicht  eine  ganze  Reihe 
anderer  fossilführender,  bisher  großenteils  als  in- 
terglazial angesehener  Bildungen,  so  die  Velvaten- 
sande  in  der  großen  Kiesgrube  am  Schilling  bei 
Posen  und  andere  derartige  Velvaten  führende 
Spatsande.  Gleichaltrig  sind  meiner  Meinung 
nach  auch  die  Eberswalder  Kiese  und  Sande,  in 
denen  Herr  P.  G.  Krause  die  menschlichen 
Spuren  gefunden  hat.  Gleichaltrig  sind  auch  die 
Hundisburger  Schotter,  die  Herr  Wiegers  an 
das  Ende  der  Interglazialzeit  stellt.  Ich  kann  auch 
ferner  nicht  den  Verdacht  unterdrücken,  daß 
hierher  ebenfalls  die  einheimischen  Kiese  des 
Flämings  zu  stellen  sind,  über  die  die  Herren 
Keil  hack  und  Schmierer  seinerzeit  be- 
richtet haben. 

In  Süddeutschland  zeigen  eine  fast  völlig  idente 
Fauna,  wie  die  jungdiluvialen  Leine-  und  Weser- 
kiese, die  Sandlößbildungen  des  Rheintales.  Hier- 
her gehörte  unzweifelhaft  auch  die  sog.  Lößfauna 
Nehring's  von  Thiede  und  Westeregeln  sowie 
die  von  Ed.  Wüst  von  Osterode  und  anderen 
Orten  beschriebenen  Bildungen.  Hauptcharakter- 
tiere der  fossilführenden  Bildungen  dieser  Zeit 
sind  außer  einigen  Schnecken  wie  Succinea  Schu- 
macheri  und  Sphyredium  Columella,  vor  allem  das 
Mammut,  das  wollhaarige  Rhinozeros  und  der 
Moschusochse. 


Es  ist  im  Anschluß  hieran  nötig,  noch  einmal 
mit  einigen  Worten  auf  die  Rixdorfer  Sande 
zurückzukommen.  In  der  alten  Rixdorfer  Kies- 
grube ist  von  Berendt  festgestellt  worden,  daß 
der  die  Säugetierreste  führende  Horizont  von 
einem  Geschiebemergel  überlagert  ist,  der  sich  in 
die  Teltower  Hochfläche  fortsetzt  und  allgemein 
als  Oberer  gilt.  Desgleichen  sind  die  Rixdorfer 
Sande  von  einem  Geschiebemergel  unterlagert 
gewesen,  der  von  Berendt  und  anderen  als 
Unterer  angesprochen  worden  ist.  Da  nun  die 
Rixdorfer  Sande  eine  fossilführende  Bildung 
zwischen  zwei  Geschiebemergeln,  also  zwei 
Glazialbildungen,  darstellte,  mußte  sie  interglazial 
sein.  Dieses  interglaziale  Alter  ist  aber  seitdem 
von  vielen  Seiten  angezweifelt  und  von  mir  un- 
beschadet der  Beimengung  von  El.  antiquus  und 
Rhin.  etruscus  nie  recht  geglaubt  worden.  Wenn 
ich  ich  daher  in  meiner  kleinen  Notiz  „Über  die 
älteste  Vereisung  bei  Rüdersdorf  und  Hamburg 
und  die  Altersstellung  der  Paludinenschichten  der 
Berliner  Gegend"  die  Rixdorfer  Sande  nicht 
erwähnt  habe,  so  hat  es  mir  völlig  fern  gelegen, 
weder  denselben,  noch  den  Herren  Geheimrat 
Wahn  schaffe  und  Schroeder  zu  nahe  zu 
treten.  Ich  habe  sie  stillschweigend  zum  oberen 
Diluvium  gerechnet,  zumal  auf  keine  Weise 
bisher  der  strikte  Nachweis  geliefert  worden  war, 
daß  die  Rixdorfer  Sande  von  der  Paludinenbank 
durch  die  Grundmoräne  einer  Vereisung  getrennt 
war.  Die  Geschiebemergelbank  unter  denselben 
konnte  auch  zu  derselben  Vereisung  gehören,  die 
die  Paludinenbänke  unterlagerte,  wenn  auch  da- 
gegen durchaus  die  so  verschiedene  Höhenlage 
beider  sprach.  Als  ich  meine  oben  genannte 
Notiz  schrieb,  tat  ich  es  hauptsächlich  aus  dem 
Grunde,  um  eine  Klärung  dieser  Frage  herbei- 
zuführen. Die  in  der  Literatur  angeführten  Gründe 
für  eine  3.  ältere  Vereisung  schienen  mir  wie 
vielen  anderen  nicht  zu  genügen.  Ich  erwartete 
von  kompetenter  Seite  eine  genügende  Auf- 
klärung, zum  mindesten  wollte  ich  die  Diskussion 
darüber  in  Fluß  bringen.  Das  letztere  ist  mir 
gelungen.  Meine  erste  Hoffnung  hat  sich  nicht 
erfüllt.  Auch  die  Antwort  des  Herrn  Geheimrat 
Wahn  seh  äffe  hat  mir  nicht  die  nötige  Klarheit 
gebracht.  Ich  kann  ihm  nicht  beistimmen,  wenn 
er  daran  festhält,  die  Rixdorfer  Sande  als  inter- 
glazial anzusehen.  Wohl  stimme  ich  ihm  wie 
Herrn  Schroeder  rückhaltslos  bei,  wenn  die 
genannten  Herren  die  Rixdorfer  Fauna  nicht 
für  rein  sekundär  ansehen.  Ich  bin  sogar 
derselben  Ansicht  wie  Herr  Schroeder,  daß 
dieselbe  zum  Teil  sogar  gar  nicht  gerollt  ist, 
sondern  die  Reste  wohl  ursprünglich  teilweise  als 
Kadaver  eingebettet  sind.  Das  ist  ja  nur  natürlich 
in  einem  großen  wirbelnden  Wasserstau,  aus  dem 
ich  mir  die  Sande  abgesetzt  denke. 

Nun  ist  aber  in  die  ganze  Frage  ein  neues 
Moment  gekommen  durch  das  Auffinden  des 
Motzener  Torflagers  und  den  Nachweis  des  dilu- 
vialen   Torflagers    im    Teltowkanal    durch    Herrn 


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Dr.  Korn.  Der  Motzener  Torf  wird  von  Ge- 
schiebemergel überlagert,  also  ist  er  noch  einmal 
vom  Eis  überdeckt  gewesen.  Er  wird  aber  von 
einer  Grundmoräne  überlagert,  die  Paludina  dilu- 
vina  führt.  Demnach  muß  diese  Grundmoräne 
jünger  sein  als  die  Paludinenbänke.  Der  Rixdorfer 
Horizont  findet  sich  aber  auch  anscheinend  hier 
wieder  zwischen  dem  Torf  und  der  überlagernden 
Grundmoräne.  Also  hätten  wir  zweifellos  be- 
wiesen eine  dreimalige  Vereisung  und  eine  zwei- 
malige Interglazialzeit.  —  Vorausgesetzt,  daß  diese 
Beobachtungen  alle  so  zutreffen  —  und  ich  habe 
gar  keinen  Grund,  daran  zu  zweifeln  —  erkenne 
ich  eine  dreimalige  Überdeckung  mit  Eis,  also 
eine  dreimalige  Vereis  ung  der  Berliner  Gegend 
jetzt  rückhaltslos  an. 

Aber  —  und  das  ist  der  Haupterfolg  meines 
kleinen  Fehdeartikels  —  nicht  in  dem  Sinne 
der  früheren  Wah  n schaff e'schen  Dreiteilung, 
sondern  ich  werde  dazu  gedrängt,  die  Vermutung 
auszusprechen,  daß  wir  zur  jüngeren  Eiszeit  ein- 
mal schon  ein  ganz  erhebliches  Abschmelzen  ge- 
habt haben,  auf  das  dann  wieder  ein  Vorstoß 
erfolgt  ist.  Dieser  Gedanke  ist  ja  auch  keines- 
wegs neu.  Er  ist  ja  für  andere  Gegenden  schon 
so  oft  ausgesprochen  worden,  so  erst  kürzlich 
wieder  von  Herrn  A.  Jentzsch  für  die  Weichsel- 
gegend. Ja  die  ganze  baltische  Endmoräne  ist 
ja  als  einer  besonderen  jüngsten  Eiszeit  angehörig 
gedeutet  worden.  Ob  aber  diese  Torfe  von 
Motzen  und  vom  Teltowkanal  echte  Interglazial- 
bildungen  sind  und  ob  die  darüber  liegende 
Grundmoräne  einer  wirklichen  gesonderten  Eis- 
zeit angehört,  ob  also  das  Eis  zur  Bildungszeit 
der  Motzener  Torfe  bis  hoch  nach  Skandinavien 
hinauf  abgeschmolzen  war,  das  ist  selbst  für  einen, 
der  sich  redlich  bemüht,  nicht  rückständig  im 
Sinne  von  Weißer mel  zu  sein,  sehr  schwer  zu 
entscheiden.  Hier  wird  eine  eingehende  Unter- 
suchung der  Flora  einsetzen  müssen.  Auf  jeden 
Fall  halte  ich  den  Gedanken  für  wert,  einer 
Prüfung  unterzogen  zu  werden,  zumal  da  ähnliche 
Verhältnisse  ja  auch  schon  z.  B.  für  die  Gegend 
von  Lauenburg  a.  d.  Elbe  ausgesprochen  und  wahr- 
scheinlich sind,  wo  in  der  Tat  die  G.  M  ü  1 1  e  r '  sehen 
Präglazialschichten  ein  Interglazial,  das  weit  ver- 
breitete marine  Interglazial  der  Gegend,  zu  sein 
scheinen  und  die  bekannten  Lauenburger  Torfe 
ein  zweites  Interglazial  oder  auch  nur  ein  Inter- 
stadial darstellen. 

Am  Ende  der  jüngsten  Glazialzeit  beginnen 
sich  dann  unsere  Alluvialabsätze  zu  bilden,  ein- 
geleitet durch  Übergangsgebilde  mit  gemischter 
Fauna  und  Flora.  An  diesen  läßt  sich  trefflich 
beobachten,  wie  zuerst  das  Nachlassen  der  ver- 
mehrten Niederschläge  einsetzt  und  das  Ab- 
schmelzen des  Eises  begünstigt,  das  Klima  aber 
noch  kühl  bleibt  und  eine  arktische  Flora  und 
E'auna  vorerst  noch  ausharrt.  Denn  aus  dieser 
Zeit     stammen     die    Dryastone,     die     arktischen 


Schneckenrelikte  am  Grunde  unserer  Moor-  und 
Kalklager  und  die  Dünen-  und  Lößbildung. 

Auf  die  weiteren  alluvialen  Bildungen  soll  hier 
nicht  mehr  eingegangen  werden.  Faziell  sind  sie 
ebenso  beschaffen  wie  die  Präglazial-  und  Inter- 
glazialbildungen. 

Völlig  übergangen  sind  in  dieser  Darstellung 
auch  die  Bewegungen  der  Erdrinde  zur  Inter- 
glazialzeit, obwohl  auch  sie  jedenfalls  von  großer 
Bedeutung  für  die  Eiszeitprobleme  sind.  Zum 
Verständnis  meiner  Ausführungen  sind  sie  nicht 
nötig. 

Wenn  wir  nun  am  Schlüsse  noch  einmal 
zurückschauen  auf  diese  gesamten  Ausführungen, 
so  möchte  ich  noch  einige  Punkte  als  besonders 
wichtig  herausgreifen. 

1 .  Eiszeiten  sind  Zeiten  vermehrter  Nieder- 
schläge und  verminderter  Temperatur.  Sie  sind 
nicht  lokale  Erscheinungen,  sondern  besitzen  zum 
mindesten  für  unsere  nördliche  Hemisphäre  all- 
gemeine Gültigkeit. 

2.  Vereisungen  sind  Teilerscheinungen  der 
Eiszeiten  lokaler  Natur.  Eiszeitliche  Ab- 
lagerungen außerhalb  von  Vereisungen 
bestehen  in  Aufschüttungen  gröberen  Materiales 
mit  einer  gemischten  Flora  und  Fauna.  Diese 
Ablagerungen  können  nochmals  von  dem  Eise 
derselben  Eiszeit  überdeckt  gewesen  sein. 

3.  Zwischeneiszeiten  (Interglazialzeiten) 
sind  Zeiten  mit  normalen  metereologischen  Ver- 
hältnissen, gleich  oder  ähnlich  den  Verhältnissen, 
wie  sie  zur  Voreiszeit  geherrscht  haben  und  wie 
sie  heute  herrschen.  Ihre  Ablagerungen  sind  in 
der  Hauptsache  gleich  denen  der  heutigen  Zeit: 
im  Gegensatz  zu  den  eiszeitlichen  also  feinkörniger 
und  reicher  an  organischen  Resten ,  besonders 
Pflanzen.  Ihre  Flora  und  Fauna  kann  ebenfalls 
noch  eine  Mischfauna  sein. 

4.  Bei  Beurteilung  eiszeitlicher  und 
zwischeneiszeitlicher  fossil  führender 
Ablagerungen  muß  mit  allergrößter  Vorsicht 
vorgegangen  werden  und  nicht  nur  auf  Flora  und 
Fauna,  sondern  ebensosehr  auf  alle  anderen  Um- 
stände, wie  Lagerung  zu  echten  Glazialbildungen, 
Verbreitung,  Zusammensetzung  und  Entstehungs- 
bedingungen geachtet  werden,  und  vor  allem  ihr 
Verhältnis  zu  ähnlichen  oder  gleichartigen  Bil- 
dungen in  Betracht  gezogen  werden. 

Lim  aber  heute  schon  zu  einem  ersprießlichen 
Ergebnis  über  die  Gliederung  der  Glazialbildungen 
zu  kommen,  fehlt  uns  vor  allem  noch  ein  ge- 
nügendes Vergleichsmaterial.  Wir  kennen 
noch  zu  wenig  fossilführende  eiszeitliche  Ab- 
lagerungen, und  die  bekannten  sind  noch  nicht 
in  ausreichender  Weise  durchforscht.  Meine  Über- 
zeugung ist  aber,  daß  wir  ebenso  wie  in  älteren 
marinen  Bildungen,  so  auch  im  Quartär  nur  durch 
sorgfältigste  Beachtung  und  Vertiefung  in  die  er- 
haltenen Lebewesen  uns  ein  klares  Bild  der 
Bildungsverhähnisse  werden  machen  können. 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sind  die  Maskarenen  und  die  zeutralpazifischen  Inseln  ozeanisch 

Von  Dr.  A.  C.  Oudemans  in  Arnhem. 


[Nachdruck  verboten.] 

Im  vergangenen  Jahre  mit  Dodo-Studien  be- 
schäftigt '),  kam  ich  auch  in  das  spekulative 
Gebiet  der  Abstammung,  der  Artspaltung  und 
des  geologischen  Alters  dieser  interessanten  Gruppe 
von  ausgestorbenen  Vögeln. 

In  obengenannten  Studien  beschrieb  ich  mög- 
lichst genau  die  Unterschiede  zwischen  den  beiden 
Dodo-Formen,  welche  die  Insel  Maskarenhas 
(Bourbon)  und  die  Schwaninsel  (Mauritius)  be- 
wohnten, und  kam  zu  dem  Schluß,  daß  eine 
Trennung  nicht  nur  in  Arten ,  sondern  auch  in 
Genera  nötig  sei. 

Es  gibt  aber  noch  zwei  andere  Gründe,  durch 
welche  die  Scheidung  der  zwei  Dodo  Arten  wissen- 
schaftlich verteidigt  werden  kann;  diese  sind  ein 
geologischer  Faktor:  die  Zeit,  und  ein  biolo- 
gischer: die  Isolation. 

Die  drei  Maskarenen-Inseln  sind  in  ihrer 
gegenwärtigen  Gestalt  gewiß  in  oder  nach 
der  Miozänzeit,  aber  noch  im  Neozän  entstanden. 
Auf  diesen  Inseln  wurden  Riesenlandschildkröten 
[Tcsfudo]  gefunden,  jedoch  keine  anderen  Land- 
tiere, was  dieser  Vorstellung  Nachdruck  verleiht. 
Diese  drei  Berggipfel  eines  unterseeisch  versunkenen 
Berglandes  —  denn  als  solches  müssen  sie  be- 
trachtet werden  —  sind  also  nach  menschlicher 
Berechnung  zwischen  6^..  und  3  Millionen  von 
Jahren  alt,  also  wahrscheinlich  ungerähr  3  Millionen 
von  Jahren  getrennt,  und  die  drei  darauf  lebenden 
Dodo- Arten  (Raphidae)  ebensolange  isoliert  ge- 
wesen. Welche  Ursachen  man  nun  annehmen 
will,  innere  (Jordan,  Kon  i  ngsberger)  oder 
äußere  (Eigenman,  Plate,  Hertwig),  nach 
solch  einer  langen  Isolation  müssen  drei  ver- 
schiedene Arten  entstanden  sein,  welche  so  von- 
einander abweichen,  daß  ein  Biologe  sie,  den 
gegenwärtig  herrschenden  Begriffen  gemäß,  in 
drei  Genera  unterbringt  {Raplins  cuciillatus  L., 
Apfcrornis  soUtarms  S  e  1  y  s ,  Pezophaps  folitarius 
Gmel.). 

Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  einige  Geologen, 
u.  a.  mein  Freund  Dr.  G.  A.  F.  Molen  graa  ff, 
Universitäts-Professor  in  Delft,  einer  ganz  anderen 
Meinung  über  die  Maskarenen  zugetan  sind.  Sie 
betrachten  diese  und  die  Inseln  des  Zentralen 
Pazifischen  Ozeans  als  „wahre  ozeanische  Inseln, 
d.  h.  vulkanische  Inseln,  welche  nicht  mit  ihrem 
Fußgestelle  mit  kontinentalen  Schollen  zusammen- 
hängen, sondern  unmittelbar  vom  Boden  der 
Ozeane  emporsteigen  und  niemals  Teil  eines 
Kontinentes  ausmachten"  ")  (1.  c.  S.  224). 


n  Verhandelingen    der  Wis- 
Koninklyke  Akademie    van 


')  Sie  erscheinen  bald  in  < 
en  Natuurkundige  Afdeeling  de 
Wetenschappen  te   Amsterdam. 

2)  G.  A.  F.  Molengraaff  in  literis.  —  Derselbe,  Het 
probleem  der  koraaleilanden  en  de  isostasie.  In:  Verslagen 
der  gewone  Vergaderingen  der  Wis-  en  Natuurkundige  Afdeeling 
der  Koninklijke  Akademie  van  Wetenschappen  te  Amsterdam, 
V.  25,   1916,  p.  215—231. 


Auf  meine  briefliche  Frage:  „wie  erklären  Sie 
dann  das  Vorkommen  jener  Riesenlandschildkröten 
auf  den  Maskarenen  und  Seyschellen  ?"  erhielt  ich 
eine  Gegenfrage :  „können  jene  nicht  anderswoher 
eingeführt  sein?" 

Meine  Antwort  lautet,  und  alle  Zoologen 
werden  mir  beipflichten:  unmöglich. 

Wohl  erkennen  die  Zoologen  die  Möglichkeit 
der  Verschleppung  von  Sauriern  (Eidechsen  u.  dgl.) 
und  Schlangen  auf  durch  Banjirs  losgerissenen 
und  mitgeführten  im  Meere  treibenden  Bäumen; 
sie  haben  dafür  selbst  Beweise;  aber  gerade 
diese  Tiere  fehlten  auf  den  Maskarenen  zur  Zeit 
als  sie  entdeckt  wurden !  Außerdem  sind  Land- 
schildkröten sehr  empfindlich  für  Meerwasser. 
Obwohl  sie  einige  Tage  darin  lebend  bleiben, 
sind  sie  darauf  sowohl  aus-  wie  inwendig  durch 
das  ihnen  schädliche  Element  so  angegriffen  und 
werden  dabei  von  der  Brandung  so  gehauen,  daß 
sie  nur  noch  ein  paar  Tage  leben.  Vermischung 
der  Inselrassen  untereinander  auf  dem  Wege  über 
das  Meer  ist  daher  gänzlich  ausgeschlossen.  ') 

Die  Riesenlandschildkröten  waren  früher  auch 
auf  der  Insel  Madagaskar  weit  verbreitet  und 
verschwanden  dort  vielleicht  allmählich,  nachdem 
sie  von  Menschen  bewohnt  ward.  Lebend  sind 
sie  auf  den  Maskarenen.  Aldabras,  Amiranten  und 
Seyschellen  gefunden. ")  Sie  sind  Beweise  dafür, 
daß  diese  Inseln  alle  einmal  mit  Madagaskar  zu- 
sammenhingen. Ein  Studium  der  Karte  genügt, 
um  einzusehen,  daß  die  Tschagos-,  Maldiv-  und 
Lakkadiv-Inseln  ein  Ganzes  bildeten,  das  offenbar 
eine  Fortsetzung  des  westlichen  GhatsGebirges 
der  Malabarküste  war.  Die  Indischen  Ozean  Inseln 
sind  also  jedenfalls  keine  „wahren  ozeanischen 
Inseln".  Der  Verband  zwischen  allen  den  kleineren 
Inseln  des  Indischen  Ozeans  einerseits  und  Mada- 
gaskar andererseits  war  ganz  bestimmt  unter- 
brochen, bevor  diese  letztere  größere  Insel  von 
Menschen  bewohnt  ward;  denn  als  Madagaskar 
entdeckt  wurde,  war  es  von  Menschen  bewohnt 
und  waren  die  Riesenlandschildkröten  schon  von 
diesen  ausgerottet,  während,  als  kurz  darauf  die 
übrigen  Inseln  des  Indischen  Ozeans  entdeckt 
wurden,  diese  nicht  von  Menschen  bewohnt  waren 
und  von  Riesenlandschildkröten  wimmelten. 

Diese  sind  weder  im  Ei,  noch  als  lebendige 
Tiere,  junge  oder  alte,  auf  die  Inseln  irgendwoher 
gekommen,  ebensowenig  wie  die  Elefanten  von 
Zeylon  und  Sumatra  dorthin  transportiert  sind. 
Ebenso  sicher  wie  diese  zwei  großen  Inseln 
einmal  zusammenhingen ,  ebenso  gewiß  bildeten 
alle  genannten  Inseln  des  Indischen  Ozeans  einmal 
einen  Kontinent. 

')  JohnVanDenburgh,  The  Gigantic  Land  Tortoises 
of  the  Galapagos  Archipelago.  —  In:  Proc.  Calif.  Acad.  Sei. 
s.  4,  V.  2,  Pt.  I,  p.  202 — 374,  tab.  12—124,  Sept.  30.   1914. 

2)  A.  Günther,  The  President's  Anniversary  Address, 
In:  Proc.  Linn.  Soc.  Lond.   189S,  p.   14 — 29. 


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N.  F.  XVI.  Nr.   15 


Auch  die  Galapagos-Inseln  sind  von  Riesen- 
schildkröten bewohnt,  welche  näher  denen  des 
Indischen  Ozeans  verwandt  sind  als  denen  des 
amerikanischen  Festlandes.  —  John  Van  Den- 
b  u  rgh  hat  diesen  Tieren  ein  ausgedehntes  Studium 
gewidmet  und  kommt  zu  dem  Schluß: 

„The  evidence  offered  by  these  tortoises, 
therefore,  seems  to  be  against  the  view  that  these 
are  oceanic  Islands,  which  have  been  independently 
thrust  above  the  surface  of  the  water,  and  have 
received  such  animals  as  have  drifted  to  them. 
V\'e  must  rather  adopt  the  view  that  the  Islands 
are  but  the  remains  of  a  larger  landmass  which 
formerly  occupied  this  region,  and  was  inhabited 
by  tortoises,  probably  of  but  one  race ;  that  the 
gradual  partial  submersion  of  this  land  separated 
its  higher  portions  into  various  Islands;  and  that 
the  resulting  Isolation  of  the  tortoises  upon  these 
Islands  has  permitted  their  differentiation  into 
distinct  races  or  species." 

Allen  Geologen  sei  die  Beachtung  dieser 
Studien  sehr  empfohlen. 

Merkwürdigerweise  waren  diese  Inseln  bei  ihrer 
Entdeckung  nur  von  Riesenschildkröten  und  einigen 
Eidechsen,  nicht  von  Menschen  bewohnt,  während 
fast  alle  zentralpazifischen  Inseln  bewohnt  waren, 
aber  keine  Riesenschildkröten  (mehr?)  aufwiesen. 
Hier  begegnen  wir  also  demselben  Fall  wie  im 
Indischen  Ozean.  Dort  bildeten,  wie  wir  oben 
sahen,  die  von  Menschen  und  die  von  Riesenland- 
schildkröten belebten  Inseln  einmal  ein  Ganzes.  — 
Haben  wir  nun  Grund  zu  vermuten,  daß  die 
Galapagos  ebenfalls  mit  den  übrigen  zentral- 
pazifischen Inseln  einmal  zusammenhingen?  Ganz 
gewiß!  Betrachten  wir  mit  Aufmerksamkeit  die 
Karte  des  Pazifischen  Ozeans,  worauf  John  Murray, 
der  berühmte  Leiter  der  Challenger-Tief-ee- Expe- 
dition, den  Gehalt  an  kohlensaurem  Kalk  in.  den 
Ablagerungen  auf  dem  Meeresboden  angegeben 
hat,  so  sehen  wir  im  Geiste  ein  ausgedehntes 
Festland  emportauchen,  das  vielleicht  folgende 
Gestalt  hatte.  Ein  großes  Land  umfaßte  die 
Galapagos-,  Clipperton-,  Markesas-,  Manahiki- 
(Penrhyn-),  Sozietäts-,  Paumotu-,  Rapa-nui-  (Oster-), 
Sankt  F"elix-  und  Juan  Fernando-  (bei  Chile)  Inseln. 
Ein  schmaler  Streifen  zwischen  50  und  60"  s.  Br. 
verband  dieses  Land  mit  der  Campbell-Insel  süd- 
lich von  Neu-Seeland.  Von  dort  streckte  es  sich 
nordwärts  aus  und  umfaßte  die  Kermadek-,  Tonga-, 
Fidschi-,  Neu-Kaledonien-,  Neu  Hebriden-,  Salomon- 
und  Bismarcklnseln.  Über  Neu-Guinea  hing  es 
mit  Indien  zusammen.  ^) 

Merkwürdigerweise  haben  wir  in  den  Riesen- 
bauwerken auf  Tonga-tabu  und  Rapa-nui  die 
Beweise,  daß  dieses  Festland  einmal  bewohnt  war 
von  einer  viele  Millionen  zählenden  Bevölkerung, 
welche  eine  Entwirklungshöhe  erreichte,  die 
mindestens  der  der  Chinesen,  Indier  und  Ägypter 


')  Australien  (Neu -Holland)  nenne  ich  nicht,  weil  von 
dort,  selbst  fossil  keine  Riesenlandschjldkröten  (^Testitdo)  be- 
kannt sind. 


glich.  —  Der  Verband  zwischen  allen  den  kleineren 
Inseln  des  zentralen  pazifischen  Ozeans  einerseits 
und  den  Galapagos  andererseits  muß  also  unter- 
brochen sein,  bevor  die  ersteren  von  Menschen 
bewohnt  wurden,  denn  auf  den  Galapagos  waren 
niemals  Menschen,  wohl  aber  Riesenschildkröten. — 
Dieses  Festland  versank  also,  als  es  schon  von 
Menschen  bewohnt  war,  vielleicht  schon  vor  einem 
oder  mehreren  Millionen  von  Jahren,  aber  es  hat 
bestanden!  Vielleicht  war  selbst  dieses  Land 
die  Wiege  der  Menschheit! 

Bekanntlich  hat  man  auf  Rapa-nui  über  500 
kolossale  Bilder  gefunden,  wie  kein  Volk  der  Erde 
sie  je  geschaffen  hat.  Sie  bestehen  nur  aus  dem 
Haupte  und  einem  Teile  der  Brust,  oder  nur  aus 
dem  Haupte  und  dem  Rumpfe;  fast  allen  fehlen 
Hinterhaupt  und  Rücken;  einige  tragen  einen 
Hut;  andere  sind  gekrönt.  Das  Gesicht  ist  nicht 
unschön,  gut  geschnitten;  die  Unternase  ist  breit 
und  weist  malaiische  Züge  auf;  Bartwuchs  und 
-tracht  dagegen  sind  mehr  den  der  altpersischen 
Satrapen  ähnlich.  Das  Volk  war  also  ganz  be- 
stimmt ein  anderes  als  die  Süd -Amerikaner  und 
ebenso  als  die  jetzt  lebenden  Polynesier!  Aus  dem 
Zustand,  worin  sich  die  Bilder  befinden  —  ver- 
schiedene sind  noch  nicht  aufgerichtet,  viele  noch 
nicht  gekrönt,  viele  Kronen  schon  fertig,  aber 
noch  nicht  auf  die  Häupter  gesetzt  —  meint  man 
schließen  zu  dürfen,  daß  die  Bevölkerung  die 
Bilder  in  aller  Eile  gehauen  und  aufgerichtet  hat, 
wie  um  eine  nähernde  gewaltige  Katastrophe  zu 
beschwören,  und  während  sie  damit  beschäftigt 
waren,  die  Insel  in  aller  Eile  verlassen  hat.  Man 
hat  dabei    an  eine  vulkanische  Eruption    gedacht. 

Nach  meiner  bescheidenen  Meinung  war  es  keine 
vulkanische  Eruption,  welche  die  Bevölkerung  be- 
unruhigte und  zur  Flucht  veranlaßte,  denn  die 
Bilder,  welche  an  der  Binnenneige  des  Kraters 
der  drei  gelöschten  Vulkane  stehen,  haben  ihre 
Gesichter  nicht  nach  dem  Zentrum  des  Kraters 
gerichtet.  Vielmehr  war  es  die  Absicht,  das  alles 
verschlingende  Meer  zu  beschwören,  denn  alle 
Bilder  sind  so  aufgestellt,  daß  ihre  Gesichter, 
welche  eine  böse  oder  verachtende  Miene  zeigen, 
nach  dem  Meere  zugewandt  sind.  Das 
Land  scheint  also  ziemlich  schnell  gesunken  zu 
sein.  Bei  der  F"lucht  haben  die  Bildhauer  und 
die  Bevölkerung  überhaupt  alle  Gerätschaften 
mitgenommen,  denn  man  hat  auf  der  ganzen 
Insel,  trotz  sorgfältigen  Absuchens,  nur  ein  Ob- 
sidianmesser  gefunden. 

Die  Hypothese  der  „wahren  ozeanischen  Inseln" 
ist  (oder  scheint?)  übrigens  so  logisch,  daß  da- 
gegen im  allgemeinen  wohl  wenig  Bedenken  an- 
geführt werden  können;  doch  haften  ihr  noch 
einige  Fehler  an;  sie  gibt  nämlich  von  einer  un- 
erwarteten Seite  noch  zu  lästigen  Fragen  Ver- 
anlassung, welche  vorher  gehörig  aufgelöst  werden 
müssen,  bevor  die  Hypothese  Theorie  genannt 
werden  kann. 

Ist  es  nicht  möglich,  zu  der  Hacke  einen  Stiel 
zu  finden?   M  ol  engraaff  sagt  selber  (1.  c.  S.  224), 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


203 


daß:  „diese  vulkanischen  Inseln,  welche  sich  als 
Kegel  oder  Gruppen  von  Kegeln  von  ansehnlicher 
Masse  unmittelbar  aus  der  plastischen  Sima" 
(basaltischen  Unterlage)  „erheben,  nicht  bestehen 
bleiben  können;  sie  werden  vielmehr  durch  die 
Einwirkung  der  Gravitation  allmählich,  schneller 
oder  langsamer,  sinken  müssen,  alle,  ohne  Unter- 
schied, und  so  lange  dieser  Kraft  nicht  von 
anderen  Kräften  entgegengewirkt  wird,  unter 
dem  Meeresspiegel  verschwinden  und  schließlich 
mehr  und  mehr  die  Gestalt  des  Ozeanbodens  an- 
nehmen müssen."  —  Weiter  (I.e.  S.  230):  „Viel- 
leicht darf  man  in  den  merkwürdigen  Mittel- 
Atlantischen  Tiefseerücken  das  Ergebnis  sehen 
einer  vulkanischen  Tätigkeit  längs  einer  gewaltigen 
Spähe  von  der  Ausdehnung  des  Tiefseerückens, 
wo  aus  zahlreichen  Öffnungen  vulkanisches  Material 
gepreßt  wurde,  wodurch  vulkanische  Rücken  und 
Kegel  gebildet  wurden,  welche  gegenwärtig  fast 
alle,  infolge  der  Isostasie,  durch  die  Einwirkung 
der  Gravitation,  bis  zum  Durchschnittsniveau  des 
unterseeischen  Rückens  zurückgesunken  sind, 
während  nur  hier  und  dort  einzelne  Inseln,  wo 
die  vulkanische  Tätigkeit  länger  fortdauerte  oder 
noch  fortdauert,  sich  jetzt  noch  über  den  Meeres- 
spiegel erheben  und  andere  (wovon  der  Natur 
der  Sache  nach  nur  einzelne  zufällig  durch  Lotung 
entdeckt  sind)  sich  zwar  noch  zu  verschiedener 
Höhe  über  dieses  Niveau  erheben,  aber  nicht  bis 
an  den  Meeresspiegel  reichen.     Zu  den  letzteren 


gehören  drei  unterseeische  Berge,  welche  sich  in 
der  Nähe  des  westlichen  Teils  der  Azoren  vom 
Ozeanboden,  welcher  hier  ungefähr  3000  m  tief 
ist,  zu  146,  resp.  128  und  88  m  unter  dem 
Meeresspiegel  erheben.  Die  Veranlassung  zum 
Hinausfließen  von  solchen  gewaltigen  Massen 
vulkanischen  Materials  möchte  man  vielleicht 
suchen  im  Abreißen  des  amerikanischen  Kon- 
tinents vom  europäisch-afrikanischen,  womit  er 
früher  zusammenhing. . ." 

Wenn  wir  nun  die  Hypothese  auch  auf  das 
Indische  Festland  „Lemuria"  und  das  zentral- 
pazifische Fe.stland,  das  füglich  „Tonga-Rapa"  ge- 
nannt werden  kann,  anwenden,  und  dabei  erwägen, 
daß  die  Möglichkeit  gar  nicht  ausgeschlossen  ist, 
daß  die  Spalten  entstanden  und  deshalb  die  ge- 
waltigen Massen  basaltischen  Magmas  aufwärts  ge- 
preßt wurden,  als  die  Kontinentalblöcke  noch 
nicht  so  hoch  und  die  Ozeanbecken  noch  nicht 
so  tief  waren  (was  meines  Erachtens  sehr  be- 
greiflich ist),  dann  können  wir  uns  vorstellen,  wie 
es  möglich  war,  daß  eine  ,, Atlantis",  eine 
„Lemuria"  und  eine  „Tonga-Rapa"  über  das  Meer 
als  basaltische  Festländer  hinausragten,  welche 
später,  da  sie  als  plastische  Massen  ineinander 
sanken,  wieder  verschwanden  —  später,  viel 
später,  als  sie  schon  von  Landpflanzen  und 
Landtieren  bewohnt  waren  —  die  „Tonga-Rapa" 
seihst  von  einer  viele  Millionen  zählenden  Be- 
völkerung von  Menschen.  — 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Neue  Untersuchungen  über  den 
Farbensinn  der  Insekten.  ')  Das  Problem,  wie 
sich  das  Insektenauge  zur  Farbe  verhält,  ist  erst  in 
jüngster  Zeit  aufgetaucht.  Der  Münchener  Ophthal- 
molog  C.  von  Heß  kam  bei  seinen  Untersuchungen 
des  Farbensinns  der  höheren  und  niederen  Tiere, 
die  er  unter  Anwendung  der  Methoden  der 
wissenschaftlichen  Farbenlehre  ausführte,  zu  dem 
überraschenden,  mit  allen  früheren  Annahmen  in 
Widerspruch  stehenden  Ergebnis,  daß  die  Insekten 
die  Farben  nicht  als  solche,  sondern  nur  als 
Helligkeitsunterschiede  wahrnehmen,  daß  sie  total 
farbenblind  sind.  Damit  schien  die  Dar win'sche 
Annahme  einer  Wechselwirkung  zwischen  der 
Farbenpracht  der  Blüten  und  den  Insektenbesuchen 
widerlegt  zu  sein.  Allerdings  konnte  es  zunächst 
noch  fraglich  erscheinen,  ob  die  Ergebnisse  der 
Heß' sehen  Untersuchungen  hinreicliend  sicher 
seien.  Auch  diesen  Zweifel  muß  man  jedoch  nach 
der  letzten  Heß 'sehen  Veröff'entlichung -')  fallen 
lassen.     Wir    haben    bei    jenen    Ergebnissen    den 


')  C.  Heß,  Messende  Untersuchungen  des  Lichtsinns  der 
Biene.     Arch.   f.  d.  ges.  Physiologie,   19 16. 

^)  Fr.  Stellwaag,  Die  Blumenstetigkeit  der  Hummeln. 
Zeitschr.  f.  wiss.  Insektenbiologie,   1916. 


Schluß,  der  von  Heß  zu  seiner  Auffassung  führte, 
und  die  Prämissen  dieses  Schlusses  zu  unterscheiden. 
Der  Schluß,  daß  die  Insektenaugen  total  farben- 
blind sind,  weil  ihre  Empfänglichkeit  für  die 
Lichtstärke  des  farbigen  Lichtes  vollständig  mit 
der  des  total  farbenblinden  Menschen  übereinstimmt, 
ist  ein  Analogieschluß,  der  nach  den  Regeln  der 
Logik  nur  eine  bedingte  Gültigkeit  besitzt,  die 
Prämissen  des  Schlusses  hat  von  Heß  dagegen 
in  seiner  „Messenden  Untersuchung  des  Licht- 
sinnes der  Biene"  mit  voller  Sicherheit  festgestellt. 
Er  beweist  hier  ein  Dreifaches.  Zunächst  eine 
große  Empfänglichkeit  des  Insektenauges  für 
Unterschiede  in  der  Lichtstärke.  Sie  ist  bei  dem 
Bienenauge  mindestens  so  groß  wie  die  des 
menschlichen  Auges.  Zweitens  zeigt  er,  daß  bei 
dem  Menschen  das  normale,  das  rotblinde  und 
das  total  farbenblinde  Auge  in  ganz  verschiedener 
Weise  die  Lichtstärken  der  gefärbten  Lichter 
empfinden.  Für  das  normale  Auge  wird  die 
Lichtstärke  durch  Rot  und  Orange  erhöht,  durch 
Blau  erniedrigt;  für  das  rotblinde  Auge  durch 
Orange  erhöht,  durch  Rot  und  Blau  erniedrigt; 
für  das  total  farbenblinde  Auge  durch  Blau  erhöht, 
dnrch  Rot  und  Orange  erniedrigt.  Dabei  sind  die 
Unterschiede   in  der  Stärke  der  Lichtempfindung 


204 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


sehr  groß.  Sie  verhält  sich  bei  den  Farben  rot, 
orange  und  blau  für  das  normale  Auge  wie  die 
Zahlen 

(9-11)  :  (16,5-20,8)  :  (1,5-2,5)^) 

für  das  rotblinde  Auge  wie  die  Zahlen 

(1,5-2,2)  :  (11,8-13,2)  :  (2-3) 

für  das  totalfarbenblinde  Auge  wie  die  Zahlen 
0,6        :         6  :  (9,9—11,8) 

Man  hat  daher  nur  die  Stärke  der  Licht- 
empfindung bei  farbigen  Lichtern  zu  ermitteln, 
wenn  man  wissen  will,  ob  man  es  beim  Menschen 
mit  einem  normalen,  einem  rotblinden  oder  einem 
total  farbenblinden  Auge  zu  tun  hat.  Die  dritte 
wichtigste  Feststellung,  die  von  Heß  machte, 
war  die  Tatsache,  daß  sich  das  Auge  der  Biene 
hinsichtlich  der  Empfindung  der  Lichtstärke  genau 
so  verhält  wie  das  Auge  des  total  farbenblinden 
Menschen.  Die  betreffenden  Zahlen  sind  bei 
den  Bienen  für 

rot     orange  blau 

0,6     :     6     :     (8,3-11,1). 

Die  Zahlen  sind  mit  Hilfe  eines  messenden  Ver- 
fahrens und  unter  Ausschluß  des  subjektiven  Mo- 
mentes in  exakter  Weise  ermittelt.  Es  war  dies 
möglich,  weil  die  Empfindung  der  Lichtstärke  sowohl 
bei  dem  Menschen  wie  bei  den  Bienen  bestimmte 
unwillkürliche  Bewegungen  auslöst.  Die  Bienen 
laufen  in  einem  verdunkelten  Räume  nach  dem 
Orte,  der  ihnen  am  stärksten  beleuchtet  erscheint, 
während  bei  dem  Menschen  sich  die  Puppille  je 
nach  der  Stärke  der  Lichtempfindung  vergrößert 
oder  verkleinert.  Das  Verfahren  von  Heß  be- 
stand nun  im  Prinzip  darin,  daß  er  in  einem  ver- 
dunkelten Kasten,  in  dem  sich  die  Beobachtungs- 
objekte befanden,  von  zwei  kleinen  Fenstern,  die 
sich  an  den  beiden  sich  gegenüberliegenden 
Schmalseiten  befanden,  das  eine  mit  stetigem 
farbigen,  das  andere  mit  farblosen  Lichte,  dessen 
Stärke  verschieden  reguliert  werden  konnte,  be- 
leuchtete und  nun  genau  bestimmte,  wieviel 
Prozente  der  benutzten  Lichtquelle  auf  das  farb- 
lose Fenster  fallen  mußten,  wenn  dieses  die  gleiche 
Reaktion  hervorrufen  sollte  —  also  die  Bienen 
ebenso  anlocken  und  beim  Menschen  die  gleiche 
Zusammenziehung  der  Pupille  bewirken  sollte  — 
wie  das  farbige  Fenster.  Die  oben  mitgeteilten 
Ziffern  sind  die  in  den  verschiedensten  Versuchen 
gewonnenen  Prozentzahlen. 

Wie  die  ermittelten  Tatsachen  als  vollkommen 
sicher  angesehen  werden  müssen ,  so  handelt  es 
sich  auch  bei  dem  Schluß,  daß  die  Bienenaugen, 
weil  sie  die  gleiche  Empfindlichkeit  für  die  Licht- 
stärke farbiger  Lichter  zeigen  wie  die  Augen 
total  farbenblinder  Menschen,  total  farbenblind 
sein  müssen,  um  einen  strengen  Analogieschluß. 
Er  wird  noch  dadurch  verstärkt,    daß    die  Augen 


der  anderen  Insekten  (Schmetterlinge,  Libellen) 
die  gleiche  Empfindlichkeit  für  die  Lichtstärke 
farbiger  Lichter  zeigen  wie  die  Bienen. 

Wenn  nun  auch  der  Analogieschluß  wie  gesagt, 
eine  nur  bedingte  Gültigkeit  besitzt,  so  ist  er  doch 
besonders  in  der  Biologie ,  die  ihn  fortwährend 
anwenden  muß,  so  lange  als  zu  Recht  bestehend 
anzuerkennen,  als  nicht  sichere  Tatsachen  das 
Gegenteil  beweisen. 

Die  entscheidende  Frage  ist  daher,  ob  solche 
Tatsachen  vorhanden  sind. 

Tatsachen,  welche  für  die  frühere  Auffassung 
sprechen,  nach  welcher  die  Insekten  die  Farben 
in  gleicher  oder  ähnlicher  Weise  wie  der  Mensch 
wahrnehmen  sollten,  sind  bisher  nicht  geltend 
gemacht  worden;  diese  Auffassung  scheint  definitiv 
aufgegeben  zu  sein.  Dagegen  hat  K.  von  Frisch') 
durch  eine  große  Anzahl  von  Versuchen  den 
Nachweis  zu  erbringen  gesucht,  daß  das  Bienen- 
auge nicht  total  farbenblind,  sondern  nur  rotblind 
ist.  Nach  ihnen  sollen  die  Bienen  Gelb  und  Blau 
an  ihrem  Farbenwert  erkennen.  Rot  erscheint 
ihnen  dagegen  wie  Schwarz.  Sie  verwechseln 
ferner  Orange  mit  Gelb,  Purpur  und  Violett  mit  Blau, 
weil  sie  in  diesen  Mischfarben  die  rote  Farben- 
komponente nicht  wahrnehmen.  K.  von  Frisch 
hat  seine  Resultate  mit  Hilfe  des  Dressurverfahrens 
gewonnen.  Er  dressierte  Bienen  auf  bestimmte 
Farben,  die  sie  später  wieder  zu  erkennen  schienen. 
Auf  dem  Zoologenkongreß  1914  wurden  die  von 
ihm  vorgeführten  Versuche  mit  Beifall  aufge- 
nommen. Doch  haftet  der  von  ihm  angewandten 
Methode  zweifellos  ein  Mangel  an.  Durch  die 
Dressur  wird  ein  neues  Moment  eingeführt,  das 
die  Erscheinung  noch  weiter  kompliziert  und,  weil 
wir  es  in  seinen  inneren  Zusammenhängen  nicht 
übersehen  können,  zu  einer  Quelle  von  Fehlern 
werden  kann.  C.  von  Heß  hat  auf  eine  ganze 
Reihe  von  Irrtümern,  welche  bei  diesen  Versuchen 
unterlaufen  können,  hingewiesen.  Jedenfalls  ist 
es  wünschenswert,  daß  das  Problem  noch  in 
anderer  Weise  angefaßt  wird.  Das  ist  in  der 
Stell  waag' sehen  Untersuchung  der  Blumen- 
stetigkeit der  Hummeln  geschehen.  Stellwaag 
sieht  bei  ihr  von  allen  Dressurversuchen  ab  und 
sucht  durch  die  bloße  Beobachtung  des  Ver- 
haltens der  Hummeln  in  der  freien  Natur  Auf- 
schluß über  ihren  Farbensinn  zu  gewinnen.  Einen 
Anhaltepunkt  bietet  ihm  ihre  Konstanz.  Er  unter- 
scheidet dabei  die  Konstanz  der  Bienen  und  der 
Hummeln.  Die  Biene  bleibt,  wie  bekannt,  der 
Blütenart,  die  sie  beim  ersten  Anflug  beflogen  hat, 
treu.  Bei  älteren  Bienen  ist  diese  Konstanz  außer- 
ordentlich groß,  es  kommen  aber  auch  bei  ihnen 
einzelne  Abweichungen  vor  und  es  scheint, 
daß  sie  sich  in  solchen  Fällen  durch  die  Farbe 
täuschen  lassen.'')  Man  kann  dann  daraus  den 
Schluß  ziehen,  daß  sie  Farbensinn  besitzen.     Doch 


')  Die  in  Klammern  stehenden  Zahlen  geben  die  Grenzen 
an,  zwischen  denen  die  Resultate  bei  den  verschiedenen  Ver- 
suchen lagen. 


')  K.  von  Frisch,  Zum  Farbensinn  und  Formensinn 
der  Biene.     1916. 

")  H.  Kranichfeld,  Zum  Farbensinn  der  Bienen.  Biol. 
Zentralblau   1915- 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


205 


ist  dieser  Schluß  nur  unter  besonderen  Bedingungen 
zulässig.  Es  muß  die  Flora  des  ßeobachtungs- 
feldes,  wenn  er  gelten  soll,  nicht  nur  sehr  reich 
sein,  so  daß  Individuen  jeder  Art  in  genügender 
Anzahl  vorhanden  sind,  sie  muß  auch  Blüten  in 
den  verschiedensten  Farben  und  unter  ihnen  die 
Lieblingsblüten  der  Bienen  enthalten,  es  darf  ferner 
die  gleichgefärbte  Blüte,  auf  welche  die  Biene  ab- 
irrt, nicht  zu  diesen  Lieblingsblüten  gehören  — 
nur  wenn  alle  diese  Bedingungen  erfüllt  sind,  sind 
andere  Deutungen  der  Abirrung  von  der  Konstanz 
ausgeschlossen.  Direkter  führt  zur  Beantwortung 
unserer  Frage  die  Konstanz,  welche  Stellwaag 
bei  der  Hummel  (Rombus  agrorum)  auffand.     Sie 

Tabelle  i.     Beobachtung  vom  18.  Mai  191 5. 


Pflanzenart 

Zustand 
der  Blüte 

Zahl 
der 
Be- 
suche 

Art  des 
Besuches 

Farbe 
der  Blüte 

Lathyrusniontanus 

aufgeblüht 

saugend 

rosaviolett 

Vicia  sepium 

„ 

„ 

rotviolett 

verblüht 

umflogen 

blauviolett 

aufgeblüht 

saugend 

rotviolett 

verblüht 

„ 

schmutzigblau 

aufgeblüht 

, 

rotviolett 

verblühend 

, 

blauviolett 

aufgeblüht 

, 

rotviolett 

Knospe 

, 

lila 

aufgeblüht 

, 

rotviolett 

verblüht 

, 

blauviolett 

aufgeblüht 

, 

rotviolett 

verblühend 

, 

blauviolelt 

aufgeblüht 

' 

, 

rotviolett 

Knospe 

, 

lila 

aufgeblüht 

, 

rotviolett 

„ 

umflogen 

„ 

„ 

saugend 

„ 

umflogen 

„ 

„ 

saugend 

„ 

„ 

„ 

umflogen 

Lathyrus  montanus 

" 

saugend 
umflogen 

saugend 

rosaviolett 

„ 

verblüht 

" 

blauviolett 

" 

aufgeblüht 

umflogen 

rosavioletl 

•' 

verblühend 
aufgeblüht 
verblühend 

saugend 

blauviolett 
rosaviolett 
blauviolett 

aufgeblüht 

.. 

rosaviolett 

2  Pflanzenspezies 
3  Wechsel 

120 

5  Nuancen 
von  violett 

Tabelle  2.     Beobachtung  vom  27. 


1915- 


Zustand 
der  Blüte 


Zahl 
der 
Be- 
suche 


Lathyrus  vernus 

aufgeblüht 
verblüht 

aufgeblüht 
verblüht 

34 

saugend 

hellpurpur 

schmutzig  blau 

hellpurpur 

blauweiß 

„ 

aufgeblüht 

19 

hellpurpur 

Polygala 

umflogen 

blau 

Lathyrus  vernus 

„ 

12 

saugend 

hellpurpur 

Lathyrus  montanus 

„ 

röüich-violett 

Lathyrus  vernus 

verblüht 

7 

" 

hellpurpur 
blau 

„ 

aufgeblüht 

„ 

hellpurpur 

Trifolium  pratense 

" 

^^- 

fleischfarben 

5  Spezies 
7   Wechsel 

ss 

6  Nuancen 

Art  des 
Besuches 


war  hinsichtlich  der  Blüten art  nur  schwach,  hin- 
sichtlich der  Blüten  färbe  sehr  stark  ausgebildet. 
Während  die  Hummeln  die  Blütenarten  bei  den 
einzelnen  Flügen  ziemlich  oft  wechselten,  blieben 
sie  der  Farbe  der  zuerst  beflogenen  Blüte  treu. 
Dabei  handelte  es  sich  nicht  um  eine  Vorliebe 
für  eine  bestimmte  Farbe  —  denn  es  war  diese 
zwar  in  den  von  Stellwaag  beobachteten  Fällen 
in  der  Regel  blau,  in  zwei  Fällen  aber  auch  gelb 
und  weiß  —  sondern  nur  um  Konstanz  —  d.  h. 
um  Farbenstetigkeit.  Diese  letztere  war  über- 
raschend groß.  Stellwaag  teilt  die  Protokolle 
von  15  von  ihm  beobachteten  Flügen  mit  im 
ganzen  1015  Blütenbesuchen  mit.  Nur  zweimal 
irrten  dabei  die  Hummeln  auf  anders  gefärbte 
Blüten  ab.  Daß  man  bisher  diese  merkwürdige 
Eigenschaft  der  Hummeln  nicht  erkannt  hat,  ist 
nach  Stellwaag  darauf  zurückzuführen,  daß  die 
F"arbenstetigkeit  der  Hummeln  die  des  rotblinden 
Auges  ist,  die  unserem  normalen  Auge  nicht  als 
solche  erscheint. 

Es  mag  das  noch  an  zwei  St  eil  waag'schen 
Protokollen  gezeigt  werden. 

Die  Hummeln  besuchten  in  beiden  Fällen 
nacheinander  rosaviolette,  rotviolette,  blauviolette, 
lilafarbene,  purpurfarbene  und  blaue  Blüten,  sie 
wechselten  so  für  unser  Auge  die  Farben,  für  das 
rotblinde  Auge  hatten  die  Blüten  aber  nur  eine, 
die  blaue  Farbe.  Man  kann  aus  den  Protokollen 
übrigens  mit  Stellwaag  noch  weitere  Schlüsse 
ziehen.  Nicht  selten  waren  die  Blüten,  welche 
die  Hummeln  anzogen,  schon  verblüht  oder  noch 
nicht  voll  aufgeblüht,  sie  hatten  also  in  beiden 
Fällen  keinen  Nektar.  Dieser  kann  daher  nicht 
das  gewesen  sein,  was  sie  anlockte.  Daß  sie  sich 
bei  ihren  Flügen  nach  der  Farbe  richteten,  tritt 
besonders     bei     dem     Besuch     der    Polygala     in 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  15 


Protokoll  2  hervor.  Die  Hummel  suchte  sie  auf, 
obgleich  sie  abseits  stand  und  der  Weg  zu  ihr  durch 
Grasbüschel  vers[)errt  war.  Bei  ihr  angekommen, 
umflog  sie  dieselbe  aber  nur  und  verschmähte 
den  gedeckten  Tisch.  Auch  die  etwaige  Deutung, 
daß  bei  der  Farbe  für  die  Hummeln  nicht  der 
Farben-  sondern  nur  der  Helligkeitswert  in 
Betracht  gekommen  sei,  kann  gegenüber  der  Tat- 
sache, daß  bei  den  besuchten  Blüten  wohl  der 
Farbenwert,  nicht  aber  der  Heiligkeilswert  gleich 
blieb,  nicht  aufrecht  erhalten  werden. 

Es  ist  zu  hoffen,  daß  der  von  Stellwaag 
eingeschlagene  Weg  auch  von  anderen  durch 
Beobachtungen  im  Freien  weiter  verfolgt  wird. 
Sollten  sie  die  von  ihm  beobachtete  Farben- 
stetigkeit der  Hummeln  bestätigen  und  als  all- 
gemeine Regel  erweisen,  so  würde  in  ihr  eine 
starke  Instanz  gegen  die  sonst  so  einleuchtenden 
Schlußfolgerungen  von  Heß  gegeben  sein. 

Kranichfeld. 


Springende  Insektenlarven  sind  auch  dem  Laien 
mehrfach  bekannt.  Es  sei  nur  an  die  Larve  des 
Wicklers  Ocnophthira  pilleriana  erinnert^»  die  von 
ihren  lebhaften  Springbewegungen  den  Namen 
Springwurmwickler  führt.  Berührt  man  sie,  so  führt 
sie  lebhaft  schlängelnde  Bewegungen  aus,  wobei  sie 
sich  rückwärts  fortbewegt.  Sie  entrinnt  dadurch 
der  Gefahr  ergriffen  zu  werden,  denn  bei  der 
Berührung  schnellt  sie  sich  sofort  aus  ihrem  Ge- 
spinnste  heraus  und  läßt  sich  zu  Boden  fallen,  wo 
sie  sich  verkriecht. 

Den  Springvorgang  hat  schon  Reaumur  be- 
obachtet und  er  ist  seitdem  auch  an  verschiedenen 
Objekten  beschrieben  worden.  1893  hat  Giard 
die  Bewegungen  der  Gallmückenlarve  Diplosis 
jakobaeae  analysiert  und  eine  genaue  Beschreibung 
seiner  Beobachtungen  gegeben.  In  der  Zeitschrift 
für  wissenschaftliche  Insektenbiologie  1916  hat  nun 
H.  Prell  weitere  Angaben  über  das  Springen  von 
Diplosislarven  veröffentlicht.  Er  machte  seine 
Studien  an  Diplosis  quinquenotata  Low. 

Die  Larven  wurden  an  Hemerocallis  fulva  ge- 
funden, wo  sie  in  den  Blutenknospen  eine  auf- 
fällige Verkrüppelung  erzeugten.  Um  sie  besser 
beobachten  zu  können,  brachte  sie  Prell  zwischen 
zwei  Uhrschälchen  unters  Mikroskop.  Sobald  sie 
von  unten  beleuchtet  wurden,  sprangen  sie  an  den 
Glasdeckel,  um  sich  von  dort  aus  aufs  neue  fort- 
zuschnelien.  Dabei  war  es  leicht,  den  Verlauf 
des  Springaktes  zu  verfolgen. 

Schickt  sich  die  Larve  zum  Sprung  an,  so  hält 
sie  in  ihren  gewöhnlichen  Kriechbewegungen 
plötzlich  still  und  macht  nur  noch  mit  dem  Vorder- 
körper tastende  Bewegungen.  Dann  streckt  sie 
sich  gerade  und  preßt  ihr  Vorderende  fest  gegen 
die  Unterlage.  Gleichzeitig  lockert  sie  ruckweise 
ihr  Hinterende  von  der  Unterlage  ab,  reckt  es  in 
die  Höhe  und  krümmt  es  nach  der  Ventralseite 
ein,  so  daß  die  Larve  die  Gestalt  eines  stehenden 
Hakens    bekommt.      Das  Körperende   gleitet  nun 


an  der  Bauchseite  entlang  bis  an  die  Grenze  von 
Pro-  und  Mesothorax.  Hier  stellt  sich  ihm  eine 
chilinartige  Verdickung,  der  Stiel  der  Brustgräte 
entgegen.  Da  dieser  nicht  wie  die  übrige  Haut  sich 
ohne  weiteres  biegen  läßt,  wird  hinter  ihm  die 
weiche  Sternalhaut  tief  grubenförmig  eingedrückt 
und  in  dieser  Grube  findet  das  Hinterende  festen 
Halt.  Der  Körper  hat  nun  etwa  die  Form  eines 
nicht  ganz  geschlossenen  Ringes,  steht  aber  mit 
dem  Kopfende  fest  auf  der  Unterlage.  Hat 
das  Hinterende  festen  Halt  gefunden,  so  beginnt 
sich  in  der  Mitte  des  Körpers  die  dorsale  Längs- 
muskulatur zu  kontrahieren  und  die  anfangs  hoch- 
gewölbte  Kurve  etwas  abzuflachen.  Damit  wächst 
einerseits  die  Spannung  des  Bogens,  andererseits 
verringert  sich  aber  auch  der  Halt,  welchen  das 
Hinterende  am  Thorax  findet.  Schließlich  muß 
dann  das  Hinterende  ganz  abgleiten  und  der 
Körper  der  Larve  schnellt  in  eine  leicht  gebogene 
Normallage  zurück.  Durch  den  Rückstoß  dieser 
Bewegung,  die  ganz  dem  Auseinanderschnellen 
eines  gebogenen  Drahtes  entspricht,  wird  die 
Made  fortgeschleudert. 

Der  Springprozeß  wäre  nicht  möglich,  wenn 
außer  der  Chitinverdickung  an  der  Brust  nicht 
auch  das  Hinterleibsende  stärker  chitinisiert  wäre. 
Da  der  übrige  Körper  weichhäutig  ist,  so  besteht 
eine  ganz  ausgesprochene  Anpassung  an  eine  be- 
stimmte Art  der  Fortbewegung,  und  es  ist  zu 
vermuten,  daß  das  Springvermögen  für  das  Tier 
eine  gewisse  Bedeutung  haben  muß.  Giard 
nimmt  an,  daß  die  Larve  auf  diese  Art  die  Ver- 
breitung der  Art  begünstigt.  Dagegen  wendet 
Prell  ein,  daß  die  Sprungweite  der  Maden  relativ 
gering  ist  und  daß  diese  wegen  der  Gefahr  des 
Eintrocknens  sich  nicht  lange  im  Freien  aufhalten 
können.  Aus  der  Tatsache,  daß  sie  sich  nach  dem 
Sprung  stets  einzugraben  versuchen,  zieht  Prell 
den  Schluß,  daß  das  Springen  eine  Fähigkeit  sei, 
welche  gegenüber  der  kriechenden  Fortbewegung 
vor  allem  ein  rascheres  Einbohren  in  die  Erde 
zur  Verpuppung  ermöglicht.  Diese  Anschauung 
wird  sicher  durch  die  Beobachtungen  gestützt, 
die  eingangs  von  der  Larve  des  Springwurm- 
wicklers mitgeteilt  worden  sind.         Stellwaag. 

Plates  Fauna  ceylanica.  Unter  dem  Titel 
Fauna  ceylanica  gibt  L.  Plate  in  der  Jenaischen 
Zeitschrift  für  Naturwissenschaft  Untersuchungen 
zur  Tierwelt  Ceylons  nach  Studien  an  dem  von 
ihm  im  Winter  1913/14  gesammelten  Material 
heraus.  Bisher  erschienen  3  Teile  ^),  von  denen 
der  zweite  über  biologische  Beobachtungen  im 
Forschungsgebiete  berichtet.  Als  Korailenkenner 
interessierte  sich  Plate  lebhaft  für  das  Korallen- 


')  I.  L.  Plate,  Über  zwei  ceylonische  Temnoccphalen. 
Jenaische  Zeilschr.  LI,  1914,  S.  707 — 722.  —  II.  Dersi-lbe,  Über- 
sicht über  biob'gische  Studien  auf  Ceylon.  Ebenda.  Bd.  LIV, 
1916,  S.  I— 41,  9  Taf.  --  III.  Derselbe:  Die  rudimentären 
Hinterflügel  von  Phyllium  pulchnfolium  Serv.  9.  Ebenda, 
Bd.  LIV,   1916,  S.  43—66,   I   Taf. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


207 


riff  von  Galle  an  der  Südwestküste  der  Insel, 
und  unter  anderem  beschreibt  er  an  ihm  eine 
Riff  platte,  wie  er  es  nennt,  eine  dicht  von 
grünen  Algen  und  Kalkalgen  überzogene  poröse 
Deckschicht  über  toten,  aufeinandergewachsenen 
Korallen.  Sie  kann  das  Körpergewicht  eines 
Mannes  tragen.  Da  sie  samt  den  unter  ihr  be- 
findlichen, zwar  abgestorbenen,  aber  an  Ort 
und  Stelle  übereinandergewachsenen  Korallen 
'/., — -i^o  m  Dicke  hat,  so  kann  die  Darwin'sche 
Senkungslheone  der  Entstehung  der  Korallenriffe 
nicht  wohl  mit  der  Begründung  bekämpft  werden, 
die  lebenden  Korallen  hätten  nicht  die  Fähigkeit, 
auf  den  toten  sich  immer  weiter  in  die  Höhe  zu 
bauen  in  dem  Maße,  wie  der  Boden  sinkt  und 
die  versenkten  Korallen  absterben.  Zu  der  reichen 
Tierwelt  jener  Riffs  gehört  die  Schnecke  Harpa 
conoidalis,  die  biologische  Eigentümlichkeiten 
hat:  starke  plötzliche  Reizung  führt  zur  Auto- 
tomie  des  Vorder fußes,  vielleicht  eine  An- 
passung, die  ein  rasches  Zurückziehen  in  die 
Schale  erleichtert.  Ferner  ist  diese  Art  neben 
Cypraea  tigris  der  einzige  Prosobranchier,  an  dem 
nunmehr  Farbenwechsel  festgestellt  wurde. 
Ausgesprochene  Schutzfarbe  ist  zwei  Epizoen 
der  Seegurke  Holothuria  atra  eigen ;  der  bisher 
unbeschriebene  Ringehvurm  Polynoe  freudenbergi 
und  die  Krabbe  Lissocarcinus  orbicularis  ahmen 
durch  braune  Färbung  mit  gelben  Flecken  genau 
die  Farbe  der  schwarzbraunen ,  mit  hellgelben 
Sandkörnern  beklebten  Holothurie  nach. 

Sehr  auffallenden  Farbenwechsel  zeigten  auch 
Fische  aus  der  Familie  der  Gobiiden,  Salarias 
lineatus,  die  sich  oft  in  der  Gezeitenzone  über 
Wasser  aufhalten.  Gegen  lautes  Schreien,  Pfeifen, 
Hammerschläge  an  einen  Blecheimer  und  sonstige 
starke  Geräusche  verhalten  sie  sich  völlig  reak- 
tionslos, ebenso  ein  Periophthalmus,  also  zwei 
Fischarten  mit  vielfach  terrestrischer  Lebensweise. 
Wenn  somit  diese  Fische  anscheinend  nicht  hören, 
wird  man  das  bei  rein  Wasserlebigen  noch  weniger 
vermuten. 

Noch  mit  einem  dritten  an  Land  gehenden 
P'isch  beschäftigt  sich  Plate,  mit  Anabas  scandens, 
dem  Kletterfisch.  Die  auf  einen  dänischen 
Leutnant  Daldorf  und  das  Jahr  1791  zurück- 
gehende Angabe,  dieser  Labyrinthfisch  klettere 
auf  Bäume,  dürfte  sich  höchstens  auf  eine  zu- 
fällige, eigenartige  Beobachtung  stützen.  Die 
Bewegung  an  Land  erfolgt  nach  Plate 
weniger  oft  in  Bauch-  als  in  Seitenlage,  dann  mit 
der  Geschwindigkeit  eines  langsamen  P'ußgängers 
und  zwar  dadurch,  daß  die  Dornen  am  Hinterrand 
des  Kiemendeckels  gegen  den  Boden  gestemmt 
werden  und  gleichzeitig  der  Schwanz  hin  und  her 
schlägt.  Außer  Wasser  sterben  selbst  in  feuchten 
Glasschalen  die  Tiere  in  20  bis  24  Stunden  stets 
ab,  sie  können  also  auch  die  trockene  Jahreszeit 
zwar  im  Erdreich,  aber  nicht  nach  Dipnoerart 
ganz  ohne  Wasser  verbringen.  Dagegen  lebte 
ein  Anabas,  von  dem  nur  ein  Kiemendeckel  und 
ein   Teil   der   rechten    Seite   ins    Wasser    tauchte, 


der  ganze  übrige  Körper  aber  auf  feuchtem  Sande 
der  Luft  ausgesetzt  war,  in  dieser  seitlichen  Lage 
4*/.,  Wochen  ohne  jede  Nahrung  und  ließ  nach 
Abbruch  des  Versuchs  nicht  die  geringste 
Schädigung  erkennen.  Offenbar  hat  das  Labyrinth, 
ein  wichtigeres  Atmungsorgan  als  die  Kiemen, 
eine  gewisse  Anfeuchlung  nötig,  um  die  unent- 
behrliche gasförmige  Luft  verarbeiten  zu  können. 
Die  Fische,  die  in  der  Küche  ungewöhnlich  zäh- 
lebig sein  sollen,  lebten  auch  in  45  "/,,  igem  Alkohol 
noch  ca.  20  Minuten  und  in  Alkohol-Sublimat- 
Eisessig  etwa  Vi  Stunde. 

Von  den  Feststellungen  an  Land  seien  zu- 
nächst Plate's  Ausführungen  über  den  heiligen 
Bobaum  in  Anuradhapura,  der  alten  Kultusstätte 
des  ceylonischen  Buddhismus,  erwähnt.  Staunend 
stehen  Pilger  und  auch  P"orscher  vor  dieser  Ficus 
religiosa,  deren  hohes  Alter  von  mehr  als 
2000  Jahren  die  Priester  und  Mönche  bei  der  ge- 
ringen Stärke  des  Stammes  glaubhaft  zu  machen 
suchen,  indem  sie  erklären,  er  scheine  im  Wachstum 
nicht  fortzuschreiten.  Bestenfalls  kann  man,  meint 
Plate,  annehmen,  daß  der  ursprüngliche,  aus  Indien 
eingeführte  Ableger  jenes  Baumes,  unter  welchem 
einst  die  Erleuchtung  über  Buddha  gekommen 
sein  soll,  längst  bis  auf  einen  basalen  Strunk  zu- 
grundegegangen ist  und  aus  dem  Wurzelstock 
die  zwei  schwachen,  wohl  höchstens 
200jährigen  Äste  hervorgingen,  die  jetzt  dort 
stehen.  Von  einem  2000jährigen  Alter  dieses 
Baumes  dürfen  wir,  füge  ich  hinzu,  also  höchstens 
in  dem  Sinne  sprechen,  wie  Kobelt^)  von 
looojährigen  Erlen  im  Frankfurter  Stadtwald. 

VVeitere  Notizen  beziehen  sich  auf  das  Leuchten 
der  schon  viel  bewunderten  Leuchtkäferart 
Luciola  sinensis,  deren  nächtliches  Funkeln  in  den 
Baumkronen  dem  Glanz  der  Sterne  vergleichbar 
ist.  Die  Rhythmik  des  Leuchtens  ist  in- 
sofern nur  eine  scheinbare,  als  sein  stetes  Aufhören 
und  Wiederbeginnen  bei  frischen  Tieren  nur  auf 
dem  häufigen  Abkehren  der  Unterseite  des 
Hinterleibs  vom  Beschauer  beruhen  kann;  denn 
in  der  Nähe  beobachtete  frische  Käfer  leuchten 
ununterbrochen ;  jedoch  ist  das  Licht  nicht  ruhig, 
sondern  zitternd,  mit  ständigen  Pausen  von  Bruch- 
teilen einer  Sekunde,  und  nur  bei  Nacht  wird  es 
erzeugt.  Da  das  Leuchten  auch  durch  Dunkelheit 
tags  nicht  hervorgerufen  werden  kann,  erinnert 
es  an  den  P'arbenwechsel  von  Dixippus  morosus, 
der  gleichfalls  dem  Tiere  „in  Fleisch  und  Blut 
übergegangen"  ist,  und  würde  wohl  gleich  den 
Schlafbewegungen  der  Acacia  lophanta  auch  ohne 
Fortbestehen  der  ursprünglichen  Ursachen,  des 
Tag-  und  Nachtwechsels,  erblich  auftreten. 

Papilio  hector  erwies  sich  in  vier  Einzel- 
versuchen als  ein  für  Eidechsen  unschmack- 
hafter Schmetterling,  was  für  die  Mimi- 
krylehre spricht,  denn  eme  Weibchenform  von 
Papilio  polytes  ahmt  ihn  nach.    Andere  Schmetter- 


')  Sitzungsberichte  derSenckenbergischen  Naturforschenden 
Gesellschaft,  Frankfurt  a.  M.   1912. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   15 


Hnge  wurden  von  den  Eidechsen  gefressen.  Als 
wenig  findig  erwiesen  sich  Eidechsen  gegenüber 
Gespenst-  und  Blatt  h  eu  seh  recken,  denn 
solange  sich  diese  nicht  bewegten,  wurden  sie 
von  den  Kriechtieren  nie  gefunden.  Die  Be- 
obachtungen wurden  teils  im  Käfig,  teils  in  Freiheit 
mit  angebundenen  Insekten  angestellt.  Alte  „Wan- 
delnde Blatter",  Phyllium  pulchnfolium,  sehen  auf 
Kakaobäumen  rostfleckig  aus  wie  die  Blätter  dieser 
Bäume  selbst  und  scheinen  sogar  einander  zu  täu- 
schen und  daher  manchmal  von  Artgenossen  ange- 
fressen zu  werden,  selten  sind  sie  ganz  rotbraun  wie 
tote  Blätter,  doch  haben  diese  Farbe  immer  die 
neugeschlüpften  Tiere,  die  durch  ihren  negativen 
Geotropismus  an  die  braun  beblätterten  Zweig- 
spitzen  klettern.  Unbedingt  geschützt  gegen  die 
Entdeckung  durch  Kriechtiere  sind  diese  Heu- 
schrecken aber  nicht,  und  noch  mehr  als  ihre 
bloße  Pflanzenähnlichkeit  schützt  sie  ihre  auf- 
fallende Neigung  zur  Kat al ep si e.  Diese  Starr- 
sucht, oft  in  den  absonderlichsten  Stellungen,  aus 
der  die  Tiere  auch  durch  Beträufelung  mit  Alkohol 
oder  durch  Hammerschläge  auf  den  Tisch,  bei 
denen  sie  höchstens  umfallen,  nicht  erwachen,  wohl 
aber  durch  energisches  Schütteln,  erhöht  zweifellos 
ihre  Astähnlichheit,  da  innerhalb  vieler  Stunden 
nur  gerinfügige  Veränderungen  der  Beinstellung 
wohl  durch  die  Schwere  eintreten;  sie  ließ  sich 
auch  künstlich  hervorrufen,  indem  man  die  Tiere 
auf  den  Rücken  legte,  die  beiden  hinteren  Beinpaare 
ausspreizte  und  einen  sanften  Druck  auf  das  Bauch- 
mark und  die  Beine  ausübte.  Dies  gelang  sowohl 
bei  Stabheuschrecken  wie  bei  dem  erwähnten 
wandelnden  Blatt,  aber  nicht  bei  zwei  Mantisarten. 
Als  rudimentäre  Organe  interessierten  Plate 
die  Afterklauen  der  Riesenschlange 
Python  molurus.  Die  bekanntlich  nicht  völlig 
geschwundenen  Hinterbeine  variieren  in  der  Größe 
und  liegen  zu  drei  Vierteln  in  der  Haut  verborgen. 


und  auch  am  lebenden  Tier  wurde  ihre  Hervor- 
streckung nicht  beobachtet.  Plate  hält  sie  da- 
her gegenüber  der  Meinung,  daß  es  nutzlose  Organe 
nicht  gebe,  für  völlig  bedeutungslose  Rudimente 
und  betont  dieselbe  Auffassung  auch  für  die 
rudimentären  Hinterflügel  von  Phyllium 
pulchrifolium,  denen  er  im  dritten  Teil  eine  aus- 
führlichere Studie  widmet.  Diese  nur  4  mm  langen, 
zusammengefalteten  und  auf  embryonaler  Stufe 
stehengebliebenen  Gebilde  sind  unbeweglich  und 
mit  Sinnesborsten  und  Sinnesknöpfen  ausgerüstet, 
die  nicht  innerviert  sind.  Die  Epidermis  ist  stets 
syncytial  bei  verschiedenen  Graden  des  Kern- 
schwundes unter  Histolyse  und  wahrscheinlich 
Phagocytose.  Die  Phagocyten  zerfallen  dann 
selbst  und  geben  damit  die  von  ihnen  gefressenen 
Stoffe  als  Nährmaterial  frei.  Die  zur  Blatt- 
ähnlichkeit führenden  Eigenschaften  von  Phyllium, 
führte  Plate  aus,  wie  die  Verbreiterungen  der 
Vorderflugel,  der  Schenkel  und  des  Hinterleibes, 
können  nur  durch  Selektion  entstanden  sein,  da- 
gegen ist  die  in  sich  harmonische  Rudimentation 
der  Hinterflügel  durch  Vererbung  des  Erworbenen 
zu  erklären  —  weniger  durch  Nichtgebrauch  als 
durch  geschmälerte  Stoffzufuhr  zu  den  peripheren 
Determinanten,  was  auf  die  zentralen  zurück- 
wirkte; während  eine  unmittelbare  Schädigung  der 
Keimplasmadeterminanten  zur  Disharmonie  hätte 
führen  müssen ,  und  als  unschädliche  Organe 
diese  Hinterflügel  nicht  durch  Selektion  ausgemerzt 
werden  konnten. 

Weniger  biologisches  als  systematisches  Inter- 
esse hat  die  im  ersten  Teil,  1914,  gegebene  ana- 
tomische Behandlung  zweier  Temnocephaliden, 
winziger  auf  einer  Garnelenart  schmarotzender 
Würmchen,  die  in  mancher  Hinsicht  zwischen 
Turbellarien  und  Trematoden  vermitteln.  Die 
eine  der  beiden  Arten,  Monodiscus  parvus,  ist  neu. 
V.  Franz. 


F.  Bronsart  v.  Schellendorf.      Afrikanische 
Tierwelt,    III    und    IV.     Leipzig,     1916.     E. 
Haberlandt.  —  Geb.  4  M. 
Aus  dem   reichen  Schatz  seiner  Erfahrung  als 
Naturbeobachter  und  Jäger  in  Oatafrika  schöpfend, 
setzt  der  Verf.  mit  den  beiden  obigen  Bänden  die 
Reihe  seiner  afrikanischen  Tierschildeiungen  fort, 
die    wir    bereits    mehrfach    charakterisierten.     Be- 
sonderesinteresse wird  der  Band  „Löwen"  erregen; 
der  Verf.  teilt   in    ihm  eine  Menge    wichtiger  Be- 
obachtungen   mit,    so    z.    B.    über    die    in   Höhlen 
lebenden  Löwen.     Obwohl  er  mit  seinen  sechzig 


Bticherbesprechungen. 

auf  freier  Wildbahn  erlegten  Löwen  den  Welt- 
rekord hält,  rückt  er  seine  Jagderlebnisse  —  so 
aufregend  sie  sich  auch  lesen  — ,  nicht  in  den 
Mittelpunkt,  vielmehr  ist  stets  die  genaue  Be- 
obachtung der  Tiere  sein  wesentlichstes  Ziel. 


Das  gleiche  gilt  für  den  anderen  Band,  In 
welchem  wieder  mehr  in  tiernovellestischer  Form 
das  Leben  und  Treiben  von  Elefanten,  Büffeln, 
Leoparden  usw.  dargestellt  wird  und  aus  dem 
wieder  ein  starkes  sympathisches  Naturgefühl 
spricht.  Miehe. 


Inhalt!  H.  Menzel(f),  Zur  Entwicklung  und  Gliederung  der  Quartärbildungen  des  nördlichen  Deutschlands.  S.  193. 
A.  C.  Oudemans,  Sind  die  Maskarenen  und  die  zentralpazifischen  Inseln  ozeanisch?  S.  201.  —  Einzelberichte: 
C.  von  Heß  und  Fr.  SteUwaag,  Neue  Untersuchungen  über  den  Farbensinn  der  Insekten.  S.  203.  H.  Prell, 
Springende  Insektenlarven.  S.  206.  L.  Plate,  Plates  Fauna  ceylanica.  S.  206.  —  Bücherbesprechungen:  F.  Bronsart 
V.  Schellendorf,   Afrikanische  Tierwelt,   111   u.   IV.  S.   20S. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav   Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  22.  April  1917. 


Nummer  16. 


Stützgewebe  und  Integumente  der  Tiere. 


I.  Niedere  Tiere. 

Die  Vielgestaltigkeit  der  Natur,  die  Unzahl  der 
tierischen  Formen  bringt  auch  parallel  damit  eine 
große  Variation  der  Stütz-,  Gerüstsubsianzen  und 
Integumente  mit  sich.  Relativ  einfach  erscheinen 
diese  Stoffe  bei  den  Wirbeltieren,  um  so  mannig- 
faltiger jedoch,  wenn  wir  über  die  hochorganisierten 
Lebewesen  hinausblicken  und  auch  die  Klasse  der 
wirbellosen  Tiere  in  unsere  Betrachtungen  mit  hin- 
einziehen. Neben  einer  Art  gewöhnlicher  Eiweiß- 
stoffe, der  Albuminoide,  werden  wir  brom-  und 
jodhaltigen  Eiweißstoffen  bei  Schwämmen  und 
Korallen  begegnen  und  neben  der  Zellulose  der 
Tunicaten  einem  außerordentlich  weit  verbreiteten 
Stoffe,  dem  Chitin.  Wir  wollen  zuerst  die  Klasse 
der  niederen  Tiere  auf  Stützgewebe  und  Inte- 
gumente hin  untersuchen,  um  dann  zu  den  Wirbel- 
tieren emporzusteigen. 

Bei  niederen  Tieren  sind  es  Kombinationen  von 
organischen  und  anorganischen  Stoffen,  welche  als 
Stützgewebe  oder  Integumente  fungieren;  aber  da 
das  organische  Material  der  Masse  nach  in  den 
Vordergrund  tritt  und  auch  sonst  biologisch 
wichtiger  erscheint  als  das  anorganische  Material, 
so  waren  es  besonders  die  organischen  Substanzen, 
welche  die  zahlreichen  Forscher  interessierten,  die 
zum  größten  Teile  diesen  Problemen  ihre  Lebens- 
arbeit opferten.  Es  war  vor  allem  Krukenberg, 
der  die  außerordentlich  große  Formenfülle  der 
Tegumentgebilde  niederer  Tiere  nach  einem  be- 
stimmten Prinzip  ordnen  wollte.  Die  4  Klassen 
seines  Systems  umfassen;  i.  reine,  stickstoffreie 
Zuckerarten,  2.  stickstoffhaltige,  schwefelfreie  Sub- 
stanzen, welche  einige  Eiweißreaktionen  zeigen, 
aber  einen  großen  Gehalt  an  Zuckerarten  besitzen 
(Skeletine);  3.  gewisse  Stoffe,  welche  die  meisten 
Eiweißreaktionen  geben  (Albuminoide)  und  end- 
lich 4.  echte  Eivveißstoffe.  Dabei  ist  die  Tatsache 
ganz  besonders  interessant,  daß  wir  bei  den  Pflanzen 
ausschließlich  den  Zuckerarten  (Zellulose)  als  Stütz- 
substanzen begegnen,  welche  dann  beim  Aufstieg 
in  der  Tierreihe  allmählich  zugunsten  der  Eiweiß- 
stoffe in  den  Hintergrund  treten,  da  ja  das 
Knochengewebe  der  Wirbeltiere  —  was  organische 
Substanz  betrifft  —  völlig  aus  Eiweiß  besteht. 
Ein  tieferer  Einblick  lehrt  uns  jedoch,  daß  von 
der  besprochenen  idealen  Regelmäßigkeit  nicht 
die  Rede  sein  kann.  Die  chemischen  Studien 
dieser  Stoffe  sind  noch  so  gering,  eine  genaue 
Kenntnis  der  chemischen  Konstitution  durch  eine 
besonders  schwierige  Isolierung  so  erschwert,  daß 
sogar  die  typischen  Vertreter  noch  gar  nicht  oder 
nur    sehr    mangelhaft    untersucht    sind;    nur    das 


Von  Dr.  Emil  Lenk  (Darmstadt). 

Chitin    hat    bis    nun    das   Interesse    einer    Anzahl 
von  Autoren  erweckt. 

Bei  der  niedersten  Tierklasse,  den  einzelligen 
Protozoen  scheinen  es  Eiweißsubstanzen  zu 
sein,  welche  das  Körperprotoplasma  vom  Außen- 
medium scheiden ,  die  vielleicht  einer  Art  von 
Gerinnungsprozeß  ihre  Entstehung  verdanken. 
Bei  den  Rhizopoden  z.  B.  finden  wir  die  innere 
Schicht  zumeist  aus  organischer  Substanz  be- 
stehend, während  die  äußere  aus  Sandkörnern 
oder  aus  verschiedenartigsten  Plätichen,  wie  Diato- 
meenschalen,  Glassplittern  besteht,  die  mittels 
einer  organischen  Leimsubstanz  aneinander  haften. 
In  fast  allen  diesen  Gehäusen  ist  die  anorganische 
Kieselsäure  vorherrschend,  die  durch  eine  Eisen- 
oxydverbindung mehr  oder  weniger  dunkel  ge- 
färbt erscheint.  Die  außerorderulich  mannigfaltige 
Gehäuseform  der  Radiolarien  besieht  zumeist 
aus  Kieselerde,  organischen  Silicaten  und  dem 
vielfach  untersuchten  Akanthin,  das  sich  als  anor- 
ganisch, als  Strontiumsulfat  (Coelestin)  erwies. 
Bei  den  Schwämmen  (Spongien)  bildet  teils 
kohlensauerer  Kalk  das  Skelett  (Kalkschwämme, 
Calcispongien),  teils  Kieselsäure  (Silicospongien), 
teils  Spongin  (Ceraospongien),  und  schließlich 
entbehren  einige  Vertreter  überhaupt  der  Skeleit- 
bildung.  Besonders  interessant  erscheinen  uns 
die  Ceraospongien,  die  als  Gerüstsubstanz  Spongin, 
ein  typisches  Albuminoid  enthalten,  das  jod- 
haltig ist.  Es  bleibt  vorläufig  rätselhaft,  wie 
diese  marinen  Schwämme,  die  ganz  minimalen, 
im  Meerwasser  enthaltenen  Jodmengen  in  sich  zu 
konzentrieren  vermögen,  v.  Fürth  hat  berechnet, 
daß  I  g  eines  solchen  Schwammgerüstes  den 
Jodgthalt  von  130  1  Meerwasstr  in  sich  aufnehmen 
kann.  Dieses  Auswahlvermögen  der  Tiere  für 
bestimmte  Substanzen,  finden  wir  öfters  in  der 
Tierreihe;  so  bei  den  Purpurschnecken, 
welche  das  Brom  des  Meerwassers  zum  im  Alter- 
tum viel  gerühmten  Purputfarbstoff(Dibromindigo) 
verwandeln,  das  von  Paul  Friedländer  syn- 
thetisch hergestellt  wurde.  Es  haben  in  den 
letzten  Jahren  besonders  zwei  amerikanische 
Forscher  W  h  e  e  1  e  r  und  Mendel  Badeschwämme 
auf  Jodgehalt  untersucht  und  das  Jod  an  eine 
organische  Substanz  gekettet  gefunden,  die  auch 
sonst  als  Eiweißbruchstück ,  als  Aminosäure  er- 
scheint (Tyrosin);  dieses  Dijodtyrosin,  dem 
wir  auch  noch  weiter  unten  begegnen  werden, 
ist  auch  synthetisch  zugänglich. 

Von  den  Hohltieren  (Coelenteraten)  ist  nur 
die  Klasse  der  Anthozoen  (Korallentiere)  auf  Stütz- 
gewebe und  Integumente  hin  untersucht  worden, 
weil  der  Gehalt  des  organischen  Baumaterials  an 


2IÖ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Jod  und  Brom  vor  allem  interessant  war.  Auch 
hier  hat  sich  die  jodhaltige  Komponente  als  Dijod- 
tyrosin  erwiesen.  Neben  dieser  Gorgonin  ge- 
nannten organischen  Substanz  findet  sich  in  den 
Skeletten  von  anorganischen  Bestandteilen  kohlen- 
sauerer Kalk. 

Die  Stachelhäuter  (Echinodermen)  ver- 
danken ihren  Namen  den  Kalkgebilden,  welche 
oft  zu  Stacheln  ausgestaltet,  ihren  Körper  panzern. 
Das  Substrat,  in  welches  diese  Kalkplatten  ein- 
gebettet sind,  trägt  den  Charakter  der  Albumi- 
noide,  jener  Eiweißstoffe,  von  denen  früher  die 
Rede  war.  Die  Tegumente  der  Echinodermen 
und  namentlich  die  der  Seewalzen,  sind  durch  eine 
in  der  Tierreihe  einzigartige  Erscheinung  aus- 
gezeichnet, derzufolge  die  verschiedensten  Reize, 
wie  Einwirkung  der  Luft  genügt,  um  sie  in  einen 
formlosen  Schleim  zu  verwandeln;  dieser  Ver- 
schleimungsprozeß  kann  sogar  ganz  spontan  hervor- 
gerufen werden,  wenn  man  ein  abgeschnittenes 
Hautstück  mit  einer  Nadel  stichelt.  Die  Natur 
dieses  Vorganges  ist  noch  fast  gar  nicht  aufgeklärt; 
jedenfalls  dürfte  dieser  Prozeß  nicht  fermentaiiver 
Natur  sondern  kolloidchemisch  derart  zu  erklären 
sein,  daß  eine  Wasserverschiebung  innerhalb  der 
einzelnen  Formelemente  vor  sich  geht,  möglicher- 
weise dem  Vorgange  der  Ausbildung  der  normalen 
Totenstarre  nach  der  Theorie  von  Otto  v.  Fürth 
und  Emil  Lenk.  Diese  eigenartig  sich  ver- 
haltenden Integumente  werden  unter  dem  Namen 
Trepang  in  Ostasien  als  Nahrungsmittel  benutzt 
und  sollen  wie  der  Wirbeltierknorpel  durch 
einen  hohen  Gehalt  an  gepaarter  Schwefelsäure, 
der  Chondroitinschwefelsäure,    ausgezeichnet    sein. 

Bei  den  Würmern  sind  die  Integumente  zum 
allergeringsten  Teil  untersucht  worden.  Vor  allen 
ist  CS  das  Verdienst  Ostwald  Schmiedeberg's, 
die  Hüllen  des  Röhrenwurmes  Onuphis  tubicola 
einer  chemischen  Analyse  unterworfen  und  im 
Onuphin  eine  Substanz  gefunden  zu  haben,  die 
aus  einer  Zuckerart  und  aus  einer  stickstofi"- 
haltigen,  relativ  einfach  gebauten  Komponente 
(Aminosäure)  bestehen  soll.  Auch  die  Hüllen  des 
schönen  Röhrenwurmes  Spirographis  Spalanzanii, 
dessen  Kiemen  einer  Palmkrone  gleich,  aus  einem 
schlanken,  am  Meeresgrunde  wurzelnden  Rohre 
hervorragen,  sollen  aus  einem  onuphinartigen 
Stoffe  bestehen. 

Wenden  wir  uns  nun  den  Weichtieren 
(Mollusken)  zu,  so  begegnen  wir  einem  eiweißartigen 
Stoff,  für  den  der  Sammelname  Conchiolin 
geprägt  wurde,  von  dem  wir  allerdings  so  gut 
wie  gar  nichts  wissen.  Neben  dieser  organischen 
Substanz  findet  man  in  den  Gehäusen  zum  größten 
Teil  kohlen-  und  phosphorsaueren  Kalk,  der 
durch  Farbstoffe  oft  ein  farbenschönes  Aussehen 
erhält.  In  der  innersten  3.,  der  irisierenden  Perl- 
mutterschicht dieser  Gehäuse,  bilden  sich  bei 
vielen  Muscheln  (echte  Perlmuschel  Meleagrina 
margaritifera,  Flußperlmuschel  Margaritana  marga- 
ritifera  und  bei  Unio,  Haliostis  usw.)  die  Perlen 
als  pathologische  Gebilde.     Die  Veranlassung  zur 


Perlbildung  in  der  Natur  geben  vielfach  kleine 
Organismen  oder  auch  künstlich  eingebrachte 
Fremdkörper.  Chemische  Analysen  von  Perlen 
sind  besonders  von  Harley  ausgeführt  worden, 
wonach  sie  aus  ca.  92  "/g  kohlensauerem  Kalk, 
6  %  Conchiolin  und  aus  2  "  „  Wasser  bestehen.  — 
Neben  diesen  Integumenten  begegnen  wir  bei  den 
Mollusken  auch  Stützgebilden,  die  als  organisches 
Material  Chitin  enthalten,  das  als  Stüizgewebe 
der  Arthropoden  (Gliederfüßer)  überaus  cha- 
rakteristisch ist.  In  der  Rückenschulpe  der  Sepia, 
sowie  bei  Loligo,  in  der  Leber  vom  Mollucken- 
krcbs  (Limulus)  ist  Chitin  nachgewiesen  worden. 
Das  Chitin  ist,  wie  erwähnt,  die  charakte- 
ristische organische  Substanz  der  Siützgewebe  der 
Arthropoden,  denn  es  bildet  hier  nicht  nur  die 
äußere  Bedeckung,  die  durch  Kalk  verstärkt  ist, 
sondern  auch  die  Tracheen  und  oft  das  Darm- 
rohr. Die  Flügeldecken  (das  Epidermoidalgewebe) 
der  Insekten  und  die  Panzer  der  Krustaceen  (Krebs, 
Hummer)  bestehen  was  organische  Substanz  be- 
trifft ausschließlich  aus  Chitin,  jener  Substanz,  die 
vielleicht  von  allen  Stützgeweben  der  niederen 
Tiere,  am  genauesten,  besonders  in  den  letzten 
Jahren,  untersucht  wurde.  Das  Chitin  zeichnet 
sich  durch  eine  außerordentlich  große  Wider- 
standsfähigkeit aus,  da  es  noch  in  Fossilen  z.  B.  im 
Panzer  von  Pterogytus  osiliensis  aus  dem  Silur 
anzutreffen  ist.  Aber  auch  gegen  chemische  Rea- 
genzien ist  es  so  resistent,  daß  es  tagelang  mit 
der  konzentriertesten  Alkalilauge  gekocht  werden 
kann,  ohne  sich  zu  verändern;  natürlich  ist  es  in 
allen  möglichen  Lösungsmitteln  unlöslich.  So 
günstig  diese  Schwerlöslichkeit  des  Chitins  ist,  so 
ungünstig  wird  dieselbe  für  seine  chemische  Er- 
forschung. So  war  es  denn  ein  großer  Fortschritt, 
als  man  gelernt  hatte,  das  Chitin  dem  schmelzen'den 
Ätzalkali  eine  '/■,  Stunde  hindurch  bei  180"  aus- 
zusetzen; diese  Prozedur  genügt  um  das  Chitin 
bei  Erhaltung  der  äußeren  Struktur  in  ein  in  ver- 
dünnten Säuren  lösliches  Produkt,  das  Chitosan 
umzuwandeln,  das  durch  wiederholtes  Umfallen 
gereinigt  werden  kann.  Epochemachend  war  nun 
vor  mehreren  Jahren,  als  v.  Fürth  und  Russo 
das  Chitosan  mit  Säuren  in  eine  kristallinische 
Veibindung  überführen  konnten,  die  von  Emil 
Lenk  einer  genauen  Analyse  unterworfen  wurde. 
Auf  Grund  dieser  Arbeit  hat  dann  Brach  auch 
das  Chitin  selbst  untersuchen  können.  Durch 
diese  und  ältere  Forschungen  wurde  die  Ver- 
wandtschaft des  Chitins  mit  anderen  komplizierten 
Zuckerarten,  vor  allern  der  Zellulose,  dem  Pflanzen- 
stützstoff  erkannt,  der  ausnahmsweise  auch  in  der 
Tierwelt  aus  den  Hüllen  der  Tunicaten  (Manteltiere) 
isoliert  werden  konnte.  Diese  vor  einer  Anzahl 
von  Jahren  erschienenen  Arbeiten  hatten  auf  die 
Naturforscher  einen  mächtigen  Einfluß  ausgeübt, 
da  damit  eine  der  festeststehenden  Mauern  zwischen 
der  Pflanzen-  und  Tierwelt  gestürmt  zu  sein  >-chien. 
Spätere  Arbeiten  haben  jedoch  noch  eine  Unzahl 
von  Untersuchungen  gezeitigt,  die  die  Kluft 
zwischen  den  beiden  Reichen  nicht  nur  schmälerten, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


sondern  sogar  vollständige  Übergänge  schufen. 
Speziell  in  der  letzten  Zeit  hat  der  bekannte 
Physiologe  Emil  Abderhalden  gemeinsam 
mit  Zemplen  dieser  Tunicatenzellulose  ein  ein- 
gehenderes Studium  gewidmet  und  daraus  Abbau- 
produkte isolieren  können,  die  sich  mit  denen 
aus  der  Pflanzenzellulose  erhaltenen  als  identisch 
erwiesen. 

Nicht  direkt  zu  den  Tegumenten  zu  zählen, 
aber  dennoch  im  Zusammenhange  damit  seien 
noch  einige  Gespinste  der  Wirbellosen  zu  er- 
wähnen, wie  das  erhärtete  Sekret  der  Byssusdrüse, 
das  Byssus,  wclclies  sich  im  Jugendstadium  bei 
vielen  Muscheln  findet  und  zum  Anheften  von 
Fremdkörpern  dient.  Hierher  gehört  auch  die 
Seide,  das  zur  Herstellung  des  Kokons  benutzte 
Sekret  der  Seidenraupe  (Bombyx  mori).  Beim 
Kochen  mit  Wasser  spaltet  sich  die  Seide  in 
zwei  Bestandteile,  in  den  wasserlöslichen  Seiden- 
leim und  das  unlösliche  Seidenfibroin ,  das  auch 
das  Material  des  Byssus  bilden  soll.  Praktische 
Versuche  haben  gezeigt,  daß  die  sezernierte 
Menge  des  Seidensekretes  mit  der  Menge  der 
gefütterten  Blätter  parallel  läuft.  Die  anderen 
Gespinste,  die  Spinnen  usw.  sezernieren,  sind  so 
spärlich  untersucht,  daß  man  von  ihnen  —  und 
dies  auch  nicht  mit  voller  Bestimmtheit  —  nur  sagen 
kann,  daß  sie  auch  aus  Eiweiß  bestehen.  Den 
Grund  zu  diesen  mangelhaften  Untersuchungen 
bietet  die  außerordentlich  geringe  Menge,  welche 
die  Tiere  produzieren  und  bei  fertigen  Gespinsten 
verhindern  wieder  die  Verunreinigungen  mit 
Staub  usw.,  die  Fäden  rein  zu  isolieren. 


II.   Wirbeltiere. 

Schreiten  wir  in  der  Tierreihe  weiter,  so  finden 
wir  bei  den  Wirbeltieren  ein  Skelett,  das  gleich- 
sam die  Basis  für  den  weiteren  Aufbau  des  Körpers 
bildet.  Das  Knochengewebe  besteht  aus 
organischen  (zumeist  Ossein,  Osseomukoid  usw.) 
und  aus  anorganischen  Substanzen  (Knochenerde: 
Kalzium,  Magnesium,  Natrium,  Kalium,  Prisen,  Chlor, 
Kohlensäure,  Schwefel-  und  Phosphorsäure).  Viel- 
leicht eines  der  interessantesten  Probleme  des 
Knochens  ist  die  reichliche  Ablagerungsfähigkeit 
von  Kalk  in  diese  Gewebe.  Die  auffallend  kon- 
stante Aschenzusammensetzung  hat  Hoppe- 
Seyler  dazu  geführt,  die  Relation  der  Phosphor- 
säure zum  Kalk  in  den  Knochen  und  Zähnen 
dem  Mineral  Apatit  gleichzusetzen,  während 
andere  Autoren  diese  einfache  Annahme  nicht  be- 
stätigen konnten.  Das  Verhältnis  der  anorganischen 
Bestandteile  im  Knochen  ist  keineswegs  konstant ; 
wir  sehen  vielmehr  bei  der  später  noch 
weiter  zu  erwähnenden  Rachitis,  daß  mit  dieser 
Krankheit  eine  pathologische  Veränderung  der 
Knochen  einhergeht,  indem  die  Aschenabnahme 
wahrscheinlich  mehr  auf  Kosten  des  Kalkes  als 
der  Phosphorsäure  vor  sich  geht  und  der  relative 
Gehalt  an  Magnesium  zunimmt.  Vielleicht  können 
wir  auch  somit  die  Talsache,  daß  die   Zähne  der 


Jetztzeit  einen  höheren  Magnesiumgehalt  besitzen 
als  die  prähistorischen,  auf  eine  pathologische  Er- 
scheinung zurückführen. 

Außerordentlich  schwierig  wird  die  Beantwortung 
der  Frage,  wie  die  Kalksalze  abgelagert  und  resor- 
biert werden.  Bei  einer  oberflächlichen  Betrachtung 
der  Blutzusammensetzung  in  bezug  auf  Kohlen- 
säure, Phosphorsäure  und  Kalzium  muß  es  uns 
wundernehmen ,  weshalb  es  nicht  im  Blute  zur 
Abscheidung  des  schwerlöslichen  tertiären  Kalzium- 
salzes der  Phosphorsäure  kommt  und  welche  Ein- 
richtungen das  Blut  besitzt,  um  diese  Abscheidung 
zu  hindern.  Es  hat  speziell  in  der  letzten  Zeit  der 
große  Straßburger  Physiologie  Franz  Hofmeister 
zeigen  können,  daß  die  Gegenwart  der  Eiweißstoffe 
im  Blute  die  Bildung  des  schwerlöslicheu  Nieder- 
schlages hindert  und  so  gleichsam  zum  Schutz- 
körper wird.  Die  Fragen,  ob  sich  beim  Ver- 
kalkungsprozeß erst  Kalkseifen  bilden ,  oder  ob 
der  Knorpel  eine  besondere  Neigung  hat,  Kalk- 
salze in  sich  aufzunehmen,  und  ähnliche,  sind  alle 
noch  lange  nicht  gelöst.  Auch  die  Rachitis  harrt 
noch  ihrer  Erklärung.  Eine  große  Anzahl  von 
Autoren  hat  die  Ursache  der  Rachitis  in 
einem  primären  Kalkmangel  sehen  wollen  und 
denselben  teils  auf  eine  verminderte  Kalkaufnahme, 
teils  auf  eine  vermehrte  Kalkabgabe  bezogen. 
Außerordentlich  genaue  Versuche  haben  jedoch  in 
dem  Kalkstofifwechsel  normaler  und  rachitischer 
Kinder  keine  eindeutigen  Unterschiede  gefunden; 
es  nimmt  zuvor  zwar  der  Kalkgehalt  der  Knochen 
ab,  dabei  bleibt  jedoch  der  Kalkgehalt  der  VV'eich- 
teile  auf  gleicher  Höhe.  Es  nehmen  somit  die 
meisten  Forscher  an,  daß  das  Knochengewebe  nicht 
imstande  ist,  rechtzeitig  Kalksalze  aufzunehmen, 
obzwar  ihm  dieselben  genügend  zur  Verfügung 
stehen,  wie  es  Pfaundler  mit  der  fehlenden 
Eigenschaft  der  Kalkadsorption  ausgedrückt  hat. 
Die  Rachitishypothese  des  Kalkmangels  hat  aber 
dennoch  noch  Anhänger:  so  sind  vor  einigen 
Jahren  aus  dem  Zuntz'schen  Institute  einige 
Arbeiten  erschienen,  die  beweisen,  daß  der  Säug- 
ling nur  ein  knappes  .Auskommen  mit  dem  er- 
haltenen Kalk  hat,  wenn  man  den  normalen  Kalk- 
gehalt der  Milch  und  die  normale  Gewichtszunahme 
des  Säuglings  berücksichtigt.  Jede  Überernährung 
mit  kalkfreier  Nahrung,  jedes  raschere  Wachstum 
hat  einen  Kalkmangel  zur  Folge,  der  nach  diesen 
Untersuchungen  mit  der  Rachitis  einhergeht.  Ja 
es  soll  auch  die  Milch  der  Mütter  rachitischer 
Kinder  besonders  kalkarm  sein  und  der  Kalk  der 
Kuhmilch  bzw.  der  Kindermilchpräparate  schlecht 
ausgenuizt  werden.  Man  sollte  deshalb  annehmen 
daß  man  durch  Kalkzugaben  zur  Säuglingsnahrung 
der  Rachitis  vorbeugen  und  damit  viel  Elend  aus 
der  Welt  schaffen  könnte.  Es  ist  aber  merkwürdig, 
daß  man  damit  noch  nicht  zum  erwünschten 
Ziele  kam  und  wahrscheinlich  deshalb,  weil  man 
mit  der  Kalkzufuhr  viel  zu  spät  und  erst  dann 
begonnen  hat,  als  sich  deutlich  klinische  Symptome 
zeigten.  Es  scheint  auch  aus  einer  Arbeit  aus 
dem  Zuntz'schen  Institut  hervorzugehen,  daß  das 


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Sterilisieren  der  Milch  den  Kalkansatz  ungünstig 
beeinflußt. 

Man  hat  auch  vielfach  versucht  eine  Rachitis 
bei  Tieren  künstlich  zu  erzeugen,  indem  man  den 
Tieren  entweder  eine  kalkarme  Nahrung  gab  oder 
durch  Säure/ufuhr  eine  Entkalkung  des  Knochens 
herbeiführen  wollte;  hierzu  gesellen  sich  noch  Ver- 
suche über  Ernährung  mit  Futtermitteln,  welche 
eine  Asche  von  sauerer  Reaktion  zeigen  (Zerealien- 
körner,  Rübenschnitzel  usw.).  Bei  allen  diesen 
Versuchen  wurde  aber  keine  echte  Rachitis  er- 
zeugt, sondern  eine  Osteoporose  genannte  Er- 
scheinung, wobei  der  Knochen  dünn,  wasserreich, 
kalkarm  und  brüchig  wird.  Man  hat  z.  B.  oft  ge- 
sehen, daß  ein  so  ernährtes,  anscheinend  ganz 
gesundes  Tier  bei  einem  Sprunge  zusammenbrach, 
weil  seine  morsche  Wirbelsäure  entzwei  geknickt 
war.  Aber  eine  echte  Rachitis  kam  nie  zur  Aus- 
bildung, welche  in  einer  mangelhaften  Kalkablage- 
rung zu  bestehen  scheint,  während  bei  der  Osteo- 
porose das  verkalkte  Knochengewebe  zum  Teil 
verschwindet. 

Eine  andere  Störung  im  Mineralstoffwechsel 
tritt  bei  der  Osteom  alacie  ein,  einer  Krankheit, 
welche  der  Straßburger  Pathologe  E"riedrich 
von  Reckling hausen  nicht  scharf  von  der 
Rachitis  getrennt  haben  will.  Es  ist  eigenartig, 
daß  das  eigentliche  Wesen  der  Osteomalacie  noch 
vollkommen  unbekannt  und  nur  das  eine  bekannt 
ist,  daß  diese  Krankheit  mit  den  Vorgängen  im 
weiblichen  Sexualapparat  im  Zusammenhange  steht. 
Die  von  Fehling  angegebene  Entfernung  der 
Keimdrüsen  hat  sich  vielfach  bewährt.  Ferner  hat 
man  sich  bemüht  auch  die  Funktionen  anderer 
Drüsen  mit  sog.  ,, innerer  Sekretion"  mit  den 
Knochenwachstumsvorgängen  in  Zusammenhang 
zu  bringen,  wie  der  Thymusdrüse,  Schilddrüse, 
Hypophyse  und  Nebenniere.  Eine  der  auf- 
fälligsten Folgen  der  mangelnden  Schilddrüsen- 
funktion ist  das  Zurückbleiben  im  Wachstum,  das 
mit  einer  erheblichen  Verzögerung  der  Ver- 
knöcherungsvorgänge  parallel  geht,  und  man  hat 
auch  wiederholt  bemerkt,  daß  auch  andere  Aus- 
fallerscheinungen nach  Exstirpation  der  Schild- 
drüse (Kachexia  strumiprioa  und  Myxödem)  durch 
Schilddrüsenverfütterung  zum  Rückgang  zu  bringen 
sind.  Eine  systematische  Behandlung  des  Kreti- 
nismus ist  ja  nicht  nur  ein  humanitäres,  sondern 
direkt  ein  nationalökonomisches  Problem.  Um 
nur  ein  Land  hervorzuheben,  hat  die  letzte  Volks- 
zählung in  Frankreich  die  erschreckende  Zahl  von 
I20  000  Kretins  ergeben.  Auch  eine  teilweise 
Entnahme  des  Hirnanhangs  (Hypophyse)  hat  ein 
Zurückbleiben  des  Wachstums  zur  Folge;  das 
Skelett  behält  seine  kindlichen  Proportionen,  die 
Knochen  bleiben  zart  und  unterliegen  leicht  Ver- 
krümmungen, so  daß  die  Versuchstiere  nicht  nur 
zwerghaft  klein,  sondern  auch  mißgestaltet  er- 
scheinen. Die  vollständige  Entfernung  der  Hypophyse 
ist  mit  dem  Leben  unvereinbar.  Neuere  Arbeiten 
haben  gelehrt,  daß  diese  Wachstumstörung  auf 
dem   Wegfall    des   Vorderlappens    beruht.     Beim 


Menschen  werden  Hypophysenerkrankungen  eben- 
falls beobachtet.  So  glaubt  man  die  Erscheinung 
der  Akromegalie  und  des  Gigantismus  mit  einer 
Funktions>teigerung  der  Hypophyse  im  Zusammen- 
hang bringen  zu  können.  Das  Bild  der  Akromegalie 
ist  durch  auffällige  Wachslumsstörungen  gekenn- 
zeichnet, die  insbesondere  an  den  Extremitätf  n  und 
am  Gesicht  kenntlich  sind.  Das  ganze  Gesicht, 
Hände  und  Füße  sind  stark  und  plump  vergrößert, 
Kiefer  und  Jochbogen  ist  vorspringend.  Der 
schlagendste  Beweis  jedoch  für  den  Zusammen- 
hang zwischen  Hypophysenfunktion  und  Akro- 
megalie lieferte  der  Wiener  Chirurg  Julius 
Hochenegg,  als  er  durch  operative  Behand- 
lungf  der  Hypophyse  erreichen  konnte,  daß  bereits 
loTage  nach  der  Operation  die  Zähne  aneinander- 
rückten und  Hände  und  Füße  bedeutend  kleiner 
wurden.  Die  ungeheure  Literatur  die  sich  mit 
der  Therapie  dieser  Krankheiten  beschäftigt,  hat 
allerdings  noch  sehr  wenig  Brauchbares  zutage 
gefördert.  Die  besten  Resultate  dürfte  noch  die 
Phosphordarreichung  zeitigen,  welche  seit  Wegn  er's 
Untersuchungen  angewendet  wird,  um  rachitische 
Prozesse  günstig  zu  beeinflussen. 

Von  der  Veränderung  der  Knochen  bei  der 
Rachitis  und  der  Osteomalacie  ist  die  Knochen- 
brüchigkeit  der  Rinder,  Lecksucht,  Nage- 
oder Hinsiechkrankheit  genannt,  verschieden,  die 
besonders  Kälber  betrifft  und  als  erstes  Symptom 
die  Knochenbrüchigkeit  aufweist.  Es  ließ  sich 
zeigen,  daß  verschiedene  Heusorten,  die  zur 
Fütterung  der  Tiere  dienten,  einen  stark  ver- 
minderten Natrium-  und  einen  erhöhten  Kalium- 
gehalt aufwiesen. 

Eine  andere  den  Mineralstoffwechsel  betreffende 
Krankheit  sehen  wir  auch  in  einer  der  unheim- 
lichsten Tropenkrankheiten,  dei  Beriberi,  welche 
durch  eine  dauernde  Ernährung  mit  poliertem, 
weißem  Reis  verursacht  sein  soll.  Durch  den 
Vorgang  des  Polierens  wird  das  phosphorreiche 
Perikarp  des  Reiskorns  entfernt;  eine  phosphor- 
reiche Nahrung  soll  gute  Heilerfolge  haben. 

In  der  Praxis  werden  die  Knochen  neben 
anderen  tierischen  Abfallstoffen,  wie  Haut,  Fisch- 
schuppen, Fischabfällen  usw.  zur  Leimbereitung 
verwertet.  Diese  Stoffe  enthalten  die  schon  früher 
erwähnte  organische  Substanz  Ossein  oder 
Kollagen  (leimgebendes  Gewebe)  genannt,  die 
durch  Behandlung  mit  Wasser  in  Glutin  (Leim) 
übergeht.  Glutin  ist  ein  Eiweißstoff,  der  mit 
fremden  Beimengungen  als  Leim  und  Gelatine  in 
Handel  kommt.  Die  auf  den  Aufbereitungs- 
maschinen sortierten  Knochen  gelangen  auf  ein 
breites  Transportband  und  von  da  auf  den 
Knochenbrecher,  eine  Maschine,  die  die  Knochen 
in  kleine  Stücke  bricht.  Die  zerbrochenen  Knochen 
gelangen  nun  in  einen  Entfettungsapparat,  der  bis 
lOOOO  kg  „Knochenschrot"  aufnehmen  kann,  wo- 
bei durch  Benzin  das  Knochenfett  entfernt  wird. 
Das  Knochenschrot  wird  nochmals  gereinigt  und 
poliert,  indem  man  es  über  Putztrommeln  passieren 
läßt,  wobei  man  aus  lookg  Rohknochen  ca.  50 — 60kg 


N.  F.  XVI.  Nr.   i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


2IJ 


Knochenschrot,  8 — lo  kg  Knochenfett,  6—12  kg 
Putzmehl  (Staub  beim  Vorgang  auf  der  Putz- 
trommel, zu  Düngezvvecken  verwendet)  und  5  kg 
Abfälle  erhält.  Aus  dem  Knochenschrot,  der  oft 
mazeriert  (mit  i  "/'oiger  schwefliger  Säure  behandelt) 
wird,  wird  dann  die  Leimbrühe  nach  dem  Dampf- 
verfahren im  Autoklaven  hergestellt,  wobei  durch 
überhitzten  Dampf  das  Kollagen  in  das  Glutin 
umgewandelt  wird.  Die  enileimten  Knochen 
werden  dann  auf  den  Kugelmühlen  zum  „ent- 
leimten" Knochenmehl  vermählen.  Die  Leim- 
brühe wird  nach  der  Klärung  und  eventuellen 
Bleichung  mit  schwefliger  Säure  in  Vakuum- 
apparaten nach  Kestner  konzentriert,  in  Zink- 
kästen gegossen  und  von  Schneidemaschinen  zu 
Tafeln  zerschnitten  oder  auf  andere  Weise  ver- 
arbeitet. Das  Trocknen  dieser  Platten  bildet  den 
heikelsten  Teil  der  Leimfabrikation,  es  wird  ge- 
wöhnlich so  ausgeführt,  daß  man  die  Tafeln  auf 
Trockenhorden  mit  Baumwoll-  oder  Drahtnetz 
bespannte  Rahmen  in  lange  Trockenkanäle  bringt, 
durch  welche  eine  Luft  von  20—25"  gesaugt 
oder  gepreßt  wird.  Die  deutsche  Jahreserzeugung 
an  Leim  betrug  (1901)  30000  t,  die  an  Gelatine 
für  Speisezwecke  und  photographischen  Gebrauch 
etwa  2000  t. 

Weit  verbreiteter  als  das  Knochengewebe  ist 
das  Knorpelgewebe  bei  den  Wirbeltieren. 
Bei  den  niederen  Wirbeltieren  ist  der  Knorpel 
das  einzige  Stützgewebe  (Knorpelfische),  das  all- 
mählich bei  den  höheren  Vertretern  der  Tierreihe 
dem  Knochengewebe  Platz  maclit.  Je  jünger  der 
Knochen,  desto  knorpelreicher  ist  er;  nur  allmählich 
wandelt  sich  der  Knorpel  in  Knochen  um.  Beim 
Kochen  unter  erhöhtem  Druck  (im  Papinschen  To|)f) 
zerfällt  der  Knorpel,  wobei  das  Chondrigen  in 
eine  löbliche  Modifikation,  das  Cho  ndrin,  über- 
geht. Das  Chondrin  ist  jedoch  keine  einheitliche 
Substanz,  sondern  ist  aus  4  verschiedenen  Stoffen 
zusammengesetzt,  von  denen  die  Chondroitin- 
schwe  feisäure  den  wichtigsten  und  charakte- 
ristischsten Bestandteil  bildet,  deren  chemische 
Konstitution  trotz  zahlreicher  Studien  noch  nicht 
klar  ist.  Am  besten  wird  zur  Darstellung  der 
Chondroitinschwefelsäure  die  Nasenscheidewand 
des  Schweines  benutzt.  Außer  den  genannten 
organischen  Verbindungen  enthält  der  Knorpel 
noch  40  — 70'7o  Wasser  und  2 — 10  "„  Mineral- 
bestandteile (Asche);  bei  der  Aschenzusammen- 
setzung ist  der  völlige  Mangel  an  Kalium  auf- 
fallend; dagegen  ist  er  das  an  Natrium  reichste 
Gewebe.  In  der  Asche  sollen  ca.  95  "  g  Nairium- 
chlorid  sein  (Petersen).  Unter  pathologischen 
Verhältnissen  kann  der  Knorpel  verändert  werden, 
indem  sich  darin,  vor  allem  bei  der  Gicht,  Salze 
der  Harnsäure  anhäufen.  In  der  Praxis  wird  auch 
der  Knorpel  zur  Leimberehung  mit  verwendet, - 
obgleich  der  daraus  entstehende  Chondroitinleim 
viel  geringwertiger  ist  als  der  Glutinleim. 

Eme  andere  Art  von  Siützsubstanz  bildet  das 
Bindegewebe  und  das  elastische  Gewebe. 
Unter    dem    Bindegewebe    treten    die    Sehnen    in 


den  Vordergrund,  welche  ca.  60  "/^  Wasser,  40% 
organische  und  0,5  %  anorganische  Stoffe  ent- 
halten. Unter  den  organischen  Stoffen  stellt 
wieder  das  Kollagen,  also  die  leimgebende,  früher 
beschriebene  Substanz  die  Hauptmenge  dar,  ihm 
folgen  der  schwt- felhaltige  Eiweißstoff  Elastin  und 
andere  Eiweißkörper,  wie  Reticulin  usw.  Unter 
den  Mineralstoffen  ist  die  Kieselsäure  auffallend. 
Interessant  sind  die  Untersuchungen  des  Binde- 
gewebes in  der  Arterienwand,  besonders  ihre 
chemischen  Veränderungen,  die  bei  der  Arterio- 
sklerose (Arterienverkalkung)  entstehen.  Während 
die  normale  Arterienwand  0,2 — 4,2  anorganische 
Stoffe,  darunter  0,43  %  Kalk  enthält,  besitzt  sie 
bei  einer  arteriosklerotischen  Erkrankung  bis  zu 
18,33  "1,  Asche,  darunter  8,79 "0  Kalk,  also  eine 
Vermehrung  um  das  20  fache. 

Mit  den  Knochen  chemisch  nahe  verwandt 
sind  die  Zähne  der  Säugetiere,  die  aus  3  Be- 
standteilen bestehen :  Aus  dem  Zement,  welches 
den  unsichtbaren  Teil  des  Zahnes,  die  Wurzel, 
umhüllt  und  mit  Knochen  identisch  ist,  dem 
Zahnbein  oder  Dentin,  welches  die  Hauptmasse 
des  Zahnes  ausmacht,  und  dem  Schmelz,  der  den 
sichtbaren  Teil  des  Zahnes,  die  Krone  umgibt. 
Das  Zahnbein  unterscheidet  sich  chemisch  sehr 
wenig  vom  Knochen,  vielleicht  nur  durch  seinen  sehr 
niedrigen  Gehalt  an  organischen  Substanzen.  Der 
Schmelz  ist  jedoch  vor  dem  Knochen  ganz  besonders 
durch  seinen  außerordentlich  hohen  Gehalt  an  anor- 
ganischen und  seinen  sehr  geringen  an  organischen 
Substanzen  ausgezeichnet.  Die  letzteren  betragen 
nur  etwa  2 — 10  "^  und  bilden  kein  Glutin.  Was 
die  anorganischen  Substanzen  anbelangt,  so  ent- 
hält der  Schmelz  weniger  Magnesium  und  des- 
halb mehr  Kalzium  als  die  Knochenasche.  Im 
Zusammenhang  mit  der  P'rage,  inwieweit  die  Zu- 
sammensetzung der  Nahrung  für  den  chemischen 
Bau  des  Knochens  von  Bedeutung  ist,  hat  man 
sich  ebenso  bemüht,  den  Kalkgehait  der  Nahrung 
mit  seiner  Ablagerung  in  den  Zähnen  in  Zu- 
sammenhang zu  bringen,  hat  jedoch  konstatieren 
können,  daß  die  Zähne  davon  viel  weniger  be- 
einflußt werden  als  der  Knochen.  Es  ist  aber 
doch  beachtenswert,  daß  in  Gegenden  mit  kalk- 
reichem Wasser  die  Bewohner  bessere  Zähne 
haben  als  in  solchen  mit  kalkarmen  Wasser.  Die 
Zahnkaries  besteht  ja  aus  einer  Loslösung  von 
mineralischen  Bestandteilen  aus  dem  Zahn  und 
damit  natürlich  aus  einer  relativen  Vermehrung 
der  organischen  Substanz. 

Schließlich  seien  noch  die  Haut  und  ihre 
Gebilde  zu  besprechen,  welche  die  eigentlichen 
Integumente  bilden  und  vielfach  chemischen  Unter- 
suchungen unterzogen  wurden.  So  ist  der  geringe 
Schwefelgehalt  der  Epidermis  beobachtet  worden; 
die  Haut  der  Neger  enthält  mehr  Asche  als  die 
der  Weißen.  Unter  den  Hautgebilden  sind  vor 
allem  die  Haare,  Hufe,  Hörner,  Federn,  Wolle  usw. 
zu  nennen.  Die  Horngebilde,  wie  Nägel,  Hufe 
Schildpatt  usw.  sind  durch  ihren  relativ  hohen 
Schwcfelgehalt    ausgezeichnet,    den    sie    dem    Ei- 


214 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


weißstofif  Keratin  verdanken,  das  sich  vor  dem 
anderen  Gewebe  noch  durch  seine  UnlösJichkeit 
in  allen  Lösungsmineln  unterscheidet,  also  durch 
seine  besonders  große  Widerstandsfähigkeit 
hervortritt.  Ferner  sei  noch  erwähnt,  daß 
täglich  5  mg  Hornsubstanz  an  den  Ungernägeln 
produziert  wird.  —  Die  Haare  sind  wohl  die 
am  intensivst  untersuchten  Hauptgebilde  und  be- 
sitzen ebenfalls  als  integrierenden  Bestandteil 
Schwefel  im  Eiweiß;  die  roten  Haare  sind  die 
schwefelreichsten.  Charakteristisch  ist  auch  bei 
den  Analysen  der  Haare,  daß  die  weißen  Haare 
am  kalkreichsten  sind,  also  wieder  ein  Beweis, 
daß  Altererscheinungen  in  den  verschiedensten 
Geweben  mit  einer  reichlichen  Ablagerung  von 
Kalksalzen    parallel    gehen.      Besonders    sei    noch 


hervorgehoben,  daß  die  Haare  Kieselsäure  ent- 
halten, wie  der  bekannte  Physiologe  Gorup- 
Besanez  festgestellt  hat.  —  Über  die  chemischen 
Arbeiten  an  Federn  sei  nur  erwähnt,  daß  der 
Flaum  und  die  Flügelfedern  einen  energischeren 
Mineralsti  ffvvechsel  haben  als  die  mittleren  P'edern 
und  daß  auch  der  Kalkgehalt  der  älteren  Federn 
höher  ist  als  der  der  jüngeren.  —  Schließlich 
seien  noch  Hautgebilde,  wie  Fischschuppen  er- 
wähnt, die  sich  eigentlich  nur  durch  ihren 
höheren  Gehalt  an  organischen  Substanzen  von 
den  Knochen  unterscheiden,  denen  die  Geweihe 
vollkommen  gleichen.  Auch  sie  können  ebenso 
wie  die  Knochen  Jahrhunderte  überdauern  und 
sich  dabei  in  ihrer  chemischen  Zusammensetzung 
nur  außeiordentlich  wenig  verändern.   ~ 


Zur  Bestinimiing  fossiler  Blattabdriicke. 

Von  Dr.  R.  Krauset. 


[Nachdruck  verboten.]  Mit    9    ■■\bbi 

Hand  in  Hand  mit  dem  Bestreben  der  Bo- 
taniker, das  System  der  lebenden  Pflanzen  ,, natürlich" 
zu  gestalten,  d.  h.  es  mehr  und  mehr  zum  Aus- 
druck der  Entwicklung  und  des  Stammbaums  zu 
machen,  geht  das  Bemühen,  auch  die  vorweltlichen 
Pflanzen,  soweit  sie  uns  bekannt  sind,  in  dieses 
System  einzufügen.  Und  in  der  Tat  müssen  ja 
gerade  sie  für  stammesgeschichiliche  Fragen  von 
höchstem  Interesse  sein.  Je  tiefer  wir  in  die 
Vorzeit  der  Erde  hinuntersteigen,  um  so  fremd- 
artiger ist  auch  die  F'lora,  man  denke  nur  an  die 
Pflanzenwelt  der  Steinkohlenzeit.  War  es  lange 
schwierig,  ihre  Beziehungen  zur  Flora  der  Jetzt- 
zeit richtig  zu  deuten,  so  haben  eingehende 
Untersuchungen,  an  denen  neben  andeien  auch 
deutsche  Gelehrte  wie  Solms-Laubach  und 
Potonie  rühmlichen  Anteil  hatten,  doch  zahl- 
reiche, wenn  auch  noch  lange  nicht  alle  Fragen 
gelöst,  so  daß  wir  in  großen  Zügen  immerhin  ein 
Bild  von  dem  Werdegange  der  Pflanzenwelt  be- 
sitzen. Allgemein  gilt  das  ja  eigentlich  selbst- 
verständliche Gesetz,  daß,  je  jünger  eine  fossile 
F'lora  ist,  sie  auch  um  so  mehr  der  heutigen  ähnelt. 
Erst  in  der  Kreide  treten  die  echten  Blütenpflanzen, 
die  heute  das  Bild  beherrschen,  in  den  Vorder- 
grund, und  in  noch  höherem  Maße  ist  dies  im 
Tertiär  der  Fall.  Bei  der  Beschreibung  solcher 
Reste  jüngeren  Alters  gewinnt  die  Vergleichung 
mit  lebenden  Formen  besondere  Bedeutung.  Ein 
Beispiel  möge  dies  erläutern.  Wenn  wir  etwa  in 
nördlichen  Gegenden  fossile,  palmenähnliche  Blatt- 
reste finden,  oder  im  Tertiär  Norddeutschlands 
häufig  Koniferenzweigen  begegnen,  die  völlig  der 
heute  nur  noch  in  Nordamerika  lebenden  Sumpf- 
zypresse (Ta.xodiiiiii  disfic/itim  (L.)  Rieh.)  oder 
ihrem  merkwürdigen  auf  Ostasien  beschränkten 
Verwandten  Glyp/as/rob//s  JictcropliyUiis  E  n  d  1. 
gleichen,    so  weist   dies  zwingend    im  einen  Falle 


Idungen. 

auf  entscheidende  klimatische  Umwälzungen,  im 
anderen  auf  pflanzengeographische  Fragen  von 
hohem  Interesse  hin. 

Vorausssetzung  derartiger  paläoklimatischerund 
pflanzengeographischcr  Folgerungen  ist  natürlich 
die  richtige  Bestimmung  der  vorliegenden  Fossilien. 
Ihr  stellten  und  stellen  sich  aber  mancherlei 
Schwierigkeiten  entgegen,  die  teils  in  der  Natur 
des  fossilen  Materials,  teils  aber  auch  in  der  Art 
und  Weise  der  Bearbeitung  begründet  sind.  Wo 
immer  fossile  Pflanzenreste  gefunden  werden,  wo- 
bei es  sich  stets  in  erster  Linie  um  Blätter  handelte, 
während  Blüten  und  Früchte  viel  seltener  sind, 
wird  eine  solche  „Lokalflora"  meist  von  einem 
Autor  bearbeitet,  während  es  an  einer  mono- 
graphischen Durcharbeitung  einzelner  Pflanzen- 
gruppen auf  Grund  von  Material  verschiedener 
Herkunft  mit  ganz  wenigen  Ausnahmen  bis  in 
die  jüngste  Zeit  gefehlt  hat.  Wenn  dann,  wie  es 
häufig  der  Fall  ist,  der  Autor  von  Hause  aus 
kein  Botaniker  ist,  so  ist  klar,  daß  zahlreiche  Irr- 
tümer die  P'olge  sind.  In  der  Tat  kann  nicht  ge- 
leugnet werden,  daß  gerade  die  Paläobotanik  ein 
Gebiet  ist,  auf  dem  viele  Unberufene  ihr  Rößlein 
tummeln,  was  Potonie  einmal  zu  seinem  drasti- 
schen, aber  die  Zustände  treffend  charak- 
terisierenden „paläobotanischen  Stoßseufzer"  ver- 
anlaßt hat  (vgl.  diese  Zeitschrift  N.  F.  VIIL  1909). 
Beachtung  hat  er  allerdings  bei  denen,  die  es 
anging,  nicht  gefunden,  und  noch  heute  besteht 
sein  Wort  von  den  „mihijägern"  zu  vollem 
Rechte.  Ein  besonderes  Kapitel  bildet  in  dieser 
Hinsicht  die  Bestimmung  fossiler  Holzreste,  doch 
soll  davon  hier  nicht  weiter  die  Rede  sein.  So 
kommt  es  auch,  daß  zahlreiche  Reste,  deren  un- 
genügende Erhaltung  eine  sichere  Bestimmung 
ausschließen,  mehr  oder  weniger  phantasievoll 
„ergänzt"  und  dann  unter  einem  schönen  Namen 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


be?!chrieben  werden.  Der  Wert  der  so  erhaltenen 
„Arten"  ist  gleich  Null.  Sie  sind  ein  unnützer,  be- 
schwerlicher Ballast  für  jeden,  der  gezwungen  ist, 
sich  mit  ihnen  auseinander  zu  setzen.  Dies  ist 
auch  überall  dort  der  Fall,  wo  den  Beschreibungen 
keine  oder  nur  oberflächliche  Abbildungen  bei- 
gegeben werden.  Hierdurch  wird  ein  Vergleich 
mit  neuen  Funden  oder  deren  Zurückführung  auf 
schon  beschriebene  sehr  oft  erschwert,  wenn  nicht 
unmöglich  gemacht.  Ein  junger,  viel  zu  früh  im 
Felde  gefallener  Breslauer  Botaniker,  Reimann, 
hat  demijegenüber  die  Forderung  aufgestellt,  daß 
in  paläobotanischen  Arbeiten  nur  die  photo- 
graphische Wiedergabe  als  allein  naturgetreu  an- 
gewandt werden  dürfe.  *)  Das  ist  nur  zum  Teil 
richtig.  Sehr  oft  handelt  es  sich  um  Darstellung 
gewisser  Einzelheiten,  die  auch  die  beste  Photo- 
graphie nicht  erkennen  läßt.  Hier  kann  man  die 
Zeichnung  nicht  entbehren.  Gegen  ihre  An- 
wendung wird  sich  zumal  dann  nichts  einwenden 
lassen,  wenn  man  sich  ihrer  neben  dem  Lichtdruck 
bedient.  Aber  man  kann  doch  auch  nicht 
jedes  behandelte  Blatt  photographisch  abbilden! 
Reimann's  allzu  skeptischer  Standpunkt  ist  ja 
angesichts  mancher  Arbeiten  verständlich,  er  geht 
aber  dabei  wie  auch  in  seinen  übrigen  Ausführungen 
über  den  Wert  oder  besser  „Unwert"  palä- 
ontologischer Schlußfolgerungen  entschieden  weit 
über  das  Ziel  hinaus.  Daß  auch  Zeichnungen 
von  Wert  sein  können,  beweisen  die  klassischen 
Werke  eines  Heer  oder  Goeppert.  Sie  ent- 
halten —  neben  manchen  allerdings  ungenauen 
und  ungenügenden  —  doch  auch  zahlreiche  gute 
Abbildungen,  die  ein  Erkennen  und  Vergleiche 
sehr  wohl  möglich  machen. 

Wie  leicht  die  unvollkommene  Erhaltung  der 
Fossilien  und  ihre  Ergänzung  zu  Trugschlüssen 
führen  können,  soll  ein  Beispiel  lehren  (Abb.  i.  u.  2.). 
Es  handelt  sich  um  zwei  Blätter  aus  dem  tertiären 
Ton  von  Schoßnitz  in  Schlesien,  die  aus  der 
Sammlung  der  Geologischen  Landesanstalt,  bzw. 
dem  geologischen  Institut  in  Breslau  stammen. 
Beides  sind  unzweifelhaft  Weidenblätter  und  als 
solche  stets  richtig  bestimmt  worden.  Ihre 
Blattform  erscheint  ganz  verschieden.  Abb.  i 
zeigt  ein  von  der  Mitte  ab  sich  ziemlich 
schnell  zuspitzendes  Blatt  (man  achte  be- 
sonders auf  den  scharfen  Blattrand  links  oben!), 
eine  Form,  die  Goeppert  als  Salix  iiitcgni 
beschrieben  hat,  während  das  andere  (Fig.  2)  viel 
länger  und  allmählicher  zulaufend  zu  sein  scheint 
und  eher  an  Salix  loiis^a  A.  Br.  erinnert.  Die 
beiden  Abdrücke  sind  auch  stets,  so  noch  in  aller- 
jüngster  Zeit  bei  erneuter  Durchsicht  der 
Goeppert'schen  Sammlungen  zu  zwei  ver- 
schiedenen Arten  gezogen  worden.  Bei  zu- 
fälligem Nebeneinanderlegen  der  beiden  Stücke 
fand  ich  aber,  daß  wir  hier  Druck  und  Gegendruck 
ein   und   desselben  Blattes   vor   uns   haben!     Ein 


genauer  Vergleich  der  beiden  Bilder  zeigte  dies 
deutlich;  noch  stärker  tritt  es  an  den  etwa  hand- 
großen Originalen  selbst  hervor.  Die  Zuspitzung 
und  der  so  scharfe  Blattrand  der  vermeintlichen 
Salix  i)itcora  sind  nur  eine  Folge  schlechter  Er- 
haltung, während  Abb.  2  die  wahre  Blattform 
erkennen  läßt.  Läge  aber  das  Stück  i  allein  vor, 
so  müßte  man  unbedingt  zu  einer  ganz  falschen 
Auffassung  über  den  Bau  des  Blattes  gelangen. 
Wie  viel  größer  kann  der  Fehler  nun  gar  sein, 
wenn  Bruchbtücke,  denen  Blattgrund  wie  Spitze 
ganz  fehlen,  vom  Autor  „ergänzt"  werden.  Zum 
mindesten  muß  man  dann  verlangen,  daß  das  Un- 
gewisse derartiger  Bestimmungen  deutlich  hervor- 
gehoben wird.  Noch  besser  ist  es  aber,  sie  bleiben 
von  der  Bearbeitung  ganz  ausgeschlossen.  Dann 
würde  zwar  manche  Arbeit  an  Volumen  beträcht- 


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nn,  Die  Betulaceen  und   Uln 
Breslau   1913. 


Salix  longa  K.  Br.  (Druck  und   Gegendruck). 

lieh  verlieren,   dafür  aber  an  innerem  Wert  eben- 
soviel gewinnen. 

Auch  die  schon  genannten  „Klassiker"  der 
Paläobotanik  genügen  dieser  Forderung  nicht 
immer.  Was  uns  an  ihren  Arbeiten  aber  am 
meisten  auffällt,  ist  die  große  Anzahl  von  Arten, 
die  sie  innerhalb  einer  Gattung  aufstellen.  So 
unterscheidet  Goeppert  in  seiner  „Flora  von 
Schoßnitz"  allein  elf  Ulmenarten  und  ähnlich  ist 
es  bei  Bctiila,  Carpiiins,  Qucrciis  usw.  Dennoch 
trifft  für  ihn  der  Vorwurf  der  leichtfertigen 
Schaffung  neuer  Arten  nicht  ohne  weiteres  zu, 
wie  berechtigt  er  auch  leider  vielen  anderen 
Autoren  gegenüber  ist.  Die  reichhaltige  Sammlung 
Schoßnitzer  Fossilien,  die  Goeppert  anlegte  — , 
noch  jetzt  sind  an   lOOO  Stück  vorhanden  — ,  be- 


ii6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


steht  zum  weitaus  überwiegenden  Teil  aus  Blatt- 
abdrücken. Darin  liegen  große  Schwierigkeiten 
für  die  Bestimmung.  Die  Systematik  der  lebenden 
höheren  Pflanzen  ist  in  erster  Linie  auf  den  Bau 
der  Fruktifikationsorgane  gegründet,  die,  wie  die 
Erfahrung  lehrt,  sehr  konstant  sind,  während  alle 
vegetativen  Teile,  in  erster  Linie  also  die  Blätter, 
in  Bau  und  Form  sehr  oft  weitgehenden  Schwan- 


^if 


A 


i- 


Abb.  3. 


Ulraus  loDgifolia  Uag 


vir 


Abb.  5. 


•f;-'- 


Ulmus  carpinoides   Goepp. 


kungen  ausgesetzt  sind.  Unkenntnis  dieser 
Variationsmöglichkeiten  ist  es,  die  in  vielen 
Arbeiten  bei  der  Aufstellung  neuer  Arten  zu 
Tage  tritt.  Anders  bei  Goeppert,  der  sich  ihrer, 
wie  man  es  bei  einem  so  sorgfältigen  Beobachter 
gar  nicht  anders  erwarten  kann,  wohl  bewußt  war. 
Wenn  er  dennoch  aufGrund  geringer  Abweichungen 
der  Blattform  so  zahlreiche  Arten  unterschied, 
Arten,    die    einer    kritischen  Prüfung    häufig  nicht 


standhalten,  so  tat  er  dies  nur,  um  erst  einmal 
Ordnung  in  den  damals  neuen  und  überraschenden 
Formenreichtum  der  Fossilien  zu  bringen  und 
einen  Vergleich  späterer  Funde  mit  denen  von 
Schoßnitz  zu  ermöglichen.  Bei  der  Durchsicht 
seiner  Originale  konnte  ich  aber  feststellen,  daß 
in  den  dazugehörigen  Bemerkungen  von  seiner 
Hand  zahlreiche  der  späteren  „Arten"  als  Varia- 
tionen ein  und  derselben  Art  bezeichnet  sind. 
Danach  gehören  z.  B.  die  vier  Pla/aiiits-Yormcn 
der  Schoßnitzer  Flora  zu  einer  einzigen  Spezies, 
wie  es  auch  den  heutigen  Anschauungen  entspricht. 

Die  Gründe,  die  Goeppert  dann  später  be- 
wogen, dem  allgemein  üblichen  Brauche  zu  folgen 
und  diese  Formen  als  getrennte  „Arbeiten"  zu  be- 
schreiben, werden  von  vielen  Autoren  noch  heute 
in  gleichem  Sinne  gewertet.  Aber  mögen  sie 
auch  zu  Goeppert's  Zeiten,  wo  die  Faläo- 
botanik  noch  in  den  Anfängen  war,  in  gewissem 
Grade  berechtigt  gewesen  sein;  heute  gilt  dies 
nicht  mehr  in  gleichem  IVlaße.  Der  Bausteine 
sind  schon  genug  zusammengetragen,  nun  heißt  es, 
Ordnung  hineinzubringen  und  zwar  eine  Ordnung, 
die  mit  dem  System  der  lebenden  Pflanzen  in 
weitestgehender  Übereinstimmung  steht.  Hierbei 
müssen  überall,  wo  es  sich  um  Blätter  handelt, 
die  Variationsgrenzen  der  rezenten  Pflanzen  mehr 
als  bisher  berücksichtigt  werden.  Abweichungen, 
die  innerhalb  einer  lebenden  Art  auftreten,  be- 
rechtigen auch  nicht  zur  Aufstellung  neuer  fossiler 
Arten.  Nicht  selten  sind  auch  Übergangsformen, 
auch  treten  sehr  ähnliche  Blätter  mitunter  an 
verschiedenen  Arten  auf  Derartige  Zwischen- 
typen von  etwas  unsicherer  Stellung  sind  deutlich 
als  solche  zu  bezeichnen.  Bei  Berücksichtigung 
dieser  Grundsätze  gelangen  wir  zu  einer  weit- 
gehenden Einschränkung  der  Zahl  fossiler  Arten, 
die  dann  natürlich  eine  etwas  andere  Bedeutung 
gewinnen  und  mitunter  auch  mehreren  lebenden 
Arten  entsprechen  werden.  Der  Name  „F"ormen- 
kreis"  würde  diese  Verhältnisse  sehr  gut  zum 
Ausdruck  bringen.  So  lassen  sich  Goeppert's 
Ulmenarten,  wenn  wir  von  zwei  unbestimmbaren 
Stücken  absehen,  zwei  Formenkreisen  zuweisen, 
die  den  lebenden  ( limis  cainpcstris  L.  und 
C  aincricana  Willd.  entsprechen.  Unsere  Ab- 
bildungen (Abb.  3 — 6)  zeigen  eine  Anzahl  solcher 
Formen  von  Uhiiiis  loiigifolia  Ung.  und  U.  carpi- 
iioides  Goepp.,  die  früher  als  eigene  Arten  an- 
gesehen worden  sind,  in  ihren  L'nterschieden  aber 
die  innerhalb  jener  lebenden  Formen  auftretenden 
Schwankungen  nicht  überschreiten.  Das  gleiche 
gilt  von  den  fossilen  Carpinusarten  Goeppert's 
(F'g-  7 — 9)>  die  alle  mit  Carp.  Jicfuliis  L.  ver- 
glichen werden  können. 

Zu  ähnlichen  Ergebnissen  führt  eine  Revision 
bei  den  meisten,  auf  Blätter  gegründeten  fossilen 
Arten.  Es  fragt  sich  nun  angesichts  der  in 
manchen  Fällen  nicht  wegzuleugnenden  Unsicher- 
heit, welcher  Wert  der  Bestimmung  fossiler  Blätter 
überhaupt  beizulegen  ist.  Eine  gewisse  Vorsicht 
ist    nach    allem    geboten ,    wenn    die    Grundlage 


N.  F.  XVI.  Nr.   16 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


217 


nicht  fragwürdig  und  damit  die  daran  geknüpften 
Folgerungen  werllos  werden  sollen.  Dennoch 
wird  man  R  ei  mann 's  Bedenken,  der  allen  der- 
artigen „Schlußfolgerungen"  eigentlich  jeden  Wert 
abspricht,  nicht  beipflichten  können,  denn  dann 
wäre  im  Grunde  alle  paläobotanische  Arbeit 
nutzlos  und  überflüssig.  So  liegen  die  Verhält- 
nisse nun  doch  nicht.  Gewiß  kann  vor  über- 
eilten Schlüssen  nicht  genug  gewarnt  werden. 
Wenn  aber  wie  bei  der  Betrachtung  der  deutschen 


und  Entwicklung  werden  und  auch  für  andere 
Gebiete  Bedeutung  erlangen ,  wenn  sie  unter 
steter  Berücksichtigung  der  lebenden  Pflanzen 
in  weiser  Beschränkung  und  bei  gehöriger  Selbst- 
kritik erfolgt.     Beides  lassen  allerdings  zahlreiche 


Abb. 


m 


Tertiärfloren    immer    wieder    innerhalb    der    ver-  1 

schiedensten    Pflanzengruppen    die     gleichen    Be-  1 

Ziehungen  etwa  zur  lebenden  Flora  Nordamerikas 

auftauchen    und    die    Untersuchung    gleichaltriger  '^^^'  ^' 

Früchte   und  Hölzer  in  dieselbe  Richtung  weisen,  ■''^^-  ''  ^  "•  9-    Carpinus  grandis  Ung. 

dann    hieße  es    nicht    sehen    wollen,    würde    man 

diesen  Verhältnissen    gegenüber   auf  Folgerungen  Arbeiten  heute  noch  vermissen,  und  so  lange  dies 

verzichten.  der  Fall    ist,    wird    es    sich    die  Paläobotanik    ge- 

Sicher    kann    auch   die    Untersuchung    fossiler  fallen  lassen  müssen,    daß  sie    mitunter  mit  mehr 

Blattreste  zu  einer  Quelle    zahlreicher  Kenntnisse  Geringschätzung  behandelt  wird,  als  sie  eigentlich 

über     die     vorweltliche    Flora,     ihre    Geschichte  verdiente. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Chromosomengarnituren  in  der 
Gattung  Drosophila.  (Mit  I  Textfigur.)  Durch  die 
seit  einer  Reihe  von  Jahren  im  Gange  befindlichen 
ausgedehnten  Vererbungsexperimente  Morgan 's 
und  seiner  Schule  an  Drosophila  ampelophila,  der 
Apfel-  oder  Bananenfliege,  ist  dieses  Dipter  zu 
einem  der  wichtigsten  Objekte  der  neueren  Ver- 
erbungsforschung geworden.  Die  Deutung  der 
interessanten  Befunde Morgan's,  eines  überzeugten 
Anhängers  der  Chromosomentheorie  der  Vererbung, 
setzt  eine  genaue  Kenntnis  der  Vererbungsträger, 
ihrer  Konstitution  und  ihres  Verhaltens,  voraus. 
Metz,  einer  der  Mitarbeiter  Morgan's,  machte 
sich  die  möglichst  genaue  zytologisrhe  Durch- 
forschung der  Gattung  Drosophila  zur  Aufgabe. ') 

')  Metz,  C.  VV.,  Chromosome  studies  in  the  Diptera. 
I.  A  preliminary  survey  of  five  different  types  of  ch: 


Fr  untersuchte  bisher  die  Chromosomenverhältnisse 
von  29  verschiedenen  Drosophiliden,  und  zwar  von 
26  Arten  der  sehr  formenreichen  Gattung  Droso- 
phila, von  I  Art  der  nahe  verwandten  Gattung 
Cladochaeta  und  von  2  Arten  der  Gattung 
Scaptomyza.  Bei  diesen  29  Arten  konnte  er  12 
verschiedene  Typen  von  Chromosomengarnituren 
(außer  einigen  Untertypen)  feststellen,  von  denen 
1 1  in  der  Gattung  Drosophila  vorkommen.  Reichen 
auch  die  bisherigen  Beobachtungen  noch  nicht 
aus,  um  Schlüsse  zu  ziehen  über  die  phylo- 
genetischen Beziehungen  der  einzelnen  Typen  zu- 
einander,   so  verdient    doch    immerhin   schon   die 

groups  in  the  genus  Drosophila.  Journ.  of  exper.  Zool., 
Vol.   17,   1914. 

— ,  Chromosome  studies  on  the  Diptera.  III.  Additional 
types  of  chromosome  groups  in  the  Drosophilidae.  Amer. 
Natur.,  Vol.   50,   1916. 


2l8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


Tatsache  besonderes  Interesse,  daß  in  einer 
Gattung  eine  so  große  Zahl  von  verschiedenen 
Typen  vorkommen  kann;  bisher  fehlten  derartige 
Beobachtungen.  Durch  die  geringe  Zahl  von 
Chromosomen  und  die  Größe  der  einzelnen  Elemente 
sind  Dipteren  für  derartige  Untersuchungen  ver- 
hältnismäßig geeignete  Objekte. 

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M  A  Mb  II    c  II  d 


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Der  erste  Typ,  Typ  A  in  der  nebenstehenden 
Figur,  ist  die  am  häufigsten  vorkommende  Chromo- 
somengarnitur. Er  findet  sich  bei  zwölf  Arten  der 
Gattung  Drosophila  (darunter  auch  Dios.  ampelo- 
phila)  sowie  bei  einer  Scaptomyza-Art.  Es  sind 
vier  Paar  Chromosomen  vorhanden.  Zwei  Paar 
(in  der  Figur  rechts  und  links)  sind  in  Größe 
und  Form  ungefähr  gleich;  sie  sind  größer  als 
die  beiden  anderen  Paare  und  haben  hantel-  oder 
U-förmige  Gestalt.  Das  dritte  Paar  besteht  aus 
zwei  kürzeren  geraden  Elementen,  während  das 
vierte  Paar  sich  aus  zwei  kleinen  kugelförmigen 
Chromosomen  zusammensetzt.  Ein  Vergleich 
der  Chromosomensortimente  in  den  beiden  Ge- 
schlechtern sowie  die  Untersuchung  der  Spermato- 
genese führt  zu  dem  Resultat,  daß  die  beiden 
kurzen  geraden  Elemente  die  Geschlechtschromo- 
somen oder  Heterochromosomen  sind.  Beim 
Weibchen  sind  beide  Geschlerhtschromosomen 
gleich  groß  (es  sind  zwei  X-Chromosomen  vor- 
handen), beim  Männchen  hingegen  ist  das  eine 
Chromosom  etwas  kleiner  als  das  andere  (es  ist 
ein  X-  und  ein  Y-Chromosom  vorhanden).  Daraus 
folgt,  daß  bei  der  Reifung  der  männlichen  Ge- 
schlechtszellen zwei  Sorten  von  Gameten  gebildet 
werden,  solche  mit  einem  X-  und  solche  mit 
einem  Y-Chromosom,  d.  h.  weibchen-  und 
männchenbesümmende  Spermatozoen.  Die  Eier 
sind  alle  gleich  hin-^ichtlich  ihres  Chromosomen- 
bestandes, alle  erhalten  je  ein  X-Chromosom. 


Typ  B  fand  Metz  bisher  nur  bei  einer 
Droso|^>hila-Art.  Er  weist  nur  drei  Chromosomen- 
paare auf  die  geringste  bisher  bei  höheren  Fliegen 
beobachtete  Zahl.  Jedes  Paar  unterscheidet  sich 
hier  deutlich  von  den  beiden  anderen.  Zwar  sind 
auch  zwei  Paar  hanteiförmige  Chromosomen  vor- 
handen, aber  an  Größe  sind  diese  sehr  verschieden. 
Das  dritte  Paar  ist  ähnlich  gestaltet  wie  die  Ge- 
schlechtschromosomen des  Typus  A  und  entspricht 
diesen  wohl  auch;  ob  Verschiedenheiten  im  männ- 
lichen und  weiblichen  Geschlecht  vorhanden  sind, 
wurde  bisher  nicht  festgestellt. 

Die  Chromosomengarnitur  des  dritten  Typus, 
Typ  C,  setzt  sich  aus  fünf  Paaren  zusammen. 
Außer  den  beiden  geraden  Geschlechtschromo- 
somen, die  im  männlichen  Geschlecht  deutlich 
verschieden  sind,  finden  wir  zwei  ähnlich  gestaltete 
aber  etwas  kürzere  Paare,  ein  Paar  hanteiförmiger 
sowie  ein  Paar  kleiner  kugeliger  Chromosomen. 
Der  Typ  kommt  bei  einer  Drosophila-  und  einer 
ScaptomyzaSpezies  vor.  Typ  D  unterscheidet 
sich  von  C  durch  das  Fehlen  der  kleinen  runden 
Chromosomen,  auch  fehlt  ein  morphologischer 
Unterschied  zwischen  den  beiden  Geschlechts- 
chromosomen im  männlichen  Geschlecht.  Der 
Typ  ist  nur  für  eine  der  bisher  untersuchten 
Drosophila-Arten  charakteristisch.  Ebenso  auch 
der  nächste  Typus,  Typ  E,  der  wieder  fünf 
Chromosomenpaare  aufweist  und  Typ  C  ähnelt; 
statt  des  einen  geraden  Paares  ist  aber  hier  ein 
Paar  kleiner  hanteiförmiger  Chromosomen  vor- 
handen. Die  beiden  Geschlechtschromosomen 
sind  wahrscheinlich  in  beiden  Geschlechtern  gleich. 

Typ  F  ist  nächst  dem  Typus  A  die  häufigste 
Garnitur  (bei  sechs  Drosophila-Arten).  Von  den 
sechs  Paar  Chromosomen  sind  fünf  gleich  ge- 
staltet, es  sind  kleine  gerade  Elemente.  Das 
sechste  Paar  besteht  aus  kleinen  kugelförmigen 
Chromosomen.  Der  nächste  Typus,  Typ  G,  ist 
dem  vorhergehenden  sehr  ähnlich,  jedoch  sind 
außer  den  Geschlechtschromosomen  alle  Paare  be- 
trächtlich kleiner,  besonders  die  runden  Chromo- 
somen sind  so  minutiös,  daß  sie  anfangs  ganz 
übersehen  wurden.  Eine  Drosophila-Art  gehört 
zu  diesem  Typus. 

Typ  H  scheint  in  der  Gattung  Drosophila  zu 
fehlen.  Er  wurde  nur  bei  Cladochaeta  nebulosa, 
der  einzigen  Art  dieser  Gattung,  gefunden,  die 
aber  mit  Drosophila  nahe  verwandt  ist.  Von  den 
drei  hanteiförmigen  Paaren  dürfte  eines  das  Ge- 
schlechtschromosomen-Paar sein;  Männchen  von 
Cladochaeta  wurden  nicht  untersucht. 

Den  vier  letzten  Typen,  I — M,  sind  stark 
differente  Geschlechtschromosomen  im  männ- 
lichen Geschlecht  gemeinsam.  In  der  Figur  sind 
deshalb  von  diesen  Typen  die  Garnituren  beider 
Geschlechter  wiedergegeben.  Während  beim 
Weibchen  die  beiden  X- Elemente  hufeisen-  oder 
hanteiförmige  Gestalt  haben,  ist  beim  Männchen 
nur  das  X  Element  hufeisenförmig,  das  YElement 
ist  viel  kürzer  und  gerade.  Wie  sich  die  vier 
Typen  unterscheiden,  zeigt  die  Figur.   Besonderes 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


219 


Interesse  verdient  Typ  I,  der  auf  eine  Varietät 
von  Drosophila  repleta  beschränkt  ist.  Die 
meisten  Formen  dieser  Art  gehören  dem  Typus  F 
an.  Äußerhch  unterscheiden  sicli  die  beiden  Varie- 
täten fast  gar  nicht,  daß  aber  sogar  sehr  weit- 
gehende physiologische  Differenzen  vorhanden 
sind,  geht  zur  Genüge  aus  der  Tatsache  hervor, 
daß  eine  Kreuzung  der  beiden  Varietäten  nicht 
möglich  ist! 

Zu  den  Vererbungsstudien  wurde  bisher  fast  aus- 
schließlich die  zum  Typus  A  gehörige  Drosophila 
ampelophila  benutzt.  Entsprechend  den  vier  Paaren 
von  Chromosomen  bei  dieser  Art  landen  Morgan 
und  seine  Schüler  vier  Gruppen  von  unabhängig 
voneinander  sich  vererbenden  Merkmalen,  und 
zwar  —  wieder  entsprechend  der  Größe  der 
einzelnen  Paare  —  drei  große  und  eine  kleine 
Gruppe  von  Merkmalen;  die  Gene  für  die  kleine 
Gruppe  dürften  in  dem  kleinen  runden  Chromo- 
somenpaar lokalisiert  sein.  Eine  Gruppe  von 
Meikmalen  ist  geschlechtsgebunden;  ihre  Gene 
befinden  sich  in  den  Geschlechtschromosomen. 
In  neuester  Zeit  haben  Morgan  und  seine 
Schüler  ihre  Studien  auch  auf  Drosophila  repleta 
(Typ  F  und  I)  ausgedehnt.  Ist  die  oben  skizzierte 
Theorie  richtig  —  und  das  scheint  in  der  Tat 
der  Fall  zu  sein  — ,  so  muß  es  bei  repleta  sechs 
Gruppen  von  selbständig  mendelnden  Merkmalen 
geben,  während  eine  dem  Typus  B  angehörige 
Drosophila  nur  drei  Gruppen  besitzen  kann.  Bei 
dem  großen  Eifer,  mit  dem  die  Morgan  'sehe 
Schule  diese  Untersuchungen  betreibt,  dürfen  wir 
bald  eine  Aufklärung  dieser  Verhältnisse  erwarten. 
Nachtsheim. 

Zur  Farbenwirkung  auf  Schmetterlingspuppen. 
Bernhard  Dürken'j  ließ  Raupen  des  Koiil- 
weißlings,  Pieris  brassicae,  auf  verschieden 
gefärbtem  Untergrunde  sich  verpuppen  und 
prüfte  die  Einwirkung  der  Umgebungsfarbe  auf 
die  Puppenfärbung  und  -Zeichnung.  Die  er- 
zielten 219  Schmetterling-puppen  ordnet  er  in 
fünf  Färbungsklassen,  Färbungsklasse  u  bis  c, 
deren  erste  weiß  mit  viel  schwärzlicher  Zeichnung 
ist,  während  b  bei  weniger  Schwarz  meist  schwach 
rötliche  Grundfarbe  hat,  c  noch  weniger  Schwarz 
bei  grünlicher  Grundfarbe;  Klasse  d  und  c  sind 
ungefähr  Steigerungen  von  c.  Hierzu  Abb.  i 
und  2.  Das  schwarze  Pigment  liegt  in  der 
obersten  Chitinschicht.  Weißes  liegt  in  der  Hypo- 
dermis  und  macht  sie  um  so  undurchsichtiger, 
je  reichlicher  es  entwickelt  ist,  während  bei  seiner 
schwächeren  Entwicklung,  besonders  in  den 
Färbungsklassen  J  und  c,  das  stets  grüne  Körper- 
gewebe der  Puppe  s'ark  durchscheint.  Dieses 
ist  übrigens  in  der  F'ärbungsklasse  c  besonders 
lebhaft  grün. 

Die    Einwirkung    der    Umgebungsfarben,    von 

•)  B.  Dürken,  Über  die  Wirkung  verschiedenfarbiger 
Umgebung  auf  die  Variation  von  SchmeUerlingspuppen. 
Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.,  Bd.   CXVI,  Heft  4,   1916. 


denen  auch  die  spektrale  Zusammensetzung  be- 
rücksichtigt wurde,  ist  nun  einmal  derart,  daß  in 
Übereinstimmung  mit  den  Heiligkeilswerten  die 
Farben  Braun,  Rot,  Blau  und  Violett  im  ganzen 
die  Faibe  der  Puppen  durch  zunehmendes  Schwarz 
verdunkeln,  während  Weiß,  Gtlb  und  Grün  sie 
aufhellen.  Aber  auch  der  Farbwert  der  Umgebung 
hat  Wirkung,  da  Weiß,  Schwarz,  Grau,  Rot  und 
Violett  besonders  häufig  die  Färbungsklasse  b  er- 
zeugen, Braun,  Gelb  und  Blau  die  Färbung  der 
Puppen  nach  Grün  hin,  zur  Klasse  c,  verschieben, 
was  noch  mehr  von  grüner  und  am  meisten  von 
orangenfarbener  Umgebung  gilt ;  jene  erzeugt  vor- 
nehmlich die  Färbungsklasse  d,  diese  die  extrem 
grüne  e. 

Eine    Einwirkung     der    Temperatur     auf    die 
Färbung  der  Puppen   war  nicht  zu  erkennen.     In 


Abb.   I.     Kohlweifilingspuppe,   Färbungsklasse  a. 

Abb.  2.     Kohlweißlingspuppe,  Färbungsklasse  b. 

Beide  Abbildungen  nach  Dürken,  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.  1916. 

Übereinstimmung  mit  Pou  1  ton's  Ergebnissen  an 
der  gleichen  Art  wurde  als  entscheidender  Zeit- 
punkt der  Einwirkung  die  Zeit  vor  der  Verpuppung 
erkannt.  Doch  geht  der  Prozeß  nicht  durch  die 
Augen  der  Raupe,  sondern  es  handelt  sich  offen- 
bar um  eine  unmittelbare  Einwirkung  auf  das 
Integument. 

Es  geht  aus  den  gewonnenen  Ergebnissen,  so 
aus  dem  Auftreten  des  rötlichen  Einschlages  der 
Farbklasse  b  in  roter,  weißer  und  schwarzer 
Umgebung,  aus  der  gleichsinnigen  Wirkung  von 
Gelb  und  Blau  und  vor  allem  aus  der  vorwiegend 
grünen  Färbung  in  der  Orangezucht,  ganz  ein- 
wandfrei hervor,  daß  die  Reaktionen,  obschon 
spezifische,  durchaus  n'cht  ,, gleichsinnige"  sind, 
es  liegt  meist  keine  Farbenangleichung  an  die 
Umgebung  vor.  Trotzdem  könnte  es  nicht  völlig 
zwingend  erscheinen,  wenn  Dürken  damit  zugleich 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


den  Anpassungs-,  also  Zweckmäßigkeitswert  der 
Reaktionen  bestreiten  möchte;  eine  zweckmäßige 
schützende  Farbenwirkung  unter  natürlichen  Ver- 
hältnissen wäre  wohl  doch  nicht  ausgeschlossen, 
denn  Anpassung  braucht  nicht  unbedingt  An- 
gleichung  zu  sein.  Die  Aufgabe  der  Pigmente, 
meint  Dürken  zum  Schluß,  scheint  nicht  mit 
der  Bildung  von  Färbungen  erschöpft  zu  sein, 
sondern  es  mag  wohl  den  Pigmenten  noch  eine 
weitergehende  physiologische  Bedeutung  zu- 
kommen. V.  Franz. 


Geologie.  Die  Grundwasserverhältnisse  im 
Namalande,  Deutsch-büdwestafrika.  Von  1900  bis 
kurz  vor  Ausbruch  des  Krieges  war  der  Kaiser- 
liche Regierungsgeologe  Dr.  Paul  Range  in 
Deutsch-Südwest  mit  dem  Aufsuchen  des  für  die 
Kolonie  so  wichtigen  Grundwassers  beschäftigt. 
Etwa  40000  m  Bohrarbeit  wurden  in  dieser  Zeit 
von  den  beiden  staatlichen  Bohrkolonnen  im 
Wasserdienste  geleistet.  Die  Buhrkolonne  Nord 
unterstand  dem  Bohrinspektor  K  i  r  c  h  h  c  f  f , 
während  Dr.  Range  die  Bohrkolonne  Süd 
führte.  Außer  den  staatlichen  Bohrungen  wurden 
auch  noch  etwa  23000  m  Bohrarbeit  von  Privaten 
geleistet.  Dr.  Range  stellt  jetzt  die  Ergebnisse 
von  352  Bohrungen  der  ihm  unterstellten  Kolonne 
zusammen,^)  zu  diesen  kommen  noch  148  im 
gleichen  Gebiet  von  anderen  geleistete  Bohrungen. 
Auf  Grund  dieser  500  Bohrergebnisse  und  semer 
geologischen  Aufnahmen  kommt  P.  Range  zu 
folgenden  Anschauungen  über  die  Hydrologie  des 
Landes:  Im  wesentlichen  ist  das  Grundwasser 
von  der  Menge  der  Niederschläge,  zumeist  des 
Regens,  abhängig.  Nur  wo  im  Küstengebiet 
Dünensand  über  Ton  lagert  und  die  Dünen  häufig 
vonschweren  Nebeln  umlagert  werden, entstehtetwas 
Grundwasser  aus  der  Kondensation  des  Nebels 
im  Sande.  Einzelne  warme  Quellen  mögen  auch 
Wasserdämpfen  entstammen,  welche  Magmen  ent- 
strömen. —  Das  Namaland  hat  Regenmengen, 
welche  von  10—20  mm  an  einztlnen  Siellen  der 
Küstenwüste  bis  etwa  300  mm  im  Kalahanbezirk 
Gibeon  schwanken.  Im  Durchschnitt  sind  etwa 
150  mm  anzunehmen.  Bei  dieser  geringen  Menge 
ist  obei  irdisch  abfl  eßendes  Wasser  nur  im  Oranje 
vorhanden,  und  auch  dieses  entstammt  wesentlich 
dessen  weiter  östlich  gelegenem  Ouellgebiete.  Das 
übrige  Grundwasser  verbleibt  im  Lande  und  kann 
durch  geeignete  Maßnahmen  wiedergewonnen 
werden.  Das  Verhältnis  von  Niederschlag,  Ver- 
dunstung und  Grundwasser  ist  noch  nicht  fest- 
gelegt. Bei  schwachen  Regen  dürfte  alles  ver- 
dunsten, bei  starken  kommt  ein  Teil  in  den 
Bachbetten  zum  Abfluß,  um  bald  zu  versickern  und 


')  Beiträge  zur  geologischen  Erforschung  der  deutsche 
Schutzgebiete.  Heft  1 1  :  P.  R  a  n  g  e ,  Ergebnisse  von  Bohrunge 
in  Deutsch-Siidwestatrilja.     Berlin   1915. 


langsam  als  Grundwasser  weiterzufließen.  Von 
dem  im  Niederschlagsbereich  des  Konkip  ge- 
fallenen Wassers  gelangten  in  einem  bei  Betha- 
nien festgelegten  Profil  i  '"„  zum  Abfluß.  —  In- 
folge der  geringen  Regenmenge  kann  nicht  überall 
ein  Grundwasserspiegel  vorhanden  sein.  Solches 
ist  in  erster  Linie  in  den  Fluß-  und  Bachbetten 
(Rivieren)  und  in  flachen  mit  Aufschüttungs- 
material erfüllten  Mulden  zu  erwarten.  In  den 
Gebieten  der  oft  tief  verwitterten  Urgesteine  ist 
stellenweise  Wasser  vorhanden.  Zumeist  führen 
diese  nur  Spaltenwasser.  Die  jüngeren  geschich- 
teten Formationen  liegen  meist  flach.  Von  diesen 
ist  der  Schwarzkalk  ein  guter  Wasserträger.  In 
den  Fischflußschichten  und  in  der  Karrooformation 
finden  sich  ausgedehntere  Grundwasserhorizonte, 
wo  Sandstein  mit  Letten  wechsellagert.  In  den 
durchlässigen  Deckgebilden  der  Kalahari  sinkt  das 
Grundwasser  bis  auf  die  nächste  undurchlässige 
Schicht  und  ist  fast  überall  durch  tiefe  Bohrungen 
zu  erschließen.  —  Die  Durchschnittstiefe  des 
Grundwassers  wechselt.  Stellenweise  ist  eine 
starke  Abhängigkeit  von  dem  Khma  festgestellt 
worden.  So  ging  es  an  der  Schakalskuppe  nach- 
langer  Dürre  um  15  m  zurück.  —  Die  Durch- 
schnittsergiebigkeit, die  ähnlich  wechselt,  ist  ge- 
ring. —  Oft  ist  das  Grundwasser  brackig.  Der 
Salzgehalt  stammt  aus  den  Wasserträgern  und  ist 
besonders  unangenehm,  wo  es  sich  um  die  ge- 
sundheitsschädlichen Magnesiumsalze  handelt.  Da- 
gegen ist  das  Flußwasser  naturgemäß  salzarm. 
Auch  nur  langsamfließendes  Grundwasser  verbrackt, 
während  schnellerfließendes  gut  ist.  —  In  der 
Kalahari  wurde  ergiebiges  artesisches  Wasser  er- 
schlossen, ebenso  bei  Keetmannshoop,  wo  sich 
das  Grundwasser  der  oft  klüftigen,  dickbankigen 
Karrooschiefer  an  Diabas  staut.  Dort  trat  es 
mit  20  cbm  in  der  Stunde  frei  aus.  Auch  an 
anderen  Stellen  sind  schwächere  artesische  Brunnen 
erschlossen.  —  Von  den  einzelnen  Bezirken  des 
Namalandes  ist  am  ungünstigsten  der  Bezirk 
Lüderitzbucht  daran.  Dieser  erhält  die  geringsten 
Niederschläge  und  besteht  in  der  Hauptsache  aus 
Urgestein.  In  flachen  Senken  der  Küsten  wüste 
dagegen,  so  40  km  n.  von  Lüderitzbucht,  ist  eine 
recht  ergiebige  Wassermenge  erschrotet  worden. 
Auch  die  Hochflächen  des  Distriktes  Bethanien 
sind  wasserarm,  nur  in  den  Senken  des  Konkip 
und  des  Ositeiles  von  Bethanien  ist  Wasser  ge- 
funden worden.  Ebenso  ist  Warmbad  infolge  des 
dort  vorhandenen  Urgesteins  ungünstig.  Erheblich 
besser  ist  der  Bezirk  Keetmannshoop  daran,  in 
dessen  Nama-  und  Karrooschichten  häufig,  wenn 
auch  meist  brackiges  Wasser  gefunden  wurde. 
Ähnliches  gilt  für  Maltahöhe.  Am  besten  ist  der 
Bezirk  Gibeon  gestellt,  in  welchem  das  ausgedehnte 
Druckwassergebiet  vorhanden  ist.  Aber  auch 
sonst  ist  hier  Grundwasser  in  nicht  zu  großer 
Tiefe  in  der  weitverbreiteten  Fischflußformation 
anzutrefi'en.  Stremme. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Das    Holz,    seine    Bearbeitung    und    seine 

Wendung.    Von  Josef  G  roßmann  ,  Inspektor 
der  Lehrwerkstätten  und  Leiter  der  technolog. 
Kurse    für    Holzbearbeitung    in    München.      Mit 
39  Originalabbildungen  im  Text.     473.  Bd.  der 
Sammlung:      ,,Aus     Natur      und     Geistesweli". 
B.  G.  Teubner,  Leipzig  und  Berlin    1916. 
Das   vorliegende    kleine  Werk  ist    im   wesent- 
lichen   eine   Zu.-^ammenfassung    der  Darstellungen, 
wie    sie    der    Verf    in    seiner    großen    „Gewerbe- 
kunde   der    Holzbearbeitung"    (Teubner,    Leipzig) 
gibt,    bearbeitet    für  Laien    und    solche  Fachleute, 
die    im  Nebenberuf   mit    Holz    und   seiner    Verar- 
beitung zu    tun  haben.     In  allen  Dingen,    die  das 
Technische  betreffen,  scheint  der  Verf.  mit  Glück 
das  Richtige  getniffen  zu  haben.     Die  Darstellung 
ist  klar  und    verständlich  für  Jedermann    und  mit 
Hilfe  der  einfachen  und  instruktiven  Abbildungen 
wird   sich    auch    der   Laie    ein    Bild    von    der  Be- 
arbeitung   und    Verwendung    des   Holzes    machen 
können. 

Der  botanische,  dem  Zweck  des  Buches  ent- 
sprechende kürzere  Teil  der  Arbeit  enthält  manche 
Schiefheiten  und  Fehler,  die  leicht  hätten  vermieden 
werden  können.  Das  Kambium  eine  schleimige, 
schlüpfrige  durchsichtige  Masse  zu  nennen,  die 
bei  starker  Vergrößerung  kleine  Bläschen  darstellt, 
welche  „meist"  von  einer  zarten  Haut,  der  Zell- 
haut umschlossen  sind,  dürfte  wohl  keine  ganz 
richtige  Vorstellung  vom  Kambium  beim  Leser 
erwecken.  Falsch  ist  z.  B.,  was  der  Verfa'^ser  von 
den  Markstrahlen  sagt:  „Durch  die  Markstrahlen 
werden  die  von  dem  Kambium  aus  dem  Erdboden 
gelösten  Nährstoffe  und  das  Wasser  in  das  Innere 
des  Holzkörpers  mit  großer  Schnelligkeit  fort- 
geleitet; sie  bilden  also  gleichsam  ein  vielver- 
zweigtes Wasserleitungssystem."  —  Hin  sehr  lehr- 
reiches Kapitel  ist  das  12.,  das  sich  mit  den 
wichtigsten  in-  und  ausländischen  Holzarten,  ihren 
Eigenschaften,  ihrer  technischen  Verwendbarkeit 
usw.  befaßt.  Den  deutschen  Baumnamen  hätten 
die  botanischen  Namen  hinzugesetzt  werden  können, 
und  wenn  auch  die  Herkunft  mancher  ausländischer 
Holzarten  strittig  ist,  so  sollten  doch  die  wahr- 
scheinlichrichtigen Abstammungspflanzen  angeführt 
sein.  Dadurch  würde  diese  an  sich  sehr  nützliche 
Zusammenstellung  sehr  gewonnen  haben. 

Wächter. 


Das  Pflanzenreich.     66.  Heft:   Cucurbitaceae  — 

Fevilleae   et   Melothrieae.     14  M.    —    67.  Heft: 

Saxifragaceae-Saxifraga   I.      Leipzig    1916.      W. 

Engelmann.     22,80  M. 

Das  erste  Heft  bringt  auf  l"]"]  Seiten  von  den 

fünf    Unterabteilungen      der     Cucurbitaceen     die 

Fevilleae  und  Melothrieae  in  der  Bearbeitung  des 

kürzlich  verstorbenen    ausgezeichneten  belgischen 

Systematikers  A.  C  o  g  n  i  a  u  x.   Hier  wird  z.  B.  auch 

die  hochkletternde  Liane  Macrozanonia  macrocarpa 


Bücherbesprechungen. 

und  seine  Ver-  behandelt,  deren  breitgeflügelte  Samen  aus  den 
dreiklappig-  geöffneten  ,  rundlich  -  glockenartigen 
großen  Früchten  herausfallen  und  zu  Boden 
flattern.  Die  Gattung  ist  von  Cogniaux  von 
Zanonia  abgetrennt  worden. 

Das  zweite  Heft,  noch  stärker  an  Umfang  (451  S.) 
behandelt  ausschließlich  die  Gattung  Saxilraga  und 
stellt  noch  dazu  erst  den  ersten  Teil  dar,  dem  ein 
zweiter  noch  folgen  wird.  Engler,  der  Heraus- 
geber des  Riesenwerkes,  beschreibt  hier  gemeinsam 
mit  seinem  Schüler  Irmscher  232  Arten  des 
Steinbrechs. 

Jedes  neuerscheinende  Heft  des  stetig  und 
sicher  voranschreitenden  Werkes,  das  ohnegleichen 
in  der  Well  ist,  erweckt  von  neuem  ein  berech- 
tigtes Gefühl  des  Stolzes  auf  die  deutsche  Wissen- 
schaft und  gleichzeitig  der  Anerkennung  der  hohen 
Verdienste  der  Preußischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften, der  Förderin  des  großen  Unternehmens, 
und  nicht  zum  wenigsten  der  Leistungsfähigkeit 
des  hervorragenden  Verlages.  Miehe. 


Rabenhorsts     Kryptogamen-Flora.       6.    Band. 
Die  Lebermoose.    Mit  vielen  Textabbildungen 
von  Dr.   K.  Muller.     28.  Lieferung  (Schlußheft). 
Leipzig,   1916.     E.  Kummer  —  4M. 
Mit    dem  vorliegenden  Hefte    erreicht  der  VI. 
Band  der  Rabenhorst' sehen  Kryptogamenflora, 
der    die    Lebermoose    Europas    behandelt,    seinen 
Abschluß.      Die    Literatur    der    Lebermooskunde 
ist    damit    um    ein    sehr    wertvolles    und    unent- 
behrliches  Buch    bereichert  worden,    auf  das    wir 
hier  besonders  hinweisen  möchten. 

Der  Verf,  K.  Müller,  unternimmt  am  Ende 
seiner  mühevollen  .Arbeit  den  interessanten  und 
zum  ersten  Male  gewagten  Versuch,  die  geo- 
graphische Verbreitung  der  Lebermoose  nach  den 
Richtpunkten  darzustellen,  welche  die  heutige 
Pflanzengeographie  aufgestellt  hat.  Ein  solcher 
Versuch  ist  sehr  dankenswert,  da  bisher  die 
Pflanzrngeographie  niederer  und  niederster  Ge- 
wächse ein  noch  sehr  vernachlässigtes  Gebiet  war. 
Bei  ihnen  spielt  die  Art  der  Verbreitungs- 
möglichkeit eine  wichtige  Rolle.  Überraschender- 
weise kommt  Verf  zu  dem  Schlüsse,  daß  bei 
Moosen  und  auch  bei  Farnen  dem  Transport  der 
Sporen  und  Gemmen  durch  Wind  und  Wasser 
auf  weitere  Entfernungen  keine  Bedeutung  zu- 
gemessen werden  könne,  auch  die  Verbreitung 
durch  Vögel  ist  nur  vereinzelt  sichergestellt,  so 
z.  B.  bei  Machantia  polymorpha,  die  auf  Spitz- 
bergen nur  an  den  Stellen  sich  finden,  wo  sich 
Seevögel  aufhalten.  Der  Mensch  greift  auch  nur 
gelegentlich  ein;  ihm  ist  z.  B.  die  allgemeine 
Verbreitung  der  Lunularia  cruciata  in  Gewächs- 
häusern zu  danken.  Die  eigentlichen  pflanzen- 
geographischen Faktoren  treten  also  reiner  hervor, 
als  man  erwarten  konnte. 

Verf  unterscheidet  nun  zwischen  gewissen,  in 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


viele  kleinere  Arten  auflösbaren  Sammelarten  und 
formenstarren  Arten,  die  gleichzeitig  dadurch  aus- 
gezeichnet sind,  daß  sie  fast  alle  zweihäusig,  sehr 
oft  aber  steril,  ja  sogar  ohne  Gemmen  sind  und 
dicke  Zellwände  besitzen.  Die  letzeren,  die  eine 
eigentümliche  Verbreitung  besitzen,  hält  er  für  sehr 
alte  Formen,  Überbleibsel  tertiärer  Floren.  Über  die 
ganze  Welt  verbreitet  sind  nur  sehr  wenige  Leber- 
moose, alles  thallose  Formen  (Rebouha  hemi- 
sphaerica,  Ricciocarpus  natans,Targionia  hypophylla 
usw.);  dagegen  ist  die  Zahl  der  auf  der  ganzen  nörd- 
lichen Halbkugel  vorkommenden  Arten  beträcht- 
licher, doch  sind  davon  häufig  nur  Marchantia 
polymorpha,  Fegatella  conica,  Scapania  undulata, 
Radula  cauplanata.  Die  übrigen  sind  an  bestimmte 
Landstriche  gebunden,  wo  sie  meist  zusammen- 
hängende Gebiete  besiedeln,  seltener  eingesprengt 
sind.  Zu  den  letzteren  gehören  gerade  die  Formen, 
die  als  tertiär  anzusehen  sind  und  seither  in  ihrer 
weiteren  Entwicklung  stillstanden.  Sie  bilden  auch 
gelegentlich  Endemismen  in  Gebirgen.  Dagegen 
ist  es  merkwürdig,  daß  das  holoarktische  Element 
unter  den  Lebermoosen  im  Unterschiede  von  den 
Phanerogamen  und  auch  den  Laubmoosen  viel 
weniger  reich  in  Untergruppen  geschieden  werden 
kann,  z.  B.  sich  die  für  letztere  so  charakteristischen 
Gebirgsendemismen  hier  nicht  nachweisen  lassen. 
Verf.  meint  infolgedessen,  daß  seit  den  großen 
Vereisungen  eine  Weiterentwicklung  der  Leber- 
moose überhaupt  nicht  stattgefunden  habe. 

Es  wird  nun  nacheinander  das  holoarktische, 
das  mediterrane  und  das  tropische  Element  im 
einzelnen  geschildert,  woran  sich  eine  tabellarische 
Übersicht  der  europäischen  Lebermoose  in  anderen 
Erdteilen  sowie  in  einigen  europäische  Ländern 
schließt.  In  einem  Kapitel  über  die  Höhenstufen 
wird  die  vertikale  Verbreitung  in  den  Gebirgen 
geschildert.  Am  höchsten  steigen  die  Gymno- 
miirien  empor,  die  an  nackten,  aus  den  Schnee- 
feldern herausragenden  Felsspitzen  noch  gedeihen. 

In  dem  ökologischen  Teil  macht  sich,  wie 
übrigens  so  häufig  bei  pflanzengeographischen  Er- 
örterungen, der  Mangel  ausreichender  experimentell- 
physiologischer  Daten  und  genauer  biologischer 
Beobachtungen  bemerkbar,  wenn  auch  der  Verf. 
seiher  manche  Beiträge  dazu  geliefert  hat.  Wie 
anregend  und  für  unsere  allgemein-botanischen 
Vorstellungen  fruchtbar  würde  es  sein,  wenn  die 
die  Sammler  sich  nicht  begnügten,  die  Moose  zu 
trocknen,  einzupacken  und  zu  etikettieren,  sondern 
wenn  sie  dieselben  besser  beobachten,  kultivieren 
und  mit  ihnen  planmäßige  Versuche  anstellen 
würden  1  Schon  das  Anlegen  kleiner  Moosgärtchen 
überall  da,  wo  es  der  Wohnort  gestattet,  wäre 
gewiß  sehr  verdienstlich.  Es  wird  im  einzelnen 
der  Einfluß  von  warmer  Luft,  Feuchtigkeit,  Boden 
auf  die  Lebensweise  der  Lebermoose  dargestellt, 
wobei  sich  Bemerkungen  auch  physiologisch- 
anatomischer Art  finden.  Ob  die  Kammerung  des 
Thallus  der  Riccien,  Marchantien,  Exormotheken 
allein  einen  Lichtschutz  darstellt,  scheint  mir  nicht 
überall    eine    zwingende   Annahme  zu   sein,    eine 


Bedeutung  für  den  Gasaustausch  unter  durch 
Trockenheit  erschwerten  Bedingungen  wäre  da- 
neben auch  zu  erörtern.  Unter  dem  Absatz  über 
die  Beziehungen  der  Lebermoose  zu  anderen  Lebe- 
wesen, in  dem  auch  die  Symbiosen  behandelt 
werden,  interessiert  die  große  Widerstandskraft 
der  Lebermoose  gegen  pflanzliche  und  tierische 
Parasiten  sowie  Tierfraß.  Viele  haben  ätherische 
Öle,  andere  schmecken  außerdem  noch  bitter  oder 
scharf  Der  Einfluß  des  Bodens  auf  das  Vor- 
kommen der  Lebermoose  wird  zum  Schluß  in 
einer  allerdings  vorläufig  nur  topographisch- 
statistischen Form  erörtert.  Miehe. 


Die  Asseln  oder  Isopoden  Deutschlands  von 
Prof  Dr.  F  r  i  e  d  r.  D  a  h  1.  Mit  107  Abbildungen 
im  Text.  Jena  IQ16,  Verlag  von  Gustav  Fischer. 
—  Broschiert  2,80  M. 
Wie  der  Leitfaden  zum  Bestimmen  der  Vögel 
Mitteleuropas  nimmt  auch  dieses  Buch  eine 
Sonderstellung  unter  den  gebräuchlichen  syste- 
matischen Werken  ein.  Es  ist  aus  dem  gleichen 
Bedürfnis  entstanden  wie  jenes,  ein  leichtes  und 
zugleich  sicheres  Bestimmen  der  Tiere  zu  er- 
möglichen. Jeder,  der  im  Begriff'  ist,  sich  in 
eine  neue  Tiergruppe  einzuarbeiten,  hat  die 
Schwierigkeiten  in  der  Beurteilung  der  Grad- 
unterschiede, wie  klein  und  groß  usw.  kennen 
gelernt.  Schon  in  seinem  Vogelbuch  hat  Da  hl 
daher  die  Unterscheidungsmerkmale  in  absoluten 
Zahlen  gegeben ,  oder  den  Gegensatz  durch 
schematische  Zeichnungen  veranschaulicht.  Um 
die  Sicherheit  der  Be>timmung  zu  erhöhen, 
wurden  auch  gleichzeitig  mehrere  Merkmale  an- 
gegeben. Dieselben  Gesichtspunkte  hat  Da  hl 
im  neuen  Buche  angewandt.  Entsprechend  der 
Kleinheit  der  Asseln  benutzte  er  besonders  solche 
Merkmale,  die  am  ganzen  unterlegten  Tier  mit 
einem  Mikroskop,  meist  auch  schon  mit  einer 
guten  Lupe  leicht  erkennbar  sind,  ferner  Eigen- 
schaften ,  die  auch  bei  jüngeren  Tieren  fest- 
gestellt werden  können.  Damit  verzichtet  er 
darauf,  so  weit  es  geht,  die  Geschlechtscharaktere 
zu  benutzen. 

Eine  weitere  Eigentümlichkeit,  die  die  Dahl- 
schen  Bücher  von  ähnlichen  unterscheidet,  ist  die 
Tatsache,  daß  er  die  .Autornamen  hinter  den 
Speziesnamen  wegläßt.  Dieses  Verfahren  ist  um 
so  auffallender,  als  gerade  in  der  gegenwärtigen 
Zeit  der  Nomenklaturregeln  der  Autor  für  die 
Beurteilung  des  Speziesbegnfi'es  eine  ausschlag- 
gebende Rolle  spielt.  Dahl  motiviert  dies  schon 
im  Vogelbuch  damit,  daß  die  Nomenklatur  etwas 
historisch  Gewordenes  sei,  und  daß  an  der  klaren 
Benennung  einer  Art  zahlreiche  Autoren,  nicht 
einer  oder  zwei  mitgearbeitet  haben.  Meist  sind 
außerdem  die  Arbeiten  der  späteren  Autoren  viel 
wichtiger  als  die  des  ursprünglichen  Autors. 
Diese  Auffassung  ist  unbestreitbar  richtig,  Dahl 
wäre  aber  entschieden  anzugreifen,  wenn  er  nicht, 
was  sehr  zu  begrüßen  ist,  statt  des  Autornamens 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


223 


eine  wichtige  Literaturstelle,  bisweilen  auch  zwei 
oder  drei  dem  Artnamen  beigeben  würde.  Mit 
Recht  hält  er  dies  für  wichtiger  und  wissenschaft- 
licher als  die  Anfügung  der  bloßen  Autornamen, 
da  man  oft  nicht  weiß,  ob  der  Autor  des  Namens 
die  Art,  die  wir  jetzt  mit  dem  Namen  benennen, 
wirklich  vor  sich  hatte.  Außerdem  ist  derjenige, 
der  tiefer  in  den  Stoff  eindringen  will,  sotort  in 
den  Stand  gesetzt,  sich  an  die  richtige  Quelle  zu 
wenden. 

Wie  schon  der  Titel  sagt,  werden  im  vor- 
liegenden Buch  nur  die  deutschen  Arten  berück- 
sichtigt. Dabei  sind  allerdings  auch  die  Tiere, 
die  sich  in  der  Nähe  der  deutschen  Küsten  im 
Meere  finden ,  mit  inbegriffen.  Entsprechend 
dem  Zweck  des  Buches  nimmt  die  Übersicht  der 


Gattungen  und  Arten  den  größten  Raum  ein. 
Daran  .schließt  sich  ein  Kapitel  über  die  geo- 
graphische Verbreitung  der  Asseln  in  Deutschland 
und  die  Art  ihres  Vorkommens.  Hier  werden 
die  Asseln  zuerst  nach  ihrem  Aufenthaltsort,  d.  h. 
nach  ihren  Lebensbedingungen  in  einem  Be- 
stimmungsschlüssel übersichtlich  geordnet.  Die 
Ausführungen  über  die  chorologischen  Faktoren 
sind  durch  eine  Verbreitungskarte  der  Landisopoden 
erläutert.  Kin  Anhang  behandelt  die  wichtigste 
Literatur.  Das  Buch  wird  ebenso  wie  das  Vogel- 
buch ganz  vorzügliche  Dienste  tun.  Außer  seinem 
Wert  als  klares  Besiimmungsbuch  eröffnet  es  neue 
Gebiete  der  Forschung  durch  den  Hinweis  auf 
die  ökologischen  Verhältnisse.  Stellwaag. 


Anregungen  und  Antworten. 


über  die  Flora  der  Wekien  leilt  B.  Galli-Valerio  in 
Nr.  I  dieses  Jahrganges  interessante  Einzelheiten  mit.  Das 
klassische  Gebiet  der  Überpflanzen  auf  Stumpfweiden  ist  die 
flandrische  Niederung  in  Belgien,  besonders  die  „Veurne- 
Ambacht"  bei  dem  Polderstädichen  Furnes,  das  ja  häufig  in 
den  Kriegsberichten  genannt  wurde.  Vor  acht  Jahren  hat 
V.  Gallemaerts  in  den  Annalen  der  medizinisch -natur- 
wissenschaftlichen Gesellschaft  zu  Brüssel  eine  eingehende 
Untersuchung  der  Kopfweiden  und  ihrer  Bewohner  ver- 
öffentlicht, in  welcher  er  besonders  das  genannte  Gebiet  be- 
rücksichtigt; daraus  seien   einige  .Angaben  mitgeteilt. 

Die  Gegend  ist  absolut  flach  und  von  unzähligen  Kanälen 
und  Gräben  durchflössen.  An  den  Rändern  dieser  Wasser- 
streifen werden  seit  ältester  Zeit  Weiden  gezogen,  die  man 
in  wechselnden  Zeitab^tändcn  köpft,  und  welche  der  Land- 
schalt einen  ungemein  charakteristischen  Zug  verleihen.  Kreu« 
und  quer  ziehen  sich  die  Linien  der  Kopfbäumc  und  ver- 
laufen am  Horizonte;  in  der  windgepeilschten  Ebene  kommt 
anderer  Baumwuchs  nicht  oder  kaum  auf,  und  auch  die 
Weiden  würden  unfehlbar  fortgefegt,  wenn  man  sie  frei  in 
die  Länge  wachsen  ließe.  Manche  Individuen  sind  mehr  als 
100  Jahre  alt  und  über  und  über  mit  Flechten  und  Moosen 
bedeckt.  Die  Köpfe  der  Weiden  vermodern  allmählich,  und 
der  Wind  setzt  Siaub  und  Erde  auf  ihnen  ab,  so  daß  nach 
gewisser  Zeit  Samen,  die  dort  hineingeraten,  auflaufen  und 
keimen  wie  im  Blumentopf;  das  gibt  dann  die  typische 
Überflora  der  Stümpfe,  deren  Beobachlung  in  der  eintönigen 
Ebene  viel  Anregung  bietet.  Gallemaerts  hat  in  der 
Veurne-Ambacht  92  Arten  von  epiphytischen  Gefäßpflanzen 
gezählt,  deren  keine  habituelle  Überpflanze  ist,  d.  h.  gewohn- 
heitsmäßig auf  anderen  Gewächsen  horstet ;  9  Arten  kommen 
im  Gebiete  -nur  auf  Kopfweiden  und  nicht  am  Boden  vor, 
und  das  sind  meist  Baumarten,  wie  Eiche,  Birke,  Buche, 
Ahorn,    Eberesche,  nebst  zwei   Farnkräutern. 

Es  finden  sich  außer  den  Weiden  auch  wohl  einige  ge- 
köpfte Pappeln  (P.  monilifera),  und  ihre  Überflanzen  sind  ge- 
nau die  gleichen  wie  für  die  Weiden,  es  besteht  kein  spezi- 
fisches Verhältnis  zwischen  der  Unterlage  und  dem«Epiphylen. 
Desgleichen  hat  durch  das  Zusammenleben  der  beiden  Ge- 
wächse eine  adaptative  Umgestaltung  weder  am  Epiphyten  noch 
an  der  besiedelten  Pflanze  siallgefunden,  der  Fall  stellt  nach 
Schimper  die  erste  Stufe  dieses  pflanzengeographischen 
Vorkommens  dar.  Gallemaerts  macht  auch  auf  die  häufig 
sehr  starke  Verlängerung  von  Achsen  und  Blättern  bei  Über- 
pflanzen aufmerksam.  Im  Gewirr  der  jungen  Weidenblätter 
herrscht  im  ersten  Jahre  des  neuen  Aus^chlagens  großer  Licht- 
mangel, den  die  vorhandenen  Überpflanzen  durch  Streckung 
ihrer  Organe  entgegenarbeiten  können.  Die  Blätter  von 
Gramineen  wachsen  oberhalb  und  unterhalb  der  Ligula  über 
die  gewohnten  Maße  hinaus,  bei  Dactylis  wurde  sogar  eine 


Verlängerung  um  bo  Prozent  gemessen.  Ein  Stengel  von 
Dactylis  brachte  es  auf  anderthalb  Meter,  ebenso  eine 
Köpfchenröhre  des  Löwenzahnes. 

Edm.  J.  Klein-Luxemburg. 


Hörbarkeit  des  Kanonendonners.  In  der  Nummer  I  der 
Naiurw.  Wochenschr.  S.  16  wurde  erwähnt,  daß  man  in  Unter- 
ständen ferne  Kanonaden  besser  hört  als  im  Freien.  Dies 
wurde  dort  auf  Leitung  der  Erde  zurückgeführt.  Dagegen 
scheint  mir  folgendes  zu  sprechen:  I.  Einen  Flieger  hört  man 
im  Unterstande  weit  eher  als  im  Freien.  2.  Schlägt  eine 
Granate  ein,  so  hört  oder  fühlt  man  (besonders  im  Liegen) 
im  Unterstande  einen  dumpfen  schwachen  Schlag,  dann  erst 
die  Detonation.  Die  Zeitdauer  ist  abhängig  von  der  Ent- 
fernung des   Einschlagis. 

Ich  gebe  deshalb  nur  der  Resonanz  die  Schuld  ander 
besseren  Höibarbeit  ferner  Kanonaden. 

Heine,  Lt.  d.  Res. 


Ein  Leser  fragt:  „Wie  kommen  die  Pfeiftöne  zustande,  die 
man  mit  dem  Munde  erzeugt?  Handelt  es  sich  um  bloße 
Drosselung  eines  Luftstromrs,  oder  ist  die  Zunge  daran  be- 
teiligt? Da  auch  zweistimmiges  Pfeifen  möglich  ist  —  vor 
etwa  drei  Jahren  oder  mehr  stand  in  Pflüger's  Archiv  ein 
Beitrag  hierzu  —  ist  auch  die  psychologische  Seite  der  Frage 
interessant.  Mir  selbst,  so  kann  ich  hinzufügen,  sind  einige 
Personen  bekannt,  die  zugleich  Pfeiftöne  mit  den  Lippen  und 
Summtöne  mit  dem  Kehlkopfe  hervorbringen  können  und 
etwa  zwei>timmige  Musikstücke ,  auch  zweistimmige  Inven- 
tioncn  oder  auch  zwei  völlig  voneinander  unabhäntige  Musik- 
stücke gleichzeitig  vorführen."  Vielleicht  ist  jemand  aus  dem 
Leserkreise  imstande,   Auskunft  zu  erteilen. 


Kant  und  Herder  als  Vorläufer  Weismann' s. 
Bei  meinen  btudicn  über  die  Geschichte  des  Veretbungs- 
problems  traf  ich  in  den  Werken  Kant 's  und  Herd  er 's 
auf  An!.ichten,  die  Weismann's  Lehre  von  der  Nichtver- 
erbbarkeit  erworbener  Eigenschalten  vorausnehmen.  Kant 
versucht  in  seinen  anthropologischen  Schriften  die  Entstehung 
der  Abartungen,  speziell  der  Rassen,  nach  teleologischen 
Grundsätzen  zu  erklären.  Er  nimmt  an,  daß  die  Natur  eine 
Vorsorge  zeigt,  indem  sie  ihr  Geschöpf  durch  versteckte 
innere  Vorkehrungen  für  allerlei  künitige  Umstände  ausrüstet, 
damit  es  sich  erhalten  könne  und  der  Verschiedenheit  des 
Klimas  oder  des  Bodens  angemessen  sei.     Er  führt  zahlreiche 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i6 


Beispiele  für  die  Veränderungen  an,  die  bei  den  Tieren  unter 
dem  Einfluß  des  Klimas,  der  Nahrung  und  der  Bodenbe- 
schaffenheit hervorgerufen  werden.  Aber  diese  Faktoren  sind 
nach  ihm  nur  Gelegenheitsursachen,  die  gewisse  von  .Anfang 
an  in  den  Organismen  liegende  Keime  zur  Entfaltung  bringen 
und  andere  Keime  an  der  Ausbildung  verhindern.  Luft, 
Sonne  und  Nahrung  können  einen  tierischen  Körper  in  seinem 
Wachstum  wohl  modifizieren,  aber  diese  Veränderung  nicht 
zugleich  mit  einer  zeugenden  Kraft  versehen,  die  vermögend 
wäre,  sich  selbst  auch  ohne  diese  Ursache  wieder  hervor- 
zubringen, sondern  was  sich  fortpflanzen  soll,  muß  nach  Kant 
in  der  Zeugungskraft  schon  vorher  gelegen  haben,  als  vor- 
herbestimmt zu  einer  gelegentlichen  Auswickeluiig,  den  Um- 
ständen gemäß,   darein  das   Geschöpf  geraten   kann. 

Aus  diesem  Grunde  leugnet  unser  Philosoph  die  Ver- 
erbbarkeit  erworbener  Eigenschaften.  Er  erinnert  daran,  daß 
das  Ausrupfen  des  Bartes  ganzer  Völkerschaften,  das  Stutzen 
der  Schwänze  an  englischen  Pferden  und  die  künstliche  Ab- 
plattung der  Nasen  bei  neugeborenen  Kindern  keine  erblichen 
Veränderungen  hervorrufen  und  alle  gegenteiligen  Behauptungen 
nur  durch  Aufhaschung  zufälliger  Wahrnehmungen  bewiesen 
werden  können  und  gar  kein  Experiment  verstatten.  ,,Ich 
nehme  es  mir  zum  Grundsatz'',  schreibt  er,  ,,gar  kein  Ver- 
mögen des  Menschen,  durch  äußere  Künstelei  Abänderungen 
in  dem  alten  Original  der  Gattungen  und  Arten  zu  bewirken, 
solche  in  die  Zeagungskraft  zu  bringen  und  erblich  zu  machen, 
gelten  zu  lassen." 

Nur  was  als  Keim  oder  Anlage  von  Anfang  an  vor- 
handen ist,  kann  sich  somit  nach  Kant  vererben,  und  die 
erblichen  Veränderungen  der  Organismen  unter  dem  Einfluß 
neuer  E.\istenzbedingungen  werden  nur  durch  die  Auswickelung 
dieser  vorhandenen  Anlagen  möglich.  So  liegen  in  den  Vögeln 
derselben  Art,  die  in  verschiedenen  Klimaien  leben  sollen, 
Keime  zur  Auswickelung  einer  neuen  Schicht  federn,  wenn 
sie  in  kalten  Klimaten  leben,  die  aber  zurückgehallen  werden, 
wenn  sie  sich  im  gemäßigten  Klima  aufhalten  sollen.  Im 
Weizenkorn  liegt  eine  voiher  bestimmte  natürliche  Anlage, 
nach  und  nach  eine  dickere  Haut  hervorzubringen,  weil  es  in 
einem  kalten  Land  mehr  gegen  feuchte  Hitze  geschützt  werden 
muß  als  in  einem  trockenen  und  warmen.  Der  Mensch  war 
für  alle  Klimate  bestimmt  und  für  jede  Beschaffenheit  des 
Bodens,  daher  lagen  in  seiner  Slammgattung  mancherlei  Keime 
und  natürliche  Anlagen  bereit,  um  gelegentlich  ausgewickelt 
oder  zurückgehalten  zu  werden. 

Was  bei  Kant  die  inneren  verborgenen  Anlagen  sind, 
ist  bei  Herder  die  genetische  Kraft,  der  das  Klima  feindlich 
oder  freundlich  nur  zuwitkt.  Nur  solche  Veränderungen,  die 
durch  die  innere  genetische  Lebenskraft  bedingt  sind,  können 
vererbt  werden.  Herder  leugnet  daher  die  Vererbung  künst- 
licher Verletzungen  und  Verslümmelungen  des  Körpers. 
„Jahrhundertelang",  schreibt  er,  ,, haben  Nationen  ihre  Köpfe 
geformt,  ihre  Nasen  durchbohrt,  ihre  Füße  gezwungen,  ihre 
Ohren  verlängert ;  die  Naiur  blieb  auf  ihrem  Wege,  und  wenn 
sie  eine  Zeitlang  folgen,  wenn  sie  den  verzerrten  Gliedern 
Säfte  zuführen  mußte,  wohin  sie  nicht  wollte:  sobald  sie 
konnte,  ging  sie  ins  Freie  wieder  und  vollendete  ihrm  voll- 
kommenen Typus.  Ganz  anders,  sobald  die  Mißbildung  gene- 
tisch war  und  auf  Wegen  der  Natur  wirkte;  hier  vcrfrbten 
sich  Mißbildungen,  selbst  an  einzelnen  Gliedern."  Herder 
unterscheidet  also  hier  scharf  zwischen  erworbenen  und  an- 
geborenen Eigenschaften  bezüglich  ihrer  Vererbbarkeit,  zwischen 
dem,  was  wir  jetzt  somatogene  und  blastogene  Veränderungen 
nennen. 

Das    hindert    ihn   jedoch    nicht,    an   einer    anderen  Stelle 


seiner  „Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte"  Gedanken  zu 
entwickeln ,  die  wir  heute  als  lamarckistische  bezeichnen 
würden.  Er  wirft  die  Frage  nach  den  Ursachen  der  Kalmücken- 
und  Mongülenbildung  auf  und  denkt  an  die  Möglichkeit  einer 
Beeinflussung  durch  die  Lebensweise,  wenn  er  schreibt:  „Die 
gebogenen  Kniee  und  Beine  finden  am  ersten  ihren  Grund  in 
der  Lebensweise  des  Volkes.  Von  Kindheit  auf  rutschen  sie 
auf  ihren  Beinen  oder  hangen  auf  dem  Pferde;  in  Sitzen  oder 
Reiten  teilt  sich  ihr  Leben.  .  .  .  Sollte  nun  nicht  auch  mehreres 
von  ihrer  Lebensart  in  ihre  Bildung  übergegangen  sein?  Das 
absiehende,  tierische  Ohr,  das  gleichsam  immer  lauscht  und 
horchet,  das  kleine,  scharfe  Auge,  das  in  der  weitesten  Ferne 
den  kleinsten  R.iuch  oder  Staub  gewahr  wird,  der  weiße, 
hcrvorbläckende,  knochenbenagende  Zahn,  der  dicke  Hals 
und  die  zurückgebogene  Stellung  ihres  Kopfes  auf  demselben  ; 
sind  diese  Züge  nicht  gleichsam  zur  Bestandheit  gediehene 
Gebärden  und  Charaktere  ihrer  Lebensweise?  .  .  .  Sollte  es 
nicht  wahrscheinlich  sein,  daß  vor  Jahrtausenden  schon,  da 
vielleicht  einige  dieser  Ursachen  noch  viel  stärker  wirkten, 
eben  hieraus  ihre  Bildung  entstanden  und  zur  erblichen  Natur 
übergegangen  wäre?" 

Hier  ist  die  Möglichkeit  einer  Vererbung  von  Gebrauchs- 
wirkungen klar  ausgesprochen.  Doch  behauptet  Herder 
diese  Vererbung  nicht  dogmatisch,  sondern  wirft  nur  eine 
Frage  auf.  Wie  sein  Lehrer  Kant,  war  er  sich  bereits  der 
Schwierigkeiten  bewußt,  die  ihrer  entschiedenen  Beantwortung 
gegenüberstehen.  Walther  May. 


Druckfehlerberichtigung. 

Im  Artikel  Farbenvariationen  von  Helix  nemoralis  muß 
uf  S.  121,  Spalte  b,  Zeile  37  von  oben  heißen  Sehn  irk  ei- 
necke statt  Zirkelschnecke. 


Literatur. 

Programme  für  geobotanische  Arbeiten,  im  Auftrage  der 
Schweizerischen  Pflanzengeographischen  Kommission  verfaßt 
von  E.  Rubel,  C.  Schröter,  H.  Broc  kraann- Jerosch. 
Zürich  '16,  Rascher  &  Co.  —   I    Fr. 

Marbe,  A. ,  Die  Siedelungen  des  Kaiserstuhlgebirges. 
5.  Heft  der  Abhandlungen  zur  badischen  Landeskunde.  Karls- 
ruhe i.  B.   '16,   G.   Braun.   —  2.40  M. 

Junk,  W.,  Bibliographia  Botanicae  Supplementum.  Berlin 
■16,    W.  Junk. 

Killermann,  Prof.  Dr.  S.,  Die  Blumen  des  heiligen 
Landes.  Mit  einer  Bestimmungstabelle  sowie  5  Tafeln  und 
60  Abbildungen  im  Text.    Leipzig  '16,  J.  C.  Heinrichs.  —  6  M. 

Eng.  Warming's  Lehrbuch  der  ökologischen  Pflanzen- 
geographie. 3.  umgearbeitete  Auflage  von  E.  Warming  und 
P.  Graebner,  2.— 4.  Lieferung  (Bogen  6— 40).  Berlin '15/16, 
Gebr.   Bornträger.  —  30,80  M. 

Heim,  A.,  Geologie  der  Schweiz.  Lieferung  2.  Leipzig 
'16,  Chr.  H.  Tauchniiz.  —  6  M. 

Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  und  Süßwasserfauna 
Deutsch-Südwcstafrikas,  herausgegeben  von  W.  Michaelsen. 
Lieferung  4.  (Nematodes,  Hymenoptera  V.)  Hamburg  '16, 
L.   Kriedrichsen  »S:  Co.  —  5   M. 


Inhalt;  Emil  Lenk,  Stützgewebe  und  Integumente  der  Tiere.  S.  209.  R.  Kräusel,  Zur  Bestimmung  fossiler  Blatt- 
abdrücke. (9  Abb.)  S.  214.  —  Einzelbeiichte  Metz,  Chromosi.mengarnituren  in  der  Gattung  Drosophila.  (I  Abb.) 
S.  217.  Bernhard  Dürken,  Zur  Karbenwirkung  auf  Schmetlerlmgspuppen.  (2  Abb.)  S.  219.  Paul  Range,  Die 
Grund  Wasser  Verhältnisse  im  Namalande,  Deutsch-Südwestafnka.  S.  2  20.  —  Bücherbesprechungen:  Josef  Großmann, 
Das  Holz.  S.  221.  Das  Pflanz,  nreich.  S.  221.  Rabenhorsts  Kryptogamenflora,  Die  Lebermoose.  S.  221.  Friedr.  Dahl, 
Die  Asseln  oder  I^opoden  Deutschlands.  S.  222.  —  Anregungen  und  Antworten:  Über  die  Flora  der  Weiden.  S.  223. 
Hörbarkeit  des  Kanonendonners.  S.  223.  Wie  kommen  die  Pfriftöne  zustande,  die  man  mit  dem  Munde  erzeugt?  S.  223. 
Kant  und  Herder  als  Vorläufer  Weismann's.  S.  223.  Druckfehlerberichtigung:  Farbenvariationen  von  Helix  nemoralis. 
S.  224.  —  Literatur:  Liste  S.  224. 


Ma 


jskripte  und  Zuschriften  werden   an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,   erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  29.  April  1917. 


Nummer  17. 


Zur  mathematischen  Behandlung  des  Inzuchtgrades. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  Fr.  Bretschneider,  Stuttgart. 


In  der  Naturw.  Wochenschrift  191 7,  Nr.  6, 
S-  73 — 78  führt  uns  J.  Kfizenecky  eine  von 
Pearl  aufgestellte  Formel  zur  mathematischen  Be- 
stimmung des  Inzuchtgrades  vor  und  bringt  zu- 
gleich eine  offensichtliche  Verbesserung  an  jener 
Formel  an,  indem  er  nicht  nur  die  einzelne 
Generation,  sondern  den  ganzen  Stammbaum  be- 
rücksichtigt. Beide  Formeln  haben  deri  Vorzug 
großer  Einfachheit.  Doch  wird  wohl  manchem 
Leser  aufgefallen  sein,  daß  sie  auch  noch  ziem- 
liche Mängel  aufweisen  und  für  manche  Fälle  das 
Verhältnis  nicht  richtig  ausdrücken.  Dies  zu  zeigen 
und  eine  genauere,  allerdings  auch  kompliziertere 
Methode    anzugeben,    sei    im    folgenden    versucht. 

Wir  nehmen  Inzucht  nicht  für  gegeben  an  bei 
bloßer  Verwandtschaft  durch  gleiche  Abstammung, 
sondern  erst  bei  Kopulation  verwandter  Individuen, 
d.  h.  erst  wenn  die  beiden  kopulierenden  Indi- 
viduen in  ihrem  Stammbaum  einen  oder  mehrere 
gleiche  Ahnen  haben;  wir  können  auch  sagen, 
wenn  bei  der  Zeugung  ein  gewisser  Teil  der  zu- 
sammentreffenden Erbwerte  gleichen  Ursprungs 
ist.  In  Stammbaum  4  beginnt  also  die  Inzucht 
erst  mit  der  Kopulation  von  a  und  b  und  der  Zeugung 
des  Individuums  x.  Es  ist  daher  nicht  wörtlich 
zu  nehmen,  wenn  Krizenecky  S.  73  in  Hinsicht 
auf  die  notwendige  Inzucht  innerhalb  der  Menschheit 
sagt,  daß  zur  Vermeidung  von  Inzucht  aus  jeder 
Ehe  nur  ein  Kind  entpringen  dürfte,  vielmehr 
können  beliebig  viele  Kinder  erzeugt  werden; 
freilich  wird  es  diesen  dann  bald  unmöglich 
werden,  Ehegatten  zu  finden,  die  nicht  Inzucht 
bedingen.  Wäre  z.  B.  ursprünglich  nur  ein  Eltern- 
paar mit  10  Kinder  vorhanden,  so  müßten  diese 
unter  sich  kopulieren  und  bereits  die  2.  Deszen- 
dentgeneration  wäre  Inzuchlsprodukt.  Bei  2  Eltern- 
paaren mit  je  10  Kindern  könnten  diese  20  Nach- 
kommen gegenseitig  kopulieren  und  so  100  inzuchts- 
freie Kinderzeugen,  dann  aber  wäre  in  der  3.  Gene- 
ration Inzucht  nötig.  Bei  4,  8,  16  . . .  Elternpaaren 
wären  looo,  loooo,  looooo  .  .  .  inzuchtsfreie  Des- 
zendenten möglich  und  das  notwendige  Eintreten 
der  Inzucht  würde  sich  in  die  4.,  5.,  6.,  ...  Genera- 
tion verschieben.  Mit  der  Entfernung  von  den  ge- 
meinsamen Voreltern  nimmt  aber  wie  der  Grad  der 
Verwandtschaft,  so  auch  der  Inzuchtsgrad  rasch 
ab.  So  zeigen  diese  Zahlen,  daß  wir  die  not- 
wendige Inzucht  innerhalb  der  Menschheit  in 
ihrer  Wirkung    nicht    hoch  veranschlagen    dürfen. 

Praktisch  kommen  für  die  Bestimmung  des 
Inzuchtgrades  in  Betracht  die  5—10  ersten  Ahnen- 
generaiionen  des  Individuums,  dessen  Inzucht- 
grad festzustellen  ist.  Die  Zahl  der  benützten 
Generationen   stellt  den  Genauigkeitsgrad  der  Be- 


stimmung dar;  man  muß  daher  jedem  Inzuchts- 
koeffizienten die  Zahl  der  Ahnengenerationen  bei- 
setzen, für  die  er  bestimmt  wurde.  Zum  Ver- 
gleich zweier  Individuen  muß  der  Koeffizient  in 
bezug  auf  die  gleiche  Ahnengeneration  fest- 
gestellt werden.  Wir  können  somit  die  von 
Krizenecky  S.  76  für  das  Pferd  Postumus  und 
die  Kuh  Beß  Weaver  festgestellten  Koeffizienten 
nicht  unmittelbar  vergleichen,  da  beim  Pferd  5, 
bei  der  Kuh  nur  4  Generationen  in  Betracht  ge- 
zogen sind.  Ziehen  wir  auch  beim  Pferd  nur 
4  Generationen  herbei,  so  ermäßigt  sich  der  schon 
vorher  kleine  Wert  noch  mehr. 

UmnundieBrauchbarkeitdergenanntenFormeln 
zu  erproben,  betrachten  wir  zuerst  einen  einfachen 
Stammbaum  mit  geringer  Inzucht:  Stammbaum  i. 

Pearl      Krizenecky    j  Bretschneider 
ab      cd      cf      ab      ^3        25'         21,43  6,25 

g         h  i  g       j  2        25    1         16,66  6,25 


Stammbaum   I. 

Ist  nur  die  i.  .Ahnengeneration  bekannt,  so  ist 
der  Inzuchtskoeffizient  natürlich  =  o.  Bei  Be- 
trachtung der  2.  Generation  ergibt  sich  nach  Pearl 
I  oder  25  ",'0,  nach  Krizenecky^  oder  16,66  "/g. 
Durch  Hinzufügen  der  dritten  Generation  tritt 
nun  offensichtlich  keine  weitere  Inzucht  ein,  nach 
Pearl  ergibt  sich  wirklich  auch  wieder  25,  nach 
Krizenecky  jedoch  f\  oder  21,43.  Für  jede 
weitere  Generation  gibt  —  bei  sonst  inzuchtfreiem 
Stammbaum  —  Pearl  konstant  25  "j,,  Krize- 
necky für  die  4.  y^  oder  23,33,  für  die  5.  ^| 
oder  24,2,    für  die  6.  j\'^    oder  24,5.     Die  Werte 

Krizenecky 's  folgen  aus  der  Formel —^-^ , 

wo  n  die  Generationszahl  ist.  Dieser  Wert  strebt 
mit  steigendem  n  dem  Grenzwert  \  oder  25  "/„ 
zu,  also  dem  Wert,  den  Pearl  schon  immer  er- 
gab.   Wo  liegt  der  F'ehler  bei  Krizenecky?    Er 

liegt  darin,  daß  k  und  I  je  den  Erbwert  -  in  sich 

enthalten,  so  daß  es  logischerweise  bei  Berech- 
nung des  Koeffizienten  der  2.  Generation  st^tt 
^  vielmehr  '-^^  heißen  müßte,  was  den  richtigen 
Wert  25  "/o  ergeben  würde.  Dies  müßte  daher 
bei  der  Benutzung  der  Kr  i  z  e  n  ecky 'sehen  Formel 
für  solche  Fälle  berücksichtigt  werden.  Zugleich 
zeigt  dieser  Fall,  daß  bei  der  Bestimmung  des 
Inzuchtkoeffizienten  die  Voraussetzung  gemacht 
wird,  daß  in  den  früheren,  nicht  zur  Berechnung 


236 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


benützten  Generationen  keine  weitere  Inzucht 
vorliegt.  Diese  an  und  für  sich,  wie  oben  ge- 
zeigt wurde,  falsche  Annahme  darf  aber  ruhig 
gemacht  werden,  da  wir  diese  unbekannten 
Inzuchtsfakioren  aus  zwei  Gründen  praktisch  ver- 
nachlässigen dürfen:    i.  weil  wir  sie  für  alle  ver- 


glichenen Fälle  als  gleich  annehmen  dürfen, 
2.  weil  die  weit  zurückliegenden  Faktoren  nur 
eine  geringe  Wirkung  auf  den  Koeffizienten  aus- 
üben. Wie  dies  geschieht,  zeigt  uns  Stammbaum  2, 
der  von  Krizenecky  S.  74  als  erstes  Beispiel 
angegeben  wird: 


gh 


gh 


Pearl 

4 

87,5 

3 

75 

2 

50 

' 

° 

Krizenecky 
73,33 
57.14 
33.33 


Bretschne 
37,5 

25 
12,5 


Stammbaum  2. 


Die  Werte  der  Inzuchtkoeffizienten  sind  für 
die  einzelnen  Generationen  je  nach  den  ver- 
schiedenen IVlethoden  bestimmt  beigefügt.  Auch 
hier  sind  die  Krizenecky'schen  Werte  mit  dem 
gleichen  Fehler  behaftet  wie  in  Stammbaum  i. 
Bei  Stammbaum  2  zeigt  sich  bei  Hinzunahme 
jeder  weiteren  Generation,  daß  die  Inzucht  konse- 
quent forlgesetzt  wurde,  daher  vergrößert  sich 
der  Koeffizient  jedesmal,  aber  um  immer  kleinere 
Beträge,  um  mit  wachsendem  n  einem  Grenzwert 
zuzustreben.  Dieser  Wert  ist  bei  Pearl,  wie  er- 
sichtlich, loo^/n.  Bei  Berechnung  des  Pearl 'sehen 
Wertes  für  eine  frühere  Generation,  z.  B.  die  4., 
ist  es  gleichgültig,  ob  innerhalb  späterer  Genera- 
tionen, in  dem  genannten  Beispiel  der  3.  u.  2., 
auch  wieder  Inzucht  auftritt  oder  nicht.  Wenn 
also  in  Stammbaum  2  in  der  2.  u.  3.  Generation 
keine  Wiederholung  von  e,  f.  u.  c,  d  eintreten 
würde,  welchen  F'all  ich  in  Stammbaum  3  vor- 
führe, so  würde  trotzdem  die  Fear l'sche  Methode 
hinsichtlich  der  4.  Generation  den  Wert  87,5  bei- 
behalten, obgleich  die  Inzucht  augenscheinlich  in 
Fall  3  sehr  viel  geringer  ist  wie  in  Fall  2.  Es 
ergibt  sich,  daß  Pearl  den  Fehler  macht,  daß  er 
nur  eine  Generation  berücksichtigt,  statt  den 
ganzen  Stammbaum,  welchen  Fehler  Krizenecky 
sehr  richtig  erkannt  hat.  So  kommt  es,  daß  hier 
die  Krizenecky 'sehe  Methode  ein  besseres  Re- 
sultat gibt,  denn  bei  Stammbaum  3  ermäßigt  sich 


f 

gh      gh 

\/    \  ^ 

i           k 

d 

gh       gh 

\/       \/ 

1           m 

P 

gh 
n 

Y 

Pearl 
87,5 
0 

c 

b 

0 

a 

0 

Stammbaum  1. 

der  Inzuchtskoeffizient  nach  Krizenecky  auf  ^^ 
oder  46,66  "/„  gegenüber  73,3  für  Stammbaum  2. 
Dieser  Wert  ist  aber  seinerseits  mit  dem  früher 
erwähnten  Fehler  behaftet,  denn  durch  Herbei- 
ziehen der  5.  Generation  unter  Vermeidung 
weiterer  Inzucht  (Eltern  von  g  z.  B.  o  u.  p,  von 


h  m  u.  n)  erhöht  sich  der  Wert  46,66  auf  67,7  usw. 
Trotzdem  beweist  dieser  Fall  klar,  daß  im  all- 
gemeinen die  Krizenecky 'sehe  Methode  besser 
ist  als  die  Pearl'sche.  Dies  zeigt  am  besten  die 
extreme  Annahme,  daß  wir  alle  von  2  Stamm- 
eltern abstammen.  Dann  würde  nach  Pearl,  da 
die  Zahl  der  Generationen  sehr  groß  ist,  unser 
aller  Inzuchtskoeffizient  nahezu  100%  betragen, 
wobei  es  gleichgültig  wäre,  ob  wir  unsere  Ge- 
schwister oder  fremde  Personen  heiraten  würden.^) 
Nach  der  Krizenecky'schen  Methode  würde  der- 
selbe selbst  für  den  günstigsten ,  praktisch  un- 
möglichen Fall,  daß  in  späteren  Generationen 
keine  weitere  Inzucht  mehr  eintreten  würde,  sich 
auf  etwa  50  ermäßigen,  denn  die  Individuensumme 
von  n  Generationen  ist  nur  um  2  kleiner  wie  die 
der  (n-|- I)- Generation. 

Unsere  seitherigen  Betrachtungen  haben  zum 
Ergebnis:  i.  ist  bei  der  Bestimmung  des  Inzucht- 
koeffizierten  der  ganze  vorliegende  Stammbaum 
zu  berücksichtigen  (für  die  nicht  zugänglichen 
früheren  Generationen  wird  die  Annahme  gemacht, 
daß  sie  keine  weitere  Inzucht  enthalten);  2.  dürfen 
die  Formeln  nicht  zu  so  extremen  Beispielen  wie 
das  eben  angeführte  verwendet  werden;  diese  sind 
ja  auch  mehr  Spielereien,  während  für  die  Praxis 
die  Bestimmung  des  Wertes  für  die  Generationen 
der  jüngsten  Vergangenheit  genügt;  die  weit 
zurückliegenden  Inzuchlfaktoren  können  vernach- 
lässigt werden;  3.  zeigt  uns  doch  der  übermäßig 
hohe  Wert,  den  der  Koeffizient  für  den  extremen 
Fall,  sowie  für  den  Fall  des  Stammbaums  3  im 
Vergleich  zu  Stammbaum  2  annimmt,  daß  hier 
noch  ein  Faktor  unberücksichtigt  ist,  der  stark 
ins  Gewicht  fällt.  Es  ist  dies  die  Tatsaehe,  daß 
die  Inzucht  desto  geringere  Wirksamkeit  zeigt,  je 
größer  der  Generationsabstand  ist,  der  die  Inzucht 
bedingenden  Aszendenten  von  dem  Individuum 
trennt,  bei  dem  die  Inzucht  erstmals  wirksam  wird. 
Das  letztere  Individuum  ist  jedoch  nicht  immer 
mit  demjenigen  identisch,  für  das  der  Koeffizient 
bestimmt    werden    soll.      Dies   zeigt    deutlich    der 


')  Es    ist   leicht   einzusehen,    daß    dieser    hohe  Wert  nur 
für  konsequente  Geschwisterehe  stimmen  würde. 


N.  F.  XVI.  Nr.   17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


227 


Vergleich  von  Stammbaum  4  und  5.  Man  könnte 
diesen  Faktor,  der  offenbar  von  der  Zeit  und  der 
Zahl  der  Zeugungen  abhängt,  den  Tilgungsfaktor 
der  Inzucht  nennen.  Wie  groß  sollen  wir  diesen 
veranschlagen?  Die  exakte  Antwort  hierauf  könnte 
nur  die  Vererbiingsforschung  geben,  doch  ist  diese 
heute  noch  weit  davon  entfernt,  quantitative  Größen 
dieser  Art  festzulegen  ').  Man  muß  dabei  vorerst 
mit  den  dem  Stammbaum  entnommenen  Größen 
arbeiten.  Ich  habe  im  folgenden  als  Tilgungs- 
faktor    für     die     i.,    2.,    3.    .    .    .    n.    Generation 

^,    |,    ^   .  .  .      ^  benutzt,  also  den  reziproken  Wert 

der  Aszendentenitahl  der  betreffenden  Generation. 
Das  Hypothetische  dieser  Annahme  ist  mir  wohl  be- 
wußt, doch  habe  ich  mich  an  einer  großen  Zahl 
von  Stammbaumvariationen  überzeugt,  daß  da- 
durch der  Inzuchtgrad  in  viel  deutlicherer  Weise 
sich  ausdrücken  läßt  als  durch  obige  Methoden. 
Ein    Vergleich    von    Stammbaum    4   und    5    zeigt 


gh 


Stammbaum  4. 

i  k         i  k  g  h         Im 

cd  e  f 

a   12,5  b  o 

Stammbaum   5. 

auffällig,  daß  nicht  nur  der  Generationsabstand 
der  sich  wiederholenden  Ahnen  (i  k)  von  dem 
Individuum  x  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  sondern 
auch  die  Zeit  der  Vereinigung  der  Erbwerte  dieser 
Ahnen. 

Nach  den  Methoden  von  Pearl  und  Krize- 
iiecky  kommt  der  Unterschied  von  Stammbaum 
4  und  5  im  Inzuchtskoeffizienten  nicht  zum  Aus- 
druck. Und  doch  zeigt  die  Praxis,  daß  die  In- 
zucht bei  Geschwisterehe  (Fall  5)  ganz  anders 
hervortritt  wie  bei  Geschwisterkinderehe  (Fall  4). 
Die  Vereinigung  der  die  Inzucht  bedingenden  Erb- 
einheiten tritt  im  P^all  5  eine  Generation  früher 
ein  als  im  Fall  4.  Daher  haben  a  und  b  im  Fall  4 
noch  beide  den  Koeffizienten  o,  im  Fall  5  hat  nur 
b  O,  für  a  ergibt  sich  nach  unserer  Methode 
■j-i  =  i  oder  12,5  (Berechnung:  ^  bedeutet  die 
Wiederholung  der  Großeltern  i  k  von  a  analog 
den  beiden  anderen  Methoden,  |  ist  der  Tilgungs- 
faktor für  die  2.  Generation).  Da  b  inzuchtfrei 
ist,  so  ermäßigt  sich  der  Wert  der  Koeffizienten 
für  X  im  Fall   5  auf  6,25.     Im  Fall  4  tritt  die  In- 


zucht erst  bei  x  auf,  es  ergibt  sich  als  Koeffizient 
|-i  =  -sV  oder  3,12. 

Für  den  Stammbaum  i  ergibt  sich  nach 
unserer  Methode  hinsichtlich  der  2.  Generation'), 
wo  g  2  mal  auftritt,  ^-1^^,^  oder  6,25.  Die 
nach  dieser  Methode  bestimmten  Koeffizienten  ver- 
halten sich  beim  Vergleich  von  Geschwisterkinderehe 
(Fall  4  mit  3,12)  mit  Stiefgeschwisterehe  (Fall  i 
mit  6,25)  und  Geschwisterehe  (Fall  5  a  mit  12,5) 
wie  1:2:4,  während  derselbe  Vergleich  bei 
Pearl  1:1:2  (25:25:50),  bei  Krizenecky 
14,3  :  16,66:  33,33  ergibt.  Für  diese  einfachen  Fälle 
dürfte  somit  die  Überlegenheit  unserer  Methode 
klarliegen. 

VVir  wollen  jetzt  den  Inzuchtgrad  von  Fall 
4  und  5  allmählich  steigern  und  sehen,  wie  sich 
das  im  Koeffizienten  von  x  äußert.  Setzen  wir 
in  5  an  Stelle  von  g  h  auch  i  k,  so  kommt  für  x 
ein  neuer  Koeffizient  hinzu,  der  analog  Fall  4  sich 
auf  3,12  berechnet;  dann  wird  der  Gesamtkoef- 
fizient für  X  6,25  "4- 3,12  ^  9,37.  Setzen  wir  je- 
doch in  5  an  Stelle  von  g  h  nun  1  m,  so  tritt  die 
Wirkung  bereits  eine  Generation  früher  auf,  b 
erhält  den  Koeffizienten  12,5  wie  a  und  damit  auch 
X.  Noch  größer  wird  offenbar  die  Inzucht,  wenn 
wir  in  4  u.  5  g  h  u.  1  m  gleichzeitig  durch  i  k  er- 
setzen: auch  dann  haben  a  u.  b  je  12,5,  somit 
auch  X  12,5;  es  tritt  aber  bei  der  Vereinigung 
von  a  b  noch  der  neue  Faktor  hinzu,  daß  i  k  in 
der  3.  Generation  nun  4  mal  auftritt,  was  sich 
zu  -^  -If  =  j'jj  oder  6,25  berechnet;  damit  ergibt 
sich  für  X   12,5  +  6,15  =  18,75. 

3,12 


0,25 

■2,5 


Stammbaum  6. 

Kommt  zum  letzteren  Fall  noch  die  Wieder- 
holung eines  Individuums,  z.  B.  c,  in  der  2.  Gene- 
ration, wie  es  Stammbaum  6  darstellt,  so  erhöht 
sich  die  Inzucht  aufs  neue  durch  Stiefgeschwister- 
ehe und  es  ergibt  sich  für  c  analog  Fall  1  der 
Wert  6,25.  Nun  ist  aber  mit  diesem  Wert  für 
c  auch  schon  dessen  Elternpaar  i  k  erledigt,  wir 
dürfen  daher  für  die  3.  Generation  nicht  mehr 
wie  im  letzten  Fall  6,25  in  Anschlag  bringen, 
sondern  nur  noch  für  i  k  als  Eltern  von  e  3,12.  So 
ergibt  sich  im  F"all 6  für  X  12,5+6,25-1-3.12  =  21,87. 
Wird  nun  endlich  in  6  statt  e  noch  d  gesetzt 
(oder  umgekehrt),  so  ist  der  höchste  Grad  erreicht. 


für   die    2.  Generation    ergibt   sich 


oder 


')  Man  könnte  an  eine  Beziehung  zur  Chromosomenzahl 
denken.  Soweit  mir  die  Literatur  zugänglich  war  —  infolge 
Kriegsdienstes  im  3.  Jahr  leider  nicht  viel  —  konnte  ich  keine 
Anhaltspunkte  finden. 


')  Man  muß  sich  hier  hüten ,  den  Koeffizienten  für  die 
-^.  Generation  zu  bestimmen,  da  diese  keine  weitere  Inzucht 
mit  sich  bringt.  Noch  weniger  darf  man  etwa  einen  so  be- 
stimmten Wert  dem  der  2.  Generation  additiv  hinzufügen. 
Bei  Bestimmung  des  Koeffizienten  für  die  3.  Generation 
-|-^=-j'j  oder  3,12  macht  man  die  .'\nnahme,  daß  in  der 
2.  Generation  statt  dem  einen  der  g  ein  anderer  nicht  im 
Stammbaum  vorkommender  Buchstabe,  etwa  m,  stünde. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


b   iS,75 


0,78 

i,S6 
6,25 

'8,75 


12,5;  die  3.  Generation  bringt  dann  nichts  Neues 
mehr,  somit  für  x  12,5  +  12,5  =  25.  Dieser  letzte 
Fall  ist  auch  in  Stammbaum  2  enthalten,  wo  die 
Inzucht  noch  um  eine  Generation  weitergeführt 
ist,  so  daß  sich  dann  für  x  37,5   ergibt. 

Wir  betrachten  noch  rascii  den  zusammen- 
gesetzten Fall  7.  Bereits  in  der  2.  Generation 
sind  c,  d  u.  e  durch  Geschwisterehe  (analog  Fall  5) 
mit  12,5  belastet.  Für  a  u.  b  in  der  i.  Generation 
kommt  zu  diesen  12,5  je  noch  die  Wirkung  ge- 
meinsamer Urgroßeltern  mit  6,25  hinzu,  somit 
haben  a  u.  b  je  18,75,  was  auch  x  übernimmt. 
Für  X  kommen  noch  3  weitere  Faktoren  hinzu ; 
I.  die  Wirkung  von  c  in  der  2.  Generation  (ana- 
log Fall  i)  mit  6,25,  2.  die  Wirkung  von  i  in 
der  3.  Generation  mit  ^--^  oder  1,56,  3.  die  Wir- 
kung von  mn  als  Eltern  von  k  u.  h  mit  yV-^V 
oder  0,78  (die  übrigen  m  n  sind  schon  in  den  vor- 
herigen Faktoren  entlialten).  So  ergibt  sich  als 
Summe  für  x  der  Koeffizient  27,34.  Vergleichen 
kann  man  dies  Resultat,  da  für  die  4.  Generation 
berechnet,  nur  mit  Fall  2,  wo  bei  ähnlichem  Stamm- 
baum durch  weitere  Steigerung  der  Inzucht  sich 
37,5   ergab. 

Wir  haben  uns  bisher  auf  Fälle  mit  Wieder- 
holung eines  Individuums  nur  in  derselben  Gene- 
ration beschränkt.  Die  Berechnung  von  Fällen 
mit  Wiederholung  eines  Aszendenten  in  mehreren 
Generationen  zeigt  der  einfachste  Fall,  Stamm- 
baum 8.      Nach    den    IVIethoden    von    Pearl    und 


Stammbaum   8. 

Krizenecky  würde  sich  für  Fall  8  derselbe 
Koeffizient  ergeben  wie  für  Fall  i,  nämlich  25, 
bzw.  16,66,  während  doch  bei  Fall  8  die  Inzucht 
viel  größer  ist  wie  bei  Fall  i ').  Wäre  a  beide- 
mal in  der  2.  Generation,  so  erhielten  wir  nach 
unserer  Methode  analog  Fall  i  6,25,  wäre  a  in 
der  I.  Generation  doppelt  (Selbstbefruchtung),  so 
wäre  der  Koeffizient  ^-^  oder  25.    Wir  vermuten 

daher  für  Fall  8  den  Mittelwert  "^-"^---^  =  15,62. 

Dies  ist  auch  richtig,  denn  von  a  als  Großvater 
kommt  auf  x  unter  Berücksichtigung  des  Tilgungs- 
faktors ^-^  =  3*^,    von    a  als  Vater    j-^  =  j\   an 

')  Das  Strafgesetzbuch  stellt  die  Kopulation  zwischen 
Vater  und  Tochter,  bzw.  Mutter  und  Sohn  als  schwere  Blut- 
schande, der  Kopulation  zwischen  Stiefgeschwistern  und  Ge- 
schwistern als  gewöhnlicher  Blutschande  gegenüber, 


Erbwerten.  Folglich  wird  der  Koeffizient  für  x 
j^g:2  oder  i|^  =  15,6.  Unsere  Methode  bewertet 
also  wohl  mit  Recht  die  Copulation  zwischen 
Vater  und  Tochter,  bzw.  Mutter  und  Sohn  noch 
etwas  höher  als  die  Geschwisterehe^).  Ich  ver- 
zichte auf  Anführung  weiterer  Fälle  dieser  Art, 
die  sich  in  ähnlicher  Weise  komplizieren  lassen 
wie  oben.  Für  den  von  Krizenecky  auf  S.  74 
unten  gegebenen  Stammbaum  mit  theoretisch  ge- 
steigerter sehr  intensiver  Inzucht  berechnet  sich 
der  Koeffizient  auf  den  hohen  Wert  45,9.  Er- 
wähnt sei  noch,  daß  unsere  Methode  auch  für 
Selbstbefruchtung  brauchbare,  natürlich  ent- 
sprechend höhere  Werte  ergibt,  während  hier 
die  beiden  anderen  Methoden  noch  mehr  ver- 
sagen. 

Auf  S.  yj  gibt  Krizenecky  den  Stamm- 
baum der  Kuh  Beß  Weaver  bis  in  die  4.  Gene- 
ration. Ihr  Koeffizient  hinsichtlich  dieser  Gene- 
ration berechnet  sich  folgendermaßen :  Kate 
Weaver  in  der  2.  Generation  ist  durch  Balm 
analog  Fall    8  mit    15,62    belastet,    davon    kommt 

^  3,9.     Davy  Stoke  Pogis  ist  noch 


auf  Beß 


inzuchtfrei.  Für  Beß  kommen  noch  zwei  weitere 
Irizuchtfaktoren  hinzu:  i.  durch  Siseras  Stoke  Pogis 
in  der  2.  Generation  analog  Fall  i  6,25.  2. 
durch  Patrick  Fawkes  in  der  3.  u.  4.  Genera- 
tion 0,98.  So  ergibt  sich  für  Beß  der  Koeffizient 
3,9 -f  6,25  +0,98  =  11,13. 

Das  Pferd  Postumus  hat  einen  viel  reineren 
Stammbaum  (S.  76).  Berechnung  für  die  5.  Gene- 
ration :  Thormanby  und  Voltaire  kommen  in  der 
2.  Generation  zur  Geltung,  d.  h.  Orvieto  und 
Galopin  haben  je  den  Koeffizienten  1,56.  Davon 
kommt  auf  Postumus  zusammen  nur  0,78.  Stock- 
well belastet  Ponton  mit  0,39,  gibt  für  Postumus 
0,39+1.56 


Vedette     endlich     gibt 


0,98. 


Somit  der  Endwert  für  Postumus  0,78-f  0,2-j-0,98 
=  1,96,  also  ein  der  Reinheit  des  Stamm- 
baums entsprechend  geringer  Wert.  Wir  sehen, 
daß  die  Berechnung  solcher  Stammbäume  gar  nicht 
so  umständlich  ist,  wie  es  anfangs  scheint, 
da  dieselben  Werte  immer  wiederkehren  und, 
einmal  berechnet,  künftig  nur  eingesetzt  werden 
dürfen.  Man  kann  sich  eine  kleine  Tabelle  an- 
legen und  daraus  die  Werte  nach  Bedarf  ent- 
nehmen. Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  auch  diese 
Methode  noch  ihre  Mängel  hat'),  doch  dürfte  sich 


')   In    der    additiven    Zusamnienfügung    der    Koeffizienten 
egt    ein  Mangel ,    der    bei    künstlichem  Aufbau    von    Stamm- 


X.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


229 


der  Leser  überzeugt  haben,  daß  sie  theoretisch 
und  praktisch  den  beiden  anderen  überlegen  ist. 
Zum  Schluß  gebe  ich  in  Stammbaum  9  den- 
jenigen einer  mir  bekannten  Person  wieder,  um 
zu  zeigen,  wie  auch  in  der  menschhchen  Familien- 
forschung die  Inzucht  gemessen  werden  kann. 
Es  sind  nur  die  Inzucht  bedingenden  Ahnen  auf- 
geführt. Der  Koeffizient  beträgt  für  c  3,12,  für  a 
1,56,  bleibt  für  x  0,78,  wozu  von  m  n  her  nochmals 
0,78  kommt.  Somit  ist  der  Inzuchtkoeffizient  von 
X  hinsichtlich  der  5.  Generation  1,56,  also  noch 
etwas  niedriger  als  der  des  Pferdes  Postumus. 

Da  der  Krieg    die  Fragen    der    menschlichen 
Rassenhygiene  in  den  Vordergrund  des  Interesses 

bäumen  mit  höchstmöglicher  Inzucht  durch  viele  Generationen 
hindurch  zutage  tritt.  Wird  die  konsequente  Geschwisterehe 
wie  bei  Fall  2  noch  durch  weitere  Generationen  fortgesetzt, 
so  ergibt  sich  hinsichtlich  der  10.  Generation  der  Koellizient  100. 
Theoretisch  ist  dies  zu  viel,  praktisch  aber  wird  dagegen 
nichts  einzuwenden  sein,  da  ein  solch  e-Ntremer  Fall  nie  vor- 
kommen wird.  Wollte  man  auch  diese  F'älle  mit  lange  Zeit 
hindurch  extrem  gesteigerter  Inzucht  mit  Zahlen  unter  100 
bezeichnen,  so  würde  dadurch  der  Wert  für  die  praktisch 
vorkommenden  Fälle  mit  mäßiger  Inzucht  so  herabgedrückt, 
daß  seine  Hrauchbarkeit  in  Frage  käme.  So,  denke  ich,  hält 
unsere  Methode  einen  gangbaren  Mittelweg  inne. 


gerückt  hat,  wird  man  vielleicht  auch  der  Inzucht 
neue  Aufmerksamkeit  widmen.  Jedenfalls  wird 
der  Wert  der  Familienforschung  aufs  Neue  betont 
werden.  Schallmayer  hat  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  daß  wir  in  dieser  Hinsicht  von  den 
Chinesen  lernen  können,  die  in  ihrem  Ahnenkultus 


Stammbaum   9. 

einen  Faktor  von  hohem  rassehygienischem  Wert 
besitzen.  .\uch  bei  uns  sollte  es  populär  werden, 
seinem  Stammbaum  und  seiner  Familie  seine  be- 
sondere Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  an  ihre  Er- 
haltung und  Verbesserung  nach  rassehygienischen 
Grundsätzen  sein  persönliches  Interesse  zu  knüpfen. 


A'it,aiiiiiie. 


Von  Dr.  F.  Schill 


[Nachdruck  verboten.) 

Die  Bewertung  der  Nahrungsmittel  hat  im 
Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  mannigfaltig  ge- 
wechselt, je  nachdem  sich  die  wissenschafi liehen 
Ansichten  änderten  und  man  den  zeitgemäßen 
Fortschritten  Rechnung  tragen  mußte.  Seit 
V.  Lieb  ig  unterschied  man  zunächst  respira- 
torische, Wärme  produzierende  und  plastische 
Nutrimcnte,  die  entweder  die  Aufgabe  erfüllten, 
dem  Organismus  des  Warmblüters  die  erforder- 
liche Wärme  zu  liefern  oder  zur  Neubildung  der 
lebenswichtigen  Organe,  als  Ersatz  des  Verbrauches, 
und  zum  Wachstum  zu  dienen.  Während  der 
Kaltblüter  weniger  lebhaften  Oxydations-  oder 
Umsatzprozessen  unterworfen  ist  und  der  Winter- 
schläfer seine  Temperatur  erniedrigt,  um  sparsam 
von  seinem  wärmespendenden  Vorrat  an  Glykogen 
und  Fett  zu  zehren,  und  bei  Beginn  des  Frühlings 
mit  der  Wiederkehr  der  Luft-  und  Bodenwärme 
und  zunehmenden  Feuchtigkeit  aus  dem  Ruhe- 
zustande in  das  bewegte  Leben  zurückzukehren, 
bedarf  der  Warmblüter  dauernd,  Sommer  wie 
Winter,  eines  Vorrates  von  Subsistenzmitteln, 
welcher  die  biologischen  Prozesse  im  Gange  er- 
hält und  die  Tätigkeit  der  Oxydations-  und  Des- 
oxydationsvorgänge, den  Auf-  und  Abbau  der 
einzelnen  Organe  bis  zur  Einzelzelle  garantiert. 

Mit  dem  Hervortreten  der  Kalorientheorie, 
nach  welcher  der  Körper  des  Menschen  und 
Tieres  einer  gewissen  Anzahl  von  Kalorien  oder 
Wärmeeinheiten    in   Höhe    von    2000 — 4000,    ver- 


g,  Leipzig. 

schieden  nach  dem  Zustande  der  Ruhe  oder 
Arbeit,  des  Geschlechtes  und  Alters,  der  Rasse 
und  des  Klimas,  bedurfte,  um  Energien  zu  ent- 
falten und  Bewegungen  in  der  Muskulatur,  in  dem 
Herzen  und  der  Lunge  und  Funktionen  in  den 
Drüsen  auszulösen,  verloren  die  Eiweißstoffe 
(Eier,  Muskel,  Milch  und  Blut  als  animalische, 
Kleber  und  Legumin  als  vegetabilische)  ihres  ihnen 
von  Lieb  ig  vindizierten  Charakters,  da  auch  die 
Fette  und  Kohlenhydrate  als  Gewebsbildner  an 
Bedeutung  gewonnen.  Auch  sie  füllten  im  Stoff- 
austausch verlorengehende  Stoffe  neu  aus  und 
schützten  den  Bestand  vor  schweren,  die  Existenz 
bedrohenden  Verlusten,  die  den  Betrieb  störten; 
sie  waren  nicht  bloß  Beiriebsmaterial ,  während 
das  Eiweiß  das  Baumaterial  repräsentieren  sollte. 
Ja,  noch  mehr  erweiterte  sich  der  Rahmen  mit 
der  Zeit,  als  auch  die  Salze,  insbesondere  Koch- 
salz, Eisen-,  Kalium-,  Natrium-,  Kalzium-  und 
Phosphorverbindungen  an  Wert  gewannen,  mochten 
sie  frei  oder  gebunden  zirkulieren,  da  ohne  sie 
die  physiologischen  Vorgänge  der  Resorption  und 
Exkretion,  der  Diffusion  und  Osmose,  der  Säfte- 
austausch innerhalb  der  Gewebe  und  Einzelzelle, 
die  Tätigkeit  der  Drüsen  und  Fermente  unmöglich 
sind.  Als  lone  und  Salze  regulieren  sie  die 
Strömung  in  den  Blutbahnen  und  Lymphwegen 
und  fördern  die  Ausscheidungen  in  den  Nieren, 
Schleimhäuten  und  der  Haut.  Daß  ihre  Menge 
nicht  unerheblich  ist ,    ersieht    man    aus    der  Tat- 


230 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i; 


Sache,  daß  die  Urne  des  im  Krematorium  ver- 
brannten Erwachsenen  nicht  weniger  als  3 — 4  kg 
Asche  birgt. 

Keineswegs  darf  aber  mit  diesen  Salzen  die 
fundamentale  Bewertung  des  Eiweißes,  wie  es  die 
Diskussion  letzthin  vielfach  hinsichtlich  des  er- 
forderlichen Proteinquantums  pro  Tag  auf  Grund 
von  Veröffentlichungen  Chittendens  und 
Hindhedes  glauben  machen  will,  herabgesetzt 
werden,  da  sich  das  Wachstum ,  die  Leistungs- 
fähigkeit in  schwerer  Arbeit  und  die  Anregung 
zur  Milchproduktion  in  erster  Linie  an  ihr  Vor- 
handensein knüpft  und  neuerdings  herausgestellt 
hat,  daß  Gänse  bei  bloßem  Gras-  und  Kartoffel- 
futter ihre  Befruchtungsfähigkeit  einbüßen  und 
nur  10  "/o  der  bebrüteten  Eier  junge,  lebensfähige 
Tiere  ausschlüpfen  la>sen,  während  bei  Zufuhr 
von  Getreide,  Kleie  und  Kartoffeln  aus  20  Eiern 
18 — 19  Junge  hervorgingen  (Gramm  es). 

Auch  mit  der  physiologischen  Brennwerltheorie 
war  die  Ernährungsfiage  keineswegs  erschöpft.  In 
den  letzten  Jahren  reihten  sich  die  organischen 
„Nebennährstoffe"  oder  „akzessorischen  Nährsioffe", 
wie  sie  Hofmeister  nennt,  als  Nova  an,  deren 
Charakter  und  chemische  Zusammensetzung  nur 
zum  Teil  bisher  genauer  bekannt  wurde.  Das  sind 
die  lebenswichtigen  Vitamine  nach  Casimir 
Funk,  zyklische  Aminosäuren  wie  die  längst  be- 
kannten Tyrosin  und  Tryptophan,  deren  Mangel 
in  der  Kost  oder  im  Futter  der  Tiere  die  Vita 
gefährden  und  Avitaminosen,  bestimmte  Krank- 
heiten oder  Krankheitszeichen,  hervorrufen.  Das 
Fehlen  beruht  nach  Funk's  Forschungen  in 
falscher  Zubereitung  der  Speisen  oder  kulinarischen 
Mißbräuchen  bei  der  Herrichtung  der  Gemüse,  dem 
üblichen  Trocknen  des  Obstes,  dem  zu  lange  aus- 
gedehnten Sterilisieren  der  Milch,  dem  Entschälen 
des  Reis  und  Mais  und  dem  Entziehen  der  Kleie 
bei  der  Brotfabrikation,  weil  derartige  Methoden 
und  Gepflogenheiten  die  Vitamine  ausschalten  oder 
vernichten. 

Zu  diesen  Erkrankungen  gehört  in  erster  Reihe 
Beriberi,  jene  bei  den  Reisessern  in  Perconte 
längst  bekannte  Nervenstörung,  die  mit  Lähmung 
der  Glieder  und  Abzehrung  beginnt  und  mit  dem 
Tode  endigt,  sobald  geschälter  Reis  längere  Zeit 
hindurch  als  ausschließliche  Nahrung  dient;  ähn- 
liche Beobachtungen  waren  bereits  bei  uns  an 
Kindern  gemacht,  die  mit  Mehlsuppen  aufgefüttert 
waren  und  abmagerten,  dabei  an  Nervenleiden  mit 
Wassersucht  und  Herzerweiterung  erkrankten.  Nicht 
bloß  Völkerschaften  litten  an  Beriberi,  auch  die 
Bewohner  von  Segelschiffen,  einzelne  Inselbewohner 
der  Südsee  und  in  antarktische  Gegenden  ver- 
schlagene Expeditionsteilnehmer.  Auch  Tiere 
blieben  davon  nicht  verschont.  Ähnlich  verhält 
es  sich  mit  der  Pellagra,  einer  nicht  bloß  die 
Haut,  sondern  auch  die  Verdauungsorgane  und 
das  zentrale  Nervensystem  befallenden  Krankheit. 
Das  Verfahren,  den  Mais,  der  den  Italienern  die 
bekannte  und  gern  genossene  Polenta  liefert,  in 
Dampfmühlen    abzuschleifen  und    nur    das  nackte 


Korn  zu  genießen,  führte  zu  einer  Mortalität  von 
20 — 25  "/o  in  Nordamerika  und  zu  4."!^  in  Italien 
und  Ägypten.  In  Rhodesien  wurden  sogar  Epi- 
demien und  im  Kaplande  Pellagra  mit  Skorbut 
bei  Mais-  und  Kartoffclkost  beobachtet.  Auch  die 
Barlow'sche  Kinderkrankheit  oder  der  kindliche 
Skorbut,  welcher  mit  Blutungen  unter  die 
Knochenhaut  und  Schwellung  der  Gelenke  ver- 
läuft und  früher  nicht  so  ganz  selten  bei  der  da- 
mals geübten  künstlichen  Ernährung  mit  lange 
gekochter  Kuhmilch  konstatiert  wurde,  beruht 
auf  der  Sterilisation  oder  Mehlnahrung.  Nicht 
anders  steht  es  mit  dem  Skorbut,  der  jetzt 
immer  noch  vereinzelt  bei  uns  vorkommt  und 
früher  die  Segelschififer  und  Forscher  auf  Expe- 
ditionen in  entlegene  Regionen  aus  Mangel  an 
frischen  Gemüsen,  frischem  Fleisch  und  P'rüchten 
arg  heimsuchte.  Nur  die  österreichischen  geo- 
graphischen Forschungsreisenden  im  P>anz-Josephs- 
land  blieben  verschont,  weil  es  ihnen  gelang, 
frisches  Gemüse  im  Schiffsraum  fortzuzüchten. 
Wahrscheinlich,  aber  nicht  erwiesen,  also  noch 
Hypoihe-e  ist,  daß  Rachitis  oder  die  englisehe 
Kindeikrankheit  und  Knochenerweichung  im 
späteren  Alter,  Sprue,  Stizziekte  und  Lampiekte 
der  Rinder  auf  die  gleiche  Ursache  zurückgeführt 
werden  müssen. 

Die  Vitamine  sind  nicht  bloß  in  frischen  Ge- 
müsen und  Obst,  in  der  Reis-  und  Maiskleie  oder 
Roggenschale,  sondern  auch  im  frischen  Fleisch, 
in  der  frischen  Kartoffel,  im  Zitronensaft,  in  der 
Bierhefe  und  im  Lebertran  vorzufinden,  so  daß  es 
sich  jetzt  leicht  erklärt,  daß  sie  längst  als  Heil- 
mittel im  Volke  und  in  der  Heikunde  Anwendung 
fanden.  Wenn  man  sie  als  „akzessorische  Nähr- 
stoffe" bezeichnet,  so  soll  damit  nichts  anderes 
gesagt  sein,  als  daß  sie  neben  dem  unentbehr- 
lichen Eiweiß,  Fett,  Kohlenhydraten  und  Salzen 
lebenswichtige  Substanzen  repräsentieren  und  daß 
nicht  bloß  Körperersatz  und  Energiespenden, 
sondern  auch  Vitaminegehalt  die  Prinzipien  unser 
Ernährung  zu  leiten  haben. 

Bisher  haben  wir  die  P'olgen  kennen  gelernt, 
welche  das  längere  Fehlen  der  Vitamine  zu 
unserm  Nachteile  hervorzurufen  imstande  ist.  Was 
wissen  wir  über  ihre  Natur  und  Konstitution? 
Sind  es  Fermente  oder  Katalasen,  die  Prozesse 
im  Körper  anregen  und  deren  Wirkungen  wir 
verfolgen  können,  ohne  daß  wir  sie  den  Eiweiß- 
stoffen oder  ihnen  ähnlichen  Stoffen  zurechnen 
können?  Rufen  sie  gar  Vergiftungen  hervor,  die 
sich  wie  Nikotin  oder  Alkohol  oder  bakterielle 
Toxine  bald  schnell,  bald  nach  und  nach  Geltung 
verschaffen?  Die  Vitaminelehre  bedarf  noch 
mancher  Klärung  in  der  Zukunft,  aber  der  experi- 
mentelle Beweis  für  ihre  Existenz  ist  längst  er- 
bracht, wie  wir  bald  sehen  werden. 

Vitamine  sind,  obgleich  von  drei  Arten  bei 
der  Beriberi,  sonst  nur  von  Skorbut  oder  Pellagra- 
vitaminen die  Rede  ist,  kompliziert  gebaut, 
kristalhne  Körper,  schwer  darstellbar  und  nur 
in     geringer    Menge    vertreten.      Man     hat     mit 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


231 


AlI<ohoI  Extraktionsversuche  angesteUt,  mit  Phos- 
phorwolframsäure Niederschläge,  mit  Silbernilrate 
und  Baryt  Produkte  gewonnen,  ohne  sie  chemisch 
genau  analysieren  zu  können.  Zusatz  von  Säure 
und  Alkalien  zerstört  sie  wie  große  Hitze  und 
Austrocknen.  Die  Substanzen  sind  sehr  thermo- 
labil  und  mit  dem  Verfahren  von  Kjeldahl  nur 
zum  geringen  Teile  frei  zu  machen.  Aus  hunderten 
von  Kilo  Ausgangsmaterial  ließen  sich  nur  Dezi- 
gramme gewinnen ;  bei  dem  Auskristallisieren 
schwindet  die  Wirksamkeit.  In  pharmazeutischer 
Hinsicht  bleiben  sie  indifferent;  doch  weiß  man, 
daß  sie  für  die  Nervenernährung  absolut  not- 
wendig sind. 

Mehr  als  alle  Theorien  und  Hypothesen  be- 
weisen außer  den  bereits  oben  besprochenen 
Krankheitsarten  die  experimentellen  Versuche  an 
Menschen  und  Tieren.  Caspar i  und  Mozy- 
kowski  verzehrten  220  Tage  lang  polierten  Reis 
und  erkrankten  in  evidenter  Weise  an  den  Zeichen 
der  Beriberi,  dabei  beschuldigten  sie  den  Eiweiß- 
zerfall und  Vergiftung  als  Ursache  ihrer  Erkrankung; 
Reiskleie  heilte  und  befreite  sie  von  ihren  Be- 
schwerden. Weil  und  Mouriquand  ernährten 
Tauben  mit  Reis,  Gerste,  Roggen  und  Mais,  wo- 
bei sich  die  Tiere  wohl  befanden;  sobald  sie  die 
Zerealien  enthülst  gaben,  folgten  polyneurotische, 
also  nervöse  Störungen  und  der  Tod;  wenn  die 
Körner  nicht  bloß  enthülst,  sondern  noch  sterilisiert 
verfüttert  werden,  trat  der  Tod  schneller  ein. 
Futter  mit  nur  teilweise  entschälter  Gerste  er- 
hält die  Tiere  am  Leben.  Andere  Beobachter 
fütterten  Katzen  allein  mit  rohem  oder  gefrorenem 
Fleische  und  bemerkten  keine  Änderung;  dagegen 
starben  die  Tiere  bei  der  Ernährung  mit  aus- 
schließlich sterilisiertem  Fleische.  Gab  man  Tauben 
enthülstes  Getreidekorn,  so  verloren  sie  rasch  die 
Freßlust,  welche  sich  indessen  wieder  einstellte, 
wenn  natürliches  Korn  hinzugesetzt  wurde; 
während  das  P\itter  aus  rohem,  gefrorenem  und 
und  gesalzenem  F"leische  keinerlei  Störungen  be- 
dingte,   starben    sie  bei    lediglicher  Fütterung  mit 


gekochtem.  Eijkman  erlebte  schon  lange  Jahre 
vorher,  ehe  Funk  1914  mit  einer  größeren  Arbeit 
hervortrat,  bei  Hühnern,  denen  polierter  Reis, 
dem  die  Kleie  und  das  Silberhäutchen  fehlten, 
Erkrankung  mit  Abmagerung,  Beinlähmung, 
Schwellungen  und  Atemnot,  die  schließlich  mit 
dem  Tode  endigte.  Wiederum  heilten  Fräser 
und  Stanton  Beriberi  mit  gedämpftem  Reis, 
auch  Skorbut  und  Pellagra  bekämptten  sie  mit 
gleichem  Erfolge  auf  diese  Weise.  Funk  be- 
seitigte Beriberi  durch  Vitamineeinspritzungen. 
Hü  SS  ig  stellte  aus  Reiskleie  ein  Heilpräi)arat 
Oryzan  her  und  Susuki  benutzt  das  aus  Reis- 
kleie fällbare  Oryzanin  zu  Heilzwecken.  Natür- 
licher Reis,  F'leisch,  Obst  und  Gemüse  brachten 
Beriberi  zum  Schwinden,  wenn  der  Körper  des 
Patienten  nicht  bereits  zu  sehr  entkräftigt  war. 

Aus  diesen  Beobachtungen,  deren  Zahl  sich 
leicht  erhöhen  läßt,  ergibt  sich  für  uns  die  Nutz- 
anwendung, daß  man  das  Vollkornbrot  an  Stelle 
des  We  ßbrotes,  das  der  Städter  liebt  und  dem 
Landbrot  vorzieht,  ebenso  wie  den  Naturreis  und 
Naturmais  wieder  zur  alleinigen  Geltung  bringen 
muß,  daß  Milch  nicht  minutenlang  über  100"  C 
erhitzt  werden  darf,  wenn  sie  als  Säuglingsnahrung 
dienen  soll,  daß  ferner  der  Wasserauszug,  in  dem 
das  Gemüse  gekocht  war,  nicht  fortzugießen  ist, 
die  Kartoffel  in  der  Schale  reich  an  Vitaminen 
bleibt  und  Trocknen  des  Obstes  sie  zerstört. 

Nicht  zu  verwechseln  ist  mit  der  Vitaminen- 
lehre der  Vitalismus,  bei  dessen  Namen  man 
an  die  alte  Lehre  von  „Kraft  und  Stoff"  oder  von 
Materie  und  Geist  denkt,  oder  von  den  extremen 
Verfechtern  desselben  auf  eine  psychische  Lei- 
tung aller  Vorgänge  in  der  Natur  hingewiesen 
wird.  Mit  den  Lebenskräften  läßt  sich  nichts  an- 
fangen, mag  man  Anhänger  einer  mechanistischen 
Lebensentwicklung  sein  oder  mehr  zur  biologischen 
Theorie,  der  Plntelechie,  zuneigen,  die  dem  Stoffe 
keine  psychischen  Eigenschaften,  aber  der  orga- 
nischen Entwicklung  eine  gewisse  Gesetzmäßigkeit 
beilegt,     (g.'c.) 


Kleinere  Mitteilungen 

Eine      prähistorische     Operation.        Anläßlich 


einer  Studienreise  nach  Bern  hatte  ich  Gelegen- 
heit im  historischen  Museum  der  Stadt  einen 
seltenen  prähistorischen  Fund  zu  sehen.  Er 
betraf  nämlich  zwei  menschliche  Schädel  mit 
Trepanationsöffnungen.  Unter  Trepanation  ver- 
steht man  in  der  Chirurgie  die  Eröffnung  einer 
von  Knochen  gebildeten  Körperhöhle,  um  einen 
Krankheitsherd  der  Behandlung  zugänglich  zu 
machen.  Bei  Haustieren  kommt  hauptsächlich 
die  Kieferhöhle  in  Betracht,  während  beim 
Menschen  auf  diese  Weise  die  Schädelhöhle 
häufig  eröffnet  werden  muß.  Um  eine  solche 
Operation   handelt  es   sich   auch  im  vorliegenden 


Falle.  Die  besagten  Schädel  stammen  aus  dem 
an  Funden  reichen  Gräberfeld  bei  Münsingen, 
einem  Orte  unweit  von  Bern.  Der  Liebens- 
würdigkeit des  Direktors  des  Museums ,  Herrn 
Dr.  Zell  er  verdanke  ich  beistehendes  Bild,  als 
auch  die  Erlaubnis  den  seltenen  P'und  einer  ge- 
naueren Besichtigung  unterziehen  zu  dürfen. 

Der  eine  Schädel,  aus  dem  Grab  Nr.  152 
stammend ,  weist  in  der  linken  Parietalgegend 
eine  elliptische  Öffnung,  besagte  Operaüons- 
öffnung  auf,  die  nach  rückwärts  in  eine  Spalte 
ausläuft.  Die  vordere  Grenze  wird  durch  die 
Kronennaht  gebildet.  Der  eine  Durchmesser 
beträgt  5  cm,    der  andere  nur  4  cm;    es    handelt 


23- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


sich  also  nicht  um  ein  kreisförmiges  Loch,  wie 
es  mit  Hilfe  der  modernen  Trepanationsinstrumente 
gesetzt  werden  kann.  Der  zweite  Schädel  (Grab 
Nr.  i6)  zeigt  zwei,  symmetrisch  liegende  Öffnungen 
in  den  Scheitelbeinen.  Die  linke  Lücke  ist  ge- 
radezu kreisförmig  und  was  besonders  interessant 
—    die    Ränder    nehmen   gegen    die   Öffnung    hin 


an  Dicke  ab ,  was  deutlich  erkennen  läßt ,  daß 
diese  Öffnungen  durchgerieben  und  nicht  etwa 
gesägt  oder  geschlagen  sind,  sonst  müßten  die 
Ränder  die  ganze  Dicke  des  Knochens  zeigen, 
wie  dies  beim  Aussägen  eines  Knochenstückes 
mit  dem  Trepan  tatsächlich  der  Fall  ist  und  wie 
es  auch  der  Fall  sein  müßte,  wenn  die  Öffnung 
mit  dem  Meißel  gesetzt  worden  wäre.  Außerdem 
würde  bei  letzterer  Eröffnungsmethode  auch  ein 
ungleichmäßiger  splitteriger  Rand  zu  beobachten 
sein.  Die  linke  Öffnung  des  zweiten  (von  rück- 
wärts gesehenen)  Schädels  weist  einen  Durch- 
messer von  3  cm  auf.  Auch  das  rechte  Loch  ist 
ziemlich  kreisrund,  sein  Durchmesser  beträgt  etwa 
4  cm. 

Bei  Betrachtung  besagten  Fundes  drängt  sich 
die  Frage  auf,  womit  der  vorgeschichtliche 
Operateur  die  starke  Schädeldccke  des  Menschen 
durchsetzt  haben  mag,  da  ihm  doch  die  not- 
wendigen Instrumente,  wie  Meißel  und  Trepan, 
fehlten.  Es  liegt  nahe  anzunehmen,  daß  zur 
Ausführung  der  Operation  Sand  und  Stein  ge- 
dient haben,  solcher  Art,  daß  man  mit  Stein- 
werkzeugen den  Knochen  durcharbeitete,  wobei 
der  Sand  zur  Erhöhung  der  Reibung  zwischen 
Knochen  und  Stein  gebracht  wurde.  Wenigstens 
spricht  die  Beschaffenheit  des  Randes  für  diese 
Art  der  Eröffnung  der  Schädelhöhle.  Man  schliff 
also  das  Schädeldach  gleichsam  durch.  Das 
Grab  152  enthielt  außer  dem  Schädel  auch  noch 
das  zugehörige  Skelet,  das  aber  ziemlich  mürbe 
war.  Am  Schädel  fanden  sich  zwei  Bronzefibeln, 
an  einem  P"'uß  eine  Rosette  aus  rotem  Email. 
Diese  Schmuckgegenstände,  sowie  die  Bestattung, 
sprechen  gegen  die  Annahme,  daß  es  sich  um 
Mord  oder  Anthropophagie  gehandelt  habe,  die 
Deutung  auf  Operation  also  hinfällig  wäre.  Unter 
solchen  Umständen  hätte  man  die  Getöteten  ja 
nicht  sorgfältig  beerdigt  und  was  die  Anthropo- 
phagie betrifft,  so  hätte  man  sich  zur  Gewinnung 
des  Gehirns  nicht  erst  bemüht  Löcher  zu  schaben, 


sondern  wäre  vorgegangen,  wie  man  es  bei  den 
Tierköpfen  zu  tun  gewohnt  war,  man  hätte  den 
Schädel  einfach  zerschlagen.  Ebenso  ist  die 
Vermutung,  daß  es  sich  um  einen  Schädelbruch 
handeln  würde,  aufzugeben,  da  bei  diesem  der 
Rand  des  Loches  nicht  rund  sein  könnte,  sondern 
scharfe  Zacken  aufweisen  müßte. 

Mit  Ausnahme  des  Schädels  aus  dem 
Grabe  152  weisen  die  Trepanations- 
öffnungen keine  Symptome  von  Heilung 
\(Kallusbildung)  auf,  ein  Zeichen,  daß  der 
so  behandelte  Patient  gleich  nach  der 
Operation  zugrunde  ging.  Nur  der 
Schädel  aus  dem  Grabe  Nr.  152  spricht 
dafür,  daß  sein  Besitzer  erst  einige  Zeit 
nach  dem  schweren  Eingriff  verschied; 
die  Ränder  der  Öffnung  weisen  nämlich 
in  diesem  Falle  nicht  mehr  die  Keilform 
(nach  der  Öffnung  hin  dünner  werdend) 
auf,  als  Folge  eines  geringen  Knochen- 
zuwachses, wie  dies  bei  Knochenwunden  zu  be- 
obachten ist.  Durch  diese  Kallusbildung  haben 
sich  die  Ränder  verdickt ,  wodurch  das  typische 
Bild  der  prähistorischen  Trepanationsöffnung  zum 
Verschwinden  gebracht  wurde.  Mit  diesen  inter- 
essanten Funden  wurden  auch  Bronzegegenstände 
gehoben,  als  Beweis,  daß  die  Schädel  aus  der 
Bronzezeit  stammen.  Doch  sollen  bereits  in  der 
Steinzeit  solche  Emgriffe  vorgenommen  worden 
sein.  Schließlich  interessiert  noch,  bei  welchen 
Krankheiten  die  Operation  ausgeführt  worden 
sein  mag.  Einen  Fingerzeig  geben  uns  bezüglich 
dieser  Frage  die  Naturvölker  unserer  Tage.  Auch 
bei  ihnen  wird  die  Trepanation  vorgenommen 
und  zwar  gegen  Epilepsie,  Irrsinn  und  vor  allem 
aus  abergläubischen  Gründen.  Letztere  werden 
in  vorgeschichtlicher  Zeit  die  Hauptveranlassung 
gegeben  haben,  da  der  Urmensch  jenen  hohen 
Grad  medizinischen  Wissens,  wie  es  gerade  die 
Trepanation  voraussetzt,  doch  nicht  innehatte. 

L.  R. 

Zur  Frage  der  Genese  von  Spirula  und 
anderer  Tintenfische.  In  den  australischen  Meeren 
lebt  bekanntlich  die  merkwürdige  Tintenfisch- 
Gattung  Spirula,  deren  posthornartig  gewundenes 
Gehäuse  teils  ganz  vom  Mantel  verborgen  im 
hinteren  Teile  des  Rumpfes  liegt.  Das  Tier 
nimmt  unter  den  heutigen  Vertretern  der  Dibran- 
chiata  eine  durchaus  gesonderte  und  eigentüm- 
liche Stellung  ein  und  während  die  Schalen  des- 
selben in  den  naturhistorischen  Sammlungen 
mannigfach  vorhanden  sind,  gehören  lebende 
Exemplare  zu  den  größten  Seltenheiten.  So 
fanden  die  Challenger-  und  die  amerikanische 
Blake-Expedition  je  ein  Tier  auf,  auch  der 
deutschen  Expedition  der  Valdivia  wurde  Ende 
der  neunziger  Jahre  der  gleiche  Erfolg  im  Süd- 
Xias-Kanal  bei  der  Insel  Sumatra  beschieden. 

Mag  auch  die  systematische  Stellung  der 
Spirula    in    die    Ordnung    der    Dibranchiata   oder 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


233 


Zweikiemer  begründet  sein,  so  ist  doch  heutzu- 
tage keineswegs  die  Frage  nach  der  Abstammung 
der  gekammerten,  von  einem  ventralen  Sipho 
durchzogenen  Schale  endgültig  gelöst  und  die 
Meinungen  der  Naturforscher  gehen  darüber  sehr 
auseinander.  Die  nachfolgenden  Zeilen  mögen 
daher  etwas  zur  mutmaßlichen  Deutung  bei- 
tragen. 

In  den  paläontologischen  Handbüchern  findet 
man  die  Spiruliden  als  zu  den  Belemnoidea  oder 
Belemniten-artigen  Tieren  gehörig  und  die  beiden 
Gattungen  Spirulirostra  und  Spirulirostrina  als 
Verbindungsglieder  angegeben.  Diese  letzteren 
haben  aber  trotz  anfänglich  spiralig  geformter 
Schale  ein  untrügliches  Rostrum,  welches  dem- 
jenigen der  Belemniten  als  analog  zu  betrachten 
ist.  Nun  fehlt  aber  der  Spirula-Schale  jede  Spur 
eines  Rostrums  und  namentlich  des  für  voll- 
ständige Belemniten  typischen  Proostracums,  als 
dessen  Äquivalent  man  den  heutigen  Sepien-Schulp 
ansehen  kann.  Der  Mangel  jener  (irgane,  die 
evolute,  sicii  mit  den  einzelnen  Windungen  nicht 
berührende  Schale,  wie  sie  in  typischer  Weise  bei 
den  in  der  Kreide  aussterbenden  Endgliedern  der 
Ammoniten  auftritt,  sowie  der  interne,  ventral 
gelegene  Sipho  derselben  lassen  daher  die  Ver- 
mutung zu,  daß  wir  bei  der  Spirula  es  vielleicht 
mit  einem  ammonitenartigen  Tiere  zu  tun  haben. 
Diese  Deutung  ist  keineswegs  außer  acht  zu  lassen, 
denn  sie  würde  unzweifelhaft  die  Dibranchiaten- 
Natur  wenigstens  eines  Teiles  der  früheren 
Ammoniten  beweisen.  Bekanntlich  hat  man 
letztere  nach  Analogie  der  gekammerten  Nautilus- 
Schale  zu  den  Tetrabranchiata  oder  Vierkiemern 
gestellt,  aber  was  wissen  wir  denn  eigentlich  von 
dem  einstigen  Ammoniten-Tiere  selbst,  da  ja  bis 
heute  kein  lebender  Vertreter  desselben  zutage 
gefördert  wurde,  selbst  nicht  durch  Tiefsee- 
Hxpediiionen,  welche  ja  schon  so  manchen  Über- 
rest längst  vergangener  geologischer  Zeitperioden 
auffanden! 

Schon  allein  der  gewichtige  Umstand ,  daß 
der  Sipho-  oder  Atemstrang  des  Tieres  stets  eine 
mehr  oder  weniger  zentrale  Lage  in  der  Nantiius- 
Schale  einnimmt,  spricht  gegen  die  nähere  Ver- 
wandschaft mit  den  Ainmoniten.  Unter  den 
letzteren  finden  wir  nur  solche  Formen,  deren 
Sipho  entweder  intern,  also  ventral(IntraSiphoniata) 
oder  extern,  resp.  dorsal  (Extra-Siphoniata)  ge- 
legen ist.  Zu  den  ersteren  gehören  die  schon 
im  Ober -Devon  au.sgestorbenen  Clymenidae,  zu 
den  letzteren  die  bis  in  die  Kreide- Periode 
reichenden  Ammoniten  s.  str.  nebst  den  ihnen  im 
Alter  vorausgegangenen  Goniatiten.  Von  allen 
fossilen  Cephalopnden  mit  spiral  gewundener 
Schale  teilen  die  Clymeniden  allein  den  ventralen 
Sipho  mit  Spirula.  Wir  dürfen  daher  recht  gut 
die  letztere  als  den  noch  letzten  lebenden 
atavistischen  Vertreter  der  richtigen 
Clymeniden  oder  doch  wenigstens  Clymenien- 
artiger  Abkömmlinge,  welche  eventuell  die 
fehlenden  Glieder  (missing  links  Darwin's)  bilden 


und  noch  durch  paläontologische  Forschung  ent- 
deckt werden  können,  ansehen ! 

Nach  dem  vorher  Angedeuteten  behaupte  ich 
natürlich  nicht,  daß  auch  die  echten  Ammoniten, 
welche  mit  den  eigentlichen  Clymeniden  des 
extern  gelegenen  Sipho  halber  wahrscheinlich 
nichts  zu  tun  haben,  Dibranchiaten  gewesen  sein 
müssen.  Es  ist  als  sicher  anzunehmen,  daß  sämt- 
liche heute  lebenden  Tintenfische,  mag  auch  die 
ursprüngliche  Schale  derselben  durch  Rückbildung 
verloren  gegangen  sein,  paläozoischen  Vorfahren 
und  zwar  den  Orthoceratiden,  bei  welchen  der 
Sipho  mehr  oder  weniger  zentral,  auch  rand- 
ständig in  der  geraden  oder  gekrümmten  Schale 
lag,  ihren  Ursprung  verdanken.  Von  der  letzt- 
genannten Familie  haben  sich  nun  wahrscheinlich 
einesteils  die  Nautiliden  samt  den  echten  Ammo- 
niten als  Vierkiemer,  anderenteils  die  Belemniten, 
als  deren  Nachkommen  die  heutigen  Sepien  zu 
betrachten  sind  und  die  übrigen  Tintenfische,  allen- 
falls auch  die  Clymeniden  nebst  ihren  mutmaß- 
lichen Abkömmlingen,  den  Spiruliden,  als  Zwei- 
kiemer divergierend  abgespalten. 

Was  die  in  heutigen  Meeren  lebenden  Dibran- 
chiaten im  speziellen  anbelangt,  so  haben  sich 
dieselben  unzweifelhaft  aus  belemnitenartigen 
Geschöpfen  entwickelt.  Der  von  den  Weich- 
teilen des  Mantels  umschlossene  und  auf  der 
Rückenseite  gelegene  Schulp  der  Sepien  und  ver- 
wandter Gattungen,  ist  wie  schon  vorhin  ange- 
deutet, das  analoge  Organ  des  einstigen  Belem- 
nitenProostracums.  Man  beobachtet  in  demselben 
noch  den  in  der  Endspitze  angedeuteten  Rest  des 
Rostrums  oder  der  Scheide ,  das  Phragmocon 
ist  anscheinend  infolge  von  Rückbildung  gänzlich 
verloren  gegangen,  denn  ein  demselben  analoges 
Organ  läßt  sich  nicht  mehr  nachweisen  I 

Die  heutige  Sepia  stammt  wahrscheinlich  in 
direkter  Linie  von  der  ein  unvollkommen  aus- 
gebildetes Phragmocon  besitzenden  eozänen  Belem- 
nosepia  ab.  Die  letztere  tritt  durch  die  flügel- 
artigen .Anfänge  des  Rostrums  in  nahe  Beziehung 
zu  der  neogenen  Spirulirostrina,  welche  sich  wieder- 
um auf  das  Engste  an  die  miozäne  Spirulirostra 
anschließt. 

In  dem  Sepien- Schulpe  sehen  wir  somit  nur 
das  rückgebildete  Organ  von  einstigen  mit  ge- 
kammerter  Schale  ausgerüsteter  .'Ahnen.  Wie  sich 
im  Laufe  der  Generationen  so  manches  ändert, 
das  Tier  sich  veränderten  Lebensbedingungen 
anpaßt,  so  mag  auch  die  Funktion  der  Schale 
und  letztere  somit  selbst  überflüssig  geworden 
sein  und  auf  diese  Weise  können  wir  uns  wohl 
vorstellen,  warum  so  viele  noch  lebende  Dibran- 
chiaten eine  solche  nicht  mehr  aufweisen.  Unter 
den  Belemniten  finden  sich  Riesenformen  von 
einem  Meter  und  darüber,  ich  erinnere  an  den 
Belemnites  giganteus  des  Doggers.  Gewiß  hat 
auch  wohl  das  immerhin  beträchtliche  Gewicht 
eines  solchen  „Rückenschulpes"  die  freie  Beweg- 
lichkeit des  Tieres  in  hohem  Maße  eingeschränkt 
und  so  läßt   sich    ebenfalls    erklären,    warum    der 


234 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


heutige  Sepien-Schulp  von  einem  integrierenden 
sich  nacli  und  nach  zu  einem  nur  akzessorischen 
Organe  umgestaltete,  als  welches  es  gewiß  zu 
betrachten  ist.  Schon  die  Reduktion  des  Rostrums 
und  des  Phragmocons  liefern  uns  untrügliche  Be- 
weise dafür,  daß  der  Sepien-Schulp  jede  funktionelle 
Bedeutung  verloren  hat,  denn  gewiß  diente  der 
Phragmocon  des  einstigen  Belemniten  als  hydro- 
statisches Organ,  welches  wohl  dem  Tiere  er- 
möglichte infolge  der  vermehrten  Leichtigkeit 
gegenüber  des  ihm  umgebenden  Mediums  sich 
an  der  Oberfläche  des  Wassers  schwimmend  zu 
erhalten.  Das  Rostrum  oder  Endstachel  des 
Belemniten  deutete  zuerst  Ouenstedt  in  geist- 
reicher Weise  als  ein  dem  rückwärts  schwimmenden 
Tiere  förderliches  und  zwar  die  Stoßkraft  der 
Wellen  brechendes  Organ,  zugleich  mag  es  zum 
Schutze  des  jedenfalls  zarten  und  empfindlichen 
Phragmocons  gedient  haben. 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  gibt  sich  schon 
frühzeitig  das  Bestreben  der  Natur  kund  die  ur- 
sprünglich zylindrisch-konische  Belemniien-Schale 
zu  einem  möglichst  leichten  Organe  umzugestalten 
und  es  ist  daher  in  Erwägung  zu  ziehen  ob  nicht 
in  den  ganz  unvermittelt  auftretenden  dorsoventral 
abgeplatteten   Dilataten    des   Neocoms    der    erste 


Anstoß  dazu  gegeben  ist,  das  bleibt  freilich  eine 
noch  offene  Frage. 

Die  Genese  der  Octopoda  oder  Achtfüßer  ist 
nach  den  wenigen  fossilen  Resten,  welche  erhallen 
geblieben  sind,  schwer  zu  erklären.  Der  heute 
im  Mittelmeere  lebende  Octopus  vulgaris  nebst 
verwandten  Arten  ist  bekanntlich  nackt  und  ohne 
jegliches  Schalen  Organ,  wahrscheinlich  haben 
auch  die  Vorfahren  desselben  keine  erhaltungs- 
fähigen Hartteile  besessen  und  so  hat  sich  jede 
vorweltliche  Spur  von  ihnen  verwischt.  Von  der 
Argonauta- Schale,  welche  mit  derjenigen  aller 
übrigen  Cephalopoden  in  keine  Übereinstimmung 
zu  bringen  ist  und  welche  nur  dem  Weibchen 
als  ein  angeblich  der  Eierablage  dienendes  Organ 
eigen  ist,  kennt  man  versteinerte  Reste  nur 
aus  dem  Pliozän  Ober-Italiens,  was  um  so  weniger 
verwunderlich  ist,  da  eine  große  Anzahl  heute  im 
Mittelmeere  lebender  Mollusken,  deren  beginnender 
Fossilisations  Prozeß  sich  quasi  täglich  vor  unseren 
Augen  abspielt,  in  jener  F'ormation  sich  vor- 
findet. 

Weitere  paläontologische  und  anatomische 
Forschung  mögen  vereint  zur  Lösung  mancher 
der  in  diesem  Aufsatze  erörterten  Problematica 
beitragen!  Leopold  H.  Epstein. 


Einzelberichte. 


Geophysik.  Zur  Bestimmung  der  Höhe  des 
Nordlichts  bedienten  sich  L.  Vegard  und 
O.  Krogness  am  Haidde  Observatorium  im  nörd- 
lichen Norwegen  photographischer  Aufnahmen  von 
zwei  Standpunkten  aus,  die  12  bis  40  km  von- 
einander entfernt  sind  (Ann.  d.  Phys.  51,  495,  1916). 
Aus  der  Verschiedenheit  der  Lage  identifizierbarer 
Punkte  der  Erscheinung  relativ  zu  den  Sternen  bei 
gleichzeitigen  Aufnahmen  läßt  sich  die  Parallaxe 
und  damit  die  Höhe  berechnen.  Die  Lage 
der  oberen  Grenze  des  Nordlichts  ist  nicht  sicher 
zu  bestimmen,  da  die  Empfindlichkeit  der  Platte 
nicht  ausreicht,  um  die  allmählich  nach  oben  ab- 
nehmende Helligkeit  festzuhalten.  Es  ergab  sich 
eine  obere  Reichweite  von  etwa  100  bis  330  km. 
Die  meist  scharf  ausgeprägte  untere  Grenze  läßt 
sich  mit  einer  Genauigkeit  von  i  bis  lO^  fest- 
stellen. Höhen  von  weniger  als  85  km  wurden 
nicht  beobacintet.  Bei  der  Verteilung  auf  die  ver- 
schiedenen Höhenstufen  wurden  zwei  deutlich  aus- 
geprägte Maxima  bei  100  und  bei  106  km  ge- 
funden. Sie  treten  nicht  nur  im  Gesamtmittel 
auf,  sondern  auch  bei  jeder  der  unterschiedenen 
3  Hauptklassen:  diffusen  Bögen,  Draperien  und 
draperieförmigen  Bögen;  sie  sind  also  offenbar 
reell.  Daraus  ist  zu  schließen,  daß  ein  großer 
Teil  von  kosmischen  Strahlen  aus  zwei  Gruppen 
besteht,  wovon  jede  eine  ganz  bestimmte  Durch- 
dringungsfähigkeit     besitzt;      und     da     die     drei 


häufigsten  Nordlichtformen  dieselben  Maxima 
zeigen,  sind  diese  Formen  durch  dieselbe 
Strahlungsart  verursacht.  Dies  ist  übrigens  auch 
aus  anderen  Gründen  wahrscheinlich. 

Scholich. 

Zoologie.  Der  Wildstand  im  Bialowieser  Urwald. 
Der  Bialowieser  Forst  hat  von  je  als  eines  der  be- 
rühmtesten Jagdreviere  Europas  gegolten.  Es  hielten 
denn  auch  hier  früher  die  Polenkönige  und  später 
die  russischen  Zaren  ihre  großen  Hofjagden  ab,  zu 
denen  sie  sich  viel  erlauchte  Gäste  einluden.  Außer 
dem  Wisent,  der  sich  hier,  als  dem  fast  einzigen 
Gebiete  in  ganz  Europa,  auf  freier  Wildbahn  bis 
in  unsere  Tage  zu  hallen  vermochte,  kommt  in 
den  sumpfigen  Urwaldteilen  auch  der  Elch- 
hirsch noch  in  stattlichen  Exemplaren  vor. 
Ebenso  ist  an  Raub  wild  kein  Mangel,  Bär  und 
Wolf,  Lux  und  Wildkatze,  um  nur  die  jagdbarsten 
Vertreter  zu  nennen,  bevölkern  in  großer  Zahl 
die  ausgedehnten  Walddickichte.  Daneben  ist 
endlich  auch  das  Nutzwild,  Rothirsch,  Reh 
und  Wildschwein,  reichlich  vorhanden.  In  diesem 
idealen  Jagdreviere  ist,  wie  Wall  her  Günther- 
Karlsruhe  im, .Deutschen  Jäger"  (39.  Jahrg. 
191 7,  Nr.  5)  ausführt,  im  letzten  Dezennium  von 
der  russischen  Hofjagdverwaltung  zugunsten  der 
Hofjagden  des  Zaren  schwer  gesündigt  worden. 
Abgesehen    davon,    daß    alles    Raubwild    unnach- 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


23s 


sichtlich  verfolgt  und  dadurch  nahezu  ausgerottet 
wurde,  i^t  nach  der  Eui>etzung  von  zahlreichem 
Rot-  und  Damwild  die  F"üiterung  aller  Arten  von 
Nutzwild  in  wiitgehendem  Maße  eingeführt 
worden.  So  wurden  allein  zum  Heumachen  für 
die  VVisentfütterung  rings  um  den  Wald  loo  Familien 
angesiedelt.  Durch  diese  überaus  sorgsame  Hegung 
des  Nutzwildes  wurde  zwar  einerseits  ein  hoher 
Nutzwildstand  erreicht,  andererseits  aber  auch 
eine  Degencrierung  des  gesamten  Wildbestandes 
verschuldet-,  ,,die  Wisente  waren  fettgefütterte, 
träge  und  zahme  Tiere  geworden,  die  ihren 
Hegern  wie  Hunde  nachliefen".  Die  Degenerierung 
des  Wildes  zeigte  sich  vornehmlich  durch  das 
Auftreten  verheerender  VVildseuchen  (Sephikämie) 
in  den  Jahren  1911  und  1912.  Schließlich  hatte 
die  Überproduktion  an  Rot-  und  Damwild  die 
Abwanderung  des  Elches  zur  Folge,  der  sich  be- 
kanntlich mit  diesen  Wildarten  zusammen  nicht 
auf  ein  und  demselben  Standorte  hält.  Wie  hoch 
trotz  dieser  üblen  Nachwirkungen  der  russischen 
Jagdschutzmaßnahmen  der  Wildstand  im  Bialo- 
wieser  F"orst  noch  kurz  vor  Kriegsbeginn  war, 
erhellt  aus  den  fLrgebnissen  einer  im  Jahre  1914 
von  russischer  Seite  veranstalteten  Zahlung,  die 
etwa  700  Wisente,  59  Flehe,  6778  Stück  Rotwild, 
1488  Stück  Damwild,  2225  Stück  Schwarzwild  und 
4966  Stück   Rehwild  ergab. 

Der  Krieg  hat  diese  Zahlenverhältnisse  natür- 
lich von  Grund  aus  verändert;  nicht  nur  daß  von 
den  durchziehenden  Truppenmassen  viel  Wild  ab- 
geschossen wurde,  war  der  Wald  nach  dem  Rück- 
zug der  russischen  Heereskörper,  denen  die 
deutschen  Kolonnen  auf  dem  Fuße  folgten,  auch 
voll  von  Wilderern,  desertierten  oder  von  ihren 
Truppenteilen  abgekommenen  russischen  Soldaten, 
die  sich  in  ihren  Schlupfwinkeln  lange  verborgen 
halten  konnten  und  durch  das  Niederknallen  jeg- 
lichen Wildes  ihren  Unterhalt  fanden.  Als  des- 
halb von  der  deutschen  militärischen  Forstver- 
waltung unter  der  Leitung  des  bayr.  Forstrats  Dr. 
G.  F sc  h  e r  i  c h  im  vergangenen  Jahre  eine  Schätzung 
des  Wildstandes  vorgenommen  wurde,  ergaben 
sich  nur  mehr  etwa  180  Wisente,  5  — 10  Flehe, 
2—3000  Stück  Rotwild,  4—500  Stück  Damwild, 
5  —  800  Stück  Schwarzwild  und  2  —  3000  Stück 
Rehwild.  Durch  eine  Reihe  energischer  Maß- 
nahmen wurde  von  den  deutschen  Behörden  vor 
allem  dem  Wildererunwesen  gesteuert  und  durch 
die  Einführung  sti  enger  Jagdvorschriften  der 
Wildabschuß  genau  geregelt.  Die  kais.  deutsche 
Forstverwaliung  ging  von  dem  Grundsatz  aus, 
daß  es  „gänzlich  verfehlt  ist,  das  Raubwild  aus- 
zurotten. Gerade  der  Kampf  in  der  Natur  erhält 
das  Nutzwild  auf  seiner  gesundheitlichen  Höhe. 
Das  Raubwild  hat  eine  ungemein  feine  Witterung 
für  krankes  Wild,  dem  es  nachstellt  und  es  aus- 
nahmslos beseitigt.  Dadurch  wird  die  Ausbreitung 
von  Epidemien  am  einfachsten  und  durchgreifend- 
sten bekämpft".  Auch  die  Fütterung  des  Wildes 
wurde  auf  das  unbedingt  notwendige  Maß  be- 
schränkt,   das   Wild,   besonders    das    schwerfällige 


Wisent,  muß  darauf  angewiesen  sein,  sich  seine 
Nahrung  selbst  zu  suchen,  nur  dann  wird  ein  ge- 
sunder Wildbestand  erhalten  werden  können. 
Durch  diese  im  Gegensatz  zu  den  russischen  Ge- 
pflogenheiten von  Grund  aus  veränderte  Praxis 
der  Wildhegung  ist  die  Hoffnung  berechtigt,  daß 
es  unserer  deutschen  horstverwaltung  während 
ihres  Wirkens  in  Bialowies  gelingen  wird,  den 
Wildbestand  nicht  nur  auf  seiner  heutigen,  durch 
die  Kriegsverhältnisse  beschränkten  Höhe  zu  er- 
halten, sondern  ihn  auch  noch  zu  vermehren. 
H.  W.  Frickhinger. 

Die  Tollwut  des  Wildes.  Die  Tollwut  ist  eine 
der  ältesten  dem  Menschen  bekannten  Infektions- 
krankheiten. Schon  Aristoteles  hat  ihren 
infektiösen  Charakter  richtig  erkannt,  wenn  er  in 
seiner  „Tierkunde"  schreibt:  „Die  Hunde  leiden 
an  der  Wut.  Diese  versetzt  sie  in  einen  Zustand 
der  Raserei,  und  alle  Tiere,  welche  dann  von  toll- 
wütigen Hunden  gebissen  werden,  werden  gleich- 
falls von  der  Wut  betroft'en."  Die  Tollwut  ist, 
wenn  sie  in  ihren  Äußerungen  auch  bei  anderen 
Tiergattungen,  so  z.  B.  beim  Geflügel  auftreten 
kann,  doch  eine  spezifische  Erkrankung  des  Hunde- 
geschlechtes, insbesondere  seiner  wildlebenden  Ver- 
treter, wie  des  Fuchses,  des  Wolfes  und  des  Schakals. 
Unter  diesen  wilden  Kaniden  ist  die  Tollwut,  vulgär 
ja  auch  Hundswut  genannt,  wie  schon  eingangs  er- 
wähnt, seit  alters  bekannt  und  bis  heute  nie  aus- 
gestorben, so  daß  die  Seuche,  wie  Bezirkstier- 
arzt a.  D.  M.  Reuter  in  einem  längeren  Aufsatz 
in  der  „Zeitschrift  für  Forst-  und  Jagd- 
wesen" (48.  Jahrg.  1916  Heft  11)  begründet, 
„primär  als  eine  Krankheit  des  Wildes  ange- 
sprochen werden  muß".  Da  nun  in  der  Nähe 
von  Gebieten,  in  denen  die  obengenannten  wilden 
Kaniden  häufig  vorkommen,  in  Europa  vornehm- 
lich in  Südrußland  und  in  den  Karpathen,  Haus- 
tiere immer  wieder  einmal  von  der  Krankheit  be- 
fallen werden,  ohne  daß  es  möglich  ist,  eine  Infektion 
durch  Hundebiß  nachzuweisen,  zieht  Reuter  den 
Schluß,  daß  in  diesen  Ländern,  vor  allem  aber  im 
Innern  Asiens,  aus  dem  ja  eine  Zuwanderung 
wilder  Kaniden  nach  Europa  herüber  ständig  er- 
folgt, vielleicht  eine  spontane  Entstehung  der  Toll- 
wut in  Frage  kommt.  Man  müßte  dann  annehmen, 
daß  die  Tollwut  bei  den  wilden  Kaniden  „ähnlich 
dem  Milzbrand,  durch  einen  möglicherweise  im 
Boden  haftenden  (miasmatischen)  Infektionsstoff 
entstehen  kann";  ist  das  Gift  von  außen  her  in 
den  tierischen  Körper  eingedrungen,  so  würde 
der  Tollwuterreger  erst  durch  sein  Eindringen  in 
den  Blutkreislauf  des  tierischen  Organismus  seine 
ansteckende  Kraft  erlangen  und  es  wäre  dann 
dadurch  die  Möglichkeit  der  infektiösen  Weiterver- 
breitung durch  den  Biß  gegeben.  Diese  Theorie 
des  auiochthonen  Entstehens  der  Toll- 
wut bei  wilden  Kaniden  ist  von  den  ver- 
schiedensten Seiten  angezweifelt  worden,  ohne  daß 
aber,  wie  der  Verfasser  meint,  wirklich  stichhaltige 
Gegengründe  bis  heute  beigebracht  worden  wären. 


236 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.    17 


Primär  erkrankte  Kaniden,  so  müßte  weiterhin 
angenommen  werden,  würden  dann  dadurch,  daß  sie 
gesunde  Artgenossen  bzw.  natürlich  auch  Haushunde 
anfallen,  die  VVeiterbreitung  der  Seuche  in  Kultur- 
gebiete verschulden.  Damit  wäre  eine  Erklärung 
für  die  Tatsache  gefunden,  daß  die  Tollwut  ge- 
rade in  den  deutschen  Grenzgebieten,  welche  in 
ständigem  Verkehr  mit  Rußland  stehen,  trotz  aller 
polizeilichen  Maßnahmen  niemals  ganz  ausgerottet 
werden  konnte. 

Der  Ansteckungsstoff  der  Tollwut  ist  nicht 
flüchtig,  d.  h.  er  kann  durch  keinen  Zwischen- 
träger, wie  wir  solche  bei  den  meisten  der  Infektions- 
krankheiten kennen,  übertragen  werden.  Das  ist 
wohl  auch  der  Grund  dafür,  daß  die  Tollwut 
eigentlich  nie  die  Dimensionen  einer  großen 
Seuche  annimmt,  sondern  nur  mehr  sporadisch 
auftritt.  Bald  nach  dem  Verenden  der  erkrankten 
Tiere  erlischt  auch  die  Wirksamkeit  des  Infektions- 
stofifes.  Die  Anxiahme,  als  seien  bestimmte  Hunde- 
rassen empfänglicher  für  die  Aufnahme  der  An- 
steckungskeime, hat  sich  ebenso  als  irrig  erwiesen, 
wie  die  Hypothese,  daß  hohe  Wärmegrade  die 
Entwicklung  der  Ansteckungskeime  günstig  be- 
einflusse: diese  Annahme  wird  am  besten  durch 
den  Hinweis  auf  die  Tatsache  widerlegt,  daß  die 
Tollwut  in  der  Türkei  und  in  Ägypten,  beides 
Länder,  welche  sich  doch  eines  sehr  warmen 
Klimas  erfreuen,  nur  selten  und  nur  durch  Ein- 
schleppung vorkommt. 

Auch  in  Deutschland  ist  ja,  dank  der  ein- 
greifenden polizeilichen  Vorschriften,  die  Tollwut- 
erkrankung längst  nur  mehr  eine  sporadisch  auf- 
tretende, durch  Einschleppung  bedingte  Krankheit. 
Eine  Weiterverbreitung  der  Seuche  wird  auch  da- 
durch noch  eingedämmt,  daß  tollwütige  Hunde 
durch  den  hochgradigen  Erregungszustand,  in  dem 
sie  sich  befinden,  meist  nur  sehr  oberflächlich 
beißen  und  dadurch  nicht  alle  Bisse  unbedingt 
eine  Infektion  nach  sich  ziehen  müssen ;  nach 
statistischen  Feststellungen  kommen  beim  Tiere 
nur  5— 3o"(|  und  beim  Menschen  nur  8—47"',, 
Erkrankungsfälle  bei  durch  tollwütige  Hunde  Ge- 
bissenen vor,  welch  letzteren  Prozentsatz  es 
heutigentags  überdies  noch  durch  die  Pasteur- 
sche  Schutzimpfung  bekanntlich  bedeutend  her- 
unterzuschrauben gelang.      H.  W.  Frickhinger. 


Die  parasitäre  Schlupfwespe  der  Kohlraupe 
als  indirekter  Schädling  des  Weizens.  Die 
gclbbeinige  Schluptwespe  [Microgaster  glome- 
rafiis  L.)  befällt  bekanntlich  die  Raupen  des 
großen  Kohlweißlings  (Pii'ris  lirnssiciw  L.),  indem 
sie  ihre  Eier  in  dieselben  legt.  Dermaßen  an- 
gesteckte Raupen  suchen  dann,  wie  um  dem 
Unheil  zu  entrinnen,  Zuflucht  auf  hohen  Objekten, 
wie  auf  Zäunen  oder  Mauern.  Dort  oben  gehen 
die  Tiere  in  kurzer  Zeit  ein,  und  späterhin 
ist  die  Ursache  ihres  Todes  deutlich  erkennbar, 
indem  allüberall  aus  den  Raupenleibern  die  Kokons 


der  Schlupfwespe  hervortreten.  ')  An  die  Station 
für  Pflanzenkrankheiten  bei  der  Kgl. 
böhmischen  Landwirtschaftl.  Akademie 
in  Tabor  wurden  nun  im  vergangenen  Sommer 
von  der  Gemeinde  Prennet  bei  Taus  Weizenähren 
eingesandt,  welche  an  verschiedenen  Stellen  von 
den  Kokons  des  Microgaslcr  glomcratiis  um- 
sponnen waren.  Wie  Adolf  Kutin  in  der 
Zeitschrift  für  Pflanzenkrankheiten  aus- 
führt (26.  Bd.  1916  Heft  8),  ist  es  wohl  das  erste 
Mal,  daß  die  Kohlraupen  in  ihrer  Krankheit  sich 
auf  Weizenähren  geflüchtet  haben.  Durch  diese 
Wahl  ihrer  Zufluchtsstätte  haben  sie  an  den 
Weizenbeständen  einen  ziemlichen  Schaden  ver- 
ursacht; denn  das  dichte  Kokongespinst,  mit  dem 
die  in  ihnen  ihre  Entwicklung  durchmachenden 
Schlupfwespen  die  Ähren  umgaben,  hinderte  in 
nicht  unbedenklicher  Weise  den  Zutritt  von  Licht 
und  Luft  zu  den  in  der  Entfaltung  begriffenen 
Blütenorganen  und  späterhin  auch  zu  den  PVucht- 
körnern,  so  daß  eine  Fruchtreife  in  vielen  Phallen 
überhaupt  ausblieb  und  „die  Ähren  in  dem  Teile, 
wo  die  Kokons  anhafteten,  vollständig  leer  waren". 
Es  ist  dieses  Auftreten  der  Schlupfwespe  an  den 
Ähren  des  Sommerweizens  ein  lehrreiches  Beispiel 
dafür,  wie  ein  sonst  nützliches  Tier  durch  eine 
geringe  Veränderung  seiner  Lebensweise  bzw.  der- 
jenigen seines  Wirtstieres  sich  in  einen  Schädling 
verwandeln  kann.  H.  W.  Frickhinger. 

Über  die  Zucht  des  Edelseidenspinners  im 
Freien.  Prof.  J.  Dewitz  hat  in  der  Preußischen 
Station  für  Schädlingsforschungen  in 
Metz  seit  2  Jahren  Versuche  darüber  angtstellt, 
ob  es  nicht  möglich  sei,  die  Raupen  des  Edel- 
seidenspinners Boiiibyx  iiion  L.  auch  in  unserem 
Klima  im  Freien  zu  züchten.  Im  großen  und 
ganzen  hatte  Dewitz  nach  seinem  Bericht  in 
der  Entomologischen  Rundschau  (34. 
Jahrg.  1917  Nr.  I)  dabei  in  biologischer  Hinsicht 
günstige  Resultate  zu  verzeichnen  :  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Raupen  machten  ihre  Entwicklung 
im  PVeien  trotz  der  häufig  starken  Unbilden  der 
Witterung  gut  durch.  Die  biologischen  Daten 
waren  dabei  etwa  folgende;  „Das  Leben  der 
Raupe  dauerte  von  Anfang  Juni  bis  .Anfang 
August.  Das  Verspinnen  geschah  in  der  i.  Hälfte 
des  August,  die  ersten  Schmetterlinge  zeigten 
sich  zwischen  dem  22.  und  26.  .August."  In 
beiden  Versuchsjahren  waren  die  einzelnen  Daten 
der  Entwicklungszeiten  ungefähr  die  gleichen,  im 
2.  Jahr  war  jedoch  der  Entwicklungsgang  merklich 
präziser.  Im  2.  Jahr  konnte  Dewitz  sogar  den 
Versuch  wagen,  die  an  den  Maulbeerästen  ge- 
sponnenen Kokons  nicht  abzunehmen,  sondern 
die  Schmetterlinge  im  Freien  schlüpfen  zu  lassen. 
„Sie  kamen   denn  auch  hier    in  der   i.  Hälfte  des 

')  Diese  parasitäre  Lebensweise  des  JMiaogaster  glomerattis 
maclit  ihn  zu  einem  sehr  nützlichen  Insekt,  da  die  Schlupf- 
wespe durch  ihren  Befall  die  schädlichen  Kohlraupen  in  grofier 
Zahl  vernichtet. 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


237 


September  noch  aus  und  legten  ihre  Eier  an 
Blätter,  an  den  Stamm  oder  an  leere  Kokons  ab." 
Auch  die  Eier  wurden  nicht  entfernt,  Dewitz 
hofft  aus  ihnen  im  heurigen  Frühjahr  neue  Raupen 
zu  erzielen,  mit  denen  er  seine  dritte  Zucht 
unternehmen  kann.  Dieses  gute  biologische  Über- 
dauern auch  der  Unbilden  unserer  Witterung 
würde  uns  vielleicht  zu  einer  günstigen  Beurteilung 
der  Freilandzuchten  berechtigen  dürfen,  wenn  die 
Seidenraupen  in  den  Dewitz'schen  Versuchs- 
zuchten nicht  eine  unangenehme  Eigenschaft  ge- 
zeigt hätten,  die  sie  für  die  Zucht  im  Freien 
recht  ungeeignet  erscheinen  läßt :  die  Raupen  waren, 
besonders  im  erwachsenen  Zustand,  dermaßen 
trag,  daß  sie  nur  selten  dazu  zu  bewegen  waren, 
einmal  vor  Regen  oder  Kälte  aus  eigenem  Instinkte 
irgendwo  Zuflucht  zu  suchen  und  dann  auch,  wenn 
sie  einen  Zweig  abgefressen  hatten,  aktiv  auf  die 
Futtersuche  7,u  gehen.  „Sitzen  sie  an  einem  ent- 
blätterten Zweig,  so  nagen  sie  an  den  stehen- 
gebliebenen Blattstielen  oder  Blattresten,  während 
an  der  Spitze  des  Zweiges  oder  sonst  nicht  weit 
noch  reichlich  Laub  vorhanden  wäre."  Auch  vor 
den  Angriffen  der  Vögel,  die  sich  gerade  den 
Seidenraupen  gegenüber  aus  leicht  erklärlichen 
Gründen  sehr  zudringlich  erwiesen,  versuchten 
die  Raupen  niemals  zu  enteilen  oder  irgendwo 
eine  geschützte  Stelle  zu  erreichen.  Die  Maulbeer- 
büsche  oder  die  Äste  von  Maulbeerstämmen, 
welche  bei  den  Zuchten  Verwendung  fanden, 
mußten  daher  mit  Gazesäcken  umhüllt  werden, 
um  dadurch  die  Raupen  wenigstens  einigermaßen 
vor  der  Dezimierung  durch  die  Vögel  zu  schützen. 
Gerade  diese  immer  wieder  bekundete  Trägheit 
der  Seidenraupen  steht  ihrer  Freilandzucht  natürlich 
äußerst  hemmend  im  Wege.  Es  ist  dabei  aller- 
dings die  Hoffnung  noch  nicht  ganz  aufzugeben, 
daß  es  im  Verlaufe  längerer  Untersuchungen  ge- 
lingen wird,  oder  sagen  wir  besser,  gelingen  kann, 
unter  den  zahlreichen  Seidenraupenrassen  eine 
Spezies  zu  finden,  deren  Vertreter  sich  in  dieser 
Beziehung  vorteilhaft  von  ihren  Artgenossen  unter- 
scheiden. Ob  freilich  die  Freilandzuchten,  auch 
wenn  das  glücken  sollte,  in  Deutschland  jemals 
eine  wirtschaftliche  Bedeutung  werden  erlangen 
können,  das  erscheint  heute,  wo  die  ganze  Seiden- 
baubewegung noch  keinerlei  greifbare  Resultate 
gezeitigt  hat,  zumindest  fraglich.  Prof.  Dewitz 
jedenfalls  hat  seine  Versuche  nur  aus  biologischem 
Interesse  und,  wie  er  selbst  sagt,  nicht  mit  Rück- 
sicht auf  die  praktische  Seite  unternommen. 
H.  W.  Frickhinger. 

Chemie.  Über  die  Aktivierung  von  Chlorat- 
lösongen^  durch  Ösmiumtetroxyd  und  die  Ver- 
wendbarkeit  dieser  Reaktion  in  der  analytischen" 
Chemie  hat  K.  A.  TTo  f  m  a  n  n  ~in  de~n  letzten 
Jahren,  z.  T.  in  Gemeinschaft  mit  einigen  seiner 
Schüler,  eine  Reihe  interessanter  Mitteilungen 
gemacht,  über  die  im  folgenden  kurz  berichtet 
werden  möge. 


Daß  das  Ösmiumtetroxyd  OSO4  ein  Oxydations- 
mittel ist  und,  indem  es  oxydierend  wirkt,  selbst 
zu  tiefschwarzem  Osmiumdioxyd  OsOj  reduziert 
wird,  ist  bereits  seit  langem  bekannt.  Da  nun 
andererseits  das  Osmiumdioxyd  von  Oxydations- 
mitteln mehr  oder  minder  leicht  wieder  zu 
Ösmiumtetroxyd  oxydiert  wird,  so  muß  es,  sofern 
die  verschiedenen  Reaktionsgeschwindigkeiten  in 
einem  geeigneten  Verhältnis  zueinander  stehen, 
d.  h.  sofern  die  Summe  der  Geschwindigkeiten 
der  beiden  Reaktionen: 

Osmiumdioxyd  +  Oxydationsmittel 

=  Ösmiumtetroxyd 
Ösmiumtetroxyd  +  Oxydand=  Oxydat 

+  Osmiumdioxyd 
größer   ist  als   die  Geschwindigkeit   der   direkten 
Reaktion 

Oxydationsmittel  +  Oxydand  =  Oxydat, 
das  Osmiumdi-  oder  -tetroxyd  als  Katalysator 
wirken.  In  der  Tat  vermag  so,  wie  schon  seit 
längerer  Zeit  bekannt  ist,  Ösmiumtetroxyd  Oxy- 
dationsreaktionen mit  elementarem  Sauerstoff  als 
Oxydationsmittel  zu  katalysieren,  und  zwar  —  darauf 
macht  K.  A.  Hofmann')  aufmerksam  —  in  be- 
sonders starkem  Maße,  wenn  der  Sauerstoff  unter 
erhöhtem  Druck  steht  und  die  Reaktionsgeschwindig- 
keit gleichzeitig  durch  Temperaturerhöhung  ver- 
größert wird.  Wesentlich  bequemer  und  leichter 
aber  sind  Oxydationsreaktionen  auszuführen,  wenn 
man  als  Oxydans  an  Stelle  elementaren  Sauerstoffs 
eine  neutrale  oder  schwach  saure  Lösung  von 
Natrium-  oder  Kaliumchlorat  verwendet,  denn 
überraschenderweise  wird  Osmiumdioxyd  selbst 
von  neutralen  Chloratlösungen,  die  ja  bekanntlich 
sonst  nur  ein  außerordentlich  träges  Oxydations- 
mittel sind,  sehr  leicht  und  rasch  zu  Ösmium- 
tetroxyd oxydiert.  So  wird  durch  Chlorat  — 
bei  Anwesenheit  von  ganz  geringen  Mengen  von 
Ösmiumtetroxyd  —  Arsenik  zu  Arsensäure,  Hydra- 
zinsulfat  zu  Stickstoff,  Hydrochinon  zu  Chinhydron, 
F'umarsäure  zu  Traubensäure,  Maleinsäure  zu 
Mesoweinsäure,  Anthracen  zu  Anthrachinon  oxy- 
diert, Reaktionen,  die  bei  Abwesenheit  von 
Ösmiumtetroxyd  praktisch  vollkommen  ausbleiben. 
Auch  die  verschiedenen  Arten  von  Kohle,  wie 
Ruß,  Rohrzuckerkohle,  Graphit  usw.,  die  gegen 
Chlorat  allein  im  allgemeinen  recht  widerstands- 
fähig sind,  werden  von  ihm  bei  Anwesenheit  von 
Ösmiumtetroxyd  mehr  oder  weniger  rasch  oxy- 
diert. Erscheint  so  das  durch  Ösmiumtetroxyd 
aktivierte  Chlorat  in  vielen  Fällen  als  ein  aus- 
gezeichnetes Oxydationsmittel  —  Chlorierungen 
traten  hierbei  nicht  ein  — ,  so  wirkt  es  doch 
keineswegs  auf  alle  oxydierbaren  Substanzen. 
So  erweisen  sich  nicht  nur  die  gesättigten  Kohlen- 
wasserstoffe, wie  Pentan  und  Hexan,  sondern  auch 
—  sofern  sie  nur    vollkommen    rein    sind  —   das 


')  K.  A.  Hofmann,  „Sauerstoff-Übertragung  durch 
Ösmiumtetroxyd  und  Aktivierung  von  Chloratlösungen",  Ber. 
d.  D.  Chera.  Gesellsch.,  45  (1912),  S.  3329 — 3336. 


238 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


Benzol  und  das  Naphtalin  und  die  gesättigten 
Ketone,  ja  sogar  die  sonst  doch  gegenüber  Oxy- 
dationsmitteln ziemlich  unbeständigen  Aldehyde 
als  sehr  widerstandsfähig. 

Von  medizinischem  Interesse  dürfte  es  sein, 
daß  auch  die  bakterizide  Wirkung  des  Chlorats 
durch  Spuren  von  Osmiumtetroxyd  gesteigert 
wird. 

Um  eine  Erklärung  für  die  Katalyse  der  Chlorat- 
oxydationen  durch  das  Osmiumtetroxyd  zu  finden, 
untersuchte  K.  A.  Hofmann  in  Gemeinschaft 
mit  O.  Ehr  hart  und  Otto  Schneider')  die 
Einwirkung  von  Chlorat  auf  die  Oxyde  des 
Osmiums  und  kam  dabei  zu  den  folgenden  inter- 
essanten Ergebnissen:  Erstens  nehmen  die 
niederen  Oxyde  des  Osmiums  aus  dem  Chlorat 
gerade  so  viel  Sauerstoff  auf  als  zu  ihrer  Oxydation 
zu  Osmiumtetroxyd  erforderlich  ist;  die  bisweilen 
gemachte  Annahme  der  Existenz  eines  höheren 
Oxyds  ist  also  nicht  berechtigt.  Zweitens  wird 
der  Zerfall  der  endothermen  Chlorate  durch 
Osmiumtetroxyd  nicht,  wie  etwa  durch  Braun- 
stein, Eisenoxyd  oder  Vanadinoxyd,  katalysiert; 
die  Wirkung  der  Oxydationskatalyse  ist  also 
nicht  darauf  zurückzuführen,  daß  etwa  der 
Sauerstoff,  der  bei  dem  durch  Osmiumtetroxyd 
beschleunigten  spontanen  Zerfall  des  Chlorats  frei 
wird,  in  statu  nascendi  die  Oxydationen  bewirkt. 
Dagegen  sprechen  gewichtige  Gründe  für  die  An- 
nahme, daß  ein  Additionsprodukt  „Chlorat  +  Os- 
miumtetroxyd" existiert,  denn  drittens  wird  die 
Löslichkeit  des  Kaliumchlorats  in  Wasser  durch 
Osmiumtetroxyd  erhöht  und  zeigt  viertens  das 
Potential  einer  osmiumtetroxydhaltigen  Chlorat- 
lösung  ein  höheres  Oxydationsp.otential  als  eine 
wässerige  Lösung  von  Osmiumtetroxyd  oder  von 
Chlorat  allein.  Aus  dem  Verhalten  des  Oxydators 
„Natriumchlorat  -j-  Osmiumtetroxyd"  gegen  wässe- 
rige Jodkaliumlösung  —  es  wird  aus  ihr  Jod  mit 
einer,  je  nach  den  Konzentrationsverhältnissen 
wechselnden,  leicht  meßbaren  Geschwindigkeit  frei 
gemacht  —  schließen  Hof  mann  und  seine  Mit- 
arbeiter, daß  das  Additionsprodukt  die  Formel 
NaClOg-OsO,  hat. 

Von  besonderem  Interesse  sind  nun  die  eigen- 
tümlichen Erscheinungen,  die  bei  der  Einwirkung 
der  mit  Osmiumtetroxyd  aktivierten  Chloratlösungen 
auf  gewisse  Gase  auftreten.  Zunächst  ergaben  die 
Versuche,  daß,  während  von  dem  genannten  Oxy- 
dationsmittel das  Kohlenoxyd  ziemlich  rasch  zu 
Kohlensäure  und  noch  rascher  das  Äthylen  CH, : 
CH.3  zu  Äthylenglykol  CH.,(OH).  CH,(OH)  oxydiert 
wird,  der  ja  auch  sonst  ziemlich  reaktionsträge 
Wasserstoff  unangegriffen  bleibt.  Es  gelang  aber 
K.  A.  H o f m a n n  und  Otto  Schneider^)  durch 


')  K.A.Hofmann,  O.  Ehrhart  u.  O  tto  Schneid  er, 
„Aktivierung  von  Chloratlösung  durch  Osmium.  II.  Mitteilung", 
ebenda  46  (1913),  S.   1657— 1668. 

=)  K.  A.  Hofmann  und  Otto  Schneider,  „Aktivie- 
rung von  Chloratlösungen  durch  Osmium.  111.  Mitteilung: 
Trennung  von  Wasserstoff  und  Methan,  Katalyse  von  Knall- 
gasgemischen", ebenda  48  (1915J1  S.   1585 — 1593. 


planmäßige  Versuche  leicht,  indem  sie  die  Oxyda- 
tionswirkung des  Osmiumtetroxyd- Chloratge- 
misches  durch  Hinzufügung  von  metallischem 
Palladium  und  Platin  steigerten,  diese  Reaktions- 
trägheit des  Wasserstoffs  so  weit  zu  überwinden, 
daß  sie  ihn  in  einer  mit  dem  verbesserten  Oxy- 
dationsgemisch beschickten  Hempelschen  Pipette 
mit  einer  für  gasanalytische  Untersuchungen  aus- 
reichenden Geschwindigkeit  zu  verbrennen  ')  und  auf 
diese  Weise  —  das  ist  praktisch  wichtig  —  insbeson- 
dere von  Methan  zu  trennen  vermochten.  Schwefel- 
haltige Gase,  Ammoniak,  Phosphordämpfe  und 
Phosphorwasserstoff  hemmen  die  0.xydation,  doch 
kommen  diese  Gase  bei  der  normalen  Gasanalyse 
nicht  in  Betracht,  Stickstoff  stört  nicht,  wohl  aber 
wirken  sowohl  Sauerstoff  als  auch  Kohlenoxyd 
störend:  der  Sauerstoff  beteiligt  sich  an  der 
Oxydation  des  Wasserstoffs,  das  Kohlenoxyd 
hemmt  sie.  Die  Wirkung  der  beiden  Gase  wurde 
nun  von  H  o  f  m  a  n  n  und  seinen  Schülern  einer  sehr 
genauen  Sonderuntersuchung  unterworfen.  Diese 
Untersuchung  führte  hinsichtlich  des  Sauerstoffs 
zu  dem  Ergebnis, ")  daß  die  Oxydation  von 
Sauerstoff- Wasserstoff- Gemischen  an  den  mit 
wässerigen  Lösungen  bedeckten  Kontakten,  wie 
sie  Hofmann  bei  der  Absorption  des  Wasserstoffs 
in  Hempelschen  Pipetten  verwendet,  ein  elektro- 
chemischer Vorgang  ist.  „Die  geeigneten  Stellen 
der  Kontaktfläche  werden  durch  die  Gasbeladungen 
in  Sauerstoff-  bzw.  Wasserstoff- Elektroden  um- 
gewandelt, und  zwischen  diesen  spielt  sich  der 
Umsatz  wie  bei  einer  Grove'schen  Gaskette  ab." 
So  interessant  und  —  als  Aufklärung  eines  kata- 
lytischen  Vorganges  —  allgemein  wichtig  dieses 
Ergebnis  aber  auch  ist,  so  kommt  es  doch  für 
die  Praxis  der  absorptiometrischen  Bestimmung 
des  Wasserstoffs  darum  nicht  in  Betracht,  weil 
der  Sauerstoff  im  Gange  der  Gasanalyse  stets 
vor  der  Bestimmung  des  Wasserstoffs  entfernt 
wird  und  diese  Entfernung  auch  leicht  restlos 
gelingt. 

Ganz    anders    als    beim    Sauerstoff    liegt    nun 
aber    der    Fall    beim    Kohlenoxyd.  '■')      Allerdings 


')  Weitere  Verfahren  zur  absorptiometrischen  Bestimmung 
sind  erstens  das  von  Paal  und  Hart  mann  (ebenda  4:i, 
S.  243,  igio)  vorgeschlagene  und  von  O.  Brunck  (Chem.- 
Zeit.  34,  S.  1313,  1910)  eingehend  untersuchte  Palladium- 
verfahren ,  bei  dem  eine  kolloidales  Palladium  enthaltende 
wässerige  Natriumpikratlösung  als  Absorptionsmittel  dient,  und 
zweitens  das  Verfahren  vonBosshard  und  Fischli  (Zeitschr. 
f.  angew.  Chem.  28,  S.  365,  1915),  bei  dem  der  Wasserstoff 
unter  dem  katalytischen  Einfluß  von  Nickel  von  einer  Natrium- 
oleatlösung  aufgenommen  wird. 

'')  K.  A.  Hofmann  und  Ralf  Eber t,  „Katalyse  von 
Wasscrstofl-Sauerstoft'-Gemischen  bei  gewöhnlicher  Temperatur 
an  wasserbenetzten  Kontakten",  Ber.  d.  D.  chem.  Gesellsnh. 
49  (1916),  S.  2369-2389. 

■*)  K.  A.  Hofmann,  „Volumetrische  Bestimmung  von 
Wasserstoff  durch  0.\ydation  mittels  aktivierter  Chloratlösung; 
Beseitigung  von  Kohlenoxyd  durch  Quecksilberchromat", 
ebenda  40  {1916),  S.  1650— 1662.  --  K.  A.  Hofmann  und 
Helge  Schibsted,  „Die  Hemmung  der  Wasserstoff- 
O.xydation  in  der  Chlorat-Pipette  durch  Kohlenoxyd,  ein 
Beitrag  zur  Kenntnis  der  Kontaktgifte",  ebenda  49  (1915), 
S.   1663—1669. 


N.  F.  XVI.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


239 


wird  auch  das  Kohlenoxyd  im  Gange  der  Gas- 
analyse vor  der  Bestimmung  des  Wasserstoffs 
absorbiert,  aber  diese  Absorption  '■ —  ausgeführt 
mit  Hilfe  einer  ammoniakalischen  oder  salzsauren 
Kupferchlorürlösung  —  ist  bekanntermaßen  un- 
vollständig, und  da  nach  Hof  man  n 's  Versuchen 
bereits  äußerst  geringe  Mengen  von  Kohlenoxyd, 
nämlich  schon  0,2  Vol.-^/o ,  genügen,  um  die 
katalytische  Verbrennung  des  Wasserstoffs  in  der 
Hempel 'sehen  Pipette  zu  hemmen,  so  mußten 
neue  Wege  zur  vollständigen  Entfernung  des 
Kohlenoxyds  gesucht  werden.  Sie  wurden  auch 
gefunden;  in  einer  mit  Merkurichromat  und  einer 
wässerigen  Chromsäurelösung  beschickten  Pipette 
werden  die  der  Absorption  mittels  Kupfer- 
chlorür  entgangenen  Reste  des  Kohlenoxyds 
entfernt  —  der  Wasserstoff  erleidet  hierbei  auch 
eine    geringe    Oxydation,    der    durch    eine   kleine 


Korrektur  Rechnung  getragen  werden  muß  — , 
und  dann  wird  der  Wasserstoff  durch  das 
verbesserte  Chloratgemisch  ^)  absorbiert. 

Wegen  der  sehr  interessanten  Einzelheiten,  die 
bei  der  Untersuchung  des  störenden  Einflusses 
von  Sauerstoff  und  Kohlenoxyd  auf  die  kataly- 
tische Verbrennung  des  Wasserstoffs  nach  dem 
H  ofmann'schen  Verfahren  festgestellt  worden 
sind,  sei  auf  die  angeführte  Originallitteratur  ver- 
wiesen. Mg. 


')  Die  genaue  Vorschrift  für  die  Beschickung  einer 
Hempel'  sehen  Pipette  mittels  der  aktivierten  Chloratlösung  be- 
findet sich  indenBer.  d.  D.  ehem.  Gesellsch.  49  (1916),  S.  1653, 
die  der  Beschickung  einer  H  em  p  el'schen  Pipette  mit  wässe- 
riger Chromsäure  und  Mcrkurichromatpaste  ebenda  S.  1661 
und  die  Vorschriften  zur  praktischen  Ausführung  der  Wasser- 
stoffbestimmungen ebenda  S.   1662. 


Bücherbesprechungen. 


Fortschritte  der  Mineralogie,  Kristallographie 
und  Petrographie.  Bd.  5.  Jena,  1916.  G. 
Fischer.  4",  324  S.,  43  Abb.  —  Brosch.  1 1,50  M. 
Die  von  der  Deutschen  Mineralogischen  Ge- 
sellschaft herausgegebenen  „Fortschritte"  gestalten 
sich  von  Jahr  zu  Jahr  zu  einem  wichtigeren  Nach- 
schlagewerke. Der  vorliegende,  wiederum  unter 
G.  Linck's  Redaktion  herausgegebene  5.  Band 
des  Jahres  19 16  enthält  abermals  wichtige  Zu- 
sammenfassungen und  Übersichten  über  im  Vorder- 
grunde des  Interesses  stehende  P>agen  und  die 
sich  damit  befassende  neuere  Literatur.  Einem 
Bericht  von  R.  Brauns  über  die  Tätigkeit  des 
Damnu  (Deutsch.  Ausschusses  f.  math.nalurw. 
Unierr.)  in  den  Jahren  191 3  und  1914  folgen 
Arbeiten  von  A.  Johnsen  über  „Kristallstruktur", 
ein  Gegenstand,  welcher  seit  Einfuhrung  der 
Laue 'sehen  Röntgenometrie  in  die  Kristallo- 
graphie gewiß  doppeltes  Interesse  erweckt,  von 
P.  Niggli  über  „Neuere  Mineralsynthesen",  von 
O.  H.  Erdmannsdörfer  „Über  Einschlüsse 
und  Resorptionsvorgänge  in  Eruptivgesteinen", 
von  F.  Becke  über  „Fortschritte  auf  dem  Gebiete 
der  Metamorphose",  von  Fr.  Berwerth  über 
„Fortschritte  in  der  Meteoritenkunde  seit  1900" 
und  von  Karl  Schulz  über  „Die  Koeffizienten  der 
thermischen  Ausdehnung  der  Mineralien  und 
Gesteine  und  der  künstlich  hergestellten  Stoffe  von 
entsprechender  Zusammensetzung".  Vor  allem 
die  Arbeiten  von  Erdmannsdörfer,  Becke 
und  Berwerth  werden  auch  den  Geologen  in- 
teressieren. Wenn  letzterer  die  von  Fr.  Ed.  Suess 
für  kosmische  Erzeugnisse  gehaltenen  „Tektite" 
für  Kunstprodukte  zu  halten  geneigt  ist,  so  dürfte 
Suess  hierzu  doch  noch  mancherlei  zu  bemerken 
haben.  Andree. 


Hermann  Lohns,  Aus  P'orst  und  Flur. 
40  Tiernovellen.  Mit  einer  Einleitung  von 
K.  So f fei,  einem  Bildnis  des  Verfassers  und 
15  Tierphotographien  nach  dem  Leben.  5.  Aufl. 
R.  Voigtländers  Verlag  in  Leipzig.  —  5  M. 
Diese  Sammlung  von  Schilderungen  ein- 
heimischer Tiere  gehört  gleich  anderen  ähnlichen 
Arbeiten  des  in  diesem  Kriege  gefallenen  Ver- 
fassers zu  dem  Besten,  was  wir  auf  dem  Gebiete 
der  Naturschilderungen  haben.  Ihren  hohen  Wert 
verdanken  sie  der  seltenen  Vereinigung  einer 
scharfen  und  kritischen  Beobachtungsgabe,  eines 
stark,  ja  leidenschaftlich  mitschwingenden  Natur- 
gefühls und  einer  Gestaltungskraft,  wie  sie  nur 
dem  echten  Dichter  zu  Gebote  steht.  Es  ist  vor 
allem  die  Heide,  in  ihrer  einsamen  und  düsteren 
Schönheit  die  Zuflucht  selbständiger  und  in  ihrem 
Freiheitsdrang  zur  Einsamkeit  neigender  Naturen, 
die  nie  versagende  Heilerin  und  Trösterin,  die 
Lohns  nicht  müde  wird,  in  ihrem  tausendfältigen 
Leben  zu  belauschen  und  zu  besingen.  Oft  blättert 
man  beim  Lesen  zurück,  um  einen  Blick  auf  das 
Bild  des  Mannes  zu  werfen,  auf  das  männliche 
Antlitz  mit  dem  klaren  nach  oben  gewandten  Blick, 
aus  dem  so  viel  Menschliches  hervorleuchtet. 

Wir  möchten  jedem,  den  Beruf  oder  Liebe  zur 
Natur  ins  Freie  führt,  das  Buch  des  Dichters, 
Jägers  und  Helden  empfehlen,  der  keiner  jener 
mit  Bleistift  und  Lichtkammer  durchs  Dickicht 
schlüpfende  Naturspione  war,  sondern  ein  Natur- 
kündiger  wie  selten  einer.  Miehe. 


Novellen  aus  dem  Tierleben.     R.  Voigtländers 

Verlag  in  Leipzig. 

Aus  dem  bekannten  Werke  von  Meerwarth 

und     Soffel,     das     nach     der     mächtigen     von 

Schillings  ausgehenden  Anregung  eine  gewisse 


240 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   17 


Art  von  naturwissenschaftlicher  Literatur  einleitete, 
sind  hier  sieben  Stücke  verschiedener  Autoren,  die 
alle  Schiderungen  aus  dem  Vogelleben  darstellen, 
samt  116  Naturaufnahmen  zu  einem  hübschen 
Bande  vereinigt.  Wiederum  ragt  Hermann 
Lohns  mit  zwei  ausgezeichneten  Beiträgen  hervor, 
aber  auch  die  übrigen  fügen  sich  in  den  Rahmen 
geschmackvoll  ein.  Über  die  Bezeichnung  „1  ier- 
novellen",  die  neuerdings  sich  einer  gewissen  Be- 
liebtheit erfreut,  wäre  zu  bemerken,  daß  sie,  wenn 
man  sie  überhaupt  aus  rein  sachlichen  und  nicht 
aus  geschäftlichen  Gründen  anwenden  will,  nur 
da  einen  Sinn  hat,  wenn  die  Tiere  als  handelnde 
Personen  in  den  Mittelpunkt  von  Erzählungen  treten. 
Das  trifft  bei  den  obigen  „Novellen"  nicht  überall 
zu.  Miehe. 


Riebesell,  Dr  P.,  Die  mathematischen 
Grundlagen  der  Variatio  ns- u  n  d  Ver- 
erbungslehre. Leipzig  und  Berlin,  19 16, 
B.  G.  Teubner.  —  80  Pf 

Die  bekannte  Sammlung  „Mathematische  Biblo- 
thek"  ist  mit  diesem  Heftchen  um  ein  sehr  zweck- 
mäßiges Glied  bereichert  worden.  Bei  der  steigenden 
Bedeutung  und  dem  zunehmenden  Umfange  ver- 
erbungswisssenchaftlicher  Untersuchungen  kommt 
eine  knappe,  für  den  Biologen  zugeschnittene  Dar- 
stellung ihrer  mathematischen  Grundlagen  einem 
Bedürfnis  entgegen.  Wir  möchten  deshalb  hier 
ganz  kurz  auf  das  nützliche  Büchlein  aufmerksam 
machen.  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten, 


Zum  Studium   der  Höhlenfauna. 

Und  neue  Schönheitswelten  springen 
Aus  der  Natur  ....  hervor. 

Schiller. 

In  dieser  Zeitschrift,  schreibt  Dr.  Brehm:  „Gewiß  wird 
die  erst  in  den  letzten  Jahren  beachtete  Fauna  kleiner  Erd- 
löcher, der  Maulwurfsgänge  und  Nagelierhöhlen,  de?  in  feinen 
Erdklüften  zirkulierenden  Grundwassers  usw.  manchen  wichtigen 
Beitrag  zur  Besiedelung  großer  Höhlen  gestellt  haben". ') 

Diese  Worte  haben  mich  auf  den  Gedanken  gebracht, 
daß  es  sehr  interessant  für  die  Zoologen  wäre,  auf  einige 
Gewässeransammlungen  aufmerksam  zu  machen,  die  für  ein 
vergleichendes  Studium  der  Höhlenfauna  von  größerer 
Wichtigkeit  sind.  Schon  seit  dem  Jahre  1912  habe  ich  in 
Gemeinschaft  mit  Rochaz  de  Jongh  und  allein  5)  viele  Unter- 
suchungen gemacht  über  kleinere  Höhlungen,  die  sich  sehr 
oft  in  Baumstämmen  von  Roßkastanien,  Tannen,  Eichen  und 
vor  allem  von  Buchen  finden.  Diese  Höhlungen,  die  oft  sehr 
tief  sind,  stehen  nur  durch  kleine  Löcher  von  einigen  Zentimeter 
Durchmesser  mit  der  Luft  in  Verbindung. 

Zwei  Culicidenarten:  Culicada  ornata  und  Ano- 
pheles  nigripes,  im  Ct.  Waadt,  setzen  ihre  Eier  hier  ab 
und  vollziehen  idre  Entwicklung  nur  in  solchen  Baumhöhlungen. 
In  der  Tat  habe  ich  Eier,  Larven  und  Puppen  dieser  Arten 
nie  in  anderen  Gewässern  gefunden. 

Die  Larven  und  Puppen  von  C.  ornata  und  A.  nigripes 
sind  an  die  Dunkelheit  so  gewöhnt,  daß  wenn  man  sie  in 
dunkelgelbe  und  in  weißen  Gefäßen  setzt,  sie  sich  besser  in 
den  ersteren  entwickeln. 


')  Nalurw.  Wochenschr.    191 7,  S.  50. 

2)  Centralbl.  f.  Bakt.  1.  Abt.  Orig.  Bd.  63,  1912,  S.  222; 
Bd.  67,  1913,  S.  472;  Bd.  78,  1916,  S.  90  und  Bd.  79,  1917, 
S.   139. 


Stellt  man  die  weißen  Gefäße  an  das  Tageslicht,  so  ver- 
stecken sich  diese  Larven  und  Puppen  im  Bodensatz. 

Es  ist  sehr  interessant  zu  bemerken,  daß  nach  Christo- 
phers '■')  auch  in  Indien  und  in  Amerika  A.  nigripes  in  Baum- 
liöhlungen  lebt. 

Bei  diesen  Untersuchungen  habe  ich  Gelegenheit  gehabt 
zu  bemerken,  daß  die  Gewässer  der  Baumhöhlungen  eine  sehr 
reiche  und  interessante  Fauna  enthalten,  eine  Fauna,  deren 
Vergleich  mit  derjenigen  der  Umgebungen  und  der  großen 
Höhlen  sehr  wichtig  ist.  Einige  Formen,  wie  z.  B.  die  Larven 
von  Chironomus,  sind  ganz  weiß.  Um  die  verschiedenen 
Tiere,  die  in  dem  Gewässer  solcher  Baumhöhlungen  leben, 
zu  fischen,  ist  das  kleine  Sieb,  das  ich  konstruieren  ließ,  sehr 
zu  empfehlen.  •*)  Im  Zusammenhang  mit  dem  Studium  der 
Höhlenfauna  scheint  es  mir  auch  interessant,  die  Aufmerksam- 
keit der  Zoologen  auf  die  seit  vielen  Jahren  verlassenen 
Bergwerke  zu  lenken,  wo  sich  oft  in  tiefen  Höhlungen  Wasser 
ansammelt.  So  z.  B.  habe  ich  in  Salanfe  (Walliser  Alpen) 
einige  solcher  Bergwerke  besucht,  wo  sehr  wahrscheinlich 
eine  ganze  Menge  von  Tieren  in  tiefen  Brunnen  sich  an  das 
Höhlenleben  angepaßt  hat.  Auch  hier  könnte  der  Vergleich 
mit  der  Fauna  der  großen  Höhlen  und  mit  derjenigen  der 
umliegenden  Gegenden  vielleicht  dem  Studium  der  Höhlen- 
fauna neue  Anregungen  geben. 
B.  Galli-Valerio  (Lausanne). 

^)  Indian  Journal  of  med.  Res.,  Bd.  3,   1916,  S.  489. 

*)  Centralbl.  f.  Bakt.  Orig.,  Bd.  78,   1916,  S.  90. 


Literatur. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  Meeresfauna  Westafrikas,  heraus- 
gegeben von  W.  Michaelsen.  Bd.  II,  Lieferung  1.  (Cope- 
poda,  Dekapoda,  Stomatopoda,  Cumacea ,  Schizopoda.) 
Hamburg  '16,  L.  Friedrichsen.  —  5.  M. 


Inhalte  Fr.  Bret  schneid  er.  Zur  mathematischen  Behandlung  des  Inzuchtgrades.  S.  225.  F.  Schilling,  Vitamine.  S.  229.  — 
Kleinere  Mitteilungen:  L.  Reisinger,  Eine  prähistorische  Operation,  (i  Abb.)  S.  231.  H.  Epstein,  Zur  Frage 
der  Genese  von  Spirula  und  anderer  Tintenfische.  S.  232.  —  Einzelberichte:  L.  Vegard  und  O.  Krogness, 
Höhe  des  Nordlichts.  S.  234.  Walther  Günther,  Der  VVildstand  im  Bialowieser  Urwald.  S.  234.  M.  Reuter, 
Die  Tollwut  des  Wildes.  S.  23=;.  Adolf  Kutin,  Die  parasitäre  Schlupfwespe  der  Kohlraupe  als  indirekter  Schädling 
des  Weizens.  S.  236.  J.  Dewitz,  Über  die  Zucht  des  Edelseidenspinners  im  Freien.  S.  236.  K.  A.  Hofmann, 
Über  die  Aktivierung  von  Chloratlösungen  durch  Osmiumtetroxyd  und  die  Verwendbarkeit  dieser  Reaktion  in  der 
analytischen  Chemie.  S.  237.  —  Bücherbesprechungen:  G.  Linck,  Fortschritte  der  Mineralogie,  Kristallographie  und 
Petrographie.  S.  239.  Hermann  Lohns,  .^us  Forst  und  Flur.  S.  239.  Novellen  aus  dem  Tierleben.  S.  239. 
P.  Riebesell,  Die  mathematischen  Grundlagen  der  Variations-  und  Vererbungslehre.  S.  240.  —  Anregungen  und 
Antworten:  Zum  Studium  der  Höhlenfauna.  S.  240.   —  Literatur:  Liste  S.  240. 


Manuskripte  und  Zuschriften 


Jen  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4, 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg 


validenstraße  42,  erbeten. 
S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  i6.  Band; 
der  ganzen  Reihe  32.  Band. 


Sonntag,  den  6.  Mai  1917. 


Nummer  18. 


Über  das  Altern. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Prof.   Rößle,  Vorstand   des  Patho 

Das  Altern  des  menschlichen  Organismus  ist 
einer  der  unerforschtesten  Lebensvorgänge.  So 
alltäglich  uns  die  äußeren  Erscheinungen  des 
Ältervverdens  sind,  so  wenig  wissen  wir  von  dem 
Wesen  dieses  Prozesses,  wenn  wir  nicht  an  der 
Oberfläche  haften  wollen. 

Wenn  uns  in  der  Natur  etwas  besonders 
rätselhaft  erscheint,  so  tun  wir  gut,  zu  versuchen, 
uns  zunächst  darüber  Rechenschaft  zu  geben, 
warum  die  fragliche  Naturerscheinung  uns  so 
dunkel  vorkommt.  Die  Schwierigkeit  des  Alters- 
problems scheint  eine  Reihe  von  Gründen  zu 
haben. 

Zunächst  ist  die  Schwierigkeit  wohl  dadurch 
bedingt,  daß  der  Ablauf  des  zu  erforschenden 
Vorganges  ein  so  langsamer  ist.  Hierin  gleicht 
unser  Problem  vielen  anderen  biologischen  Phäno- 
menen ,  die  durch  ihr  Tempo  der  Erforschung 
widerstreben.  Bewegungen  mittlerer  Geschwindig- 
keit und  Zustände  ohne  Bewegungen,  dies  sind 
im  allgemeinen  diejenigen  Gegenstände  in  der 
belebten  und  unbelebten  Natur,  denen  wir  mit 
unseren  unbewaftneten,  aber  auch  mit  geschärften 
Sinnen  am  ehesten  beikommen.  Sehr  schneller 
Ablauf  physikalischer  und  chemischer  Vorgänge 
erschwert  Beobachtung  und  Aufklärung  bedeutend, 
man  denke  nur  an  Muskelzusammenziehung,  Herz- 
bewegung, Nervenleitung,  Explosionen  u.  dgl. ; 
auf  der  anderen  Seite  bieten  sehr  langsame  Ent- 
wicklungen wieder  ihre  besonderen  Hindernisse; 
hier  sei  an  gewisse  Bewegungen  der  Gestirne,  an 
geologische  und  mineralogische  Schichtungen,  an 
darwinistische  und  Erblichkeitsfragen  erinnert; 
der  banale  Hauptgrund  für  die  schwere  Lösung 
dieser  P>agen  ist  die  Kürze  des  menschlichen 
Daseins.  Während  wir  aber  bei  sehr  schnellen 
Vorgängen  uns  durch  gewisse  Hilfsmittel  die 
einzelnen  Phasen,  etwa  durch  kinematographische 
Auflösung,  verlangsamen  und  dadurch  dem  Ver- 
ständnis näher  bringen  können,  besitzen  wir  meist 
keine  Möglichkeit,  Vorgänge  von  sehr  langsamem 
Ablauf  so  zu  beschleunigen,  daß  ein  und  der- 
selbe menschliche  Beobachter  die  Aufeinander- 
folge der  Einzelheiten  erforschen  konnte. 

Aus  diesem  Grunde  wird  derjenige,  welcher 
sich  mit  der  Untersuchung  des  Alterns  beschäftigt, 
gut  tun,  sich  nicht  bloß  an  den  alternden 
Menschen  zu  hallen,  sondern  sein  Augenmerk 
auch  auf  solche  lebende  Objekte  zu  lenken,  welche 
rascher  altern.  Nun  ist  zunächst  auch  für  den 
Laien  kein  Zweifel,  daß  das  Altern  eine  im  Tier- 
und  im  Pflanzenreich  weit  verbreitete  Erscheinung 

')  Nach   einem   Vortrag  im  Januar   191 7. 


logischen  Institutes  der  Universität  Jena. 

ist;  jeder  weiß,  daß  es  alte  Löwen,  alte  Pferde, 
alte  Karpfen,  alte  Eichen  gibt.  Es  wäre  logisch, 
das  Altern  bei  der  Eintagsfliege  zu  untersuchen, 
wenn  es  darauf  ankommt,  den  Prozeß  auf  eine 
möglichst  kurze  Zeitspanne  beschränkt  zu  sehen. 
Vorläufig  wissen  wir  aber  nicht,  ob  der  physio- 
logische Tod  bei  diesen  Insekten  durch  einen 
dem  Altern  entsprechenden  Prozeß  eingeleitet 
wird.  An  länger  lebigen  Insekten  und  an  Würmern 
sind  diese  Verhähnisse  besser  studiert;  es  wird 
davon  später  noch  die  Rede  sein.  Wenn  man 
bei  noch  niedrigeren  Lebewesen,  etwa  bei  Ein- 
zelligen, von  Altern  spricht,  so  kann  es  sich 
zunächst  nur  um  Analogien  handeln ;  denn  wie 
wir  sehen  werden,  ist  der  Altersprozeß  der  viel- 
zelligen im  wesentlichen  dadurch  begründet,  daß 
die  Zellteilungen  in  den  geweblichen  Verbänden 
ihre  Beschränkung  erfahren  und  damit  die  Möglich- 
keit der  Verjüngung  den  Gewebezellen  —  in 
verschiedenem  Maße  -      genommen  ist. 

In  verschiedenem  Maße,  so  sagten  wir  eben, 
unterliegen  die  verschiedenen  Gewebezellen  dem 
Altersprozeß.  Darin  liegt  nun  die  zweite  Haupt- 
schwierigkeit des  Studiums  des  Alterns  beim 
Menschen.  Das  Altern  des  Gesamtorganismus 
setzt  sich  zusammen  aus  den  lokalen  Altersvor- 
gängen in  den  verschiedenen  Organen.  Diese 
haben  ihr  sehr  verschiedenes  Zeitmaß  und  z.  T. 
auch  verschiedene  Erscheinungsformen.  Ein  ob- 
jektives Verfahren  für  die  Bestimmung  des  Alterns 
haben  wir  ebensowenig  für  den  ganzen  Menschen 
wie  für  seine  Teile.  Wir  vermögen  zwar  ungefähr 
das  Alter  eines  Menschen  zu  schätzen  und  zwar 
im  allgemeinen  um  so  genauer,  je  jünger  das 
beurteilte  Individuum  ist.  Pur  die  Erkennung  des 
Alters  eines  Menschen  haben  wir  nur  gewisse 
Merkmale,  die  in  den  Gesichtszügen,  in  der 
Haltung,  in  den  Muskelbewegungen,  vor  allem 
des  Mienenspiels  und  des  Ganges  liegen.  Be- 
kanntlich verfügen  wir  bei  anderen  Lebewesen 
über  objektive  Altersbestin)mungen;  ich  erinnere 
an  die  Jahresringe  der  Bäume,  an  die  Jahresringe 
der  Hörsteine  (Otolithen)  und  die  Schuppen  vieler 
Fische.  Zwar  gibt  es  auch  beim  Menschen  ge- 
wisse jahreszeitliche  Schwankungen  im  Wachstum, 
sie  hinterlassen  aber  an  keinem  Gewebe,  so  viel 
wir  wissen,  ihre  Spuren.  Eine  wirkliche  Diagnose 
des  Alters  gibt  es  also  beim  Menschen  nicht;  sie 
■  wäre  ganz  außerordentlich  wichtig  in  wissenschaft- 
licher und  praktischer  Hinsicht,  für  den  Arzt  wie 
für  den  Richter,  dabei  haben  wir  erst  jenes  Alter 
im  Auge,  das  mit  unserem  Kalender  gemessen 
wird  und  das  man  das  juristische  oder  standes- 
amtliche Alter  nennen  könnte.    Eine  andere  Frage 


242 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


ist  aber  die,  ob  es  nicht  noch  ein  anderes  Aher, 
das  wahre  oder  biologische  Alter  gibt;  den  Maß- 
stab würde  der  Grad  der  Abnutzung  angeben, 
den  ein  Individuum  in  seinen  wichtigsten  Organen 
darbietet  und  könnte  somit  nicht  nach  der  Zeit, 
sondern  nur  nach  der  mehr  oder  minder  jugend- 
Hchen  Beschaffenheit  seiner  Gewebe  bestimmt 
werden.  Es  ist  klar,  daß  auch  diese  Betrachtungs- 
weise bei  einer  wissenschaftlichen  Ausbeutung  des 
Altersproblems  herangezogen  werden  muß,  aber 
nur  dann,  wenn  nachgewiesen  werden  kann,  daß 
das  Altern  einer  Abnutzung  der  Organe  gleich- 
kommt. Ob  ein  Individuum  im  Vergleich  zu 
seinem  standesamtlichen  Alter  verhältnismäßig 
jung  oder  gealtert  ist,  dies  zu  bestimmen  würde 
für  den  Staat  in  Fragen  des  Beamtendienstes,  der 
Wehrpflicht  usw.  und  für  Lebensversicherungs- 
gesellschaften von  großer  Wichtigkeit  sein.  Wir 
haben  aber  für  die  Bestimmung  des  wahren 
oder  biologischen  Alters  keine  Mittel.  Was  das 
juristische  Alter  anlangt,  so  vermögen  wir  da- 
durch, daß  die  Menschen  im  allgemeinen  sich 
gleichmäßig  entwickeln  und  altern,  aus  den  ge- 
nannten äußeren  Formveränderungen  das  Alter 
einer  Person  zu  erraten.  Wir  irren  uns  aber  sofort, 
wenn  jemand  wesentlich  jünger  oder  älter  aus- 
sieht, als  seinem  juristischen  Alter  entspricht.  Ich 
glaube  nicht,  daß  dabei  immer  wirklich  ein  Irrtum 
in  naturwissenschaftlichem  Sinne  vorliegt;  viel- 
mehr haben  wir  allen  Grund  anzunehmen,  daß 
unser  Blick  uns  nicht  täuschte,  wenn  wir  jemand 
für  45  schätzen,  der  vielleicht  35  Jahre  alt  ist. 
Denn  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  der  Alters- 
prozeß ein  individueller,  die  Menschen  altern  ver- 
schieden rasch  und  zwar  sind  die  individuellen 
Abweichungen  in  der  Jugend  meist  gering,  in 
späteren  Lebensjahrzehnten  aber  merklicher. 

Der  äußere  Anblick  kann  für  die  Abschätzung 
des  wahren  Alters  aber  nur  maßgebend  sein,  wenn 
bei  einem  und  demselben  Menschen  Haut,  Muskeln, 
Fett  und  Skelet  mit  den  anderen  Organen  im  Altern 
gleichen  Schritt  halten.  Ist  dies  der  h^all  ?  Bevor  wir 
diese  Frage  zu  beantworten  suchen,  müssen  wir  eine 
Vorfrage  erledigen.  Sie  lautet :  Sind  wir  denn  in  der 
Lage,  an  den  inneren  Organen  wenn  auch  nicht  die 
genaue,  so  doch  die  ungefähre  Diagnose  des 
Alters  ihres  Besitzers  zu  stellen  und  sind  wir  also 
mithin  auch  imstande,  die  Organe  in  ihrem  Alter 
zu  vergleichen?  Diese  Frage  kann  nicht  bejaht 
werden.  Während  wir  dem  Gesicht  durch  jahre- 
lange Übung  seine  ungefähre  Jahreszahl  ablesen 
können ,  verfügt  auch  der  erfahrenste  Anatom 
nicht  über  die  Fähigkeit,  aus  der  Beschaffenheit 
der  Eingeweide  ihre  Bejahrung  zu  erraten,  ^)  da 
vielmehr  fast  jedes  Organ  in  gewissen  Zügen 
seine  eigenen  Altersmerkmale  hat,  so  kann  man 
weder  Äußeres  mit  Innerem,  noch  eine  Leber  mit 


')  Es  würde  dies  vielleicht  dann  noch  eher  möglich  sein, 
wenn  alle  Organe  im  selben  Sinne  Veränderungen  durch  das 
Altern  erlitten ;  solche  allen  Geweben  gemeinsamen,  insbe- 
sondere quantitativ  vergleichbaren  Altersschicksale  kennen 
wir  aber  vorläufig  nicht. 


dem  Herzen  genau  vergleichen,  leider  ist  deshalb 
auch  die  wichtige  Frage  meist  schwer  zu  lösen, 
ob  in  einem  bestimmten  Fall  ein  Organ  ungleich 
stärkere  Fortschritte  im  Alter  gemacht  hat  als 
ein  anderes. 

Sieht  man  zunächst  von  individuellen  Fällen 
ab,  so  erhält  man  doch  bei  längerer  Beschäftigung 
mit  diesen  Altersfragen  den  Eindruck,  daß  der 
Körper  nicht  nur  auf  dem  aufsteigenden  Ast 
seiner  Entwicklung  einen  gewissen  Weg  mit  be- 
stimmter Aufeinanderfolge  von  Organreifungen 
einschlägt,  sondern  daß  dies  auch  auf  dem  ab- 
steigenden Ast  der  Fall  ist ,  wenn  freilich  auch 
die  Schwankungen  und  Störungen  dieser  letzteren 
Entwicklung  wesentlich  größere  zu  sein  scheinen. 
Das  Ergebnis  wäre  eine  Lebensabwicklung,  die 
man  „harmonisches  Altern"  nennen  könnte. 

Die  Harmonie  des  Alterns  kann  schon  sehr 
früh  gestört  sein.  Es  wäre  verkehrt ,  wenn  wir 
den  Beginn  des  Altersprozesses  etwa  dann  an- 
setzten, wenn  der  Körper  den  Wachstumsabschluß 
hinter  sich  hat.  Vielmehr  müssen  wir  Wachstum 
und  Altern  begrifflich  und  dürfen  beide  nicht 
zeitlich  streng  trennen.  Das  Wachstum  ist  nur 
eine  Nebenerscheinung  des  Alterns,  zwar  in 
mancher  Beziehung  eine  sehr  wesentliche,  aber 
immerhin  sind  es  keine  gegensätzlichen  Fhänome, 
so  wie  sie  sich  andererseits  auch  nicht  decken. 
Es  ist  irrig ,  das  Längenwachstum  des  Körpers 
als  Maßstab  der  Gesamtentwicklung  oder  des 
Ablaufes  des  Lebens  anzusehen  und  etwa  zu  be- 
haupten, wir  alterten  erst  von  dem  Momente  an, 
wo  nach  dem  äußeren  Anschein  die  jugendliche 
Periode  abgeschlossen  ist  und  wo  nach  der  ana- 
tomischen Prüfung  die  körperliche  „Entwicklung" 
in  Form  von  Ansatz  und  Reifung  „aufgehört"  hat. 
Vielmehr  müssen  wir  in  naturwissenschaftlichem 
Sinne  den  Altersprozeß  mit  der  ersten  Organ- 
ausbildung, also  mit  den  ersten  embryonalen 
Stufen  beginnen  lassen.  Leider  steht  dem  der 
Sprachgebrauch  im  Wege,  indem  man  unter 
Altern  gemeinhin  das  Auftreten  greisenhafter 
Eigentümlichkeiten  oder  zum  mindesten  die 
Annäherung  an  höheres  Alter  versteht.  Es  fehlt 
uns  leider  ein  Ausdruck  für  den  Vorgang,  daß 
wir  von  der  ersten  Minute  unseres  Lebens  in 
einer  Verwandlung  begriffen  sind,  die  zuerst 
schnell,  dann  immer  langsamer  erfolgt,  aber  nie 
ganz  aufhört.  In  diese  Verwandlung  inbegriffen 
ist  das  Wachstum,  welches  jedes  Organ  für  sich 
vollendet;  dieses  Wachstum  verdeckt  sozusagen 
den  Altersprozeß  bis  zu  einem  gewissen  Grade; 
erst  nachdem  jedes  Organ  seine  „definitive"  Größe 
erreicht  hat,  kommt  der  weitere  Ablauf  des 
Altersprozesses  klar  zum  Vorschein.  Daß  Wachs- 
tum und  Altern  sich  nicht  decken,  ergibt  sich 
aus  anatomischen  Beobachtungen  pathologischer 
Art:  so  aus  der  Tatsache,  daß  das  Wachstum 
wie  beim  Zwergwuchs  stille  stehen  kann,  ohne 
daß  die  Zwerge  deshalb  aufhörten  zu  allern. 

Nur  in  einem  Punkte  sind  Wachstum  und 
Altern  als  gegensätzlich  anzusehen :  sie  wirken 


N.  F.  XVI.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


243 


einander  entgegengesetzt.  Um  dies  zu  verstehen, 
ist  es  notwendig,  auf  das  Wesen  beider  Er- 
scheinungen einzugehen.  Das  Wesen  des 
Wachstums  besteht  in  der  Vermehrung  der  leben- 
den Substanz;  sie  geschieht  durcli  Größenzunahme 
und  durch  Vermehrung  der  Zellen.  Da  das  Wachs- 
tum der  Einzelzelle  durch  Größenzunahme  bei  den 
meisten  Lebewesen  eng  begrenzt  ist,  so  spielt  die 
Zellteilung  als  Mechanismus  des  Organwachstums 
die  Hauptrolle.  Das  Wesen  des  Alterns  hingegen 
besteht  in  der  spezifischen  Ausreifung  der  Zellen, 
in  Ausbildung  gewisser  chemischer  und  struktu- 
reller Eigentümlichkeiten,  in  der  Zytomorphose, 
wie  Minot  sagt.  Diese  beiden  Grundfähigkeiten 
der  Zelle,  zur  Vermehrung  und  zur  Differenzierung, 
wirken  nun  insofern  einander  entgegengesetzt,  als 
die  Fähigkeit  zur  Zellteilung  entschieden  mit  der 
Höhe  des  spezifischen  Ausbaues  der  Zelle  abnimmt 
und  umgekehrt  Zellen,  welche  in  starker  Vermeh- 
rung begriffen  sind,  keine  Ausreifung  zeigen,  wie 
wir  es  in  stärkstem  Maße  bei  den  Zellen  der  bös- 
artigen Geschwülste  wahrnehmen,  die  schließlich 
zu  einer  jeder  besonderen  ßaueigentümlichkeit  ent- 
behrenden Zellbrut  entarten  (Anaplasie).  Wir 
hätten  damit  einen  Anhaltspunkt  dafür,  die  Zeit 
zu  bestimmen,  wann  das  Altern  des  Organismus 
oder  richtiger  gesagt,  der  einzelnen  Gewebe  be- 
ginnt. Es  beginnt  dann,  wenn  sich  in  und  zwischen 
den  Zellen  proto-  und  paraplasmatische  Strukturen 
bilden,  wahrscheinlich  sind  damit  auch  definitiv 
durch  kolloidchemische  Festigung  Teile  aus  der 
lebendigen  Substanz  abgegeben. 

Mit  der  Erreichung  einer  gewissen  Differen- 
zierungshöhe scheint  dann  die  Fähigkeit  der  Zellen 
zur  Teilung  ganz  aufzuhören.  Wir  haben  allen 
Grund  anzunehmen,  daß  die  Zellen  des  mensch- 
lichen Herzens  und  die  Ganglienzellen  des  Nerven- 
systems sehr  bald  definitiv  angelegt  werden  und 
sich  durch  die  Lebensjahrzehnte  hindurch  nicht 
erneuern.  Da  sie  mithin  zu  den  längstlebigen 
Zellen  des  Körpers  gehören,  müßten  sie,  zumal 
sie  auch  zu  den  tätigsten  zählen,  die  Zeichen  des 
Alterns  am  ausgeprägtesten  tragen,  wenn  ihnen 
nicht  besondere  Möglichkeilen  der  Verjüngung 
oder  sonstiger  Altersvermeidung  zu  Gebote  stehen. 
Damit  kommen  wir  zur  Frage  der  Verjüngung. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  Möglichkeit  der 
Verjüngung  einem  Organismus  Schutz  vor  dem 
natürlichen  Tod  durch  Alter  und  daher  Unsterblich- 
keit verleiht.  Die  Unsterblichkeit  ist  im  Reiche 
der  lebenden  Welt  weit  verbreitet.  Bei  den  nieder- 
sten Tierkreisen  ist  sie  noch  mit  der  Fortdauer 
der  Individualform  verknüpft:  das  Individuum  selbst 
ist  unsterblich  und  nur  Teile  von  ihm  gehen  zu- 
grunde; wir  wissen  das  aus  den  schönen  Unter- 
suchungen von  Woodruff  und  Erdmann;  sie 
haben  gezeigt, daß  einzellige  Lebewesen  (Paramäcien) 
imstande  sind,  nach  einer  Reihe  von  Vermehrungs- 
teilungen eine  periodisch  wiederkehrende  Reor- 
ganisation ihres  Kernapparates  durchzuführen. 
Vor  dieser  inneren  Umwälzung  zeigen  sie  ein  Ver- 
halten,    welches    in   einigen    Grundzügen    an    das 


Altern  höher  stehender  Tiere  erinnert.  Sie  ver- 
mögen also,  sich  aus  sich  heraus  immer  wieder 
zu  verjüngen.  Woodruff  und  E  r  d  m  an  n  nennen 
diesen  Vorgang  „Endomixis"  zum  Unterschied 
von  der  Amphimixis;  diese  ist  bereits  eine  höhere 
Form  der  Lebensauffrischung,  sie  geschieht  durch 
eine  Vereinigung  zweier  Individuen  und  einen 
Austausch  von  Kernstoffen  zwischen  diesen.  Die 
vorübergehende  Zellverschmelzung  in  der  Konju- 
gation ist  die  älteste  Form  der  Sexualität  und 
sichert  den  sich  wieder  trennenden  Partnern  neue 
Lebensdauer.  Der  ursprünglichste  Sinn  der  Sexu- 
alität ist  mithin  die  Neubildung  jugendlicher  leben- 
diger Substanz.  Die  Sexualität  ist  das  Mittel 
gegen  Alter  und  Tod  oder  genauer  gesagt,  gegen 
den  Tod  durch  das  Alter.  Mit  der  höheren  Or- 
ganisation der  Tierklassen  ändert  sich  dies  nicht, 
sondern  es  ändert  sich  bloß  der  Wert,  den  die 
Natur  auf  das  Individuum  liegt.  Bei  den  Einzelligen 
hing  die  Erhaltung  der  Art  von  der  Erhaltung  des 
Individuums  ab,  bei  den  Vielzelligen  wird  das 
Individuum  mehr  und  mehr  zum  vorübergehenden 
Träger  der  unsterblichen  Substanz  der  Keim- 
stoffe. 

Aus  theoretischen  Gründen  müssen  wir  also 
annehmen,  daß  das  Altern  eine  Grundnotwendig- 
keit der  lebendigen,  zellig  organisierten  Substanz 
ist,  sowie  es  eine  Grundfähigkeit  derselben  ist,  zu 
wachsen.  Aber  auch  die  Erscheinungen,  die 
wir  an  der  lange  nicht  erneuerten,  nicht  aufge- 
frischten, nicht  verjüngten  Zelle  des  Infusors  wahr- 
nehmen, entsprechen  in  wesentlichen  Punkten  den 
Alterserscheinungen  bei  den  Geweben  der  höch- 
sten Lebewesen,  wie  beim  Menschen.  Die  eine 
Erscheinung  ist  die  fortschreitende  Unfähigkeit 
zur  Zellteilung,  zum  Wachstum,  zur  Vermehrung; 
vor  der  Endomixis  wie  vor  der  Amphimixis  (Kon- 
jugation) sinkt  bei  Paramäcium  die  Zahl  der 
Teilungen  auf  ein  Minimum;  das  Nachlassen  der 
Zellvermehrung  in  den  menschlichen  Geweben  mit 
dem  Alter  haben  wir  oben  als  eines  der  wichtig- 
sten Altersmerkmale  verzeichnet.  Jedoch  müssen 
wir  hier  eine  Bemerkung  einschalten:  ein  Organ 
erreicht  seine  endliche  Größe  im  wesentlichen 
durch  Vermehrung  seiner  spezifischen  Zellen;  die 
Gründe  für  das  Aufhören  dieser  Vermehrung,  also 
für  den  Wachstumsabschluß  sind  ganz  dunkel;  in 
der  Differenzierung  der  Zellen  mag  für  manche 
Gewebe  die  wichtigste  Bedingung  hierfür  gegeben 
sein;  jedoch  kann  dies  nicht  für  alle  gelten;  denn 
wir  wissen,  daß  auch  hoch  differenzierte  Zellen 
die  Teilfähigkeit  keineswegs  immer  einbüßen;  so 
schließen  sich  kleine  Lücken  in  den  Reihen  der 
Nieren-  und  Leberzellen,  die  durch  physiologischen 
Verschleiß  oder  Untergang  durch  Krankheit  ent- 
standen sind,  sofort  durch  Teilungen  der  den 
■Lücken  benachbarten  Epithelien;  es  ist  uns  Patho- 
logen nichts  darüber  bekannt,  daß  etwa  die  re- 
generatorische Zellneubildung  im  höheren 
Alter  versagte.  Jedenfalls  ergibt  sich  aus  ihr,  daß 
bei  vielen  Organzellen  auch  des  alten  Menschen 
eine    gewisse,    nicht    näher    bekannte    chemische 


244 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  i8 


oder  physikalische  Situation  sofort  den  Teilungs- 
apparat in  Gang  setzt. 

Die  zweite  wichtige  Erscheinung,  durch  welche 
„alternde"  Infusorien  und  alternde  menschliche 
Gewebezellen  sich  gleichen,  sind  die  Anhäufungen 
von  abgenutztem  protoplasmalischem  Material. 
Sowohl  bei  der  Endo-  als  bei  der  Amphimixis 
beseitigen  die  Paramäcien  altes  Kernmaterial  durch 
Ausstoßung  und  Auflösung.  Eine  große  Anzahl 
Individuen,  bei  denen  offenbar  die  Beseitigung 
dieser  Altersschlacken  nicht  gelingt,  geht  zugrunde. 

Wir  kennen,  wie  gesagt,  an  den  Gewebezellen 
keinen  Vorgang,  der  der  Kernerneuerung  der  In- 
fusurien  gleichzusetzen  wäre;  und  daher  müssen 
wir  vorläufig  die  Verjüngung  menschlicher  Gewebe 
auf  diesem  Wege  als  ausgeschlossen  erachten;  aber 
wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  gewisse  Kern- 
produckte  im  Protoplasma  der  Gewebezellen  in 
Parallele  zu  den  Zerfallsprodukten  desMakronukleus 
beim  Infusor  setzen.  Der  wesentliche  Unterschied 
ist  der,  daß  offenbar  gewisse  Gewebezellen  sich 
dieser  Altersschlacken  nicht  oder  nicht  ganz  ent- 
ledigen können;  das  sog.  Abnutzungspigment 
(Lipofuscin)  ist  als  der  sichtbare  Ausdruck  dieses 
Altersprozesses  anzusehen;  dieses  Pigment  ist  in 
zahlreichen  Geweben,  mit  dem  Alter  in  steigender 
Menge,  anzutreffen;  bemerkenswerterweise  findet 
es  sich  gerade  in  jenen  Organen  am  frühesten 
und  später  am  massenhaftesten,  die  einer  Selbst- 
erneuerung durch  Zellmauserung  am  wenigsten 
fähig  sind,  nämlich  Ganglienzellen  (besonders  ver- 
schiedener bevorzugter  Hirngebiete,  Sympathikus, 
Spinalganglien)  Herzmuskelzellen,  Muskelzellen  der 
quergestreiften  Skelettmuskulatur  (besonders  wieder 
des  Atmungsapparates)  und  der  glatten  Muskula- 
tur (besonders  der  Blutgefäße  und  des  Darmes). 
Der  Beginn  der  Ablagerung  reicht  für  das  Herz- 
pigment und  für  das  Darmmuskelpigment  in  das 
Kindesalter,  auch  für  das  Ganglienzellpigment  in 
das  erste  Lebensjahrzehnt  zurück.  Ich  glaube,  die 
Beziehung  dieses  Pigments  zu  Kernstoffen  nach- 
gewiesen zu  haben.  Dadurch  erhält  die  Hensen- 
sche  Hypothese  von  der  Alterschlackenbildung  der 
Kerne  eine  wesentliche  Stütze.  Hensen  führte 
aus,  daß  das  Altern  auf  einer  allmählichen  An- 
lagerung von  Stofifwechselschlacken  an  die  chroma- 
tischen Kernsubstanzen  beruhen  könne;  bei  der 
Vorbereitung  zur  Befruchtung  befreie  sie  sich 
durch  Ausstoßung  der  Richtungskörperchen  davon. 
Wir  wollen  hier  nicht  erörtern,  weshalb  die 
Hensen 'sehe  Hypothese  nicht  dieselbe  Gültig- 
keit für  Geschlechtszellen  wie  für  Gewebezellen 
haben  dürfte,  sondern  nur  ihren  Kern  anerkennen. 

Es  hat  wohl  eine  Bedeutung,  daß  gerade  die 
frühzeitig  so  hochdifferenzierten  Zellen,  wie  die  des 
Herzens  und  der  Ganglien  die  Produkte  ihres 
Altersprozesses  sichtbar  werden  lassen,  während 
andere  Gewebe  davon  frei  zu  bleiben  scheinen, 
insbesondere  die  Wechselgewebe,  vor  allem  die 
Epithelien  der  Haut  und  der  Schleimhäute,  sowie 
die  Blutzellen;  in  ihnen  herrscht,  z.  T.  über  den 
Tod    des     Individuums     hinaus,     Zellneubildung. 


Vielleicht  kann  man  das  Liegenbleiben  von  — 
natürlich  toten  —  am  Lebensprozeß  nicht  mehr 
teilnehmenden  Einschlüssen  in  hochdifferenzierten 
Zellen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit  dem  Vor- 
gang dtr  Differenzierung  selbst  vergleichen,  indem 
auch  diese  in  der  Ein-  und  Anlagerung  nicht  mehr 
völlig  lebender  Plasmastrukturen  besteht.  Denn 
die  paraplastischen  Differenzierungsprodukte  wie 
Fibrillen,  Fasern,  Stütz-Grundsubstanzen  aller  Art 
sind  keine  voll  lebendigen  Gewebsteile  mehr.  Es 
scheint  nun,  als  ob  Anwesenheit  solcher  halbtoten 
und  toten  Zellteile  die  Zellvermehrungen  hinderte  und 
wir  hätten  hierdurch  eine  Möglichkeit  für  die  Er- 
klärung, daß  Differenzierung  wie  Alter,  zwei  an 
sich  so  verschiedene  Vorgänge,  die  Wachtums- 
vorgänge  hemmen. 

Daß  auch  Gewebe  sich  gegenseitig  im  Wachs- 
tum beeinflussen  können,  ist  uns  nicht  nur  aus 
vielen  Erfahrungen  der  normalen  und  patholo- 
gischen Entwicklungsgeschichte  bekannt,  sondern 
auch  durch  Experimente  über  das  Wachstum  von 
Geweben  in  vitro  deutlicher  geworden.  Züchtet 
man  z.  B.  Nervengewebe  in  Plasma,  so  kann  man 
sein  Wachstum  durch  Zusatz  von  Bindegewebe 
hemmen.  Hierbei  dürften  weniger  physikalische 
als  chemische  Wirkungen  im  Spiele  sein.  Denn 
umgekehrt  vermögen  Preßsäfte  von  lebhaft  wuchern- 
den Geweben,  wie  Embryonen,  Geschwülste  u.  dgl., 
das  Wachstum  von  anderen  Geweben  in  vitro  an- 
zuregen. 

Daß  gewisse  Säfte  imstande  sind,  Wachstum 
anzuregen  und  gleichzeitig  eine  Art  Verjüngung 
zu  erzeugen,  geht  aus  den  berühmten  Versuchen 
Claude  Bernards  über  die  Injektion  von  Hoden- 
saft und  die  späteren  Experimente  Harm's  her- 
vor und  zeigt  auch  so  wieder  das  Verhältnis  von 
Wachstum  und  Altern. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  welche  Bedeutung  es 
hätte,  wenn  sich  die  Bedingungen  über  die  ver- 
minderte Wachstumsfähigkeit  der  Gewebezellen 
im  Alter  mehr  aufklären  ließen.  Ferner  wäre  es 
wichtig,  genau  zu  erfahren,  ob  und  inwieweit 
auch  die  physiologische  Regeneration  im  hohen 
Alter  nachläßt  und  schließlich,  ob  etwa  neben 
dem  Größenschwund  der  Zellen  auch  eine  nume- 
rische Verminderung  der  senilen  Parenchymzellen 
eintritt. 

Wenn  wir  uns  an  die  sichtbaren  Ver- 
änderungen der  Gewebe  im  Alter  halten, 
so  wäre  eine  weitere  Aufgabe,  zu  untersuchen,  ob 
sie  untereinander  irgendwie  ursächlich  zusammen- 
hängen ;  als  die  wichtigsten  Veränderungen  sind 
aufzuzählen  die  eben  genannte  Atrophie,  die  schon 
vorhin  erwähnte  häufige  Pigmentablagerung,  die 
Vermehrung  des  Bindegewebes  und  der  elastischen 
Fasern,  die  Verfettungen. 

Sind  diese  Erscheinungen  einander  gleichwertig, 
etwa  als  Wirkungen  derselben  einheitlichen  Ur- 
sachen und  sind  sie  gleichzeitig,  oder  ist  eine 
darunter,  welche  wir  als  zeitlich  und  ursächlich 
primär  ansehen  könnten?  Es  kann  uns  hier  nicht 
mehr  genügen,  den  Altersprozeß  mit  Schlagworten 


N.  F.  XVI.  Nr.   i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


245 


oder  mit  Umschreibungen  charakterisieren  zu 
wollen,  etwa  indem  wir  sagen,  er  sei  ein  Ab- 
nulzungsvorgang  schlechthin  oder  indem  wir,  wie 
es  zuweilen  geschehen,  behaupten,  die  lebendige 
Substanz  jeder  Art  vermöge  nur  eine  beschränkte 
Zahl  von  Zellteilungen  durchzumachen  und  nach 
diesen  trete  das  Greisenalter  und  der  Tod  durch 
Erschöpfung  ein.  Vielmehr  sehen  wir,  daß  nicht 
etwa  das  Gewebe  langsamer  altert  oder  das- 
jenige Individuum  länger  lebe,  welches  sich  schont, 
sondern  daß  der  Altersprozeß  auch  in  hohem 
Maße  unabhängig  erscheint  von  dem  Zellver- 
schleiß. 1) 

Aber  wir  bedürfen  der  unbestimmten  Kenn- 
zeichnungen des  Altersprozesses  gar  nicht.  Wenn 
wir  vorhin  auf  Grund  vergleichender  Beobach- 
tungen über  des  Altern  der  Gewebe  theoretisch 
zu  der  Anschauung  gekommen  sind,  daß  die 
wesentlichste  Erscheinung  des  Alters  die  mangelnde 
Verjüngung  durch  Nachlassen  der  Zellerneuerung 
ist  und  daß  diese  wiederum  durch  Zunahme  der 
Differenzierungsprodukte  bedingt  ist,  so  kommen 
wir  auch  bei  einer  Abwägung  der  sichtbaren  Ver- 
änderungen in  den  senilen  Geweben  zu  der  Über- 
zeugung, daß  es  die  Vermehrung  der  paraplas- 
tischen Substanzen,  vor  allem  des  Bindegewebes, 
die  Alterssklerose  ist,  von  der  die  I'igmen- 
tierung,  der  Schwund  und  die  anderen  Eigen- 
tümlichkeiten der  gealterten  Gewebe  abhängig 
sind. 

Von  der  Allerssklerose  bleibt  kein  Organ  ver- 
schont. In  allen  Drüsen,  in  allen  Parenchymen 
überhaupt  vermehrt  sich  das  unspezifische  Siütz- 
gerüst;  die  Organe  werden  zäher,  ob  außer  der 
Quantität  die  Qualität  des  Bindegewebes  sich 
ändert,  ist  nicht  genügend  untersucht.  Durch  den 
zunehmenden  F"aserreichtum  verliert  das  Binde- 
gewebe selbst  an  Jugendlichkeit,  aber  auch  die 
Beziehungen  zum  Epithel  werden  andere,  indem 
allerorten  die  Hüllschichtcn  dichter,  die  Basal- 
membranen derber  werden.  Es  mag  sein,  daß 
die  senile  Atrophie  der  Zellen  z.  B.  auch  von  den 
hierdurch  verschlechterten  Ernährungsbedingungen 
abhängig  ist  und  dazu  werden  außerdem  die  Alters- 
veränderungen  der  feinsten  Gefäße  selbst  mit 
Verdichtung  der  Gefäßwand  beitragen.  Die  sich 
zwischen  funktionierende  Zellen  einerseits,  Blut- 
und  Lymphbahn  andererseits  schiebenden  Mem- 
branen schlechterei-  osmotischer  Qualität  erschweren 
nun  natürlich  ebenso  Stoffzu-  als  Stoffausfuhr;  die 
schlechtere  Ernährung  bedingt  Atrophie,  die 
schlechtere  Reinigung  der  lebendigen  Zellmassen 
bedingt  Liegenbleiben  von  Stoffwechselprodukten. 
So  verstehen  wir  wohl  die  Verkleinerung,  die 
Alterspigmentierung  und  die  Verfettungen  seniler 
Zellen.  Die  Pigmentatrophie  finden  wir  in  der 
Niere    nur    in    den   Teilen,    wo    die    senilen  Ver- 

')  Die  krankhafte  Wucherung  von  Krebszellen  aus  Ge- 
weben alter  Leute  als  Beweis  für  die  nicht  erloschene  Teil- 
fähigkeit seniler  Zellen  anzusehen,  geht  nicht  an,  weil  wir 
über  die  Natur  der  ursprünglichen  MutterzcUen  der  Ge- 
schwülste nichts  wissen. 


änderungen  des  Zwischengewebes  ausgeprägt  zu 
sein  pflegen,  nämlich  im  „Mark",  an  Leber  und 
Nebenniere  an  denjenigen  Enden  der  Zellsäulen, 
die  schon  physiologisch  nur  über  eine  Ernährung 
zweiten  Ranges  verfügen  und  wir  sehen  besonders 
starke  Grade  der  Pigmentatrophie  daselbst,  wenn 
sie   durch  Stauungszustände    dritten  Ranges    wird. 

Übrigens  ist  die  Verbreitung  bzw.  die  örtliche 
Menge  des  im  Alter  abgelagerten  Pigments  starken 
individuellen  Schwankungen  unterworfen.  Die 
Pigmentierung  geht  nach  meinen  Erfahrungen  der 
Sklerose  parallel  und  andererseits  zeigen  im  all- 
gemeinen „gut  konservierte"  alte  Leute  wenig  von 
beiden  Erscheinungen ;  es  spricht  dies  sehr  dafür, 
daß  diese  wichtigsten  Alterprozesse  ursächlich  zu- 
sammenhängen. 

Das  Auftreten  von  Verfettungen  deutet  auf 
Störungen  der  Verbrennungsprozesse  und  damit 
auf  eine  Beeinflussung  des  Stoffwechsels  der 
Zellen,  wenn  auch  im  Gesammstoffwechsel  keine 
deutlichen  Unterschiede  gegenüber  mittleren 
Altersstufen  sich  durch  physiologisch-chemische 
Untersuchungen  ergeben  haben.  Solche  Lipoid- 
ablagerungen  zeigen  im  Alter  viele  Epithelien 
(Niere,  Prostata,  Schilddrüse,  Hypophysis  usw.), 
Grundsubstanzen  (Knorpel,  Nierenmark,  Linse, 
Hornhaut;  Greisenbogen  I)  ganz  abgesehen  davon, 
daß  das  Alterspigment  selbst  —  wenn  auch  wech- 
selnd stark  —  lipoidhaltig  ist. 

Geht  man  der  Neigung  der  alternden  Gewebe, 
ihr  Bindegewebe  anzureichern  auf  den  Grund,  so 
kann  man  die  Vermutung  äußern,  daß  es  sich 
um  einen  kompensatorischen  Vorgang  handelt. 
Nicht  etwa  in  dem  Sinne,  daß  wegen  der  Atrophie 
der  spezifischen  Elemente  der  Organe,  etwa  der 
Epithelien,  eine  Lückendeckung  durch  unspezi- 
fisches P'üllgewebe,  sozusagen  ex  vacuo  auftritt,  — 
dies  besorgt  eher  das  Fettgewebe  (Thymus,  Nieren- 
becken, Darmsubmukosa  usw.)  —  vielmehr  dürfte 
es  sich  um  eine  sog.  vikariierende  Hypertrophie 
handeln.  Das  alte  Bindegewebe  läßt  nach,  rück- 
und  neugebildet  wird  es  nicht,  es  kann  aber  neues 
Bindegewebe  angesetzt  werden. 

Betrachten  wir  das  Altern  einen  Augenblick 
vom  funktionellen  Standpunkt,  so  ist  es  in  dieser 
Hinsicht  vor  allem  durch  den  Nachlaß  der  Kräfte 
gekennzeichnet  und  dies  läßt  sich  für  eine  Reihe 
von  Organen  durchführen;  die  Unfähigkeit  älterer 
Menschen  zu  einem  körperlichen  oder  geistigen 
Rekord  ist  der  allgemein  bekannte  Ausdruck  hier- 
für. Die  Zeit  der  möglichen  Höchstleistungen  ist 
aber  für  jedes  Organ  verschieden;  Gewebe,  welche 
jedenfalls  sehr  frühzeitig  „nachlassen",  sind  Binde- 
gewebe und  glatte  Muskulatur.  Wir  schließen  die 
Verschlechterung  der  Leistung  am  Bindegewebe 
aus  den  physiologischen  und  pathologischen  Ver- 
schiebungen der  Organe,  die  durch  Nachgiebigkeit 
des  Bindegewebes  gegenüber  Druck  und  Zug  be- 
dingt sind,  am  Muskelgewebe  z.  B.  besonders  früh- 
zeitig aus  dem  allmählichen  Umbau  der  Arterien- 
wände. Dem  Nachlassen  der  Haltefähigkeit  des 
Bindegewebes  kann  nun  durch  Anhäufung  weiteren 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Bindegewebes  abgeholfen  werden.  Wir  werden 
also  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  wenigstens  zum 
Teil  die  Reichlichkeit  des  Bindegewebes  in  allen 
Organen  auf  eine  kompensatorische  Verstärkung 
zurückführen.') 

Man  wird  in  einer  solchen  Annahme  bestärkt 
durch  eine  weitere  Eigentümlichkeit  alternder  Ge- 
webe, welche  zu  ähnlicher  Auffassung  drängt, 
nämlich  die  Vermehrung  elastischer  Fasern  an 
vielen  Stellen  des  Körpers.  Die  Stellen,  wo  wir 
solche  finden,  haben  das  Gemeinsame,  daß  die 
Gewebe  daselbst  starken  Volumenschwankungen 
ausgesetzt  sind,  wie  die  Blutgefäße,  die  Lungen, 
der  Magen,  die  Gebärmutter,  die  Milchdrüse,  die 
Leber,  die  Samenblasen,  das  Herz,  die  Prostata, 
die  Haut.  Wenn  bei  Organen  mit  wechselnden 
Füllungs-  und  Spannungszuständen  elastische  Faser- 
netze gefunden  werden,  so  nimmt  uns  dies  ja 
nicht  \Vunder,  wohl  aber  erfahren  wir  vielleicht 
mit  Überraschung,  daß  die  Ausbildung  des  „defi- 
nitiven" Gehalts  an  elastischen  Fasern  nicht  etwa 
sich  an  das  Entwicklungsalter  des  Organs  hält, 
sondern  da  und  dort  sich  erst  am  ausgewachsenen 
und  bereits  länger  Vollreifen  Organe  einstellt;  wir 
haben  dafür  vorläufig  keine  bessere  Erklärung, 
als  daß  auch  das  elastische  Gewebe  funktionell 
für  die  Einbuße  an  Leistung  an  ähnlichen  Ge- 
weben, nämlich  Bindegewebe  und  Muskulatur  ein- 
springt und  so  Schädigungen  hintanhält,  die  durch 
frühzeitiges  Altern  dieser  eintreten  könnten.  Wenn 
wir  im  vorhergehenden  auf  Veränderungen  und 
Zustände  hingewiesen  haben,  die  für  das  Verständ- 
nis des  Alterns  deshalb  von  grundsätzlicher  Be- 
deutung sind,  weil  sie  an  allen  oder  fast  allen 
Organen  anzutreffen  sind,  so  muß  doch  nochmals 
hervorgehoben  werden,  daß  die  einzelnen  Verände- 
rungen, wie  die  Altersatrophie,  die  Alterspigmen- 
tierung,  die  Alterssklerose,  die  Anreicherung  des 
elastischen  Gerüsts,  die  lipoiden  Ablagerungen,  in 
den  verschiedenen  Geweben  zu  sehr  verschiedenen 
Zeilen  erfolgen.  Jedes  Organ  hat  seine  eigene 
Entwicklungs-  und  Altersgeschichte  und  wir 
sprechen  von  einem  harmonischen  Altern,  wenn 
die  Organe  in  einer  gewissen  erfahrungsgemäßen 
Reihenfolge  und  mit  einer  abgestuften  Stärke  jene 
Veränderungen  erleben.  Der  Begriff  der  Norm 
ist  auch  hier  wieder  ein  rein  empirischer  und  wir 
haben  deshalb  leider,  wie  schon  hervorgehoben, 
keinen  absoluten  Maßstab  für  das  Alter;  dies  um 
so  weniger,  je  mehr  die  individuellen  Befunde 
schwanken.  Wir  schätzen  diejenigen  glücklich, 
welche  bis  in  hohe  Lebensjahrzehnte  im  Besitz 
ihrer  körperlichen  und  geistigen  Kräfte  bleiben. 
Aber  wie  wenigen  ist  dies  vergönnt;  nicht  nur, 
daß  bei  den  meisten  Menschen  Krankheiten  das 
Bild  des  gesunden  Alterns  trüben,  sondern  auch 
das  Altern  selbst  kann  aus  seiner  Bahn  entgleisen 
durch  Disharmonien. 

')  In  dieser  Ansicht  liegt  die  weitere  inljegriffen,  da6  die 
physikalischen,  bzw.  physikalisch-chemischen  Eigenschaften 
der  gebildeten  Fibrillen  mit  der  Zeit  sich  ändern  und  man 
käme  auch  von  da  auf  kolloidchemische  Probleme  des  Alters. 


Von  „disharmonischem  Altern"  möchte  ich 
sprechen,  wenn  ein  Organ  aus  jener  normalen  Reihen- 
folge ausbricht;  es  kann  dies  in  einem  zweifachen 
Sinne  geschehen:  entweder  indem  es  seine  Ent- 
wicklung verlangsamt  und  dadurch  zwischen  anderen 
ausgereiften  Organen  ein  jugendlicheres  Stadium 
der  Entwicklung  darstellt;  die  Vollreife  würde 
also  dann  entweder  verspätet  erfolgen,  oder  über- 
haupt ausbleiben,  wenn  die  Entwicklungshemmung 
eine  dauernde  wäre;  man  pflegt  in  solchen  Fällen 
von  Infantilismus  zu  sprechen  und  wenn  wir  den 
Begriff  sehr  weit  fassen,  und  beachten,  daß  diese 
Fehlentwicklung  bald  den  ganzen  Körper  (gewisse 
Formen  von  Zwergwuchs),  bald  gewisse  zusammen- 
gehörige Teile  (Genital-  und  Zirkulationssystem), 
bald  nur  einzelne  Organe  oder  gar  partielle  P'unk- 
tionen  (Muskeln,  Gehirn)  umfdßt,  so  ist  diese  Be- 
zeichnung ganz  gut.  Wenn  ein  erwachsener  Mensch 
zeitlebens  „ein  Kindskopf"  bleibt  oder  eine  Frau 
ihre  Backfisch-Neigungen  beibehält,  so  sind  dies 
partielle  Infantilismen,  die  auch  dem  Laien  als 
solche  verständlich  sind. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  verspäteten  Jugend- 
erscheinungen gibt  es  eine  andere  Art  von  „dis- 
harmonischem Altern",  das  sind  die  Fälle  von 
vorzeitigem  Altern  bestimmter  Organe.  Wir  meinen 
damit  z.  B.  die  Erscheinungen  der  überstürzten 
Geschlechtsreife  (Pubertas  praecox),  ferner  geistige 
Frühreife,  gewisse  Formen  des  Zwergwuchses  mit 
zu  frühem  Verschluß  der  Epiphysenfugen,  sodann 
das  isolierte  Greisenalter  einzelner  Organe.  Die 
präsenile  Relaxation  des  Bindegewebes  ist  eine 
häufige  Erscheinung;  sie  gibt  an  niannigfachen 
Stellen  des  Körpers  zu  Störungen  Veranlassung; 
was  sonst  erst  bei  hoher  Bejahriheit  (wenn  auch 
nicht  bei  allen  im  gleichen  Maße),  auf/.utreten 
pflegt,  stellt  sich  dann  schon  in  mittleren  Lebens- 
jahren ein;  die  vorzeitigen  Senkungen  der  Hais- 
und Baucheingeweide,  des  Brustkorbes,  die  soge- 
nannten Ptosen,  hierher  gehört  auch  das  vorzeitige 
Ergrauen  der  Haare,  die  Verfrühung  der  Alters- 
erweiterung und  Alterssklerose  der  Blutgefäße,  die 
präsenile  Involution  der  Milchdrüse  (Hedinger), 
die  gelegentlich  gefundene  frühzeitige  braune 
Atrophie  des  Herzens.  Nicht  zu  vergessen  ist 
schließlich  die  senile  Verblödung.  Dieses  Beispiel 
ist  von  besonderer  Wichtigkeit;  denn  es  zeigt  uns 
erstens,  daß  ein  zusammengesetztes  Organ  von 
topographisch  unterschiedlichen  Funktionen,  wie 
das  Gehirn,  örtlich  verschieden  stark  altern  kann 
und  zweitens,  daß  das  krankhafte  beim  disharmo- 
nischen Altern  nicht  nur  in  den  zeitlichen  Ver- 
hältnissen, im  Altern  zur  Unzeit,  gegeben  zu  sein 
braucht,  sondern  in  der  Übertreibung  normaler 
seniler  Prozesse  zur  gehörigen  Zeit  bestehen  kann. 
Die  senile  Demenz  ist  keineswegs  eine  Krankheit, 
die  uns  durch  ihr  zeitliches  Auftreten,  sondern 
durch  ihre  anatomische  und  klinische  Intensität 
auffällt.  Es  ist  eine  sehr  wichtige  Feststellung 
Alzheimer's,  daß  es  sich  bei  der  senilen 
Demenz  um  dieselben  Abbauvorgänge  am  Gehirn 
handelt,    wie   sie    beim    normalen    Altersschwund 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  Hirnsubstanz  gegeben  sind  und  daß  das 
Pathologische  nur  in  der  krankhaften  Verstärkung 
dieser  Vorgänge  bestehe. 

Unsere  Betrachtungen  über  das  disharmonische 
Altern  bestärken  uns  in  der  Anschauung,  daß 
die  Altersprozesse,  sobald  die  Erneuerung  der 
lebenden  Substanz  durch  Aulhören  des  Wachs- 
tums ausgeschlossen  ist,  zu  einer  endgültigen 
Abnutzung,  zu  einem  vollkommenen  Aufbrauch 
führen  müssen.  Findet  dieser  an  einem  lebens- 
wichtigen Gewebe  statt,  so  muß  der  Tod  erfolgen. 
Da  es  zahlreiche  Organe  im  menschlichen  Körper 
gibt,  welche  lebenswichtig  sind,  so  liegt  es  auf 
der  Hand,  daß  der  physiologische  Tod  auf  ver- 
schiedene Weise  wird  eintreten  können.  Ob  er 
es  tut,  ist  eine  andere  Frage.  Bei  dem  disharmo- 
nischen Altern  wird  der  Tod  eben  von  dem 
Organ  aus  einsetzen,  welches  übermäßig  —  im 
Vergleich  zu  den  anderen  —  abgenutzt  ist  und 
sofern  es  nur  in  irgendeinem  Sinne  lebenswichtig 
ist,  wird  es  die  jugendlicher  gebliebenen  Organe 
in  seinen  Untergang  mit  hineinziehen.  Beim 
harmonischen  Altern  aber  liegt  die  Wahrschein- 
lichkeit vor,  daß  der  Tod,  den  wir  alsdann  einen 
wahrhaft  natürlichen  Tod  nennen  können,  doch 
von  einem  bestimmten  Organ  ausgeht.  Beim 
Menschen  ist  diese  Frage  nicht  zu  entscheiden; 
denn  man  bekommt  so  gut  wie  niemals  Fälle 
dieses  natürlichen  Alterstodes.  Gewiß  sterben 
eine  ganze  Anzahl  Menschen  an  „Altersschwäche", 
aber  gewöhnlich  so,  daß  bei  herannahendem  Tod 
sich  noch  irgendeine  „interkurrente"  Krankheit 
einstellt,  welche  das  Bild  des  reinen  Alterstodes 
zu  trüben  pflegt.  Aus  diesem  Grunde  muß  auch 
hier  die  vergleichende  Forschung  einsetzen;  sie 
befindet  sich  noch  in  den  ersten  Anfängen ;  jedoch 


liegen  zwei  bedeutsame  Arbeiten  in  der  ge- 
wünschten Richtung  bereits  vor;  so  hat  Harms 
das  natürliche  Absterben  bei  einem  Röhrenwurm, 
V.  Hansemann  bei  Stabheuschrecken  verfolgt; 
die  Äußerungen  des  Alters  sind  bei  den  niederen 
Tieren  im  Wesen  die  gleichen  wie  beim  Menschen, 
nämlich  Nachlassen  der  Beweglichkeit  und  Er- 
regbarkeit. Als  anatomische  Grundlage  fanden 
sich  Entartungserscheinungen  und  Schwund  der 
Nervenzellen.  Harms  insbesondere  konnte  — 
was  auch  für  den  Vergleich  mit  dem  Menschen 
nach  dem  oben  Gesagten  richtig  erscheint  — 
zeigen,  daß  die  verschiedenen  Teile  des  Zentral- 
nervensystems der  spontanen  Auflösung  verschieden 
rasch  anheimfallen ;  er  stellte  ferner  fest,  daß  bei 
seinem  Objekt  diejenigen  Teile  den  anderen  dabei 
vorausgehen,  welche  die  Blutversorgung  und 
Nervenleitung  der  Bauchhölilenorgane  und  der 
Kiemen  regieren.  Der  Tod  greift  dann  in  eigen- 
tümlicher Weise  vom  Bauchteil  auf  den  Brustteil 
des  Wurmes  über. 

Es  gibt  nicht  nur  Ästheten,  welche  das  Sterben 
für  einen  Unfug,  sondern  auch  ernsthafte  Natur- 
forscher, welche  eine  körperliche  Unsterblichkeit 
für  ein  mögliches  Ziel  des  Menschengeschlechts 
halten.  Müssen  wir  es  aber  schon  für  eine  Utopie 
hallen,  den  Tod  durch  Krankheit,  Krieg  und 
Unfall  auszumerzen,  so  erst  recht,  den  natürlichen 
Tod  durch  Alter  beseitigen  zu  wollen.  Denn  das 
Altern  ist  eine  Naturnotwendigkeit,  alle  lebendige 
Substanz  strebt,  wie  sie  auch  gestaltet  sein  mag, 
einem  natürlichen  Ende  zu;  der  Mensch  altert 
schon  vor  der  Geburt;  Verjüngungen  kommen 
nur  in  Märchen  vor.  Gesund  sein  ist  Alles;  der 
Tod  durch  Alter  ist  der  schönste  Tod;  er  ist  der 
einzig  natürliche. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Gesetzmäßigkeit  beim  Fortschreiten 
der  P'eldmäusepiagen  in  Süddeutschland.  Seit  dem 
Jahre  1905  wurden  in  der  kgl.  Agrikulturbotanischen 
Anstalt  in  München  alle  Bestellungen  von  Be- 
kämpfungsmitteln gegen  die  Feldmäuseplagc  genau 
tabellarisch  eingetragen.  Je  zahlreicher  die  Be- 
stellungen aus  ein  und  demselben  Regierungsbezirk 
einliefen,  desto  sicherer  war  daraus  der  Schluß  zu 
ziehen,  daß  dieser  Kreis  gerade  zu  der  Zeit  der 
Hochflut  der  Bestellungen  besonders  unter  den 
Schädlingen  zu  leiden  hatte.  Um  Irrungen  aus- 
zuschalten, wurden  überdies  immer  noch  die  gut- 
achtlichen Äußerungen  der  Vertrauensmänner  der 
Anstalt  in  den  einzelnen  Kreisen  eingeholt.  Prof 
Dr.  L.  Hiltner  hatte  schon  früher  (Praktische 
Blätter  für  Pflanzenbau  und  Pflanzen- 
schutz, 13.  Jahrg.  1915  Heft  9)  nach  seinen 
tabellarischen  Aufzeichnungen  die  Tatsache  hervor- 
gehoben,   daß  jede  Feldmäuseplage   in  der  bayer. 


Rheinpfalz  wesentlich  früher  bemerkbar  wurde  als 
im  rechtsrheinischen  Bayern  und  „daß  sich  hier 
wiederum  die  Feldmäuse  stets  zuerst  in  den  west- 
lichen Teilen  des  Landes  und  im  Süden  Ober- 
bayerns geltend  machten,  um  dann  zu  einer  Zeit, 
wo  die  Plage  im  Westen  schon  wieder  im  Ver- 
schwinden war,  erst  in  den  östlichen  Gebieten 
aufzutreten."  Aus  dieser  mehrmals  erkannten 
Verlaufsrichtung  ging  deutlich  hervor,  daß  die 
Feldmäuseplagen  über  Bayern  im  allgemeinen 
von  Westen  nach  Osten  fortschreiten.  Aber  nicht 
nur  die  Verlaufsrichtung,  derzufolge  sich  die 
Schädlinge  über  Bayern  verbreiten,  scheint  einer 
bestimmten  Gesetzmäßigkeit  zu  unterliegen,  auch 
die  Intervalle,  welche  zwischen  dem  Auftreten  in 
der  Pfalz  und  im  rechtsrheinischen  Bayern  zu  er- 
kennen waren,  scheinen,  darauf  macht  Prof. 
Hiltner  neuerdings  in  derselben  Zeitschrift  (14. 
Jahrg.  igiöHeft  12)  aufmerksam,  nach  bestimmten 
Gesetzen   geregelt    zu   sein:    Im  2.  Halbjahr   1905 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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war  die  Pfalz  besonders  stark  von  Feldmäusen 
heimgesucht,  während  vom  rechtsrheinischen 
Bayern  zu  derselben  Zeit  —  abgesehen  von  einem 
nie  verlöschenden  Herd  im  südlichen  Oberbayern  — 
nur  wenig  Klagen  über  die  Schädlinge  einliefen. 
Erst  im  Frühjahr  1907  traten  in  Unter-  und  IVIittel- 
franken  die  Mäuse  häufiger  auf  und  im  2.  Halb- 
jahr 1907  war  im  Gegensatz  zu  der  Pfalz  fast  das 
ganze  rechtsrheinische  Bayern  stark  befallen. 
„Zwischen  dem  Auftreten  der  Plage  in  der  Pfalz 
und  im  rechtsrheinischen  Bayern  ist  also  damals 
ein  Zeitraum  von  i  V2  Jahren  Verstrichen."  In  der 
Pfalz  rührten  sich  dann  die  Mäuse  erst  wieder  im 
I.  Halbjahr  1909,  im  rechtsrheinischen  Bayern 
dagegen  —  wiederum  zuerst  in  den  fränkischen 
Provinzen,  dann  aber  auch  in  Schwaben  und  Ober- 
bayern —  erst  im  i.  Halbjahr  19 10.  „Die  Zeit 
zwischen  dem  stärkeren  Auftreten  in  der  Pfalz 
und  im  rechtsrheinischen  Bayern  betrug  demnach 
bei  dieser  Mäuseplage  nicht  mehr  1^/3  Jahre, 
sondern  nur  mehr  i  Jahr."  Die  nächste  Mäuse- 
plage begann  in  der  Pfalz  im  Frühjahr  191 2. 
„Diesmal  verlief  aber  nur  '/.^  Jahr,  bis  sie  auch  in 
Unter-  und  Mittelfranken  hervortrat."  Diese  regel- 
mäßige Verkürzung  der  Zwischenzeiten  zwischen 
dem  Auftreten  der  Feldmäuse  in  der  Pfalz  und 
in  den  westlichen  Provinzen  des  rechtsrheinischen 
Bayerns  um  ^2  J^'hr  mußte  notwendigerweise  bei 
der  nächsten  Plage  zu  einem  Zusammenfallen  der 
Auftritiszeiten  in  den  beiden  Gebieten  führen. 
Tatsächlich  ergab  denn  auch  die  in  der  2.  Hälfte 
des  Jahres  191 5  einsetzende  P"eldmäusekalamität 
ein  gleichzeitiges  Auftreten  der  Schädlinge  in  den 
Gebieten  der  Rheinpfalz  und  der  ostbayerischen 
Regierungsbezirke.  Wie  sich  diese  Verhältnisse 
nun  in  Zukunft  gestalten  werden,  darüber  läßt 
sich  natürlich  heute  ebensowenig  noch  etwas  Be- 
stimmtes aussagen,  wie  über  die  vermutliche 
Ursache  dieser  zeitlichen  Verschiebungen. 

H.  W.  Frickhinger. 


Geologie.  Die  Kohlenvorräte  des  Deutschen 
Reiches  bis  zu  einer  Tiefe  von  2000  m  betragen 
nach  H.  E.  Böker  (Archiv  für  Lagerstätten- 
forschung 15.  Heft  1915)  und  F.  Frech  (Neues 
Jahrbuch  f.  Mineralogie,  Geologie  und  Paläonto- 
logie 19 16,  II.  Bd. 


Min.  t  Stei 

nk. 

Mill.  t  Braunk.       || 

Saardistrikt 

16548 

1 

Westfalen 

56  344  ( 

57222) 

1 

Niederschlesien 

71S 

(2  226) 

1 

Oberschlesien 

i0325( 

55662) 

f 

Sachsen 

225 

3000 

Linksrhein.  Gebiet 

10458 

— 

Andere  Distrikte 

247 



Norddeutschland 

6069  (3876) 

Bayern 

75     (293) 

Hessen 

169      (99) 

Deutsches  Reich     94865(315110)     9313  (4268) 

Summe  der  Kohlenvorräte  Deutschlands : 
432  556  Millionen  t 

Die  deutsche  Steinkohlenförderung  (ohne  die 
Braunkohlen)  mit  177  Mill.  t  betrug  im  Jahre 
1912  im  Ruhrrevier  103,1,  in  Oberschlesien  41,5, 
in  Gesamtsaarbezirk  16,8  (davon  Preußen  12,5, 
Lothringen  3,6,  Bayr.  Pfalz  0,8),  in  Niederschlesien 
5,9,  in  Sachsen  5,5,  im  Linksrhein.  Gebiet  (Aachen, 
Düren)  3,0,  im  Wäldertonkohlenbezirk  0,7  Mill.  t. 
Auffallend  ist,  daß  das  nur  etwa  i  "q  der  deut- 
schen Steinkohlenvorräte  enthaltende  Niederschle- 
siscbe  Kohlenrevier  dagegen  an  der  Gesamtstein- 
kohlenförderung des  deutschen  Reiches  mit  3,51  "/o 
beteiligt  ist.  V.  Hohenstein. 


')  Die  eingeklammerten  Zahlen  geben  di< 
vorhandenen  Kohlenvorräte  an. 


Anregungen  und  Antworten. 


Erwiderung. 

In  Nr.  5  der  „Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift" 
veröffentlicht  Herr  v.  Brücke  eine  Besprechung  meiner 
Schrift  „Physiologie  und  Entwicklungsgeschichte".  Dem  Herrn 
Referenten  erscheinen  meine  Beispiele  „nicht  gerade  glücklich 
gewählt",  „die  Bedeutung  der  Homoiothermie  für  die  Ent- 
wicklung der  Groflhirnfunktionen  darf  nach  den  Erfahrungen 
an  Winterschläfern  und  Vögeln  sowie  nach  der  fortschreitenden 
Entwicklung  der  Großhirnfunktionen  in  der  Reihe  der  poikilo- 
thermen  Vertebraten  wohl  nicht  zu  sehr  in  den  Vordergrund 
gestellt  werden". 

Die  Behauptung,  die  Erfahrungen  an  Winterschläfern 
sprächen  gegen  die  Bedeutung  der  Homoiothermie  für  die 
Entwicklung  der  Großhirnfunktionen  ,  halte  ich  nicht  für  ge- 
rechtfertigt.    Gerade  die  Erfahrungen  an  Winterschläfern  zeigen 


mit  aller  nur  erwünschten  Deutlichkeit,  wie  hoch  die  Be- 
deutung der  Homoiothermie  für  die  Entwicklung  der  Groflhirn- 
funktionen anzuschlagen  ist.  In  der  poikilothermen  Phase 
des  Winterschläfers  steht  es  um  seine  Großhirnfunktionen  doch 
ganz  anders  als  in  der  homoiotheimen  Phase.  Ich  halte  es 
auch  nicht  für  zutreffend,  daß  die  Erfahrungen  an  Vögeln  und 
die  unvergleichlich  geringere  Ausbildung  der  Großhirnfunk- 
tionen bei  den  poikilothermen  Wirbeltieren  gegen  die  Be- 
deutung der  Homoiothermie  für  die  Entwicklung  der  Groß- 
hirnfunktionen sprechen.  Alexander  Lipschütz,  Bern. 

Die    oben    stehende  Erwiderung  (deren  Kenntnis  ich  der 

Liebenswürdigkeit  des  Herrn  Herausgebers  verdanke)    konnte 

mein  Urteil  ebensowenig  ändern  wie  die  erneute  Lektüre  des 

betreffenden    Abschnittes    von    Herrn    Lipschülz's    Vortrag. 

V.  Brücke  (Innsbruck). 


Inhalt!  Rößle,  Über  das  Altern.  S.  241.  —  Einzelberichte:  L.  Hiltner,  Gesetzmäßigkeit  bei  Fortschreiten  der  Feld- 
mäuseplagen in  Süddeutschland.  S.  247.  H.  E.  Köker  und  F.  Frech,  Die  Kohlenvorräte  des  Deutschen  Reiches. 
S.  248.  —  Anregungen  und  Antworten:  Erwiderung.  S.  24S. 


Manuskripte  und  Zuschriften 


leu  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbete 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Pätz'schen  Buchdr.  Lippe 


&  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  13.  Mai  1917. 


Nummer  19. 


[Nachdruck  verböte 


Hanf. 

Von  Hermann  Zillig,  Würzburg. 
Mit  3  Abbildungen. 


Infolge  des  Krieges  ist  die  vordem  außerordent- 
lich starke  Einfuhr  von  Pflanzenfasern  nach  Deutsch- 
land fast  vollständig  unterbunden  und  so  eine 
empfindliche  Knappheit  dieses  wichtigen  Roh- 
stoffs der  Textil-  und  verwandter  Industrien  her- 
vorgerufen worden.  Man  sah  sich  genötigt  zu 
Ersatzstoffen  zu  greifen  und,  da  diese  in  aus- 
reichender Menge  und  befriedigender  Beschaffen- 
heit nicht  aufzufinden  waren,  mußte  man  schließ- 
lich   der   PVage,    erprobte  P^aserpflanzen    des  Aus- 


Hanf als  Faserpflanze  gebaut.  Von  hier  aus  ver- 
breitete sich  diese  Pflanze  dann  verhältnismäßig 
spät  über  das  übrige  Europa. 

Das  erste  Hanfland  ist  heute  Rußland,  das  vor 
dem  Kriege  von  den  etwa  500  Millionen  Kilogramm 
jährlich  erzeugter  Weltproduktion  150  Millionen 
hervorbrachte,  während  Österreich-Ungarn  mit 
S-  Millionen,  Deutschland,  Frankreich  und  die 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  mit  je 
70    Millionen,    Italien    mit     50    Millionen    Jahres- 


.Abb. 


landes  oder  ehedem  bei  uns  gebaute,  wenn  mög- 
lich, im  eigenen  Vaterlande  zu  kultivieren,  näher- 
treten. 

Neben  dem  Flachs  oder  Lein  (Linum  usita- 
tissimum)  kommt  hier  vor  allem  der  Hanf  (Can- 
nabis  sativa)  in  Betracht.  Diese  zweihäusige,  ein- 
jährige, zur  Familie  der  Moraceen  gehörige  Pflanze 
ist  wahrscheinlich  im  westlichen  Asien  und  in 
Indien  heimisch.  Hier  wurde  sie  bereits  Soo— 900 
vor  Christus  hauptsächlich  ihrer  ölreichen  Samen, 
dann  auch  der  ihr  entstammenden  narkotischen 
Genußmittel  und  endlich  der  Faser  wegen  kulti- 
viert. Auch  die  alten  Ägypter  kannten  den  Hanf 
bereits  als  wertvolle  Kulturpflanze,  während  er 
bei  den  Griechen  fehlt  und  bei  den  Römern  erst 
etwa  100  vor  Christus  erwähnt  wird.  Frühzeitig 
wurde  in  Gallien    und  in  den   slavischen  Ländern 


Produktion  folgten.  In  Deutschland  wurde  haupt- 
sächlich in  Baden  und  im  Rheinland  Hanf  gebaut,  je- 
jedoch  war  der  Anbau  seit  der  Einführung 
der  Baumwolle  und  Jute  in  die  Weltwirtschaft 
in  ständigem  Rückgange  begriffen.  Der  italienische 
Hanf,  der  vornehmlich  in  den  Provinzen  Emilia 
und  r'errara  in  Oberitalien  sowie  Neapel  mit  Um- 
gebung in  Süditalien  hervorgebracht  wird,  über- 
trifft alle  übrigen  Sorten  des  Handels  durch  seine 
Länge,  Kraft  und  schöne  P'arbe.  Dies  hängt  mit 
dem  warmen  Klima  und  den  beim  Röstprozeß 
notwendigen  Faktoren,  reichlichem  Wasser  und 
genügender  Besonnung,  die  in  diesem  Lande 
günstig  vorhanden  sind,  zusammen.  Deutschland 
führte  im  Jahre  1913  rund  65000  Tonnen  Hanf 
und  Hanfwerg  im  Werte  von  45  Millionen  Mark 
vom  Auslande,  hauptsächlich  Rußland  und  Italien, 


250 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


ein,  während  demgegenüber  eine  Ausfuhr  dieser 
Produkte  von  rund  9000  Tonnen  im  Werte  von 
7  Millionen  Mark  zu  verzeichnen  war. 

Die    bis    zu    2   Meter    lange    Faser   stellt    den 


Abb.   2.      Die  Ilanfgarbcn  am   Röstc-Teic 

Bast  des  etwa  3  Meter  hoch  werdenden  Stengels 
der  Pflanze  dar.  Die  Faser  wird  durch  die  soge- 
nannte Röste  gewonnen.  Es  ist  dies  eine  Art 
Fäulnisprozeß,  bei  dem  unter  Einwirkung  von 
Bakterien  der  Bast  von  den 
übrigen  Geweben  des  Stengels, 
dem  Mark,  dem  Holz  und  der 
Rinde  getrennt,  von  dem  die 
einzelnen  Fasern  verklebenden 
Pflanzenschleim  befreit  und  so 
einer  leichten  mechanischen 
Bearbeitung  zugänglich  ge- 
macht wird. 

Der  in  90 — 105  Tagen  vom 
Samen  aus  herangewachsene 
Hanf  wird  im  Herbste  un- 
mittelbar über  dem  Boden  ab- 
geschnitten (Abb.  i)  und  bleibt 
dann  etwa  drei  Tage  auf  dem 
Felde  ausgebreitet  liegen  um 
zu  trocknen.  Nachdem  die 
Blätter  von  den  Stengeln  ab- 
gestreift sind ,  werden  diese 
auf  Garben  gebunden  und  zum 
Röstplatz  gefahren  (Abb.  2). 
Hierzu  sucht  man  sich  stehende 
oder  langsam  fließende  klare 
Gewässer  von  etwa  i  Meter 
Tiefe  aus,  in  welche  die  Garben 
eingelegt  und  mit  Steinen  beschwert  werden.  Hier 
verbleiben  sie  je  nach  der  Wärme  des  Wassers 
zwei  bis  vier  Wochen,  bis  sich  die  Faser  leicht 
vom  Stengel  löst.     Die  gerösteten  Garben  werden 


alsdann  herausgenommen  und  in  der  Sonne  zum 
Trocknen  aufgestellt.  Zwecks  Isolierung  des 
Bastes  werden  die  getrockneten  Stengel  hierauf 
durch  eine  Maschine  gezogen,  welche  mit  gerillten 

Eisenwalzen    ein    Brechen    des 

j  Holzes  und  der  Rinde  bewirkt. 
Diese  Abfallprodukte  können 
nun  leicht  in  einer  anderen 
Maschine  ausgekämmt  und  so 
die  Faser  selbst  gewonnen 
werden.  Meist  jedoch  be- 
werkstelligt der  Erzeuger  diese 
Arbeiten  in  vollkommenerer 
Weise  mit  der  Hand  durch 
Dreschen  der  Stengel  und  Ab- 
schlagen von  Holz  und  Rinde 
an  einem  mit  Holzmessern 
versehenen  rasch  bewegten 
Rad,  das  sogenannte  Schwingen. 
Die  auf  diese  Art  erzielte 
schwach  verholzte  Faser  ge- 
langt, zu  Ballen  vereinigt,  als 
Rohmaterial  in  die  Fabriken. 
Das  minderwertige  Fuß-  und 
Kopfstück  wird  entweder  be- 
reits vom  Erzeuger  oder  erst 
in  der  Fabrik  abgeschnitten 
und  kommt  als  sogenanntes 
Werg,  Hede  oderStrappatura  in 
den  Handel.  In  der  Fabrik  wird  die  Faser  zunächst 
unter  schweren  Eisenwalzen  in  der  sog.  Reibe  in  die 
Einzelfasern  weiter  aufgespalten  und  geschmeidig 
gemacht,  dann  ausgekämmt  und  gehechelt,  um  sie 


Abb.  3.     Zur  Samengewinnung  stehengebliebener  weiblicher  Hanf. 


von  den  noch  anhaftenden  Holzteilchen  und  kürzeren 
Fasern,  dem  Hechelwerg,  zu  befreien.  So  ist  sie 
zum  Verspinnen  fertig.  Die  reine  Faser  wird  fast 
ausschließlich   zu    Bindfaden    und    anderen    Seiler- 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


251 


waren  verarbeitet.  Als  mittleren  Ertrag  rechnet 
man  in  Baden  lOOO  kg  getrocknete,  entblätterte 
Stengel  auf  ein  Hektar  Anbaufläche.  Der  männ- 
liche Hanf  liefert  eine  feinere  und  bessere  Faser 
als  der  weibliche.  Fr  wird  daher  vornehmlich 
zur  Fasergewinnung  gebaut,  während  man  die 
weibliche  Pflanze  zur  Samenerzeugung  stehen  läßt 
(Abb.  3),  um  die  alsdann  stark  verholzte  Faser 
für  untergeordnete  Zwecke  zu  verwenden. 

Die  eben  beschriebene  Kaltwasserröste  kann 
auch  durch  eine  langwierige  sog.  Tauröste,  wobei 
die  auf  dem  P'elde  ausgebreiteten  Stengel  den 
Fitiflüssen  der  Witterung  ausgesetzt  sind,  oder 
eine  beschleunigte  Warm  wasserröste  in  künstlich 
erwärmten  Bottichen  ersetzt  werden.  Es  ist  auch 
möglich  die  Faser  auf  mechanischem  Wege  ohne 
Röste  durch  Brechen  und  Schwingen  des  ge- 
trockneten Stengels  zu  gewinnen.  Die  so  erzeugten 
Fasern  sind  jedoch  durch  den  nicht  entfernten 
Pflanzenschleim  noch  mehr  oder  minder  verklebt,  mit 
verunreinigenden  Gewebselementen  behaftet  und 
von  schmutziger  Färbung.  Auch  ist  der  Abgang 
bei  mechanischer  Bearbeitung  größer  als  bei  Röste. 

Wegen  ihrer  Ähnlichkeit  und  gleichartigen 
Verwendung  werden  verschiedene  andere,  tropi- 
schen Pflanzen  entstammende  Fasern  mit  dem 
Beiwort  „Hanf  bezeichnet,  so  der  Sisal-Hanf  aus 
den  Blättern  der  Agave  rigida,  der  Mauritius- Hanf 
aus  denen  verschiedener  ]<"ourcrnya  .■\rten ,  der 
IVIanilaHanf  aus  den  Blattscheiden  von  Musa  tex- 
tilis  und  der  Gambo-Hanf  aus  den  Stengeln  ostin- 
discher Hibiscus-Arten.  Sie  wurden  vor  dem  Kriege 
in  steigendem  Maße  für  gewisse  Zwecke  z.  B. 
zur  Herstellung  von  Schiffstauen  verwendet,  wozu 
man  vordem  den  echten  Hanf  benutzte. 


Der  Hanfbau  wurde  in  Deutschland  hauptsäch- 
lich infolge  der  bereits  erwähnten  Konkurrenz 
durch  Baumwolle  und  Jute  mehr  und  mehr  auf- 
gegeben, dann  aber  auch  weil  die  raschwüchsige 
Pflanze  den  Boden  stark  aussaugt  und  andere 
Kulturpflanzen  daher  eine  rentablere  Bewirtschaf- 
tunggestatteten, während  in  den  Hauptproduktions- 
ländern neben  günstigen  klimatischen  und  Boden- 
verhältnissen insbesondere  wohlfeile  .Arbeitskraft 
eine  billigere  Erzeugung  ermöglichten.  Nun 
hätte  man  aber,  nachdem  in  unserem  Vaterlande 
mancherorts  geeignete  Lebensbedingungen  für 
den  wichtigen  Rohstofflieferanten  vorhanden  sind, 
bei  den  emporschnellenden  Preisen  den  Anbau  im 
großen  in  die  Wege  leiten  können.  Dazu  fehlte 
jedoch  das  erforderliche  Saatgut.  Auch  waren 
unsere  Fabriken  daran  gewöhnt,  die  fertige  Faser 
vom  Auslande  zu  erhalten  und  daher  nicht  auf 
ein  Rösten  etwa  zur  Verfügung  stehender  Stengel 
eingerichtet.  Der  deutsche  Landwirt  konnte 
aber  ebenfalls  diese  .Arbeit  aus  Mangel  an  Er- 
fahrung und  den  dazu  erforderlichen  Einrichtungen 
nicht  vornehmen.  So  erwiesen  sich  denn  eigene 
Röstanstalten  mit  künstlich  beschleunigtem  Röste- 
verfahren als  unbedingt  nötig.  Nachdem  bereits 
mehrere  solcher  Anstalten  ihrer  Fertigstellung 
entgegengehen  und  auch  eine  ziemliche  Menge 
von  Samen  im  vorigen  Jahre  herangezogen  wurde, 
ist  zu  hoffen,  daß  mit  Hilfe  der  deutschen  Land- 
wirtschaft und  durch  die  rührige  Arbeit  der  „Deut- 
schen Hanfbaugesellschaft  m.  b.  H.  in  Berlin"  der 
empfindliche  ^Iangel  an  Hanf  durch  Anbau  im 
eigenen  Lande  und  im  besetzten  Gebiete  im  Jahre 
1917    einigermaßen    behoben    werden    wird. 


Zum  Trobleiii  der  Wünschelrute. 


Schelenz  hat  in  Nr.  3  des  laufenden  Jahr- 
gangs dieser  Zeitschrift  in  einer  kenntnisreichen 
und  interessanten  Zusammenstellung  von  Daten 
die  Rolle  der  Wünschelrute  in  Dichtung,  Sage, 
Aberglauben  beleuchtet.  Damit  scheint  ihm  zu- 
gleich jede  reale  Bedeutung  des  schon  so  viel 
und  eifrig  diskutierten  Talismans  abgetan  zu  sein. 
Nur  ein  Fortbestehen  im  Volksglauben  wird  auch 
für  die  Zukunft  zugestanden.  Es  wurde  auch 
Bezug  genommen  auf  grobe,  durch  die  Wünschel- 
rute hervorgerufene  Mißgriffe  und  Irrtümer,  die 
im  vergangenen  Jahre,  z.  T.  nach  Erfahrungen  an 
der  Westfront,  in  dieser  Zeitschrift  bekannt  ge- 
macht worden  waren. 

Die  heftigste  Gegnerschaft  ist  der  Wünschel- 
rute ja  von  Seiten  der  Geologen  erwachsen.  Und 
so  klägliche  Gesinnung  setzt  wohl  niemand  vor- 
aus, daß  er  diese  Tatsache  etwa  auf  einen  ge- 
wissen Konkurrenzneid  zurückführen  wollte.  Viel- 
mehr  ist    gerade    die    sehr    intensive  und  häufige 


Edw.  Hennig. 
Beschäftigung  mit  Wasserfragen  ein  Umstand, 
der  dem  Urteil  des  Geologen  über  die  Wünschel- 
rute, ihre  Erfolge  und  ihren  Wert  einiges  Gewicht 
zu  verleihen  geeignet  ist.  Möge  nun  aus  dem 
gleichen  Lager  auch  ein  Vorbehalt  zu  ihren 
Gunsten  Raum  finden. 

Seien  wir  vorsichtig:  so  einfach  läßt  sich 
Volksweisheit  nicht  durch  einen  Richterspruch 
beiseite  schieben.  Wenn  meteorologische  Wissen- 
schaft den  Einfluß  des  Mondes  auf  die  Gestal- 
tung der  Witterung  nicht  nur  nicht  festzu- 
stellen vermag,  sondern  sogar  immer  wieder  ein- 
dringlichst   leugnet,    wenn    andererseits    Seeleute, 

'Landbevölkerung  und  Naturvölker  der  ganzen  Erde 
ebenso  fest  auf  diesen  Einfluß  vertrauen  und 
bauen,  so  ist  das  noch  immer  ein  unentschiedener 
Kampf  zwischen  Theorie  und  Praxis.  Und  Natur- 
wissenschaft ist  ein  Kind  der  experimentellen 
Erfahrung.  Sie  hat  sich  zur  Möglichkeit  des  Falls 
von    Meteoriten    bekehren    lassen    müssen.      Aus 


25: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


dem  Okkultismus  hat  sich  ein  ihm  ursprünglich 
angehöriger  Teil,  die  Hypnose,  als  auf  tatsäch- 
licher Grundlage  beruhend,  abgelöst  und  in  hohem 
Maße  praktisch  verwertbar  erwiesen.  Für  die 
Wünschelrute  ist  soviel  ins  Feld  geführt  worden, 
daß  es  den  Gegner  unterschätzen  heißt,  wenn 
man  glaubt,  ihn  leichthin  abtun  zu  dürfen.  Be- 
weise und  Gegenbeweise  stehen  einander  in  un- 
übersehbarer Zahl  entgegen.  Mit  ihnen  ist  der 
Streit  nicht  zu  schlichten  gewesen.  Da  heißt  es 
prüfen,  ob  die  Frage  richtig  und  ob  sie  klar  ge- 
nug gestellt  gewesen  ist. 

Tatsache  ist,  solche  Erfahrung  steht  auch  mir 
aus  der  Praxis  zu  Gebote,  daß  die  Wünschelruten- 
gänger nicht  selten  an  ganz  hoffnungsloser  Stelle 
Bohrungen  auf  Wasser  angesetzt  haben.  An 
anderen  Stellen  sind  voll  zufriedenstellende  Er- 
gebnisse verzeichnet  worden.  Natürlich  liegen 
auch  auf  geologischer  Seite  Versager  vor  und  in 
gewissen  Gebieten  wird  eine  Prognose  erst  auf 
Grund  einer  Anzahl  von  Erkundungsbohrungen 
möglich  sein,  die  dem  Wünschelrutenverfahren 
gegenüber  natürlich  umständlich,  zeitraubend  und 
kostspielig  sind,  ja  für  die  es  im  Kriege  oft  ein- 
fach an  Zeit  fehlen  wird.  Daß  ich  persönlich 
das  geologische  Gutachten  dennoch  unter  allen 
Umständen  für  das  sicherere  und  gegebene  halte, 
bedarf  kaum  der  Erwähnung. 

Aber,  so  frage  ich  mich,  könnte  der  Wünschel- 
rute nicht  doch  ein  heuristischer  Wert  innewohnen, 
der  sie  als  Gehilfin  des  Geologen  zuzulassen  ge- 
statten würde  ?  Nicht  aut  —  aut,  sondern  et  —  et ! 
Die  bisherigen  Gegner  könnten  vielleicht  mit 
vereinten  Kräften  Ersprießlicheres  leisten.  Auf 
beiden  Seiten  kommt  natürlich  viel  darauf  an, 
wer  die  Untersuchungen  anstellt,  Pfuscher  können 
hier  wie  dort  das  Gesamtergebnis  beeinträchtigen. 
Daß  es  aber  kritische,  besonnene  und  völlig  über- 
zeugte Rutengänger  gibt,  ist  gleichfalls  unzweifel- 
haft. Man  kann  sie  nicht  einfach  durch  billige 
Hinweise  auf  die  Fehlschläge  der  Methode  samt 
und  sonders  als  (3pfer  von  Selbsttäuschung  oder 
gar  direktem  Betrug  hinstellen  wollen.  Vielmehr 
sind  sie  als  geeignete  „Medien"  —  der  Ausdruck 
ist  von  der  Hypnose  ohne  weiteres  zu  über- 
nehmen —  zur  Mitwirkung  an  der  Lösung  des 
nach  wie  vor  bestehenden  Problems  unbedingt 
in  größtem  Umfange  heranzuziehen. 

Durch  das  große  Entgegenkommen  eines  solchen 
Herren  durfte  ich  kürzlich  Zeuge  folgenden  Vor- 
ganges werden:  Der  Betreffende  hatte  mittels  der 
Wünschelrute  in  einem  sandigen  Plateaustück  die 
Stelle  für  eine  Brunnenbohrung  ausfindig  gemacht 
und  war  in  der  erwarteten  Tiefe  fündig  geworden. 
Der  Wasserbedarf  war  gedeckt.  Er  führte  mich 
nun  an  den  Ort,  ließ  sich  ein  paar  beliebige  Gabel- 
zweige von  Weiden  abschneiden  und  schritt  nun- 
mehr mit  diesen  die  Brunnenstelle  in  verschie- 
densten Richtungen  ab.  Die  Rutenenden  wurden 
so  in  der  geballten  Hand  gehalten,  daß  der  Hand- 
rücken abwärts  gerichtet  war  und  der  Bewegung 
der    Rute    nicht,    wie    etwa    beim    „Tischrücken", 


nachgegeben  wurde.  Es  kommt  nun  keine  Täu- 
schung irgendwelcher  Art  darüber  in  P'rage,  daß 
das  freie  Ende  des  Zweiges  jedesmal  bei  Annähe- 
rung an  den  Brunnen  in  einem  mir  gänzlich  un- 
erwarteten Maße  ausschlug  und  sich  bei  Entfernung 
ehenso  wieder  beruhigte.  Das  Interessante  und 
Ungewöhnliche  war  dabei,  daß  der  Ausschlag  nach 
oben  stattfand.  Der  betreffende  Herr  hat  diese 
Beobachtung  an  sich  fast  regelmäßig,  aber  wohl- 
gemerkt doch  mit  vereinzelten  Ausnahmen,  in 
denen  ein  Ausschlag  nach  unten  eintritt,  zu  machen. 
Das  Maß  des  Ausschlags  war  mehrfach  —  die 
Ruten  zeigen  untereinander  kleine  Abweichungen 
der  Empfindlichkeit  —  180"  und  darüber  1  Da  ein 
Ende  unbeweglich  festgehalten  wurde,  kam  es 
dabei  vor,  daß  das  Holz  die  Drehung  nicht  aus- 
hielt und  neben  derHand  im  Stadium  des 
höchsten  Ausschlages  einfach  durch- 
brach. Ermüdung  der  Muskeln  oder  dergleichen 
Erklärungsversuche  sind  unter  diesen  Umständen 
völlig  auszuschließen.  Es  hilft  kein  Drehen  und 
Deuteln:  da  ist  ein  physikalischer  Vorgang  am 
Werke,  vielleicht  verstärkt  durch  physische,  den 
es  zu  erforschen,  zu  erkennen  und  —  nutzbar  zu 
machen  gilt. 

Denn  daß  in  diesem  Falle  und  tausend  ähn- 
lichen ein  ErfolgderWünschelrute  vorliege, 
bin  ich  durchaus  noch  nicht  bereit  zuzu- 
geben. Wie  wenn  dort,  wo  sie  nicht  ausschlug, 
ebenso  reichlich  Wasser  zu  finden  wäre  ?  Das 
ist  nämlich  hier  wie  anderwärts  meine  feste  Über- 
zeugung auf  Grund  der  geologischen  Verhältnisse. 
In  lockcrem  Diluvialboden  und  unter  vielen  anderen 
verwandten  Bedingungen  ist  es  ja  ein  Hauptirrtum 
des  Laienpublikums  und  insbesondere  der  meisten 
Rutengänger,  nach  „Wasseradern"  zu  fahnden. 
Dem  liegt  eine  völlig  falsche  Vorstellung  von 
den  Grundwasserverhältnissen  zugrunde,  als  ob 
nämlich  ein  unterirdisches  Fluß-  und  Bachnetz 
bestände  entsprechend  oder  ähnlich  dem  der  Ober- 
fläche. Wo  nicht  besondere  Zufälle  (z.  B.  tiefer 
hinabreichende  Risse  im  Erdreich)  Abweichungen, 
lokale  Ansammlungen  des  Grundwassers  bedingen, 
besteht  vielmehr  ein  Wasserspiegel,  den  man 
natürlicher  einem  unterirdischen  See  bzw.  deren 
mehrerer  übereinander  vergliche.  Erbohre  ich 
dann  Wasser,  so  ist  dazu  an  sich  wahrlich  ein 
besonderes  Aussuchen  der  Stelle  nicht  erforderlich. 
Schlägt  aber  die  Rute  an  bestimmten  Stellen 
aus,  so  ist  damit  für  mich  nur  bewiesen,  daß 
das  Vorkommen  von  Wasser  allein  nicht 
die  Ursache  dazu  sein  kann! 

Dem  gilt  es,  wie  mir  scheint,  zunächst  einmal 
in  erster  Linie  nachzugehen,  wollen  wir  nicht  mit 
irreführenden  Vorurteilen  an  die  Untersuchung 
herangehen.  Daß  es  bisher  nicht  geschehen  ist, 
erklärt  sich  in  einfachster  Weise  daraus,  daß  mit 
dem  Antreffen  von  Wasser  die  praktische  Auf- 
gabe in  der  Regel  gelöst  ist  und  weitere  Mühe, 
Zeit  und  Kosten  an  Fragen  theoretischer  Bedeu- 
tung zu  wenden  selbstverständlich  nicht  Sache  des 
Privatunternehmers   sein  kann.     Jedenfalls   ist  das 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


253 


Erbohren  von  „Wasseradern"  in  derartig  gekenn- 
zeichneten Gebieten  zunächst  zu  den  JVI  iß  er- 
folgen der  Wünschelrute  insofern  hinzuzu- 
rechnen, als  sie  die  gleichermaßen  wasserführende 
Nachbarschaft  als  wasserfrei  zu  bezeichnen  Veran- 
lassung war.  Der  Irrtum  entspringt  aber 
offenbar  lediglich  der  Deutung,  nicht 
der  Beobachtung,  ist  ein  Fehler  des 
Trägers,  nicht  der  Rute  oder  der  sie 
tatsächlich  bewegenden  und  beein- 
flussenden Kraft. 

Der  Kern  des  Problems  würde  damit  lediglich 
verschoben,  zu  beseitigen  ist  das  Problem 
nicht  mehr,  es  sei  denn  durch  die  Lösung  der 
Fragen:  Unter  welchen  Bedingungen  schlägt  die 
Ruie  aus?  Welcher  Art  ist  die  Kraft,  die  da- 
durch in  Erscheinung  tritt  ?  Für  beide  fehlt  es  tat- 
sächlich noch  immer  an  einer  Antwort.  Daß  das 
Wasser  die  Ursache,  Elektrizität  die  wirkende 
Kraft  sei,  ist  möglich,  vielleicht  wahrscheinlich, 
aber  meines  Erachtens  durchaus  noch  Hypothese  1 

Nun  spielt  ja  eben  ein  anderes  hinein:  der 
psychische-physischeFaktor,  die  Empfindlichkeit  der 
Rutenträgers.  In  meiner  Hand  war  eine  Bewegung 
der  Rute  m  dem  genannten  Falle  so  gut  wie  nicht 
zu  beobachten;  als  ich  mit  dem  Herrn  Hand  in 
Hand  jeder  ein  Gabelende  ergriff,  war  sie  nur 
schwach,  aber  immerhin  vorhanden.  Es  gilt  tat- 
sächlich, so  uralt  das  Problem  ist  und  so  lange 
der  Mensch  nun  schon  beobachtet,  erst  einmal  mit 
aller  wissenschaftlichen  Gründlichkeit  und  mit  den 
unbedingt  nötigen  Mitteln  genauestes  und  reich- 
lichstes Beobachtungsmaterial  ganz  methodisch  zu 
sammeln.  Mit  Einzelfällen  kommen  wir  nicht 
weiter.  Sehr  wichtig  schien  mir  z.  B.  zur  Er- 
kundung der  Vorgänge  die  Methode  beim  Ab- 
schätzen der  Tiefe  des  erwarteten  Wassers:  Der 
Beginn  des  Ausschlages  war  vom  eigentlichen 
Zentrum  des  Wirkungskreises,  d.  h.  vom  Brunnen 
um  etwa  die  gleiche  Zahl  von  Metern  entfernt,  die 
nötig  war,  um  das  Wasser  zu  ergraben.  Doch 
herrschen  da  je  nach  dem  Rutengänger  wieder  be- 
trächtliche Verschiedenheiten.  Ebenso  heißt  es,  daß 
gewisse  Personen  in  den  Tropen  sich  empfänglich 


zeigten,  die  es  zu  Hause  nicht  sind,  und  umge- 
kehrt. 

Von  allen  solchen  doch  zweifellos  störenden 
Zufälligkeiten  und  Abhängigkeiten  müssen  wir  uns 
meines  Erachtens  frei  zu  machen  suchen.  Der 
menschliche  Nervenapparat  ist  Schwankungen 
aller  Art  unterworfen  und  deshalb  nicht  zuver- 
lässig genug.  Soll  die  Wünschelrute  wirklich  ver- 
wendbar werden,  so  wäre  sie  durch  einen  ent- 
sprechend konstruierten,  noch  viel  feinfühligeren 
und  mathematisch  genau  arbeitenden  und  messenden 
Apparat  zu  ersetzen.  W'enn  erst  einmal  in  den 
Grundzügen  vorhanden,  wird  er  sich  bald  an 
Hand  der  Praxis  zu  einem  äußerst  brauchbaren 
Instrument  weiter  entwickeln  lassen.  Natürlich 
ist  die  erste  Vorbedingung,  daß  wir  endlich  er- 
fahren, welche  Kraft  denn  eigentlich  einwirkt. 
Das  sollte  doch  durch  Experimentieren  und  Beob- 
achten auszumachen  sein,  ganz  gleich  ob  es  sich 
um  Elektrizität  oder  gar  eine  noch  unbekannte 
Kraft  handelt. 

Niemand  aber  würde  größeren  Nutzen  aus 
einem  solchermaßen  hergestellten  Hilfsmittel  ziehen, 
als  —  der  Geologe.  Könnte  er  doch  alsdann  ohne 
Bohrungen  etwa  Ausdehnung,  Verlauf,  Tiefe  von 
Grundwässern  aller  Art  und  der  sie  tragenden 
Schichten  ermitteln  und  so  nicht  nur  flächenhaft 
kartieren,  sondern  in  ganz  anderer  Weise  als  bisher 
von  außen  her  Einblicke  in  den  Bau  des  Boden- 
körpers gewinnen.  Die  Wünschelrute  in  so 
veränderter,  wissenschaftlich  vorbedingter  Gestalt 
erhielte  für  ihn  den  Wert  des  Spektrums  oder  der 
Röntgenstrahlen:  sie  würde  neue  bislang  unzu- 
gängliche Räume  erschließen  helfen  und  sich  so 
erst  in  vollstem  Maße  als  ein  Zauberstab  er- 
weisen I 

Nachtrag:  Weitere  Beobachtungen  haben 
inzwischen  den  Verdacht  voll  bestätigt,  daß  neben 
einer  ermittelten  sog.  Wasserader  im  Diluvium 
genügend  Wasser  vorhanden  war.  Über  die  Er- 
gebnisse der  weiteren  Versuche  kann  hoffentlich 
in  nicht  zu  ferner  Zeit  einmal  Näheres  mitgeteilt 
werden. 


Kleinere  Mitteilungen. 


über     die    Hörbarkeit    des    Geschützdonners. 


Eine  Entscheidung  für  die  eine  oder  die  andere 
der  verschiedenen  Erklärungen,  die  man  für  die 
Fortleitung  des  Geschützdonners  bis  in  große  Ent- 
fernungen von  der  Schallquelle  aufgestellt  hat, 
ist  nur  möglich,  wenn  man  sich  die  während  der 
langen  Kriegsdauer  von  zahlreichen  Beobachtern 
bestätigte  Tatsache  vor  Augen  führt,  daß  die 
Hörbarkeit  des  Geschützdonners  von  der  Jahres- 
zeit abhängt.  Es  hat  sich  herausgestellt,  daß  die 
kühle  Jahreszeit  der  Erscheinung   am   günstigsten 


ist.  Im  Winter  ist  heftiger  Geschützdonner  fast 
Tag  für  Tag  in  Entfernungen  von  100  bis  200  km 
von  der  Schallquelle,  gelegentlich  sogar  noch 
weiter,  deutlich  zu  hören.  Im  Sommer  dagegen 
wird  entweder  nichts  wahrgenommen,  oder  der 
-Geschützdonner  ist  doch  nur  von  Zeit  zu  Zeit 
und  im  allgemeinen  mit  geringerer  Kraft  hörbar. 
Steht  dies  fest,  so  folgt  von  selbst,  daß  die  Fort- 
leitung des  Schalles  im  wesentlichen  von  Um- 
ständen abhängen  muß,  in  denen  sich  der  Sommer 
vom  Winter  unterscheidet.  Die  Erklärungen  fran- 
zösischer Gelehrter  (vgl.  das  Referat  in  Nr.  4  der 


254 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Nat.  Wochenschr.  191 7j,  welche  besondere  Wind- 
verhältnisse in  den  unteren  und  höheren  Atmo- 
sphärenschichten voraussetzen,  sind  daher  von 
vornherein  zurückzuweisen;  denn  in  allen  Jahres- 
zeiten können  in  verschiedenen  Atmosphärenhöhen 
Winde  in  allen  Richtungen  und  in  jeder  Stärke 
auftreten.  Eine  genauere  Untersuchung  der  unteren 
und  oberen  Luftströmungen  durch  van  E ver- 
dingen') ergibt  außerdem,  daß  in  vielen  Fällen, 
wo  der  Geschützdonner  in  großen  Entfernungen 
hörbar  war,  die  wirklich  beobachteten  Windrich- 
tungen der  Erklärung  nicht  günstig  sind. 
Übrigens  erfüllt  die  Erklärung  von  A.  Perot, 
welche  die  bessere  Wahrnehmbarkeit  des  Geschütz- 
donners bei  Gegenwind  zum  Gegenstande  hat, 
ihre  Aufgabe  nur  unvollkommen;  denn  sie  würde 
auch  in  dem  Falle  anwendbar  sein,  wo  ein  von 
der  Schallquelle  her  wehender  Wind  von  einer 
in  derselben  Richtung  sich  bewegenden  schnelleren 
Luftströmung  überlagert  wird. 

Die  andere  Erklärung,  daß  der  Schall  bis  auf 
große  Entfernungen  durch  den  Erdboden  fort- 
geleitet werde,  ist  ebenfalls  aufzugeben;  denn 
Sommer  und  Winter  bieten  für  die  Fortpflanzung 
des  Schalles  im  Boden  keine  wesentlich  ver- 
schiedenen Verhältnisse  dar.  Eis  im  Boden  und 
die  Schneedecke  spielen  keine  Rolle,  da  auch 
ohne  Frost  und  Schnee  der  Geschützdonner  hörbar 
ist.  Die  bessere  Leitfähigkeit  des  Bodens  für  den 
Schall  macht  sich  nur  in  der  Nähe  der  Schall- 
quelle bemerkbar.  Sie  erklärt  ohne  weiteres  die 
Tatsache,  daß  man  in  den  Unterständen  den 
Geschützdonner  besser  wahrnimmt  als  im  Schützen- 
graben, und  manche  andere,  die  sich  ihr  an  die 
Seite  stellen  lassen  (Indianer  lauschen  am  Boden 
auf  Pferdegetrappel;  das  Rollen  eines  Eisenbahn- 
zuges macht  sich  in  den  Schienen  deutlicher  be- 
merkbar als  in  der  Luft).  Aber  sie  kann  nicht 
zur  Erklärung  der  Hörbarkeit  des  Geschützdonners 
in  großer  Entfernung  von  der  Schallquelle 
herangezogen  werden.  Denn  in  mehr  als  100  km 
Entfernung  wird  der  Geschützdonner  nicht  unter, 
sondern  über  der  Erdoberfläche  wahrgenommen, 
also  nicht  durch  den  Erdboden,  sondern  durch 
die  Luft  fortgeleitet. 

Kommen  wir  nunmehr  wieder  auf  die  Kern- 
frage :  „Wodurch  unterscheiden  sich  die  atmo- 
sphärischen Verhältnisse  des  Sommers  und  des 
Winters?'  zurück,  so  gibt  die  Meteorologie  die 
Antwort :  In  den  Temperaturverhältnissen 
der  übereinander  lagernden  Luftschichten.  Im 
Sommer  nimmt  die  Temperatur  im  allgemeinen 
mit  der  Höhe  ab;  im  Winter  aber  bilden  Tempe- 
raturinversionen die  Regel.  Bei  Temperatur- 
abnahme mit  der  Höhe  werden  die  Schallstrahlen 
nach  oben  gebrochen;  an  und  in  Inversionsschichten 
können  sie  aber  zur  Erdoberfläche  zurückgebogen 
werden.  2)      Daher    ist    der    Winter    die    für    die 


')  The  propagation  of  sound  in  the  atmosphere,  Kon. 
Acad.  V.  Wet.  te  Amsterdam;  Proceedings,  Vol.  6,  XVIII. 

2)  Vgl.:  Zur  Erklärung  der  beim  Geschützdonner,  bei 
heftigen  Explosionen  usw.    beobachteten    Fortpflanzungseigen- 


Hörbarkeit  des  Geschützdonners  günstigste  Jahres- 
zeit. Da  aber  gelegentlich  auch  im  Sommer 
Inversionen  auftreten,  so  besteht  auch  in  der 
warmen  Jahreszeit  die  Möglichkeit  weiter  Aus- 
breitung des  Geschützdonners.  Doch  sind  die 
sommerlichen  Inversionen  meistens  nur  schwach 
ausgeprägt  und  daher  bleibt  die  Intensität  des 
Schalles  gering.  Daß  der  Wind  unter  Umständen 
der  Ausbreitung  des  Schalles  sehr  förderlich  sein 
kann,  versteht  sich  von  selbst.  Fr.  Nölke. 


Weiteres  zur  Ethologie  und  Psychologie  der 
Anatiden,  insbesondere  des  Schwarzschwanes, 
in  Nummer  42,  Jahrgang  1914  dieser  Zeitschrift,') 
habe  ich  neue  und  z.  T.  wohl  ganz  außergewöhn- 
lich interessante  Beobachtungen  an  Männchen- 
paaren aus  der  Anatiden-Familie  in  ethologischer 
und  psychologischer  Hinsicht  veröffentlicht.  Die 
folgenden  Mitteilungen  bilden  den  Abschluß  meiner 
Beobachtungen. 

Nachdem  im  Frühsommer  1914  das  in  der 
oben  genannten  Nummer  dieser  Zeitschrift  näher 
gekennzeichnete  Männchenpaar  Schwarzer  Schwäne 
getrennt  und  dem  stärksten,  zur  Fortpflanzung 
am  meisten  geneigten  Männchen  endlich  ein 
weiblicher  Vogel  zur  Verfügung  gestellt  war,  er- 
losch merkwürdigerweise  die  noch  kurz  vorher 
vorhandene  Paarungslust  augenblicklich.  Die 
Vögel  vertrugen  sich  zwar  sehr  gut  miteinander, 
lockten  sich  auch  durch  Zurufe  gegenseitig  an, 
blieben  aber  trotzdem  nie  so  innig  zusammen, 
wie  die  beiden  vortrefflich  aneinander  gewohnten 
Männchen  es  zu  tun  pflegten,  sondern  trennten 
sich  häufig  stundenlang,  und  jedes  der  beiden 
Tiere  schwamm  auf  dem  ausgedehnten  Gewässer 
oft  seine  eigenen  Wege.  Auch  als  der  Herbst 
kam,  war,  entgegen  meinen  Erwartungen,  bei  den 
beiden  Australiern  in  keiner  Beziehung  etwas  von 
Fortpflanzungstrieb  erwacht,  wie  es  doch  im 
Jahre  vorher  der  Fall  war,  als  noch  die  beiden 
Männchen  zusammen  waren.  Auch  im  Frühjahr 
191 5  war  von  Brütelust  bei  diesem  Paare  nichts 
zu  merken,  und  Ende  April  desselben  Jahres 
starb  das  Männchen  aus  unbekannter  Ursache. 
Es  wurde  nun  dem  weiblichen,  nicht  amputierten, 
wohl  aber  im  Spätherbst  auf  einem  Flügel  seiner 
größten  Schwungfedern  beraubten  Vogel  ein 
amputiertes,  ungefähr  7  Jahre  altes  Männchen 
beigegeben,  das  als  Gatte  eines  Geschwisterpaares 
schon  wiederholt  einige  Junge  mit  seiner  Schwester 
gezeugt  und  groß  gebracht  hatte.  Dieses  Männchen, 
welches  seit  seiner  Geburt  ständig  sich  nur  in 
Gesellschaft  seiner  schwesterlichen  Gattin  befand, 
machte  sich  auch  augenblicklich  an  seine  neue 
Gattin  heran,  aber  zur  F'ortpflanzung  schritt  das 
Paar  nicht.  Und  daß  die  Anhänglichkeit  an  das 
Männchen    nicht    groß    gewesen    sein  kann,    geht 

tümlichkeilen     des    Schalles;     Phys.    Zeitschr.    17,    31,    1916. 
Ergänzung  zu  diesem  Aufsatze,  Phys.  Zeitschr.   17,  283,   1916. 
')  „Neues  zur  Psychologie  und  Ethologie  der  Männchen- 
paare der  Anatiden,  insbesondere  von  Schwänen  und  Gänsen." 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


255 


daraus  hervor,  daß  das  flugfähige  Weibchen  im 
Herbst  191 5,  als  ihm  die  zurückgeschnittenen 
Schwungfedern  nach  der  Mauser  wieder  gewachsen 
waren,  davon  flog,  ohne  wieder  zuiückzukehren. 
Es  trieb  sich  zwar  noch  einige  Wochen  auf  ver- 
schiedenen Gewässern  der  näheren  und  weiteren 
Umgebung  von  Hildburghausen  herum,  wurde 
aber  dann  nicht  wieder  beobachtet. 

Interessant  ist  überdies  eine  bezüglich  des 
oben  genannten  Geschwisterpaares  gemachte  Be- 
obachtung. Im  März  191 5  hatte  dieses  Paar  ein 
anscheinend  noch  nicht  vollzähliges  Gelege  von 
4  Eiern  zustande  gebracht,  war  aber  von  seinem 
Nistplatz  durch  ein  wütendes  Höckerschwanen- 
männchen  vertrieben  worden,  das  vor  allem  den 
männlichen  Schwarzschwan  verdrängte,  um  seiner- 

Iseits  das  schwarze  Weibchen  gewaltsam  zu  treten, 
wie  einmal  einwandfrei  beobachtet  wurde.  Als 
das  Weibchen  dieses  Schwarzschwan-Paares  dann 
im  Sommer  191 5  nach  seiner  Trennung  von  dem 
Bruder- Männchen  ein  1914  geborenes,  fremd- 
blütiges  Männchen  erhalten  hatte,  schritt  dieses 
Paar  auch  im  P^rühling  1916  nicht  zur  Brut.  Da 
ein  inniges  Zusammenhalten  dieses  Paares  über- 
haupt nicht  recht  eintreten  wollte,  so  erhielt  das 
Weibchen  im  Sommer  1916  ein  außergewöhnlich 
starkes  und  schönes  Männchen ,  mit  dem  es  be- 
reits nach  wenigen  Tagen  innig  harmonierte,  und 
gegen  Ende  des  Sonmiers  schritt  das  Paar  zum 
Nestbau,  aber  ohne  daß  ein  Gelege  zustande 
kam. 

Jedenfalls  zeigen  diese  Beobach- 
tungen, daß  nicht  alle  beliebigen  Tiere, 
die  man  zu  Paaren  zusammenstellt,  auch 
wirkliche  Paare  werden,  daß  vielmehr 
auch  bei  den  Vögeln,  namentlich  bei  so 
hochentwickelten,  in  strengerMonogamie 
zusammenlebenden,  wie  es  die  Schwäne 
sind,  Abneigung  und  Zuneigung  der 
einzelnenlndividuen  sich  deutlich  fest- 
stellen lassen,  um  so  mehr  als  das  ehedem 
mit  dem  älteren  Schwarzschwanweibchen  zu- 
sammengebrachte, aber  von  diesem  als  Gatten 
nicht  angenommene  jüngere  Männchen  von  1914 
sich  fast  augenblicklich  vortrefflich  an  ein  anderes, 
etwa  ebenso  altes  Weibchen  gewöhnte. 


Auch  noch  in  der  4.  Auflage  von  „Brehms 
Tierleben"  heißt  es  im  ersten  Band  der  Vögel 
S.  283  vom  schwarzen  Schwan:  „Das  Weibchen 
brütet  mit  Hingebung,  das  Männchen  hält  treue 
Wacht."  Nun  ist  es  aber  eine  bereits  seit  Jahrzehnten 
bekannte  Tatsache,  daß  beim  Schwarzen  Schwan 
das  Männchen  sich  durchaus  regelmäßig  am  Brut- 
geschäft beteiligt,  insofern,  als  es  während  der 
ganzen  fünfwöchigen  Brutzeit  das  Weibchen  in 
der  Regel  am  frühen  Nachmittag  oft  bis  auf 
mehrere  Stunden  täglich  regelmäßig  abzulösen 
pflegt,  indem  es  an  das  Nest  herantritt  und  durch 
Schreien  das  Weibchen  gewissermaßen  zum  Auf- 
stehen auffordert.  Hat  dieses  das  Nest  verlassen, 
so  werden  die  Eier  sofort  vom  Männchen  be- 
deckt, bis  nach  einiger  Zeit  das  Weibchen  wiederum 
herankommt  und  seinerseits  zur  Ablösung  auf- 
fordert. Nur  sehr  selten  kommt  es  beim  Schwarzen 
Schwan  vor,  daß  die  Eier  einmal  von  einem  der 
beiden  Gatten  kurze  Zeit  nicht  bedeckt  werden, 
indem  sich  beide  zusammen  auf  dem  Wasser  be- 
finden. 

Die  regelmäßige  Beteiligung  des  Männchens 
vom  Schwarzschwan  am  Brutgeschäft  in  fast 
völligem  Gegensatze  zu  den  anderen  Schwanen- 
arten ist  aber  beim  ersten  Blick  um  so  auffallender, 
weil  doch  gerade  diese  Schwanenart  das  wärmste 
Gebiet  bewohnt,  in  dem  Schwäne  überhaupt  be- 
heimatet sind.  Vielleicht  ist  jene  Gewohnheit 
darauf  zurückzuführen,  daß  bei  der  ungleichmäßigen 
Regen-  und  Feuchtigkeitsverteilung  in  Australien 
überhaupt  angesichts  der  Gewohnheit  der  Tiere, 
in  Kolonien  zu  brüten,  auch  die  brütenden  Weib- 
chen gezwungen  werden,  zur  Nahrungsaufnahme 
größere  Strecken  zu  durchmessen  und  daher 
längere  Zeit  vom  Neste  fernzubleiben. ') 

Erwähnt  sei  noch  zum  Schuß  die  von  mir  bei 
Schwänen  gemachte  Beobachtung,  daß  wirkliche 
Paare,  selbst  wenn  sie  Junge  führen,  nie  so  wütend 
und  angriffslustig  sind  wie  die  Tiere  eines  Männchen- 
paares, bei  dem  der  Fortpflanzungstrieb  erweckt  ist. 
W.  R.  Eckardt. 

')  Vgl.  hierüber:  W.  R.  Kckardt,  Die  geographische 
Verbreitung  der  Schwäne  unter  besonderer  Berücksichtigung 
ihrer  biologischen  Verhältnisse.  ,, Prometheus",  Jahrgang  191 5, 
Heft   1320/21. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Über  alte  Nutz-  und  Kulturpflanzen. 
Die  jüngsten  F"orschungen  zur  Kulturgeschichte, 
und  ganz  besonders  die  Untersuchungen  von 
Ed.  Hahn,  haben  gezeigt,  daß  die  Menschen  auf 
den  untersten  Kuhurstufen  nicht  (wie  lange  Zeit 
angenommen  wurde)  ausschließlich  oder  haupt- 
sächlich vom  Ertrage  der  Jagd  und  Fischerei 
leben,  sondern  vom  Sammeln  pflanzlicher  und 
tierischer  Nahrungsmittel."')  Schon  die  primitivsten 

')  Vgl.  Fehlinge r,  Anfänge  der  wirtschaftlichen  Kultur. 
Urania,  1917,  Heft  4. 


Entwicklungsstufen  haben  ihre  Nutzpflanzen,  die 
zwar  zunächst  nur  gesammelt,  nicht  angebaut, 
werden.  Aber  um  die  gesammelten  Pflanzenstofi'e 
genußfähig  zu  machen,  ist  oft  die  Arbeit  des 
Zubereitens,  Entbitterns,  Entgiftens  und  Haltbar- 
machens  erforderlich,  die  ausschließlich  den  Frauen 
zufällt.  Dazu  kommt  noch  auf  der  Sammlerstufe 
das  Schonen  und  Schützen  der  Nutzpflanzen.  Es 
ist  eine  allgemeine  Erscheinung,  daß  in  vorchrist- 
licher Zeit  nützliche  Pflanzen  und  Tiere  heilig 
erklärt  wurden.  Dadurch  waren  diese  dem  Volke 
unentbehrlichen  Nahrungsquellen   vor  Schädigung 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   19 


durch  Eig^ennutz,  Mutwillen  oder  Unachtsamkeit 
geschützt.  Es  ist  also  nur  ein  kleiner  Schritt,  der 
aus  einer  bloßen  Nutzpflanze  eine  geschützte 
Pflanze  macht.  Da  der  Mensch  im  mitteleuro- 
päischen Waldgebiet  einen  fortwährenden  Kampf 
gegen  die  Bäume  führen  mußte,  schon  um  ge- 
nügend Weide  für  seine  Tiere  zu  erhalten,  kann 
man  sich  leicht  vorstellen,  wie  ein  solcher  Schutz, 
durch  Sitte  und  Religion  vorgeschrieben,  eine 
Baumart  vermehren  konnte,  so  daß  schließlich 
selbst  das  Vegetationsbild  dadurch  beeinflußt  er- 
schien. Ein  weiterer,  aber  eigentlich  nicht  sehr 
großer  Schritt  ist  es  dann,  wenn  geschonte  Nutz- 
pflanzungen an  günstigere  Standorte  versetzt 
werden.  Viel  später  folgt  der  Übergang  zum 
Bodenbau,  der  zu  hoher  Vollendung  und  inten- 
sivem Wirtschaftsbetrieb  führen  kann.  Nach  dem 
wichtigsten  Arbeitsgerät  wird  die  Anfangsstufe 
der  Bodenkultur  als  Hackbau  bezeichnet.  Wenn 
später  sozusagen  die  Hacke  von  Tieren  gezogen 
wird,  so  entsteht  der  Pflugbau.  Diese  Entwicklungs- 
stufen lösen  sich  bei  den  einzelnen  Volksstämmen 
nicht  der  Reihe  nach  ab,  sondern  sie  laufen  teil- 
weise nebeneinander  her.  In  vielen  Gebieten  der 
Erde  ist  jedoch  bis  heute  der  Pflugbau  noch  nicht 
eingeführt,  es  herrscht  dort  noch  ausschließlich 
der  Hackbau,  wie  z.  B.  in  entlegenen  Alpentälern. 
Hier  läßt  sich  auch  den  Anfängen  der  Pflanzen- 
nutzung, dem  Sammeln,  sowie  den  Übergängen 
zum  Hackbau  nachgehen.  Einen  derartigen  Ver- 
such hat  Dr.  H.  Brockmann-Jerosch  gemacht 
und  seine  Ergebnisse  in  einem  Vortrag  vor  der 
geographisch -ethnographischen  Gesellschaft  in 
Zürich  dargelegt.  Als  Beispiele  einer  noch  bis 
in  unsere  Tage  üblichen  sammlermäßigen  Nutzung 
pflarizlicher  Nahrungsmittel  erwähnte  Dr.  Brock- 
mann-Jerosch vor  allem  die  Gewinnung  ge- 
wisser Beerenfrüchte.  So  werden  in  Amden  am 
Wallensee  die  getrockneten  Beeren  von  Sorbus 
Aria  (Mehlbeere)  in  ärmeren  Familien  im  Winter 
häufig  als  Nahrung  benutzt.  Noch  vor  etwa  30 
Jahren  kochte  man  am  Buchberg  (Schaffhausen) 
aus  diesen  Beeren  Brei.  Auch  anderwärts  in  der 
Schweiz  war  die  Mehlbeere  bis  in  die  verhältnis- 
mäßig jüngste  Zeit  ein  wichtiges  Volksnahrungs- 
und Futtermittel  und  noch  heute  erinnern  sich 
alte  Leute  gerne  an  das  süße,  wohlschmeckende 
Brot,  das  man  in  ihrer  Kinderzeit  aus  Mehl  und 
Mehlbeeren  buk.  In  den  Alpen  tritt  die  Alpen- 
mehlbeere, Sorbus  Chamaemespilus,  stellenweise 
an  ihre  Stelle,  deren  Nutzung  aus  dem  Unter- 
engadin  und  aus  Fusio  im  Tessin  bekannt  ist;  an 
letzterem  Ort  dient  sie,  wie  es  scheint,  zur  Mehl- 
bereitung. In  anderen  Gebieten  war  es  wieder 
der  Vogelbeerbaum,  Sorbus  aucuparia,  der  eine 
Rolle  als  Sammelpflanze  spielte. 

Ein  Nährbaum  war  in  Mitteleuropa  in  alten 
Zeiten  auch  die  Eiche,  in  den  kultivierteren  Ge- 
genden bis  etwa  1000  v.  Chr.,  bei  den  Gebirgs- 
bewohnern noch  viel  länger.  Und  selbst  heute 
bereiten  manche  Balkanvölker  noch  Eichelmehl, 
das   als  menschliche   Speise   zu   dienen   hat.     Im 


nordafrikanischen  Atlas  bedecken  Fruchthaine  aus 
alten  Steineichen  in  ihrer  süßfrüchtigen  Abart  die 
Berghänge  und  liefern  den  Kabylen  Mehlfrucht. 
Auch  in  ärmeren  Gegenden  Italiens  und  Sardiniens 
muß  der  Bauer  noch  heute  mit  Eichelmehl  sein 
Brot  strecken.  Man  hat  sich,  wenn  man  diese 
Beobachtungen  auf  unsere  vorchristlichen  und 
mittelalterlichen  Eichenwälder  in  Mitteleuropa  an- 
wenden wollte,  meist  daran  gestoßen,  daß  unsere 
Eicheln  wegen  ihres  großen  Gehaltes  an  Gerbstoff 
zu  bitter  zur  menschlichen  Nahrung  seien.  Es  ist 
jedoch  bekannt,  daß  schon  ganz  primitive  Völker, 
wie  die  Australier  oder  brasilianischen  Indianer, 
übelschmeckende,  ja  selbst  stark  giftige  Substanzen 
auf  oft  komplizierte  Weise  so  zu  bearbeiten  ver- 
stehen, daß  sie  sogar  einen  Hauptbestandteil  ihrer 
Nahrung  bilden  können.  In  mittelalterlichen 
Quellen  finden  wir  bezeichnenderweise  die  Eiche 
öfters  nicht  nur  den  Obstbäumen  gleichgestellt, 
sondern  sogar  direkt  als  fruchttragender  Baum  be- 
zeichnet. 

Als  ein  Beispiel  des  Überganges  von  wild- 
wachsenden zu  angebauten  Nutzpflanzen  erwähnt 
Brockmann-Jerosch  die  Ruderalpflanzen. 
Unter  diesen  gibt  es  eine  Zahl  von  Sammelpflanzen, 
deren  Nutzung  sich  noch  heute  feststellen  läßt. 
Da  ist  z.  B.  der  Gute  Heinrich,  Chenopodium  bonus 
Henricus,  der  ebenso  wie  seine  ganze  Verwandt- 
schaft als  fremdes  Einsprengsel  in  unsere  boden- 
ständige Flora  erscheint,  so  sehr  er  sich  auch  bei 
uns  wohlzufühlen  scheint.  Trotz  den  überdüngten, 
daher  wenig  appetitlichen  Orten,  an  denen  er  aus- 
schließlich vorkommt,  wird  er  noch  heute  in  ver- 
schiedenen Gegenden  als  geschätztes  Spinatgemüse 
zubereitet. 

Rumex  alpinus,  der  Alpenampfer,  ein  groß- 
blättriges Kraut,  das  allenthalben  die  wenig  saubere 
Umgebung  der  Alphütten  und  Ställe  in  großen, 
oft  ganz  reinen  Beständen  umgibt,  gehört  in  die 
gleiche  Gruppe.  Während  man  in  den  meisten 
Gegenden  nichts  mit  ihm  anzufangen  weiß,  ge- 
nießt man  im  Lötschertal  die  erfrischend  säuer- 
lich schmeckenden  Blattstiele  als  Leckerbissen. 
Gleiches  gilt  für  einzelne  Walliser  Täler,  wo  die 
Blätter  spinatartig  zubereitet  werden.  Die  Stelle 
unserer  Rhabarberstiele  auf  Kuchen  vertraten  sie 
noch  vor  nicht  langer  Zeit  im  Kanton  Bern  und 
noch  heute  im  Wallis  und  im  Engadin.  Ihre  be- 
merkenswerteste Verwendung  aber  findet  dieBlagge 
allerdings  nicht  als  Menschen-,  sondern  als  Vieh- 
nahrung, in  Graubünden  und  auch  in  Savoyen. 
Dann  führt  diese  Nutzung  des  Alpenampfers  dazu, 
daß  man  anfängt,  ihn  zu  schonen  und  zu  schützen, 
mit  einem  Zaun  zu  umgeben  und  schließlich, 
allerdings  nur  in  seltenen  Fällen,  sogar  anzubauen. 
Hier  kann  man  einmal  Schritt  für  Schritt  den 
Übergang  von  Sammelpflanze  zu  Kulturgewächs 
beobachten.  Falls  so  die  Ruderalpflanzen  bei  der 
Entstehung  der  Kulturpflanzen  eine  größere  Rolle 
gespielt  haben,  darf  man  annehmen,  daß  auch 
andere  Arten  ähnlich  wie  diese  an  überdüngten 
Stellen    absichtlich    gepflanzt    worden    sind,    war 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


257 


doch  diese  an  Düngstofifen  überreiche  Umgebung 
menschlicher  und  tierischer  Wohnstätten  unter 
primitiven  Verhältnissen  vielleicht  der  einzige  Ort, 
wo  man  nicht  fortwährend  sich  des  in  unserem 
Klima  iibermächtigen  Waldes  erwehren  mußte. 
In  der  Tat  finden  wir  solche  Misthaufenkulturen 
unter  primitiven  Verhältnissen  in  unseren  Alpen- 
tälern. Im  Maderanertal  (Uri)  wird,  wenn  man 
im  Frühling  mit  dem  Vieh  den  tiefgelegenen  Stall 
verläßt,  um  auf  die  höhere  Staffel  zu  ziehen,  der 
Misthaufen  neben  der  Flutte  vorher  noch  dicht 
mit  Setzlingen  der  Runkelrübe  bespickt,  die  dort 
natürlich  ein  fröhliches  Wachstum  entwickelt.  Die 
so  gewonnenen  Runkelrüben  dienen  hier  nicht 
nur  als  Viehfutter,  sondern  noch,  allerdings  ver- 
einzelt, als  menschliche  Speise  wie  im  Mittelalter. 

Aber  es  ist  noch  eine  andere  Entsteluingsart 
neuer  Kulturgewächse  zu  erwähnen.  Nicht  immer 
und  unter  allen  Umständen  waren  die  Unkräuter 
verachtete  Beimischungen.  Unter  primitiven  Ver- 
hältnissen werden  sie  sogar  gerne  gesehen,  wie 
z.  B.  Wickensamen  unter  schlechteren  Getreide- 
arten. In  den  Zeiten  der  Hungersnot  ist  oft  das 
Unkraut  der  Retter  russischer  Bauern  gewesen, 
intjpm  sie  sich  mit  seinem  Samen  ernährten. 
Der  echte  Buchweizen  (Fagopyrum  esculentum) 
ist  regelmäßig  von  einem  Unkraut,  dem  tatarischen 
Buchweizen,  begleitet.  In  ungünstigen  höheren 
Lagen,  wo  der  echte  Buchweizen  nicht  mehr  gut 
gedeiht,  kommt  nun  das  Unkraut,  der  tatarische 
Buchweizen,  zum  Anbau.  .'\ls  Unkraut  hat  er  sich 
verbreitet  und  in  ungünstigen  Verhältnissen  wird 
aus  dem  „Unkraut"  das  „Kraut".  Im  unteren 
Fuschlav,  um  Brusio,  baut  man  den  echten,  in  den 
zwei  Stunden  höher  oben  gelegenen  Bergdörfern 
Viano  und  Cavajone  den  tatarischen  Buchweizen. 

So  hat  sich  in  der  Schweiz  neben  fortge- 
schrittensten Wirtschaftsformen  noch  eine  ganze 
Musterkarte  primitiver  Nutzungs-  und  Kulturvveisen 
erhalten,  und  eine  zielbewußte  Erforschung  würde 
das  Bild  sicher  noch  bereichern.  An  Bedeutung 
sind  alle  weit  zurückgegangen ,  viele  sind  von 
Stufe  zu  Stufe  gesunken,  indem  manche  Pflanze, 
die  einst  eine  wesentliche  Volksnahrung  lieferte, 
jetzt  zur  Viehnahrung  geworden  ist  oder  höchstens 
noch  armen  Leuten  als  Notnahrung,  den  Kindern 
als  Spielerei  dient.  H.  Fehlinger. 


Physiologie.  Serobiologische  Studien  über 
Blattläuse  und  deren  Wirtspflanzen.  Dewitz,'] 
der  als  erster  auf  zoologischem  Gebiete  chemo- 
taktische Reize  beobachtet  hat  und  für  sich  das 
große  Verdienst  in  Anspruch  nehmen  darf, 
damit  direkt  den  später  so  erfolgreichen  Physio- 
logen  J.   Loeb    angeregt    zu    haben,     entdeckte 


»)J.  Dewitz:  Über  die  Einwirkung  der 
Pflanzenschmarotzer  au  f  d  ie  Wirtsp  flanze.  (Aus 
der  Königl.  Preuß.  Station  für  Schädlingsforschungen  in  Metz- 
Geisenheim).  Naturwissenschaftl.  Zeitschr.  für  Forst-  und 
Landwirtschaft.     Jg.  1915,  Heft  6/7,  S.  388, 


die  blutkörperchenlösende  (hämolysierende)  Wir- 
kung der  aus  Blattläusen  (Aphiden)  hergestellten  Ex- 
trakte. Er  hofft  mittels  dieser  Beobachtung  der 
„Art  und  Weise,  wie  die  tierischen  Pflanzen- 
parasiten, Pflanzenläuse  u.  a.,  auf  den  Organismus 
der  Wirtspflanzen  einwirken",  näher  zu  kommen. 
Sind  doch  über  derartige  Wechselbeziehungen 
sehr  wenig  positive  Ergebnisse  bekannt.  Zur 
Verwendung  gelangten  auf  Pelargoniumblätter  ge- 
züchtete ungeflügelte  Blattläuse,  die  Verf  wegen  derin 
seiner  Nähe  sich  abspielenden  Kriegsereignisse  nicht 
näher  bestimmen  konnte.  Born  er  glaubt,  daß 
es  sich  um  Macrosiphum  pelargonii  Kalt,  handelt. 
Die  eingesammelten  und  gereinigten  Läuse  wurden 
in  einem  Porzellantiegel  teils  mit  physiol.  Koch- 
salzlösung, teils  auch  unter  Zusatz  von  Glyzerin 
(zu  gleichen  Teilen)  verrieben  und  nach  einer 
24  stündigen  Digestion  im  Eisschrank  filtriert. 
Dieser  so  bereitete  Körperbreiextrakt  macht,  nun 
aus  mit  ihm  gemischten,  von  Serum  und  Fibrin 
sorgfältig  befreiten  roten  Blutkörperchen  das 
Hämoglobin  frei,  so  daß  die  gesamte  Lösung 
lackfarben  wird,  d.  h.  er  hämolysiert.  Die  das 
Hämoglobin  in  Freiheit  setzende  Substanz  be- 
zeichnet man  als  Hämolysin.  Dewitz  benutzte 
eine  5  "Jq  Aufschwemmung  von  Rinderblut- 
körperchen und  fand,  daß  der  Extrakt  in  einer 
Verdünnung  von  i  :  lOO  die  in  gleicher  Maßein- 
heit enthaltenen  Blutkörperchen  vollständig,  in 
einer  Verdünnung  von  i  :  200  teilweise  nach  einer 
2  stündigen  Erwärmung  auf  37  ",  bei  Verwendung 
von  konzentrierten  Läusesaftlösungen  aber  schon 
bei  Zimmertemperatur  und  in  sehr  kurzer  Zeit 
aufgelöst  werden.  Dewitz  glaubt,  noch  emp- 
findlichere Blutkörperchen  mit  höheren  Löslich- 
keitswerten  des  Extraktes  nachweisen  zu  können. 

Den  Hämolyse  erzeugenden  Körper  bezeichnet 
er  als  Aphidolysin  und  hält  ihn  für  ein  Gift, 
wie  solches  bereits  von  Schlangen,  Eidechsen, 
Kreuzspinnen,  Skorpionen,  Fliegen,  Fischen, 
Pflanzen  bekannt  und  untersucht  worden  ist. 
Der  Beweis  der  Identität  mit  irgendeinem  der- 
selben fehlt  jedoch  noch.  Die  Erkennung  der 
Lokalisat ion  des  Giftes  im  Organismus  der  Blatt- 
laus stößt  wegen  ihrer  Kleinheit  auf  Schwierig- 
keiten. 

In  ähnlicher  Weise  und  mit  demselben  Resul- 
tat   hat    Dewitz    auch    Reblausextrakte    studiert. 

Die  Entdeckung  von  Dewitz  griff  Börner,^) 
der  bekannte  Spezialist  auf  dem  Gebiete  der  Reb- 
und  Blattlausforschung,  für  weitere  experimentelle 
Untersuchungen  auf.  Er  gegen  prüfte  Blutkörperchen 
vom  Schwein,  Rind,  Hammel,  Ziege,  Meerschwein- 
chen, Maus,  Huhn  Aphis  atriplicis,  A.  pomi,  A. 
rumicis,  A.  viciae,  Brevicoryne  (Aphis)  brassicae, 
Drepanosiphum  aceris,  Macrosiphum  picridis,  M. 
pisi,  M.  rosae,  Megoura  viciae,  Peritymbia  f.  per- 
vastatrix,    Rhopalosiphum    lactucae,     Schizoneura 

2)  Karl  Börner:  Über  blutlösende  Säfte  im 
Blattlauskörper  und  ihr  Verhalten  gegenüber 
Pflanzensäften.  Mitteilungen  aus  der  Kaiserlichen  Biolo- 
gischen Anstalt  für  Land-  und  Forstwirtschaft,    Heft  l6,  1916. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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lanigera,  Siphocoryne  saliceti.  Es  stellte  sich  unter 
den  von  Dewitz  für  Extraktgewinnung  gege- 
benen Bedingungen  eine  durchschnittliche  hämo- 
lytische Wirkung  der  Saft  bis  an  einer  Ver- 
dünnung I  :  200  heraus.  Vereinzelt  jedoch  wurden 
besonders  gegenüber  Schweineblutkörperchen  viel 
günstigere  Resultate  erzielt.  Saft  von  Aphis 
viciae  vermag  Blutkörperchen  vom  Schwein  nach 
2  stündigem  Aufenthalt  im  Brutofen  von  37"  bis 
zu  1600,  Saft  von  Macrosiphum  pisi  bis  zu  3200, 
ersteren  nach  4  Stunden  bis  zu  6400,  nach 
13  Stunden  bis  zu  12S00  restlos  zu  hämoly- 
sieren.  Damit  wird  die  von  Dewitz  ver- 
mutete erhöhte  Wirksamkeit  der  Lysine  gegen 
andersartige  Blutkörperchen  bestätigt,  damit  aber 
auch  sein  Vergleich  zwischen  der  hämolytischen 
Stärke  des  Aphidolysins  zum  Arachnolysin  erheb- 
lich zugunsten  der  ersteren  korrigiert.  Nach 
seinen  Angaben  lösen  0,0005  g  Blattlaussaft  und 
0,000028  g  Kreuzspinnensubstanz  die  nämliche 
Menge  Blutkörperchen,  während  bei  Zugrunde- 
legung der  Versuche  von  Börner  von  Macro- 
siphum pisi  die  Verhältnisse  ungefähr  dieselben 
sind  (0,000031   und  0,000028). 

Ein  einheitliches  Blutlausgift  (Aphidolysin) 
kommt  nach  der  Auffassung  Börners  den  Blatt- 
läusen nicht  zu,  da  die  blutlösende  Fähigkeit  der 
Extrakte  verschiedener  Blattlausarten  sich  der- 
selben Blutart  gegenüber  verschieden  verhalten. 
Während  Macrosiphum  pisi  und  Aphis  viciae  die 
roten  Blutkörper  chen  des  Schweines  glatt  hämo- 
lysieren,  verhalten  sich  ihnen  gegenüber  die  Säfte 
von  Aphis  atriplicis  und  Schizoneura  lanigera  völlig 
negativ. 

Die  Hämolysine  wurden  erst  bei  Anwendung 
ziemlich  hoher  Wärmegrade  empfindlich  beeinflußt. 
Diejenigen  von  Siphocoryne  saliceti  waren  nach 
2  Stunden  bei  60",  die  von  Brevicoryne  brassicae 
nach  30  Minuten  bei  100"  zerstört  und  die  Fähig- 
keit des  Wickenlaussaftes  Schweineblutkörperchen 
zu  lösen,  war  bei  So"  nach  45 — 60  Minuten  um 
die  Hälfte  geschädigt. 

Die  Lokalisation  der  Hämolyse  im  Tierkörper 
der  Blattläuse  suchte  Börner,  da  direkte  Unter- 
suchungen wegen  Kleinheit  der  Objekte  unmög- 
lich erscheinen,  auf  indirektem  Wege  zu  ermitteln. 
Er  stellte  sich  zunächst  die  Frage  nach  der  Zeit 
der  Entstehung  der  Hämolysine  im  Tierkörper 
und  ob  dieselben  etwa  mit  der  Pflanzennahrung 
aufgenommen  werden  würden.  Er  fand :  die 
Hämolysine  bilden  sich  während  der  Embryonal- 
zeit und  vor  Aufnahme  von  pflanzlicher  Kost. 
Frisch  abgelegte  Eier  der  Reblaus  hämolysieren 
noch  nicht,  aber  kurz  vor  dem  Ausschlüpfen 
stehende  Reblauseier  und  mit  Rebblättern  noch 
nicht  in  Berührung  gekommene  Jungläuse  zeigen 
dieselbe  blutkörperchenlösende  P'unktion  wie  die 
ausgewachsenen  Gallen-  und  Wurzelläuse.  Falls 
nun  das  Lysin,  so  wird  weiter  geschlossen,  im 
Speichelsaft  der  Blattlaus  lokali'-iert  ist,  müßte  es 
durch  den  Saugakt  auf  die  Wirtspflanze  über- 
tragen   werden    und    eventuell    nachweisbar    sein. 


Das  ist  tatsächlich  der  Fall.  Die  Extrakte  der 
von  der  Wickenblattlaus  (Aphis  viciae)  stark  be- 
setzten und  besogenen  Triebspitzen  der  schmal- 
blätterigen Wicke  (Ervum  tenuifolium)  hatten  im 
Gegensatz  zu  den  Säften  von  unbesogenen  Pflanzen- 
teilen hämolytische  Eigenschaften.  „Falls  hierbei 
nicht  noch  andere  unbekannte  Faktoren  wirksam 
gewesen  sind",  werden  die  Hämolysine  also  beim 
Saugakt  der  Läuse  in  die  Pflanze  eingespritzt  und 
müssen  mithin  in  den  Speicheldrüsen  lokalisiert 
sein  und  gebildet  werden. 

Die  Hämolysine  der  Blattläuse  werden  im 
pflanzlichen  Gewebe  wahrscheinlich  sehr  schnell 
verändert.  Es  folgt  das  daraus,  daß  nach  ein- 
tägigem Aufenthalt  der  Extrakte  aus  von  Blatt- 
läusen besogenen  Pflanzenteilen  oder  der  künst- 
lichen Mischungen  von  gewöhnlichen,  unbeein- 
flußten Pflanzenorgansäften  und  solchen  der  be- 
treff'enden  Parasiten  im  Eisschrank  die  Lysine 
vollständig  neutralisiert  oder  doch  sehr  abge- 
schwächt, d.  h.  ganz  oder  teilweise  gebunden 
worden  waren,  so  daß  zugesetzte  Blutkörperchen 
unverändert  blieben  oder  nur  zum  Teil  gelöst 
wurden.  Beim  näheren  Studium  von  Mischungs- 
versuchen in  vitro,  die  durch  Kontrollen  gesichert 
wurden,  ging  Börner  von  einem  hochwertigen 
Läusesaft  (von  Aphis  viciae)  aus.  Bringt  man 
denselben  in  verschiedenen  Verdünnungen  (von 
V40  — '/12  sno)  niit  gleichen  Volumteilen  frischen 
Pflanzensaftes  von  Ervum  tenuifolium  zusammen 
und  fügt  sofort  eine  5  "/o  Aufschwemmung  von 
Schweineblutkörperchen  hinzu,  so  tritt  nach  den 
gewöhnlichen  Bedingungen  die  Hämolyse  mit 
nahezu  denselben  Werten  ein,  wie  sie  ohne  Beisein 
von  Pflanzenextrakt  beobachtet  wird.  Bei  gleich- 
zeitigem Zusammenbringen  der  drei  Komponenten 
tritt  demnach  eine  merkliche  Hemmung  oder  Ab- 
lenkung der  Hämolyse,  wie  sie  infolge  Neutralisation 
von  Pflanzensaft  und  Pflanzenlaushämolysin  ange- 
nommen werden  konnte,  nicht  ein.  Die  Affinitäten 
zwischen  Blutkörperchen-  und  Pflanzenlaussubstanz 
überwiegen.  Dasselbe  wird  bei  alleinigem  Vor- 
wärmen des  Pflanzensafies,  das  Börner  bis  auf 
14  Stunden  bei  37"  ausgedehnt  hat,  und  nach- 
folgendem gleichzeitigen  Zusatz  der  hämolytischen 
Komponenten  beobachtet.  Anders  liegen  die  Ver- 
hältnisse, wenn  dem  Läuse-  und  Pflanzenextrakt 
zur  gegenseitigen  Beeinflussung  Zeit  gelassen  wird. 
(Sie  wurden  2—14  Stunden  bei  37"  gehalten.) 
Wickenlaussaft  V3200  und  Wickensaft  V20  2  Stunden 
auf  37"  erwärmt,  zeigt  bei  Zusatz  von  Schweine- 
blutkörperchen totale  Hemmung,  d.  h.  es  trat 
keine  Hämolyse  ein.  In  Verfolgung  dieser  Tat- 
sache stellte  sich  die  weitere  sehr  interessante  Be- 
obachtung heraus,  daß  eine  derartige  Verminderung 
(Ablenkung)  der  Hämolyse  nur  zwischen  einander 
angepaßten  Organismen,  also  zwischen  Wirtstier 
und  Wirtspflanze  oder  einer  nahe  verwandten 
Pflanze  erfolgt,  nicht  aber  zwischen  einer  fremd- 
artigen. Beispiel :  Die  Hämolysine  des  Extraktes 
der  Wickenlaus  neutralisieren  sich  mit  gewissen 
Bestandteilen  des  Pflanzensaftes  von  Ervum  tenui- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


2S9 


folium  und  Vicia  sepium,  nicht  aber  mit  dem 
Auszug  von  den  Blättern  der  Melde  Atriplex 
hastatum.  Während  in  erstem  Falle  die  zu- 
gesetzten Blutkörperchen  ungelöst  blieben,  war  bei 
letztgenannter  Pflanzenart  noch  eine  deutlich 
positive  Hämolyse  zu  beobachten  gewesen. 
Hiermit  wären  besondere  Wechselbeziehungen 
zwischen  Wirtstier  und  Pflanze  nachgewiesen 
worden. 

Börne  r  glaubt  diese  Beziehungen  durch  eine 
weitere  Beobachtung  stützen  zu  können.  Indem 
er  die  Säfte  von  Wirtstieren  und  Wirtspflanze 
im  Reagicrglas  mischte,  konstatierte  er  bei  zu- 
sammengehörigen Organismen  einen  Niederschlag, 
der  sich  gegenüber  von  Kontrollversuchen  als 
Trübung  zeigte.  Mit  dem  Saft  gesunder,  frischer 
Wirtspflanzen  (Spießmelde:  Atriplex  hastatum, 
Gänsefuß:  Chenopodium  glaucum)  versetzter 
Extrakt  der  betreffenden  Wirtslaus  (Meldelaus: 
Aphis  atriplicis)  —  die  übrigens  keine  hämoly- 
sierende  Substanz  für  die  untersuchten  Blutarten 
enthalten  soll  —  wies  einen  stärkeren  Trübungs- 
grad auf  als  eine  Mischung  von  fremdartigen 
Tiersäften  (Blut-  und  Wickenlaus)  mit  denselben 
frischen  Pflanzenauszügen.  Ersterer  zeigte  ferner 
große  Ähnlichkeit  mit  dem  Saftauszug  von 
Meldenblattgallen  der  Meldenlaus,  der  ebenfalls 
ein  schwachtrübes  Aussehen  hatte.  Born  er  zieht 
hieraus,  also  auf  Grund  des  ähnlichen  Trübungs- 
grades, die  Folgerung,  daß  „demnach  anscheinend 
der  Preßsaft  der  gesunden  Blätter  durch  Saft  der 
Meldenlaus  in  einem  ähnlichen  Sinn  beeinflußt 
worden  war,  wie  im  Leben  der  Zellsaft  der  von 
der  Meldcnlaus  besogenen  Meldenblätter"  (S.  49). 

Sollte  diese  Erscheinung  im  Sinne  Börners 
spezifisch  sein  und  bestätigt  werden,  dann  müßte, 
da  sie  sich  auf  Blattlausextrakte  bezieht,  deren 
hämolytische  P'ähigkeit  noch  nicht  festgestellt 
werden  konnte,  die  ev.  Beziehung  zur  Hämolyse- 
reaktion  untersucht  werden,  wobei  sich  die  erstere 
dann  wohl  als  die  allgemeinere  ergeben  dürfte. 
Stellt  sich  ihre  Identität  heraus,  dann  wären  in 
diesen  Reaktionen,  die  als  allgemeine  Anpassungs- 
erscheinungen für  irgendwelche,  vorläufig  noch 
unbekannte  biologische  Prozesse  zu  deuten  sind, 
Beziehungen  von  größerem  biologischem  Interesse 
aufgefunden  worden. 

Den  Einfluß  der  Hämolysine  der  Blattläuse 
glaubt  Born  er  an  der  lebenden  Pflanze  im  Auf- 
treten von  Verfärbungen  im  Bereich  der  Stich- 
wunden und  in  den  Wachstumsstörungen  (Gallen- 
bildungen) zu  erkennen.  Im  übrigen  vermeidet 
er  aus  seinen  Untersuchungen  vorläufig  weitere 
Schlußfolgerungen  über  die  biologischen  Aufgaben 
derselben.  Gegenüber  der  Toxinauffassung  von 
Dewitz  hebt  er  jedoch  hervor,  daß  das  Auftreten 
der  Hämolysine  im  Speichelsaft  der  Blattlaus  und 
ihre  Neutralisierung  durch  Pflanzensäfte  vielleicht 
auf  Enzyme  hinweist,  wodurch  Verdauung  und 
ev.  auch  Gallenbildung  irgendwie  beeinflußt  werden 
könnten. 

Gegen  die  enzymatische  Natur  der  Hämolysine 


spricht  m.  E.  jedoch  die  relativ  große  Wärme- 
unempfindlichkeit  und  ihr  scheinbares  Fehlen  bei 
einigen  Blattlausarten.  Enzyme  werden  im  allge- 
meinen durch  Temperaturen  zwischen  50"  und  60" 
nach  kürzerer  Einwirkungszeit  zerstört.  Und  da 
Aphis  atriplicis  ebenfalls  Gallen  bildet,  wird,  falls 
eben  die  Hämolysine  die  angedeutete  biologische 
Rolle  spielen,  dieser  scheinbare  Ausfall  Aufklärung 
erheischen,  da  man  sonst  eine  Art  „Enzymersatz" 
postulieren  müßte.  Es  läßt  sich  aber  vermuten, 
daß  die  betrefi'enden  Substanzen  bei  Aphis  atriplicis 
ebenfalls  vorhanden  und  nur  nicht  so  auf- 
fällig ausgebildet  sind.  Wahrscheinlich  findet  sich 
noch  irgendeine  geeignete  Blutart  oder  aber  es 
tritt  nur  eine  Bindung  mit  den  untersuchten  roten 
Blutkörperchen  auf,  so  daß  der  Austritt  des  Hämo- 
globins nicht  bewerkstelligt  werden  kann.  Viel- 
leicht erklärt  sich  auf  diese  Weise  auch  das 
negative  Verhalten  der  Extrakte  von  Schizoneura 
lanigera,  der  nur  die  Blutkörperchen  vom  Huhn 
bis  zur  Verdünnung  i  :  100  hämolysieren  soll,  und 
das  der  frisch  gelegten  Galleneier  von  Peritymbia  f. 
pervastatrix.  Aber  auch  die  Gift  (Toxin)- Natur 
der  Hämolysine  im  Sinn  des  Diphtherietoxins 
oder  das  Arachnolysins  erscheint  wegen  ihrer 
weitgehenden  Thermoresistenz  und  anderer 
Momente,  die  hier  nicht  erörtert  werden  können, 
zweifelhaft.  Hierüber  sind  noch  eingehende 
Untersuchungen  anzustellen.  Es  dürfte  ferner  be- 
achtenswert erscheinen,  experimentell  zu  beob- 
achten, ob  die  Hämolysine  nicht  eine  rein  kutikula- 
lösende  F"unktion  zur  Einführung  des  Rüssels 
durch  die  harte  Oberfläche  hindurch  in  das 
weichere  und  nährstoffreiche  pflanzliche  Gewebe 
• —  eine  im  Verhältnis  zur  Tiergröße  immerhin 
schwierige  mechanische  Leistung!  —  besitzt,  was 
allerdings  mehr  eine  generelle  Eigenschaft  wäre 
und  in  einem  gewissen  (nicht  unbedingten)  Wider- 
spruch stände  mit  den  von  B  ö  r  n  e  r  aufgefundenen 
korrespondierenden  Erscheinungen. 

Fraglich  erscheint  mir  dann  die  ausreichende 
Beweiskraft  des  Arguments  Börners  für  die 
Verschiedenartigkeit  der  blutlösenden  Säfte  der 
diversen  untersuchten  Blattläuse.  Er  meint,  ihre 
nicht  einheitliche  Natur  gehe  aus  dem  ver- 
schiedenen Verhalten  der  verschiedenen  Hämo- 
lysine der  Läuse  gegenüber  einer  Blutart  hervor. 
Dieser  Schluß  übersieht,  daß  verschiedene  quanti- 
tative Verhältnisse  in  der  Ausbildung  der  Lysine 
an  sich  schon  differentes  Verhalten,  das  sich  in 
Titerschwankungen  oder  als  scheinbar  negative 
Reaktion  (Bindung  1)  zeigt,  ergeben.  Recht  schwach 
ausgebildete  Lysine  lösen  z.  B.  Rinderblutkörperchen 
nicht,  schwache  lassen  nur  einen  niedrigen,  starke 
einen  höheren  Titer  erkennen.  Dasselbe  ist  bei 
gleicher  Annahme  denkbar  gegen  untereinander 
in  ihrer  Resistenz  und  ihren  chemischen  Verhält- 
nissen verschiedenen  Arten  von  Blutkörperchen. 
Ob  die  Säfte  der  Läuse  verschiedenartig,  d.  h.  in 
chemischem  Sinn  different  sind,  bleibt  folglich 
noch  problematisch  bis  noch  andere  Beweise  er- 
bracht werden  können  und  dieser  Einwurf  auf  seine 


26o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Berechtigung  hin  geprüft  wurde.  Zur  Klarlegung 
dieses  Problems  können  z.  R.  eine  größere  Anzahl 
Versuche  über  die  Wärmeempfindlichkeit  verschie- 
dener Hämolysine  herangezogen  werden.  Immer- 
hin muß  zugegeben  werden,  daß  aus  Börners 
Untersuchungen  bereits  eine  strenge  Einheitlich- 
keit derselben  nicht  hervorgeht.  Die  Bezeichnung 
Aphidolysin  (Dewitz)  für  die  Hämolysine  der 
Blattläuse  halte  ich  für  gerechtfertigt,  wenigs.tens 
als  generellen  Oberbegriff. 

Nach  Übersicht  III  (S.  47)  erscheint  es  auffällig, 
daß  eine  2  stündige  Digestion  gegenüber  einer 
14  stündigen  bessere  Resukate  ergibt.  Wicken- 
laussaft  und  Wickensaft  war  in  ersterem  Falle 
glatt,  im  letzteren  Falle  nur  fast  negativ.  Man  hätte 
bei  einfachem  Reaktionsablauf  das  gegenteilige  Er- 
gebnis erwartet.  Die  verschiedenen  Verdünnungen 
sind  gegenüber   der  Zeitdauer  wohl  fastbelanglos. 

Die  fremdartigen  Pflanzensäfte  und  Tierextrakte 
scheinen  endlich  nicht  ganz  ohne  Wirkung  auf- 
einander zu  sein.  Die  Hämolyse  in  Versuch  II  2c 
der  Übersicht  III  wurde  teilweise  abgelenkt,  so 
daß  nur  ein  „fast  +"  konstatiert  werden  konnte.  Auf 
Grund  dieser  Beobachtung  glaubt  Born  er  selbst 
nicht  an  eine  streng  spezifische  Wechselwirkung 
zwischen  der  von  der  betreffenden  Laus  besiedelten 
oder  dieser  verwandten  Pflanze  und  dem  Parasiten. 
Mit  dieser  Einschränkung  hat  die  Beobachtung 
vorläufig  nur  relativen  Wert  und  erfordert  vor 
allem  eingehende  systematische  Untersuchungen 
zur  Feststellung  und  Abgrenzung  der  eigentlichen 
Tatsache.  Das  Verdienst  Börners  besteht  darin, 
das  Problem  von  neuem  angeregt,  erstmalig  wahr- 
scheinlich gemacht  und  zugleich  geeignete  Me- 
thoden zur  Lösung  desselben  (Hämolysehemmung 
und  Niederschlags-,  bzw.  Trübungsreaktion)  an- 
gegeben zu  haben.  Thiem. 

Zoologie.  Laichwanderung  der  Forelle.  Wie 
LouisRoule  (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  XV.  Bd. 
1916  S.  251)  gefunden  hatte,  dient  dem  Lachs 
bei  seinen  Laichwanderungen,  welche  er  aus  dem 
Meer  in  das  Süßwasser  unternimmt,  der  Sauer- 
stoffgehalt des  Wassers  als  Führer.  Er  dringt  in 
jene  Ästuarien  ein,  wo  diejenigen  Zuflüsse  ein- 
münden, deren  Wasser  am  reichsten  an  darin  ge- 
löstem Sauerstoff  ist.  Von  der  Mündung  steigt 
der  Lachs  im  Strom  aufwärts,  dringt  in  die  ein- 
mündenden Flüsse  und  aus  diesen  in  die  Gebirgs- 
bäche  vor,  um  dort  zu  laichen;  die  jungen  Fische 
schlagen  dann  seinerzeit  den  umgekehrten  Weg  ein, 
um  bis  zu  laichfähiger  Größe  im  Meer  heranzuwachsen. 

Es  ist  schon  längst  bekannt,  daß  die  Seeforelle 
des  Süßwassers  (Salmo  fario  lacustris  L.)  eine 
ganz  entsprechende  Erscheinung  zeigt,  indem  sie 
gewöhnlich  ihre  Eier  nicht  in  dem  See  absetzt, 
in  welchem  sie  lebt,  sondern  ebenfalls  zur  Laich- 
zeit in  die  einmündenden  Flüsse  und  Bäche 
aufsteigt,  um  in  letzteren  zu  laichen,  und  daß  erst 
die  jungen  Fische  nach  einigen  Monaten  wieder 
in  das  Seebecken  wandern.  Nach  Unter- 
suchungen,   über    welche    R.    in    der   Sitzung    der 


Pariser  Akademie  der  Wissenschaften  vom  6.  Nov. 
191 6  berichtete,  ist  auch  für  die  Forelle  des 
Genferseees  der  zunehmende  Sauerstoffgehalt  der 
Wasserläufe  bestimmend  für  den  einzuschlagenden 
Weg;  die  Seeforelle  unterscheidet  sich  vom  Lachs 
bezüglich  ihrer  Laichwanderungen  nur  dadurch, 
daß  sie  weniger  weit  und  durchweg  in  demselben 
Milieu,  im  Süßwasser   wandert. 

Eine  praktische  Schlußfolgerung  aus  diesen 
Tatsachen  wäre  nach  R.  die,  daß  man  beim  Ein- 
fangen von  Laichfischen  für  die  Fischbrutanstalten 
die  sauerstoffreichsten  Wasserläufe  wählt;  dort 
würde  man  nicht  nur  die  meisten  Laichfische  an- 
treffen, sondern  auch  die  lebenskräftigsten  Stücke. 
Kathariner. 

Die  Bedeutung  Italiens  für  den  Vogelzug. 
Der  beträchtliche  Artenreichtum  der  Vogelwelt 
Italiens  hat  seinen  Grund  darin ,  daß  die  lang- 
gestreckte Appeninnenhalbinsel  und  als  ihre  Fort- 
setzung Sizilien  eine  natürliche  Verbindung  dar- 
stellt zwischen  Europa  und  Afrika  und  deshalb 
naturgemäß  von  den  Zugvögelmassen  beider 
Kontinente  als  Wanderstraße  benutzt  wird.  Nach 
Forstmeister  S  c  h  w  a  a  b  -  Vilsbiburg  (Naturw. 
Zeitschr.  f  Forst-  u.  Landwirtschaft,  15.  Jahrg., 
1917,  Heft  2,  S.  68 — ■]■])  unterscheidet  der  Ita- 
liener „3  Phasen  dieser  alljährlichen  mit  der 
Regelmäßigkeit  eines  Uhrwerks  sich  vollziehenden 
Völkerwanderung;  i.  den  passo  primaverile, 
den  Frühjahrszug  von  Januar  bis  Mitte  Juni, 
2.  die  sosta,  die  Ruhepause  von  Mitte  Juni  bis 
Mitte  Juli,  und  3.  den  passo  autumnale,  den 
Herbstzug  von  Mitte  Juli  bis  zum  Jahresende". 
Den  Reigen  im  Januar  eröffnen  zumeist  2  hoch- 
nordische Gäste,  der  Tordalk  und  der  Lund, 
der  sibirische  Fichtenammer  und  von  der 
deutschen  Vogelwelt  wenige  Gimpel  stellen  sich 
nächst  ihnen  ein.  „Damit  ist  die  gewaltige 
Mobilmachung  des  passo  primaverile  eingeleitet, 
welche  die  ganze  Vogelwelt  nach  Norden  ver- 
schiebt." Zunächst  rücken  wohl  nur  vereinzelte 
Schwärme  über  die  winterlichen  Alpen  vor,  aber 
„hinter  der  Gebirgsmauer  vollzieht  sich  doch  der 
strategische  Aufmarsch  zu  dem  Massenzug  in  den 
folgenden  Monaten".  „Von  Februar  bis  Mai  bildet 
Italien  den  Truppensammelplatz  für  die  nordischen 
Zugvögel  (specie  invernale),  welche  aus  Afrika 
zurückwandern  und  auf  der  Reise  nach  den  alten 
Niststätten  eine  Zeitlang  noch  in  dem  ungastlichen 
Lande  verweilen.  Gleichzeitig  mit  ihnen  trifft 
auch  die  Vogelwelt  der  tropischen  und  subtro- 
pischen Zone  ein  (specie  estive),  welche,  der 
Sonnenglut  am  Äquator  aus  dem  Wege  gehend, 
Frühjahr  und  Sommer  in  Italien  verbringen  und 
daselbst  nisten".  Die  Ankunfts-  und  Abwanderungs- 
zeiten der  einzelnen  Vogelarten  läßt  sich  nach 
den  Aufzeichnungen  früherer  Beobachtungen  im 
Calendario  delle  migrazioni  genau  vorhersagen 
Aus  ihnen  geht  hervor,  daß  „der  Zustrom  aus 
dem  Süden  von  Januar  bis  April  ständig  an- 
schwillt,   in  diesem  Monat   seinen  Höhepunkt   er- 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


261 


reicht  und  in  der  i.  Hälfte  des  Juni  mit  dem 
Erscheinen  des  Rosenstars  endet.  Ebenso 
verdichten  sich  die  anfangs  sehr  schwachen  nach 
Norden  aufbrechenden  Flanklerketten  von  Januar 
bis  April  immer  mehr,  flauen  dann  langsam  ab 
und  mit  der  Abreise  des  S  trän  d  lau  fers  ist  der 
letzte  der  invernali  aus  italienischem  Gebiete  ver- 
schwunden". Nur  I  Monat  dauert  die  Sosta,  die 
Ruhepause,  dann  beginnt  schon  wieder  der  Herbst- 
zug: die  Vogelmassen  streben  zurück  in  ihre 
Winterquartiere.  Nicht  alle  Vögel  aber  halten 
sich  auf  ihrem  Wanderzuge  längere  Zeit  in  Italien 
auf,  viele  Vogelarten,  wie  die  Störche,  ver- 
schiedene Falkenarten,  der  Löffelreiher  u.  a.  m. 
passieren  die  Halbinsel  nur  in  eiligem  Durchflug. 
Unberechenbar  und  von  dem  Zuge  aller  anderen 
Vögel  abweichend  sind  stets  die  Wanderungen 
der  Wachteln.  Vollkommen  systemlos  offenbar 
von  momentan  einsetzenden  klimatischen  Ereig- 
nissen beeinflußt,  scheinen  ihre  Wanderungen  zu 
sein,  so  daß  man  Wachteln  eigentlich  das  ganze 
Jahr  über  in  Italien  antreffen  kann.  Neben  diesen 
ständigen  Besuchern  der  Appenninenhalb- 
insel  finden  sich  noch  einige  mehr  „periodische 
Einwanderer".  Zu  diesen  gehört  das  in  den 
osttatarischen  und  mongolischen  Steppen  heimische 
Steppenhuhn,  dann  der  Seidenschwanz, 
der  bei  besonders  strengen  Wintern,  wie  z.  B.  im 
Dezember  1904,  aus  seiner  hochnordischcu  Heimat 
bis  nach  Norditalien  vordringt,  endlich  einige 
Hochalpenbewohner,  wie  der  Schnee- 
fink, der  Alpenflüevogel,  die  Ringdrossel, 
der  Zitronenfink  u.  a.  m. 

Eine  Sonderstellung  unter  allen  Italien  auf- 
suchenden Vogelarten  nimmt  der  Flamingo  ein: 
während  sonst  die  tropischen  Vögel  alle  ohne 
Ausnahme  Frühjahr  und  Sommer  in  Italien  ver- 
bringen und  dann  wieder  in  die  Äquatorial- 
gegenden zurückkehren,  erscheinen  die  Flamingos 
gleichzeitig  mit  unseren  deutschen  Sängern  im 
Herbst  aus  der  entgegengesetzten  Richtung  aus 
Zentralafrika  und  tummeln  sich  den  Winter  über 
in  den  brackigen  Strandseen  Sardiniens.  „Alken, 
Lummen  und  Lunde  sind  in  strengen  Wintern 
mit  ihnen  hier  vergesellschaftet."  Im  Frühjahr 
pilgern  die  Flamingos  dann  wieder  in  ihre  tro- 
pische Heimat  zurück.  Als  Ursache  dieses  sonder- 
baren biologischen  Verhaltens,  dem  augenschein- 
lich die  stärksten  klimatischen  Gegensätze  be- 
hagen, konnte  bisher  nichts  Beweiskräftiges  an- 
geführt werden.  Die  Ungunst  der  klimatischen 
und  Nahrungsverhältnisse,  wie  sie  bei  allen  anderen 
Vögeln  die  Wanderungen  bestimmend  beeinflußt, 
ist  sicher  bei  den  Flamingos  nicht  der  Anlaß,  der 
sie  verleitet,  gerade  zu  der  klimatisch  günstigsten 
Zeit  ihre  tropischen  Quartiere  zu  verlassen. 

Die  wirtschaftliche  Ausnutzung  der  Bedeutung 
Italiens  als  Durchgangsland  für  die  Mehrzahl  der 
europäischen  und  afrikanischen  Zugvögel  durch 
die  italienische  Bevölkerung  ist  hinlänglich  be- 
kannt. Alle  Vogelschutzgesetze  in  den  italienischen 
Nachbarländern,  vor  allem  in  Deutschland,  werden 


die  Lücken  nicht  auffüllen  können,  welche  die 
italienischen  Vogelsteller  alljährlich  unter  den 
durchziehenden  Vogelgästen  rücksichtslos  reißen, 
sie  dienen  lediglich  dazu,  die  italienischen  Fang- 
ergebnisse Jahr  für  Jahr  günstiger  zu  gestalten. 
H.  W.  Frickhinger. 

Geologie.  „Zur  Entstehung  schmaler  Störungs- 
zonen" gibt  H.  Cloos  einen  wertvollen  Beitrag 
(Geolog.  Rundschau  Bd.  VII  1916).  In  Schollen- 
gebirgen beobachten  wir  nicht  selten  zwischen  ein- 
förmigen Schichtentafeln  schmale  Streifen  fremd- 
artiger Gesteine,  die  bei  der  Gebirgsbildung  als 
Nebenprodukte  sich  abgesplittert  haben.  Sind  die 
Gesteine  des  Streifens  älter  als  die  Umgebung, 
so  stammen  sie  aus  der  Tiefe  (Horst),  umgekehrt 
aus  einer  inzwischen  zerstörten  Höhe,  wenn  sie 
jünger  sind  (Graben).  Im  letzteren  Falle  ist  die 
Erklärung  einfach.  In  einen  sich  öftnenden  Spalt 
sind  Randteile  hinabgesunken.  Schwieriger  ist  der 
umgekehrte  Fall  zu  deuten,  wo  schmale  Horst- 
streifen aus  großen  Tiefen  emporgepreßt  sind. 
Noch  schwieriger  wird  es,  wenn  schmale  Horst- 
streifen sich  mit  schmalen  Gräben  verzwillingen. 
Eine  altbekannte  Tatsache,  die  man  nicht  selten 
in  geeigneten  Gebieten  nachprüfen  kann,  ist  nun 
die,  daß  wenn  Schollen  sich  aneinander  bewegen, 
jeweils  die  Bewegungsfläche  zur  tieferen  Scholle 
einfällt  (meist  unter  50"-  80").  Indessen  gibt  es 
auch  Fälle,  wo  die  bewegte  Scholle  wieder  in  ihre 
L'rsprungslage  zurückkehrt  oder  die  ruhende  der 
bewegten  Scholle  nacheilt.  In  diesem  Falle  wird 
entweder  die  alte  Gleitfläche  benutzt  oder  was 
häufiger  der  Fall  ist,  es  bildet  sich  eine  neue,  für 
die  neue  Bewegung  normale  Gleitfläche.  Beispiele 
liefert  das  an  alternierenden  Bewegungen  reiche 
Schollenfeld  der  niederrheinischen  Bucht.  Dort 
läßt  sich  beobachten,  daß  eine  jüngere  Störung 
über  die  ältere  weggreift.  .Senken  bezw.  heben 
sich  anstoßende  Schollen  abwechselnd,  so  entsteht 
eine  Sprung kreuzung. 

Durch  die  alternierenden  Auf-  und  Abwärts- 
bewegungen von  Schollen  aneinander  werden 
wechselweise  schmale  Gesteinsstreifen  abgegeben. 
Diese  werden  zu  Horsten,  wenn  sie  an  Hochbe- 
wegungen teilnehmen  oder  zu  Gräben,  wenn  Sen- 
kungen stattfinden.  Die  Streifen  werden  immer 
zahlreicher  und  schmäler,  je  länger  der  Vorgang 
dauert.  Im  Falle  derSprungkreuzung  kommen  tiefste 
Gräben  und  höchste  Horste  nebeneinander  zu  liegen. 
Beispiele  .tektonischer  Zwillinge  sind  auf  beiden 
Seiten  des  Thüringer  Waldes,  im  Egge-  und  Teuto- 
burgerwaldgebiet  usw.  Geradezu  klassisch  ist 
Stille's  Hoppenbergprofil  auf  Blatt  Peckels- 
heim,  wo  links  und  rechts  Buntsandstein  und 
.Muschelkalk  liegt,  während  der  Horst  Zechstein, 
der  Graben  Lias  ist. 

Alle  diese  Erscheinungen  können  durch 
Hebungen  und  Senkungen  großer  Tafeln  ent- 
stehen; seitlichen  Druckes  oder  Zuges  und  einer 
Faltung  oder  .Aufpressung  bedarf  es  nicht  not- 
wendig. V.  Hohenstein. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   19 


Bücherbesprechungen. 


Aus  dem  Leben  und  Wirken  von  Arnold  Lang, 

dem  Andenken  des  Freundes  und  Lehrers  ge- 
widmet.    Jena   19 16,  G.  Fischer.  —  7  M. 

Freunde  und  Lehrer  des  am  30.  Nov.  1914 
verstorbenen  Züricher  Zoologen  Arnold  Lang 
haben  sich  vereinigt,  um  auf  Grund  von  per- 
sönlichen Erinnerungen,  Briefen,  Tagebuchnotizen 
und  amtlichen  Materialien  und  Schriftstücken  ein 
Bild  des  Lebens  und  Wirkens  dieses  als  Forscher 
wie  als  Menschen  gleich  ausgezeichneten  Mannes 
zu  entwerfen,  und  haben  damit  einen  wichtigen 
Beitrag  zur  Geschichte  der  neueren  Zoologie  ge- 
liefert, der  um  so  größeres  Interesse  verdient,  als 
sich  in  dem  Entwicklungsgänge  der  wissen- 
schaftlichen Forschertätigkeit  Arnold  Lang's  der 
Übergang  von  der  älteren  teils  spekulativ  teils 
entwicklungsgeschichtlich-morphologisch  und  -ana- 
tomisch orientierten  Richtung  zur  experimentellen 
Vererbungsforschung  wiederspiegelt,  den  Lang, 
obwohl  schon  in  vorgerückteren  Jahren,  mit  be- 
merkenswerter Spannkraft  mitmachte. 

Ernst  Haeckel  leitet  das  Buch  ein  durch  einen 
Abschnitt,  in  welchem  er  die  Jenaer  Zeit  Lan  g's 
schildert.  Sie  zerfällt  in  zwei  Teile,  die  zweijährige 
Studienzeit  und  die  nach  achtjähriger  Zwischen- 
zeit aufgenommene  Lehrtätigkeit  an  der  kleinen 
thüringischen  Universität.  Er  entwirft  ein  liebe- 
volles Bild  des  Studenten  und  Kollegen  Lang 
und  des  gemeinsamen  Strebens  und  Wirkens,  wobei 
er,  begreiflichen  Empfindungen  nachgebend,  auch 
eine  gute  Strecke  seiner  eigenen  Forschertätigkeit 
noch  einmal  an  sich  vorüberziehen  läßt. 

Karl  Hescheler,  der  Schüler  und  Nach- 
folger Lang's,  übernimmt  die  Aufgabe,  das  übrige 
Leben  mit  Ausnahme  des  Neapler  Abschnittes 
darzustellen.  Er  entledigt  sich  ihrer  in  einer 
schlichten,  dennoch  überall  die  innere  Telnahme 
verratenden  Weise,  indem  er  aus  den  verschieden- 
sten Quellen  schöpfend,  die  Daten  selber  zu  sach- 
licher und  möglichst  umfassender  Darstellung 
zusammenzufügen  sich  bemüht.  Er  berichtet 
zunächst,  wie  der  junge  in  solidem  Schweizerboden 
kräftig  wurzelnde  Lang  nach  Überwindung  väter- 
lichen Widerstandes  die  Universität  Genf  bezieht, 
um  Naturwissenschaften  zu  studieren.  Hier  wurde 
er  durch  Karl  Vogt  mit  Haeckel's  Genereller 
Morphologie  bekannt,  welches  Werk  nach  seinem 
Urteil  einen  großen  Eindruck  auf  den  Jüngling 
machte  und  ihn  bestimmte,  gleich  so  manchem 
anderen  nach  Jena  zu  wallfahrten.  Hier  taucht 
schon,  sicher  durch  Haeckel  mit  starker  sugge- 
stiver Kraft  hervorgezaubert,  eine  neue  wissen- 
schaftliche Sehnsucht,  so  charakteristisch  für  den 
Biologen,  auf,  das  Meer.  Er  verlebt  die  Ferien 
eines  Sommers  in  Wangerooge,  reist  später  nach 
den  Scilly-Inseln,  und  nachdem  er  eben  in  Bern 
sich  als  Privatdozent  niedergelassen  hat,  zieht  es 
ihn  nach  Neapel. 

Hier  ist  er  rasch  gefesselt  und  eng  an  die 
Zoologische  Station  Anton  Dohrn's   gebunden. 


Und  so  blickt  jetzt  in  das  Buch  die  blaue  südliche 
See  hinein,  es  steigt  empor  das  heitere,  vornehme 
Haus  in  dem  Steineichenhain  der  Villa  nazionale, 
in  dessen  Zellen  so  mancher,  glücklich  wie  der 
heilige  Hieronymus  im  Gehäus,  unvergeßliche 
Zeiten  stillen  Schauens  und  Schaffens  verlebte,  es 
klingt  und  funkelt  hinein  das  in  tausend  Farben 
schillernde  und  in  tausend  Stimmen  jauchzende 
Napoli.  Hugo  Eisig  entwirft  mit  offenkundigem 
Anteil  und  glücklichster  Gestaltungskraft  ein  an 
persönlichen  Zügen  reiches  Bild  jenes  einzigen 
Kreises,  in  den  sich  der  Schweizer  einfügte  und 
dem  er  acht  Jahre  lang  und  in  der  Erinnerung  sein 
ganzes  Leben  treu  blieb.  Er  erweitert  das  Bild 
beträchtlich,  indem  er  das  Werden  und  Wesen 
der  Zoologischen  Station  dem  Leser  nahebringt, 
jenes  Stückes  deutschen  Bodens  in  fremdem  Lande, 
auf  dem  sich  die  verschiedensten  Nationalitäten, 
beseelt  von  dem  gleichen  ernsten  Ziel,  einträchtig 
zusammenfanden.  Wie  mancher  von  den  Männern, 
ohne  die  man  sich  das  Acquario  gar  nicht  denken 
kann,  wirkt  nicht  mehr  dort  oder  weilt  nicht 
mehr  am  Lichte!  Allen  voran  Anton  Dohrn, 
den  wir  in  seiner  ganzen  urwüchsigen  Kraft,  wenn 
auch  zwischen  den  Zeilen,  in  diesem  Buche  v.'ieder 
auferstehen  sehen.  Wohl  ihm,  daß  der  heißblütige 
Mann  diese  letzten  Jahre  nicht  mehr  hat  erleben 
müssen !  Auferstehen  sehen  wir  auch  die  riesige 
Gestalt  des  sizilianischen  P^ischersohnes  mit  den  mau- 
resken Gesichtszügen, Dr.Salvatore  Lo  Bianco, 
der  in  mancher  Hinsicht  ein  Schüler  Lang's  ge- 
wesen ist,  den  wehklugen  stets  hilfsbereiten  Lin- 
de n ,  den  feinen,  zarten  Giesbrecht  und  manchen 
anderen.  Wir  müssen  Eisig  ganz  besonders  dankbar 
für  diesen  Abschnitt  sein. 

Weiter  spinnt  nun  wieder  Hescheler  den 
Faden,  indem  er  Lang  in  seinem  akademischen 
Wirkungskreise  in  Zürich  vor  Augen  führt,  als 
Lehrer  und  Leiter  des  Zoologischen  Institutes. 
Hier  werden  auch  goldene  Worte  akademischer 
Weisheit  über  akademischen  Unterricht  und  andere 
allgemeine  akademische  Fragen  wiedergegeben, 
die  Lang  in  seiner  ganzen  Tüchtigkeit  zeigen. 
Ganz  besonders  tritt  diese  dann  hervor  in  der 
bedeutsamen  Rolle,  die  er  als  unermüdlicher  För- 
derer und  Organisator  des  großen  Unternehmens 
des  Züricher  Universitätsneubaues  gespielt  hat. 
Vor  allem  wird  dann  schließlich  ein  gedrängter 
Abriß  von  Lang's  Forschertätigkeit  entworfen, 
in  der  neben  sorgfältiger  Einzelarbeit  immer  wieder 
das  starke  theoretische  Interesse  an  den  großen 
Entwicklungsproblemen  hervortritt,  die  er  auch 
häufig  in  Reden  und  Vorträgen  erörterte. 

Aus  dem  Bilde,  wie  es  allmählich  sich  im 
Leser  von  der  Persönlichkeit  dieses  Zoologen  ge- 
staltet, scheint  mir  hervorzugehen,  daß  Lang, 
nicht  zu  jenen  Akademikern  gehörte,  deren  Tätig- 
keit in  der  kühlen  Anfertigung  von  Untersuchungen 
und  der  Lieferung  akademischer  Belehrung  an 
das  Auditorium  oder  das  Laboratorium  erschöpft 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


263 


ist.  Neben  scharfem,  kritischem  Verstände  und 
emsigstem  Fleiße  wohnte  in  ihm  die  Flamme 
der  Leidenschaft,  die  allen  Äußerungen  erst  jene 
Leuchtkraft  gibt  und  jene  Wärme  verbreitet,  die 
hier  wie  überall  die  Ursache  nachhaltiger  Wirkung 
und  echten  Erfolges  sind.  Miehe. 

Thorbecke,  F.,  Im  Hochland  von  Mittel- 
kamerun. 2.  Teil.  Mit  37  Abbildungen  und 
2  Kartenskizzen.  Hamburg  1916,  L.  Friedrichsen 
&  Co.  —  0  M. 
Dem  ersten  Teil  der  Landeskunde  des  Ost- 
Mbamlandes,  welcher  (vgl.  unsere  Besprechung 
Naturw.  Wochenschr.  Bd.  XIV,  S.  670)  den  Verlauf 
der  Reise  und  allgemeine  Beobachtungen  zur  Dar- 
stellung brachte,  läßt  der  Verf  hier  einen  zweiten  Teil 
folgen,  der  aber  noch  nicht  die  ursprünglich  in  Aus- 
sicht genommene  ph\'sische  Geographie  bringt, 
sondern  die  Anthropogeographie,  der  lediglich  des 
besseren  Verständnisses  wegen  ein  kurzer  orien- 
tierender Abschnitt  über  die  Natur  des  Ost-Mbam- 
landes  vorausgeschickt  wird.  Dann  werden  die 
Rassen  und  Völker  des  Gebietes,  ihre  Geschichte, 
ihre  Sicdelungen  und  Befestigungsanlagen  darge- 
stellt, sowie  ungefähre  Daten  über  die  Bevölkerungs- 
zahl mitgeteilt.  Die  Lebensweise  der  Eingeborenen 
wird  in  einem  folgenden  Abschnitt  im  engen  An- 
schluß an  die  besonderen  Bedingungen  des  KHmas 
behandelt,  ferner  die  Nahrung,  wobei  wir  auch  von 
dem  immer  noch  gelegentlich  angetroffenen  Kanni- 
balismus erfahren,  die  Kleidung  und  Bewaffnung, 
die  gesundheitlichen  und  VV^ohnungsverhältnisse. 
Dann  entwirft  der  Verf  ein  ausführliches  Bild  der 
gesamten  Wirtschaft  des  Gebietes,  der  Kultur- 
pflanzen und  ihres  Anbaus,  der  Ausnutzung  der 
Bodenfläche,  der  Viehhaltung,  der  Jagd,  des  I'isch- 
fanges  und  der  Sammeltätigkeit,  des  Handwerks 
und  der  Gewerbe  sowie  des  Handels.  Im  Mittel- 
punkt des  Landbaus  stehen  nicht  die  Hack-  sondern 
die  Körnerfrüchte;  die  Viehhaltung,  die  sich  in 
erster  Linie  auf  Kleinvieh  erstreckt,  ist  wenig 
sorgfältig.  Das  Handwerk,  unter  dem  der  Mangel 
der  Holzbearbeitung  auffällt,  leidet  unter  dem 
zerstörenden  Einfluß  der  importierten  europäischen 
Waren.  Träger  des  Handels  sind  nie  die  Ein- 
heimischen gewesen,  sondern  stets  Fremde.  Da 
der  Handel  mit  Elfenbein  bereits  erloschen  ist  und 
der  mit  Kautschuk  alimählich  zurückgeht,  sieht 
Verf  die  einzige  Hoffnung  in  dem  durch  die  Natur 
des  Landes  begünstigten  und  hier  bereits  ein- 
heimischen Baumwollbau.  Bei  der  Erörterung 
der  Verkehrswege,  wird  erwähnt,  daß  die  beiden 
großen  Ströme  Mbam  und  Sanaga  nicht  schift'bar 
und  alle  Straßen,  selbst  die  best  ausgebauten  nur 
für  Träger  benutzbar  sind;  der  Fortsetzung  der 
Nordbahn  durch  das  Ostmbamland  nach  Adamaua 
wird  das  Wort  geredet.  Im  Schlußkapitel  be- 
handelt der  Verf.  die  deutsche  Kolonisation  und 
gibt  dabei  selber  mannigfache  Anregungen  zur 
Hebung  des  Landes.  Zahlreiche  sehr  gute  Ab- 
bildungen, sowie  zwei  Karten,  und  zwar  eine  der 


Völker  und  eine  der  Verkehrs-  und  Handelsstraßen 
sind  auch  diesem  2.  Teil  des  wertvollen  Werkes 
beigegeben.  Miehe. 

Brehm's  Tierleben,  Säugetiere.  4.  Band. 
Leipzig  und  Wien.  Bibliographisches  Institut. 
Der  vorliegende  Band,  der  sich,  was  Sorgfalt 
der  Bearbeitung  und  Vorzüglichkeit  der  Ausstattung 
anbetrifft,  würdig  seinen  Vorgängernanreiht,  schließt 
die  Säugetiere  ab.  Er  wird  besonderes  Interesse 
erregen,  einmal  weil  er  die  wichtigsten  Vertreter  der 
Haustiere  und  des  heimischen  Wildbestandes  enthält, 
die  unter  den  Paarhufern  abgehandelt  werden, 
und  dann,  weil  als  Abschluß  des  Tierreichs 
seine  interessanteste  Gruppe,  die  Affen,  eine  ein- 
gehende Darstellung  finden.  Überall  ist  der  Inhalt 
stark  bereichert  worden,  so  daß  oft  nur  wenig  von 
der  letzten  Auflage  unverändert  geblieben  ist;  sind 
doch  z.  B.  201  Arten  von  Affen  und  Halbaffen  be- 
schrieben gegen  85  der  vorigen  Aullage.  Das 
Abbildungsmaterial  ist  wieder  sehr  reich  und  be- 
sonders die  farbigen  Tafeln  vorzüglich.  Dabei 
begegnet  man  aber  auch  immer  wieder  gerne 
den  schönen  alten  Holzschnitten.  Unter  den  Bildern 
treffen  wir  eine  große  Zahl  seltener  Tiere,  wie 
das  Okapi,  das  Zwergflußpferd,  den  wilden  Yak 
und  andere.  Bei  den  Haustieren  ist  auch  ihre 
Geschichte  sowie  die  F>age  ihrer  Abstammung 
ausführlich  erörtert.  Am  Schluß  des  Bandes  sind 
1 2  Kärtchen  angefügt,  aufweichen  die  geographische 
Verbreitung  wichtiger  Säugetiergruppen  oder 
einzelner  Tiere  dargestellt  sind.  Miehe. 

Greulich,  O.,  Dr.,  Peru.  Studien  und  Er- 
lebnisse. Zürich.  Orell  Füßli.  —  5  M. 
Der  Verfasser  hat  längere  Zeit  als  Lehrer  in 
Peru  und  zwar  inHuaraz  und  in  Puno  amTiticacasee 
gewirkt  und  schildert  in  diesem  ansprechend  aus- 
gestatteten, mit  einer  farbigen  Umschlagszeichnung 
geschmückten  Bändchen  Land  und  Leute,  wie  er 
sie  in  seinem  alltäglichen  Leben  und  auf  seinen 
Reisen  kennen  lernte,  auf  eine  frische  und  an- 
schauliche Art.  Seine  in  der  Eigenschaft  als 
peruanischer  Beamter  erworbene  Kenntnis  der 
inneren  Verhältnisse  des  Landes  benutzt  der 
Verfasser  überdies  zu  dem  praktischen  Zwecke, 
die  Aussichten  für  Auswanderungslustige  ver- 
schiedener Berufe  zu  erörtern  und  das  Verständnis 
für  ein  Land  anzubahnen,  von  dem  er  annimmt, 
daß  es  nach  dem  Kriege  rasch  wieder  in  regere 
Beziehungen  zu  europäischen  Ländern  treten  wird 
und  muß.  Interessant  sind  die  Schilderungen  der 
Denkmäler  der  peruanischen  Vergangenheit,  wie 
sie  namentlich  in  Cuzso  reichlich  zu  finden  sind, 
an  die  auch  ein  kurzer  historischer  Abriß  ange- 
schlossen ist.  Über  die  Aussichten,  den  Indianer 
von  heute  auf  eine  höhere  Kulturstufe  zu  heben, 
urteilt  der  Verfasser  pessimistisch.  In  einem  Schluß- 
kapitel behandelt  er  noch  die  politischen  Ver- 
hältnisse Perus  sowie  die  letzten  Revolutionen. 
Miehe. 


264 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  19 


Anregungen  und  Antworten. 


Aufnahmen  von  Gemälden  und  anderen  mehrfarbigen 
Bildern^  Unter  den  mehrfarbigen  Bildern  bieten  die  Ölgemälde 
die  meisten  Schwierigkeiten  bei  der  Aufnahme,  wegen  ihrer 
glänzenden,   aber  doch   unebenen   Oberfläche. 

Man  mufi  die  Reflexe  durch  eine  richtige  Aufstellung  zu 
vermeiden  suchen,  so  etwa,  indem  man  das  Bild  nach  vorne 
herüberneigt,  wobei  natürlich  auch  die  Kamera  entsprechend 
aufgestellt  werden  muß.  .ältere  Originale  wäscht  man  mit 
lauwarmem  Wasser  ab  und  überzieht  sie  nach  dem  Trocknen 
(nach  Stolze)  mit  einer  Lösung  von  100  ccm  Wasser  5  ccm 
zu  Schaum  geschlagenem  und  abgestandenem  Eiweiß  und  20  ccm 
Glyzerin,  wodurch  die  Tiefen  des  Bildes  besser  kommen  und 
auch  die  Oberflächenfehler  nicht  so  deutlich  mit  reproduziert 
werden.  Nach  der  Aufnahme  wäscht  man  den  Überzug  mit 
Wasser  wieder  ab.  Sehr  dunkle  Ölgemälde  nimmt  man  im 
Freien  in  der  Sonne  auf.  Die  Belichtung  muß  bei  Ölgemälden 
bedeutend  länger,  etwa  10  mal  so  lang  als  bei  Aquarell- 
geraälden  sein ,  da  das  Bindemittel  der  Ölfarben  diese  viel 
unaktinischer  gestaltet.  Es  schadet  im  allgemeinen  nichts, 
wenn  die  den  Ölgemälden  charakteristische  Oberfläche  auch 
auf  der  Reproduktion  zu  erkennen  ist.  Nötigenfalls  kann 
man  dies  durch  eine  Zweiseitenbeleuchlung  verhindern,  indem 
man  durch  aufgestellte  Lichtquellen  das  Bild  gleichzeitig  oder 
nacheinander  gleich  lange  von  rechts  und  von  links  be- 
leuchtet. 

Bei  Aquarellgemälden,  farbigen  Drucken  usw.  wird  man 
im  allgemeinen  keine  Spiegelungen  zu  befürchten  haben, 
soweit  sie  nicht  gerade  mit  Lack  überzogen  sind. 

Noch  weit  wichtiger  wie  bei  einfarbigen  Bildern  ist  bei 
mehrfarbigen  die  richtige  Wahl  der  Platten.  Denn  ein  Ge- 
mälde oder  ein  Mehrfarbendruck  wirkt  im  Original  zum  Teil 
durch  die  Farbenpracht,  die  aber  bei  der  einfarbigen  Repro- 
duktion wegfällt.  Hierbei  kommen  nur  die  Tonwerte  in  Be- 
tracht. Nur  wenn  diese  mit  der  optischen  Helligkeit  überein- 
stimmen, erhalten  wir  im  allgemeinen  eine  einigermaßen 
richtige  Vorstellung  von  dem  Bilde.  Mit  der  gewöhnlichen 
blauempfindlichen  Bromsilberschicht  werden  die  Farben  ganz 
falsch  in  ihren  Tonwerten  wiedergegeben.  Bei  Aufnahmen 
von  Gemälden  in  noch  stärkerem  Maße  als  bei  solchen  nach 
der  Natur,  weil  die  Malerfarben  meist  reiner  als  die  in  der 
Natur  vorkommenden  Farben  sind.  Die  gewöhnliche  Platte 
ist  fast  in  allen  Fällen  für  derartige  Reproduktionen  untaug- 
lich. Wir  müssen  orthochromatische  Platten  mit  Gelbfilter 
verwenden;  in  Fällen,  in  denen  rote  Farben  zur  Geltung 
kommen  müssen,  sind  panchromatische  bzw.  rotempfindliche 
Platten  zu  benutzen. 

Aber  selbst  Aufnahmen  mit  solchen  Platten  befriedigen 
nicht  immer,  wenn  auch  die  Tonwiedergabe  richtig  ist,  und 
zwar  gerade  dadurch.  Denken  wir  uns  den  Fall,  daß  Dunkel- 
gelb und  Mittelgrün  nebeneinander  im  Original  wirken  und 
daß  die  Farben,  was  Helligkeit  anbelangt,  gleich  sind.  Bei 
einer  tonrichtigen  Wiedergabe  würden  wir  daher  keinen 
Unterschied  wahrnehmen.  Die  beiden  Farben,  die  sich  im 
Original  trotz  ihrer  gleichen  Helligkeit  deutlich  unterscheiden, 
bilden  eins.  Die  Reproduktion  ist  dadurch,  also  durch  eine 
tonrichtige  Wiedergabe  unvollkommen.  Um  nun  doch  einen 
Unterschied  zwischen  Gelb  und  Grün  zu  erhalten,  müssen  wir 
die  Tonwerte    gewissermaßen    fälschen,    etwa    das  Gelb    oder 


Grün 


dunkle 


repr 


Dies  erreiche 


■  durch 


ein  passenües  Filter.  Um  irgendeine  Farbe  dunkler  zu  er- 
halten, nehmen  wir  einen  Filter  in  der  Komplementärfarbe, 
um  sie  heller  zu  erhalten,  in  der  gleichen  Farbe.  Wünschen 
wir  also,  daß  das  Grün  dunkler  kommt,  so  wählen  wir  ein 
rotes  Filter,  welches  die  grünen  Strahlen  absorbiert,  dabei 
die  gelben,  orange  und  roten  Strahlen  durchläßt  (also  nicht 
etwa  eine  rote  Dunkelkammerscheibe,  die  ja  nur  rot  durch- 
läßt oder  vielmehr  durchlassen  soll)  oder  wir  wählen  eine 
dunkelgclbe  Scheibe,  die  sämtliche  von  der  grünen  Farbe 
reflektierten  blauen  Strahlen  absorbiert.  Wollen  wir  jedoch 
das  Grün  heller  haben,  so  machen  wir  die  Aufnahme  durch 
ein  Grünfilter,  das  die  von  dem  Gelb  reflektierten  roten  Strahlen 
unwirksam  macht,  so  daß  das  Gelb  dadurch  weniger  zur 
Geltung  kommt.  Wir  können  aber  auch  dadurch  das  Grün 
dunkler  kommen  lassen,  indem  wir  eine  orthochromatische 
Platte  benutzen,  die  geringe  oder  gar  keine  Grünempfindlich- 
keit aufweist.  Schließlich  kann  man  statt  eines  Filters  eine 
entsprechend  farbige  Beleuchtung  wählen.  Petroleumlicht 
strahlt  hauptsächlich  gelbe  Strahlen  aus,  so  daß  wir  hierbei 
oft  ein  besonderes   Gelbfilter  entbehren   können. 

Wenn  wir  stets  die  W'irkung  der  Farben  und  die  Wirkung 
der  Filter  bedenken,  so  wird  man  sich  in  den  einzelnen  Fällen 
schon  zu  helfen  wissen. 

Farbige  Decken,  Stoffe  und  andere  farbige  Gegenstände 
sind  im  allgemeinen  von  dem  gleichen  Gesichtspunkte  aus 
zu  photographieren.  Max  Frank. 


Aufnahmen  von  Strichzeichnungen.  Zu  Aufnahmen  von 
Strichzeichnungen  werden  am  besten  statt  der  gewöhnlichen 
Trockenplatten  die  sogenannten  photomechanischen  benutzt, 
die  ein  weit  feineres  Korn  aufweisen,  jedoch  bedeutend 
länger  (etwas— 10  mal  so  lange  als  gewöhnlich,  je  nach  der 
Empfindlichkeit  der  benutzten  Sorte)  belichtet  werden  müssen. 
Doch  hat  dies  ja  bei  Reproduktionen  nichts  zu  sagen,  im 
Gegenteil,  es  ist  dies  sogar  vorteilhaft,  weil  wir  dadurch 
einen  größeren  Spielraum  in  der  Belichtung  haben.  Die 
photomechanischen  Platten  geben  feine,  brillante  glasklare 
Zeichnungen  auf  schwarzem  Grunde.  Allerdings  muß  zuweilen 
das  Negativ  verstärkt  werden.  Als  Entwickler  ist  u.  a.  der 
nachfolgende  sehr  zu  empfehlen.  Man  stellt  sich  zwei 
Lösungen  her; 

A)  250  ccm  abgekochtes  oder  destilliertes  Wasser, 

25   g  Natriumsulfit, 
5  g  Hydrochinon. 

B)  250  ccm  abgekochtes  oder  destilliertes  Wasser, 

20  g  Kaliumkarbonat  (Pottasche). 
Zum  Gebrauch  nimmt  man  von  beiden  Lösungen  gleiche 
Teile  und  setzt  noch  zu  je  100  ccm  5 — 10  Tropfen  einer 
zehnprozentigen  Bromkaliumlösung  zu.  Fixiert  wird  am  besten 
sauer.  Bemerkt  sei,  daß,  wie  ja  eigentlich  immer,  die  Platten 
unbedingt  gänzlich  ausfixiert  und  gründlich  gewässert  werden 
müssen,  weil  sonst  bei  dem  oft  noch  nötigen  Verstärken 
(Bleichen  in  Quecksilberchlorid  und  Schwärzen  in  Ammoniak) 
unweigerlich   Flecken   entstehen.  Max   Frank. 


Inhalt:  Hermann  Zillig,  Hanf.  (3  Abb.)  S.  249.  E  d  w.  Hennig,  Zum  Problem  der  Wünschelrute.  S.  251.  —  Kleinere 
Mitteilungen:  Fr.  Nölke,  Über  die  Hörbarkeit  des  Geschützdonners.  S.  253.  W.  R.  Eckardt,  Weiteres  zur  Etho- 
logie und  Psychologie  der  Anatiden,  insbesondere  des  Schwarzschwanes.  S.  254.  —  Einzelberichte:  Ed.  Huhn,  Über 
alte  Nutz-  und  Kulturpflanzen.  S.  255.  J.  Dewitz  und  K.  Börner,  Serobiologischc  Studien  über  Blattläuse  und  deren 
Wirtspflanzen.  S.  257.  Louis  Roule,  Laichwanderung  der  Forelle.  S.  260.  Schwaab,  Die  Bedeutung  Italiens  für 
den  Vogelschutz.  S^  260.  H.  Gl  00s,  Zur  Entstehung  schmaler  Storungszonen.  S.  261.  —  Bücherbesprechungen:  Aus 
dem  Leben  und  Wirken  von  Arnold  Lang.  S.  262.  F.  Th  orbecke.  Im  Hochland  von  .Mittelkamerun.  S.  263. 
Brehm's  Ticrleben,  Säugetiere.  4.  Band.  S.  263.  O.  Greulich,  Peru,  Studien  und  Erlebnisse.  S.  263.  —  Anregungen 
und  Antworten:  Aufnahmen  von  Gemälden  und  anderen  mehrfarbigen  Bildern.  S.  264.  Aufnahmen  von  Strich- 
zeichnungen. S.  264. 


Manuskripte  und   Zuschriften 


Verden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,   erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  20.  Mai  1917. 


Nummer  30. 


[Nachdruck  verboten.* 


Grundwasser  und  Quellen. 

Von  Dr.  Kurt  Krause,  Leipzig. 
Mit  18  Abbildungen. 


Dreifach  ist  die  Teilung  des  gesamten  Wasser- 
vorrats der  Erde.  Von  den  fühlbar  für  den 
Menschen  fallenden  Niederschlägen  verdunstet 
ein  Drittel  und  trägt  so  zur  Durchfeuchtung  der 
alles  umgebenden  Luft  bei;  ein  zweites  Drittel 
sickert  in  den  Boden  ein  und  verbleibt  dort,  um 
gegebenenfalls  wieder  an  die  Oberfläche  zu  treten, 
ein  letztes  Drittel  erst  fließt  oberflächlich  in 
Wasserrinnen  ab,  dabei  in  Bächen  und  Flüssen 
die  das  Landschaftsbild  belebenden  Talformen 
schaffend. 

I.   Das  Grundwasser. 

Gräbt  man  im  ebenen  Boden  des  Flachlandes 
ein  tiefes  Loch  in  die  Erde,  so  findet  man,  daß 
der  an  der  Erdoberfläche  meist  trockene  Boden 
mit  zunehmender  Tiefe  feucht  wird;  und  beim 
Weitergraben  erreicht  man  eine  Bodenschicht, 
in  der  das  Wasser  dauernd  bleibt.  Dieses  Wasser, 
das  unter  gleichen  Verhältnissen  in  einer  be- 
stimmten Tiefenlage  (meist  2—6  m  Tiefe)  und 
Menge  angetroffen  wird,  ist  das  sogenannte 
Grundwasser:  Dieses  innerhalb  der  festen 
Erdrinde  überall  vorhandene  Wasser,  das  gleichsam 
wie  mit  einer  Schale  den  inneren  Kern  der  Erde 
umgibt,  verdient  wegen  seiner  ungeheuren  Menge 
und  Wichtigkeit  eine  besondere  Beachtung.  Ver- 
suche, die  Quantität  des  Wassers  festzu- 
stellen, gehen  von  der  Erwägung  aus,  daß  sich 
unterirdisches  Wasser  in  der  ganzen  Schicht  der 
Erdrinde  finden  muß,  deren  Temperatur  unter 
ICK)"  C  (Siedetemperatur)  ist.  Nimmt  man  nun 
als  die  Stufe,  in  der  eine  jedesmalige  Temperatur- 
erhöhung von  i"  eintreten  muß,  33  m  an,  so 
müßte  sich  Wasser  unterirdisch  bis  zu  3300  m 
Tiefe  erstrecken.  Da  aber  mit  der  Tiefe  der 
Druck  wächst,  und  dadurch  die  Dampf bildung 
beschleunigt  wird,  so  folgt,  daß  bei  18500  m 
das  Vorhandensein  von  Wasser  in  flüssiger  Form 
erscheinen  muß.  Es  kann  also  angenommen 
werden,  daß  die  Erdrinde  bis  zu  einer  Dicke  von 
18,5  km  von  Wasser  durchsetzt  ist.  Ein  franzö- 
sischer Forscher  (Delesse  1861/62)  rechnet 
sonach  das  Volumen  des  unterirdischen  Wassers 
auf  I  278900000  cbkm  =  "j,,,  des  RauminhaUs 
der  Erde  aus.  Zu  ähnlichen  Ergebnissen  gelangte 
der  deutsche  Meereskundler  Krümmel- Kiel,  der 
das  oberflächliche  Wasser  der  Erdkugel  auf 
1284765000  cbkm  oder  Vsiä  der  Erdkugel  be- 
rechnete. 

Die  Lagerung  der  Bodenschichten  und  die 
Beschaffenheit  der  Gesteine  gestatten  diesem 
Grundwasser  in  einer  bestimmten,  meist  geringen 


Tiefe  in  Form  eines  Stromes  sich  anzusammeln, 
der  immer  nur  die  zwischen  den  einzelnen  Ge- 
steinsteilchen  befindlichen  Hohlräume  ausfüllen 
oder  mit  seiner  Feuchtigkeit  alles  durchdringen  kann, 
nie  aber  als  trennende  Schicht  sich  zwischen 
zwei  Bodenschichten  einfügt.  Leicht  einzusehen 
ist,  daß  das  von  der  Erdoberfläche  aus  in  den 
Boden  einsickernde  Wasser  sich  den  verschie- 
denen Gesteinen  gegenüber  verschie- 
den verhält.  Lose  sandige  Schichten  oder 
Schutthalden  werden  das  Wasser  eher  durchlassen 
als  feste  Gesteine,  die  nur  von  mikroskopischen 
Poren  und  Haarspalten  durchzogen  werden.  Keine, 
auch  die  festeste  Gesteinsschicht  bleibt  allerdings 
ohne  Wasser,  man  spricht  hier  von  sog.  Berg- 
feuchtigkeit, bei  der  die  Gesteine  zu  schwitzen 
scheinen.  Andere  Schichten  wiederum  sind  un- 
durchlässig, wenn  sie  einmal  genug  Wasser  in 
sich  aufgenommen  haben;  hierher  gehören  Ton, 
Mergel  und  Lehm.  Die  stehenden  Tümpel  und 
Teiche  in  Lehmgruben  besonders  nach  stärkeren 
Regenfällen  bezeugen  das.  Nach  der  Lage  solcher 
wasserundurchlässigen  Schichten  und  der  Menge 
des  Niederschlags  richtet  sich  nun  auch  die 
Lage  des  Grundwasserspiegels,   jener    in 


Abb.  I.     Grundwasserspiegel  und  Oberflächenform. 
Q.  =  Quelle. 
Gr.  =  Grundwasser. 

gewisser  Tiefe  immer  vorhandenen  Wasseran- 
sammlung. Sind  solche  tonige,  lehmige  oder 
mergelige  Schichten  unmittelbar  eben  an  der 
Oberfläche  gelegen,  so  fließt  auf  ihnen  das  Wasser 
kaum  ab,  der  Boden  nimmt  genügend  Wasser  auf 
und  wird  über  den  Grad  seiner  Sättigung  hinaus 
wieder  sumpfig,  schlüpfrig;  ist  der  Boden  leicht 
geneigt,  so  fließt  das  VVasser  oberflächlich  ab. 
In  zweiter  Linie  hängt  die  Lage  des  Grund- 
wasserspiegels von  der  Menge  der  Niederschläge 
ab.  Ein  Grundwasserspiegel  fehlt  hier.  Der 
Grundwasserstrom  paßt  sich  in  seiner  Aus- 
dehnung und  Lage  mehr  oder  weniger  den  Ober- 
fläclienformen  der  Erde  an,  unter  denen  er  in 
gewisser  Tiefe  sich  hält  (Abb.  i).  Liegen  solche 
wasserundurchlässige  Schichten  in  geringerer  oder 
größerer  Tiefe  und  sind  sie  überlagert  von 
wasserdurchlässigen  Schichten,  so  findet  das 
durchsickernde    Wasser     auf    ihnen     den    ersten 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Widerstand  und  sammelt  sich  im  Grund wasser- 
niveau.  Ist  der  Untergrund  durch  eine  Wechsel- 
lagerung von  durchlässigen  Gesteinen  mit  un- 
durchlässigen Ton-  und  Mergelschichten  charakte- 
risiert, so  sind  oft  mehrere  Grundwasser- 
niveaus übereinander  zu  unterscheiden.  Hierbei 
wird  in  der  Regel  nur  die  wasserreichste  Zone, 
die  für  Brunnenanlagen  besonders  geeignet  ist, 
als  Grundwasser  bezeichnet.  Immer  wird  leicht 
durchlässiger  Boden  einem  Schwämme  gleich  das 
Regenwasser  aufsaugen  und  es  in  seinen  feinen 
und  feinsten  Spalten  und  Röhren  in  die  Tiefe 
befördern,  bis  eine  wasserundurchlässige  Schicht 
halt  gebietet;  so  ist  eine  flächenhafte  Aus- 
dehnung dieses  Bodenwassers  charakte- 
ristisch (Abb.  2).     Angenommen  ist  hierbei  immer, 


Abb.  2.     Lage  des  Grundwasserspiegels. 

daß  für  dieses  Grundwasser  keine  Gelegenheit 
zum  seitlichen  Entweichen  gegeben  ist,  sei  es  an 
willkürlichen  Einschnitten  in  die  Erdoberfläche 
oder  an  besonders  gelagerten  Gesteinsschichten. 
Treten  nun  wasserundurchlässige  Schichten, 
die    vorher    in    größerer   Tiefe    das   Grundwasser 


Abb.  3  a 


München.  Auf  der  undurchlässigen  Tonschicht 
des  Flinz  sammelt  sich  das  durch  die  weithin 
verbreiteten  Schotteranhäufungen  durchgesickerte 
Oberflächenwasser  und  wird  entsprechend  der 
Lagerung  und  Neigung  der  Schichten  nach  N 
geleitet.  Das  Hervorquellen  von  Grundwasser  in 
natürlichen  Bodensenkungen  kann  auch  die  Bildung 
von  Seen  hervorrufen,  wie  es  bei  den  masurischen 
Seen  Ostpreußens  besonders  der  Fall  ist.  Auf 
das  Hervortreten  des  Grundwassers,  das  nun 
schwer  wieder  abfließen  kann,  gründet  sich  auch 
die  Ausbreitung  der  großen  Moore  in  Preußen. 
Es  sind  dies  ebenso  wie  die  auf  der  bayrischen 
Hochebene  sog.  Grund  wassermoore  oder 
Hochmoore.  Sie  treten  in  den  Gegensatz  zu  den 
Tiefmooren,  die  ehemalige  Seebecken  erfüllen. 
Geologisch  war  für  das  Auftreten  und  die 
Lage  des  Grundwasserspiegels  die  Art  und  Be- 
schaffenheit der  Gesteinsschichten,  ihre  Lagerung 
und  ihr  Verhalten  zum  Wasser  überhaupt  von 
Bedeutung.  Fragen  wir  uns  nach  der  He  rku  nft 
des  Grundwassers,  so  kommen  in  erster 
Linie  die  Niederschläge  in  den  verschiedenen 
Formen  von  Schnee  und  Regen  in  Betracht. 
Neben  dieser  direkten  Zufuhr  —  die  geleitet  wird 
durch  die  der  Schwerkraft  folgende  Bewegung  in 
den  kleinen  von  oben  nach  unten  gerichteten 
Spalten  —  ist  nicht  außer  acht  zu  lassen  eine 
indirekte  Zufuhr  durch  Zusickern  aus  Wasser- 
ansammlungen der  Oberfläche,  wie  Bächen,  Flüssen, 
Teichen.  Beide  stehen  miteinander  in  Verbindung, 
und  der  eine  Faktor  ist  der  Versorger  des  anderen. 


.angeschwemmt 
Polder     ~ 


'"   Salzwasser 

Abb.  4.     Grundwasserspiegel  am  Meere. 


Abb.  3  b. 


auffingen,  in  leichter  (nach  unten  gerichteter) 
Neigung  an  die  Erdoberfläche,  so  bewirken  sie 
ein  Steigen  und  Heraustreten  des  Grundwassers 
(sog.  Grundwasserquellen)  infolge  der  Eigenschaft, 
nicht  nur  die  abwärts  gerichtete  Bewegung  ein- 
zuhalten, sondern  auch  den  Niveauveränderungen 
der  undurchlässigen  Schicht  zu  folgen.  So  ent- 
stehen sumpfige  Stellen,  Moore,  die  bei  sinkendem 
oder  steigendem  Wasserstande  ihren  Grad  der 
Durchfeuchtung  ändern.  Beispiele  hierfür  sind  die 
Sumpflandschaften  auf  der  bayrischen  Hochebene, 
das  Donau-Ried  und  Donau-Moos  bei  Donauwörth 
und  Ingolstadt,  oder  das  Erdinger  und  Dachauer 
Moos    an  der  Amper,    Wurm    und    Isar    nördlich 


Einerseits  strömt  das  Grundwasser  den  Flüssen 
zu  und  speist  sie;  es  ist  hierbei  stets  ein  Steigen 
des  Grundwasserspiegels  nach  den  Flüssen  zu  zu 
beobachten  (Abb.  3  a  u.  3  b);  andererseits  sickert 
Flußwasser,  wenn  das  Flußbett  in  durchlässigen 
Schichten  gegraben  ist,  in  großer  Menge  in  den 
Boden  ein  und  verbreitet  sich  in  ihm  gemeinsam 
mit  dem  Grundwasser.  —  Am  Meere  fehlt  die 
Beobachtung  nicht,  daß  die  täglich  zweimal 
wechselnde  Höhe  des  Meeresspiegels  bei  Ebbe 
und  Flut  eine  Veränderung  des  Grundwasser- 
spiegels bedingen  (Abb.  4).  Die  wie  überall  so 
auch  am  Meeresstrande  vorhandene  Grundwasser- 
schicht   verdankt    ihre    Entstehung    dem    Regen- 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


267 


Wasser,  ist  also  süßes  Wasser;  an  der  Küste 
kommt  dieses  Wasser  unmittelbar  in  Berührung 
mit  dem  Salzwasser  des  Meeres.  Dieses  dringt 
in  die  dem  Strande  am  nächsten  gelegenen  losen 
Geröll-  und  Sandschichten  ein.  Die  steigende 
Flut  drückt  mehr  salziges  Wasser  in  die  Dünen 
ein  und  hebt  damit  den  auf  ihm  ruhenden 
Spiegel  des  süßen  also  leichteren  Grundwassers. 
Beim  Zurückgehen  der  Flut  wird  demnach  auch 
dieser  Grundwasserspiegel  eine  Abwärtsbewegung 
mitmachen.  Unmittelbar  am  Meeresrande  wird 
der  Grundwasserspiegel  eine  konkave,  d.  h.  nach 
unten  gewölbte  Fläche  bilden,  da  hier  der  Gegen- 
druck des  Grundwassers  am  geringsten  sein  wird. 

Auf  den  Nordseeinseln  Sylt  und  Föhr  geben 
die  Brunnen  gutes  Süßwasser ;  bei  Muten,  oder 
was  dasselbe  heißt,  bei  SW-Stürmen  zeigen  die 
25  —  30  m  tiefen  Brunnen  von  den  an  der  Nord- 
seite gelegenen  Arten  Braderup  und  Kampen  ein 
Anschwellen  des  Wassers,  ein  Brausen  der  Luft 
nach  oben,  so  daß  zuweilen  die  Brunnendeckel 
abgehoben  werden.  Gegenteilig  macht  sich  Ost- 
und  Nordwind  im  Phallen  des  Wassers  und  einem 
Ziehen  der  Luft  nach  unten  bemerkbar.  Grund- 
wasserspiegel und  Meer  machen  also  die  gleichen 
Bewegungen  des  Hebens  und  Senkens. 

Die  Herkunft  des  Grundwassers  aus  den  atmo- 


sphärischen Niederschlägen  hat  auch  zur  Folge, 
daß  mit  den  Schwankungen  in  diesen  solche 
beim  Grundwasser  zusammenfallen.  Nach 
langandauerndem  Regen  wird  sich  der  Grund- 
wasserspiegel heben,  Zeiten  der  Regenlosigkeit 
werden  ein  Sinken  desselben  veranlassen.  Bohrungen 
im  Sande  der  Wüste  ließen  ihn  erst  in  50  m  und 
größerer  Tiefe  finden.  Gegenden  mit  starker 
Verdunstung  (Mittelmeer,  Nordafrika)  werden  ein 
Absinken  des  Grundwassers  ebenso  zu  verzeichnen 
haben,  wie  Gebiete  mit  geringem  Niederschlag. 
Ja,  die  Untersuchungen  von  Soyka')  haben  er- 
geben, daß  die  Verdunstung  von  so  großer  Be- 
deutung sein  kann,  daß  sie  den  Gang  der  Grund- 
wasserschwankungen beeinflußt.  Niederschläge 
und  Verdunstung  sind  die  beiden  maßgebenden 
Faktoren  für  die  Grundwasserverhältnisse;  ihre 
jährliche  Periode  richtet  sich  nach  demjenigen 
der  beiden  Faktoren,  der  die  größeren  jahres- 
zeitlichen Schwankungen  aufweist.  So  stellt 
Soyka  zwei  Typen  in  München  und  Berlin  ein- 
ander gegenüber.  In  München  steigt  und  fällt 
das  Grundwasser  mit  dem  Regen,  in  Berlin  ist 
es  dagegen  von  der  Verdunstung  abhängig.  Bei 
beiden  steigt  es  im  Frühling  zur  Zeit  der  Schnee- 
schmelze. Die  beifolgende  Tabelle  wird  das  durch 
Zahlen  erläutern. 


München  1856-85 

Berlin  1870-85 

Niederschlag 

Verdunstung       Grundwasserhöhe 

Niederschlag 

Verdunstung       Grundwasserhöhe 

MonatsmiUel 

66,1  mm 

1,60  mm 

515,46  m 

47.6  mm 

2,71   mm                 32,64  m 

Winter 

—  29,5 

:        — 1.33 

—  0,07 

—  7.2 

- 1,97                   +  0,03 

Frühling 

-5.5 

+  o.'i 

+  0,04 

-8,1 

+  0,03                  +  0,27 

Sommer 

+  42,4 

+  ..69 

+  0,12 

+  15.3 

+  2,49         1         -  0,08 

Herbst 

—  7.3 

1          —0,46 

-0,0s 

—  0,0 

-  0,54         1         -  0,22 

nach  Supan,  Physikal.  Erdkunde 

Das  gegen 

teilige  Verhalten  de 

r  Stationen  im  W 

nter  und  Sommer 

fällt  auf. 

Die  Bewegungen  des  Grundwassers 
sind  zwiefach.  Es  folgt  einmal  der  allgemeinen 
Schwerkraft  in  vertikaler  Richtung  und  dringt  so 
in  die  Tiefe  ein,  das  andere  Mal  hat  es  eine  eigene 
Bewegung  in  horizontaler  Ausdehnung.  Hierfür  sind 
die  impermeablen  (=  undurchlässigen)  Schichten 
in  ihrer  Lagerung  maßgebend.  Das  Bestreben 
wird  stets  sein,  dem  großen  Widerstände  im 
Boden  entsprechend  dem  tiefsten  Punkte  langsam 
zuzustreben.  Da  diese  tiefsten  Punkte  zumeist 
die  Flüsse,  überhaupt  die  Wasserläufe  sind,  macht 
sich  ein  Fließen  des  Grundwassers  parallel  dem 
Flusse  bemerkbar;  dazu  kommt  gleichsam  als 
Anziehung  durch  das  Flußwasser  eine  seitliche 
Ablenkung,  die  im  Ansteigen  des  Grundwassers 
vom  Fluß  aufwärts  ihren  Ausdruck  findet.  Jedes 
Fließen  geht  mit  einer  bestimmten  Geschwindigkeit 
vor  sich.  Beim  Grundwasser  steht  diese  in  ge- 
radem Verhältnisse  zur  Höhe  des  Wassers  und 
im  umgekehrten  zur  Höhe  der  Bodenschicht,  d.  h. 


einmal:  ist  viel  Grundwasser  vorhanden,  so  findet 
das  Fließen  rascher  statt  oder  umgekehrt,  und  ein 
andermal:  in  größeren  Tiefen  ist  das  Fließen 
langsamer  als  in  größerer  Nähe  der  Erdoberfläche. 
Man  beobachtet  Geschwindigkeiten  von  2,51  bis 
7,82  m  für  die  Zeit  eines  Tages.  -) 

Uralt  ist  die  Kunst,  Quellen  zu  finden. 
Dem  Reich  des  Sagenhaften  gehören  die  meisten 
Versuche  der  Art  an.  So,  wenn  Marcus  Pollio 
V  i  t  r  u  V  i  u  s ,  ein  Zeitgenosse  des  Kaisers  Auguslus 


')  Die  Schwankungen  des  Grundwassers,  Pencks  Geogr. 
Abb.,  Bd.  II,  Heft  3,  Wien   18SS.     Dr.  Isid.  Soyka. 

'-)  So  findet  man  weit  sich  erstreckende,  unterirdische 
.Wasserzirkulationen  bei  Leipzig,  in  der  Nähe  von  Naunhof, 
wo  in  einem  mit  Geröll  verschütteten  unterirdisch  von  der 
Mulde  zur  Elster  geleiteten  eiszeitlichen  Wasserarme  das 
Wasser  von  SO  nach  NW  ein  Grundwasserbett  durchströmt; 
auch  in  der  Poebcne  am  Fuße  der  Alpen  und  in  der  römischen 
Campagna  tritt  uns  ähnliches  entgegen;  im  allgemeinen  da, 
wo  mächtige  Geröllmassen  angehäuft  sind,  zumeist  als  Folge 
der  Eiszeit. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


(i.  Jahrh.  n.  Chr.  Geb.")  in  seinem  Buche  „De 
architectura  (über  die  Baukunst)"  vorschlägt,  sich 
etwas  vor  Sonnenaufgancr  auf  den  Bauch  zu  legen 
und  das  Kinn  auf  den  Boden  stützend  dort,  wo 
man  Wasser  vermutet,  auf  das  Aufsteigen  von 
Dunstwellen  zu  achten,  da  diese  sich  nur  da  bilden 
können ,  wo  tatsächlich  Wasser  vorhanden  sei. 
Greifbarer  ist  der  Gedanke,  auf  besondere  Pflanzen 
zu  achten,  von  denen  man  weiß,  daß  sie  nur  an 
feuchten  Orten  stehen  oder  fortkommen  wie  kleine 
Binsen,  Weiden,  Schilfe,  Epheu.  —  Noch  bis  in 
unsere  Tage  hat  sich  ja  die  Wirksamkeit  der 
sog.  Wünschelrute  erhalten.  Als  Ouellensucherin 
trat  sie  hier  und  da  auch  in  unserer  aufgeklärten 
Zeit  noch  in  Tätigkeit.  „Ein  ellenlanger  finger- 
dicker Apfelzweig  sei  zum  Wasserspüren  erforder- 
lich, der  auf  dem  Rücken  der  flachen  Hand  im 
Gleichgewicht  getragen  wird,  wobei  man  langsam 
sich  dem  Orte  nähert,  an  dem  man  Wasser  ver- 
mutet. Der  Stab  neigt  sich  alsdann  zutrefi"enden 
Falles  auf  der  einen  Seite  tief  zur  Erde",  so  lesen 
wir  bei  Roger  Baco^). 

Wohl  mag  es  Naturvölkern  in  trockenen, 
regenarmen  Gegenden  gegeben  sein,  Wasser  zu 
„wittern";  für  eine  ergebnisversprechende  Ver- 
wendung dieser  Wünschelrute  ist  unser  Klima 
zu  feucht;  Versuche  in  Schlesien,  auf  diese  ein- 
fache Weise  die  Schätze  des  Bodens  zu  erschließen, 
schlugen  immer  fehl. 

Entsprechend  der  Tatsache,  daß  das  Grund- 
wasser als  zusammenhängende  unterirdische 
Wasseransammlung  den  Untergrund  der  obersten 
Erdschicht  mehr  oder  weniger  durchfeuchtet,  ist 
auch  die  Bedeutung  des  Grundwassers 
für  die  gesamte  Pflanzenwelt  groß.  Die 
meisten  Wurzeln  von  Bäumen  und  Sträuchern 
reichen  bis  zum  Grundwasserspiegel  hinab,  und  in 
der  regenlosen  Wüste  gründen  die  schatten- 
gewährenden Palmen  der  Oasen  ihr  Dasein  nur 
auf  das  Vorhandensein  des  Grundwassers  an  den 
Wurzeln. 

Für  die  Wasserversorgung  der  Großstädte 
kann  das  vorhandene  Grundwasser  von  Nutzen 
sein.  Quellen  allein  genügen,  besonders  im  Flach- 
lande, nicht  immer  zur  Deckung  des  Wasser- 
bedarfs. Nach  Filtrierung  des  zumeist  nie  ganz 
reinen  Wassers  liefert  es  gutes  Trinkwasser 
(Leipzig,  Dresden,  Berlin).  Nach  Pettenkofer  soll 
der  Grundwasserstand  eine  Rolle  bei  Epidemien 
spielen,  insofern,  als  bei  sinkendem  Grundwasser- 
spiegel in  den  noch  feuchten,  aber  gut  gelüfteten 
Erdschichten  Cholera-  und  Typhusbakterien  be- 
sonders gut  gedeihen  sollen.  Doch  ist  diese 
Theorie  jetzt  verlassen.  Das  Grundwasser  ist 
meist  vollkommen  steril. 

Auch  manche  Anlage  von  Bergwerken  und 
Tunnelbohrungen  hat  in  den  Grundwasserströmen 
nicht  zu  unterschätzende  Schwierigkeiten  zu  über- 
winden. 

')  Vgl.  Carus  Sterne  (Dr.  E.  Krause):  Die  Wahr- 
sagungen aus  den  Bewegungen  lebloser  Körper  unter  dem 
Einfluß  der  menschlichen  Hand.     Weimar,  B.  F.  Vogel  1S62. 


2.  Die  Quellen. 

Von  Quellen  spricht  man  überall  da,  wo 
Wasser  aus  der  Erde  an  die  Oberfläche  tritt.  Das 
ist  z.  B.  der  Fall  schon  bei  den  sog.  Grund- 
wasserquellen. Es  liegt  auf  der  Hand,  daß 
in  allen  von  Grundwasser  durchzogenen  Gebieten 
Quellen  entstehen  müssen,  sobald  infolge  größerer 
Unebenheiten  im  Bodenrelief  oder  auch  künst- 
licher Einschnitte  in  dieses  Niveau  des  Grund- 
wassers erreicht  oder  angeschnitten  wird. 

Indessen,  dieses  aus  dem  Grundwasserspiegel 
stammende  Wasser  bezeichnet  man  im  allgemeinen 
nicht  als  „Quellwasser".  Vielmehr  sammelt  sich 
unter  der  obersten  Bodenschicht,  die  das  eigent- 
liche Grundwasser  enthält,  besonders  da,  wo  eine 
Neigung  der  Schichten  ein  Tieferdringen  des 
Sickerwassers  ermöglicht,  erneut  Wasser,  sog. 
Schichtwasser  • — •  wie  es  zum  Unterschied 
vom  Grundwasser  genannt  wird.  —  Da  nun,  wo 
diese  Schichten  zutage  treten,  kommt  auch  das 
Schichtwasser  an  die  Oberfläche  und  bildet  hier 
die  Quellen. 

So  steht  das  Vorkommen  der  Quellen  mit  dem 
Auftreten  und  der  Lagerungsform  der  geologischen 
Erdschichten  in  Zusammenhang.  Kann  das  Wasser 
z.  B.  in  einem  Berge  der  natürlichen  Neigung  der 
Schichten  entsprechend  von  seinen  höheren  Ur- 
sprungsgebieten in  niedrige  Tallandschaften  unter- 
irdisch zufließen,  um  dann  beim  Ausstreichen  der 
Schicht  an  die  Oberfläche  mit  dieser  zutage  zu  treten, 
so  haben  wir  eine  absteigende  Quelle  vor 
uns.  Anders,  wenn  durch  innere  Umlagerung  der 
Schichten  dem  fließenden  Wasser  sich  Hindernisse 
in  den  Weg  stellen,  die  einen  Druck  des  Wassers 
nach  oben  verursachen;  dann  werden  wir  von 
aufsteigenden  Quellen  sprechen  dürfen. 

Wird  bei  wenig  geneigten  Schichten,  die  aus 
einer  oberen  Lage  wasserdurchlässiger  und  einer 
unteren  wasserundurchlässiger  Gesteine  bestehen, 
das  Wasser  gesammelt,  so  tritt  beim  Einschneiden 
von  Tälern  oder  Schluchten  in  dieses  Schicht- 
system diese  mit  Wasser  gefüllte  Fläche  zutage, 
sie  wird  infolge  ihrer  gleichmäßigen  Neigung 
das  heraustretende  Wasser  in  einem  Quell- 
horizont  haben,  der  eine  oder  mehrere  Quellen 
=  Schichtquellen  aufweist.  Geographisch  verbreitet 
sind  solche  Quellhorizonte  überall  da,  wo  z.  B. 
Tone  oder  Sandstein  auf  festem  Untergrunde  wie 
Granit,  Gneis  lagern,  oder  da,  wo  eine  Wechsel- 
lagerung von  durchlässigen  und  undurchlässigen 
Gesteinen  auftritt.  Der  deutsche  Jura,  die  schwä- 
bische Alb,  die  Nordvogesen,  der  Schwarzwald, 
die  sächsische  Schweiz  sind  bekannte  Beispiele 
hierfür  (Abb.   5). 

Lagern  unter  dem  durchlässigen  Gestein  die 
das  Wasser  haltenden  Schichten  in  Muldenform, 
so  bilden  sich  beim  Zutagetreten  sog.  Üb  er  fa  11s- 
oder  Überschußquellen  (Abb.  6).  Es  sammelt 
sich  das  Wasser  an  der  unteren  Grenze  der  durch- 
lässigen Schicht,  bis  die  Höhe  bei  den  Tagschichten 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


erreicht  ist;  dann  erst  tritt  es  an  die  Oberfläche  als 
Quelle. 

Nur  eine  veränderte  Form  dieser  Überfalls- 
quelle ist  die  Spalt  quelle.  Sie  entsteht,  so- 
bald diese  muldenförmige  Wasseransammlung  von 
einer  die  Oberfläche  durchsetzenden  Spalte  oder 
Kluft  getroffen  wird,  an  der  das  Wasser  hervor- 
treten kann. 

Steigt  eine  wasserführende  Schicht,  bevor  sie 
selbst  zutage  tritt,  an,  so  folgt  das  Wasser  auch 
dieser  Gegensteigung  und  quillt  dann  vielleicht 
auf  der  Scheitelfläche  einer  Anhöhe  empor.  Es 
geschieht  dies  nach  dem  bekannten  Gesetz  der 
kommunizierenden  Röhren,  d.  h.  das 
Wasser  im  einen  Schenkel  einer  gebogenen  Röhre 
steigt  ebenso  hoch  wie  im  anderen;  bzw.  in  einem 
aufsteigenden  Strahle,  falls  der  eine  Schenkel  ge- 
kürzt ist  (Abb.  7). 

Dasselbe  Gesetz  der  beiderseitig  mit  gleichem 
Druck    auf-   und  absteigenden  Wassers  ist  in  An- 


an  dem  das  Wasser  in  die  wasserführende  Schicht 
einströmt.  Sie  führt  den  Namen  „hydrostatische 
Steighöhe". 

Der  Name  dieser  künstlich  erbohrten  Brunnen 
rührt   her   von   der   nordfranzösischen  Landschaft 


Abb.   .;.     (Juellhoriz 


Schichtquelle/--^—;- 
5  P  a  1 1  q  u  e  1 1  e^^^^^l^i** 

>v.^^^^       Überfallsquelle 

fei^^^^^^'  " — °  '  "  -^rrn— 

^^^^??äzc2?^;,^^ 

Abb.  6.     Quellen.     (Nach  W.  Ule.) 
a  wasserführend. 


Abb.  5.     Schichtquelle  (Uttewalder  Grund, 
Sachs.  Schweiz)  phot.  K.  K. 


Abb.  S.     Artesischer  Brunnen. 
AB  ^  wasserabschließende  Schichten. 

C  =  wasserführende  Schichten. 
D  E  ^  Brunnenanlage. 
EF  ^  Hydrostatische  Steighöhe. 


Wendung  auch  bei  den  sog.  artesischen 
Brunnen  (Abb.  8  u.  9).  Sie  finden  sich  da,  wo 
eine  muldenförmige  Lagerung  der  undurchlässigen 
Gesteinsschichten  das  darunter  angesammelte 
Wasser  nicht  zutage  treten  läßt.  Die  bei  den 
Spaltquellen  natürlich  vorhandene  Ausquellstelle 
muß  hier  künstlich  geschaff'en  werden.  Auch  in 
Küstenebenen,  wo  das  Wasser  in  höheren  sandigen 
Teilen  der  Ebene  fällt,  dort  einsickert  und  als 
langsam  sich  bewegender  Grundwasserstrom  dieser 
Sandschicht  folgt,  die  oft  von  wasserundurchlässigen 
Tonschichten  begleitet  ist,  entstehen  gleiche  Ver- 
hältnisse, die  eine  Anlage  solcher  Quellen  ermög- 
lichen. Der  Bohrer  durchfährt  die  obere  dieser 
Tonschichten;  dann  steigt  das  Wasser  mit  starkem 
Druck  hoch,  da  die  Ursprungsstelle  höher  liegt 
als  der  Bohrort.  Die  Steighöhe  des  Wassers,  das 
unter  großem  Druck  lastet,  entspricht  ungefähr 
der  Höhe,    auf  der  sich  derjenige  Punkt  befindet, 


Abb.  9.     Artes.  Brunnen  im  Küstengebiet. 

Artois  (Somme-Gebiet).  Hier  wie  in  der  ganzen 
Nordfranzösischen  (Pariser)  Beckenlandschaft  zwingt 
die  Lagerung  der  Gesteine  zu  solchen  Bohrungen. 
Sie  lieferten  zuerst  im  Anfang  des  12.  Jahr- 
hunderts (11 26)  den  hier  wassersuchenden 
Karthäuser-Mönchen  aus  Lille  auf  ihrem  Kloster- 
gebiet im  Artois  das  notwendige  flüssige  Element. 
Heute  ermöglichen  sie  in  den  verschiedensten 
Ländern  der  Erde,  besonders  in  sonst  trockenen 
Gebieten  mit  Erfolg  durchgeführt,  Anbau  und  Be- 


270 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Siedlung  durch  den  Menschen  und  machen  so 
weite  Strecken  zu  fruchtbaren  Gefilden.  Im  Westen 
Amerikas,  den  sog.  „Arid  lands"=  Trockengebieten, 
in  Nordafrika,  Abessinien,  Ägypten,  Australien,  und 
auch  in  Wüstengebieten  sind  sie  besonders  ver- 
breitet. 

Erfahrungsgemäß  fließen  die  meisten  Quellen 
das  ganze  Jahr  über,  sie  sind  also  dauernde 
(perennierende)  Quellen;  kleinere  Schwan- 
kungen, die  ohne  besonderen  Einfluß  auf  die  ge- 
samte Wasserführung  sind,  finden  ihre  Erklärung 
in  größeren  Unterschieden  von  feuchten  und 
trockenen  Jahreszeiten.  Im  Gegensatz  zu  diesen 
immer  wasserspendenden  Ouelladern  stehen  die 
nur  zeitweise  fließenden ,  periodischen 
Quellen.  Ihr  Hauptverbreitungsgebiet  sind 
einmal  die  Landstriche  mit  jahreszeitlichen  Regen, 
so  die  Länder  um  das  gesamte  Mittelmeer.  Mit 
dem  Einsetzen  des  (zumeist  starken)  Regens  be- 
ginnen auch  Quellen  zu  fließen,  sie  halten  nur 
wenig  nach  über  das  Aufhören  der  Niederschläge. 
Das  Volk  nennt  sie  zumeist  Hungerquellen, 
weil  sie  in  nassen  Jahren  besonders  fließend,  als 
Anzeichen  einer  schlechten  Ernte  betrachtet 
werden.  Auch  ist  ihr  Vorkommen  vielfach  an 
das  Auftreten  des  durch  zahllose  Klüfte  und 
Spalten  durchsetzte  Kalkgestein  (Karst)  gebunden. 
Eine  dritte  Unterscheidung  sind  die  inter- 
mittierenden Quellen.  Zwischen  Zeiten  des 
Emporquellens  fallen  Stunden  oder  auch  Tage 
der  Ruhe,  des  Versiegens.  Nicht  die  Druckkraft 
treibt  diese  Quellen  ans  Tageslicht,  oder  läßt  mit 
ihrem  Aufhören  auch  sie  nicht  mehr  nach  oben 
gelangen;  hier  sind  vielmehr  innere,  geologische 
Kräfte  maßgebend.  Am  genauesten  untersucht 
sind  die  Verhältnisse  bei  den  heißen  Spring- 
quellen, den  Geysirs  des  Yellowston  Parks  in 
Nordamerika,  oder  auf  den  Inseln  Island  oder  Neu- 
seeland. In  diesen  Quellröhren,  die  als  Erdspalten 
tief  ins  Innere  der  Erde  hineinragen,  sammelt  sich 
Wasserdampf  an.  Die  nahe  der  Oberfläche  der 
Erde  lagernde  kalte  oder  wenigstens  kühlere 
Wassersäule  des  oberflächlich  zusammengeflossenen 
Wassers  ist  in  Dampf  verwandelt  und  Reste  dieser 
Wassersäule  werden  unter  Brausen  und  Tosen  bis 
70  m  hoch  emporgeschleudert.  Diese  heißen 
Springquellen  sind  Begleiterscheinungen  vulka- 
nischer Ausbrüche  früherer  Zeiten.  Die  heißen 
Gewässer  lösen  infolge  ihrer  chemischen  Bei- 
mischung von  Säuren  die  Gesteine,  die  sich  dann 
als  kalkhaltige  Tufte  oder  Sinter  in  Kegeln  oder 
Terrassen  um  die  Ausbruchsstelle  herum  absetzen. 

Auf  ihrem  Wege  aus  dem  Erdinneren  zur 
Oberfläche  durchflössen  die  zu  Quellen  sich  ver- 
einenden Wasser  oft  eine  ganze  Aufeinanderfolge 
von  Gesteinen,  die,  selbst  nicht  immer  feindlich 
sich  dem  Wasser  gegenüber  verhaltend,  dieses  zu- 
meist stark  beeinflussen  in  seiner  Zusammensetzung. 
Tales  sunt  aquae,  quales  terrae,  per  quas  fluunt, 
ist  ein  alter  Satz  des  Plinius,  d.  h.  die  Wasser 
nehmen  die  Eigenschaft  der  Erdschichten  an,  durch 
die  sie  fließen. 


Daß  Quellen  in  Salzgebieten  (Steinsalz,  wie  Staß- 
furt,  Leopoldshall)  salzig  sind,  und  solche,  die  durch 
eisenreiche  Gesteine  iliren  Weg  nehmen,  eisenhaltig 
sind,  ist  bekannt.  So  kennen  wir  kohlensäure- 
haltige Quellen  (Gießhübel,  Bilin,  Salzbrunn, 
Fachingen,  Neuenahr,  Karlsbad,  Selters,  Ems,  Wies- 
baden, Nauheim,  Bad  Elster,  Franzensbad), 
schwefelhaltige  Quellen  (Aix  in  Savoyen, 
Aachen-Burtscheid,  Baden  im  Aargau,  Baden  bei 
Wien),  Stahlqellen,  deren  Wasser  eisenhaltig 
(Alexandersbad  im  Fichtelgebirge,  Schwalbach, 
Spaa,  Kudowa  in  Schlesien,  St.  Moritz  in  der 
Schweiz,  Wildungen,  die  berühmten  Tiroler  Bäder 
Mitterbad  im  Olthentale  und  Ratzes  am  Schiern, 
Levico  im  Suganertale,  Reinerz,  Soden  (Taunus) 
und  Salzquellen  (Aibling  in  Oberbayern, 
Hall  und  Zaptfeld  in  Württemberg,  Kreuznach, 
Rheinfelden ,  Salzschlirf,  Warmbrunn  im  Riesen- 
gebirge, Münster  am  Stein)  als  besonders  der 
menschlichen  Gesundheit  zusagende  Mineral- 
quellen. Sie  alle  verdanken  ihre  Heilkraft  den 
Gesteinen,  durch  sie  ihren  langen  Lauf  nehmen. 
Damit  in  Zusammenhang  steht  auch  die 
Temperatur  der  Quellen;  sie  kann  natur- 
gemäß zwischen  o  und  100"  schwanken.  Die 
Ursprungswässer  unserer  Bäche  und  Flüsse  sind 
alle  kühl;  ihr  Gesamtlauf  ist  nur  oberflächlich. 
Die  mittlere  Temperatur  des  Ortes  ist  in  den 
meisten  Fällen  auch  maßgebend  für  die  mittlere 
Temperatur  der  Quellen,  des  Trinkwassers.  Ist  die 
Temperatur  der  Quelle  höher  als  die  mittlere  Orts- 


Schnee-Berge 


Abb.    10.     Warme  Quelle  im  Schneegebirge. 
(.Mach   Walt  her,   Vorschule   der  Geologie.) 

temperatur,  so  spricht  man  von  einer  Thermal- 
quelle oder  Therme;  nähert  sie  sich  dem  Siede- 
punkte (100"  C),  so  nennt  man  sie  heiße  Quellen. 
Tunnelbohrungen,  Schächte  und  Bohrlöcher 
haben  nun  die  Tatsache  erwiesen,  daß  beim  Vor- 
dringen ins  Erdreich  die  Temperatur  zunimmt. 
Im  Durchschnitt  muß  man  nur  35  m  ins  Erdinnere 
eindringen,  um  ein  Steigen  des  Thermometers  um 
I  "  C  zu  beobachten  (=  geothermische  Tiefen- 
stufe).    Kommt  nun  das  Wasser  aus  tieferen  Ge- 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Steinsschichten,  so  muß  es  ungefähr  die  dieser 
Schicht  entsprechende  Temperatur  haben.  Und 
ganz  allgemein  kann  man  aus  den  tatsächlich  ge- 
messenen Temperatur  der  Quelle,  der  mittleren 
Jahrestemperatur  des  Vorkommens  und  der 
geothermischen  Tiefenstufe  die  Tiefe  der  Spalten 
berechnen,  aus  denen  die  Quelle  stammt. 


Sprudel  66" 

mittl.  Jahrestenip.  =  8" 

geoth.  Tiefenst.  35 


(ö6-S)-35  = 
56-35 


Leicht  verständlich  ist  sonach,  wenn  in  Hoch- 
gebirgen, in  denen  Schneewasser  ins  Erdinnere 
eindringt  und  den  Wasseransammlungen  neuen 
Stoff  zuführt  infolge  wagerechter  Gesteinslagerung 
das  Wasser  am  Berghang  als  warme  Quelle  zutage 
tritt  (Abb.   10). 


Die    Arbeit    des    unterirdischen 
Wassers. 


Nicht  alle  die  Erde  zusammensetzenden  Gesteins- 
schichten gestatten  in  gleicher  Weise  dem  unter- 
irdisch fließenden  Wasser  seine  zerstörende  Arbeit. 


Ostküste  des  adriatischen  Meeres  von  Istrien  bis 
nach  Südbosnien  und  Herzegowina,  Montenegro 
und  Griechenland  sich  erstreckende  Kalkgebiet, 
ist  der  typische  Vertreter  dieser  Wasserarbeit  unter 
der  Erde. 

Oberirdisches  Wassers  ist  im  Karst  nur  selten 
anzutreffen;  das  im  Regen  fallende  Wasser  sinkt 
in  dem  stark  zerklüfteten  Boden  in  die  Tiefe,  bis 
es  von  einer  undurchlässigen  Schicht  aufgefangen 
wird.  In  diesen  Kanälen  wirkt  das  Kluft- 
wasser,  das  wie  alles  Wasser  Kohlensäure  ent- 
hält, zusammen  mit  der  chemischen  Verwitterung 
an  der  Ausgestaltung  der  Spalten  und  Schichten- 
fugen derart,  daß  mehr  oder  weniger  große  Gänge 
und  Hohlräume  sich  bilden.  Von  dieser  unter- 
irdischen Arbeit  wird  die  Oberfläche  nicht  un- 
beeinflußt bleiben  können.  Es  entstehen  zunächst 
an  den  Klüften  und  Spalten,  durch  die  das  Wasser 
verschwindet,  kleine,  rundliche  Löcher  im  Erd- 
boden mit  steilen  Wänden.  Diese  zunächst  kleinen 
rundlichen  trichterförmigen  Einsenkungen  tragen 
in  der  Fachwissenschaft  den  landesüblichen  Namen 
Doline')  (Abb.  12).  Die  Tiefe  dieser  Trichter 
oder  Sauglöcher  schwankt  zwischen  2  und  lOO  m 
und  darüber,  der  Durchmesser  bleibt  innerhalb 
der  Grenzen  von   10 — lOOO  m.     Das  von  solchen 


Keprod.-Re 


Karstlandschaft   bei  St.   Kanzian. 
Blick  ins  Rekatal. 
„Amon  Re"-Verlag,  Breslau,   phol.   1914. 


Abb.    12.      Große   Duline   mi    Karst   bei   St.    Ka 
Keprod. -Recht  „.Amon  Ke"-Verlag,  Breslau,  pho 


Festgefügte  Massengesteine  setzen  ihm  den  stärk- 
sten Widerstand  entgegen,  während  Sediment- 
gesteine, d.  h.  in  deutlich  wahrnehmbaren 
Schichten  abgesetzte  Gesteine  naturgemäß  eher 
der  dauernd  wirkenden  Kraft  des  Wassers  aus- 
gesetzt sind.  Am  meisten  gilt  das  vom  Kalke. 
Die  Arbeit  des  Wassers  ist  hier  eine  chemische, 
den  Kalkstein  in  seine  einzelnen  Bestandteile  auf- 
lösende, zersetzende  Tätigkeit.  So  werden  wir  in 
den  durch  das  Auftreten  von  löslichen  Gesteinen 
ausgezeichneten  Gebieten  der  Erdoberfläche  am 
besten  die  .Arbeitdes  unterirdisch  fließenden  Wassers 
ausgebildet  finden.  Der  Karst  (Abb.  1 1 ),  das  an  der 


Dohnen  durchsetzte  Gebiet  gewährt  einen  selt- 
samen Anblick;  man  vergleicht  es  wohl  zuweilen 
mit  einem  blatternarbigen  Gesicht  und  weist  da- 
mit zugleich  auf  das  gesellige  Auftreten  dieser 
Karsttrichter  hin;  40 — 50  solcher  Dohnen  sind 
auf  I  qkm  gezählt  worden.  In  ihrer  Form 
wechseln  sie  zwischen  der  einer  Schüssel  — 
das  sind  die  kleineren  mit  nur  geringer  Tiefe  — , 
oder  eines  Trichters  —  hier    nimmt  die  Tiefe 


')  Doline  ist  ein  südslavisches  Wort  und  bedeutet  Tal, 
besonders  Flußtal;  das  deutsche  hat  für  Dolinen  nur  einen 
Volksnamen  „Hühle",    wie    er  im  fränkischen  Jura    gebrauch- 


272 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


im  Verhältnis  zum  Durchmesser  zu  — ,  oder 
eines  Brunnens  mit  steilen,  senkrechten  Wan- 
dungen. 

In  einem  gewissen  Gegensatz  zu  diesen 
kleineren  trichterförmigen  Einsenkungen  der 
Dohnen  stehen  große,  flache,  breitsohlige  Wannen, 
deren  Gehänge  scharf  sich  gegenüber  der  Sohle 
absetzen.  Diese  lang  sich  hinziehenden,  breiten 
Wannen  tragen  den  Namen  der  Poljen  ^).  Sie 
zeigen  eine  ausgeprägte  Längserstreckung,  die 
bisweilen  mit  dem  Streichen  der  geologischen 
Schichten  verläuft.  Von  den  Dohnen  unter- 
scheiden sie  sich  besonders  durch  ihre  größeren 
Ausmaße  und  durch  das  Vorhandensein  einer 
scharf  hervortretenden  Bodenfläche.  Es  sind  Hohl- 
formen, die  man  mit  Längstälern  vergleichen 
kann,  nur  enden  sie  „blind".  Der  Gründe 
für  ihre  Entstehung  gibt  es  mehrere.  In  der 
Hauptsache  fällt  wohl  die  Herausarbeitung  dieser 
flachen  Wannen  aus  der  Oberfläche  zusammen 
mit  Bewegungen  der  Erdrinde.  So  sind  besonders 
für  das  Gebiet  des  Karstes  und  überhaupt  der 
Balkanhalbinsel  Einbrüche  der  Oberfläche  vielfach 
bekannt.  Sie  haben  ganze  große  Beckenland- 
schaften entstehen  lassen,  wie  das  Becken  von 
Uesküb  und  das  heute  von  der  Sitniza  (Neben- 
fluß des  Ibar)  durchflossene  Amselfeld  =  Kossowo- 
Polje.  Andere  Poljen,  vornehmlich  kleinere,  wie 
die  sog.  Rekamulde,  westlich  von  Zirknitz  in 
Krain,  mögen  wohl  durch  Deckeneinbrüche  unter- 
irdischer Hohlräume  entstanden  sein.  Einige 
dieser  Hohlformen  sind  das  ganze  Jahr  hindurch 
trocken,  andere  werden  zeitweise  überschwemmt, 
wieder  andere  sind  beständig  mit  Wasser  gefüllt. 
Die  verschiedene  Lage  der  Poljen  zum  Grund- 
wasserspiegel des  Karstes  ist  dabei  maßgebend. 
Die  trockenen  Poljen  liegen  so  hoch,  daß 
sie  an  der  Zirkulation  des  Grundwassers  keinen 
Anteil  haben;  so  gehört  hierher  die  Polje  vonCetinje 
(Montenegro),  die  eine  absolute  Höhe  von  640  m 
besitzt  und  von  100 — 150  m  höheren  Bergen 
umschlossen  ist.  Die  zeitweise  über- 
schwemmten Poljen  sind  im  Vergleich  zu 
den  trocknen  tiefer  gelegen  und  werden  zu  be- 
stimmten Jahreszeiten  unter  Wasser  gesetzt.  Die 
AnfüUung  mit  Wasser  fällt  in  die  Regenzeit  (Herbst) 
oder  Schneeschmelze  (Frühjahr).  Der  Karst  von 
Westbosnien  und  die  Herzegowina  weisen  hier- 
für besonders  typische  Beispiele  auf.  Die  Schwan- 
kungen des  Karstwasserspiegels,  die  wie  überall 
ihre  Begründung  in  den  verschieden  starken  Nieder- 
schlägen haben,  bedingen  diese  vorübergehend  sich 
füllenden  und  wieder  leerenden  Poljen.  Die  Ent- 
wässerung dieser  „periodisch  bewässerten"  Poljen 
erfolgt  nach  der  Überschwemmung  durch  zahl- 
reiche Sauglöcher,  sog.  Ponore,  die  auf  dem 
Boden  des  Polje  ähnlich  den  Trichtern  das 
Wasser  in  die  Tiefe  filtrieren,  wo  es  in  unter- 
irdischen Kanälen  seinen  Weg  weiter  nimmt.   Das 


')    Eine  kroatische  Bezeichnung  =  Feld ;    [z.  B. 
Polje  bekannt  als  „Amselfeld"], 


bekannteste  Beispiel  für  eine  solche  zeitweise  über- 
schwemmte Polje  ist  der  Zirknitzer  See  in 
der  Grafschaft  Krain.  Die  Herbstregen  verwandeln 
durch  das  Steigen  des  Grundwassers  die  Polje  in 
eine  weite  Wasserfläche  von  2100 — 5600  ha;  in 
2 — 3  Tagen,  ja  bei  besonderer  Heftigkeit  in 
24  Stunden,  ist  das  ganze  Seebecken  gefüllt.  Die 
Füllung  besorgen  einige  zu  dieser  Zeit  wasser- 
führende Flüsse,  in  der  Hauptsache  aber  sog. 
Speilöcher  (=  Estavellen)  im  Talboden  und 
auf  den  Seiten,  die  das  Wasser  zuerst  ausfließen 
lassen,  das  hier  im  Grundwasserspiegel  das  Niveau 
der  Polje  erreicht.  Zahlreiche  Sauglöcher  (nach 
V.  Hauer')  u.  a.  sollen  es  28  sein)  entwässern 
den  See  wieder,  nur  seine  tiefsten  Stellen  halten 
in  Tümpeln  das  Wasser  das  ganze  Jahr  über.  Die 
Fachkritik  nennt  heute  diese  beiden  Arten  von 
Karstwannen  besser  „blindes  Tal"  oder  „blindes 
Talbecken",  da  die  Bezeichnung  Polje  nicht  un- 
mittelbar an  das  Auftreten  im  Karstgebiet  gebunden 
sein  muß.  -) 

Im  Gegensatze  zu  den  trocknen  und  zeitweise 
überschwemmten  Poljen  stehen  noch  die  das 
ganze  Jahr  über  mit  Wasser  gefüllten 
sog.  S  e  e  p  o  1  j  e  n.  Ihre  Lage  ist  so  tief,  daß  sie  un- 
mittelbar mit  dem  Grundwasser  in  Verbindung 
stehen  und  hierauf  ihren  dauernden  Wasserstand 
zurückführen.  Der  Ochridasee  in  Albanien  und 
der  Skutarisee  an  der  Südgrenze  Montenegros  sind 
Beispiele  solcher  im  Grundwasserspiegel  stehenden 
Poljen. 

Trockenheit  auf  der  Oberfläche,  Reichtum 
an  Wasser  im  Inneren  charakterisieren  den 
Karst.  Dohnen  und  Poljen  verdanken  der 
Einwirkung  dieses  unter  der  Erde  arbeitenden 
Wassers  in  erster  Linie  ihre  Entstehung.  Durch 
Sauglöcher  (=  Ponore),  trichter-  und  schlotförmige 
Einsenkungen  stehen  Oberfläche  und  unterirdische 
Wassersysteme  in  Verbindung.  In  Adern  und 
Flüssen  vereinigt  sich  dieses  unterirdische  Wasser 
und  sucht  den  Weg  zum  Meer.  Den  Karst- 
flüssen  seien  deshalb  einige  Betrachtungen  ge- 
widmet. Gleichmäßig  ausgebildete,  fortlaufende 
Täler  von  der  Quelle  bis  zur  Mündung  finden 
sich  im  Karste  selten,  die  lückenhafte  Ausbildung 
der  Tallandschaften  ist  dem  Karst  eigentümlich 
(Abb.  1 3).  Hat  ein  Tal  vielleicht  oberirdisch  seinen 
Anfang  genommen,  so  hört  infolge  des  Ver- 
schwindens  des  Wassers  im  Gestein  das  Tal 
plötzlich  auf,  setzt  sich  aber  unterirdisch  als  Hohl- 
raum (=  Flußhöhle)  fort.  Talweitungen  wechseln 
mit  Talengen,  langsam  fließende  Stellen  mit  Wasser- 
fällen, Seitentäler  münden  unterirdisch  ins  Haupt- 
tal;  kurz  das  sonst  über  der  Erde  ausgebildete 
Talsystem  findet  sich  unter  der  Erde  wieder,  nur 
in  etwas  veränderter  Form.  —  Die  zumeist  ge- 
neigte Lagerung  der  Gesteinsschichten  begünstigt 
die  Arbeit  des  unterirdisch  fließenden  Wassers.  Es 

^)  J  o  V.   Cvijic:   Karstphänomen  S.  85   (301). 

-)  In  Bulgarien  heißt  das  große  Senkungsgebiet  zwischen 
dem  Balkan  und  der  Sarnena  Gora  (bulgarisches  MiUclgebirge) 
Tulovsko  Polje,  ohne  im  Karstgebiet  zu  liegen. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


273 


führt  zur  Bildung  von  Höhlen,  in  denen  das  durch 
die  Decke  eindringende  Sickerwasser  die  märchen- 
haften Gebilde  der  Stalaktiten  (von  der  Decke 
herabhängend)  und  Stalagmiten  (vom  Boden  nach 
oben  gerichtet)  entstehen  läßt.')  Ist  die  schützende 
Decke  nicht  fest  und  stark  genug,  die  Spannung  zu- 
halten, so  kommt  es  zu  größeren,  weitausgedehnten 
Einstürzen,  die  für  die  Oberflächengestaltung  eines 


stockwerkartig  übereinanderliegenden  Höhlen;  die 
unterste  wird  dann  heute  noch  von  einem  Bache 
durchflössen. 

Über  das  verwickelte  Flußsystem  in  einer 
Karstlandschaft  mag  die  beifolgende  Skizze  (Abb.  14) 
eine  .Anschauung  geben: 

Der  Poikbach  tritt  bei  Adelsberg  in  eine  Höhle 
ein  (Abb.  1 5);  er  scheint  manchmal  im  Gebirge  ganz 


Abb.    13.      Karstquelle   des   Dobracina  bei   (Tkwenizze. 
Reprod. -Recht  „Amon  Re"-Verlag,  Breslau,   phot.   1914. 


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':t  .l^n^B^B 

.Abb.    15.      l'.Kk.s.'l;«ind.     v,,n    Arr   Adelsberger   Grotte. 
Reprod.-Keclit  ,,.\moü  Ke"-Vcrlag,  Breslau,  phot.   1914. 


Dd. -Recht  „.\mon  Rc"-Verlag 


Landes  Bedeutung  gewinnen  können.  Das  Bei- 
spiel der  Rekamulde  bei  Zirknitz  war  oben  schon 
erwähnt.  Von  den  durch  unterirdisch  arbeitendes 
Wasser  entstandenen  Hohlräumen  ist  die  Grotte 
von  Adelsberg  in  Krain  wohl  die  bekannteste. 
Aber  das  ganze  Karstgebiet  weist  zahlreiche  solche 
Hohlräume  auf.     Oft   bestehen   sie   aus  mehreren 

')  Das  durch  Kalk  fließende  Sickerwasser  ist  stark  kalk- 
haltig; beim  Herabtropfen  tritt  eine  Verdunstung  ein,  so  daß 
nur  der  Kalk  übrig  bleibt,  der  sich  absetzt  in  jenen  bekannten 
Formen, 


zu  verschwinden;  wenigstens  neigt  sich  das  die 
Höhlendecke  bildende  Gestein  bis  zum  Wasser- 
spiegel herab.  Der  so  entstehende  unpassierbare 
Eintritt  des  Wassers  wird  S  y  p  h  o  n  genannt.  Der 
unterirdische  Lauf  der  Poik  von  Adelsberg  bis 
Planina  beträgt  8900  m,  davon  ist  bis  jetzt  nur 
ein  Teil  genauer  aufgenommen.  Bei  Planina  tritt 
der  sonst  Poik  genannte  Bach  wieder  in  der 
Karstwanne  an  die  Oberfläche  und  fließt  unter  dem 
Namen  Unz  oberirdisch  weiter  (Abb.  16),  um  auf 
weitem  flußähnlichen,  unerforschten  Laufe  wieder 


274 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


dem  Auge  zu  verschwinden.  Erst  bei  Laibach 
kommt  der  Bach  wieder  zu  Tage  und  nimmt  hier 
einen  neuen  dritten  Namen  „Laibach"  an. 

So  kann  es  den  Anschein  erwecken  für  den 
uneingeweihten  Beobachter,  als  habe  derselbe  Fluß 
mehrere  Quellen.  Einige  davon  werden  sich  durch 
ihren  Reichtum  an  Wasser  auszeichnen ;  sie  finden 
ihre  Begründung  im  Wiederauftauchen  eines  ver- 
schwundenen Flusses.  An  der  Küste  des  Karstes, 
da  wo  die  Karstflüsse  sich  ins  Meer  ergießen, 
treten  in  weiter  Ausdehnung  solche  stark  fließende 
Quellen  auf;  sie  liegen  entweder  nur  wenige 
Zentimeter  über  dem  Meeresspiegel  und  sind  so 
mächtig,  daß  sie  Strömen  gleich  dem  Schoß  der  Erde 
entquellen,  oder  sie  mengen  sich  unter  dem  Meeres- 
spiegel mit  dem  salzigen  Wasser  des  Meeres,  sind 
also  sog.  „submarine  Quellen".  Solche 
Stellen  an  der  Karstküste,  an  denen  teilweise  das 
Meerwasser  oberirdisch  in  die  Schlote  und  Klüfte 
einströmt,  nennt  das  Volk  wohl  auch  Meer- 
niühlen;  die  von  Argostoli  auf  der  gleich- 
namigen Landzunge  der  Insel  Kephallenia  sind 
die  berühmtesten. 

So  offenbart  sich  uns  die  Arbeit  des  unter- 
irdisch fließenden  Wassers  in  den  Kalkgebieten, 
für  die  als  typischstes  Beispiel  der  Karst  gilt,  als 
zwiefach.  Sie  wirkt  einmal  auf  die  Oberfläche, 
durch  die  in  vertikaler  Richtung  vor  sich  gehende 
Bahn  des  Wassers  in  Gestalt  von  trichterförmigen 
Einsenkungen  der  Dohnen  und  Sauglöcher,  der 
Ponore,  während  es  an  der  Ausgestaltung  der  großen 
Karstwannen,  der  Poljen,  nur  geringen  Anteil 
nimmt;  das  andere  Mal  arbeitet  das  Wasser  durch 
seine  chemisch  lösende  Kraft  in  Verbindung  mit 
der  horizontalen  oder  leicht  geneigten  Fließ- 
richtung an  der  Bildung  von  Höhlen.  Sie  werden 
sonach  von  Wasserläufen  durchflössen,  die  teils 
oberirdische,  teils  unterirdische  Teilwasserläufe 
haben.  Das  unzusammenhängende  in  der  Tal- 
entwicklung des  Karstes ,  das  plötzliche  Ver- 
schwinden (Schlundflüsse)  und  plötzliche  Wieder- 
auftreten desselben  Flusses  mit  vermehrter  Wasser- 
menge ist  charakteristisch. 

Die  in  den  Kalkgebieten  des  Karstes  auf- 
tretenden Erscheinungen  als  Folgen  des  unter- 
irdisch arbeitenden  Wassers  müssen  wir  füglich 
unter  gleichen  oder  ähnlichen  Verhältnissen  auch 
in  anderen  Kalkgebieten  der  Erde  finden.  Es 
seien  hier  nur  einige  Beispiele  aus  euro- 
päischen Kalkgebieten  genannt. 

Die  dem  Altertum  der  Erde  angehörenden 
Kalkschichten,  wie  sie  der  flachgelagerten  russischen 
Tafellandschaft  in  den  baltischen  Provinzen , 
Livland  und  Esthland,  angehören,  weisen  in 
gleicher  Weise  Dohnen  und  Schlundflüsse  und 
unterirdisch  wasserführende  Höhlen  auf.  Dasselbe 
gilt  von  den  nur  wenig  jüngeren  Kalksteinab- 
lagerungen (Devon)  des  Harzes,  wo  die  Hermanns- 
höhle bei  Rübeland,  die  Biels-  und  Baumaniishöhle 
zu  nennen  sind.  Die  besonders  den  Alpenforma- 
tionen angehörenden  Vorkommen  des  Kalkes  der 
Triasperiode  (frühes  Mittelalter  der  Erdgeschichte), 


wie  sie  im  Toten-Gebirge,  Dachstein  und  Steinernen 
Meere  auftreten,  weisen  ebenfalls  eine  Entwicklung 
des  Karstphänomens  auf  In  dem  Muschelkalk  von 
Württemberg  sind  zahlreiche  Dohnen  und  Höhlen 
eingesenkt.  Und  gar  in  der  weit  über  Süddeutsch- 
land ausgebreiteten  Juraformation  des  schwäbischen 
und  besonders  des  fränkischen  Jura  sind  die 
Höhlen  und  Grotten  ein  vielbesuchtes  Forscher- 
und Wanderziel.  Sie  sind  erst  vor  einiger  Zeit 
zum  Gegenstand  einer  genauen  Untersuchung 
gemacht  worden ,  die  uns  lehrreiche  Aufschlüsse 
über  diese  Kalkhöhlen  brachte.  ')  Typische  Karst- 
erscheinungen finden  sich  auch  in  den  Kalkland- 
schaften des  französischen  Zentralplateaus  in  den 
Gausses,  jenem  südlichen  Jurakalkgebiet  des  Steil- 
randes der  Cevennen.  Zahllose  Dohnen  durch- 
löchern auch  die  Oberfläche  des  Kreidekalkes  in 
den  südlichen  und  nördlichen  Kalkalpen  und  den 
Karpathen,  besonders  des  Banater  Gebirges  und 
seiner  südlichen  Weiterbildungen  in  Serbien  und 
Bulgarien.  Und  weiter  konnte  man  diese  Karst- 
erscheinungen als  Wirkung  des  unter  der  Erde 
arbeitenden  Wassers  verfolgen  bis  zu  den  jüngsten 
Vorkommen  des  Kalkes,  dem  Korallenkalk  re- 
zenter Koralleninseln. 

Bisher  beschränkten  wir  unsere  Betrachtung 
auf  die  Arbeit  des  unterirdischen  Wassers  in  den 
Kalkgebieten  und  prüften  hier  die  so  entstehenden 
Wirkungen.  Aber  auch  geologisch  anders- 
geartete Gebiete  bleiben  nicht  ver- 
schont von  der  zerstörenden  Wirkung  des  in 
der  Tiefe  fließenden  und  arbeitenden  Wassers. 
Die  Tatsache,  daß  erdgeschichtlich  bedeutsame 
Bergstürze  und  Erdrutsche  nur  auf  die 
Wirkung  des  Schicht-  und  Kluftwassers  zurück- 
zuführen sind,  rechtfertigt  eine  kurze  Betrachtung 
auch  dieser  Erscheinung. 

Nicht  seien  hier  erwähnt  Felsstürze  und  Berg- 
rutsche, die  der  Unterspülung  der  Talgehänge  in 
Tälern  mit  starker  Erosion  oder  zu  starker  Ver- 
witterung gewisser  Gesteinspartien  ihre  Entstehung 
verdanken.  Die  unterirdische  Wasserarbeit  \'er- 
ursacht  meist  nur  dann  derartige  Katastrophen, 
wenn  die  oben  lagernden  Gesteine,  das  sogenannte 
„Hangende",  so  stark  geneigt  sind,  daß  das  Wasser 
an  der  Sohle  den  Zusammenhang  mit  den  unter- 
lagernden Schichten,  dem  sogenannten  „Liegenden", 
lösen  kann.  Dort,  wo  leicht  klüftbarr-  Gesteine, 
wie  Sandsteine,  Kalksteine  und  Dolomite  mit 
tonigen  Gesteinen  wechsellagernd  Taliiänge  bilden, 
besteht  bei  geeigneter  Neigung  der  Schichten  nur 
zu  oft  die  Gefahr  des  Abrutschen»;  der  Talhänge 
(vgl.  Diagramm  Abb.  17).  Das  oberirdisch  fallende 
Wasser  dringt  in  den  Klüften  ein ,  erweicht  die 
Unterlage  und  spült  sie  fort;  das  „Hangende" 
kommt  ins  Rutschen  und  die  stürzenden  Fels- 
massen werden  ganzen  Taliandschaften  zum  Ver- 
hängnis. Aus  älterer  Zeit  gehören  hierher  die 
Bergstürze   des  Vorderglärnisch  (i6.  Jahrhundert), 

')  Dr.  Neischl,  Die  Höhlen  des  Frankenjuras.  Doktor- 
arbeit.    Erlangen   1903. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


27s 


bei  Chiavenna  (161 8),  bei  Glarus  (1881),  in  der 
Bocca  di  Brenta  (1S82).  Am  bekanntesten  und 
genauesten  untersucht  sind  die  Bergstürze  des 
Roßberg  bei  Goldau  am  Lowerzer  See,  die  von 
Elm  bei  Glarus  und  der  alte  nacheiszeitliche 
Bergsturz  von  Ulms.  Der  erstere  soll  i  5  Millionen, 
der  zweite  10  Millionen  cbm  Gesteinsmasse  und 
Schutt  herabgebracht  haben,  und  für  den  letzteren 
berechnete  Heim  eine  Leistung  von  15  cbkm  = 
15  Milliarden  cbm  transportiertes  Material.  Auch 
die  in  den  letzten  Jahren  mehrfach  beobachteten 
Bergrutsche  am  Hopfenberge  bei  Boden- 
bach-Tetschen  sind  ähnlicher  Entstehung. 
Die  Einwirkungen  auf  die  Erdober- 
fläche waren  zwar  nur  geringerer  Art; 
immerhin  war  eine  Straße  um  50  m 
horizontal  verschoben  worden,  Teiche 
waren  gestaut,  Häuser  in  ihren  Grund- 
lagen erschüttert.  Das  ganze  von  den 
zu  Tal  gegangenen  Wassern  erfüllte 
Gelände    machte    den    Eindruck    eines 


ihm  hervorquellendes,  sich  einen  Weg  bahnenden 
Wassers  leicht  ins  Rutschen  und  breitet  sich 
dann  dem  Gelände  anpassend,  flächenhaft  aus. 
Das  beigegebene  Bild  (.Abb.  1 8),  aus  der  schwäbischen 
Alb  stammend,  vermag  im  kleinen  das  zu  er- 
läutern. Dieser  Bergsturz,  der  die  P'orm  einer 
Rutschungsterrasse  hat,  liegt  in  seiner  Ent- 
stehung schon  weit  zurück;  die  Bäume  weisen 
schon  auf  höheres  .Alter  hin.  Das  gleichsinnige 
Gefälle  des  Talhanges  ist  gestört  und  neue 
Rutschungen  bereiten  sich  vor  in  kleineren ,  zu- 
nächst noch  zusammenhanglosen  Schuttkegeln, 
von  denen  einer  ebenfalls  auf  dem  Bilde  deutlich 


Bergsturz  bei  tonigem  Untergrund. 


Abb.   18.     Rutschungsterrass. 


gewaltigen  Schlammstromes,  dessen  Ober- 
fläche mit  ihren  Längs-,  Quer-  und  Randspalten 
einem  Gletscher  sehr  ähnelte.  Der  nieder- 
gegangene Berg  hatte  aus  Tonen  und  Mergeln 
bestanden,  die  mit  starkem  Gefälle  übereinander 
lagerten. 

In  kleineren  Ausmaßen  kann  man  diese 
Rutschungen  an  Talhängen  öfters  beobachten. 
Der  das  anstehende  Gestein  verhüllende  Schutt, 
der  in  wechselnder  Mächtigkeit  lagernd  mit  ge- 
ringer Vegetation  bestanden  ist,  gerät  durch  unter 


erkennbar  ist.  Das  Zusammenwirken  mehrerer 
solcher  rutschenden  Schuttkegel  kann  dann  zu 
Bergstürzen  führen,  die  je  nach  der  Beschaffenheit 
des  Untergrundes  reine  Bergstürze  mit  nieder- 
gehenden Felsmassen  sein  können  oder  in  Form 
von  Schlammströmen  sich  abwärts  bewegen. 

Von  diesen  Kleinformen  in  der  Veränderung 
der  Erdoberfläche,  wie  sie  alUäglich  sind,  könnte 
man  ungezählte  Beispiele  nennen.  Möchte  nur 
mehr  gutes  Anschauungsmaterial  hierfür  gesammelt 
werden. 


Einzelberichte. 

Chemie.    Eine  Reihe  interessanter  Mitteilungen  S.  55—63  und  S.  1868 — 1879,  und  Jahrg.  50  (1917), 

über  die  kataly tische  Hydrogenisation  organischer  S.  305  —  307)  veröffentlicht  worden. 
Vejrbindungen  mit  unedlen  Metallen  bei  Zimmer-  ^yie  Möglichkeit  von  Reduktionsreaktionen  mit 

temperatur   sind  vor   kurzem  von  C.  Kelber    in  Hilfe  von  kolloidalem  Platin  oder  Palladium  nach 

den  Ber.  d.  D.  ehem.  Gesellsch.  (Jahrg.  49  (1916),  den  Verfahren  von  Paal,   von  Paal  und  Skita 


276 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


und  von  Willstätter  ist  allgemein  bekannt,  und 
ebenso  dürfte  allgemein  bekannt  sein,  daß  man 
mit  Nickel  als  Katalysator  nach  Sabatier') 
ähnliche  Wirkungen  wie  mit  Platin  oder  Palladium 
unter  gewöhnlichem  Druck  und  bei  Zimmer- 
temperatur erst  unter  höherem  Druck  und  bei 
höherer  Temperatur  erzielt.  Kelber  zeigt  nun 
in  seiner  ersten  Arbeit,  daß  man  mit  reduziertem 
Nickel  gleich  gute  Resultate  wie  mit  Platin  oder 
Palladium  erhält,  wenn  man  das  Nickel  in  ge- 
eigneter Weise  auf  einen  oberflächenreichen  Träger 
wie  Infusorienerde,  Florida-Bleicherde,  künstliche 
Aluminium -Magnesium -Silikate,  gewisse  Kohle- 
sorten usw.  bringt.  -) 

Als    Beispiel    sei    die    Katalyse    von    Knallgas 
einerseits    durch    0,0344  g    kolloidales   Palladium, 


neue  Nickelkatalysator  am  besten  in  wässeriger 
oder  wässerig-alkoholischer,  weniger  gut  in  rein 
alkoholischer  oder  in  benzolischer  oder  ätherischer 
Lösung  wirkt.  Auch  Eisessig  ist  als  Lösungsmittel 
für  Hydrogenisationen  geeignet,  Chloroform  hin- 
gegen ganz  ungeeignet. 

Wirkt  nun  auch  das  Nickel  besonders  gut, 
wenn  es  sich  auf  einem  Träger  befindet ,  so  ist 
doch,  wie  schon  Abbildung  A  zur  Genüge  er- 
kennen läßt ,  auch  nicht  auf  einem  Träger  be- 
findliches Nickel  keineswegs  wirkungslos.  So 
eignet  sich  z.  B.  ein  durch  Reduktion  von  basi- 
schem Nickelkarbonat  im  Wasserstoffstrom  bei 
310 — 320"  hergestelltes  Nickel  in  schwach  alka- 
lisierter  wässeriger  oder  wässerig -alkoholischer 
Lösung    ausgezeichnet    zur  Hydrogenisation  orga- 


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Abb.  A.     Katalyse  von  Knallgas. 
Kurve  1 :    0,5   g  Nickel,    auf  4,5  g  Träger    bei  450°  reduziert. 
Kurve  II :  0,2  g  Palladiumkolloid  (=  0,0344  g  Palladium). 

andererseits  durch  0,5  g  Nickel  angeführt,  das 
durch  Reduktion  eines  auf  einem  Träger  befind- 
lichen Nickelkarbonats  bei  450"  gewonnen  ist 
(vgl.  Abb.  A).  Der  außerordentliche  Einfluß,  den 
der  Träger  auf  das  Reduktionsvermögen  des 
Nickels  hat,  geht  aus  der  sehr  lehrreichen  Abb.  B 
hervor,  nach  der  z.  B.  0,5  g  bei  450"  auf  einem 
Träger  reduziertes  Nickel  bei  der  Reduktion  von 
Zimtsäure  in  wässerig-alkalischer  Lösung  etwa  die 
gleiche  Wirkung  ausüben,  wie  3,0  g  bei  310" 
reduzierten  Nickels;  auch  der  Einfluß  der  Tempe- 
ratur, bei  der  der  Katalysator  hergestellt  ist,  auf 
seine  katalytische  Wirksamkeit  geht  aus  der 
Abbildung  deutlich  hervor. 

Aus  den  zahlreichen  von  Kelber  ausgeführten 
Reduktionsversuchen  ergibt   sich  ferner,    daß    der 


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1)  Vgl.  Naturw.  Wochcnschr.,  ^ 
'^)  Kobalt  wirkt  ähnlich,   wenn 
wie  Nickel. 


Bd.  8(1909),  S.  8— 9. 
nicht  ganz  so  günstig 


,     Anlagerungen    von   Wasserstoff  an  0,7?  g 
in  Äthylalkohol  gelöster  Zimtsäure. 
:    0,5  g  Nickel    auf  4,5   g  Träger    bei  450°   reduziert. 

Kurve  II:  3,0  g  Nickel  bei  310''  reduziert. 
Kurve  111:  3,0  g  Nickel  bei  450»  reduziert. 
Kurve  IV;  0,5  g  Nickel  bei  310"  reduziert. 

Kurve  V:  0,5  g  Nickel  bei  450'*  reduziert. 


nischer  Halogenverbindungen:  Das  Halogen  wird 
aus  der  Verbindung  herausgenommen  und  ver- 
einigt sich  mit  dem  Wasserstoff  zu  Halogen- 
wasserstoff, der  von  der  Lauge  neutralisiert  wird. 
Da  das  so  entstandene  Halogenion  leicht  der 
Menge  nach  bestimmt  werden  kann,  so  ist  dies 
Verfahren  als  einfach  und  bequem  auch  für  die 
Analyse  organischer  Halogenverbindungen  zu 
empfehlen;  seine  Brauchbarkeit  wird  von  Kelber 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


277 


in  der  dritten  der  oben  angeführten  Arbeiten  durch 
eine  größere  Reihe  von  Beleganalysen  erwiesen.*) 

Die  zweite  Arbeit  beschäftigt  sich  mit  dem 
Einfluß  von  Kontaktgiften  auf  die  katalytische 
Hydrogenisation  mit  Hilfe  von  Nickel.  Die  Ver- 
suche, die  mit  Cyankalium  KCN,  Blausäure  HCN, 
Schwefelwasserstoff  H.^S  und  Schwefelkohlenstoff 
CS2  als  Kontaktgiften  und  mit  Nickel,  das  durch 
Reduktion  von  basischem  Nickelkarbonat  mittels 
Wasserstoff 

I  bei  450"  C, 
II  bei  310«  C, 

III  auf  anorganischem  Träger  bei  450"  C 
gewonnen  war,  durchgeführt  worden  sind,  lieferten 
das  überraschende  Ergebnis,  daß  sich  die  drei 
verschiedenen  Katalysatoren  gegen  die  Kontakt- 
gifte insofern  verschieden  verhalten,  als  der  Kata- 
lysator I  bereits  durch  Spuren  der  Kontaktgifte 
vergiftet  wird,  Katalysator  II  zur  Vergiftung  er- 
heblich größerer  Mengen  des  Giftes  gebraucht 
und  Katalysator  III  endlich  eine  erhebliche  Wider- 
standskraft gegen  die  Vergiftung  aufweist.  Abb.  C 
zeigt  die  Erscheinung  am  Beispiele  der  Ver- 
giftung der  Katalysatoren  durch  Schwefelkohlen- 
stoff; bei  den  anderen  Giften  ist  die  Wirkung 
ganz  ähnlich. 

Zur  Erklärung  dieser  merkwürdigen  Erscheinung 
bemerkt  Kelber  folgendes: 

„Die  intensive  Lähmung  des  Katalysators  I 
durch    geringe    Mengen    Kontaktgifte    läßt    sich 


')  Ein  ähnliches  Verfahren  zur  Bestimmung  des  Halogen- 
gehaltes organischer  Verbindungen,  das  auf  der  Hydrogenisation 
der  Verbindungen  mittels  palladinierten  Calciumkarbonats  als 
Katalysator  beruht,  ist  schon  vor  einiger  Zeit  von  M.  Busch 
(Zeitschr.  f.  angew.  Chem.  Bd.  27  (1914),  S.  432  und  Ber.  d. 
D.   Chem.  Gesellsch.  49  (1916),  S.   1063)    angegeben    worden. 


dadurch  erklären,  daß  durch  das  Erhitzen  auf 
höhere  Temperaturen  eine  Änderung  der  Ober- 
fläche der  einzelnen  Teilchen  des  Überträgers  er- 
zielt wird  und  nur  wenige  Stellen  an  diesen 
Teilchen  befähigt  sind,  Wasserstoff  aufzunehmen 
und  zu  übertragen.  Diese  wenigen  Punkte  werden, 
da  sie  reaktionsfähiger  wie  das  übrige  Nickel  sind. 


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Abb.  C.    Vergiftung  des  Nickelkatalysators  durch 

Schwefelkohlenstoff. 
(Die  römischen  Zahlen  bezeichnen  den  Katalysator,  der  Buch- 
stabe   a    die  Versuche    ohne,    der  Buchstabe  b    die    Versuche 
mit  Kontaktgift. 

zuerst  auf  das  Kontaktgift  einwirken,  und  dadurch 
wird  der  gesamte  Katalysator  durch  verhältnis- 
mäßig geringe  Mengen  Antikatalysator  vergiftet 
werden.  Katalysator  II  hingegen,  der  bei  niederer 
Temperatur  reduziert  wurde,  besitzt  noch  viele 
Wasserstoff  übertragende  Stellen  an  den  Über- 
trägerteilchen und  benötigt  dementsprechend  auch 
eine  größere  Menge  Kontaktgift.  Bei  Katalysator  III, 
der  bei  höherer  Temperatur  mit  Wasserstoff  be- 
handelt wurde,  kann  man  annehrnen,  daß  die 
Gegenwart  des  Trägergerüstes  die  Änderung  der 
Oberfläche  des  Katalysators  verhindert."  Mg. 
(GTC) 


Bttcherbesprechungen. 


Hartwig,  Richard,  Prof  Dr.,  Lehrbuch  der 
Zoologie.  II.  vermehrte  und  verbesserte 
Auflage.  Mit  588  Abbildungen  im  Text.  Jena 
1916,  G.  Fischer.  —  13,50  M. 
Der  neue  „Hertwig"  hat  wiederum,  ohne  daß 
dies  im  Umfange  des  Buches  hervortritt,  eine 
sorgsame  Neubearbeitung,  vielfach  sogar  erhebliche 
Umgestaltung  erfahren.  PIntsprechend  dem  Cha- 
rakter aller  zoologischer  Lehrbücher,  der  wiederum 
ein  Ausdruck  der  historisch  verständlichen  Eigenart 
der  zoologischen  Wissenschaft  ist,  bilden  die  rein 
beschreibenden  Teile,  Morphologie,  Anatomie, 
Entwicklungsgeschichte  und  vor  allem  die  Syste- 
matik ganz  und  gar  das  Massiv,  in  das  physio- 
logische Daten,  wenn  auch  in  den  letzten  Auflagen 
in  steigendem  Maße,  nur  eingesprengt  erscheinen. 
Ein  besonderer  Abschnitt,  der  die  allgemeinen 
Grundlagen  der  tierischen  Physiologie  behandelte 
(und  der  in  entsprechender  Form  in  jedem  bo- 
tanischen Lehrbuch  als  selbstverständlich  gilt),  fehlt. 
Doch  liegt  dies,  wie  gesagt,  in  der  üblichen  Ab- 
grenzung    dessen     begründet,     was     man     her- 


kömmlicherweise unter  Zoologie  und  zoologischem 
Unterricht  versteht,  fällt  also,  solange  nicht  ein 
allgemeiner  Anlaß  gefühlt  wird,  mit  diesem  Her- 
kommen zu  brechen,  nicht  einem  einzelnen  Lehr- 
buch zur  Last. 

Als  klar  und  sehr  übersichtlich  abgefaßtes  und 
mit  vortrefflichen,  zweckmäßigen  Abbildungen 
versehenes  Lehrbuch  wird  sich  der  „Hertwig"  auf 
unseren  Universitäten  noch  ebenso  bewähren,  wie 
damals,  als  Referent  mit  einem  früheren  Ent- 
wicklungsstadium dieses  Buches  versehen  zu  den 
Füßen  des  Verfassers  saß.  Besonders  ist  der 
mäßige  Preis  des  über  42  Bogen  starken  Bandes 
hervorzuheben.  Miehe. 


Killermann,  S.,  Prof  D.,  Die  Blumen  des 
heiligen  Landes.  Mit  einer  Bestimmungs- 
tabelle sowie  5  Tafeln  und  60  Abbildungen  im 
Text.  Leipzig  19 16,  J.  C.  Hinrichs.  —  6  M. 
Die  wundervolle  Blütenpracht  des  lenzlichen 
Palästina  sowie  sein  übriger  charakteristischer 
Pflanzenwuchs    hat    in    Kill  er  mann    einen    be- 


278 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


geisterten  und  geschmackvollen  Schilderer  gefunden. 
Im  ersten  Teile  des  vorliegenden  Büchleins  ent- 
wirft er,  den  Staffeln  seiner  Frühlingsfahrt  folgend, 
floristische  Bilder,  die  dadurch  besonders  anziehend 
sind,  als  der  Verf.  andächtig  auf  den  Spuren  der 
heiligen  Schrift  wandelnd,  vielfältige  Beziehungen 
zu  ihr  aufweist,  die,  wenn  sie  auch  naturgemäß 
oft  nur  Vermutungen  darstellen,  doch  seinen 
Schilderungen  zusammen  mit  manchen  anderen 
kulturhistorischen  Remineszenzen  besonderen  Reiz 
verleihen.  Dadurch  werden  diese  Kapitel  außer 
den  Pilgern  und  gebildeten  Christen,  namentlich 
Theologen,  die  botanische  Interessen  haben,  sehr 
willkommen  sein. 

Der  zweite  Teil  enthält  eine  Bestimmungstabelle, 
die  zwar  nicht  alle,  aber  doch  die  auffälligsten 
sowie  die  kulturgeschichtlich  und  wirtschaftlich 
wichtigsten  Blütenpflanzen  berücksichtigt.  Die 
Bestimmung  wird  durch  60  Abbildungen  unterstützt 
und,  insbesondere  für  Unerfahrene,  durch  einen 
zweckmäßigen  Anhang  erleichtert,  in  dem  die 
wichtigsten  Pflanzen  nach  auffälligen  Eigenheiten 
ihrer  Tracht  angeordnet  sind. 

Das  Büchlein  verdient  es,  für  die  Zeit  nach 
dem  Kriege  angemerkt  zu  werden,  wenn  der 
Strom  der  Miltelmeerfahrer  sich  vermutlich  lieber 
in  die  östlichen  Länder  richten  wird,  als  wie  bisher 
fast  ausschließlich  in  das  mittlere  Gebiet. 

Miehe. 

Victor  Michels.  Goethe  und  Jena.  30  S. 
Jena  G.  Fischer.  —  60  Pfg. 
Wenn  dem  heutigen  Jena  die  aufblühende, 
durch  Abbe  ins  Leben  gerufene  Industrie  den 
Stempel  aufgedrückt  hat  —  führt  IVI  icheis  in 
seiner  Rede  aus  —  so  ist  das  alte  Jena  doch 
mit  in  erster  Linie  das  Jena  Goethes.  Auch  der 
Naturforscher  wird  diese  Schrift  mit  Vergnügen 
lesen  und  aus  ihr  entnehmen,  wie  viel  Goethe  in 
Jena  von  den  Naturwissenschaften  empfangen  und 
wie  viel  er  ihnen  gegeben  hat  durch  Anregungen 
im  Gespräch  sowie  durch  Rat  und  Tat  bei  der 
Förderung  der  Institute.  Für  ihn  haben  sich  in 
Jena  „Steine  und  Pflanzen  mit  den  Menschen 
zusammengefügt".  Alexander  von  Humboldt 
hat  in  den  Wäldern  des  Amazonenstromes  und 
auf  dem  Rücken  der  Anden  sich  stets  gehoben, 
gleichsam  mit  neuen  Organen  ausgerüstet  gefühlt 
durch  Goethes  Naturansichten,  die  er  in  Jena 
kennen  gelernt.  Goethe  war  die  leitende  Persönlich- 
keit bei  der  Einweihung  des  anatomischen  Kabi- 
netts, bei  der  Einrichtung  des  chemischen  Instituts, 
der  Sternwarte,  der  Veterinäranstalt,  beim  Ankauf 
des  Walchschen  Naturalienkabinetts,  bei  der  Be- 
gründung von  Professuren  und  in  anderen  Fällen 
mehr.  Die  Rede  beginnt  mit  Goethes  Jena  ver- 
herrlichenden Versen.  Sie  verfehlt  nicht,  auch  dem 
Dichter  Goethe  voll  gerecht   zu  werden. 

V.  Franz. 

Danneel,  Heinrich.   Elektrochemie.   I.  Theo- 
retische   Elektrochemie    und   ihre    physikalisch- 


chemischen   Grundlagen.      186  Seiten    in  kl.  8" 
mit    16    Abbildungen    im    Text.      III.    Auflage. 
Sammlung    Göschen    Band    252.      Berlin    und 
Leipzig  1916,  G.J.Göschensche  Verlagshandlung, 
G.  m.  b.  H.  —  Preis  geb.   i   M. 
Das  kleine  Danneel'sche  Lehrbuch  der  Elektro- 
chemie,   dessen    erste  Hälfte    nunmehr    bereits    in 
der    dritten    Auflage    vorliegt,    ist    ein    durch    die 
Klarheit  und  die  Exaktheit  der  Darstellung  gleich 
ausgezeichnetes   Werkchen,    das   allen    denen,    die 
Interesse    für   die    moderne  Elektrochemie   haben, 
auf  das  wärmste  empfohlen  werden  kann.  —  Über 
den    Inhalt    des    Bändchens    gibt    der    Untertitel 
genügende  Auskunft.        Werner  Mecklenburg. 


Vetter,  Rudolf.    Beiträge  zur  Kenntnis  der 
analytischen  Eigenschaften  der  Koh- 
lenstoffmodifikationen      und      orien- 
tierende    Versuche     über     ihre     Ent- 
stehungsbedingungen. TechnischeStudien, 
herausgegeben  von  H.Simon,  Heft  18.  VIII  und 
79  Seiten.    Berlin-Oldenburg  1916.    Verlag  von 
Gerhard  Stalling.  —  Preis  geh.  3,50  M. 
Das  vorliegende  Werkchen,  über  dessen  Inhalt 
der    Titel    hinreichende    Auskunft    gibt,    ist    eine 
unter    der  Leitung  von  K.  A.  Hof  mann  an  der 
Technischen  Hochschule  Berlin  ausgeführte  Disser- 
tationsschrift und  trägt  als  solche  einen  sehr  speziellen 
Charakter.  Das  wesentliche  Ergebnis  der  Arbeit  läßt 
sich  dahin  zusammenfassen,  daß  sich  Diamant  und 
Karborundum    SiC,    das    bei    den    Versuchen    zur 
künstlichen  Herstellung  von  Diamant  stets  als  — 
allerdings    unerwünschtes    —    Nebenprodukt    ent- 
steht, durch  ihr  Verhalten  gegen  ein  geschmolzenes 
Gemisch  von  Natriumthiosulfat  und  Natriumfluorid 
unterscheiden :    Der  Diamant    verhält    sich   gegen 
dieses  Gemisch  vollkommen  passiv,  während  Kar- 
borundum von  ihm  glatt  aufgeschlossen  wird. 
Werner  Mecklenburg. 


Warburg,  Prof.  Dr.  O.,  Die  Pflanzenwelt. 
2.  Band.  Mit  12  farbigen,  22  schwarzen  Tafeln 
und  292  Textabbildungen.  Leipzig  und  Wien 
1916.  Bibliographisches  Institut.  17  M. 
Die  VVarburg'sche  Pflanzenwelt  ist  eine  Ergän- 
zung des  bekannten  kürzlich  von  Hansen  neu 
herausgegebenen  Pflanzenlebens.  Während  in  diesem 
letzteren  Werke  das  Leben  der  Pflanzen  im  Zu- 
sammenhange mit  den  natürlichen  Bedingungen 
geschildert  wurde,  setzt  sich  das  vorliegende  das 
Ziel,  die  gesamte  Pflanzenwelt  in  systematischer 
Anordnung  darzustellen.  In  diesem  zweiten  Bande 
wird  die  erste  Unterklasse  der  Dikotylen,  die  der 
Archichlamydeen,  behandelt,  die  u.  a.  die  Reihen 
der  Polykarpicae.Rhoeadales,  Rosales,  Geranial  es,  Sa- 
pindales, Rhamnales,  Malvales,  Parietales  undOpun- 
tiales  behandelt.  Es  werden  also  hier  z.  B.  die  wich- 
tigen Familien  der  Kreuzblütler,  Rosengewächse,  der 
Hülsenfrüchtler,  Wolfsmilchgewächse  usw.  vorge- 
führt. Dabei  werden  nicht  nur  die  einheimischen 
Gewächse   sondern    auch    die    ausländischen    und 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


279 


zwar  ausführUch  berücksichtigt.  Überall  wird 
auf  die  Nutzpflanzen  besonders  Bedacht  genommen, 
an  deren  Schilderung  sich  anregende  Skizzen  über 
Gewinnung  und  Aufbereitung  der  Naturprodukte 
sowie  historische  Exkurse  anschließen.  Dabei 
schöpft  der  Verf.  vielfach  aus  eigener  reicher  Er- 
fahrung. Das  Werk  ist  mit  vorzüglichen  Abbil- 
dungen ausgestattet,  neben  vielen  Habitus-  und 
Vegetationsbildern,  die  teils  nach  Photographien, 
teils  nach  hervorragenden  Aquarellen  reproduziert 
sind,  wird  eine  sehr  große  Zahl  genauer  und  sehr  lehr- 
reicher Einzelbilder  geboten,  die  auch  die  Blüten, 
Samen  und  Früchte  veranschaulichen  und  eben- 
falls vielfach  in  naturgetreuen  Farben  wiederge- 
geben sind. 

Das  Werk,  das  dem  Verf.  sowohl  wie  dem  Verlage 
alle  Ehre  macht,  ist  ein  schönes  volkstümliches 
Nachschlagewerk,  dessen  Anschaffung  sehr  emp- 
fohlen werden  kann.  Miehe. 


E.  Grimsehl,  Lehrbuch  der  Physik.  Zum 
Gebrauche  beim  Unterricht,  bei  akademischen 
Vorlesungen  und  zum  Selbststudium. 

I.  Band  :  Mechanik,  Akustik  und  Optik.  Dritte, 
vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  966  Seiten 
mit  1063  Figuren  im  Text  und  2  farbigen 
Tafeln.  Leipzig  und  Berlin  1914,  B.  G.  Teub- 
ner.  —  Preis  geb.   12  M. 

II.  Band:  IVIagnetismus  und  Elektrizität.  Dritte 
Auflage,  durchgesehen  und  ergänzt  von  J. 
Classen,  H.  Geitel,  W.  Hillers  und 
W.  Koch.  542  Seiten  mit  517  Figuren  im 
Text  und  einem  Bildnis  des  Verf.  Leipzig  und 
Berlin  1916,  B.  G.  Teubner.  —  Preis  geb  8  M. 

Die  Tatsache,  daß  das  vorliegende  Lehrbuch 
in  der  beispiellos  kurzen  Zeit  von  nur  5  Jahren 
bereits  in  dritter  Auflage  erscheint,  macht  jede 
besondere  Empfehlung  entbehrlich.  Sie  zeigt, 
daß  die  Darstellung  des  auf  dem  Lehrgebiet  der 
Physik  besonders  verdienstvollen  Verf.  Vorzüge 
besitzt,  die  ihr  einen  ausgedehnten  Interessenten- 
kreis erbrachten,  trotzdem  an  Lehrbüchern  der 
Physik  kaum  ein  Mangel  besteht.  Durch  die  vor- 
treffliche Verbindung  von  Klarheit  und  höchster 
Anschaulichkeit  mit  weitgehender,  auch  in  die 
quantitativen  Beziehungen  der  Erscheinungen  ein- 
dringenden Gründlichkeit  der  Behandlung  unserer 
physikalischen  Kenntnis  hat  Verf.  ein  Werk  ge- 
schaffen, das  in  gleicher  Weise  sowohl  für  den 
Schüler  als  den  Studierenden  eine  geeignete  Grund- 
lage für  das  physikalische  Studium  darstellt.  Der 
durch  zahlreiche  instruktive  Abbildungen  unter- 
stützte Hinweis  auf  die  durch  das  zweckbewußte 
Experiment  gewonnene  Erfahrung  bildet  überall 
den  Ausgang  der  Betrachtungen.  An  ihn  schließt 
sich  die  Ableitung  der  quantitativen  Zusammen- 
hänge,   die    selbst    dem  Schüler   auch    dort   kaum 


Schwierigkeiten  bereiten  dürfte,  wo  die  Elemente 
der  Infinitesimalrechnung  zu  Hilfe  genommen 
werden,  deren  innerer  Sinn  in  jedem  Einzelfall 
unmittelbar  erkenntlich  wird. 

Das  anerkennenswerte  Streben  nach  Vertiefung 
des  Inhalts  hat  es  notwendig  gemacht,  daß  das 
Lehrbuch  diesmal  in  zwei  Bände  geteilt  wurde. 
Der  erste,  umfangreichere  Band  konnte  vom  Verf. 
noch  kurz  vor  Kriegsausbruch  herausgegeben 
werden.  Gegenüber  der  vorhergehenden  Auflage 
ist  sein  Inhalt  wesentlich  erweitert  worden.  Hin- 
zugekommen ist  in  der  Mechanik  ein  neuer  Ab- 
schnitt über  die  „Kraftübertragung".  In  der  Lehre 
von  den  Flüssigkeiten  ist  das  Ebbe-  und  Flutproblem 
neu  und  die  Wirkungsweise  der  Turbinen  ein- 
gehender behandelt  worden.  Bei  den  luftförmigen 
Körpern  hat  die  Behandlung  des  Flugproblems 
eine  wesentliche  Erweiterung  erfahren.  Neu  be- 
arbeitet wurde  die  Oberflächenspannung  und  Ka- 
pillarität und  ein  Teil  der  Wärmelehre.  Wesent- 
liche Ergänzungen  hat  in  der  Optik  die  Photometrie, 
die  geometrische  Optik  durch  Betrachtung  der 
Abbildung  durch  zentrierte,  sphärische  Flächen 
und  die  physikalische  Optik  durch  eingehende 
Darstellung  der  Interferenzerscheinungen  erhalten. 
Im  Ganzen  ist  hierdurch  und  durch  eine  Reihe 
kleinerer  Änderungen  die  Zahl  der  Paragraphen 
um  28,  die  Zahl  der  Seiten  um  176,  die  Zahl 
der  Figuren  um  238  gegen  den  entsprechenden 
Teil  der  vorhergehenden  Auflage  vermehrt  worden. 

Die  Herausgabe  des  zweiten  Bandes  war  dem 
Verf.  leider  nicht  mehr  vergönnt.  Wenige  Monate 
nach  Ausbruch  des  Krieges  fiel  der  rastlose 
Förderer  des  physikalischen  Unterrichts  für  sein 
Vaterland.  Die  Vollendung  der  Neuherausgabe 
seines  Werkes  haben  in  dankenswerter  Weise 
einige  Fachgenossen  übernommen.  Veränderungen 
gegenüber  der  früheren  Auflage  wurden  nur  so- 
weit vorgenommen,  als  der  P'ortschritt  der  Wissen- 
schaft es  geboten  erscheinen  ließ.  Durch  die 
Neubearbeitung  der  Abschnitte  über  die  Luft- 
elekirizität,  die  Herr  Geitel  übernommen  hat, 
und  über  Röntgenstrahlen,  Radioaktivität  und  die 
F'unkenielegraphie,  die  Herr  H  i Hers  durchführte, 
ist  die  Elektrizitätslehre  im  wesentlichen  auf  den 
neuesten  Stand    der  Forschung    gebracht  worden. 

Möge  das  Lehrbuch  in  weitem  Umfange  im 
Sinne  seines  Verf.  ein  P'örderer  der  physikalischen 
Kenntnis  sein.  A.  Becker. 


A.  Legahn,  Psychologische  Chemie.  I.  Assi- 
milation. Sammlung  Göschen  1916. 
Das  vorliegende  Mndchen  der  Sammlung 
kann  dem  Mediziner  und  Nahrungsmittel-Chemiker 
als  kurzes  Repetitorium  der  physiologischen  Chemie 
beim  Studium  behilflich  sein.  Dem  Laien  ist 
diese  Darstellung  wegen  der  Zusammendrängung 
der  Tatsachen  auf  einen  sehr  engen  Raum  weniger 
zu  empfehlen.  v.  Brücke. 


28o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  20 


Anregungen  und  Antworten. 


Zu  der  russischen  VerviclfaUigungsmetbode.  In  Nr.  52 
des  vorigen  Jahrgangs  wurde  unter  der  Überschrift:  „Wie 
unsere  Feinde  rechnen"  Mitteilung  gemacht  über  Verviel- 
fältigungsmethoden  primitiver  Völker,  die  das  Einmaleins 
nicht  im  Kopfe  haben.  Für  die  serbische  Methode  wurde 
der  Beweis  der  Richtigkeit  gefunden  und  mitgeteilt,  für  die 
russische  aber  noch  keine  ausreichende  Erklärung.  .Als  Bei- 
spiel wurde  benutzt  das  Produkt  von  12  X  "■  Die  eine  Zahl 
wird  fortdauernd  halbiert  und  (unter  der  Vernachlässigung 
der  Bruchteile  einer  ganzen)  die  Quotienten  nebeneinander 
geschrieben.  Die  andere  Zahl  aber  wird  immer  verdoppelt 
und  die  Produkte,  zu  deren  Erzeugung  der  arithmetische 
Verstand  jener  Völkerschaften  ausreicht,  darunter  geschrieben. 
Also  im  vorliegenden  Falle : 

12  6  3  I 


II 


Reihe  die 


Dann    werden    ausschließlich    aus    der    unteren 
Zahlen,    die    unter  einer    ungeraden  der  oberen  Reihe  stehen, 
zusammengezählt  44  +  88=132  ist  das  gesuchte   Produkt. 

Zur  Erklärung  nun  das  Folgende:  Vervielfältigt  wird  ja 
auch,  nämlich  die  Zahl  11,  diesmal  hintereinander  mit  2,  also 
auch  mit  4  und  8.  Diese  beiden  letzten  P'aktoren  aber  sind 
zusammen  12  mit  der  vervielfältigt  werden  sollte.  Dies  ge- 
schieht also  bei  der  primitiven  Methode  nacheinander  anstatt 
auf  einmal.  Die  beiden  Produkte  sind  dann  einfach  zusammen- 
zuzählen. Was  bei  der  Methode  so  verblüffend  wirkt,  ist 
immer  die  Vernachlässigung  der  Halben  bei  der  fortgesetzten 
Teilung.  Man  meint,  aadurch  müsse  eine  Ungenauigkeit  ein- 
gelührt  werden,  und  es  könne  sich  im  Resultate  nur  um  eine 
Annäherung  handeln.  Aber  die  obere  Zahlenreihe  dient  ja 
nicht  zur  Rechnung,  sondern  nur  als  Index  für  diese,  die 
lediglich  in  der  unteren  Reihe  geschieht,  und  immer,  wenn 
oben  eine  Halbe  unter  den  Tisch  fällt,  dann  ist  auch  eine 
Ungerade  vorhanden,  die  die  darunter  stehende  Zahl  fi.xiert.  Die 
Anzahl  der  Stellen  wird  vermindert,  aber  es  findet  gewisser- 
maßen eine  Abschlagszahlung  statt. 

Nach  Besprechung  mit  einem  Fachmann  ')  scheint  mir  aber 
die  folgende  Erklärung  den  Vorzug  zu  verdienen. 

Wenn  es  Einer  in  Vervielfältigung  und  Teilung  nicht 
weiter  gebracht  hat,  als  mit  dem  Faktor  2  zu  operieren,  so 
ist  für  ihn  schon  7  X  ^  s'"  Zahlenrätsel.  Also  kommt  er, 
wenn  er  mit  seiner  Unwissenheit  einige  Genialität  verbindet, 
auf  den  Gedanken,  die  eine  Zahl  mit  2  zu  teilen,  die  andere 
zu  vervielfältigen.  Daß  Produkt  muß  ja  doch  dasselbe  bleiben. 
Der    algebraische    Ausdruck    für    diese    einfache   Wahrheit   ist 

y 
X  y  =  2  X    ^  ■ 

Tut  er  das  einmal,  so  hat  er  14X4.  womit  dem  Russen 
aber  noch  nicht  gedient  ist.  Tut  er  es  zweimal,  so  hat  er 
28  X  2.  Das  geht  schon  eher.  Aber  .am  leichtesten  ist  es, 
wenn  er  diese  einseitige  Vervielfältigung  und  Teilung  so  lange 
fortsetzt,  bis  durch  letztere  die  I  erreicht  ist.  Dann  ist  die 
vervielfältigte  Zahl  zugleich  das  gesuchte  Produkt. 

Auf  diese  Weise  erhält  man  eine  ganze  Reihe  von  Zahlen, 
die  wir,  wie  die  Russen  zu  tun  pflegen,  untereinander  schreiben 
wollen ,  und  von  denen  immer  die  obere  mit  der  unteren 
vervielfältigt,  dasselbe  Produkt  liefert: 


14 


2S 


5() 


Natürlich  sucht  mau  sich  unter  diesen  Zahlengruppen  die 
aus,  deren  einer  Faktor  eine  i  ist.  Da  gibt  es  nichts  mehr 
zu  rechnen,  da  die  andere  das  gesuchte  Produkt  selber  ist. 

Aber  so  einfach  ist  die  Sache  nur,  wenn  es  sich  um 
gerade  Zahlen  handelt.  Ungerade  kann  man  nicht  ohne 
Bruch  durch  2  teilen  und  auf  Bruchrechnungen  kann  sich  der 
nicht  einlassen,    der   im  Einmaleins    noch   nicht  zu  Hause  ist. 

Nehmen  wir  den  Fall  9X7- 

9,  durch  2  geteilt,  gibt  472.  Die  Russen  schreiben  in 
diesem  Falle  einfach  4  in  folgender  Reihe : 

9421 
7  14  28  56 

Nun  stimmt  die  Sache  nicht.  Denn  die  Endzahl  der 
unteren  Reihe  ist  wieder  56.  Welcher  Fehler  ist  gemacht, 
wie  kann  man  denselben  korrigieren? 

9  ist  durch  2  geteilt,  eine  I  ist  übrig  geblieben.  Diese 
wurde  vernachlässigt.  Sie  hätte  mit  der  darunterstehenden 
Zahl  vervielfältigt  werden  müssen,  i  X  7  =  7-  Und  dieser 
Fehler  schleppt  sich  durch  die  ganze  Reihe  und  mit  diesem 
Betrag  muß  die  Endzahl  also  vermehrt  werden,  wenn  das 
richtige  Ergebnis  erhalten  werden  soll.  Hier  haben  wir  also 
die  Erklärung  für  das  Zusammenzählen  der  unteren  Ziffern, 
die  unter  den  ungeraden  Zahlen  stehen. 

Nur  daß  die  Erklärung  noch  einer  Erweiterung  bedarf. 
Der  analoge  Fall  mit  der  9,  die  nicht  ohne  Bruch  durch  2 
teilbar  ist,  wiederholt  sich  auch  bei  der  Teilung  von  geraden 
Zahlen,  wie  z.  B.  bei  der  12  in  unserem  ersten  Beispiel,  nur 
nicht  am  Anfang,  sondern  in  der  Mitte  der  Reihe,  ja  bei  allen 
geraden  Zahlen,  die  nicht  wie  die  4,  die  8,  die  16:  Potenzen 
von  2  sind,  und  damit  wird  das  ganze  Verfahren  verständlich. 
Adolf  Mayer. 


')  Herrn  J. 


Dam,  Direktor  a.  D.  zu  De 


Literatur. 

Kobert,  Prof.  Dr.  R.,  Neue  Beiträge  zur  Kenntnis  der 
Saponinsubstanzen,  für  Naturforscher,  Ärzte,  Apotheker,  Medi- 
zinalbeamte usw.  I.     Stuttgart  '16,  F.  Enke.  —  7,60  M. 

S  a  c  h  s ,  Dr.  A.,  Die  Bodenschätze  der  Erde :  Salze,  Kohlen, 
Erze,  Edelsteine.  Zur  Einführung  lür  Laien  und  Studierende. 
Mit  6  Abbildungen.     Leipzig  und  Wien  '16,  Fr.  Deuticke. 

Sondermann-Dieringhausen,  Dr.  R.,  Die  Woh- 
nungsfrage im  neuen  Reiche.    München,  E.  Reinhardt.  —  50  Pf. 

— ,  Die  Bodentrage  im  neuen  Reiche.     Ebenda.  —   I  M. 

Voss,  A.,  Der  Botanikerspiegel  von  1905  und  1910, 
unwissenschaftlich  und  zweckwidrig,  weil  weder  denk-  noch 
folgerichtig.  Eine  Erinuerungsschrift  zur  10.  Jährung  des 
Todestages  (27.  Jan.  1907)  Dr.  O.  Kuntzes  usw.  Berlin  '17, 
Vossianthus  Verlag.  —  2  M. 

Palmaer,  Prof.  Dr.  M.,  Elektrolyse  von  Kochsalz- 
lösungen in  Verbindung  mit  der  Zelluloseindustrie.  Stuttgart 
'16,  F.  Enke.  —  3  M. 

Heller,  Dr.  G,,  Über  die  Konstitution  des  Anthranils. 
Stuttgart  '16,  F.  Enke.  —  3  M. 


Inhalte  Kurt  Krause,  Grundwasser  und  Quellen.  (18  Abb.)  S.  265.  —  Einzelberichte:  C.  Kelber,  Die  katalytische 
Hydrogenisation  organischer  Verbindungen  mit  unedlen  Metallen  bei  Zimmertemperatur.  {3  Abb.)  S.  275.  — 
Bücherbesprechungen:  Richard  Hertwig,  Lehrbuch  der  Zoologie.  S.  277.  S.  Killermann,  Die  Blumen  des 
heiligen  Landes.  S.  277.  Victor  Michels,  Goethe  und  Jena.  S.  27S.  Heinrich  Danneel,  Elektrochemie.  S.  278. 
Rud^olf  Vetter,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  analytischen  Eigenschaften  der  Kohlenstoffmodifikationen  und  orientierende 
Versuche  über  ihre  Entstehungsbedingungen.  S.  278.  O.  Warburg,  Die  Pflanzenwelt.  S.  27S.  E.  Grimsehl, 
Lehrbuch  der  Physik.  S.  279.  A.  Legahn,  Psychologische  Chemie.  S.  279.  —  Anreguungen  und  Antworten: 
Zu  der  russischen  Verviellältigungsmethode.  S.  280.   —  Literatur:  Liste  S.  280. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstra.ße  42, 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


erbeten 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


Sonntag,  den  27.  Mai  1917. 


Nummer  21. 


Tanzende  Fliegen. 


[Nachdruck  verboten. |  Von    Dr.   F. 

Es  vergeht  kein  Jahr,  in  dem  nicht  von 
massenhaft  auftretenden  Insekten  berichtet  wird. 
Bald  sind  es  Heuschrecken  oder  Libellen,  bald 
Eintagsfliegen,  bald  Schmetterlinge  wie  Schwamm- 
spinner, Nonne  und  Weißlinge,  oder  Stechmücken, 
Ameisen,  Maikäfer,  Läuse,  die  in  ungewohnter  Zahl 
erscheinen  und  in  der  Tagespresse  Erwähnung 
finden.  Dazu  kommt  aber  noch  eine  große 
Zahl  anderer,  die  in  wissenschaftlichen  Abhand- 
lungen eine  wichtige  Rolle  spielen.  Schildläuse, 
Wanzen,  Wicklerarten,  Motten  und  allerlei  Käfer 
vermehren  sich  zu  manchen  Zeiten  außerordent- 
lich rasch  und  zahlreich  und  richten  trotz  ihrer 
geringen  Größe  empfindlichen  Schaden  an  den 
Kulturgewächsen  an.  Einen  oberflächlichen  Be- 
griff von  der  Menge  solcher  Bestandsverderber  gibt 
die  Abschätzung  des  von  ihnen  verursachten 
Schadens.  Die  Nonne  hat  von  1845—67  in 
Rußland  183  Millionen  Raummeter  vernichtet. 
Der  Maikäfer  entzieht  in  Frankreich  dem  Staate 
jährlich  etwa  250  Millionen  Fr.,  in  den  Haupt- 
flugjahren sogar  eine  Milliarde.  Im  Jahre  1906 
verursachte  der  Heu-  und  Sauerwurm ,  eine 
Wicklerart ,  in  den  Weinbergen  der  Pfalz  einen 
Verlust  von  mindestens  8  Millionen  M.  Die  Reb- 
laus kostete  dem  Staat  vom  Jahre  1874,  wo  sie 
vereinzelt  zum  ersten  Male  in  Deutschland  auf- 
trat, bis  1890  schon  2850000  M.,  bis  191O  sogar 
22,5  Mill.  M. 

In  manchen  Fällen  bleiben  die  Schädlinge  nicht 
seßhaft;  Nahrungsmangel  oder  Instinkt  treibt  sie 
weiter,  sie  vereinigen  sich  mit  neuen  Scharen  anderer 
Gebiete  und  so  entstehen  Wanderzüge,  die  oft 
weite  Strecken  durchmessen.  Die  Heuschrecken 
sind  hierfür  ein  Schulbeispiel.  Auch  der  Heer- 
wurm, die  Prozession  zahlreicher  Larven  der 
Mücke  Sciara  Thomae  L.  hat  eine  gewisse  Be- 
rühmtheit erlangt. 

Andere  Insekten  treten  regelmäßig  zu  ge- 
wissen Zeiten  in  großer  Zahl  in  Schwärmen  auf, 
wie  die  Bienen  und  Ameisen,  wenn  sie  zur 
Stockerneuerung  schreiten.  Verläßt  der  Vor- 
schwarm  den  Bienenstock,  um  sich  eine  neue 
Behausung  zu  suchen,  so  ist  dies  nichts 
anderes  als  die  Gründung  eines  neuen  Staates, 
denn  es  bleibt  die  junge,  noch  unbefruchtete 
Königin  mit  der  anderen  Hälfte  der  Arbeiterinnen 
und  Drohnen  im  alten  Bau  zurück. 

Ei^ne  andere,  diesem  Vorgang  ähnliche  Art 
von  Schwärmen  können  wir  wahrnehmen,  wenn 
die  junge  Bienenkönigin  ihren  Begattungsausflug 
macht.  Wie  die  brünstigen  Hummelmännchen 
an  besonderen  Stellen  sich  vereinigen,  um  im 
Spiele  auf  begattungslustige  Weibchen  zu  warten. 


Stellwaag. 

so  wurden  schon  mehrmals  über  hohen  Bäumen 
oder  Anhöhen  gewisse  Sammelstellen  der  Drohnen 
beobachtet,  die  von  der  Königin  im  Hochzeitsfluge 
aufgesucht  werden.  Nach  H.  von  Büttel- 
Reepen  stellte  der  Amerikaner  Doolittle 
tausende  von  Männchen  an  einem  solchen  Be- 
fruchtungsplatze fest,  andere  Beobachter  wieder 
fanden  zahlreiche  Drohnen,  die  enggedrängt 
in  dichtesten  Schwärmen  durch  die  Luft 
Schossen. 

Alle  Fälle  werden  ganz  allgemein  als  Schwärme 
bezeichnet,  sie  sind  aber  eine  Summe  verschieden- 
artigster Erscheinungen.  Die  außergewöhnliche 
Häufung  der  Einzelwesen  ist  es  allein,  was  ihnen 
allen  gemeisam  ist,  die  Ursachen  aber  sind  von 
Fall  zu  Fall  verschieden. 

Der  Grund  für  Massenauftreten  von  Insekten 
liegt  oftmals  in  einer  Störung  jener  unüberseh- 
baren und  bis  in  alle  Einzelheiten  wohl  unergründ- 
lichen Zahl  natürlicher  Faktoren,  die  miteinander 
in  engster  Beziehung  stehen,  wie  die  Knoten  eines 
Netzes.  Günstige  Vermehrungsbedingungen  für  die 
eine  Tierart,  ungünstige  für  ihre  Feinde,  Nahrungs- 
überfluß, vermehrte  Brutgelegenheit,  sind  auffälligere 
Ursachen  aus  der  großen  Summe.  Wie  schon  er- 
wähnt, kann  auch  Nahrungsmangel  die  Tiere  eines 
Gebietes  vertreiben  und  zu  anderen  der  gleichen 
Art  führen,  Licht  kann  sie  anlocken  und  zur  Ei- 
ablage in  der  Nähe  veranlassen  oder  andere  physi- 
kalische oder  klimatische  Schwankungen  können 
ihren  Einfluß  geltend  machen.  Jedenfalls  ist  hier 
das  Massenauftreten  auf  anormalen  Bedingungen 
begründet. 

Daneben  gibt  es  aber  auch  Ansammlungen, 
ohne  daß  der  Komplex  der  biologischen  Be- 
ziehungen gestört  ist.  Hier  liegt  die  Ursache 
in  der  Fortpflanzung,  wie  dies  oben  von  der 
Biene  gestreift  wurde.  Es  sind  echte  Schwärme, 
deren  Auftreten  eng  mit  der  biologischen  Eigen- 
art der  betrefi^enden  Spezies  verknüpft  ist.  Ihnen 
gegenüber  wird  die  Anhäufung  zahlreicher  Indi- 
viduen der  gleichen  oder  verwandter  Arten  zum 
Zwecke  der  Begattungsvorspiele  besser  als  Tanz 
bezeichnet. 

Während  bei  den  meisten  Insektenordnungen 
massenhafte  Anhäufungen,  Wanderzüge  und 
Schwärme  bekannt  sind  und  Tänze  nur  eine 
ganz  untergeordnete  Rolle  spielen,  sind  gerade 
bei  den  Dipteren  Tänze  in  ganz  großartigem 
Maßstabe  verbreitet. 

Mückentänze  hat  wohl  jeder  schon  an  warmen 
Sommerabenden  im  Freien  in  der  Nachbarschaft 
von  Weihern  oder  Sümpfen  beobachtet.  Die  Zahl 
der  Individuen,  die  dabei  beteiligt  sind,  kann  außer- 


282 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


ordenthch  schwanken  und  von  wenigen  bis  in  die 
Tausende  und  Millionen  gehen.  Es  ist  nicht  ver- 
wunderlich, daß  über  besonders  auffällige  Vor- 
kommnisse schon  eine  ganze  Literatur  zusammen- 
gekommen ist.  Die  Angaben  aus  dem  Jahre  1767 
bis  1871  hat  seinerzeit  Weyerberg  in  seiner 
kleinen  nicht  allgemein  bekannten  Abhandlung 
über  Fliegenschwärme  gesammelt.  Er  führt  Tänze 
von  geradezu  unglaublichem  Umfang  an.  Ein 
solcher  wurde  unter  anderem  1807  am  Turm  der 
Mariakirche  in  Neubrandenburg  beobachtet.  An- 
fangs glaubte  man,  es  sei  im  Turm  ein  Brand 
ausgebrochen  und  da  viel  Schießpulver  in  der 
Kirche  aufbewahrt  wurde,  verließen  viele  Ein- 
wohner sogleich  die  Stadt.  Auch  der  Turm  der 
Nicolaikirche  in  Hamburg  schien  im  Juni  1858  in 
Rauchwolken  gehüllt  zu  sein. 

Solche  Tänze  führen  besonders  die  Gattungen 
Culex  und  Chironomus  aus.  Es  sind  bald  dichte, 
bald  lockere  Verbände,  die  sich  gern  über  her- 
vorragenden Punkten  der  Landschaft  bewegen. 
Weyerberg  führt  eine  Reihe  anderer  Fliegen 
an,  die  nicht  nur  im  Freien,  sondern  auch  in  ge- 
schlossenen Räumen,  mit  Vorliebe  unter  Kuppeln 
tanzen.  Es  beteiligen  sich  daran  Vertreter  der 
Gattungen  Musca,  Chlorops  und  Pollenia.  Während 
er  die  Mückenschwärme  als  gemeinschaftliche 
Hochzeitsreisen  nach  den  höheren  Regionen  der 
Luft  betrachtet,  fehlt  ihm  jede  Erklärung  für  das 
Auftreten  dieser  Fliegenschwärme,  die  sich  fast 
zu  jeder  Jahreszeit  zeigten.  „Weder  die  veran- 
lassende, noch  die  vorbestimmende  Ursache  dieser 
Erscheinungen  ist  bekannt  und  ihre  biologische 
Deutung  daher  viel  schwieriger  als  bei  den  Mücken- 
schwärmen." 

Das  Problem  der  Fliegentänze  hat  neuerdings 
Gruhl  (Zeitschr.  für  wissensch.  Insektenbiologie 
1916)  untersucht.  Er  hat  die  verschiedenen  Tänze 
studiert  und  ihr  genetisches  Zustandekommen 
aufzuklären  versucht.  Nach  ihm  ist  ein  be- 
stimmter Zusammenhang  mit  dem  Fortpflanzungs- 
geschäft unverkennbar,  denn  nur  die  Männchen 
führen  im  allgemeinen  Tänze  aus. 

Ähnliche  Massentänze,  wie  sie  Culex  und 
Chironomus  darbieten,  stellte  Gruhl  auch  bei 
gewissen  Phoriden  und  Homalomyia  fest.  Auf- 
falligerweise  haben  die  Einzeltiere  stets  die  gleiche 
Richtung,  sie  nehmen  gewissermaßen  eine  be- 
stimmte Front  ein.  Da  diese  Orientierung  auch 
bei  Windstille  besteht,  wird  die  Front  nicht  von 
Luftströmungen  verursacht,  obwohl  natürlich 
starker  Wind,  dem  die  leichtbeschwingten  Wesen 
preisgegeben  sind,  die  Individuen  veranlaßt,  sich 
gegen  ihn  einzustellen  und  also  sich  ebenfalls 
gleichsinnig  zu  orientieren.  Bald  zeigen  die 
Schwärme  eine  gewisse  Ruhe,  bald  sind  die 
Teilnehmer  lebhafter,  manchmal  geht  durch  die 
Masse  eine  stürmische  Bewegung.  Auf  und  ab, 
vor  und  zurück  geht  es  in  unberechenbarem 
Flug,  aber  stets  so,  daß  die  allgemeine  Front  sich 
nicht  verändert.  Nicht  immer  bleibt  die  eigen- 
artige   Wolke    an    bestimmter    Stelle    stehen,    sie 


kann  sich  heben  und  senken,  ja  größere  Strecken 
zurücklegen.  So  verfolgen  sie  den  Menschen,  der 
unter  sie  geraten  ist,  ein  gutes  Stück  Weges. 

Für  die  Beurteilung  der  Tänze  ist  das  Be- 
nehmen der  Hydrotaea-Arten  von  Bedeutung. 
Die  Tiere  drängen  sich  hier  nicht  so  dicht  zu- 
sammen, wie  eben  geschildert  wurde,  dafür  aber 
haben  die  Schwärme  große  Ausdehnung.  Natur- 
gemäß geht  dadurch  auch  die  Fähigkeit,  sich  als 
Ganzes  zu  bewegen,  verloren.  Trotzdem  bleibt 
die  gleiche  Front  erhalten. 

Die  Einzeltiere  schweben  oft  längere  Zeit  an 
bestimmter  Stelle,  plötzlich  aber  beginnt  ein 
merkwürdiger  Zickzackflug,  ein  hastiges  Jagen 
und  die  Fliege  erscheint  an  benachbarter  Stelle 
im  Schwebeflug.  Im  Gegensatz  zu  Chironomus 
wird  der  Flug  von  Zeit  zu  Zeit  unterbrochen  und 
das  Tier  macht  eine  Ruhepause,  indem  es  sich 
auf  ein  Blatt  oder  einem  anderen  Stützpunkt 
niederläßt.  Ein  solcher  Tanz  kann  sich  also  aus 
drei  Phasen  zusammensetzen :  einem  Schwebeflug, 
einem  jagenden  Zickzackflug  und  einer  Ruhe- 
pause. Aus  ihm  lassen  sich  die  verschiedenen 
Arten  von  Fliegentänzen  ableiten. 

Größere  Museiden  jagen  stürmisch  ohne  Front, 
geradezu  richtungslos,  andere  wieder  führen  mit 
kleineren  Unterbrechungen  nur  kurze  Sprünge 
aus  wie  Chloropsarten,  während  unsere  Stuben- 
fliege und  Homalomyia  einen  eigenartigen  lang- 
samen Schwimmflug  bevorzugen,  der  plötzlich 
durch  rasche  VVinkelflüge  unterbrochen  wird.  Die 
Front  braucht  dabei  nicht  allen  Tieren  gemeinsam 
zu  sein,  doch  ist  ein  Wechsel  offenbar  von  Luft- 
strömungen abhängig,  wobei  die  Stirne  gegen 
den  Wind  gerichtet  wird. 

Schwankt  schon  bei  den  Massentänzen  die 
Individuenzahl,  so  werden  die  Schwebetänze  nur 
von  wenigen  oder  einzelnen  Individuen  ausgeführt. 
Wie  unbeweglich  stehen  sie  in  der  Luft,  so  rasch 
mit  den  Hügeln  schlagend,  daß  deren  Bewegungen 
gar  nicht  wahrgenommen  werden  können.  Mit 
plötzlichem  Ruck  scheinen  sie  verschwunden  zu 
sein,  kehren  aber  mit  Sicherheit  wieder  an  ihre 
alte  Balzstelle  zurück,  um  neuerdings  unermüdlich 
weiter  zu  tanzen. 

Nicht  alle  Dipterenmännchen  führen  echte 
Tänze  aus,  manche  werben  um  das  Weibchen 
ohne  besondere  Flugleistungen.  Diese  Balzspiele 
werden  bei  Beteiligung  des  Weibchens  und  in 
dessen  unmittelbarer  Nähe  ausgeführt.  Alle 
anderen  Liebesspiele  sind  als  Tänze  oder  Reigen 
zu  bezeichnen.    Gruhl  teilt  sie  folgendermaßen  ein. 

A.  Einzeltänze  oder  Tänze  schlechthin.  Jedes 
Männchen  tanzt  für  sich. 

1.  Schwebetanz.  Die  Männchen  schweben 
allein  oder  in  sehr  geringer  Anzahl  in  der  Luft.  — 
Voluzella,  Melanostoma. 

B.  Massentänze,  Reigentänze  oder  Reigen.  Die 
Männchen  tanzen  im  Verbände. 

2.  Richtungsreigen,  Frontreigen.  Alle  Männchen 
haben  die  gleiche  Richtung  oder  Front;  die  Be- 
wegung ist  teils  sehr  lebhaft,  teils  ruhig  schwebend. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


283 


Der  Schwärm  bewegt  sich  als  zusammen- 
gehöriges Ganze.  —  Chironomiden ,  Phoriden, 
Homalomyia. 

3.  Schwebereigen.  Wie  beim  Richtungsreigen 
besteht  eine  Front,  jedoch  sind  die  Schwärme 
ungemein  ausgedehnt  und  bewegen  sich  nicht  als 
Ganzes.  Ruhiges  Schweben  tritt  mehr  in  den 
Vordergrund.  —  Hydrotaea,  Tabanus. 

4.  Schwimmflugreigen.  Die  Hauplbewegung 
ist  der  schwimmende  Fhig  in  gebrochener  Linie.  — 
Homalomyia. 

5.  Sturmreigen.  Nur  stürmisches  Jagen,  ohne 
Front;  hält  nicht  lange  an. 

6.  Bewegungsreigen,  Gegenreigen.  Ein  fort- 
währendes Jagen  in  zwei  entgegengesetzten  Rich- 
tungen, für  welche  bestimmte  Bahnen  innegehalten 
werden.  Bewegung  in  horizontaler  Ebene.  — 
Empiden. 

7.  Eintagsfliegenreigen.  Wie  die  Eintagsfliegen 
steigt  jedes  Tier  für  sich  auf  und  nieder. 

8.  Sprungreigen.  Einzelne  kurze  Sprünge  vom 
Stande  oder  Laufen  aus.     Chlorops. 

Die  Entwicklung  der  verschiedenen  Tänze  aus 
primitiven  Anfängen  und  aus  den  einfachen  Balz- 
spielen stellt  der  spekulativen  Untersuchung 
eine  schwierige  Aufgabe.  Leichter  ist  es,  die 
einzelnen  Arten  von  Balzspielen,  die  in  Gegen- 
wart der  Weibchen  aufgeführt  werden,  auf  die 
kurzen  Vorbereitungen  zur  Begattung  zurückzu- 
führen. Ich  will  darauf  nicht  näher  eingehen 
und  lieber  die  Entwicklung  der  Tänze  und  Reigen 
schildern,  wie  sie  G  r  u  h  1  sich  vorstellt. 

Er  geht  davon  aus,  daß  das  Männchen  das 
von  ihm  erwählte  Weibchen,  das  der  Begattung 
noch  nicht  geneigt  ist,  im  Fluge  verfolgt.  Ahn- 
liche Verfolgungsflüge  werden  auch  von  Männchen 
ausgeführt,  die  vorüberfliegenden  Weibchen  nach- 
stellen. Dies  ist  eine  nicht  nur  bei  Fliegen  wie 
Calliphora  bekannte  Erscheinung.  Ich  habe  schon 
mehrmals  Männchen  verschiedener  i  lymenopteren- 
arten  besonders  von  Hummeln  beobachtet,  wie 
sie  einzeln  oder  in  Gesellschaft  um  einen  hervor- 
ragenden Punkt  im  Sonnenschein  spielten  und 
vorüberfliegende  Weibchen  oder  auch  andere 
Insekten  eine  Zeitlang  verfolgten ,  um  dann  an 
ihren  ursprünglichen  Platz  wieder  zurückzukehren. 
Sicherlich  ist  ein  solches  Gebahren  eine  Äußerung 
des  Geschlechtstriebes  (wenn  es  auch  manchmal 
stark  an  willkürliche  Spielereien  erinnert),  da  auch 
die  Begattung  im  P"luge  stattfindet.  Wie  bei 
meinen  Beobachtungen  werden  die  Verfolgungs- 
flüge bei  Calliphora  und  Anthomyia  von  mehreren 
Männchen  unternommen  und  auch  von  Ruhepausen 
unterbrochen.  Verschwinden  die  Pausen,  so  ent- 
steht ein  typischer  Sturmreigen.  Eine  ruhigere 
gesellige  Verfolgung  wäre  als  Schvvimmflugreigen 


aufzufassen.  Die  Tatsache,  daß  bei  Homalomyia 
Schwimmflüge  und  Frontreigen  nebeneinander 
vorkommen,  legt  die  Vermutung  nahe,  daß  sich 
der  Frontreigen  aus  den  ersteren  entwickelt  hat. 
Von  hier  aus  ist  zum  Schwebetanz  kein  großer 
Schritt  mehr. 

Mag  nun  der  Schwebereigen  auf  diesem  Wege 
aus  dem  Verfolgungsflug  entstanden  sein,  oder 
von  dem  Schwebetanz  einzelner  Individuen  oder 
dem  Eintagsfliegentanz  seinen  LTrsprung  genommen 
haben,  so  dürften  doch  diejenigen  Reigentänze  als 
die  höchststehenden  aufzufassen  sein ,  die  wie 
Schwebe-  und  Richtungsreigen  eine  gemeinsame 
P'ront  aufweisen  und  von  zahlreichen  Teilnehmern 
ausgeführt  werden. 

Die  hier  geschilderten  vielgestaltigen  Reigen 
und  Tänze  bieten  dem  aufmerksamen  Beobachter 
genug  Anziehendes  und  Beachtenswertes.  Und 
doch  kommen  im  einzelnen  noch  eigenartigere 
Züge  vor.  So  schildern  Aldrich  und  Turley, 
daß  gewisse  Tanzfliegen  oder  Empiden,  von  denen 
oben  bei  dem  Hinweis  auf  den  Gegenreigen  die 
Rede  war,  die  Gewohnheit  haben,  während  des 
Reigens  Fäden  zu  spinnen.  Bei  der  Art  Hilara 
sartor  Bec.  ergreifen  die  Männchen  die  aus  der 
Mundöffnung  austretenden  Gespinstfäden  mit  den 
Mittel-  und  Hinterbeinen  und  verweben  sie  zu 
kleinen  Schleierchen.  Es  muß  einen  merk- 
würdigen Anblick  darbieten,  wenn  zahllose  solcher 
Webekünsiler  in  der  Luft  auf  und  nieder  tanzen 
und  ihr  opalglänzendes  Schleierchen  ausbreiten. 
Eine  amerikanische  Art  Empis  hoplitea  Loew 
spinnt  sogar  ganze  Ballen,  die  wie  große  Ballons 
beim  Tanze  mitgeführt  werden.  Welchen  Zweck 
die  Männchen  damit  verfolgen,  ist  noch  nicht  auf- 
geklärt. 

Begattungsspiele  und  Tänze  sind  nicht  nur 
von  Fliegen,  sondern  auch  von  vielen  anderen 
Tieren,  Spinnen,  Säugetieren,  Vögeln  und  sogar 
von  Amphibien  bekannt.  Stets  werden  sie  von 
Männchen  ausgeführt,  während  das  umworbene 
Weibchen  ruhig,  ja  manchmal  wie  stumpfsinnig 
zusieht.  Merkwürdigerweise  wurde  nun  gerade 
wieder  bei  Empiden  beobachtet,  daß  das  Weib- 
chen vor  der  Begattung  eigenartige  Tänze  auf- 
führt. Die  auch  bei  uns  vorkommende  Empis 
borealis  L.  tanzt  im  Juni  in  lockeren  Verbänden 
im  Sonnenschein,  um  auf  die  begattungslustigen 
Männchen  zu  warten.  Diese  erscheinen  auch  bald 
und  jedes  trägt  zwischen  den  Mittelbeinen  irgend- 
ein Insekt  als  Beutestück.  Die  Begattung  wird 
nicht  im  Fluge,  sondern  auf  einem  Ruheplatz  aus- 
geführt, wobei  das  Weibchen  das  ihm  dargebrachte 
Hochzeitsgeschenk  verzehrt.  Dieser  Vorgang  ist 
um  so  auffallender,  als  die  Empiden  sonst  niemals 
Blut  saugen  noch  sich  von  Insekten  ernähren. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


[Nachdruck  verboten.] 

England  hat  einen  schweren  Preis  für  diesen 
Krieg  zu  zahlen:  zu  allem  übrigen  gehen  ihm 
nun  auch  noch  die  letzten  Reste  seines  Waldes 
verloren.  Nicht  wie  in  Frankreich  fallen  die 
Wälder  den  unmittelbaren  kriegerischen  Ereig- 
nissen zum  Opfer,  wohl  aber  gehen  sie  zugrunde, 
weil  England  bedenklichsten  Mangel  an 
Holz  leidet.  Daß  der  Krieg  so  lange  dauern 
und  so  maßlose  Anstrengungen  erfordern  würde, 
hatte  kein  britischer  Staatsmann  gedacht. 

Schon  seit  die  deutsche  Regierung  im  November 

19 14  Holz  für  Bannware  erklärte,  wurde  die  Ver- 
sorgung Englands  mit  Holz  bedenklich.  Einer 
ganzen  Anzahl  von  Gewerbezweigen  begann  der 
Rohstoff  zu  fehlen,  die  Papierfabriken  erhielten 
nicht  mehr  genug  Holzpapiermasse,  für  die 
Kriegsindustrien  fehlte  es  an  Holz,  so  daß  bei- 
spielsweise die  Flintenschäfte  bereits  nach  kurzer 
Zeit  nicht  mehr  aus  amerikanischem  Nußbaum, 
sondern  aus  Mahagoni  angefertigt  werden  mußten, 
das  für  verschiedene  Luxusindustrien  in  England 
lagerte.  Selbst  im  englischen  Haushalt  machte 
sich  der  Holzmangel  so  fühlbar,  daß  für  das  An- 
zünden der  Kamine  Brennholz    bereits    im  Januar 

191 5  nicht  nur  zu  wesentlich  höheren  Preisen, 
sondern  vielfach  überhaupt  nicht  mehr  zu  haben 
war.  Die  kleinen  Läden ,  in  denen  es  verkauft 
wird,  konnten  regelmäßige  Lieferungen  von  den 
Großhandlungen  nicht  mehr  erhalten ;  das  rohe 
und  verhältnismäßig  schlechte  Holz,  das  man 
dafür  verwendet,  kommt  meist  aus  dem  Ausland. 
Eine  Reihe  von  Schulen,  namentlich  auf  dem 
Lande,  mußte  wegen  gänzlichen  Mangels  an 
Heizstoffen  geschlossen  werden.  Selbst  wenn  in 
England  noch  Vorräte  bestimmter  Hölzer  vor- 
handen waren ,  so  konnten  sie  vielfach  infolge 
der  Frachtenstauung  ihren  Bestimmungsort  nicht 
oder  erst  nach  vielen  Monaten  erreichen.  Auch 
die  härtesten  und  feinsten  Holzarten,  die  ur- 
sprünglich auf  den  Lagern  reichlich  vorhanden 
waren ,  gingen  schnell  auf  die  Neige,  zumal  da 
sie  —  wie  in  dem  erwähnten  Falle  —  für  andere 
Zwecke  verwendet  werden  mußten. 

Für  Kriegszwecke  fehlte  es  binnen  kurzem 
bedenklich  an  den  wichtigsten  Hölzern.  Bei 
Ausbruch  des  Krieges  hatten  z.  B.  die  staatlichen 
Werften  in  Dover  und  Portsmouth  nur  sehr  un- 
bedeutende Vorräte  an  Kiefern-,  Eichen-,  Eschen- 
und  Fichtenholz.  Ferner  mangelte  es  bald  an 
dem  für  die  Kohlenbergwerke  nötigen  Grubenholz, 
das  größtenteils  eingeführt  zu  werden  pflegt. 

Der  Erklärung  der  deutschen  Re- 
gierung vom  17.  November  1914,  fortan 
Gruben-  und  Papierhölzer  als  Feuerungsstoffe 
und  daher  als  Kriegsbannware  anzusehen, 
folgte  die  Tat;  über  die  Ostsee  wurde  kein 
Schiff  mehr  gelassen,  das  Holz  als  Kriegsbannware 
führte.  Verschiffungen  nach  neutralen  Ländern 
wurden  nicht  gestört,  beispielsweise  nicht  die  er- 


Die  Yeruichtiing  des  englischen  Waldes. 

Von  Dr.  Ernst  Schultze. 

hebliche  schwedische  Holzausfuhr  nach  Holland, 
—  sobald  die  staatliche  Versicherung  abgegeben 
wurde,  daß  es  sich  um  Lieferungen  für  neutrale 
Empfänger  handelte.  Die  Holzausfuhr  Norwegens 
wurde  anfangs  noch  weniger  gestört  als  die 
Schwedens.  Dennoch  litten  die  englischen  Kohlen- 
bergwerke unter  der  Ostseesperre  empfindlich. 

Großbritannien  suchte  seinen  Holzbedarf  nun 
namentlich  in  Amerika  zu  decken.  Im  P'rühling 
1915  nahmen  im  Hafen  von  Brooklyn  gleichzeitig 
45  -Segelschiffe  Holzladungen  ein,  von  denen  die 
meisten  für  England  bestimmt  waren.  Aus  Angst 
vor  deutschen  Unterseeboten  griff  man  zu  ver- 
schiedenen Mitteln :  so  glaubten  die  Holzausfuhr- 
händler von  Louisiana  nach  einer  Mitteilung  des 
Direktors  der  „Great  Southern  Lumber  Company" 
die  Lösung  dadurch  gefunden  zu  haben,  daß  man 
mehr  als  ein  Dutzend  alter  norwegischer  Segel- 
schiffe pachtete,  für  die  ihrer  Ansicht  nach  die 
Deutschen  ihre  Torpedos  nicht  verschwenden 
würden.  Einige  Holzfirmen  in  Louisiana  und 
Mississippi  hatten  Auftrag,  50  Millionen  Raumfuß 
Yellow-pine  zu  liefern. 

Auch  Frankreich  ist  an  den  Holzbestellungen 
in  Nordamerika  beteiligt,  jedoch  in  weit  geringerem 
Grade  als  England.  Letzteres  sucht  sich  sogar 
aus  dem  holzarmen  Spanien  Buchenholz  zu 
verschaffen,  da  die  Zufuhr  aus  den  Ostseeländern 
durch  den  Krieg  abgeschnürt  war,  während  die 
Nachfrage  besonders  stark  wurde;  nun  sollte  ein 
etwa  80  Geviertkilometer  großer  Wald  in  Spanien 
mit  bedeutenden  Buchenbeständen  gepachtet 
werden,  wodurch  England  eine  Linderung  seiner 
Holznot  erhoffte. 

Aber  alle  diese  Mittel  reichen  nicht  —  England 
muß  auch  aus  der  eigenen  National- 
wirtschaft hergeben,  was  gebraucht  wird  — 
ohne  Rücksicht  auf  die  vernichtenden 
WirkungendiesesRaubbaus.  So  zermalmt 
die  Faust  des  Krieges  den  letzten  Rest  dessen, 
was  man  in  England  an  Wäldern  stehen  gelassen 
hatte.  Viel  war  dies  an  sich  schon  vor  dem 
Kriege  nicht.  England  hat  wenig  Holz  mehr  —  ja 
es  besitzt  nicht  einmal  geschulte  Holzfäller  genug. 
Deshalb  tun  kanadische  Soldaten  diesen 
Dienst,  indem  sie  in  England  wie  in  Schottland 
die  britischen  Waldungen  sachgemäß  niederlegen. 
Übt  doch  ein  großer  Teil  dieser  Kanadier  von 
Hause  aus  den  Beruf  des  Holzfällers  oder  des 
Forstarbeiters.  Lieber  wäre  es  England  ja,  könnte 
es  das  nötige  Holz  aus  Kanada  einführen  —  nur 
ist  das  infolge  der  stets  wachsenden  Frachtraumnot 
ganz  unmöglich. 

So  wird  denn  ein  Wald  nach  dem  anderen 
in  England  niedergelegt.  Vor  kurzem  mußte  der 
Park  von  Windsor  daran  glauben,  der  allen 
Londonern  teuer  war.  Er  bedeckte  730  Hektar, 
der  Holzgehalt  des  zum  Niederschlagen  verur- 
teilten Teiles   wurde    von    dem   Unternehmer   auf 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


285 


mehr  als  i  Million  Raummeter  Bauholz  veran- 
schlagt. Um  den  Wald  schnell  und  sachgemäß 
niederzuschlagen,  fehlten  indessen  sogar  die 
nötigen  Werkzeuge  und  Maschinen.  Man  bezog 
sie  aus  Kanada.  Und  nun  kreischten  die  Sägen, 
um  die  prächtigen  Bäume  zu  zerkleinern  und  die 
Holznot,  unter  der  England  leidet,  ein  wenig  zu 
lindern.  Statt  daß  die  Bäume  von  Windsor  weiter 
ihre  Äste  in  den  Himmel  strecken  dürfen,  werden 
sie  nun  zu  Brettern  und  Pfählen  aller  Art  für 
militärische  Anlagen  verarbeitet,  zu  Schwellen  für 
Hisenbahnen,  vor  allem  auch  zu  Grubenholz,  an 
dem  es  bitterlich  fehlt. 

England  beraubt  sich  damit  einer  unersetzlichen 
Naturschönheit.  Früher  besaßen  die  Waldungen 
dort  bedeutende  Ausdehnung.  Carlyle  hat  oft 
darüber  geklagt,  daß  die  dunklen  VVälder,  von 
denen  das  Land  ehemals  bedeckt  war,  beinahe 
völlig  verschwunden  sind.  Einstmals  rauschte 
Schottland  „zottig  und  laubreich  wie  ein  feuchter, 
schwarzer  amerikanischer  Urwald".  Jetzt  dagegen 
bedecken  nur  noch  dessen  dichte  Überreste  in  der 
Gestalt  von  Torf  den  Boden.  Manchmal  finden 
sich  darin  ungeheure  Eichenklötze. 

Mit  der  zunehmenden  Ausbreitung  der  Land- 
wirtschaft wuchs  auch  der  Viehstand,  und  im 
Frühling  fraß  das  Vieh  die  neuen  Schößlinge  ab. 
Die  alten  Bäume,  die  nur  eine  gewisse  Lebens- 
dauer besitzen,  starben  allmählich  ab,  und  ohne 
daß  man  darauf  achtete,  hörte  der  Wald  zu  be- 
stehen auf. 

Vor  dem  Kriege  betrug  die  von  Wald  be- 
standene Fläche  in  den  einzelnen  Teilen 
des  Inselreichs  nur  noch:  5,3  7o  '"  England,  4,6"/,, 
in  Schottland,  3,9"/,,  in  Wales,  1,5%  in  Irland. 
Größere  Strecken  alten  Waldes  findet  man  nur 
noch  im  schottischen  Hochlande.  Was  in  England 
und  Irland  an  Waldungen  besteht,  ist  meistens 
Anpflanzung  aus  neuerer  Zeit.  Das  Holz,  das  in 
dem  feuchten  und  nicht  kalten  Klima  Groß- 
britanniens wächst,  ist  zum  Teil  von  vorzüglicher 
Art.  Werden  doch  besonders  englische  Eichen 
im  Schiffbau  sehr  geschätzt.  Dabei  ist  es  für 
England  noch  ein  besonderes  Glück,  daß  es 
großen  Reichtum  an  Steinkohlen  besitzt,  so  daß 
man  Holz  als  Feuerungsstoff  nicht  zu  verwenden 
braucht. 

Im  Mittelalter  wurden  die  Schmelzöfen 
hier  wie  in  Deutschland  mit  Holz  gefeuert. 
Allmählich  trat  infolgedessen ,  verstärkt  durch 
das  angedeutete  Vordringen  der  Landwirtschaft, 
in  gewissen  Teilen  Englands  Not  an  Brennstoffen 
ein,  so  daß  schon  1354  alle  Eisenausfuhr  ver- 
boten wurde,  um  dadurch  auch  den  Holzverbrauch 
einzuschränken.  Ja  es  wurde  1581  die  Errichtung 
von  Eisenwerken  jeder  Art  in  der  Nähe  von  . 
„London  und  der  Themse"  verboten,  um  die 
Wälder  zu  erhalten.  Steinkohle  mochte  man 
nicht  verwenden;  wenigstens  war  sie  in  London 
höchst  unbeliebt.  Da  sie  von  Newcastle  aus  zur 
See  dorthin  geführt  wurde,  bezeichnete  man  sie 
mit    dem    Namen    „sea  coal".     1620    nahm    Lord 


Dudley  in  Pensnct  Chase  ein  Patent  auf  Ge- 
winnung von  Eisen  und  Erzgestein  mittels  Stein- 
kohle statt  Holzkohle.  Aber  sein  Erfolg  rief  so 
viele  Feindseligkeiten  seiner  Konkurrenten  hervor, 
daß  der  Steinkohlenprozeß  für  einige  Zeit  wieder 
aufgegeben  werden  mußte.  Interessant  ist  die 
Tatsache,  daß  verschiedene  englische  Historiker 
angeben,  es  sei  1688  die  besondere  Aufgabe  der 
spanischen  Armada  gewesen,  die  Waldungen  in 
lingland  niederzubrennen,  um  die  Eisenproduktion 
dort  möglichst  zu  vernichten.  ^) 

Einstweilen  wollte  sich  die  Steinkohle  nicht 
einbürgern,  auch  nachdem  der  Deutsche  Blen- 
s  t  o  n  e  (Blenstein  f)  in  Wednesbury  den  Versuch 
gemacht  halte,  das  Dudley 'sehe  Verfahren  zu 
verbessern.  EnglischesEisen  blieb  teuer  und  schlecht, 
so  daß  man  Eisen  mannigfach  aus  dem  Auslande 
einführte. 

Weil  aber  Holz  für  das  in  England  selbst  ver- 
hüttete Erz  als  Feuerungsstoff  noch  immer  fast 
ausschließlich  verwendet  wurde,  klagte  ein  Parla- 
mentsbericht des  Jahres  17 19:  „Die  Verwüstung 
der  Wälder  durch  das  Plisengewerke  in  den  Graf- 
schaften Warwick,  Stafford,  Hereford,  Monumuth, 
Gloucester  und  Salop  ist  gar  nicht  zu  beschreiben. 
Wenn  nicht  rechtzeitig  Vorsorge  getroffen  wird, 
unser  Holz  vor  diesen  verschlingenden  Öfen  zu 
schützen,  so  wird  kein  Splitter  mehr  übrig  bleiben 
für  die  königliche  Marine  oder  für  die  Handels- 
schiffe." Die  Ausfuhr  von  Eisen  wurde  verboten, 
seine  Einfuhr  erlaubt.  Das  Vorurteil  gegen  Stein- 
kohle blieb,  denn  „sie  entwickle  giftige  Dämpfe, 
welche  nicht  nur  der  Gesundheit  schädlich  seien, 
sondern  auch  den  Gesichtsteint  verderben".  Hof- 
staat und  Parlament  wünschten  sich  davor  zu 
schützen,  so  daß  mindestens  10  Meilen  rund  um 
Westminster  und  den  Tower  keine  Steinkohlen- 
gase entwickelt  werden  sollten.  In  der  Provinz 
aber  blieb  schließlich  nichts  anderes  übrig,  da  der 
Holzverbrauch  sonst  allzu  groß  geworden  wäre. 
Verbrauchte  doch  eine  einzige  Eisenhütte  in 
Lamberhurst,  obwohl  sie  wöchentlich  nur  5  Tonnen 
Eisen  erzeugte,  jährlich  200 000  Klafter  Holz,  dar- 
unter  herrliche  Eichen. 

Inzwischen  ist  die  Waldverwüstung  weiter  fort- 
geschritten, obwohl  seit  dem  18.  Jahrhundert  die 
Kohle  als  Feuerungsmaterial  das  Holz  stark  ver- 
drängt hat.  Immerhin  wird  mfolge  des  überaus 
konservativen  Sinnes  der  Engländer  vielfach  noch 
in  Öfen  (namentlich  Kaminen)  Holz  gefeuert,  wo 
man  auf  dem  Festlande  nur  Kohle  in  die  Öfen 
schüttet.  Auch  hat  die  Verwendung  des  Holzes 
zu  zahlreichen  Gebrauchsgegenständen,  die  man 
früher  nicht  kannte  oder  von  denen  man  doch 
nur  sehr  geringe  Mengen  nötig  hatte,  zu  weiterem 
starken  Holzverbrauch  geführt.  Und  wenn  auch 
die  Tatsache,  daß  der  Grundbesitz  zum  nicht  un- 
erheblichen Teil  in  den  Händen  jener  überreichen 


')  Ich  enti 
Scherzt 
),   S.    14  ff. 


e    diese    Angaben    dem    Buche    Dr.    K 
Weltindustrien.      (Stuttgart,    Julius    Ma 


286 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Adeligen  ist,  die  sich  die  Erhaltung  landschaft- 
licher Schönheiten  etwas  kosten  lassen  können, 
nicht  selten  dazu  beitrug,  einzelne  Wälder  am 
Leben  zu  lassen,  so  sind  doch  andererseits  häufig 
rücksichtsloser  Waldverkauf  und  Holzschlag  zu 
beobachten  gewesen. 

Irland  nun  gar  ist  schon  im  17.  und  mehr  noch 
im  i8.  Jahrhundert  in  einer  Raubbaupolitik  unver- 
antwortlichster Art  der  prächtigen  Waldungen  be- 
raubt worden,  die  es  bis  dahin  schmückten.  Nach 
den  blutigen  Kriegszügen  Cromwells  wurden  sie 
von  den  englischen  Gewaltherren  niedergehauen, 
entweder  um  verhältnismäßig  geringen  Erlös  aus 
dem  Holzverkauf  zu  ziehen,  oder  um  Feuerungs- 
stoff für  die  britischen  Gewerbe  zu  liefern. 

Der  Wert  der  alljährlich  nach  England  ein- 
geführten Holzmenge  beläuft  sich  auf  36  Millionen 
Pfund  Sterling.  Ein  Bericht  des  Landwirtschafts- 
ministeriums sagte  vor  einigen  Jahren  darüber: 
Die  durchschnittliche  jährliche  Holzeinfuhr  Eng- 
lands   stellt    mehr    als    den    Gesamtwert    des    in 


England  und  Wales  wachsenden  Holzes  dar,  ein- 
schließlich des  Wertes  der  Landflächen,  auf  denen 
es  steht. 

Bezahlte  England  schon  vor  dem  Kriege 
für  die  Einfuhr  von  Holz  und  Holzpapier- 
masse aus  dem  Ausland  die  gewaltige  Summe 
von  etwa  700  Millionen  Mark,  so  hat  es  im  Kriege 
dafür  noch  erheblich  mehr  opfern  müssen.  Was 
es  militärisch  an  Hölzern  aller  Art  braucht,  kommt 
ihm  außerordentlich  teuer  zu  stehen  —  und  der 
geringe  Wald,  der  überhaupt  noch  vorhanden  ist, 
scheint  dafür  zum  großen  Teil  geopfert  zu 
werden. 

Die  Wie  dera  ufforstu  ngspläne,  die  in 
England  vor  dem  Kriege  wiederholt  gehegt 
wurden,  werden  nach  dem  Friedensschluß 
noch  schwerer  durchzuführen  sein.  Als  Eng- 
land in  den  Krieg  ging,  war  etwa  der  20.  Teil 
seines  Bodens  mit  Wald  bedeckt.  Davon  zerstört 
es  nun  durch  Raubbau  noch  einen  weiteren  be- 
trächtlichen Teil. 


Kleinere  Mitteilungen. 

über  Infusorienerde  (Bergmehl).  In  der  Jetzt- 
zeit, in  welcher  die  Nahrungsmittelfrage  und 
die  Frage  der  Ersatznährstoffe  eine  so  große 
Rolle  spielen,  dürfte  es  von  Interesse  sein  eines 
wohl  nicht  sehr  bekannten  Mehlstreckungsmittels 
Erwähnung  zu  tun,  des  sogenannten  Bergmehls, 
das  in  Jahren  der  Not  zu  verschiedenen  Zeiten 
und  in  verschiedenen  Gegenden  als  Nahrungs-  be- 
ziehungsweise Sättigungsmittel  für  Menschen  und 
Tiere  verwendet  wurde. ^)  Das  Bergmehl  ist 
wesentlich  ein  Produkt  von  Protozoen  und  besteht 
zu  einem  großen  Teil  aus  Protozoenleibern. 

Es  ist  eine  mehr  oder  minder  weiße  mine- 
ralische Substanz,  welche  als  lockeres,  ziemlich 
feines  Pulver  gewöhnlich  in  den  oberen  Berg- 
schichten  der  verschiedenen  Weltteile  vorkommt. 
Es  ward  z.  B.  im  nördlichen  Sibirien,  in  Lappland, 
in  der  Nähe  von  Santa  Flora  in  Italien  und  auf 
Isle  de  France  gefunden.  In  Schweden,  wo  es 
ganz  besonders  massenhaft  auftritt,  mischten  die 
Einwohner  dasselbe  schon  seit  langer  Zeit  mit 
Mehl  und  buken  Brot  daraus.  Bei  vollkommenen 
Mißernten  wurde  das  Bergmehl  auch  ohne  alle 
Zutat  genossen  oder  man  vermischte  es  mit  zer- 
stossener  Baumrinde.  Von  den  nomadisierenden 
sibirischen  Jagdvölkern  erzählen  Reisende,  daß  sie 
ebenfalls  sich  dieses  Mehlersatzes  bedienten. 
Weiter  wird  berichtet,  daß  im  Jahre  1S32  die 
Einwohner  der  Gemeinde  Degernae  an  der  lapp- 
ländischen Grenze  sich  während  der  Zeit  einer 
Nahrungsmittelnot  dieses  Bergmehls  zum  Brot- 
backen bedienten. 


Berzelius  (Joh.  Jak.  Freiherr  von,  geb.  1779 
zu  Vävfersunda  Sorgard,  Schweden)  untersuchte 
ein  von  der  lappländischen  Grenze  gesammeltes 
Bergmehl  bezüglich  der  darin  enthaltenen  Infu- 
sorien und  stellte  fest,  daß  von  22  der  darin  ent- 
haltenen Infusorienarten  noch  3  den  jetzt  lebenden 
glichen;  diese  gehörten  den  Bacillarien  an  und 
waren  von  der  Gattung  „Navicula"  (Schiffchen) 
und  „Gomphonema"  (Keilbäumchen).  Teilweise 
kommen  diese  Arten  in  allen  Kieselsintern  vor, 
zum  Teil  in  diesem  und  jenem  Bergmehl,  aber 
auch  noch  in  allen  stehenden  Gewässern  Europas. 
Die  noch  lebend  nachweisbare  „Navicula  gracilis" 
bildet  neben  den  übrigen  Arten  derselben  Gattung 
die  Hauptmasse  des  „Mehles",  welches  demnach 
in  süßen  Gewässern  entsteht. 


')  So  z.  B.  im  dreifiigjährigen  Kriege.  Auch  wird  es  z.  B. 
in  den  Annalen  von  WiUenberg  in  den  Jahren  1719 — 1733 
erwähnt. 


Retzius  (geb.  1796  zu  Lund  in  Schweden) 
untersuchte  dieses  „Bergmehl"  chemisch  und 
fand  darin  einen  geringen  Teil  organischen  Stoffes 
und  neben  anderen  Mineralsubstanzen  einen  großen 
Teil  Kieselerde.  Er  sandte  auch  Bergmehl  an 
Ehrenberg,  und  es  ergab  sich  bei  der  Unter- 
suchung, daß  dasselbe  fast  ausschließlich  aus  Kiesel- 
panzern von  Bacillarien,  aus  einem  geringen  Quan- 
tum kieseliger  Nadeln  oder  Mußschwämme  und 
aus  einem  noch  kleineren  Anteil  Blütenstaub  von 
Nadelbäumen  der  Pinus-Gattung  bestand. 

Auch  wurde  zu  seiner  Zeit  am  südlichen  Rand 
der  Lüneburger  Heide  ein  ausgedehntes  Infusorien- 
lager entdeckt  und  hat  man  zufolge  der  Mitteilung 
des  Präsidenten  des  Landwirtschaftlichen  Provin- 
zialvereins  für  das  Fürstentum  Lüneburg,  des 
Obersten  von  Hammerstein,  Grabungen  vorge- 
nommen, bei  denen  man  auf  große  Lager  von 
„Erdmehl"  stieß. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


287 


Eine  genaue  Analyse  des  Bergmehls  steht  mir 
leider  nicht  zur  Verfügung,  da  mir  noch  kein 
solches  behufs  Vornahme  von  Analysen  zugegangen 
ist.  Nach  Berzelius  ist  aber,  wie  oben  schon 
erwähnt,  der  Gehalt  des  Bergmehls  an  orga- 
nischen Substanzen  ein  recht  geringer.  Kann 
also  das  Bergmehl  wegen  dieses  geringen  Gehaltes 
an  organischen  Nährstoffen  auch  nicht  als  ein 
Nahrungsmittel  angesehen  werden,  so  ist  es  doch 
ein  annehmbarer  und  wegen  seines  Gehaltes  an 
Mineralsalzen  nicht  ganz  wertloser  und  wie  die 
Erfahrungen  in  früheren  Zeiten  und  in  gewissen 
Gegenden  dargetan  haben,  ein  unschädlicher  bzw. 
nützlicher  Füllstoff  für  den  Verdauungskanal,  der 
in  Zeiten  großer  Not  allenfalls  als  Mehlstreckungs- 
mittel in  l""rage  kommen  kann.  Wir  befinden  uns 
jedoch  glücklicherweise  nicht  in  solcher  Not. 
Anna  Hopfife. 

Reflexionen  über  zwei  neue  Schizophyceen- 
symbiosen.  In  dem  19 14  erschienenen  Biologen- 
kalender von  Thesing  hat  Dr.  Vouk  das 
Problem  der  Symbiosen  behandelt.  Abgesehen 
von  der  Erscheinung  des  Lichenismus  sind  nach 
dieser  Darstellung  die  Schizophyceen  nur  noch  in 
jenen  Fällen  als  Symbionten  bekannt,  die  als 
Anabaenasymbiosen  der  grünen  Pflanzen  be- 
zeichnet werden.  Der  am  genauesten  untersuchte 
Fall  dieser  Kategorie,  die  Symbiose  von  Anabaena 
in  Azolla  hat  auf  Grund  experimenteller  Beobach- 
tungen zu  dem  Ergebnis  geführt,  daß  die  Anabaena 
der  Azolla  Stickstofifverbindungen  liefert  und  da- 
für   andere   Stoffe,    z.  B.    Kohlehydrate    empfängt. 

Seit  kurzem  sind  nun  zwei  weitere  Pralle  von 
Schizophyceensymbiosen  bekannt  geworden,  die 
insofern  einen  ganz  neuen,  von  Vouk  noch 
nicht  behandelten  Typus  darstellen,  als  es  sich 
um  das  intrazelluläre  Vorkommen  von  Blaualgen 
in  nicht  grünen  Organismen  handelt,  ein  Vor- 
kommen, das  Veranlassung  gibt,  übei  die  von 
Vouk  behandelte  Hypothese  der  Synthese  von 
Organismen  als  theoretische  Folgerung  des 
Symbioseproblems  weitere  Überlegungen  anzu- 
stellen. 

Bevor  ich  auf  die  beiden  neuen  Fälle  von 
Symbiose  eingehe,  sei  die  eben  angedeutete 
Hypothese  kurz  berührt.  Schon  Schimper  kam 
auf  die  Idee,  die  Zelle  selbst  mit  ihren  organi- 
sierten Inhaltskörpern  als  einen  symbiontischen 
Komplex  aufzufassen.  Für  die  Chromatophoren 
hat  Mereschowsky  diesen  Gedanken  näher 
ausgeführt  und  als  Stützen  seiner  Hypothese 
folgende  Gesichtspunkte  ins  Treffen  geführt: 

1.  Die  Kontinuität  der  Chromatophoren. 

2.  Die  hochgradige  Unabhängigkeit  der  Chroma- 
tophoren vom  Zellkern. 

3.  Die  Analogie  zwischen  Chr.  und  Zoochlorellen. 

4.  Das  Vorkommen  solcher  Organismen,  die 
man  als  freilebende  Chromatophoren  deuten  könnte. 

5.  Cyanophyceen  leben  tatsächlich  als  Sym- 
bionten im  Plasma. 


Auf  den  weiteren  Ausbau  dieser  Hypothese 
durch  Famintzin  braucht  hier  nicht  weiter  ein- 
gegangen zu  werden,  da  unsere  beiden  Fälle  der- 
art sind,  daß  die  Symbionten  als  Ersatüchromato- 
phoren  aufgefaßt  werden  könnten. 

Das  erste  Beispiel  betrifft  die  bereits  im  Jahre 
1900  von  Lauterborn  entdeckte  Paulinella 
chromatophora,  einen  beschälten  „Rhizopoden 
mit  blaugrünen  chromatophorenartigen  Ein- 
schlüssen", wie  der  Entdecker  in  der  Überschrift 
der  ersten  über  diesen  Organismus  veröffent- 
lichten Abhandlung  die  Paulinella  bezeichnete. 
Lauterborn  selbst  hat,  nachdem  er  aus  der 
Regelmäßigkeit  des  Auftretens  dieser  Inhalts- 
körper in  den  200  untersuchten  Individuen  und 
aus  dem  Mangel  derartiger  Blaualgen  im  Wohn- 
gewässer der  Paulinella  die  Möglichkeit,  es  handle 
sich  um  aufgenommene  Nahrungskörper  au.sge- 
schaltet  hatte,  sich  mit  der  Annahme,  es  handle 
sich  um  zu  Chromatophoren  gewordene  sym- 
biontische  Blaualgen  auseinandergesetzt.  Er  sagt 
diesbezüglich:  „Vielleicht  aber  ist  übrigens  der 
Unterschied  zwischen  einer  symbiotisch  im  Plasma 
vegetierenden  Alge  und  einem  Chromatophor  gar 
nicht  so  bedeutend."  Sicher  ist  nach  seinen  Unter- 
suchungen, daß  die  blaugrünen  Körper  die  Rolle 
von  Chromatophoren  spielen,  indem  sie  die  Pauli- 
nella durch  ihre  Assiniilationsprodukte  ernähren. 
Dies  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  kein  einziges 
Exemplar  im  Protoplasma  geformte,  von  außen 
aufgenommene  Nahrungskörper  finden  ließ.  Im 
Grunde  genommen  meint  Lauterborn  wäre 
bei  der  ganz  abnorm  engen  Gehäusemündung  die 
Aufnahme  von  geformter  Nahrung  von  vornherein 
unwahrscheinlich. 

Die  Beobachtungen  Lauterborn 's  haben  in 
den  letzten  Jahren  mehrfach  Bestätigung  erfahren, 
so  daß  die  Annahme,  Lauterborn 's  Mitteilungen 
beträfen  etwa  nur  eine  lokale  Erscheinung,  aus- 
geschlossen ist.  H  immer  hat  im  Schwarzsee 
bei  Kitzbühel  in  Tirol  Paulinella  wiedergefunden 
und  beobachtete  im  Plasma  derselben  viele  kleine 
lichtbrechende  Körperchen,  die  die  Ölreaktion 
auf  Osmiumsäure  gaben.  Da  auch  an  diesem 
Material  die  Möglichkeit  der  Aufnahme  von  ge- 
geformter Nahrung  ausgeschlossen  wurde,  kann 
dieses  Öl  wohl  nur  als  Produkt  der  Chromato- 
phorentätigkeit  angesehen  werden. 

Der  zweite  Fall,  der  uns  hier  beschäftigen  soll, 
wurde  kürzlich  von  Fritz  von  Wettstein  in 
der  österr.  botan.  Zeitschr.  Jahrg.  191 5  unter  dem 
Titel:  „Geosiphon,  eine  neue,  interessante 
Siphonee",  veröffentlicht.  Auf  einem  mit  Antho- 
ceros  und  Riccia  bewachsenen  Krautfeld  nächst 
Kremsmünster  in  Oberösterreich  entdeckte 
VVettstein  eine  Botrydiumähnliche  Alge,  die 
sich  von  Botrydium  sogleich  durch  den  Mangel 
der  Chromatophoren  unterschied.  Der  Chroma- 
tophorenmangel  hatte  bereits  jene  Begleiter- 
scheinungen gezeitigt,  welche  Pilze  von  Algen 
physiologisch  trennen,  Geosiphon  besitzt  keine 
Cellulosenmembran,  sondern  eine  Chitinhaut.   Der 


288 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


Verlust  der  Chromatophoren  scheint  ausgeglichen 
durch  das  regelmäßige  Auftreten  einer  Blaualge 
in  Geosiphon,  die  von  Wettstein  als  Nostoc 
symbioticum  beschrieben  wird  und  die  gleich  den 
blauen  Inhaltskörpern  von  Paulinella  bisher  frei- 
lebend noch  nicht  angetroffen  wurde.  Daß  dieser 
Nostoc  assimiliert  und  daß  Geosiphon  dadurch 
erhalten  wird,  ergab  die  Möglichkeit,  den  neuen 
Organismus  auf  Knop'scher  Nährlösung  zu  kulti- 
vieren. 

So  verschieden  die  beiden  Fälle  Paulinella  und 
Geosiphon  auch  sind,  sie  zeigen  doch  einen  ge- 
meinsamen Zug,  der  zu  Reflexionen  veranlaßt.  In 
beiden  Fällen  handelt  es  sich  augenscheinlich  um 
sekundär  chlorophyllfrei  gewordene  Lebewesen, 
die  den  Verlust  ihrer  ursprünglichen  assimila- 
torischen Inhaltskörper  durch  Symbiose  mit 
Schizophyceen  kompensiert  haben.  Bei  Geosiphon 
ist  da^  wohl  im  vorhinein  außer  Zweifel,  bei 
Paulinella  bedarf  diese  Behaupttmg  vielleicht  noch 
einer  Begründung.  Durch  Paschers  Unter- 
suchungen hat  sich  immer  mehr  die  Überzeugung 
Bahn  gebrochen,  daß  die  rhizopodiale  Organisation 
nicht  der  Ausdruck  einer  phylogenetisch  einheit- 
lichen Gruppe  ist,  sondern  eine  morphologische 
Anpassung  an  eine  bestimmte  Lebensweise,  be- 
sonders Ernährungsweise.  Die  verschiedensten 
Algen,  zumal  aber  Flagellatenreihen  können  vor- 
übergehend oder  dauernd  in  ein  rhizopodiales 
Stadium  übergehen,  oft  noch  in  ihrer  anderen 
Organisation  oder  in  ihren  Stoffwechselverhält- 
nissen ihre  Abstammung  verratend.  Selbst  ge- 
häusebildende Rhizopoden  sind  von  dieser  Er- 
scheinung nicht  ausgeschlossen ,  wie  die  von 
Chrysomonaden  ableitbare  Gattung  Chrysothy- 
lakion  zeigt. 

So  dürfte  die  Annahme,  Paulinella  hätte  ehe- 
mals   ebensogut    Chromatophoren    besessen,    auf 


keine  allzugroßen  Schwierigkeiten  stoßen.  Daß 
nun  heute  beide  Organismen  Blaualgen  als 
Chromatophoren  verwenden,  könnte  vielleicht 
durch  Übertragung  des  Dollo'schen  Gesetzes 
auf  physiologische  Vorgänge  in  der  Stammes- 
geschichte unserem  Verständnis  näher  gebracht 
werden.  Wenn  wir  die  Annahme  machen 
dürften,  daß  die  im  Verlauf  der  Stammes- 
geschichte verloren  gegangenen  Chromatophoren 
ebensowenig  reaktiviert  werden  können,  wie 
irgendein  Organ,  so  müßte  auch  bei  unseren 
Rhizopoden  bzw.  unserer  Siphonee  nach  Verlust 
der  uisprünglichen  Chromatophoren  ein  ganz 
neuer  Symbiont  die  Assimilation  übernehmen, 
wenn  die  betreffende  Form  ihre  tierische  Lebens- 
weise wieder  aufgibt.  Dieser  Ausweg  wäre  ge- 
geben, wenn  eine  Symbiose  mit  einer  Blaualge 
einträte,  wodurch  allerdings  auch  der  ganze  Stoff- 
wechsel in  neue  Bahnen  gelenkt  würde,  wie  die 
Bildung  von  Olkügelchen  im  Protoplasma  von 
Paulinella  und  Geosiphon,  bei  letzterem  von 
Wettstein  mittels  Osmiumsäure  und  Alkanna- 
tinktur nachgewiesen,  zeigt. 

Wohl  bin  ich  mir  dessen  bewußt,  daß  die 
Zusammenstellung  der  beiden  genannten  Orga- 
nismen als  Beispiele  eines  gleichartigen  phylo- 
genetischen Entwicklungsganges  und  die  Heran- 
ziehung des  Dollo'schen  Gesetzes  zur  Erklärung 
desselben  bereits  in  das  Gebiet  der  gewagten 
Hypothesen  gehört.  Immerhin  v'erdienen  Pauli- 
nella und  Geosiphon  als  Vertreter  eines  besonderen 
von  Vouk  noch  nicht  berücksichtigten  Typus 
einer  Symbiose  sowie  als  weitere  Stützen  der  von 
Schimper,  Meresch  o  wsky  und  Lauter- 
born aufgestellen  Lehre  von  der  Chromato- 
phorensymbiose  besondere  Beachtung. 

Dr.  V.  Brehm. 


Einzelberichte. 


Physiologie  Leber  und  Eiweißstoffwechsel. 
Manche  Befunde  ließen  es  schon  seit  langem  als  wahr- 
scheinlich erscheinen,  daß  die  Leber  Beziehungen 
zum  Eiweißstoffwechsel  besitzt.  Es  ist  nun  Berg 
gelungen,  mit  aller  Sicherheit  nachzuweisen,  daß 
diese  Beziehung  der  Leber  zum  Eiweißstoffwechsel 
wirklich  vorhanden  ist,  und  Berg  ist  es  gleich- 
zeitig auch  geglückt,  den  Mechanismus  dieser  Be- 
ziehungen aufzuklären  und  auf  diese  Weise  unsere 
Kenntnis  von  der  Physiologie  der  Leber  in  ganz 
außerordentlichem  Maße  zu  vertiefen.  Die  erste 
Mitteilung  von  Berg  über  diese  Frage  datiert 
aus  dem  Jahre  191 2  ').  Berg  fand  in  den  Leber- 
zellen vom  Salamander  homogene  Tröpfchen,  die 


'■)  W.  Berg,  Über  spezifische,  in  den  Leberzellen  nach 
lüweißfütlerung  auftretende  Gebilde.  Anatom.  Anzeiger, 
42.  Bd.,   1912. 


sich  mit  Alkohol  fixieren  lassen  und  sich  mit 
Pyronin  leuchtend  rot  färben.  Dieser  Befund  war 
um  so  auffälliger,  als  er  nicht  bei  allen  unter- 
suchten Exemplaren  festzustellen  war.  Bei  Tieren, 
die  längere  Zeit  in  der  Gefangenschaft  gehalten 
wurden  und  gehungert  hatten,  waren  die  Leber- 
zellen von  diesen  Tröpfchen  völlig  frei  (Abb.  i  u.  2). 
Hin  und  wieder  fanden  sich  in  den  Leberzellen 
von  Tieren,  die  seit  einiger  Zeit  in  der  Gefangen- 
schaft waren  und  hungerten,  ähnliche  Tröpfchen, 
die  aber  vollständig  vakuolisiert  waren.  Es  war 
nun  die  Frage  zu  entscheiden,  was  diese  Tröpfchen 
zu  bedeuten  haben.  Die  Tatsache,  daß  sie  sich 
in  Alkohol  fixieren  lassen,  deutet  von  vornherein 
darauf  hin,  daß  sie  nicht  aus  Fett  bestehen  können. 
Sie  ließen  sich  nach  der  Fixation  auch  nicht  mit 
Wasser  auswaschen,  und  daraus  war  wiederum 
der  Schluß  zu  ziehen,  daß  sie  keine  Anhäufungen 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


289 


von  Glykogen  darstellen.  Schließlich  hat  Berg  schaft  gehalten  wurden,  weist  darauf  hin,  daß 
den  Nachweis  erbracht,  daß  diese  Tröpfchen  sich  diese  Tröpfchen  in  bestimmten  Beziehungen  zur 
mit    Millon'schem    Reagens    bräunlichrot    bis    rot      Ernährung    stehen    müssen.      Berg    fütterte    nun 


färben,  daß  sie  also  aus  Eiweiß  bestehen. 


Salamander,  die  lange  Zeit  gehungert  hatten,  mit 


3b.   I.    Lcbcrzellen  von  einem  frisch  gefangenen 

Feuersalamander. 

Fixation  mit   10  "/o  Formalin.     Färbung  mit  Methylgrün- 

Pyronin.     Nach  Berg. 


Abb.  3.     Leberzellen    von    einem  Salamander,    der 

gehungert  hatte  und  dann  mit  Casein-|-Glykogen 

(resp.  Traubenzucker)  gefüttert  wurde. 

Die  Zellen  sind  von  den  Tröpfchen  erfüllt.     Nach  Berg. 


m 


m 


i<^' 


^i^ 


m  .m 


^ 

« 

^ 

^    -    •^-     ■        0 

Abb.   2. 

gehaltenen  Salamander. 

gefangen 

Hehandlu 

ing  wie  in   Abb.  I.     Man  sieht  hier  kein. 

i  homogenen 

Tröpfche 

n    in    den    Zellen.      Die  Zellen    sind    dei 
als  in   .\bb.    I.     Nach  Berg, 

atlich  kleiner. 

Nach   Berg. 


Die   schon    erwähnte  Tatsache,    daß    man   die  Casein    oder    mit    Froschfleisch    und    fand    dann 

Tröpfchen    in    den    Leberzellen    nur    dann    findet,  diese    Tröpfchen    regelmäßig   in    den    Leberzellen 

wenn    die  Tiere    frisch  gefangen  sind,    nicht  aber  vor    (.\bb.  3).      Wurden    die    Tiere    dagegen    mit 

bei  Tieren,  die  schon  lange  Zeit  in  der  Gefangen-  Kohlehydraten,  z.  B.  mit  Zucker  oder  mit  Glykogen, 


290 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


und  mit  Fetten,  z.  B.  mit  OUvenöl,  gefüttert,  so 
kam  es  niemals  zur  Entstehung  der  Tröpfchen 
in  den  Leberzellen  von  Tieren,  die  bisher  ge- 
hungert hatten  (Abb.  4).  Genau  denselben  Be- 
fund konnte  Berg  an  Fröschen,  Kaninchen  und 
Mäusen  erheben.  Die  Befunde  sagen  uns,  daß  bei 
Fütterung  mit  Eiweiß  Eiweißtröpfchen  in  den 
Leberzellen  entstehen.  Das  Vorkommen  dieser 
Ei  weißt!  öpfchen  in  den  Leberzelien  hat  Berg 
auch   für   den  Menschen  wahrscheinlich   gemacht. 

Welch  eine  Rolle  im  Eiweißstoffwechsel  soll 
man  nun  diesen  Eiweißtröpfchen  in  den  Leber- 
zellen zusprechen?  Bei  der  Beantwortung  dieser 
Frage  geht  Berg  von  einer  Reihe  von  Beobach- 
tungen chemischer  Natur  aus.  Berg  und  andere 
haben  gefunden,  daß  das  Verhalten  von  genuinen 
Eiweißstoffen,  wie  Albumin,  Globulin  und  Casein, 
und  das  der  Eiweißabbauprodukte,  wie  Pepton 
und  Albumose,  gegenüber  den  üblichen  Fixations- 
mitleln  ganz  verschieden  ist.  Die  genuinen  Eiweiß- 
stofife  fallen  bei  der  Behandlung  mit  den  üblichen 
Fixationsmitteln  in  Form  eines  Niederschlages 
aus,  der  aus  Teilchen  zusammengesetzt  ist,  die 
an  der  mikroskopischen  Grenze  der  Sichtbarkeit 
stehen.  Das  Bild  eines  solchen  Niederschlages 
bietet  uns  das  fixierte  Protoplasma  dar.  In  ganz 
anderer  Form  fallen  bei  der  Behandlung  mit 
Fixationsmitteln  die  Eiweißspaltprodukte,  wie 
Pepton  und  Albumosen,  aus.  Sie  bilden  kleine 
Granula,  die  mikroskopisch  sichtbar  sind  und  die 
zudem  in  I'orm  von  kleinen  Tröpfchen  zusammen- 
fließen können.  Diese  chemischen  Beobachtungen 
lassen  sich  nach  Berg  für  die  Deutung  der  in 
den  Leberzellen  von  gut  gefütterten  Tieren  vor- 
handenen Tröpfchen  verwerten.  Berg  ist  der 
Meinung,  daß  man  in  Analogie  mit  diesen  Be- 
obachtungen die  Tröpfchen  in  den  Leberzellen 
als  vom  Protoplasma  der  Zelle  verschieden  auf- 
fassen muß.  Sie  haben  Eiweißnatur,  sie  sind  aber 
nicht  Protoplasma  -  Eiweiß.  Und  Berg  will  in 
ihnen  Speichern  ngsprodukte  von  Eiweiß 
in  den  Leberzellen  sehen.') 

Wir  haben  also  nach  den  Befunden  von  Berg 
alle  Veranlassung,  uns  die  Beziehungen  der  Leber 
zum  Eiweißstoffwechsel  in  ähnlicher  Weise  vor- 
zustellen wie  die  Beziehungen  der  Leber  zum 
Kohlehydrat-  und  Fettstoffwechsel.  In  den  Leber- 
zellen entstehen  bei  Eiweißfütterung  Reservedepots 
von  Eiweiß,  aus  denen  dann  das  gespeicherte 
Material  von  den  anderen  Zellen  des  Körpers 
geholt  werden  kann,  wenn  Bedarf  nach  Eiweiß 
vorhanden  ist. 

Auf  Grund  der  mitgeteilten  Befunde  hat 
Berg  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Schüler 
Cahn-Bronnerein  anderes  bedeutsames  Problem 
des  Eiweißstoffwechsels  angegriffen.  ^)    Wir  wissen 

')  Vgl.  Berg,  Über  den  mikroskopischen  Nachweis  der 
Eiweifispeicherung  in  der  Leber.  Biochem.  Zeitschr.,  Bd.  61, 
1914. 

2)  W.  Berg  und  C.  Cahn -Br  onn  er ,  Über  den 
mikroskopischen  Nachweis  der  Eiweifispeicherung  in  der 
I,eber  nach  VerfüUerung  von  Aminosäuren.  Biochem.  Zeitschr., 
Bd.  61,  1914. 


heute  aus  den  Untersuchungen  von  Otto  Loewi, 
Abderhalden  und  seinen  Mitarbeitern,  daß  der 
tierische  Organismus  imstande  ist,  eine  Synthese 
von  Eiweiß  aus  den  Spaltungsprodukten  der  Eiweiß- 
stoffe vorzunehmen.  Wir  sind  iinstande,  Tiere 
in  Stickstoffgleichgewicht  und  sogar  zu  Eiweiß- 
ansatz zu  bringen,  wenn  wir  ihnen  auch  keine 
Spur  von  Eiweiß  zuführen,  sondern  sie  aus- 
schließlich mit  Aminosäuren  füttern.  Wenn 
nun  bei  der  Fütterung  von  Eiweiß 
Eiweißtröpfchen  sich  in  den  Leber- 
zellen anhäufen,  so  muß  dasselbe  auch 
bei  der  Fütterung  mit  Aminosäuren 
entstehen. 

Der  positive  Ausfall  des  Versuches,  durch 
Verfütterung  von  Aminosäuren  dasselbe  mikro- 
skopische Bild  zu  erzielen  wie  bei  der  Verfütterung 
von  Eiweißstoffen,  wäre  uns  ein  erneuter  und 
absolut  sicherer  Beweis  für  die  Richtigkeit  der 
von  Abderhalden  entwickelten  Vorstellungen 
über  den  Eiweißstoffwechsel.  Berg  und  Cahn- 
Bronner   fütterten   Salamander    und   Kaninchen, 


Abb.   5.     Leberzellen    von    einem  Salamander,    d 
17   Monate  gellungert  hatte  und  dann  mit  Ereptc 

-fGlykogen  gefüttert  wurde. 

Nach  Berg  und  Cahn-Bronner. 


.\bb.  6.      Leberzellen    von    einem    Kaninchen,    das 

60  Stunden   gehungert  hatte  und  dann   mitErepton 

-j- Kohlehydraten   gefüttert  wurde. 

Nach  Berg  und  Cahn-Bronner. 


die  längere  Zeit  gehungert  hatten,  mit  Erepton, 
d.  h.  mit  Rindfleisch,  das  durch  Verdauung  mit 
Pepsinsalzsäure,  Trypsin  und  Erepsin  bis  zu  den 
Aminosäuren  aufgespalten  ist  und  das  man  von 
den  Höchster  P"arbwerken  beziehen  kann.  Schon 
nach  einer  Dauer  von  zwei  Fütterungstagen  ge- 
lingt es,  bei  Salamandern  die  erwähnten  mit 
Millon'schem  Reagens  sich  braunrot  bis  tot 
färbenden  Tröpfchen  nachzuweisen  (Abb.  5  u.  6). 
Die  Tröpfchen  unterscheiden  sich  in  keiner  Be- 
ziehung von  jenen,  die  man  bei  gut  genährten 
Tieren  oder  bei  Tieren,  die  mit  Eiweiß  gefüttert 
wurden,  in  den  Leberzellen  nachweisen  kann. 
So  waren  durch  die  Versuche  von  Berg  und 
Cahn-Bronner  mit  aller  Sicherheit  die  Vor- 
stellungen bestätigt,  die  A  b  d  e  r  h  a  1  d  e  n  auf  Grund 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


291 


seiner  zahlreichen  Versuche  über  den  Eiweiß- 
stoffwechsel entwickelt  hat. 

Wir  dürfen  nach  alledem  die  Leber  als 
ein  Speicher ungsorgan  für  Eiweiß  auf- 
fassen. Es  ist  nun  von  großem  Interesse,  diese 
Befunde  von  Berg  und  Cahn-Bronner 
manchen  neuen  Befunden  über  die  Resorption 
der  bei  der  Verdauung  von  Eiweiß  im  Darme 
entstehenden  Aminosäuren  gegenüberzustellen. 
Wir  wissen  heute,  daß  die  Aminosäuren  als  solche 
ins  Blut  gelangen  können.  Abderhalden  und 
Abel  in  Amerika  haben  den  sicheren  Nachweis 
erbracht,  daß  das  Blut  Aminosäuren  enthält. 
Trotzdem  findet  eine  Anreicherung  des  Blutes  mit 
Aminosäuren  während  der  Verdauung  und  Resorp- 
tion nicht  statt.  Es  wäre  aber  kaum  wahrscheinlich, 
daß  alle  resorbierten  Aminosäuren  sofort  an  die 
Stellen  ihres  Verbrauches  in  den  Zellen  des  Körpers 
hingelangen.  Darum  war  von  vornherein  die  An- 
nahme gegeben,  daß  irgendwo  im  Organismus 
Aminosäuren  aus  dem  Blute  abgefangen  werden,  um 
zum  Teil  zur  Synthese  von  Vorratseiweiß 
Verwendung  zu  finden.  Abderhalden  hatte, 
zunächst  noch  in  hypothetischer  Weise,  darauf 
hingewiesen ,  daß  man  diese  Funktion  des  Ab- 
fangens von  Aminosäuren  und  der  Synthese  von 
Vorratseiweiß  vielleicht  der  Leber  zusprechen 
dürfe.  Zu  dieser  Annahme  passen  nun  ganz  aus- 
gezeichnet die  Befunde  von  Berg  und  Cahn- 
Bronner,  die  uns  ja,  wie  wir  gesehen  haben, 
mit  Sicherheit  sagen,  daß  die  Leberzcllen  im- 
stande sind,  Aminosäuren,  die  aus  dem  Darm 
ins  Blut  gelangen,  zu  einer  Synthese  von  Eiweiß 
zu  verwenden,  um  dieses  in  Form  einer  Vorstufe, 
wenn  man  will,  von  zellspezifischem  Protoplasma- 
eiweiß zu  speichern. 

So  sind  uns  die  ausgezeichneten  Untersuchungen 
von  Berg  und  Cahn-Bronner  ein  neues  Glied 
in  der  großen  Kette  der  Beweise,  die  uns  die 
Physiologie  dafür  erbracht  hat,  daß  unser  Organis- 
mus einer  weitgehenden  Synthese  von  hochmole- 
kularen Eiweißstoffen  aus  den  Spaltungsprodukten 
des  Eiweißes  fähig  ist.  Und  ebenso  dafür,  daß 
im  Organismus  indifferente  Vorstufen  von  Eiweiß- 
natur, deren  Vorhandensein  Abderhalden  auf 
Grund  seiner  eigenen  Untersuchungen  schon 
früher  postuliert  hatte,  gespeichert  werden,  in- 
differente Eiweißstoffe,  die  für  die  einzelnen 
Zellen  des  Organismus  je  nach  Bedarf  als  Bau- 
material verwendet  werden  können,  indem  sie  zu 
spezifischem  Organeiweiß  oder  spezifischem  Zell- 
eiweiß umgebaut  werden.  Alex.  Lipschütz. 

Zoologie.  Neue  Untersuchungen  über  die 
Nahrung  des  Ohrwurmes.  Da  der  Ohrwurm 
(Forficula  auricularia  L.)  ein  weitverbreitetes  Insekt 
ist,  das  dem  Gärtner,  Landwirt,  Winzer,  Imker 
auf  Schritt  und  Tritt  unter  die  Augen  kommt 
und  zwar  häufig  genug  unter  Verhältnissen  wie 
in  Blumen,  Obst,  Ähren  usw.,  die  es  schwer 
verdächtigen,   erscheint  es  von  ganz   besonderem 


Interesse  zu  erfahren ,  ob  der  braune  Bursche 
Nutzen  oder  Schaden  stiftet.  Diese  Frage  zu  be- 
antworten ist  aber  ganz  besonders  schwierig,  be- 
sonders deshalb,  weil  der  Ohrwurm  ein  aus- 
gesprochenes Nachttier  ist,  dessen  unmittelbare 
Beobachtung  sehr  schwer  ist.  Solche  Beobach- 
tungen haben  nämlich  nur  dann  Wert,  wenn  die 
Tiere  wirklich  bei  der  Nahrungsaufnahme  ange- 
troffen werden.  Ohne  Beweiskraft  sind  unbedingt 
solche  Fälle,  wo  man  das  Tier  nur  in  der  Nähe 
von  Fraßstellen  findet,  wohin  es  sich  vielleicht 
nur  zur  Tagesruhe  begeben  hat.  Überhaupt  darf 
man  beim  Ohrwurm  Versteck  und  Nahrung  nicht 
so  ohne  weiteres  in  Beziehung  zueinander  bringen. 
Solche  unzulässigen  Schlüsse  sind  aber  oft  gemacht, 
und  die  Folge  ist  auch,  daß  die  Urteile  der 
Forscher  und  Praktiker  hier,  wie  selten  bei  einem 
anderen  Tiere,  weit  auseinandergehen.  Die  vielen 
sich  widersprechenden  Urteile  machten  es  bisher 
unmöglich  klar  und  vorurteilsfrei  zu  sehen  und 
zu    einer    endgültigen   Entscheidung   zu    kommen. 

Um  so  verdienstvoller  sind  daher  neue  Be- 
mühungen von  Prof.  Dr.  G.  Lüstn  er- Gei=enheim 
(Zentralblatt  für  Bakteriologie.  IL  Abt.  Bd.  40, 
S.  4S2  —  514)  in  dieser  weite  Kreise  angehende 
Angelegenheit  endlich  Klarheit  zu  schaffen.  Wie 
notwendig  das  war,  mögen  einige  der  vielen  An- 
gabe über  das  Tier  beweisen,  die  sich  in  der  weit- 
zerstreuten Literatur  finden. 

Da  soll  der  Ohrwurm  Zwetschen,  Aprikosen, 
Birnen,  Apfel  angehen,  Möhrenwurzeln  und  Steck- 
rüben anfressen ,  Mais-  und  Roggenkörner  aus- 
höhlen, halbreife  Möhrensamen  fressen,  Nelken, 
Georginen  u.  a.  Zierblumen  zerfressen,  Honig 
naschen.  Raupen  und  Puppen  fressen  („da  er  sich 
zwischen  Blättern  mit  zugrunde  gegangenen 
Raupen  und  Puppen  findet").  Auch  andere  In- 
sekten, tote  und  lebende,  soll  er  nicht  verschmähen, 
wie  Blattläuse,  Ameisenpuppen,  Puppen  von 
Schlupfwespen,  tote  Ohrwürmer,  seine  eigene 
Brut,  Kohlweißlingpuppen,  Erdflöhe,  Goldafter, 
Ringelspinner,  Schwammspinner  usw. 

Er  soll  ferner  zarte  Bohnen-  und  Petersilien- 
blätter annagen  und  Kartoffelbüsche  völlig  kahl 
fressen.  Er  soll  zwar  meist  pflanzliche  Stoffe  ge- 
nießen, aber  gelegentlich  auch  tierische  Kost  nicht 
verachten.  Einer  hält  ihn  für  „einen  unter  nor- 
malen Verhältnissen  fast  ausschließlichen  Tierstoff- 
fresser". Einer  vermutet  in  ihm  einen  „reinen 
Pflanzenfresser".  Wieder  einer  (Reh)  urteilt:  „In 
der  Nahrung  ist  der  Ohrwurm  äußerst  polyphag: 
lebende  und  tote,  pflanzliche  und  tierische  Stoffe, 
daher  das  Urteil  je  nach  dem  Beobachter  so  sehr 
verschieden  ist." 

Die  Ansichten  über  seinen  Nutzen  und  Schaden 
gehen  bei  dieser  Mannigfaltigkeit  der  Angaben 
über  seine  Nahrung  naturgemäß  auch  weit  aus- 
einander. So  kommt  von  Schilling  zu  folgen- 
dem Ergebnis:  „Der  Schaden,  den  dieses  Insekt 
.  .  .  hervorruft,  wiegt  auch  nicht  im  entferntesten 
seinen  ungeheuren  Nutzen  für  die  Allgemein- 
heit auf  . . ."    Andere  wieder  halten  ihn,  besonders 


292 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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infolge  seiner  aiigebliclien  Vorliebe  für  Obst,  Ge- 
müse, Blumen  „für  einen  großen  Schädling",  der 
möglichst  auszurotten  sei.  Andere  wieder  sehen 
in  ihm  einen  „harmlosen  Burschen",  der  höchstens 
mal  lästig  werden  könne. 

Der  Weg  nun,  den  Lüstner  einschlägt,  um 
in  dieses  VVirrwarr  der  Meinungen  System  zu 
bringen,  ist  die  Methode  der  Magen  Unter- 
suchungen, oder  in  diesem  Falle  besser  der 
Kropfuntersuchungen.  Es  ist  dies  eine  Forschungs- 
methode, die  sich  mehr  und  mehr  auch  im 
Insektenstudium  bewährt,  nachdem  sie  längst  mit 
gutem  Erfolg  z.  B.  bei  Untersuchungen  über  die 
Nahrung  der  Vögel  oder  auch  anderer  Tiere  an- 
gewendet worden  ist.  Diese  Art,  die  natürliche 
Gesamtnahrung  sicher  festzustellen,  ist  ge- 
legentlichen Beobachtungen  oder  gar  Fütterungs- 
versuchen weit  überlegen,  denen  übrigens  eine 
ganze  Reihe  der  oben  zitierten,  sicher  falschen 
Urteile  entstammen,  und  die  mehr  oder  weniger 
nur  unter  Zwangsverhältnissen  vorgenommen 
werden  können.  Untersuchungen  des  Verdauungs- 
apparates müssen  aber  unbedingt,  wenn  nur  eine 
genügend  große  Anzahl  gemacht  werden,  zu 
richtigen  Ergebnissen  führen,  an  „denen  nicht  mehr 
gedreht  und  gedeutelt  werden  kann". 

Im  einzelnen  verfuhr  Lüstner  nun  wie 
folgt: 

Es  wurden  Ohrwürmer  in  ausgelegten  Obst- 
madenfallen an  möglichst  verschiedenen  Örtlich- 
lichkeiten  gefangen  und  die  Tiere  möglichst  früh- 
morgens, ehe  noch  eine  zu  weitgehende  Ver- 
dauung eingesetzt  hatte,  in  Äther  getötet.  Dann 
wurde  der  Kropf  —  hier  ist  die  Nahrung  besser 
als  im  Magen  zu  erkennen  —  durch  Zerreißen 
des  Tieres  freigelegt,  in  einem  Tropfen  Wasser 
sauber  ausgedrückt  und  mikroskopiscli  untersucht. 
Auf  diese  Weise  konnten  folgende  Untersuchungs- 
ergebnisse gewonnen  werden. 

Zunächst  wurden  30  Tiere,  die  Mitte  August 
an  einem  zwischen  Kartoffeln  stehenden  Birnbaum 
erbeutet  waren,  untersucht.  Von  diesen  enthielten 
6  nur  Pflanzenstoffe,  i  nur  Tierstoffe,  19  vorwiegend 
Pflanzenstoffe  und  3  endlich  vorwiegend  Tier- 
stoffe. Die  Pflanzennahrung  stand  also  durchaus 
an  erster  Stelle. 

Unter  den  lebenden  Pflanzenstoffen,  die  fest- 
gestellt werden  konnten,  fanden  sich  hauptsächlich 
Schwärzepilzsporen  und  -mycelien  (Pleospora  und 
Cladosporium),  Rußtau  (Capnodium  salicinum) 
und  die  auf  Bäumen  häufige  Alge  (Cystococcus 
humicola).  Letztere  häufig  allein.  Ferner  fanden 
sich  Palissadengewebe  und  Haare  nicht  bestimm- 
barer Blätter,  Kartoffelblätter,  Moosblättchen, 
Pollenkörner,  wahrscheinlich  von  Ampelopsis 
hederacea  und  Veitschii,  andere  Pilzsporen, 
Pflanzenhaare.  An  toten  Stoffen  waren  vertreten: 
Steinzellen  aus  Birnen,  Fruchtfleisch  (?),  Teile 
von  Rinde,  Borke  und  Hoiz,  Pflanzenhaare.  An 
Tierstoffen  schließlich  fanden  sich  :  Insektenreste, 
Beine,  Fühler,  Flügelteile,  Facettenaugen,  Milben, 
Schildläuse  (Diaspis  ostreaeformis). 


Überblickt  man  diese  P'unde  und  berücksichtigt 
auch  ihre  Verteilung  auf  die  verschiedenen  Tiere, 
lassen  sie  allerhand  wichtige  Schlüsse  zu:  Die 
Ohrwürmer  nehmen  trotz  der  großen  Anzahl  ihnen 
zur  Verfügung  stehender  Stoffe  doch  nur  be- 
stimmte auf;  sie  treffen  also  eine  Nahrungswahl. 
Da  der  Kropfinhalt  der  zu  einer  Gesellschaft  ge- 
hörigen Tiere  derselbe  ist,  darf  man  schließen, 
daß  die  tagsüber  beisammensitzenden  Individuen 
auch  nachts  gemeinsam  auf  Nahrungssuche  gehen. 
Die  große  Menge  abgestorbener  Pflanzenstoffe 
deuten  an,  daß  sie  insonderheit  ihre  Nahrung 
bilden.  Sehr  bemerkenswert  war,  daß  sich  nur 
bei  einigen  Kartoffelblätter  fanden,  obgleich  der 
Baum  mitten  im  Kartofielfeld  stand.  Man  darf 
daraus  auf  eine  individuelle  Bevorzugung  gewisser 
Stoffe  schließen.  Dasselbe  geht  auch  aus  der 
Tatsache  hervor,  daß  in  einigen  nur  Tierstoffe  an- 
zutreffen sind. 

Ferner  wurden  30  Tiere  untersucht,  die  Mitte 
bis  Ende  Oktober  an  einem  zwischen  Weiß-  und 
Rotkohl  stehenden  Birnbäume  gefangen  wurden. 
In  16  fanden  sich  nur  Pflanzenstoffe,  in  i  nur 
Tierstoffe.  In  12  überwiegen  die  Pflanzenstoffe, 
in  I  die  Tierstoffe.  Bemerkenswert  war,  daß  in 
keinem  Tiere  Kohireste  gefunden  wurden.  Neu 
kamen  hinzu  Funde  von  Blütenteilen,  Pollen- 
körnern und  scheinbar  auch  Biatteilen  von  Dahlien. 
Da  sich  Dahlien  nur  in  60 — 70  m  Abstand  vom 
Fangorte  fanden,  darf  man  daraus  schließen,  daß 
die  Tiere  bei  der  Nahrungssuche  längere  Wande- 
rungen unternehmen.  Im  übrigen  zeigen  auch 
diese  Untersuchungen,  daß  der  Ohrwurm  abge- 
storbene Pflanzenteile  mit  daransitzenden  Pilzen 
und  Algen  —  wieder  Cystococcus  —  besonders 
bevorzugt.  Von  den  Tierstoffen  muß  ange- 
nommen werden,  daß  sie  zum  großen  Teil  unbe- 
absichtigt aufgenommen  wurden. 

Dann  liegen  von  einer  Partie  von  33  Tieren 
Untersuchungen  vor,  die  Ende  August  teils  an 
einem  zwischen  Erdkohlrabi  und  Schwarzwurzeln 
stehenden  Birnbaum  gefangen  wurden.  In  3  fanden 
sich  nur  Pflanzenstoffe,  in  4  vorwiegend  Tierstoffe, 
und  in  26  bildeten  Pflanzenstoffe  wiederum  die 
Hauptmasse.  Im  allgemeinen  boten  die  Kropf- 
inhalte dasselbe  Bild.  Neu  war  ein  Fund  von 
Aptiden,  die  auch  bei  Fütterungsversuchen,  die 
häufig  zur  Kontrolle  nebenher  gingen,  als  Nahrung 
angenommen  wurden.  Als  Ausnahme  fanden  sich 
zum  zweiten  Male  Fruchtfleisch  und  Steinzellen 
von  Birnen.  Der  Rußtau  scheint  nur  des  süßen 
Honigtaues  wegen  gefressen  zu  werden. 

Von  Mitte  bis  Ende  September  wurden  sodann 
26  Tiere  an  einem  Pfirsichmauerspalier  erbeutet. 
Von  diesen  enthielten  5  ausschließlich  Pflanzen- 
stoffe, I  ausschließlich  Tierstoffe,  bei  19  überwogen, 
die  Pflanzen-,  und  bei  nur  i  fanden  sich  Tierstoffe, 
etwa  in  gleichen  Mengen.  Hier  tritt  also  die 
Tiernahrung  ganz  erheblich  zurück;  der  Ohrwurm 
erscheint  fast  als  reiner  Pflanzenfresser.  Sehr  be- 
merkenswert war,  daß  in  24  von  26  Tieren  sich  aus- 
schließlich oder   doch  fast   ausschließlich  Pfirsich- 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


293 


blätter  fanden.  Die  Blätter  der  Spaliere  wiesen 
auch  tatsächlich  Fraßspuren  auf,  so  daß  man 
schließen  darf,  daß  nur  fortwährendes  Abfangen 
der  Ohrwürmer  in  solchen  Fällen  starke  Schäden 
verhindern  kann,  denn  sie  sind  durch  diesen  Be- 
fund mit  Sicherheit  als  große  Pfirsichblattliebhaber 
erkannt. 

Von  besonderem  Interesse  für  den  Blumen- 
züchter sind  weitere  Untersuchungen  von  20 Tieren, 
die  Ende  September  und  Anfang  Oktober  in  Fallen 
gefunden  wurden,  die  an  Dahlien  angebracht  waren. 

Von  diesen  20  enthielten  iS  nur  Pflanzenstoffe, 
bei  einer  überwogen  die  pflanzlichen,  bei  i  die 
tierischen  Stoffe.  Wieder  ist  der  Ohrwurm  als 
fast  reiner  Pflanzenfresser  erkannt.  Daß  er  aber, 
wie  schon  lange  vermutet,  zu  den  gefährlichsten 
Dahlienschädlingen  zu  rechnen  ist,  zeigen  die 
näheren  Feststellungen  an  den  vorgefundenen 
Pflanzennahrungsstoffen,  denn  von  den  20  Tieren 
enthielten  19  vorwiegend  oder  ausschließlich 
Pollen,  Blütenteile  oder  Blatteile  von  Dahlien.  Die 
Pflanzen  selbst  zeigten  zahlreiche  Fraßstellen  an 
Blättern  und  Blüten. 

Ein  wesentlich  neues  Bild  schließlich  boten 
23  Tiere,  die  an  einer  von  Ampelopsis  Veitschii 
bewachsenen  Hauswand  gefangen  wurden,  denn 
in  nicht  weniger  als  1 1  Kröpfen  fanden  sich  nur 
Tierstoffe,  in  5  nur  Pflanzenstoffe,  in  i  überwogen 
die  Tier-,  in  5  die  Pflanzenstoffe  und  in  2  war  ein 
ungefähres  Gleichgewicht  vorhanden. 

Bemerkenswert  ist  hier  einmal  die  häufig  an- 
getroffene große  Leere  des  Kropfes  und  dann  vor 
allem  das  auffallende  Überwiegen  der  tierischen 
Nahrung.  IVIan  darf  daraus  schließen,  daß  die 
Ohrwürmer  an  der  Hauswand  unter  wenig 
günstigen  Bedingungen  lebten  und  in  solchen 
Fällen  zu  Tierstoften  gegriften  haben,  um  ihren 
Hunger  zu  stillen.  Da  die  Tierreste  nicht  mehr 
zu  identifizieren  waren,  kann  nicht  sicher  ange- 
geben werden,  ob  der  Ohrwurm  durch  die  Auf- 
nahme dieser  Tierstoffe  nützlich  oder  schädlich 
wurde.  Ersteres  scheint  aber  kaum  der  Fall  zu 
sein,  denn  da  nur  harte  Chitinstoffe  gefunden 
wurden,  nie  aber  weiche,  innere  Teile,  will  es  fast 
so  scheinen,  als  wenn  nur  tote  Gliedertiere  ge- 
fressen wurden,  die  vielleicht  den  zahlreich  vor- 
handenen Spinngeweben  entnommen  wurden.  In 
5  Fällen  fanden  sich  Pollen  von  Ampelopsis  Veitschii, 
was  wieder  die  große  Vorliebe  des  Ohrwurms  für 
Staubbeutel  dartut. 

Das  beweisen  auch  zwei  Frühjahrsränge  (Be- 
richt der  Kgl.  Lehranstalt  für  Wein-,  Obst-  und 
Gartenbau  in  Geisenheim  für  1914/15  S.  204  ff.). 
Es  wurden  4  an  blühenden  Äpfelbäumen  und  29 
an  blühenden  Weinreben  erbeutete  Tiere  unter- 
sucht. In  ihren  Kröpfen  und  Mägen  fanden  sich 
vorwiegend  Äpfel-  bzw.  Rebpollen. 

Nach  diesen  eingehenden  Untersuchungen 
kommt  Lüstner  zu  sehr  bemerkenswerten  Er- 
gebnissen,   die  er  folgendermaßen  zusammenfaßt: 

„Auf  Grund  des  Ergebnisses  unserer  Kropfunter- 
suchungen sind  wir  der  Ansicht,  daß  die  Nahrung 


des  Ohrwurmes  je  nach  seinem  Aufenthaltsorte 
eine  verschiedene  ist.  Er  ist  im  allgemeinen  als 
ein  Allesfresser  in  des  Wortes  weitester  Be- 
deutung zu  betrachten,  dessen  F'utter  unter  nor- 
malen Verhältnissen  vorwiegend  aus  abgestorbenen 
Pflanzenteilen,  Rußtau  und  der  auf  Bäumen  häufigen 
Alge  Cystococcus  humicola  besteht.  Damit  hängt 
das  häufige  Vorkommen  von  Pilzen  und  Pilzsporen 
in  seinem  Kröpfe  und  Magen  zusammen.  Bei 
sich  ihm  bietender  Gelegenheit  geht  er  jedoch 
auch  lebende  Pflanzenteile  —  Blätter  und  besonders 
Blüten  —  an  und  wird  dadurch  zum  Schädling. 
Auffallend  dabei  ist  seine  besondere  Vorliebe  für 
die  Antheren  der  Staubgefäße. 

Tierische  Stoffe  scheint  er  meist  nur  in  totem 
Zustande  zu  fressen.  Er  kann  infolgedessen  nicht 
als  Nutzung  betrachtet  werden. 

Die  .Aufnahme  von  Pflanzenstoffen  ist  eine  sehr 
viel  größere  als  die  von  Tierstoffen.  Letztere  werden 
vermutlich  nur  gelegentlich,  zufällig  oder  bei 
Nahrungsmangel  verzehrt. 

Alles  in  allem  genommen  ist  der 
Ohrwurm  ein  harmloses  Tier,  das  nur 
in  den  Fällen,  in  denen  er  zum  Ge- 
legenheitsschädling wird,  zu  bekämpfen 
ist."  Dr.  Olufsen. 


Mineralogie.  Es  ist  neuerdings  von  ver- 
schiedenen Seiten  festgestellt  worden,  daß  die  so- 
genannten Hartsalz  Kalilager  nicht,  wie  van'tHoff 
annahm,  primär  entstanden,  sondern  durch  Er- 
wärmung aus  kainilischen  Salzgemischen  umge- 
schmolzen sind.  R.  Lach  mann  hat  nun  gezeigt, 
daß  umgekehrt  die  Carnallitbildung  der  Südharz- 
Kalilager  sekundär  ist  (Neues  Jahrb.  f  Mineral,  usw. 
1916,  II,  S.  165).  Das  Staßfurter  Hartsalz  enthält 
bis  zur  Hälfte  Kieserit  und  fast  keinen  Anhydrit; 
das  des  Südharzes  ist  wesentlich  ärmer  an  Kieserit 
und  reicher  an  Anhydrit,  so  daß  es  richtiger  nicht 
als  Hartsalz,  sondern  als  Sylvinit  zu  bezeichnen 
ist.  Für  diese  Lager  besteht  kein  Grund  zur 
Annahme  thermometamorpher  Umbildung,  da  sich 
Sylvin,  Steinsalz  und  Anhydrit  auch  bei  niederer 
Temperatur  in  Paragenese  bilden  können.  —  Die 
Untersuchung  bezieht  sich  besonders  auf  eine 
große  Carnallillinse  im  Hartsalzlager  bei  Volken- 
roda.  Das  sonst  sehr  gleichmäßig  etwa  8  m 
mächtige  Lager  ist  an  dieser  Stelle  auf  ca.  13  m 
angeschwollen,,  so  daß  i  m  Carnallit  immer 
eine  Aufwölbung  von  Vj  m  entspricht.  Diese  ist 
also  offenbar  nicht  tektonisch ,  sondern  durch 
Umsetzung  im  Kalilager  verursacht.  Aus  der 
Schichtung  muß  geschlossen  werden,  daß  primär 
ein  einheitliches  Sylvinitlager  vorgelegen  hat,  aus 
dem  sich  dann  an  einzelnen  Stellen  durch  thermale 
Metamorphose  der  Karnallit  bei  Zufuhr  von 
Magnesiumchlorid  gebildet  hat.  Letzteres  stammt 
wohl  aus  einer  übergelagert  gewesenen  Bischoffit- 
region, die  nach  Jäneke  bei  117"  schmilzt.  Diese 
Temperatur  entspricht  einer  Versenkung  von  3,5  km. 
F'alls    eine    solche    Versenkung    —    wie    bei    den 


294 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


thüringischen  Lagern  —  nicht  in  Frage  kommt, 
könnte  die  Lösung  des  Bischoffits  durch  vadose 
Wässer  erfolgt  sein.  Scholich. 

Botanik.  Das  Zittern  der  Laubblätter  ist 
Gegenstand  einer  Untersuchung,  über  die 
Alfred  Hertel  in  den  „Beiheften  zum  Bota- 
nischen Zentralblatt"  (3.  L  17)  berichtet.  Er  ging 
dabei  von  der  auffallenden  Erscheinung  aus,  daß 
Blätter,  beispielsweise  bei  der  Espe,  Populus 
tremula,  bei  gleichmäßigem  Winde  periodische 
Bewegungen  ausführen.  Es  gelang  ihm,  diese 
Bewegung  auch  im  Laboratorium  an  abgetrennten 
Blättern  hervorzurufen  und  sie  dann  optisch  auf- 
zuzeichnen. Die  weitere  Untersuchung  ergab, 
daß  die  Stiellänge  ohne  Einfluß  auf  die  Bewegung 
ist;  der  Stielbau,  vor  allem  der  Querschnitt  des 
Blattstieles,  ist  vielmehr  maßgebend.  Es  besteht 
eine  Abstimmung  der  Schwingungszahlen  von 
Torsion  und  Biegung  in  dem  einfachen  Verhältnis 
1:1,  und  die  Blattstiele  verhalten  sich  in  mecha- 
nischer Hinsicht,  wie  Versuche  zeigten,  wie  Stäbe. 
Es  muß  mithin  eine  Beziehung  zwischen  Torsion 
und  Biegung  bestehen.  Das  Blatt  wendet,  mit 
dem  Winde  gehend,  diesem  die  Breitseite  zu, 
gegen  den  Wind  dagegen  geht  es,  indem  es  seine 
Blatifläche  möglichst  parallel  der  Windrichtung 
stellt,  damit  der  Widerstand  so  klein  wie  möglich 
wird.  Diese  günstige  Einstellung  wird  zwangs- 
weise im  richtigen  Augenblicke  durch  die  mecha- 
nischen Eigenschaften  des  Stieles  bewirkt.  Durch 
Modelle  konnte  diese  Bewegung  nachgeahmt 
werden.  Es  gelang  Hertel,  künstliche  Blätter, 
deren  Blattspreite  aus  Glimmerblättchen  und  deren 
Stiel  aus  Kupferdraht  bestand,  zum  richtigen 
Zittern  zu  bringen.  Dabei  brauchte  er  sich  hin- 
sichtlich der  Blattform  durchaus  nicht  an  die 
natürlichen  Vorbilder  zu  halten,  vielmehr  gelang 
der  Versuch  mit  quadratischen  Flächen  von  30  mm 
Seitenlänge,  mit  kreisförmigen  von  15  mm  Halb- 
messer, mit  rechteckigen,  wenn  der  Stiel  parallel 
der  kürzeren  Seite  lag,  mit  elliptischen,  wenn  der 
Stiel  die  Verlängerung  der  kürzeren  Achse  bildete. 
Der  Stiel  war  dabei  ein  Kupferdraht  von  '/.-.  n^m 
Halbmesser  und  50  mm  Länge.  Die  Modelle  mit 
quadratischer  oder  kreisförmiger  Fläche  zitterten 
aber  nur,  wenn  der  Stiel  auf  ein  Viertel  der  Länge 
so  abgeflacht  war,  daß  die  Abflachungsebene 
senkrecht  zur  Blattfläche  stand.  Schließlich  stellte 
Hertel  auch  ein  sehr  großes  Modell  her,  zu  dem 
eine  Papierfläche  von  60  cm  Seitenlänge  auf  einen 
Holzrahmen  gespannt  wurde,  während  als  „Blatt- 
stiel" ein  120  cm  langer  Holzstab  von  8  und  16  mm 
Seitenlänge  des  Querschnittes  diente.  Bedingung 
für  das  richtige  Zittern  im  Winde  war  dann  nur, 
daß  der  Stab  mit  der  schmaleren  Seitenfläche  am 
Holzrahmen  befestigt  war.  H.  P. 


Bakteriologie.  Die  P"ärbung  der  Geißeln 
von  Knöllchenbakterien  (Bacterium  radicicola) : 
Von  den  bekannten,  in  Wurzelanhängen  der 
Leguminosen  vegetierenden  Bact.  radic.  war  schon 
bekannt,  daß  sie  beweglich  sind  —  die  Stäbchen 
schießen  unter  dem  Mikroskope  wie  Mücken- 
schwärme  durcheinander  —  daß  sie  also  mit 
Geißeln  ausgestattet  sein  müssen.  Wie  aber  diese 
Begeißelung  beschaffen  ist,  darüber  bestanden 
bisher  die  verschiedensten  und  sich  wider- 
sprechenden Ansichten,  weil  sich  der  Sichtbar- 
machung der  Geißeln  Schwierigkeiten  entgegen- 
setzten. Jetzt  ist  Prof.  Chr.  Bart  hei  (Zeitschrift 
f.  Gährungsphysiologie  1917,  S.  I3ff.j  die  Färbung 
gelungen  und  zwar  mit  Hilfe  einer  vorzüglichen, 
aber  bisher  wenig  bekannten  Geißelfärbemeihode 
eines  spanischen  Militärarztes,  Dr.  Caseres-Gil. 
Mit  Hilfe  dieser  Methode,  die  in  der  Arbeit  genau 
beschrieben  wird,  gelingt  es  verhältnismäßig  leicht, 
die  überaus  delikaten  und  feinen,  und  wie  jetzt 
erwiesen  ist,  lophotrichen  Geißeln  sichtbar  zu 
machen.  Es  zeigte  sich  da,  daß  die  Lupinen- 
bakterien I — 6  lange,  wellig  geformte,  an  einem 
Pole,  und  zwar  mehr  an  den  „Ecken"  befestigte 
Geißeln  besitzen,  während  die  der  Luzernenbakterien 
kürzer  sind,  und  in  einer  Anzahl  von  1  —  2,  seltener 
von  3—4  auftreten. 

Daß  hier  Verschiedenheiten  in  der  Begeißelung 
wahrgenommen  sind,  erscheint  deshalb  auch  be- 
merkenswert, weil  M.  Kl  immer  und  R.  Krüger 
(Centralblatt  f.  Bakteriologie  IL  Abt.,  Bd.  40;  S.  256fif.) 
auf  Grund  von  sereologischen  Untersuchungen 
haben  nachweisen  können,  daß  die  unter  dem 
Sammelnamen  „Knöllchenbakterien"  zu  verschie- 
denen, scharf  getrennten  Arten  gehören,  eine 
Feststellung  von  größtem  praktischem  Interesse. 
Ist  man  doch  bekanntlich  in  der  Praxis  dazu 
übergegangen,  das  Saatgut  mit  diesen  Bakterien 
künstlich  zu  infizieren,  mit  Hilfe  von  Impferde  und 
Bakterienpräparaten  das  Acker-  und  Gartenland  zu 
„düngen".  Bei  der  Untersuchung  von  18  ver- 
schiedenen Leguminosen  gelang  es,  9  Bakterien- 
arten zu  unterscheiden.  Art  i  fand  sich  in 
Lupinus  perennis,  luteus,  angustifolius,  sowie  in 
Ornithopus  sativus;  Art  2  in  Melilotus  albus, 
Medicago  lupulina,  M.  sativa  und  Trigonella  foenum 
graecum;  Art  3  in  Lotus  uliginosus,  Anthyllus 
vulneraria  und  Tetragonolobus  purpurea;  Art  4 
in  Vicia  sativa  und  Pisum  arvense;  Art  5  in  Vicia 
faba;  Art  6 — 9  je  in  Trifolium  pratense,  Phasaeolus 
vulgaris,  Soja  hispida  und  Onobrychis  sativa. 

Wie  man  bemerken  wird,  sind  nach  diesem 
Ergebnisse  die  Bakterien  der  Lupine  und  die  der 
Luzerne  (Medicago  sativa)  artverschieden,  ein  Be- 
fund, der  durch  die  nunmehr  festgestellt^  Ver- 
schiedenheit in  der  Begeißelung  bestätigt  zu 
werden  scheint.  Dr.  Olufsen. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


295 


Bücherbesprechungen. 


H.  A.    Lorentz,    The    theory    of    electrons 
and    its   applications    to  the   phenomena 
of  light  and  radiant  heat.    Second  edition. 
343  S.     Leipzig  191 6,  B.  G.  Teubner.  —  Preis 
geh.  9  M. 
Es  hegt  hier  in  englischer  Sprache  die  zweite 
Auflage    einer  Vorlesungsreihe    vor,    die  Verf    im 
Jahre   1906   an  der  Columbia  Universität    in  New 
York    gehalten    und    anläßlich    ihrer    erstmaligen 
Herausgabe    durch    Zusätze    soweit    ergänzt    hat, 
daß    die  Hauptdarstellung  etwa   dem    Stande    der 
Forschung   von    Ende    1908    entspricht.     Die    Be- 
rücksichtigung  der  neuesten  Literatur    in   der  ge- 
genwärtigen Neuauflage  beschränkt    sich    auf   die 
Einfügung    kleinerer  Anmerkungen,    während    der 
Haupttext    gegen    früher    im    wesentlichen    unver- 
ändert geblieben  ist. 

Der  Begründer  der  Elektronentheorie  gibt  hier 
einen  vortrefflichen  Überblick  über  die  Grundlagen 
und  den  bedeutungsvollen  Entwicklungsgang  dieses 
wichtigen  neuen  Gebietes  der  physikalischen  For- 
schung. 

An  die  Aufstellung  der  allgemeinen  Grund- 
gleichungen der  Elektronentheorie  schließt  sich 
im  ersten  der  5  Kapitel  des  Buches  die  Behandlung 
der  Theorie  des  freien  Elektrons,  insbesondere 
seines  Feldes  und  der  elektromagnetischen  Masse, 
an.  Das  zweite  Kapitel  ist  der  Strahlungstheorie 
gewidmet.  Nach  kurzem  Hinweis  auf  die  thermo- 
dynamische  Begründung  der  Gesetze  von  Kirch- 
hoff,  Boltzmann  und  Wien  und  kurzer 
Skizzierung  der  zum  vollständigen  Strahlungsgesetz 
führenden  Plankschen  Untersuchungen  geht  Verf 
näher  auf  seine  eigene,  auf  langwellige  Strahlung 
beschränkte  Ableitung  und  auf  die  zu  ähnlichem 
Ergebnis  führende  Jeans'sche  Theorie  ein.  Das 
dritte  Kapitel  enthält  die  Theorie  des  Zeeman- 
Phänomens,  während  im  vierten  im  Anschluß  an 
die  Elektronentheorie  der  Dispersion  und  Absorp- 
tion der  inverse  Zeeman- Effekt  behandelt  wird. 
Im  letzten  Kapitel  schließlich  findet  sich  eine 
eingehende  durch  die  verknüpfende  Betrachtung 
der  verschiedenen  theoretischen  Deutungsmöglich- 
keiten besonders  interessante  Darstellung  der  opti- 
tischen  Erscheinungen  in  bewegten  Körpern. 

Für  denjenigen  Leser,  der  einen  tieferen  Einblick 
in  die  quantitativen  Zusammenhänge  sucht,  ist  ein 
Anhang  von  mehr  als  lOO  Seiten  höchst  wertvoll, 
worin  der  Verf  die  im  Hauptteil  meist  nur  ange- 
deuteten Berechnungen  in  klarer  Weise  vollständig 
durchgeführt  hat.  Die  durch  die  jetzt  allgemein 
übliche  Verwendung  der  Vektorenschreibweise 
erreichte  Eleganz  der  Form  tritt  hier  besonders 
erfreulich  hervor.  A.  Becker. 


P.  Eversheim,  Angewandte  Elektrizitäts- 
lehre. Ein  Leitfaden  für  das  elektrische  und 
elektrotechnische  Praktikum.  214  Seiten  mit 
215  Textfiguren.  Berlin  1916,  J.Springer.  —  Preis 
geh.  8  M. 


Das  vorliegende  Buch  enthält  eine  anschauliche 
und  durchweg  elementare  Anleitung  zum  Ver- 
ständnis und  Gebrauch  der  Methoden  und  Hilfs- 
mittel der  angewandten  Elektrizitätslehre.  Vom 
Verf.  ist  es  in  erster  Linie  für  Studierende  der 
Naturwissenschaften  und  solche,  die  am  Anfang 
ihrer  technischen  Studien  stehen,  bestimmt,  denen 
es  ein  Ratgeber  sein  soll  bei  Ausführung  der  Ver- 
suche im  elektrischen  und  elektrotechnischen 
Praktikum.  Für  sie  darf  freilich  nur  die  praktische, 
nicht  aber  die  rein  physikalische  Seite  des  Gebietes 
als  genügend  erschöpfend  dargestellt  betrachtet 
werden.  Von  Nutzen  vermag  das  Buch  jedenfalls 
auch  allen  denen  zu  sein,  die  aus  Neigung  oder 
Beruf  sich  ohne  größere  Schwierigkeit  mit  der 
Praxis  der  Elektrotechnik  vertraut  zu  machen 
wünschen. 

An  die  Betrachtung  der  für  die  Arbeitsmethoden 
und  den  Bau  der  Apparate  und  Maschinen  maß- 
gebenden physikalischen  Grundlagen  schließt  sich 
jeweils  deren  eingehende,  durch  zahlreiche  Zeich- 
nungen und  Abbildungen  aller  technisch  wichtigeren 
Ausführungsformen  veranschaulichte  Beschreibung. 
Dazu  treten  Schaltungsskizzen  für  den  Stromlauf 
und  Anleitungen  zur  Ausführung  spezieller 
Messungen  und  zu  tabellarischer  und  graphischer 
Darstellung  der  Ergebnisse.  Gleichstrom  und 
Wechselstrom  sind  in  getrennten  Abschnitten  be- 
handelt; ein  dritter  Abschnitt  handelt  ganz  kurz 
von  „Magnetismus,  Akkumulatoren,  Photometrie". 
A.  Becker. 


Kultur  der  Gegenwart.  Physiologie  und  Ökologie. 
I.:  Botanischer  Teil,  unter  Redaktion  von 
G.  Haberlandt,  bearbeitet  von  Fr.  Czapek, 
H.  V.  Guttenberg  und  E.  Baur.  Leipzig 
und  Berlin  1917,  B.  G.  Teubner.  —  13  M. 
Der  vorliegende  Band  des  großen  Sammel- 
werkes verfolgt  das  Ziel,  die  Lebenserseheinungen 
der  Pflanzen  in  großen  Zügen  darzustellen,  wie  es 
dem  Zweck  des  riesigen  Unternehmens  entspricht, 
nicht  in  lehrbuchartiger  und  vollkommen  er- 
schöpfender Form,  sondern  so,  daß  der  gebildete 
Laie  eine  Vorstellung  von  den  Ergebnissen  und 
Problemen,  mit  einem  Wort  von  dem  Gedanken- 
inhalt der  modernen  Pflanzenphysiologie  bekommt, 
soweit  er  als  Teilstück  für  ein  naturwissenschaftliches 
Weltbild  erforderlich  ist.  Die  drei  Verfasser 
Czapek,  v.  Guttenberg  und  Baur,  alle  als 
Forscher  bekannt,  haben  den  Stoff  in  der  Weise 
unter  sich  geteilt,  daß  Czapek  die  allgemeinen 
Grundlagen  der  Pflanzenphysiologie  und  der  Er- 
näherung,  v.  Guttenberg  das  Wachstum,  die 
Entwicklung  und  die  Bewegungserscheinungen 
der  Pflanzen  und  B  a  u  r  die  Fortpflanzung  behandelt. 
Wenn  auch  naturgemäß  vieles  nur  angedeutet, 
manches  weggelassen,  etliches  nach  Neigung  des 
Verfassers  stärker  oder  schwächer  betont  ist,  so 
geben    die  Abschnitte    dafür,   dank    der   strafferen 


296 


Naturwissengchaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  21 


Darstellung  und  der  Beschränkung  auf  die  großen 
durchlaufenden  Gedanken  eine  sehr  gute  Übersicht, 
die  auch  der  Fachmann  gerne  auf  sich  wirken  läßt, 
die  aber  besonders  wertvoll  für  das  gebildete 
Publikum  ist,  das  einen  Begriff  davon  bekommt, 
wie  außerordentlich  die  „Wissenschaft  Linnes" 
an  Tiefe,  Vielseitigkeit  der  Beziehungen  und  Be- 
deutung für  große,  allgemeine  Lebensprobleme 
gewonnen  hat.  Das  zeigt  sich  im  Abschnitt  über 
Ernährung  nicht  minder  wie  in  dem  über  die 
Reizerscheinungen,  die  vielfach  in  einem  Grade 
eindringlich  aufgelöst  werden  können,  wie  wenige 
Probleme  der  tierischen  Physiologie,    und  schließ- 


lich nicht  zum  wenigsten  im  letzten  Abschnitt, 
in  den  die  moderne  Vererbungslehre,  wenn  auch 
nur  kurz,  so  doch  zielbewußt  eingeflochten  ist. 
Besondere  Erwähnung  verdient  die  sorgfältige  Illu- 
strierung, die  viele  Originale  aufweist,  aber  auch 
die  bekannten  Bilder  in  einer  besonders  klar  und 
schön  umgezeichneten  Form  bringt.  Ein  Frage- 
zeichen könnte  man  höchstens  hinter  den  Titel 
des  Bandes  setzen.  Denn  der  ökologische  Ge- 
sichtspunkt tritt,  wenn  auch  nicht  vollständig  zu- 
rück, so  doch  nicht  in  dem  Maße  leitend  und  vor 
allem  allgemein  durchgreifend  hervor,  wie  man  es 
nach  dem  Titel  erwarten  sollte.  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Der  interessante  Artikel  von  Dr.  Carl  Schoy:  Eine 
merkwürdige  Naturerscheinung  im  Jordantal  (Naturw.  Wochen- 
schrift, 14.  Jan.  191 7,  S.  17 — 20)  veranlaßt  mich  zu  folgender 
kleinen  Notiz. 

Wirft  man  einen  Blick  auf  eine  Isogonenkarte  der  Erde 
(s.  z.  B.  diejenige,  entworfen  von  der  Deutschen  Seewarte  f. 
1910)  so  sieht  man,  daß  die  Deklination  in  Palästina  zur  Zeit 
der  Forschungsreisen  Blanckenhorn's  (ich  vermute  in  den 
Jahren  1908 — 1910)  1 — 2"  westlich  betrug.  Aus  der  Be- 
hauptung Blanckenhorn's,  daß  die  Deklination  „in 
Palästina  augenblicklich  meist  zu  11  —  13"  nach  W.  ange- 
nommen wird"  folgt  daher  entweder,  daß  diese  Annahme 
falsch  ist,  oder,  daß  wir  es  in  Palästina  mit  einer  Anomalie 
westlicher  Deklination  zu  tun  haben.  Der  von  Schoy  an- 
geführte Deklinationswert  für  Jerusalem  würde  hier  eine 
Störung  in  der  Deklination  von  9—10"  vermuten  lassen.  Nun 
ist  diese  Beobachtung  im  „Hotel  Fast  auf  dem  Dache"  ge- 
wonnen worden.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  hier  ganz 
lokale  Störungen  (Eisenbalken  im  Gebäude,  Ziegel,  Bau  usw.) 
für  diesen  abnormen  Wert  verantwortlich  sind.  Bei  erd- 
magnetischen Messungen  müssen  ja  solche  störende  Einflüsse 
auf's  genaueste  vermieden  werden.  Wäre  dem  aber  nicht  so, 
und  sind  alle  vier  angeführten  Deklinationsangaben  von 
solchen  ganz  lokalen  und  der  erdmagnetischen  Kraft  fremden 
Störungsursachen  frei,  so  sind  auch  die  von  der  Jordansenke 
westlich  gelegenen  Teile  in  der  Deklination  gestört,  und 
zwischen  Jericho  und  Jerusalem  wäre  ein  Slörungsherd  zu 
vermuten ,  welcher  auf  den  Nordpol  der  Magnetnadel  ab- 
stoßend wirkt.  —  Näheres  kann  nur  auf  Grund  zahlreicher 
Messungen  gefolgert  werden. 

Was  nun  die  Rolle  der  Hohlräume  mit  Bezug  auf  magne- 
tische Störungen  betrifft,  so  wird  sie  —  ebenso  wie  induzierter 
Magnetismus  beim  Gebirgsmagnetismus  im  allgemeinen  —  nur 
dort  zur  Erklärung  magnetischer  .Anomalien  mit  Erfolg  heran- 
gezogen werden  können,  wo  Schichten  mit  erheblicherer 
magnetischer  Permeabilität  vorhanden  sind.  Im  vorliegenden 
Fall  scheint  es,    daß    diese  Annahme    nicht    gerechtfertigt    ist. 

Was  nun  den  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Stellung 
der    Deklinations- Nadel    betrifft,     so     ist    dies    ein    übereilter 


Ausspruch.  Die  ungleiche  Erwärmung  scheint  zwar  bei  der 
Verteilung 'der  erdmagnetischen  Elemente  auf  der  Erde  eine 
gewisse  Rolle  zu  spielen  (man  vergleiche  bei  L.  A.  Bauer: 
The  Physical  Decomposition  of  the  earlh's  permanent  magnetic 
field.  Terr.  Magn.  Vol.  IV,  S.  33 — 52  besonders  S.  50 — 52 
das  nach  Abzug  des  ,, normalen"  Magnetismus  übrigbleibende 
Kraftfeld),  dieser  Einfluß  ist  aber  klein  und  hat  mit  dem 
vorliegenden  Fall  nichts  zu  tun.  Das  zur  Erhärtung  dieses 
Ausspruchs  angeführte  Beispiel  bei  Lamont  bezieht  sich  ja 
auf  eine  Temperaturkoeffizienten-Bestimmung  und  es  ändert 
sich  ja  nicht  die  Stellung  des  erwärmten  und  abgekühlten 
Magnets,  sondern  jene  des  von  ihm  abgelenkten  Magnets. 
L.  Steiner. 


Maska 


Folgende     Ergänzungen     zu     dem     Aufsatz:     „Sind     die 
jnd    die    zentralpazifischen    Inseln    ozeanisch?" 


(Naturw.  Wochenschr.,  32.  Bd  ,  S.  193)  seien  hier  noch  an- 
gefügt. Prof.  Dr.  Fr.  Kossmat's  Paläogeographie 
(Sammlung  Göschen,  1916),  lehrt  aus  pelrografischen  und 
paläontologischen  Gründen,  daß  mindestens  vom  Silur  ab  bis  über 
die  Trias  hinaus  Brasilien  und  Afrika  zusammenhingen; 
daß  ferner  Vorindien  und  Madagaskar  eine  Landmasse  bildeten, 
mindestens  vom  Silur  ab  bis  jedenfalls  zum  -Alt-Tertiär,  so 
daß  alle  die  obengenannten  Inseln  des  Indischen  Ozeans  zu 
diesem  Festlande  Lemuria  gehörten.  —  Auch  finde  ich  in  der 
Revue  Scientifique  von  11. — 18.  Nov.  1916,  S.  6qi  noch 
mehr  Beweise  für  die  große  Ausdehnung  des  Zentralpazifischen 
Festlandes  Tonga-Rapa  und  die  Entwicklungshöhe  der  nach 
Millionen  zählenden  Bevölkerung.  Dort  schreibt  ein  ge- 
wisser P.  L. : 

„II  convient  de  rappeler  egalement  l'interet  des  recherches 
archeologiques  dans  Ics  archipels,  dissemines  ä  travers  le 
Pacifique.  II  existe  des  monuments  megaliliques,  bicn  connus 
a  I'Ile  de  Paques  et  en  outre  a  Tahiti  (grand  temple  de 
So  mrtres  de  long),  aux  Marquises,  dans  les  Tonga,  les 
Carolines,  l'ilot  Pilcairen  (enormes  colonnes  sculptees)  dont 
la  connaissance  est  encore  Ires  supcrficicUe  et  l'origine  tres 
obscure."  Oudemans. 


Inhalt:  F.  Stellwaag,  Tanzende  Fliegen.  S.  281.  Ernst  Schnitze,  Die  Vernichtung  des  englischen  Waldes.  S.  284. — 
Kleinere  Mitteilungen:  Anna  Hopffe,  Über  Infusorienerde  (Bergmehl).  S.  2S6.  V.  Brehm,  Reflexionen  über  zwei 
neue  Schizophyceensymbiosen.  S.  2S7.  —  Einzelberichte:  Berg,  Leber  und  Eiweißstoffweclisel.  (6  Abb.)  S.  2S8. 
G.  Lüstner,  Neue  Untersuchungen  über  die  Nahrung  des  Ohrwurmes.  S.  291.  R.  Lachmann,  Die  Carnallitbildung 
der  Südharz-Kalilager.  S.  293.  Alfred  Hertel,  Das  Zittern  der  Laubblätter.  S.  294.  Chr.  Barthel,  Die  Färbung 
der  Geißeln  von  Knöllchenbakterien  (Bacterium  radicicola).  S.  294.  —  Bücherbesprechungen:  H.  A.  Loren tz,  The 
theory  of  electrons  and  its  applications  to  the  phenomena  of  light  and  radiant  heat.  S.  295.  P.  Eversheim,  Ange- 
wandte Elektrizilätslehre.  S.  295.  Kultur  der  Gegenwart.  S.  295.  —  Anregungen  und  Antworten:  Eine  merkwürdige 
Naturerscheinung  im  Jordantal.  S.  296.  Ergänzungen  zu  dem  Aufsatz:  „Sind  die  Maskarenen  und  die  zentralpazifischen 
Inseln  ozeanisch?"  S.  296. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippen  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  i6.  Band; 
er   ganzen  Reihe  32.  Band. 


Sonntag,  den  3.  Juni  1917. 


Nummer  33. 


achdruck  verböte 


Die  Pilzvergiftungen  der  letzten  Jahre. 

Von  Prof.  Dr.  G.  Dittrich. 


Für  die  Jahre  191 5  und  1916  ist  erstmalig 
eine  Statistik  der  Pilzvergiftungen  im  Deutschen 
Reiche  aufgestellt  worden,  die  erstaunlich  hohe 
Ziffern  ergeben  hat.  Es  starben  1915  nicht 
weniger  als  92,  im  folgenden  Jahre  (unter  Hin- 
zurechnung einiger  nachträglich  bekannt  ge- 
wordener Fälle)  93  Personen,  und  zwar,  soweit 
aus  den  Nachrichten  ersichtlich  war  oder  durch 
genauere  Nachforschungen  festgestellt  werden 
konnte,  am  Genuß  im  eigentlichen  Sinne  gif- 
tiger Pilze.  Erkrankungen  an  verdorbenen 
Pilzen,  denen  in  den  Büchern  und  Zeitungen  wohl 
eine  übertriebene  Bedeutung  beigelegt  wird  und 
die  auch  kaum  tödlich  verlaufen  dürften,  sind  in 
diesen  Summen  also  nicht  inbegrififen.  Die  weit- 
aus überwiegende  Mehrzahl  der  Todesfälle  ist  dem 
Knollenblätterpilz  zur  Last  zu  legen;  ihm 
folgt  in  weitem  Abstände,  nämlich  mit  4  örtlich 
getrennten  Fällen  des  Jahres  1916,  die  Morchel, 
d.  h.  die  „Lorchel"  in  der  unvolkstümlichen  Be- 
zeichnung der  Bücher;  in  einer  Familie  in  der 
Provinz  Posen  starben  ferner  3  Knaben  an  Gift- 
reizkern, und  einem  Lehrer  in  Aschersleben, 
der  noch  dazu  als  Pilzkenner  galt,  wurde  im  Juni 
1916  eine  allerdings  sehr  seltene  Art,  Inocybe 
frumentacea,  zum  Verhängnis. 

Am  überraschendsten  wirkt  die  ansehnliche 
Zahl  der  tödlichen  Morchelvergiftungen, 
da  es  sich  hier  um  einen  in  der  östlichen  Reichs- 
hälfte verbreiteten  Marktpilz  (Helvella  oder  Gyro- 
mitraesculenta)handelt.  Seit  35  Jahren  ist  durch  sorg- 
fältige Untersuchungen  zweier  Mediziner  bekannt, 
daß  frische  (nicht  getrocknete)  unverdorbene 
Morcheln  dieser  Art  ein  Blutgift  enthalten  und 
infolgedessen  in  verhältnismäßig  geringen  Gaben 
( 1 '/'.,  bis  2  v.  H.  des  Körpergewichtes)  auf  Hunde 
tödlich  wirken ;  durch  kochendes  Wasser  wird 
dieser  Giftstoff  ausgezogen ,  er  geht  also  auch 
in  eine  aus  den  Morcheln  bereitete  Brühsuppe 
über.  Wohl  bei  allen  letztjährigen  leichteren  und 
schwereren  Vergiftungen  von  Menschen  durch 
Morcheln  ist  in  der  Tat  diese  Suppe  verwendet 
worden  und  zwar,  was  besonders  ungünstig  zu 
wirken  scheint,  einige  Zeit  nach  dem  Ge- 
nuß der  Pilze  selbst,  meist  am  folgenden 
Tage.  Immerhin  bleibt  es  unaufgeklärt,  weshalb 
Gesundheitsschädigungen  durch  diesen  verbreiteten 
Speisepilz  nicht  noch  weit  häufiger  vorkommen  ;- 
auch  erkranken  oft  nur  einzelne  Teilnehmer  der 
Morchelmahlzeit,  was  an  eine  individuelle  Empfind- 
lichkeit gegen  den  Giftstoff  oder  (wahrscheinlich) 
die  Giftstoffe  dieses  Pilzes  denken  läßt. 

Die  schwere  Schädigung  durch  Giftreizker 
(Lactarius  torminosus)    ist  insofern    auffallend,    als 


diesem  Pilz  meist  nur  geringe  Störungen  der 
Darmtätigkeiten  zugemutet  werden;  nach  Ab- 
kochen und  Wässern  gilt  er  geradezu  als  eßbar. 
Bei  dem  gedachten  in  der  Provinz  Posen  vor- 
gekommenen Falle  handelte  es  sich  nun  allerdings 
um  Exemplare,  die  durch  einige  feinere  Merkmale, 
namentlich  in  der  mikroskopisch  festzustellenden 
Sporengröße,  von  dem  gewöhnlichen  Lactarius 
torminosus,  dem  sie  aufs  Haar  ähnelten,  abwichen. 
Indessen  sollte  man  daraus  eine  Warnung  vor  der 
Verwendung  des  Gift-  oder  zottigen  Reizkers  ent- 
nehmen. 

Wie  schon  erwähnt,  überwiegen  die  Vergif- 
tungen durch  Knollenblätterschwämme  so 
sehr,  daß  man  diese  .'^rt  geradezu  als  den  Gift- 
pilz ansehen  darf.  Auch  über  ihn  haben  freilich 
die  statistischen  Ermittelungen  und  toxikologischen 
Untersuchungen  der  letzten  Jahre  zu  wesentlich 
neuen  Aufschlüssen  geführt. 

Schon  früher  wurde  in  einzelnen  sorgfältiger 
gearbeiteten  Werken  auf  die  Vielgestaltig- 
keit dieses  wichtigsten  Pilzes  hingewiesen,  die 
seine  Erkennung  durchaus  nicht  so  leicht  ge- 
staltet, wie  das  Zeitungsschreiber  gern  behaupten. 
Es  ist  vor  allem  auseinanderzuhalten  eine  weiß- 
liche bis  gelbliche,  auch  nach  Hellgrün  hin 
spielende  P''orm,  die  meist  zahlreiche  Warzen  auf 
der  Oberseite  trägt  und  besonders  in  Kiefernwäldern 
häufig  anzutreffen  ist,  und  eine  erheblich  dunklere, 
olivgrüne  oder  grünbrau  ne  Form,  die  Laub- 
gehölze bevorzugt  und  sich,  wenn  sie  in  Nadel- 
waldungen auftritt,  mit  Vorliebe  in  der  Nähe  ein- 
gesprengter Eichen  zeigt.  Die  erste  Art,  die 
namentlich  der  Warzen  wegen  wohl  von  jedem 
Sammler  gemieden  wird,  findet  man  in  der  großen 
Mehrzahl  der  Bücher  und  Büchlein  als  den  Typus 
des  Knollenblätterpilzes  abgebildet  und  dem 
Champignon,  namentlich  dem  sogenannten  Schaf- 
champignon (Psalliota  aryensis)  gegenübergestellt, 
der  auch  an  denselben  Ürtlichkeiten  wächst.  Sie 
wird  neuerdings  als  eigene  Art  (Amanita  Mappa) 
aufgefaßt  und  ist  von  dem  grünen  oder  auch 
anders  gefärbten  Giftpilz  (Amanita  phalloides) 
wesentlich  verschieden  durch  die 
spätere  Ausgestaltung  der  den  ganzen 
Pilz  im  Jugendzustand  umgebenden 
Hülle.  Bei  Am.  Mappa  ist  diese  lockerfilzig 
und  zerreißt  daher  bei  der  Ausspannung  des 
Schirmes  in  die  zahlreichen  Warzen  der  etwas 
klebrigen  Oberhaut,  während  an  der  Knolle  des 
Stielgrundes  keine  nennenswerten  Hautreste 
dauernd  zurückbleiben;  Am.  phalloides  hingegen 
besitzt  eine  derbe  Hülle,  die  in  der  Regel  nur 
am    Stielgrund    als    auffällige,    einheitliche,    kelch- 


298 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  22 


artige  Scheide  erhalten  bleibt,  während  den  Hut 
höchstens  ein  einzelner,  größerer  Hautlappen  be- 
deckt. Die  Warzen  der  Am.  JVlappa  werden 
übrigens  durch  anhaltenden  Regen  leicht  abge- 
waschen, so  daß  dann  auch  bei  ihr  der  Hut  nackt 
erscheint.  Sie  besitzt  aber  im  frischen  Zustande 
stets  einen  ausgeprägten,  an  zerschnittene  rohe 
Kartoffeln  erinnernden  Geruch,  während  dieser  bei 
Am.  phalloides  zunächst  geringfügig  und  nach 
einiger  Aufbewahrung  mehr  allgemein  pilzartig- 
dumpfig  ist.  In  dem  bekannten  Pilzbuch  von 
Michael  findet  man  Amanita  Mappa  und 
phalloides  in  je  zwei  schönen  Abbildungen  auf 
einer  Tafel  vereinigt,  jedoch  nicht  durch  die  Be- 
nennung unterschieden. 

Alle  Fälle  nun,  die  durch  persönliche  Nach- 
forschungen am  Orte  der  Erkrankung  —  das 
sicherste  Verfahren  —  oder  durch  Emsendung 
der  Pilzart  aufgeklärt  werden  konnten,  gingen 
auf  die  grüne  Am.  phalloides  zurück. 
Einige  Male  wurde  diese  Art  aus  allgemeiner  Un- 
kenntnis mit  anderen  Pilzen  gleichzeitig  gesammelt 
und  zubereitet;  die  allermeisten  hielten  sie  aber, 
dem  rein  äußerlichen  Merkmal  der  Hutfarbe 
folgend,  für  Grünreizker!  Dieser  Pilz,  Tricho- 
loma  equestre,  anderwärts  Grünling  genannt,  er- 
freut sich  gerade  in  den  östlichen  Provinzen  in 
mannigfacher  Zubereitungsweise  großer  Beliebt- 
heit. Daß  es  vielfach  Kinder  waren,  die  sich 
das  tödliche  Gericht  selbst  sammelten,  macht  das 
Unbegreifliche  der  Verwechselung  etwas  erklär- 
licher. 

Wenngleich  über  die  Wirkung  der  Am. 
Mappa  auf  den  Menschen  letzten  Endes  nur 
durch  eigene  Eßversuche  volle  Klarheit  zu  ge- 
winnen wäre,  so  steht  doch  fest,  daß  entgegen 
den  Angaben  aller  Pilzbücher  erst  sehr  viel 
größere  Mengen  von  ihr  einen  gesundheits- 
schädigenden Einfluß  auszuüben  vermögen,  als 
von  Am.  phalloides,  die  in  einem  oder  wenigen 
Exemplaren  den  Tod  eines  Erwachsenen  zur 
Folge  haben  kann.  Man  ist  nämlich  auch  ohne 
Fütterungsversuche,  die  übrigens  bei  Am.  Mappa 
zu  negativen  Ergebnissen  führten,  bei  denen  sich 
aber  die  betreffenden  Tiere  ja  immer  noch  anders 
verhalten  haben  könnten  als  der  Mensch  im 
gleichen  Falle,  imstande,  die  giftigen  Bestandteile 
eines  Knollenblätterpilzes  zu  erkennen,  zunächst  mit 
Hilfe  einer  frischen  Blutaufschwemmung. 
Setzt  man  einer  solchen  im  Reagenzglase  eine 
selbst  sehr  geringe  Menge  des  mit  physiologischer 
Kochsalzlösung  hergestellten  Auszuges  von  Am. 
phalloides  zu,  so  tritt  alsbald  die  Erscheinung  der 
Hämolyse  ein:  Die  Blutkörperchen  setzen  sich 
nicht  nach  einiger  Zeit  zu  Boden,  wobei  über 
ihnen  eine  farblose  Flüssigkeit  zurückbleibt,  son- 
dern es  entsteht  eine  gleichmäßige,  lackfarben- 
rote, nicht  mehr  sedimentierende  Lösung.  Dieser 
Knollenblätterpilz  enthält  also  einen  blutlösenden 
Stoff,  von  Kobert  Phallin,  von  Ford  Amanita- 
Hämolysin  genannt,  und  ein  Teil  der  Krankheits- 
erscheinungen,   nämlich    die    (übrigens    ungefähr- 


licheren) Reizungszustände  des  Magens  und 
Darmes,  sind  auf  dieses  Gift  zurückzuführen. 
Daß  es  erst  nach  dem  Übergange  in  die  Blut- 
masse zur  Geltung  kommen  kann,  erklärt  die 
merkwürdig  lange  Zeitspanne  (zuweilen  selbst 
mehrere  Tage),  die  bis  zum  Auftreten  der  ersten 
Anzeichen  der  Vergiftung  vergeht,  gleichzeitig 
aber  auch  die  Schwierigkeit,  ihm  wirksam  (durch 
Kochsalz-  oder  Traubenzuckerinfusionen)  entgegen- 
zutreten. Dieses  Phallin  oder  Hämolysin  wird 
schon  bei  65  "  zerstört,  ein  auf  diese  Temperatur 
erwärmter  Auszug  löst  also  die  roten  Blutkörper- 
chen nicht  mehr  auf;  gleichwohl  wirkt  auch  der 
erhitzte  Auszug,  wenn  er  einem  Versuchstier  ein- 
gespritzt wird,  tödlich,  und  zwar  ohne  daß 
Störungen  in  den  Verdauungswerkzeugen  auf- 
treten. Er  enthält  nämlich  noch  einen  zweiten, 
alkaloidartigen  Körper  (wohl  identisch  mit  Ford 's 
Amanita-Toxin),  der  seinerseits  an  einer  eigen- 
artigen Wirkung  auf  das  Froschherz  zu 
erkennen  ist.  Wird  nämlich  einem  Frosche  etwas 
von  dem  Auszug  unter  die  Haut  gespritzt,  so  zeigt 
sich  an  dem  freigelegten  Herz  des  Tieres  ein 
starkes  Sinken  der  Zahl  der  Zusammenziehungen; 
zugleich  erscheinen  die  Erweiterungen  auflällig 
verlängert,  und  schließlich  kann  völliger  Stillstand 
des  prall  mit  Blut  gefüllten  Herzens  eintreten. 
Wird  jetzt  etwas  Atropinlösung  aufgeträufelt,  so 
beginnt  das  Herz  wieder  zu  arbeiten  und  erholt 
sich  allmählich  vollständig.  Das  sind  Wirkungen, 
wie  sie  in  ähnlicher,  wenn  auch  nicht  ganz  gleicher 
Weise  beim  Muskarin  des  Fliegenpilzes  beobachtet 
werden.  Am  Menschen  greift  dieser  Giftstoff  des 
Knollenblätterschwammes  Herz  und  Nerven  an 
und  verursacht  meist  Mundsperre  und  schwere 
Krampferscheinuiigen,  die  bei  etwa  zwei  Dritteln 
der  Erkrankten  zum  Tode  führen.  Spezifische 
Gegenmittel  sind  nicht  bekannt,  insbesondere  hat 
sich  Atropin  nicht  bewährt;  dagegen  ist  Immuni- 
sierung von  Tieren  gelungen.  Besonders  wichtig 
ist  die  Tatsache  der  Koch  bestand  igke  it  des 
Toxins  bzw.  Alkaloids;  hierdurch  erledigt  sich 
die  Meinung  vieler  Leute,  auch  angeblich  sach- 
verständiger, man  brauche  seine  Pilze  nur  ge- 
nügend lange  auszukochen,  um  alle  Sorten  unter- 
schiedslos ohne  Schaden  genießen  zu  können. 

Diese  beiden  Wirkungen  nun,  die  hämolytische 
und  die  muskarinartige,  zeigen  Auszüge  von 
Am.  Mappa  nur  in  sehr  viel  geringerem 
Grade,  während  sie  sich  in  Am.  phalloides  auch 
beim  Trocknen  —  in  Exemplaren  aus  einem 
Breslauer  Park  mindestens  2V.2  Jahre  lang  —  un- 
verändert stark  erhalten.  Übereinstimmend  mit 
diesen  Versuchsresultaten  hat  sich  auch  für  eine 
Verwechslung  von  Knollenblätterpilzen  mit  Cham- 
pignons, von  der  so  unendlich  viel  und  oft  ge- 
schrieben wird  und  bei  der  in  erster  Linie  die  so 
häufige  weißliche  Mappa  in  Betracht  käme,  in  den 
beiden  letzten  Jahren  kein  sicherer  Anhaltspunkt 
ergeben.  Wenn  gleichwohl  ein  solcher  Irrtum 
mit  Champignons  im  engeren  Sinne  (Psalliota-  Arten) 
vorgekommen    ist,    so    würde    daraus    allein  noch 


N.  F.  XVI.  Nr.  2: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


299 


nicht  auf  Giftigkeit  der  Am.  Mappa  zu  schließen 
sein,  vielmehr  käme  dafür  weit  eher  die  unzweifel- 
haft schwer  giftige  weiße  Form  der  Am.  phalioides, 
Am.  verna  (nicht  vernalis-junquillea,  die  für  harmlos 
gilt)  in  Betracht,  welche  früh  im  Jahre  erscheint, 
aber  auch  zur  eigentlichen  Pilzzeit,  freilich  allem 
Anschein  nach  in  Deutschland  selten,  zu  finden  ist. 
Wie  man  sieht,  sind  noch  nicht  alle  Fragen, 
die  den  Knollenblätterpilz  betreffen,  einwandfrei 
entschieden,  und  ein  weiter  Weg  wird  schon  zu- 
rückzulegen sein,  bis  auch  nur  die  hier  mit- 
geteilten Tatsachen  über  die  verschiedene  Be- 
wertung der  beiden  häufigeren  Formen  von 
KnollenbJätterschwämmen,  vor  allem  über 
die  besondere  Gefahr,  die  gerade  von 
selten  der  grünen  Art  droht,  Eingang  in 
die  Schriften  gefunden  haben  werden,  aus  denen 
weitere  Kreise  ihre  Belehrung  über  Pilze  schöpfen. 
Mehr  als  auffallend  ist  auch,  daß  nichts  Durch- 
greifendes für  die  Verbreitung  der  Kenntnis  der 
Knollenblätterpilze  geschieht,  womit  dann  doch 
fast  alle  Pilzvergiftungen  aufhören  müßten ;  mit 
der  Empfehlung   von  Merkblättern    und    der    An- 


regung von  Pilzwanderungen  ist  dieses  Ziel  offen- 
sichtlich nicht  zu  erreichen.  Dabei  steht  aus 
naheliegenden  Gründen  zu  erwarten,  daß  die  Zahl 
der  Pilzvergiftungen  in  diesem  Jahre  eher  noch 
steigen  wird;  auch  wird,  wenn  im  Glauben  an 
trügerische  allgemeine  Erkennungszeichen,  zu 
denen  selbst  heutzutage  noch  manche  Schriften 
beispielsweise  den  angenehmen  Geruch  zählen, 
eine  größere  Zahl  von  Sorten  als  bisher  erprobt 
werden  sollte,  wahrscheinlich  auch  der  Kreis  der 
als  schädlich  erkannten  Arten  sich  erweitern. 
Vielleicht  ließe  es  sich  wenigstens  erzielen,  die 
Kenntnis  der  einzelnen  Vergiftungsfälle  auf  eine 
noch  umfassendere  Grundlage  zu  stellen,  wenn 
Persönlichkeiten  aus  dem  Leserkreise,  die  sich 
auf  diesem  Gebiete  fördernd  zu  betätigen  ge- 
neigt wären,  möglichst  genaue  Angaben  über  die 
Vorkommnisse  des  neuen  Jahres  dem  Verfasser 
unter  der  Adresse  Breslau  16,  Uferzeile  14,  mit- 
teilen und  vor  allem  auch  einige  Stücke  der  be- 
treffenden Art  als  „Muster"  in  einem  Papp- 
kästchen ,  zwischen  Papier  gelegt ,  einsenden 
wollten. 


Die  Yerbreitung  des  wilden  Kaninchens  in  Russisch-Polen. 

[Nachdruck  verboten.)  Von    Prof.    Dr. 

Das  wilde  Kaninchen  (Oryctolagus  cuniculus)  war 


ursprünglich  nur  im  Südwesten  unseres  Erdteils  hei 
misch');  sein  Bild  erscheint  auf  antiken  Münzen 
als  Symbol  der  Hispania-).  Erst  seit  dem  Mittel- 
alter hat  es  unter  dem  Einflüsse  des  Menschen 
sein  Areal  stark  ausgedehnt,  so  daß  es  gegenwärtig 
über  den  größten  Teil  von  Süd-  und  Mitteleuropa  ver- 
breitet ist.  Doch  soll  es  nach  den  Angaben 
deutscherZoologen  auch  heutzutage  in  Rußland  noch 
fehlen.  So  kennt  Schaff'')  keine  Standorte  dieses 
Nagers  im  russischen  Reiche,  und  Gcrhardf*) 
und  Heck'')  berichten  übereinstimmend,  daß  man 
bisher  vergeblich  versucht  habe,  das  Kaninchen  in 
Rußland  als  Wild  einzubürgern.  Ähnlich  lauten 
die  Schilderungen  polnischer  Faunisten.  Zwar  be- 
merkt bereits  Martin  Crom  er"),  daß  an  einigen 
Orten  Kaninchen  vorkämen,  aber  diese  unbestimmte 
Angabe  läßt  nicht  erkennen,  ob  sie  sich  wirklich 
auf  das  Gebiet  Kongreßpolens  bezieht.  Alle  späteren 
Autoren  erwähnen  Oryctolagus  cuniculus  nur  als 
Haustier').      Besondere    Beachtung    verdient    der 


')  E.  Hahn,  Die  Haustiere  und  ihre  Beziehungen  zur 
Wirtschaft  des  Menschen.     (S.  250.)     Leipzig  1896. 

")  O.  Keller,  Die  antike  Tierwelt.  Bd.  1,  (S.  218) 
Leipzig   1909. 

3)  E.  Schaff,  Jagdtierkunde.    (S.   189.)     Berlin   1907.     " 

*)  U.  Gerhardt,  Das  Kaninchen.  Monogr.  einheim. 
Tiere,  Bd.  2  (S.   13).     Leipzig   1909. 

S)  L.  Heck,  Nagetiere.  Brehm's  Tierleben,  Bd.  II, 
IV.   Aufl.,   (S.   30).     Leipzig  und   Wien   1914. 

"}  A.  Schott,  Martin  Cromer's  Beschreibung  des  König- 
reichs Polen.      (S.  47.)     Leipzig   1741. 

'')  Das    sogenannte    „polnische    Kaninchen"    ist    ein    rein 


F.  Pax  (Breslau). 

Umstand,  daß  die  Art  in  dem  1877  erschienenen 
Verzeichnisse  der  polnischen  Wirbeltiere  von 
W.  Taczanowski')  fehlt.  Wir  dürfen  mit 
Sicherheit  annehmen,  daß,  wenn  das  Kaninchen 
schon  damals  in  Polen  heimisch  gewesen  wäre, 
seine  Anwesenheit  diesem  Meister  in  der  Be- 
obachtung der  Tierwelt  nicht  entgangen  wäre. 
Auch  Hoyer-)  führt  in  seinein  Bestimmungs- 
schlüssel der  polnischen  Wirbeltiere  nur  die  Provinz 
Posen  als  Fundort  auf:  „Pochodzi  z  Europy  polud- 
niowej  i  znajduje  sie  zdziczaly  w  wielu  okolicach 
Polski  jak  n.  p.  w  W.  Ks.  PoznaiUkiem  (Milos- 
law)."  Die  in  der  „Encyklopedya  Polska"^)  ent- 
haltene Bemerkung,  daß  das  Kaninchen  aus  dem 
südwestlichen  Europa  in  die  polnischen  Länder 
eingeführt  worden  sei,  bezieht  sich,  wie  mir  Herr 
Professor  v.  Niezabitowski  (Nowy  Targ)  mit- 
teilte, gleichfalls  auf  das  Vorkommen  bei  Miloslaw 
in  Posen.  Die  zahlreichen  Aufsätze  Stolcmann's, 
die  sich  hauptsächlich  an  die  polnische  Jägerwelt 
wenden,  enthalten  keine  Hinweise  auf  das  Vor- 
kommen von  Orygctolagus  cuniculus. 

Während  meines  Aufenthalts  in  Russisch  Polen 
habe  ich  besonders  auf  die  Verbreitung  des  wilden 


veißer , 


Ha 


Dtäugiger    Albino ,    der    in    Galizien    und    Po 


chtc 


vird. 


>)  W.  Taczanowski,  Liste  des  vertebres  de  Pologne. 
Bull.  Soc.  zool.    France,   Tom.  2.      1877. 

■-)  H.  Hoyer,  Klucz  do  oznaczania  zwierzat  kregowych 
ziem   polskich.      (S.    298.)      Krakow    19I0. 

3)  L.  V.  Niezabitowski,  Öwiat  zwierzecy  na  zicniiach 
polskich.      Encykl.  Polska,     Vol.   I    (S.  360).  "  Krakow  1912. 


300 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  22 


Kaninchens  geachtet  und  die  eigenen  Erfahrungen 
durch  Anfragen  bei  zuverlässigen  Beobachtern  zu 
ergänzen  versucht.  Als  Resultat  ergab  sich,  daß 
das  wilde  Kaninchen  in  Russisch-Polen  keineswegs 
fehlt,  wenn  es  auch  nicht  so  häufig  auftritt  wie 
in  vielen  Gegenden  Deutschlands.  In  der  mittel- 
polnischen Ebene  ist  es  z.  B.  bei  Kaiisch,  Zdunska, 
Wola,  Lodz,  Skiernewice  und  an  der  Bzura  anzu- 
treffen; im  Hügellande  Südpolens  hat  es  Herr 
Hauptmann  Schumann  (Breslau)  bei  Czenstochau 
und  Nowo  Radomsk  beobachtet.  Allemir  bekannt  ge- 
wordenen Fundorte,  auf  deren  Aufzählung  ich  wohl 
verzichten  darf,  liegen  auf  dem  linken  Weichsel- 
ufer. Die  gleiche  Beobachtung  hat  für  das  Gebiet 
des  Generalgouvernements  Warschau  Herr  Ober- 
forstmeister Dr.  Laspeyres  gemacht.  Seinen 
Mitteilungen  entnehme  ich,  daß  wilde  Kaninchen 
in  allen  Forstinspektionen  links  der  Weichsel  er- 
legt worden  sind  und  daß  die  östlichsten  Vorposten 
innerhalb  des  Generalgouvernements  Warschau 
sich  gegenwärtig  wohl  im  Kreise  Warschau-Land 
befinden.  Das  Fehlen  des  wilden  Kaninchens  auf 
dem  rechten  Weichseluler  wird  übrigens  auch 
durch  andere  Beobachter  bezeugt.  So  betont  Herr 
Ed.  J.  R.  Scholz  (Königshütte)  besonders,  daß 
bei  Komarow,  im  Kreise  Oströw,  wo  Sand  und 
Kiefernheide  vorherrschen,  wilde  Kaninchen  nicht 
vorkommen. 

Zwischen  den  Angaben  in  der  Literatur  und 
den  tatsächlichen  Befunden  besteht  also  ein  er- 
heblicher Widerspruch.  Da  Beobachtungsfehler 
wohl  kaum  vorliegen  dürften,    bleibt  nur   die  An- 


nahme übrig,  daß  das  wilde  Kaninchen  erst  in  den 
letzten  zwei  bis  drei -Jahrzehnten  in  Russisch-Polen 
eingewandert  ist.  Diese  Vermutung  gewinnt  da- 
durch an  Wahrscheinlichkeit,  daß  Oryctolagus 
cuniculus  auch  in  manchen  Teilen  der  Provinz 
Posen  noch  in  Ausbreitung  begriffen  ist.  Wenigstens 
ist  die  Art  in  Janowitz  nach  Szulczewski')  erst 
seit  etwa  zwanzig  Jahren  heimisch.  In  Schlesien  -) 
war  das  Kaninchen  noch  am  Ende  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  im  wilden  Zustande  unbekannt,  hat 
sich  aber  hentzutage,  vor  allem  in  den  Oderkreisen 
von  Grünberg  bis  Steinau  zu  einer  wahren  Land- 
plage entwickelt.  In  Oberschlesien  reicht  sein  Ver- 
breitungsgebiet bis  an  die  polnische  Grenze.  Bei 
Stahlhammer,  Idaweiche,  Laurahütte  und  Tarnowitz 
sind  Kaninchenbaue  nicht  selten.  Die  Einwanderung 
des  Kaninchens  nach  Russisch-Polen  scheint  im 
wesentlichen  von  Schlesien  und  dem  südlichen 
Posen  ausgegangen  zu  sein.  Daß  von  dem  rechts 
der  Weichsel  gelegenen  Teile  Westpreußens  keine 
Invasion  erfolgt  ist,  ist  wohl  auf  die  große  Aus- 
dehnung feuchter  Niederungen  im  nördlichen  Polen 
zurückzuführen.  Gerade  die  nördlich  der  Weichsel 
und  des  Narew  gelegene  Landschaft  bietet  dem 
Kaninchen  viel  weniger  günstige  Ansiedlungsbe- 
dingungen  als  das  linke  Weichselufer  Polens. 


')  A.  Szulczewski,  Zur  Säugetier-  und  Vogelfaun 
der  Umgegend  von  Janowitz  (Kr.  Znin).  Zeitschr.  natur« 
Ver.  Posen,   17.  Jahrg.,   1910. 

■^)  F.  Pax,  Wandlungen  der  schlesischen  Tierwelt  i 
geschichtlicher  Zeit.    Beitr.  Naturdenkmalpfl.,  Bd.  5,   1916. 


Einzelberichte. 


Astronomie.  Die  in  der  Geschichte  der 
Neuen  Sterne  bekannteste  und  wichtigste  ist  die 
Nova  Persei  von  1901,  die  ganz  plötzlich  an 
einer  Stelle  als  Stern  heller  denn  die  erste  Größe 
erschien,  wo  nachweislich  auf  photographischen 
Platten  24  Stunden  vorher  kein  Stern  heller  als 
12  Größe  gewesen  war.  Die  Nova  hatte  also  sich 
um  wenigstens  das  60000  fache  an  Helligkeit 
vergrößert.  Der  ungeheure  Wert  jenes  Erscheinens 
lag  darin,  das  die  große  Helligkeit  alle  modernen 
Mittel  des  Spektroskopes  anzuwenden  erlaubte, 
so  daß  eindeutig  die  Streitfrage  entschieden  werden 
konnte,  worin  das  plötzliche  Aufleuchten  seinen 
Grund  hat.  Man  schwankte  zwischen  der  Zu- 
sammenstoß-Hypothese, die  theoretisch  wenig 
wahrscheinlich  ist,  und  der  Annahme,  daß  das 
Eindringen  eines  Sternes  in  eine  kosmische 
Wolke  dessen  Vorderseite  einem  solchen  Meteor- 
hagel aussetze,  daß  sie  dadurch  zu  leuchten  be- 
ginne. Hier  wurde  unzweideutig  für  die  zweite 
Annahme  entschieden.  Man  stellte  nach  kurzer 
Zeit  fest,  daß  sich  um  den  Stern  ein  bis  dahin 
unbekannter  Nebel  zeigte,  daß  in  diesem  unregel- 


mäßige Struktur  zu  sehen  sei,  und  daß  der  Nebel 
an  Ausdehnung  mit  Lichtgeschwindigkeit  zunehme. 
Außerdem  nahm  die  Helligkeit  des  Sternes  bald 
ab,  und  die  Abnahme  geschah  in  5  tägigen 
Schwankungen.  Es  war  also  der  Stern,  dessen 
Umdrehungszeit  5  Tage  beträgt,  in  die  kostnische 
Wolke  eingedrungen,  hatte  sich  auf  der  vorderen 
Seite  sehr  schnell  sehr  stark  erhitzt,  und  war  uns 
so  erschienen.  Die  von  dieser  Seite  ausgehende 
Lichtfülle  erfüllte  die  dunkle  Wolke  und  machte 
sie  auf  diese  Weise  auch  leuchtend.  Indem  das 
ausgesandte  Licht  immer  neue  Teile  des  Nebels 
ergriff,  schien  dieser  zu  wachsen,  was  mit  Licht- 
geschwindigkeit geschah.  Nun  ist  im  Laufe  der 
Zeit  der  Stern  immer  schwächer  geworden,  steht 
aber  unter  dauernder  Kontrolle.  Noch  immer 
dauert  seine  Veränderlichkeit  an,  die  Schwankung 
war  1915  noch  1,7  Größen,  jetzt  0,6  Gr.  Der 
umgebende  Nebel  war  1915  unsichtbar  geworden, 
ist  aber  seit  4.  Sept.  1916  wieder  auf  den  Auf- 
nahmen sichtbar,  sehr  klein,  etwa  15"  Durch- 
messer. Merkwürdigerweise  zeigt  die  Nova  einen 
Begleiter,  der  sich  auffallend  verhält.  Er  war  vor 
1901,  also  vor  dem  Aufleuchten  der  Nova,  11,9  Gr., 


N.  F.  XVI.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


301 


ein  halbes  Jahr  später  14,7  Gr.  Im  Dezember 
1901  schwächer  als  14  Gr.,  3.  August  191 3  wird 
er  als  15,7  Gr.  angegeben,  ist  also  an  der  Grenze 
der  Sichtbarkeit.  Welches  nun  auch  der  innere 
Zusammenhang  beider  Sterne  und  des  Nebels 
sein  mag,  soviel  ist  klar,  daß  sich  der  Begleiter 
umgekehrt  wie  die  Nova  verhält.  Vor  deren 
Auftauchen  war  er  der  hellere,  seitdem  aber  die 
Nova  erschien,  nimmt  er  langsam  ab,  ohne  daß 
ein  Grund  dafür  anzugeben  ist,  und  ebenso  rätsel- 
haft ist  das  Verhalten  des  zugehörigen  Nebels. 
Hier  gilt  es  noch  viel  astronomische  Kleinarbeit 
zu  leisten,  die  freilich  durch  die  gegenwärtige 
ungemeine  Lichtschwäche  aller  drei  Objekte  sehr 
schwierig  ist.  Riem. 

Das  eingehende  Studium  der  Veränderlichen 
mit  den  neuen  Hilfsmitteln,  die  Schwankungen 
von  weniger  als  ^j|,u  Größenklassen  messen  lassen 
(diese  Zcitschr.  191 5  S.  188),  führt  zu  immer 
interessanteren  .Aufschlüssen  über  die  physische 
Natur  dieser  doppelten  oder  mehrfachen  Systeme. 
So  haben  soeben  Guthnick  und  Prager  an 
der  Sternwarte  BerlinBabelsberg  eine  Messungs- 
reihe an  beta  Lyrae  veröffentlicht,  Ber.  der  Berl. 
Akad.  d.  Wiss.  191 7,  XII,  S.  222,  dessen  Licht- 
kurve zwar  schon  lange  einigermaßen  bekannt 
war,  nun  aber  noch  charakteristische  Eigentüm- 
lichkeiten gezeigt  hat,  die  mit  den  bisherigen 
Hilfsmitteln  nicht  aufzufinden  waren.  Der  Licht- 
wechsel beträgt  in  12,92  Tagen  0,877  Größen, 
er  weist  außer  dem  Maximum  ein  Haupt-  und 
ein  Nebenminimum  auf.  Das  System  gehört  zu 
den  Bedeckungssternen,  bei  denen  der  Licht- 
wechsel durch  das  Dazwischentreten  des  einen 
der  beiden  Sterne  in  die  Gesicht.slinic  bewirkt 
wird.  Der  Hauptstern  ist  etwas  heller  als  der 
Begleiter,  der  aber  die  größere  Flächenhelligkeit 
hat,  und  beim  Hauptminimum  ganz  bedeckt  wird. 
Der  Hauptstern  muß  eine  sehr  hohe  und  sehr 
stark  Licht  absorbierende  Atmosphäre  haben, 
während  außerdem  noch  das  ganze  System  eine 
gemeinsame  Gashülle  zu  haben  scheint.  Beide 
Sterne  sind  jedenfalls  Gassterne,  sie  sind  einander 
sehr  nahe,  so  daß  sie  sich  gegenseitig  durch  ihre 
Gezeiten  bildende  Kraft  stark  aus  der  Kugel- 
gestalt umformen  und  Rotationsfiguren  bilden, 
die  aufeinander  zu  gerichtete  Achsen  haben.  Die 
große  Halbachse  der  Bahn  bestimmt  sich  zu 
34,4  Millionen  km,  die  große  und  kleine  Halbachse 
des  Hauptsternes  zu  15,75  und  12,69  ^^I'H-  km, 
die  des  Begleiters  zu  8,34  und  6,72  Mill.  km,  so 
daß  also  die  Oberflächen  beider  Sterne  nur  etwa 
10,3  Mill.  km  voneinander  entfernt  sind,  das  ist 
Vr,  des  Abstandes  des  Merkur  von  der  Sonne. 
Trotz  dieser  großen  Ausdehnung  ist  die  Masse 
beider  Sterne  zusammen  nur  höchstens  9,7  mal 
so  groß  wie  die  der  Sonne,  weil  die  Dichte  der 
Sterne  bei  dem  ersten  nur  etwas  mehr  beträgt 
wie  die  der  Luft  bei  760  mm  Druck,  bei  dem 
Begleiter    ist  der  Wert  nur   V3  davon.     Man  muß 


sich  wundern ,  daß  so  dünne  Gasmassen  in  so 
hoher  Temperatur  sich  nicht  völlig  in  den  Raum 
verflüchtigen  können,  sondern  durch  ihre  Gravita- 
tionswirkung zusammengehalten  werden. 

Riem. 


Botanik.  Seit  Delpino  die  Behauptung 
aufgestellt,  daß  manche  Pflanzen  durch  Schnecken 
bestäubt  werden,  ist  in  der  einschlägigen  Literatur 
eine  ganze  Reihe  von  Angaben  über  „malakophile" 
Blüten,  die  z.  T.  dem  Besuche  dieser  Tiere  be- 
sonders angepaßt  seien,  zusammengekommen.  In 
einem  fesselnden  Aufsatz  (im  Nachrichtenblatt  der 
Deutschen  Malakozoologischen  Gesellschaft  1917, 
S.  49  fif.)  unterzieht  E  h  r  m  a  n  n  die  Frage  einer 
Bestäubung  von  Blüten  durch  Schnecken  einer 
dankenswerten  kritischen  Untersuchung. 

Bisher  waren  es  fast  ausschließlich  Blütenbio- 
logen, die  sich  über  den  Gegenstand  eingehend 
geäußert  hatten.  Die  Pflanze  und  etwa  vor- 
handene Einrichtungen,  die  eine  Deutung  im  Sinne 
einer  Anpassung  oder  wenigstens  Eignung  für 
den  Schneckenbesuch  zuließen,  standen  immer  im 
Mittelpunkt  der  Erörterung;  —  um  das  Tier 
kümmerte  man  sich  weniger  und  nahm  seine 
Tauglichkeit  zur  Pollenübertragung  gewissermaßen 
als  selbstverständlich  an.  Bei  der  schleimigen 
Beschaffenheit  der  Haut  „mußten"  ja  Pollenkörner 
am  Körper  des  Tieres  haften  bleiben  und  so  von 
Blüte  zu  Blüte  transportiert  werden.  Für  E  h  r  m  a  n  n 
als  erfahrenen  Schneckenspezialisten  verstand  sich 
die  Befähigung  zum  Pollentransport  nun  nicht  so 
ohne  weiteres.  Im  Gegenteil  ließ  eine  Überlegung, 
die  die  Eigentümlichkeiten  der  Bewegung  und 
Schleimabsonderung  der  Schnecken  berücksichtigte, 
eine  Pollenübertragung  von  vornherein  als  sehr 
zweifelhaft  erscheinen.  „Während  das  Tier  vorwärts 
gleitet,  .  .  .  ergießt  sich  von  vorn  her  ein  Sekret- 
strom unter  die  Kriechsohle,  breitet  sich  da,  einem 
Teppich  vergleichbar,  aus"  und  „glättet  alle  feineren 
Unebenheiten  des  Bodens."  „Da  die  Schnecke  ihr 
Schleimband  der  Unterlage  andrückt  und  es  hinter 
sich  liegen  läßt,  nachdem  sie  darüber  hingeglitten, 
so  können  auch  leichte  Körperchen,  die  unter  die 
Schleimspur  zu  liegen  kamen,  wohl  um  geringe 
Beträge  aus  ihrer  Lage  verschoben,  keinesfalls  aber 
durch  das  Tier  weiterbefördert  werden."  Daher 
ist  nicht  nur  ein  Transport  von  Pollen  an  der  Sohlen- 
fläche ausgeschlossen,  sondern  es  folgt  daraus  so- 
gar, daß  eine  Menge  Pollenkörner  verklebt,  An- 
therenfächer  und  Narbenflächen  mit  der  zusammen- 
trocknenden Schleimschicht  bedeckt  und  so  ihrer 
Bestimmung  entzogen  werden.  Es  wäre  aber  noch 
an  die  Möglichkeit  zu  denken,  daß  an  den  Seiten- 
flächen des  Schneckenkörpers  gelegentlich 
Pollenkörner  haften  bleiben.  Bei  der  Zähigkeit 
und  Klebkraft  des  Schneckenschleimes  wäre  die 
Übertragung  auf  eine  Narbe  jedoch  selbst  in  diesem 
Falle  nur  dann  möglich,  wenn  die  Narbenflüssigkeit 
den  Schneckenschleim  an  Klebkraft  noch  über- 
träfe. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.   22 


Unter  diesen  Umständen  war  eine  Nachunter- 
suchung der  älteren  Angaben  dringend  geboten, 
zumal  sich  bei  näherem  Zusehen  zeigte,  daß  der 
behauptete  Bestäubungsvorgang  selbst  tatsächlich 
niemals  wirklich  beobachtet  sondern  nur  per  analo- 
giam erschlossen  wurde !  E  h  r  m  a  n  n  wählte  als 
Versuchsobjekt  die  Schlangenwurz  (Calla  palustris), 
die  unter  allen  einheimischen  Pflanzen  noch  am 
ehesten  eine  Bestäubung  durch  Schnecken  erwarten 
ließ.  Er  setzte  die  gewöhnliche  Ackerschnecke 
(Agriolimas  agrestis)  und  eine  kleine  Rernstein- 
schnecke  (Succinea  putris)  auf  den  Stengel  kurz 
unterhalb  eines  Blütenstandes,  dessen  Hüllblatt  zur 
besseren  Übersicht  entfernt  worden  war,  und  ver- 
folgte mit  Hilfe  eines  Stereo  Mikroskopes  die  sich 
abspielenden  Vorgänge.  Bei  der  angewandten  15- 
und  35-fachen  Vergrößerung  war  es  möglich,  das 
Schicksal  jedes  bewegten  Pollenkornes  bis  zu  seiner 
Festlegung  zu  verfolgen.  Genau  wie  erwartet, 
wurde  der  Pollen  aus  den  Antheren,  die  unter  die 
Sohle  zu  liegen  kamen,  nicht  nur  nicht  verschleppt, 
sondern  festgelegt.  Die  Körnchen  aber,  die  an  der 
Seite  des  Schneckenkörpers  haften  blieben,  wurden 
mehr  oder  weniger  schnell  zusammen  mit  den  sie 
tragenden  Schleimteilchen  in  das  Sohlenschleim- 
band  einbezogen  und  zwar  um  so  rascher,  je  näher 
sie  dem  Sohlenrande  waren.  „Diese  Beobachtungen 
machen  es  klar,  daß  die  Schnecke  beim  Kriechen 
nicht  einfach  eine  Sohlenschlelmspur  hinterläßt, 
sondern  daß  sie  gemäß  der  andauernden  Sekretion 
aller  Hautdrüsen  gewissermaßen  dauernd  aus  einer 
Schleimhülle,  einem  Schleimhemd,  herausschlüpft, 
das  als  zusammenfallender  Schlauch  —  freilich  von 
ungleicher  Wandstärke  —  hinter  ihr  liegen  bleibt." 
Das  einzelne  Pollenkorn,  das  irgendwie  mit  dieser 
Schleimhülle  in  Berührung  kommt,  ist  ihr  unentrinn- 
bar verfallen.  Immerhin  wäre  es,  wenn  ausnahms- 
weise ganze  Pollen  h  äu  fc  h  e  n  und  zwar  in  ge- 
eigneter Höhe  aufgeladen  werden,  die  Schnecke 
bald  neben  eine  empfängnisbereite  Narbe  kommt 
und  ferner  das  Pollenhäufchen  inzwischen  am 
Schneckenkörper  eine  entsprechende  Lage  einge- 
nommen hat,  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  äußeren 
Körner  des  Pollenhäufchen  auf  der  Narbe  haften 
bleiben  und  so  eine  Bestäubung  eintritt.  Schon  die 
Häufung  der  dazu  nötigen  Bedingungen  zeigt  zur 
genüge,  daß  dieser  Fall,  wenn  überhaupt,  doch  nur 
sehr  selten  eintreten  wird.  Zur  Beobachtung 
kam  er  jedenfalls  nicht.  Der  geringe  Vorteil,  der 
in  einer  solchen  ganz  gelegentlichen  Bestäubung 
liegt,  steht  aber  in  gar  keinem  Verhältnis,  zu  dem 
Schaden,  der  der  Blüte  aus  dem  Schneckenbesuch 
erwächst  —  selbst  wenn  man  von  den  Verheerungen, 
die  die  Freßgier  dieser  Tiere  anrichtet,  ganz 
absieht:  Antheren  und  Narben,  die  in  der  Kriech- 
bahn hegen,  werden  völlig  verklebt  und  damit 
auch  einer  Bestäubung  durch  berufene  Gäste 
entzogen. 

Auf  Grund  der  an  der  Calla  gemachten  Er- 
fahrungen unterzieht  Ehr  mann  auch  die  über 
andere  einheimische  angeblich  malakophile  Pflanzen 
(Arum,  Lemna,  Chrysosplenium  und  Kompositen) 


vorliegenden  Angaben  einer  kritischen  Musterung 
und  stellt  weitere  experimentelle  Untersuchungen 
in  Aussicht.  Die  Ausführungen  Eh  rman  n 's  sind 
so  überzeugend,  daß  über  deren  Ausfall  kaum 
Zweifel  bestehen  können.  Wie  es  mit  Pflanzen 
anderer  Klimate  bestellt  ist,  entzieht  sich  freilich 
einstweilen  einem  sicheren  Urleil.  Solange  aber 
kein  Fall  einer  regelmäßigen  Bestäubung  durch 
Schnecken  wirklich  nachgewiesen  ist,  hat 
die  „Malakophilie"  aus  den  einschlägigen  Lehr- 
büchern zu  verschwinden.  B. 


Meteorologie.  Da  in  diesem  Kriege  besonders 
häufig  Gelegenheit  geboten  war,  für  den  Geschütz- 
donner Zonen  des  Schweigens  und  Zonen  abnormer 
Hörbarkeit  zu  beobachten,  so  hat  die  Erscheinung 
von  neuem  eine  Reihe  von  wissenschaftlichen 
Erklärungsversuchen  verursacht.  W.  Schmidt  hat 
gezeigt,  daß  die  Reflexion  der  Schallstrahlen  an 
der  Wasserstoftatmosphäre  nicht  in  Frage  kommen 
kann,  da  die  Intensität  der  Schallwellen  dazu  nicht 
ausreicht.  R.  Emden  (Sitzgsber.  der  kgl.  bayr. 
Akad.,  math.phys.  München  1916,  S.  113)  teih 
jetzt  einen  sehr  beachtenswerten  Erklärungsversuch 
mit,  der  den  Vorteil  besitzt,  eine  genaue  mathe- 
matische Behandlung  zuzulassen  und  durch  meteo- 
rologische Beobachtungen  nachzuprüfen  sein  dürfte. 

Emden  leitet  die  Bahn  eines  Schallstrahles  in 
der  Atmosphäre  ab  unter  der  Bedingung,  daß  ein 
konstanter  Temperaturgradient  in  ihr  vorhanden 
ist.  Es  ergibt  sich  eine  Zykloide  oder  angenähert 
eine  Kettenlinie,  die  nach  oben  konkav  ist.  Die 
unterste  Grenzkurve  ist  diejenige,  die  von  der 
Erdoberfläche  am  Ort  der  Schallquelle  tangiert 
wird,  vorausgesetzt,  daß  die  letztere  sich  unmittel- 
bar am  Erdboden  befindet.  Dann  ergibt  sich,  daß 
der  Schall  für  ein  Ohr  in  1,5  m  Höhe  bis  zu  i  km 
Entfernung  zu  hören  ist ;  von  Beugungserschei- 
nungen und  dgl.  ist  hierbei  natürlich  abgesehen. 
Unterhalb  der  Grenzkurve  liegt  die  Zone  des 
Schweigens. 

Ein  Wind  von  konstanter  Stärke  drückt  nun 
die  Grenzkurve  in  der  Windrichtung  nieder,  in 
der  entgegengesetzten  Richtung  aber  aufwärts,  .so 
daß  für  die  gleiche  Höhe  die  Hörbarkeit  in  Lee 
wachsen,  in  Luv  aber  abnehmen  wird.  Die  Kurve 
würde  aber  stets  weiter  noch  oben  gerichtet  sein 
und  könnte  nur  durch  abnorm  starke  Temperatur- 
zunahme wieder  abwärts  gelenkt  werden.  Die 
Sachlage  ändert  sich  aber,  sobald,  wie  es  ja  in 
der  Regel  der  Fall  ist,  die  Windstärke  mit  der 
Höhe  zunimmt.  Dadurch  wird  die  Temperatur- 
abnahme überkompensiert.  So  genügt  bei  dem 
sehr  starken  Temperaturgradienten  von  0,85°  pro 
100  m  Höhe  schon  eine  Windzunahme  von  5  m 
pro  Sek.  auf  looo  m  Höhe  um  in  Lee  einen  ge- 
radlinigen Strahl  zu  erzeugen.  In  Luv  findet  eine 
entsprechend  starke  Verbiegung  nach  oben  statt. 
Grenzen  zwei  gleichtemperierte  Schichten  mit 
verschiedener  Windstärke  aneinander,  so  genügen 
schon  kleine  Windsprünge,  um  bei  flach  einfallenden 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


303 


Wellen  Totalreflexion  zu  erzeugen.  Solche  akus- 
tischen Schlieren  können  auch  stark  zum  Rollen 
des  Donners  beitragen. 

Zur  Erläuterung  wird  ein  Beispiel  angeführt. 
Es  wird  in  der  Atmosphäre  eine  Temperatur- 
abnahme von  0,62"  auf  100  m  angenommen.  In 
der  Bodenschicht  soll  bis  3SO  m  Windstille  herr- 
schen, und  darüber  soll  auf  je  lOOO  m  die  Wind- 
geschwindigkeit um  4  m  pro  Sekunde  zunehmen. 
Dann  erreicht  der  Grenzstrahl  seinen  höchsten 
Punkt  in  3350  m  Höhe  und  steigt  von  da  in  der 
symmetrischen  Kurve  wieder  abwärts,  so  daß  er 
in  161  km  Entfernung  von  der  Schallquelle  wieder 
den  Erdboden  erreicht.  Dort  beginnt  also  eine 
neue  Zone  der  Hörbarkeit.  Dies  würde  mit  den 
Beobachtungen  hinreichend  übereinstimmen.  In 
der  Zone  des  Schweigens  können  Gebirge  bis  zur 
Höhe  der  Grenzkurve  aufsteigen,  ohne  die  Hör- 
barkeit zu  beeinflussen,  vorausgesetzt  natürlich, 
daß  die  Windverhähnisse  dadurch  keine  wesentliche 
Änderung  erfahren. 

Befindet  sich  die  Schallquelle  in  einer  ge- 
wissen Höhe  über  dem  Erdboden,  so  wird  die 
analytische  Behandlung  des  Problems  schwieriger. 
Die  Grenze  zwischen  den  Zonen  des  Schweigens 
und  der  Hörbarkeit  wird  dann  nicht  durch  einen 
äußersten  Schallstrahl,  sondern  durch  ein  mehr 
oder  weniger  schmales  Übergangsgebiet  gebildet. 
Scholich. 

Zoologie.  Insektenfährten  im  Ladenstaub  natur- 
wissenschaftlicher Sammlungen.  Auf  dem  Boden 
verstaubter  Schubladen  fand  Toldt  (Zoolog.  An- 
zeiger 1916)  ein  eigenartiges  Gewirr  von  Fährten, 
die  im  einzelnen  ganz  charakteristische  Aubbildung 
zeigten.  Es  handelte  sich  um  Gehspuren  von 
verschiedenen  Insekten,  die  allerdings  lebend  nicht 
mehr  aufgefunden  werden  konnten.  Um  sie  zu 
identifizieren,  stellte  Toldt  zum  Vergleiche  Ver- 
suche mit  lebenden  Insekten  an,  die  gelegentlich 
in  Sammlungen  vorkommen,  und  ließ  sie  einzeln 
auf  staubigen  Ladenböden  gehen. 

Er  fand  zunächst,  daß  die  Spuren  sowohl  von 
Larven  als  von  ausgebildeten  Tieren  erzeugt 
wurden.  Von  Käferlarven  oder  Mottenraupen 
stammten  F"ährten  her,  welche  ihrer  ganzen  Breite 
nach  weiß,  also  voll  sind  und  oft  einen  stark 
gewundenen  Verlauf  nehmen.  Die  Tiere  gehen 
langsam  und  haben  keine  bestimmte  Richtung. 
Die  Spuren  von  Käfern  dagegen  bestehen  der 
Hauptsache  nach  aus  zwei  parallelen,  mehr  oder 
weniger  eng  nebeneinander  verlaufenden  Reihen 
von  unregelmäßigen  Sternchen  oder  Strichelfiguren, 
die  auch  zu  einer  Zickzack-  oder  Wellenlinie  zu- 
sammenfließen können.  Da  die  ausgebildeten 
Käfer  gewöhnlich  beweglicher  sind  als  ihre  Larven, 


nehmen  die  Spuren  mehr  einen  geraden,  ziel- 
sicheren Verlauf 

Volle  Fährten  sind  oft  nicht  ganz  rein,  sondern 
durch  Staubteilchen  verunreinigt,  weil  die  be- 
haarten Larven  Staubballen  mitschleppen,  die  da 
und  dort  wieder  abgeladen  werden.  Bei  jungen 
Larven  der  Nekrobia  rufupes  Degeer,  die  gerne 
osteologische  Sammlungen  befällt,  sind  die  Rand- 
konturen ziemlich  scharf  und  die  Spur  ist  in 
frischem  Zustand  fast  ganz  rein  gefegt.  Die  Tiere 
legen  knäuelartig  verschlungene  Wege  zurück 
und  beschränken  sich  meist  auf  einen  ziemlich 
engen  Raum.  Die  alten  Larven,  welche  bis  zu 
10  mm  groß  werden  können,  kriechen  ziemlich 
rasch  und  geradeaus  und  hinterlassen  eine 
2  mm  breite,  ziemlich  scharf  konturierte  reine 
Spur. 

Ebenfalls  zart,  aber  in  großen  Bogen  und 
Schlingen  verläuft  der  Weg  der  Anthrenuslarve 
(Kabinettkäfer),  eines  bekannten  Sammlungs- 
schädlings. Sie  hat  längere  Beine  und  einen 
ziemlich  kurzen  Rumpf  und  erzeugt  daher  eine 
w-eniger  ruhige  und  unreine  Spur.  Das  Bild 
unterscheidet  sich  bei  jungen  und  allen  Larven 
nur  durch  die  Breite. 

Dermesteslarven  (Speckkäfer)  hinterlassen  eine 
Spur,  die  außer  einem  vollen  2  mm  breiten 
Streifen  beiderseits  an  diesen  anschließend  je  eine 
nahezu  ebenso  breite  dicht  fein  und  longitudinal 
punktierte  Zone  zeigt,  so  daß  die  Gesamtbreite 
der  Fährte  ungefähr  5   mm  beträgt. 

Mottenraupen  erzeugen  ähnliche  Spuren  wie 
Käferlarven. 

Aus  zwei  parallelen  Reihen  von  zumeist  alter- 
nierenden dicht  hintereinander  liegenden  kleinen 
unregelmäßigen  Stern- ,  Strich-  oder  Häckchen- 
figuren  besteht  die  Spur  des  ausgebildeten  Kabinett- 
käfers (Anthrenus).  Nekrobia  rufupes  marschiert 
so,  daß  zwischen  den  zwei  Reihen  von  Stern- 
punkten oder  Strichelchen  meistens  eine  mehr 
oder  weniger  kontinuierliche  Reihe  kurzer 
Strichelchen  verläuft ,  welche  so  nahe  hinter- 
einander folgen,  daß  sie  oft  zusammenfließen  und 
streckenweise  eine  einheitliche  ziemlich  gerade 
Linie  bilden.  Bei  Dermestes  lardarius  setzen  sich 
die  beiden  seitlichen  Reihen  aus  unregelmäßig 
longitudinal  gerichteten  Zickzackfiguren  zusammen, 
die  vielfach  wellenförmig  ineinander  fließen. 

Viel  zarter  als  die  Spuren  der  ausgebildeten 
Käfer  sind  diejenigen  der  Mottenimagines.  Sie 
sind  oft  bis  zu  6  mm  breit  und  bestehen  aus 
zwei  parallelen  Reihen  feiner  ziemlich  langer 
Strichelchen,  die  längs  gerichtet  sind  und  knapp 
hintereinander  folgen.  Oft  geht  nach  der  Seite 
ein  kurzes  Strichelchen  ab,  das  ofi"enbar  von  dem 
Sporn  herrührt,  der  an  den  Beinen  der  Motten 
kräftig  ausgebildet  ist.  F.  St. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  22 


Bücherbesprechuugen. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  und  Süßwasser- 
fauna Deutsch-Südwestafrikas,    herausg.   von 
W.   Michaelsen.     Lief.   3.    63  S.   8».     i   Taf. 
und   I  Textabb.     Hamburg   191 5.  —  Preis  4M. 
In  dieser  Lieferung  behandelt  M.Bern  hau  er 
die    Staphyliniden    und    Fr.    Werner    die    Rep- 
tilien   und    Amphibien.     Unter   den    26   Staphyli- 
niden werden  6  neue  Arten  und  für  eine  siebente 
eine    neue,    in    ihrer    Stellung   etwas    zweifelhafte 
Gattung    {Pcricrpoi/)    aufgestellt.      Die    Zahl    der 
Reptilienarten    stellt  sich    auf  67  (4  Testudiniden, 
38    Lacertilier    und    26    Ophidier),    die    der    Am- 
phibien   (nur  Batrachier)  auf  9.     Neu    ist   eine   zu 
den     Colubriden     gehörende,     Prosynina     nahe- 
stehende Gattung,  die  den  Namen  Micaela  erhält 


(mit  pcninsiifa  n.  sp.).  Von  Interesse  sind  die 
Angaben  über  den  im  Dünensande  lebenden  und 
nur  nachts  auf  Nahrungssuche  ausgehenden  Pabuato- 
gcckt/  raiigri',  der  aufgeschreckt  eine  Kampfstellung 
annimmt,  den  Körper  auf  den  schlanken  Beinen 
wiegend  nach  vorn  und  rückwärts  bewegt,  dabei 
den  Schwanz  hoch  und  nach  oben  gekrümmt  hält 
und  zischende  Laute  von  sich  gibt;  die  Zehen 
der  4  Beine  sind,  um  das  Einsinken  in  den  losen 
Sand  zu  verhüten,  durch  eine  breite  Membran 
untereinander  verbunden.  Der  mit  ihm  verwandte 
Sfcnodacfyli/s  pctrici  Aud.,  der  in  den  Sandwüsten 
Ägyptens,  Tripolitaniens  und  Algeriens  lebt,  aber 
der  „Sandschwimmhäute"  entbehrt,  nimmt  ge- 
legentlich ähnliche  Stellung  ein.         M.  Braun. 


Anregungen  und  Antworten. 


Bestecke, 


Herrn  Dr.  W.  W.  —  Ein  neueres  Praktikum  der  makro- 
skopiscben  Anatomie  der  Wirbeltiere,  in  dem  Vertreter  aller 
Wirbeltierklassen  eingehend  behandelt  und  genaue 
Weisungen  über  die  Verwendung  der  anatomische 
der  Injektionsspritzen  usw.  sowie  zur  Herstellung  von  makro- 
skopischen Dauerpräparaten  gegeben  werden,  existiert  nicht. 
Zur  Einführung  in  das  praktische  Studium  der  Wirbelticr- 
anatomie  können  indessen  zunächst  die  zoologischen  Praktika 
dienen,  in  denen  die  Wirbeltiere  teils  mehr  teils  weniger 
ausführlich  behandelt  werden.  In  Betracht  kommen  folgende 
Praktika : 

Braun,  M.,  Das  zootomische  Praktikum.  Eine  Anleitung 
zur  Ausführung  zoologischer  Untersuchungen  für  Studierende 
der  Naturwissenschaften,  Mediziner,  Ärzte  und  Lehrer.  Stutt- 
gart  1886. 

Hatschek,  B.  und  Cori,  C.  J.,  Elementarkurs  der 
Zootomie  in   15   Vorlesungen.     Jena   1896. 

Kükenthal,  W.,  Leitfaden  für  das  zoologische  Praktikum. 
6.  Aufl.     Jena  1912. 

Mojsisovics,A.,  Leitfaden  bei  zoologisch-zootomischen 
Präparierübungen  für  Studierende.     Leipzig   1879. 

Vogt,  C.  und  Yung,  E.,  Lehrbuch  der  praktischen 
vergleichenden  Anatomie.     2  Bde.     Brauuschweig  1888— 1894. 

Am  meisten  im  Gebrauch  ist  heute  das  Praktikum  von 
Kükenthal,  in  dem  7  Vertreter  der  Wirbeltiere  besprochen 
werden:  Amphioxus,  Scyllium ,  Leuciscus,  Rana,  Lacerta, 
Columba  und  Lepus.  Am  ausführlichsten  ist  das  Lehrbuch 
von  Vogt  und  Yung,  das,  obwohl  bereits  vor  25  Jahren 
erschienen,  auch  heute  noch  empfohlen  werden  kann.  Die 
anderen  Praktika  werden  zweckmäßig  in  Verbindung  mit  einem 
der  folgenden  Lehrbücher  benutzt: 

Gegenbaur,  C,  Vergleichende  Anatomie  der  Wirbel- 
tiere mit  Berücksichtigung  der  Wirbellosen.  2  Bde.  Leipzig 
1S98  und   1901. 

Schimke  witsch,  \V.,  Lehrbuch  der  vergleichenden 
Anatomie  der  Wirbeltiere.     Stuttgart   1910. 

Wiedersh  eim  ,  R.,  Vergleichende  Anatomie  der  Wirbel- 
tiere.     7.   Aufl.     Jena    1909. 


Schließlich  sei  noch  auf  den  ersten  Band  der  „Mono- 
graphien einheimischer  Tiere"  hingewiesen,  in  dem  die 
Anatomie  des  Erosches,  der  zur  Einführung  in  das  praktische 
Studium  der  Wirbeltiere  wohl  das  geeignetste  Objekt  ist,  eine 
eingehende   Darstellung  findet: 

Hempelmann,  F.,  Der  Erosch.  Zugleich  eine  Ein- 
führung in  das  praktische  Studium  des  Wirbeltier -Körpers. 
Leipzig   190S. 

Die  vorstehend  genannten  Praktika  geben  zumeist  schon 
genügende  Auskunft  über  die  anzuwendende  Technik,  ent- 
halten teilweise  auch  Angaben  über  die  Anfertigung  makro- 
skopischer Dauerpräparate,  jedoch  können  zur  Ergänzung 
noch  zu  Rate  gezogen  v/erden : 

Dahl,  K.,  Kurze  Anleitung  zum  wissenschaftlichen 
Sammeln  und  zum  Konservieren  von  Tieren.    3.  Aufl.    Jena  1914. 

Schuberg,  A.,  Zoologisches  Praktikum.  1.  Bd  ;  Ein- 
führung in  die  Technik  des  zoologischen  Laboratoriums. 
Leipzig   1910. 

In  dem  Schuber  g' sehen  Praktikum  —  der  II.  Bd., 
der  den  speziellen  Teil  enthalten  soll,  ist  bisher  nicht  er- 
schienen —  werden  genaue  Anweisungen  gegeben  über  die 
Einrichtung  des  Laboratoriums,  über  das  zum  Präparieren  er- 
forderliche Instrumentarium,  das  Töten  der  zur  Präparation 
bestimmten  Tiere,  die  Ausführung  der  Präparation,  das 
Konservieren,  die  Anfertigung  von  Durchschnitten,  die  Iso- 
lation von  Hart-  und  SkeleUeilen,  über  die  Injektionsmethoden, 
die  Aufstellung  und  Aufbewahrung  anatomischer  Präpa- 
rate usw.  Nachtsheim. 


Wie  Herr  Oberstudienrat  Prof.  Dr.  K.  Lampert  in 
Stuttgart  mitteilt,  ist  als  Bestimmungsbuch  für  die  bei  uns 
kultivierten,  nicht  einheimischen  Slräuclier  und  Bäume  auch 
empfehlenswert:  Otto  Feucht,  Parkbäume  und  Ziersträucher. 
Stuttgart.  Strecker  &  Schröder.  1,40  M.  Für  den  gleichen 
Zweck  empfiehlt  Herr  Prof.  H.  Kunze  in  Cassel  das  Buch 
von  A.  Lehmann,  Unsere  Gartenzierpflanzen.  Zwickau, 
Förster  und  Borries.     8  M. 


Inhalt:  G.  Dittrich,  Die  Pilzvergiftungen  der  letzten  Jahre.  S.  297.  F.  Pax,  Die  Verbreitung  des  wilden  Kaninchens 
in  Russisch -Polen.  S.  299.  —  Einzelbetichte :  Riem,  Neue  Sterne.  S.  300.  Guthnick  und  Prager,  Die 
Veränderlichen.  S.  301.  Ehrmann,  Bestäubung  von  Blüten  durch  Schnecken.  S.  301.  W.  Schmidt,  Zonen 
abnormer  Hörbarkeit.  S.  302.  Toldt,  Insektenfährten  im  Ladenstaub  naturwissenschaftlicher  Sammlungen.  S.  303.  — 
Bücherbesprechungen:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  und  Süßwasserfauna  Deutsch-Südwestafrikas.  Lief.  3.  S.  304.  — 
Anregungen  und  Antworten:  Praktikum  der  makroskopischen  Anatomie  der  Wirbeltiere.  S.  304.  Bestimmungsbuch 
für  die  bei  uns  kultivierten  nicht  einheimischen  Sträucher  und  Bäume.  S.   304. 


Manuskripte  und  Zuschrifte 
Druck  der  G 


Invalidenstraße  42,  erbeten. 


eu  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  O.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  lo.  Juni  1917. 


Nummer  33. 


Die  Bedeutung  der  Anatomie  lebender  und  fossiler  Hölzer 
für  die  Phylogenie  der  Koniferen. 

Von  Dr.  R.  Kräusel. 
Mit  9  Originalzeichnungen  und  Photographien  vom  Verfasser. 


[Nachdruck  verboten.] 

Hins  der  Hauptprobleme  der  modernen  Syste- 
matik ist  die  Erkenntnis  der  natürlichen  Ent- 
wicklung des  Pflanzenreichs,  die  Aufstellung  von 
Entwicklungsreihen.  In  dem  jeweils  angenommenen 
System  finden  diese  Anschauungen  ihren  Ausdruck. 
Die  benutzten  Merkmale  sind  in  erster  Linie  Bau 
und  Entwicklung  der  Fruktifikationsorgane,  aber 
auch  der  vegetativen  Pflanzenteile.  Selbstverständ- 
lich kann  eine  solche  Betrachtung  an  den  fossilen 
Pflanzenresten  nicht  achtlos  vorübergehen,  sie 
wird    im    Gegenteil    gerade    aus    ihrem    Studium 


ceen  und  Araucarien."  Neuerdings  ist  auch  ver- 
sucht worden,  auf  vergleichend  anatomischer 
Grundlage  zu  einem  Stammbaum  der  Koniferen 
zu  gelangen.  Wenn  derartige  Betrachtungen, 
sofern  die  Morphologie  besonders  der  P"rukti- 
fikationsorgane  unberücksichtigt  bleibt,  im  allge- 
meinen auch  als  einseitiges  und  daher  oft  irre- 
führendes Verfahren  angesehen  werden  müssen,  so 
ist  es  um  so  beachtenswerter,  wenn,  wie  in 
unserem  Falle,  Penhallow')  auf  diesem  Wege 
fast  zu  gleichen  Schlüssen  wie  E  i  c  h  1  e  r  gelangt. 
Die  Bemühungen,  den  Bau  des  Holzes  für 
eine  systematische  Bestimmung  der  Gruppe  und 
besonders  der  überaus  zahlreichen  fossilen  Stamm - 


Querschnitt  eines   Holzes   aus   der  Br 
(Taxodio.tylon).     II  Harzparenchym. 


M    Mirkbtrihl 


wichtige  Schlüsse  ziehen.  Für  die  Koniferen  möge 
als  Beispiel  das  von  E  i  c  h  1  e  r  ')  auf  Grund  morpho- 
logischer Betrachtungen  aufgestellte  System  dienen, 
das  sich  im  ganzen  weitester  Anerkennung  erfreut. 
Es  entspricht  der  schon  von  Schenk-)  ausge- 
sprochenen Ansicht,  daß  „die  jetzt  noch  vor- 
handenen Nadelhölzer  sich  als  eine  Gruppe  er- 
weisen, welche  zum  Teil  aus  Formen  besteht, 
welche  wir  nur  als  Reste  einer  früher  reichlicher 
entwickelten  Formenreihe  betrachten  können, 
andererseits  aus  solchen,  deren  Auftreten  in  eine 
spätere  Zeit  fallend,  jetzt  noch  in  voller  Blüte 
stehen.  Zu  den  letzteren  wird  man  die  Ahictincen 
rechnen  müssen,  wohl  auch  einen  Teil  der  Ciipressi- 
nccii  und  Taxodiiiccn,  zu  den  ersteren  die  Taxa- 


')  In    Engler  -  Prantl,     Natürl.     Pflanzenfam.     II.     I. 
Leipzig   1889. 

2)  Schenk,  A.,  Handbuch  der  Botanik.  IV.  Breslau  1 890. 


reste  zu  verwerten,  reichen  nun  bald  ein  Jahr- 
hundert zurück.  Es  ist  hier  nicht  möglich,  den 
Weg  im  einzelnen  zu  verfolgen,  den  die  F'orschung 
auf  diesem  Gebiete  gegangen  ist.  Näheres  findet 
der  Leser  an  anderem  Orte,  "j  Die  größten  Ver- 
dienste erwarb  sich  hier  Goeppert,  was  be- 
sonders betont  werden  muß,  da  in  neuerer  Zeit 
der  Wert  seiner  Arbeiten,  die  natürlich  zum  Teil 
nicht  mehr  dem  heutigen  Standpunkte  entsprechen, 
zu  Unrecht  verkannt  worden  ist.  Auf  seinen  wie 
den  Untersuchungen  von  Kraus  fußten  lange 
Zeit  alle  Arbeiten    über  fossile  Koniferenhölzer.  ') 

')  Penhall  ow,  D.  P. ,  Manual  of  North  American 
Gymnosperms.     Boston   1907. 

2)  Es  ist  nicht  möglich,  hier  die  in  Frage  stehenden 
Arbeiten  einzeln  zu  nennen.  Ausführliche  Literaturnachweise 
habe  ich  in  meiner  „Tertiärflora  Schlesiens"  (Jahrbuch  Preuß. 
Geol.  Landesanstalt  f.  1916)  und  der  Arbeit  „Die  fossilen 
Koniferenhölzer"  gegeben,  die  in  der  Palaeontographica erscheint. 


3o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Ihr  Ergebnis  war  nicht  ermutigend,  gipfelte  es 
doch  in  der  Erkenntnis,  daß  die  verschiedenen 
Gattungen,  um  von  den  Arten  ganz  zu  schweigen, 
im  Bau  des  Holzes  so  sehr  übereinstimmen,  daß 
eine  Trennung  nicht  möglich  ist.  Nur  fünf  große 
Sammelgruppen  glaubte  man  nach  ebensoviel  Bau- 
typen unterscheiden  zu  können.  Zahlreichere 
spätere  Versuche,  hier  Abhilfe  zu  schaffen,  hatten 
keinen  Erfolg,  weil  die  Merkmale,  die  man  be- 
nutzte, wie  Breite  der  Jahresringe,  Dicke  der  Zell- 
wände, die  Anzahl  und  Weite  der  Zellen  usw. 
systematisch  wertlos  waren.  Man  ließ  außer  acht, 
daß  eben  diese  Verhältnisse  innerhalb  einer  Art, 
ja  sogar  innerhalb  eines  Individuums  großen 
Schwankungen  ausgesetzt  sind.  Erst  Gothan 
war  es  vorbehalten,  der  Untersuchung  neue  Wege 
zu  weisen,  indem  er  den  hohen  Wert  des  Mark- 
strahlenbaues für  die  Bestimmung  erkannte.     Das 


nach  außen  laufen  (Abb.  6  u.  7).  Diese  selbst 
bestehen  aus  Parenchymzellen,  bei  den  Abictincen 
auch  aus  Quertracheiden  (Abb.  6)  und  sind,  wie 
Gothan  unwiderleglich  dargetan  hat ')  für  die 
Diagnostik  von  höchstem  Werte.  Der  Bau  ihrer 
Zellen,  namentlich  die  verschiedene  Ausbildung 
der  Markstrahltüpfelung  auf  der  radialen  Wand,  von 
der  Abb.  8  u.  9  die  wichtigsten  Typen  darstellen, 
eine  ermöglicht  weitgehende  Gliederung  der  alten 
großen  Sammelgruppen,  so  daß  wir  in  zahlreichen 
Fällen  die  Gattung  nach  dem  Bau  des  Holzes  be- 
stimmen können.  Wir  können  folgende  Bautypen 
unterscheiden,  wobei  auch  die  wichtigsten  Merk- 
male genannt  sein  mögen.  ^) 

I.  jb-aiicarioxylon.  Umfaßt  Araucaria  und 
Dannnara.  Ohne  Harzgäiige  und  Harzparenchym. 
Tracheidentüpfel  alternierend ,  Markstrahltüpfel 
klein,  spaltenförmig. 


Abb.  3.     Desgleicheu.     Tangentialschnitt. 
H  Harzparenchym. 

Holz  aller  Koniferen  besteht  in  der  Hauptsache 
aus  Tracheiden,  die,  wie  unsere  Bilder  erkennen 
lassen,  auf  der  radialen,  in  manchen  Fällen  auch 
der  tangentialen  Wand  „Hoftüpfel"  besitzen 
(Abb.  2  u.  3).  Sie  sind  bei  den  Araiicarien 
alternierend,  bei  allen  übrigen  Koniferen  aber 
opponiert  angeordnet  (Abb.  5).  Im  letzteren 
Falle  sind  sie  oft  durch  zarte  Membranleisten,  die 
„Sanioschen  Streifen"  voneinander  getrennt. 
Bekanntlich  ist  das  Holz  aller  Nadelbäume  äußerst 
harzreich.  Das  Harz  findet  sich  teils  in  den 
Tracheiden  (.\bb.  7),  teils  in  besonderen  Paren- 
chymzellen und  hat  sich  gerade  im  fossilen  Holze 
prachtvoll  erhalten  (Abb.  i — 3).  Querwände  und 
einfache  Tüpfel  unterscheiden  die  Parenchymzellen 
deutlich  von  den  Tracheiden  (Abb.  5  b).  Einige 
Gattungen  der  Abictincen  sind  auch  zur  Aus- 
bildung besonderer  Harzgänge  geschritten,  die  das 
Holz  von  oben  nach  unten  durchziehen.  Mit 
ihnen  kreuzen  sich  andere,  die  in  horizontaler 
Richtung  im  Innern  der  Markstrahlen    von    innen 


Abb.  4.    Desgleichen.  Querschnitt  mit  Harzgängen  (Piceoxylon). 
H  Harzgänge. 

2.  Taxoxylon.  Umfaßt  Taxus,  CcpJialofaxits 
und  Torrcya.  Wie  bei  allen  folgenden  Tracheiden- 
tüpfel opponiert.  In  den  Tracheiden  Spiralver- 
dickungen. 

3.  Piceoxylon.  Umfaßt  Picea,  Larix  und 
Pseudotsuga.  Dickwandige  Harzgänge,  glatt- 
wandige  Quertracheiden  und  getüpfelte  Mark- 
strahlzell wände  (yi(^/f//«cY//-Tüpfelung). 

4.  Piuuxyloii.  Umfaßt  Piiius.  Wie  oben, 
Harzgänge  aber  in  der  Regel  dünnwandiger,  die 
Markstrahltüpfel  eiporig,  oft  sehr  groß,  die  Wände 
der  Quertracheiden  meist  mit  Zacken. 

5.  Ccdroxylo)!.  Umfaßt  Cednis,  Abies  und 
die  übrigen  Abietiuecit.  Abietiiiccn-lL\iLph\\ing.  Harz- 
gänge nur  im  Wundholz. 

6.  Juniperoxylon.  Umfaßt  Juniperus,  Libo- 
cedrus   z.  T.,  Fitzroya,  Saxcgothaea.    Markstrahl- 

')  Ausführliches  hierüber  in  meinen  genannten  Arbeiten, 
sowie  bei  Gothan,  Zur  Anatomie  lebender  und  fossiler 
Gymnospermenhölzer.  Abhandl.  Pieuß.  Geol.  Landesanstalt. 
N.  F.  44.     Berlin   1905. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


307 


tüpfel   cupressoid,    die  IMarkstrahlwände    getüpfelt 
(juniperoide  Tüpfelung). 

7.  Citprcssiiio.xylon.  Umfaßt  das  Gros  der 
C/ipressii/ccii ,  Scqiioia  giganfca.  Glattwandiges 
Harzparenchym.  Markstrahltüpfel  mit  schrägem 
Porus  (cupressoide  Tüpfelung). 

8.  Glyptosfruboxylon.  Umfaßt  Glyptostrobtis 
(und  Ciowiiighamia? ?).  Markstrahltüpfel  typisch 
eiporig,  zahlreich  (glyptostroboide  Tüpfelung). 


Abb,   5.     Traclieidenliipfcl 

a)   bei  Araucaria.      b)   bei  den  übrigen   Koniferen. 

II   eine   Ilarzzelle  mit  getüpfelten  Querwänden. 

S  Saniosche  Streifen. 


Abb.  6.     Piceoxylontyp 
rzgang.     H  Harzepithel 


M  Mark-Strahl  (Abie 


r.  getüpfelt, 
p  feiung). 


9.  laxodioxyloii.  Umfaßt  TaxoJimit  und 
Scquoia  soiipcrvirciis.  Markstrahltüpfel  ein  Mittel- 
ding der  beiden  vorigen,  im  Frühholze  mit 
breitem,  horizontalem  Porus  (taxodioide  Tüpfelung). 

10.  Poducarpoxylon.  Umfaßt  Podvcarpns  z.  T. 
(und  einen  Teil  der  spiralenlosen  Taxacccii)  Mark- 
strahltüpel  mit  vertikal  spaltenförmigem  Porus 
oder  kleine  vertikale  Eiporen  (podocarpoide  Tüpfe- 
lung). 

11.  Phyllocladoxyloii.      Umfaßt    Phyllocladus 


und  den  Rest  der  Taxacccii.  Markstrahltüpfel 
groß,  eiporig. 

Innerhalb  all  dieser  Gruppen  ist  noch  eine 
weitere  Teilung  möglich,  doch  sind  alle  Fragen 
noch  nicht  gelöst.  Dennoch  steht  die  Holz- 
bestimmung nunmehr  endlich  auf  brauchbarer 
Grundlage. 

Viele  wertvolle  Einzelheiten  hierzu  hatte  schon 
Penhallow  beigetragen.  Gleichzeitig  mit  ihm 
beschäftigte  sich  ein  anderer  amerikanischer 
Forscher  mit  der  Anatomie  und  Phylogenie  der 
Koniferen,  Jeffrey,  der  aber  zu  genau  entgegen- 
gesetzten Resultaten  kommt.  Seine  und  seiner 
Schüler  (Bailey,  Gerry,  Holden,  Sinnot  u.  a.) 
zahlreiche  Arbeiten  verfolgen  als  Hauptziel  den 
Nachweis,  daß  die  allgemein  anerkannten  An- 
sichten über  die  Stammesgeschichte  der  Koniferen 
ganz  falsch  sind  und  in  Wirklichkeit  ins  schärfste 


Abb.  7.     Piceoxylontyp. 
Horizontaler  Harzgang. 


Gegenteil  umgekehrt  werden  müssen.  Danach 
sind  die  ältesten  Koniferen,  von  denen  alle  übrigen 
abstammen,  die  Abictiiiccii  mit  Quertracheiden, 
senkrechten  und  horizontalen  Harzgängen,  an  die 
sich  die  Taxodiceii  und  Cnprcssinceii  und  als 
jüngste  Gruppe  die  Araucaricoi  anschließen.  Es 
genügt,  wenn  wir  diese  großen  Gruppen  be- 
trachten. Wie  begründet  nun  Jeffrey  seine 
Lehre?  In  Anlehnung  an  das  bekannte  „bio- 
genetische Grundgesetz"  der  Zoologie  stellt  er  an 
ihre  Spitze  den  Satz,  daß  sich  die  Eigenschaften 
der  Vorfahren  besonders  lange  in  ontogenetisch 
jungen  Stadien  erhalten.  Hierzu  tritt  die  aus  der  Er- 
fahrung abgeleitete  Tatsache,  daß  das  gleiche  von 
den  Fortpflanzungsorganen  gilt  und  auch  das  nor- 
male, infolge  von  Wundreiz   entstandene  Gewebe 


3o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


wichtige  Rückschlüsse  auf  den  Bau  der  Ahnen- 
form zuläßt.  Auf  die  Struktur  der  ersten  Jahres- 
ringe fruchtender  Sprosse,  der  Zapfenachse  und 
des  Wundholzes  lenkte  daher  Jeffrey  sein  Haupt- 
augenmerk. Dabei  fand  er,  daß  bei  Scqiioia 
gigaHtca  Torr.,  dem  Mammutbaum  Nordamerikas, 
in  der  Zapfenachse  wie  im  ersten  Jahresring 
kleinerer  Zweige  in  der  Regel  Harzgänge  auf- 
treten, die  er  hier  als  normale  Bildungen  erklärt 
(ich  habe  in  mehreren  Fällen  allerdings  keine 
gesehen  1),  während  sie  im  übrigen  Holze  wie  bei 
Sequoia  scmpcrvirois  Endl.,  dem  kalifornischen 
redwood,  nur  auf  Wundreiz  hin  angelegt  werden. 
Die  gleichen  Verhältnisse  treten  bei  den  normal 
harzganglosen  ..//^/('////(r;/  auf  (^ihics,  Tsi/ga  usw.: 
Cedroxylon).  Daraus  zieht  Jeffrey  den  Schluß, 
daß    diese  Harzgänge    den    letzten  Überrest  einer 


Die  Reduktion  hat  (nach  Jeffrey)  also  den 
höchsten  Grad  erreicht.  Dagegen  findet  er,  daß 
in  dieser  Gruppe  die  genannten  phylogenetisch 
ausschlaggebenden  Regionen  eine  von  der  nor- 
malen Ausbildung  abweichende  Tüpfelung  der 
radialen  Tracheidenwandungen  besitzen.  Die 
Tüpfel  stehen  nicht  mehrreihig  alternierend,  son- 
dern in  einer  Reihe  (bei  der  Schmalheit  der 
ersten  Zellen  eben  kein  Wunder  I)  und  berühren 
sich  oft  kaum.  Auch  treten  in  den  eben  ange- 
legten Markstrahlen  der  ersten  Jahresringe  wie 
auch  im  Wundholze  dickwandige,  stark  getüpfelte 
Zellen  auf,  die  Jeffrey  mit  dem  getüpfelten 
Strahlenparenchym  der  Abiefineen  in  Verbindung 
bringt.  So  ist  „bewiesen"  (von  den  fossilen 
Hölzern  ist  noch  die  Rede),  daß  auch  die  Anui- 
cariecn  von  Arten  mit  nicht  alternierenden  (oppo- 


^^^ 


IX 


ji^    iiö^ 


f^ 


Piasaip 


ai        K     ¥       TD      I  ^^-==^^^^ 


Abb.  8.     Radialschnitt  durch  Abietineenholz. 
a)  Piceoxylontyp.     Quertracheiden  und  Abietineentüpfelung. 
b)  Pinuxylontyp.      Zackenzellen    und    Eiporen,    rechts  Spiral- 
streifung. 


Abb.  9.      Markstrahltüpfelung. 

a)  araucarioid.    b)  cupressoid.    c)  ta.\odioid.    d)  glyptostroboid. 

e)  podocarpoid.     f)  phyllocladoid. 


Reduktion  darstellen,  von  denen  die  harzgang- 
führenden  Abidineen  betrofifen  worden  sind,  und 
demgemäß  harzganglose  ^Ihictiiiccii  wie  Taxodiecii 
und  im  Anschluß  hieran  auch  die  Cuprcssiiiccn 
von  jenen  abzuleiten  sind.  Bei  den  letztgenannten 
ist  die  Reduktion  bis  zum  völligen  Schwinden  der 
Harzkanäle  fortgeschritten.  Im  gleichen  Sinne 
deutet  er  das  Auftreten  von  Quertracheiden- 
ähnlichen  Zellen  (ich  sage  absichtlich  nicht  Quer- 
tracheiden, weil  diese  Zellen  von  den  normalen 
Bildungen  doch  erheblich  abweichen)  bei  Arten, 
denen  sie  im  normalen  Holze  fehlen  {Sequoia, 
CH)i)ii)ighai)ii(i).  Bei  den  lebenden  Araucarioi 
(einschheßhch  Daiiniiara)  treten  zwar,  soweit  bis- 
her bekannt,  in  keinem  Falle  Quertracheiden  oder 
Harzgänge  auf,  selbst  die  einfachen  Harzzellen 
der  Cuprcssü/cen  und  Tnxodiccn  fehlen  hier  ganz. 


nierten)  Tüpfeln  und  verdickten  Markstrahlzell- 
wänden  abstammen,  und  damit  die  Reihe 
Abictiiicoi -Taxodiecii-  Ciipressiiiccn  und  Abic- 
tiiiceii-Araiicariecii  geschlossen.  G  e  r  r  y ,  eine 
Schülerin  Jeffreys,  gibt  dann  einen  weiteren 
Beitrag  für  die  Begründung  seiner  Lehre.  Sie 
macht  die  nicht  gerade  überraschende  Entdeckung, 
daß  die  zuerst  von  Sanio  beschriebenen  und 
nach  ihm  ,,San  lösche  Streifen"  genannten 
Membranbildungen  zwischen  den  Tracheiden  den 
Araiicarieii  fehlen,  i)  Nach  Jeffrey  ist  dies 
aber  nur  dort  der  Fall,  wo  die  Tüpfel  typisch 
araucarioid  angeordnet  sind,  nicht  aber  an  den 
genannten      Stellen      mit      entfernter      stehenden 


')  Gerry,  E.,    The  distribution   of  the  Bars  of  Sani( 
the  Coniferales.     Ann.  of  Bot.  XXIV.     London   19 10. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


309 


Tüpfeln,  wo  ähnliche  Bildungen  beobachtet  werden 
können  „priiiiitif  bars  0/  Santo".  Die  Deutung, 
die  Jeffrey  dem  gibt,  liegt  auf  der  Hand.  Es 
ist  für  ihn  ein  weiterer  Beweis,  daß  die  abietioide 
Tüpfelung  den  älteren,  die  araucarioide  aber  den 
modernen  Typus  darstellt. 

Selbstverständlich  zieht  er  auch  die  fossilen 
Holzreste  in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen,  sie 
spielen  sogar  eine  sehr  wichtige  Rolle  und  sollen 
seine  Lehre,  die,  wie  sich  Holden  einmal  aus- 
drückt, schon  durch  die  Untersuchung  der  lebenden 
Koniferen  „über  jeden  logischen  Zweifel"  bewiesen 
ist,  erneut  befestigen.  Zuerst  von  Gothan,  später 
auch  anderen  Forschern  wurden  zahlreiche  Hölzer 
aus  Jura  und  unterer  Kreide  beschrieben,  die  im 
Bau  in  vielen  Zügen  modernen  Typen  gleichen, 
deren  Tracheidentüpfelung  aber  eine  Mittelstellung 
zwischen  abietioider  und  araucarioider  einnimmt 
{Protüccdroxylo)i,  Protopiccoxyloii  Gothan  u.  a.). 
Andere  fossile  „Gattungen"  unterscheiden  sich  von 
lebenden  nur  durch  das  angebliche  Fehlen  der 
San  loschen  Streifen.  Indem  dieser  Mangel  zum 
alleinigen  Merkmal  araucarioider  Verwandt- 
schaft gemacht,  alle  übrigen  Merkmale  aber,  wie 
Harzgänge,  Tüpfelung  der  Markslrahlen,  Eiporen 
als  irreführend  erklärt  werden,  werden  eine  große 
Anzahl  solcher  Fossile,  die  in  allen  diesen  Struktur- 
einzelheiten an  Abictiiicoi  erinnern,  als  primitive 
Araiicariceii  mit  noch  abietioiden  altertümlichen 
Anklängen  gedeutet.  So  ergibt  sich  der  merk- 
würdige Begriff  von  „verkappten  Araiican'ecn" 
(Araucarians  in  disguise),  die  zwar  modernen 
Gruppen  wie  Piceoxyloii,  Cfdroxyloii,  Ciipressin- 
üxyloit,  Phyüocladuxylou  täuschend  gleichen,  deren 
wahre  Stellung  aber  erst  der  Mangel  der  San  lo- 
schen Streifen  erkennen  läßt.  Manche  dieser 
„^■Iraiicaricit"  haben  die  getüpfelten  Markstrahl- 
zellen der  Ahnen  htha\\.tn{ProfüccdroxyloiiGo\.hdin), 
andere  ebenso  die  Harzgänge  und  das  Harzparen- 
chym  {Profopiceoxyloii  Gothan,  l'aracuprcssin- 
oxylo)!  Sinnot).  Eine  weitere  Entwicklungsstufe 
bilden  dann  Hölzer  mit  teils  araucarioider  Tüpfel- 
stellung und  araucarioiden  Markstrahlen,  die  aber 
in  der  Ausbildung  von  Wundharzgäng'en  und 
durch  die  Anlage  primitiver  Sa nioscher  Streifen 
noch  an  die  .■i/'/r//>/('(7/-Vorfahren  erinnern  [Brachy- 
oxyluii  Jeffrey,  Protobradixoxyloit  Holden).  Hier- 
an schließt  sich  dann  unmittelbar  die  modernste, 
in  den  ^[raitcancii  verkörperte  Bauform. 

Bei  der  kritischen  Würdigung  dieser  Anschauung 
kann  ohne  weiteres  zugegeben  werden,  daß  rein 
gedanklich  eine  solche  Entwicklungsreihe  wohl 
möglich  wäre.  Wenn  sie  trotz  häufiger  Wieder- 
holung außerhalb  des  Jeffrey  sehen  Kreises 
überall  schroffer  Ablehnung  begegnet  ist,  müssen 
sich  schwerwiegende  Gründe  dagegen  anführen 
lassen.  Schon  die  allgemeinen  Sätze,  von  denen 
Jeffrey  ausgeht,  sind  keineswegs  über  jeden 
Einwand  erhaben.  Pis  braucht  dabei  gar  nicht 
behauptet  zu  werden,  daß  sie  unbedingt  falsch  seien, 
wohl  aber  muß  man  ihre  von  Jeffrey  ohne  weiteres 
angenommene  Allgemeingültigkeit  in  Zweifel 


ziehen.  Das  Schicksal  des  „biogenetischen  Grund- 
gesetzes" beweist  das  Gesagte  zu  deutlich.  Noch 
ist  es  der  Zoologie  nicht  gelungen,  sich  völlig  von 
den  schweren  Irrtümern  frei  zu  machen,  die  da- 
durch geschaffen  wurden,  daß  man  kritiklos  jedes 
tierische  Jugendstadium  als  Ahnenform  deutete. 
Und  nun  begeht  Jeffrey  auf  unserem  Gebiete 
den  gleichen  Fehlerl  Das  leitende  Prinzip  der 
Entwicklung  ist  für  ihn  in  jedem  Falle  die  Re- 
duktion des  komplizierteren  zum  einfachen  Bau- 
typ. Nun  ist  ja  dieser  Weg  an  den  verschieden- 
sten Stellen  sicher  von  der  Natur  eingeschlagen 
worden,  ebenso  oft,  wenn  nicht  häufiger,  aber 
auch  der  umgekehrte.  So  könnte  die  Regel,  daß 
die  Entwicklung  nach  dem  Prinzip  der  Arbeits- 
teilung vom  Einfachen  zum  Zusammengesetzten 
fortschreitet,  weit  eher  Anspruch  auf  Allgemein- 
gültigkeit erheben.  Wo  immer  von  diesem  Wege 
abgewichen  wurde,  lassen  sich  besondere  Gründe 
hierfür  erkennen  (Parasiten).  Jedenfalls  ist  von 
vornherein  ganz  unwahrscheinlich,  daß  für  einen 
so  umfassenden  Teil  des  Pflanzenreiches  wie  die 
Koniferen  Reduktion  das  alleinige,  alle  Ent- 
wicklung beherrschende  Gesetz  gewesen  sein  soll. 
Auch  daß  Wunderscheinungen  wie  hier  das  Auf- 
treten von  Ouertracheiden,  gehäuftem  Parenchym 
und  Harzgängen  nun  in  jedem  Falle  als  Atavis- 
mus gedeutet  werden,  fordert  zu  Widerspruch 
heraus. 

Betrachtet  man  von  diesen  Gesichtspunkten 
aus  den  anatomischen  Bau  der  Koniferen,  so  kann 
kein  Zweifel  über  die  Reihenfolge  der  einzelnen 
Gruppen  herrschen.  Am  Anfange  stehen  als  am 
wenigsten  differenzierte  die  Araucaricoi,  es  folgen 
Cuprrssiiu'rcji  und  Taxodiccii  (neben  ihnen  die 
Taxacct)/],  schließlich  die  Abictiiiccii.  Diese  Reihe 
soll  aber  nur  ein  Schema  der  Entwicklung  des 
Bautyps  darstellen.  Im  einzelnen  ist  der  Zu- 
sammenhang viel  komplizierter,  und  es  ist  wahr- 
scheinlich, daß  die  genannten  Gruppen  sich  als 
nebeneinander  stehende  Reihen  aus  einem  oder 
mehreren  P'ormenkreisen  entwickelt  haben,  so  daß 
sie  heute  ohne  direkte  Beziehung  nebeneinander 
stehen.  Der  Nachweis  von  Fossilien,  die  unzweifel- 
haft Merkmale  verschiedener  Gruppen  miteinander 
vereinigen,  deutet  darauf  hin.  Gerade  das  Wund- 
holz scheint  mir  der  geeignete  Ort  zu  sein,  wo 
zuerst  Neubildungen  auftreten  konnten.  Hier 
spielt  die  Leitung  der  Säfte,  des  Wassers,  vor 
allem  aber  die  Harzausscheidung  eine  wichtige 
Rolle.  Nun  dürfte  es  aber  in  den  Wäldern  der 
Vorzeit  kaum  einen  Baum  gegeben  haben,  der 
nicht  in  hohem  Maße  Verwundungen  ausgesetzt 
war.  Conwentz  hat  uns  dies  in  unübertreff- 
licher Anschaulichkeit  von  den  baltischen  Bernstein- 
wäldern des  Oligozäns  geschildert.')  „Das  Patho- 
logische war  die  Regel,  das  Normale  die  Aus- 
nahme." Im  Wundholze  mögen  zuerst  Ouertrache- 
iden,   vor    allem   aber    Harzzellen    und    schließlich 


')  Conwentz,  H.,  Monographie  der  baltischen  Bernstein- 
bäume.    Danzig   1890. 


3IO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


auch  Harzkanäle  gebildet  worden  sein.  Kann  es 
wundernehmen,  wenn  sie  bei  gewissen  Arten 
auch  zu  Bestandteilen  des  normalen  Holzes 
wurden  ? 

Lassen  sich  so  schon  vom  allgemeinen  Stand- 
punkte berechtigte  Einwendungen  gegen  Jeffreys 
Folgerungen  machen,  so  häufen  sich  die  Schwierig- 
keiten, wenn  man  einzelne  aus  diesen  herausgreift. 
Die  Abstammung  der  ^[raiican'eu  wird  durch  die 
Anordnung  der  Tracheidentüpfel,  sowie  das  Auf- 
treten stark  getüpfelter  Markstrahlzellen  und 
primitiver  Sani  o  scher  Streifen  in  gewissen 
Pflanzenteilen  begründet.  Jene  Zellen  sehen  aber 
echter  .  W/r/Zy/rcw-Tüpfelung  so  unähnlich,  daß  von 
einem  Vergleich  gar  keine  Rede  sein  kann.  Über 
ihre  wahre  Natur  kann  kaum  Zweifel  herrschen, 
gleichen  sie  doch  völlig  den  ebenfalls  dickwandigen 
und  getüpfelten  Zellen,  die  man  im  Mark  häufig 
antrifft.  Es  ist  nicht  erstaunlich,  daß  innerhalb 
der  zuerst  angelegten  Zellschichten  solche  Zellen 
auch  noch  in  den  Markstrahlen  vorkommen  und 
auch  ihr  gelegentliches  Auftreten  im  Wundholz 
berechtigt  noch  lange  nicht,  sie  mit  dem  abietioid 
getüpfelten  Strahlenparenchym  gleichzusetzen. 
Auch  dem  Auftreten  Sanio  scher  Streifen  sowie 
der  abweichenden  Tüpfelung  kann  diagnostischer 
Wert  im  Sinne  Jeffreys  nicht  beigelegt 
werden.  Wie  S  i  f  t  o  n  ^)  nachgewiesen  hat, 
herrschen  ganz  die  gleichen  Verhältnisse  auch 
bei  den  Cycadccii.  Im  Verfolg  der  Jeffrey- 
schen  Methode  wäre  dadurch  aber  „bewiesen", 
daß  auch  diese  von  den  Abicfiiieeii  abstammen. 
Dieses  unmögliche  Ergebnis  beleuchtet  die  Irrig- 
keit der  Jeffrey  sehen  Schlußfolgerungen  deutlich. 

Noch  klarer  tritt  dies  bei  Betrachtung  der 
fossilen  Hölzer  zutage.  Angeblich  sollen  diese 
ja  seine  Lehre  erneut  unterstützen.  Der  Weg 
aber,  auf  dem  dies  erreicht  wird,  ist  recht  eigen- 
artig. Nachdem  die  San  loschen  Streifen  zum 
alleinigen  Erkennungsmerkmal  araucarioider  Ver- 
wandtschaft gestempelt  und  auf  Grund  dessen, 
sowie  der  Jeffreys  Lehre  begründenden  allge- 
meinen Sätze  eine  Anzahl  mehr  oder  weniger 
abietioid  gebauter  Hölzer  als  „7'r/-/i7?/>/'//i-^-'i/-rt'//t7?/'7i!7/" 
erklärt  worden  sind ,  werden  eben  die  gleichen 
Hölzer  als  „unwiderlegliche  Stützen  und  paläonto- 
logische Beweise"  seiner  Schlüsse  hingestellt. 
Zweifellos  bewegen  wir  uns  hier  im  Kreise. 
Demgegenüber  wird  man  Holdens  Meinung 
von  der  „Erhabenheit  über  jeden  logischen 
Zweifel"  doch  wohl  nicht  als  maßgebend  ansehen 
können.  Schon  die  Verbreitung  der  lebenden 
wieder  fossilen  Koniferen  beweist,  daß  Jeffreys 
Ansichten  der  wirklichen  Sachlage  nicht  ent- 
sprechen. Wo  immer  wir  heute  in  der  Natur 
Relikten  alter  Zeiten  begegnen,  sind  diese  auf 
verhältnismäßig  kleine  Gebiete  beschränkt.  Bei 
den  Koniferen  wäre  aber  das  Umgekehrte  der 
Fall;    die   angeblich    „uralten"  Abiefiiiccn  sind    in 


')  Sifton,    H.  B.,    On   the    occurrence    and   significance 
of  Bars  of  Sanio  in  the  Cycads.    Bot.  Gaz.    LX.    Ctiicago  1915. 


zahlreichen  Formen  über  die  ganze  nördliche 
Halbkugel  verbreitet,  und  ihnen  stehen  nur  sehr 
wenige  araucarioide  Sippen  in  räumlich  be- 
schränkten Gebieten  gegenüber,  die  auch  sonst 
reich  an  altertümlichen  Arten  sind.  Das  gleiche 
Bild  bietet  unzweifelhaft  auch  die  tertiäre  Flora, 
in  der  echte  Araucaricii  verhältnismäßig  selten 
sind.  Bei  der  großen  Zahl  bisher  bekannt  ge- 
wordener Tertiärkoniferen  ist  dies  kein  Zufall. 
Die  übrigen  Gruppen  zeigen  dagegen  den  gleichen 
F"ormenreichtum,  den  sie  noch  heute  besitzen, 
wenn  auch  die  Verteilung  eine  andere  war. 
Typen ,  die  heute  auf  Nordamerika  beschränkt 
sind,  wie  manche  Kiefernarten,  die  Sumpfzypresse, 
Sequoien  und  auch  der  ostasiatische  Glyptostrobus 
waren  in  ganz  Europa  und  Nordasien  verbreitet; 
ihr  Holz  setzt  die  zahlreichen  Braunkohlenflöze 
zusammen.  Erst  in  der  Kreide  werden  sie  seltener, 
während  das  Umgekehrte  für  die  modern  ge- 
bauten Hölzer  gilt.  Steigen  wir  noch  tiefer  hinab, 
so  wird  der  Gegensatz  immer  größer,  und  in  der 
Trias  treffen  wir,  wenn  wir  von  einigen  mehr 
oder  weniger  unsicheren  Formen  absehen,  kaum 
noch  ein  Holz,  das  mit  einem  der  lebenden  Typen 
wirklich  übereinstimmt.  Allerdings  gilt  das  für 
Blatt-  und  Zapfenreste  nicht  in  gleichem  Maße. 
Anatomische  Untersuchung  würde  aber  auch  hier 
wahrscheinlich  Unterschiede  gegen  rezente  Formen 
ergeben,  wie  in  einigen  Fällen  bereits  nach- 
gewiesen werden  konnte.  Es  scheinen  in  der 
unteren  Kreide  wie  schon  im  Jura  neben  ganz 
fremdartigen  zahlreiche  Hölzer  verbreitet  gewesen 
zu  sein ,  die  Züge  der  Araitcarioxyla  mit  denen 
jüngerer  Typen  vereinigen.  Ich  habe  für  sie  den 
Namen  Profof'iiiacccii  vorgeschlagen.  Leider 
wissen  wir  über  ihren  sonstigen  Bau  nichts; 
wahrscheinlich  gehörten  sie  aber  Pflanzen  an,  die 
in  Belaubung  und  Zapfenbau  große  Ähnlichkeit  mit 
Taxodiccn  und  anderen  lebenden  F"ormen  aufge- 
wiesen haben.  Der  Beweis  des  Zusammenhanges  ist 
bisher  allerdings  nur  vereinzelt  erbracht  worden. 
Schließlich  finden  wir  nur  noch  typische  ^iraiica- 
rivxyla.  Nun  wissen  wir  zwar,  daß  ein  großer  Teil 
hiervon  gar  nicht  von  Koniferen  stammt,  sondern  zu 
Cordaitoi  und  anderen  ausgestorbenen  Gruppen 
zu  stellen  ist.  Andere  gehören  aber  doch  wohl 
echten  Araiicaricu-'ih\\X\c\\^n  Koniferen  an.  Hier- 
bei mag  die  Frage  unberührt  bleiben,  wieweit 
zwischen  beiden  Kreisen  ein  genetischer  Zu- 
sammenhang besteht,  wie  ihn  viele  Forscher  an- 
nehmen, während  andere  wieder  den  Anschluß 
bei  den  Lycopodiaks  oder  noch  anderen  Gruppen 
suchen.  Sicher  können  wir  in  jedem  Falle  sagen, 
daß  die  alternierende  Tüpfelstellung  ein  uraltes 
Merkmal  ist,  das  den  paläozoischen  \'orläufern 
der  Gymnospermen  schon  zukam  und  sich  heute 
nur  noch  bei  Cycadccii  und  ^iraucariccii  findet. 
Beide  Gruppen  mögen  verschiedene  Entwicklungs- 
reihen darstellen,  denen  als  dritte  die  Hauptmasse 
der  übrigen  Koniferen  an  die  Seite  zu  setzen  ist. 
Hätte  Jeffrey  Recht,  so  müßte,  je  tiefer  wir  in 
die  Vorzeit  hinabsteigen,  das  Bild  sich  gerade  im 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


311 


entgegengesetzten  Sinne  wandeln;  wir  müßten 
im  unteren  Mesozoikum  und  oberen  Paläozoikum 
eine  reiche  ^lbicfiiiccii-¥\ora.  erwarten.  Dieser 
Schwierigkeit  war  sich  Jeffrey  wohl  bewußt 
und  so  suchte  er  eifrig  nach  paläontologischen 
Zeugen  für  das  hohe  Alter  der  ^ihicfiiiccii,  als 
welche  er  schließlich  Piiiitcs  Comveiitzianiis 
Goeppert  und  Pifyoxylou  clinsciisc  Penhallow 
in  Anspruch  nimmt.  Leider  stehen  beide  „Stützen" 
seiner  Lehre  auf  allzu  schwachen  Füßen.  Im 
ersten  Falle  handelt  es  sich  um  ein  von  Goeppert 
beschriebenes,  übrigens  sehr  schlecht  erhaltenes 
Holz  mit  Harzgängen,  das  auf  einer  offenen 
Halde  bei  Waidenburg  in  Schlesien  gesammelt 
und  von  ihm  daher  als  aus  dem  Karbon  stammend 
angesehen  wurde.  Die  Angabe  ist  aber,  wie  schon 
Gothan  betont  hat,  ganz  zweifelhaft  und  durch 
nichts  bewiesen.  Vielmehr  dürfte  es  sich  um  ein 
jüngeres  Geschiebeholz  handeln,  ja,  es  ist  nicht 
ausgeschlossen,  daß  ein  stark  vermodertes  rezentes 
Holzstück  vorliegt.  Pityoxyluii  cliasciisc  stammt 
aus  dem  Perm  von  Kansas  und  erwies  sich 
bei  erneuter  Untersuchung  durch  Thomson 
und  All  in  als  ein  ^{raucario.xyluii !  Die  vermeint- 
lichen horizontalen  Harzgänge  (vertikale  fehlen 
ganz)  sind  im  Innern  der  Markstrahlen  verlaufende 
Blattspurstränge.  Seit  letzteres  feststeht,  hat  sich 
übrigens  Jeffrey  meines  Wissens  zu  dieser  Frage 
nicht  mehr  geäußert. 

Auf  die  ersten  ^{raucarioxyla  folgen  im  Jura 
(vielleicht  sogar  schon  früher)  und  unterer  Kreide 
die  Hölzer  der  Übergangsgruppe  (Profopinacccn). 
Sie  sind  in  der  Tracheidentüpfelung  noch  mehr 
oder  minder  araucarioid,  Bracliyuxyloii  vor  allem 
auch  in  dem  Bau  der  Markstrahlen,  zeigen  aber 
im  übrigen  schon  Anklänge  an  moderne  Typen. 
Bei  einigen,  wie  den  von  Gothan  beschriebenen 
Ccdroxyloii  traiisicns  und  Cedroxylmi  ccdrvidcs 
erinnert  nur  noch  die  Stellung  der  Tracheidentüpfel 
an  die  Ahnenform.  Wichtig  ist,  daß  manche 
dieser  Formen  Züge  in  sich  vereinigen,  die  heute 
nur  noch  getrennt  vorkommen.  Auch  in  der 
Ausbildung  der  Quertracheiden  läßt  sich  eine  all- 
mähliche Entwicklung  während  der  Kreide  nicht 
verkennen,  besitzen  wir  doch  mehrere  Hölzer  aus 
dieser  Periode  {Pityoxyhui  foliosnin  Holden,  Piitns 
Naf h orsf i  Conv^cnXz),  die  sich  von  lebenden  Picca- 
oder  Piiii/s-^ri&n  nur  durch  das  Fehlen  von  Quer- 


tracheiden unterscheiden.  Das  gleiche  gilt  viel- 
leicht von  der  Ausbildung  der  San  loschen 
Streifen,  doch  läßt  sich  dies  infolge  noch  unzu- 
reichenden Materials  vorläufig  nur  vermuten. 

Neben  den  Protopiiiacccii  treten  in  Jura  und 
unterer  Kreide  Hölzer  auf,  die  so  völlig  fremdartig 
gebaut  sind,  daß  sie  mit  lebenden  nicht  verglichen 
werden  können.  So  besitzen  die  früher  von  Gramer 
3.\s  Pia  lies  lafiporasiis  und  Piiiitcs  paiiciporosus  be- 
schriebenen Hölzer  neben  großen  eiporigen  Mark- 
strahltüpfeln  breitelliptische,  die  ganze  Tracheiden- 
breite  einnehmende,  oben  und  unten  abgeplattete 
Hoftüpfel  {Xcnoxyloii  Gothan).  Später  wurden 
weitere  hierher  gehörende  Formen  bekannt,  die  in  der 
Regel  durch  den  Besitz  von  Eiporen  ausgezeichnet 
sind.  Über  ihre  systematische  Stellung  können 
wir,  solange  sie  nicht  im  Zusammenhange  mit 
Blatt-  oder  Zapfenresten  gefunden  worden  sind, 
leider  nichts  sagen.  Im  Tertiär  wird  dieser  Bautyp 
durch  einen  Teil  der  spiralenlosen  Taxaceen  ver- 
treten, woraus  aber  nicht  ohne  weiteres  ein  gene- 
tischer Zusammenhang  zwischen  diesen  und  jener 
alten  Koniferengruppe  gefolgert  werden  kann,  der 
immerhin  möglich  wäre.  Jedenfalls  kann  man 
bei  einem  Teil  der  mit  Glyptosfrobiis,  Podocarpus 
und  Phyllodadits  verglichenen  Kreidehölzer  im 
Zweifel  sein,  ob  sie  nicht  jenem  fremdartigen  aus- 
gestorbenen Kreis  zuzurechnen  sind. 

Zur  Tertiärzeit  haben  die  Koniferen  offenbar 
die  heutige  Ausbildungshöhe  erreicht  und  waren 
damals  schon  ebenso  reich  gegliedert  wie  heute. 
Die  wenigen  bekannt  gewordenen  fremdartigen 
Tertiärhölzer  dürften  als  anormale  Wundholz- 
bildungen anzusehen  sein,  wenngleich  die  Möglich- 
keit des  Auftretens  heute  ausgestorbener  Bautypen 
vielleicht  noch  im  Miozän  nicht  unbedingt  verneint 
werden  soll. 

Nach  allem  können  wir  sagen,  daß  weder  all- 
gemeine und  vergleichend-anatomische  Erwägungen 
noch  die  Ergebnisse  der  Paläontologie  Jeffreys 
Ansichten  stützen.  Die  paläobofanischen  Tatsachen 
bereiten  seiner  Lehre  unüberwindliche  Schwierig- 
keiten, stimmen  dagegen  völlig  mit  der  Annahme 
überein,  daß  die  ^iraiicaricni  die  älteste,  die  Abie- 
iiiiccii  dagegen  die  jüngste  Gruppe  sind.  Gerade 
das  Studium  der  fossilen  Koniferen  begründet 
diese  Anschauung  aufs  neue. 


Einzelberichte. 


Anthropologie.  Schlaginhaufen') erörtert 
in  zusammenfassender  Weise  das  ganze  Pygmäen- 
problem. Als  „Pygmäenrassen  oder  Rassen,  die 
hochgradig  mit  Pygmäenelementen  durchsetzt  sind", 


■)  Otto       Schlaginhaufen,       Pygmä 
Pygtnäenfrage.      Vierteljahrsschrift    der    Naturforschenden   Ge- 
sellschaft in  Zürich,  61.  Jahrg.,  H.   1/2,   1916. 


faßt  er  die  folgenden  auf:  In  Europadie  Lappen 
in  dem  zusammenhängenden  Gebiet  der  Halbinsel 
Kola,  des  nördlichen  F"innland  und  des  schwedisch- 
norwegischen Grenzgebiets  im  Innern  der  skan- 
dinavischen Halbinsel  bis  zum  64"  nördl.  Breite. 
In  Afrika  die  zentralafrikanischen  Pyg- 
mäen, die  Negrillos,  die  in  mehrere  Typen 
aufgeteilt    werden   können,    und  die  Südafrika- 


312 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


nischen  Pygmäen  oder  die  Buschmannrasse. 
Kleinere  Gebiete  als  in  Afrika  stellen  die  einzelnen 
Pygmäenzentren  in  Asien  dar,  wo  sie  mit  Sicher- 
heit nur  auf  Malakka  und  auf  den  südasiatischen 
Inseln  nachgewiesen  sind.  Die  Pygmäenrassen 
Asiens  können  in  zwei  große  Hauptgruppen  ge- 
schieden werden,  in  die  Kraushaarigen  und  Wellig- 
haarigen. Die  erste  Gruppe  bilden  die  Be- 
wohner der  Andamanen,  ferner  die  S e m a - 
ny,  die  zu  den  Inlandstämmen  der  Malayischen 
Halbinsel  gehören,  und  die  Negritos  auf  den  Philip- 
pinen. Zu  den  Wellighaarigen  gehören  die  Wedda 
von  Ceylon,  die  Senoi  von  Malakka,  die  Toala  von 
Celebes.  Schließlich  kommen  die  Pygmäenrassen 
der  melanesischen  Inselwelt  in  Betracht, 
vor  allem  auf  Neu-Guinea,  die  auch  Schlagin - 
häufen  zum  Teil  eingehend  studiert  hat. 

Man  muß  allerdings  in  Betracht  ziehen,  daß 
es  rein  konventionell  ist,  „in  welchen  Fällen  wir 
eine  Menschengruppe  zu  den  Pygmäen  zu  rechnen 
haben.  Ihr  gemeinsames  Merkmal  ist  die  extrem 
kleine  Rassenstatur.  Von  durchschnittlich  sehr 
kleinem  Wuchs  muß  sie  sein,  wenn  sie  als 
Pygmäengruppe  gewertet  werden  soll.  Wo  die  obere 
Grenze  für  den  rassenmäßigen  P\'gmäenwuchs 
anzusetzen  ist,  bleibt  unserer  Willkür  überlassen. . ." 
Die  Pygmäengrenze  darf  nicht  zu  doch  gesetzt 
werden :  man  soll  als  Pygmäenstämme  jene  Rassen 
bezeichnen,  deren  durchschnittlicher  Wuchs  tiefer 
als   150  cm  liegt. 

Schlaginhaufen  erörtert  nun  die  Auf- 
fassungen, die  sich  auf  die  anthropologische  Stellung 
der  Pygmäenrassen  innerhalb  der  Menschheit  be- 
ziehen. Man  kann  diese  Auffassungen  in  zwei 
Gruppen  teilen:  zu  der  ersten  gehören  die  Auf- 
fassungen, nach  denen  die  Pygmäen  eine  phylo- 
genetisch alte,  vielleicht  die  älteste  Form  der 
Menschheit  sind,  zu  der  zweiten  jene,  nach  denen 
die  Pygmäen  eine  sekundär  entstandene  Form 
darstellen,  die  ihre  Kleinheit  der  Einwirkung  be- 
sonderer Einflüsse  von  selten  der  Außenwelt  ver- 
danken. 

Eine  eingehende  Betrachtung  ergibt,  daß  die 
erste  Auffassung,  die  namentlich  von  K o  1 1  m  a n  n  ver- 
treten worden  ist,  den  möglichen  Einwänden  nicht 
standhalten  kann.  Die  Knochenreste  aus  dem  Paläo- 
lithikum  deuten  auf  Rassen  von  mittlerer  Statur 
hin.  Die  Körperlänge  der  Neandertalrasse  dürfte 
162  cm  betragen  haben.  Andere  P"unde  deuten 
auf  163  cm  (Kent),  173,2  cm  (Paviland  Höhle  in 
Wales),  180  cm  (Cronagnon),  über  160  cm  (Combe- 
Capelle),  160  cm  (Oberkassel  bei  Bonn).  „Selbst 
.  die  niederste  Form  der  Hominiden,  Pithecanthropus 
erectus,  besaß  eine  Körpergröße  von  mindestens 
160  cm."  Skelette  von  kleinerer  Statur  treten  erst 
im  Neolithikum  auf  wobei  „diese  Einzelfunde  nicht 
die  Vertreter  einer  Pygmäenrasse  zu  sein  brauchen, 
sondern  Varianten  höher  gewachsener  Rassen  sein 
können". 

Ein  zweiter  Einwand  gegen  die  Auffassung, 
daß  die  Pygmäenrassen  eine  ältere  Form  der 
Menschheit  darstellen,  ergibt  sich  aus  der  Tatsache, 


daß  „allen  Pygmäen,  sowohl  den  rezenten,  als 
auch  den  prähistorischen  eine  Formgestaltung 
der  Schädelkapsel  eigen  ist,  die  den  bestentwickel- 
ten Schädeln  der  großwüchsigen  Rassen  an  die 
Seite  gestellt  werden  kann".  Dagegen  steht  es 
ja  heute  fest,  daß  die  ältesten  Hominidenformen, 
wie  Pithecanthropus  und  Neandertaler  ein  niedri- 
ges Schädeldach  mit  fliehender  Stirn  besessen 
haben.  Diese  Merkmale  sind  bei  den  ältesten 
Hominidenformen  sehr  scharf  ausgesprochen. 
Schlaginhaufen  weist  hier  auch  die  Beweise 
zurück,  die  aus  der  OntogenesedesSchädels 
zugunsten  der  erörterten  Auffassung  herangezogen 
werden.  Wenn  auch  der  Affenschädel  im  kind- 
lichen Stadium  dem  menschlichen  Schädel  näher 
ist  als  der  Affenschädel  im  ausgewachsenen  Sta- 
dium, so  ist  damit  noch  nicht  gesagt,  daß  —  in 
schematischer  Anwendung  des  biogenetischen 
Grundgesetzes  —  die  menschliche  Schädelform  die 
ursprünglichere  sein  muß.  Es  kommen  zweifellos 
Momente  in  Betracht,  welche  die  Verhältnisse 
komplizieren  und  eine  so  schematische  Anwendung 
des  biogenetischen  Grundgesetzes  als  unzulässig  er- 
scheinen lassen. 

Ebenso  unzulässig  ist  es,  die  Pygmäenrassen  als 
„Kindheitsvölker  der  Menschheit"  (P.  W.Schmidt) 
aufzufassen.  Ein  Vergleich  zwischen  dem  Kinde 
und  den  zentralafrikanischen  Negrillos,  den  Poutrin 
durchgeführt  hat,  ergibt,  daß  eine  Übereinstimmung 
in  den  Proportionen  nicht  vorhanden  ist.  HinfäUig 
ist  auch  die  Auffassung,  daß  alle  Pygmäenrassen 
eine  einheitliche  Gruppe  bilden.  Es  läßt  sich 
unmöglich  eine  Einheitlichkeit  in  den  Rassenmerk- 
malen bei  den  Pygmäen  feststellen:  der  Längen- 
Breiten-Index  des  Schädels,  die  Haarform  und 
die  Hautfarbe  sind  bei  den  einzelnen  Pygmäen 
außerordentlich  verschieden. 

So  kommt  Schlaginhaufen  zum  Schluß, 
„daß  die  Theorien  des  phylognetisch 
primitiven  Charakters  und  dermorpho- 
logischen  Zusammengehörigkeit  aller 
Pygmäen  auf  recht  schwankendem  Bo- 
den stehen  und  wen  ig  Wahrsc  hei  nlich - 
keit  für  sich  haben". 

Eine  zweite  Gruppe  bilden  die  Auffassungen, 
die  dahin  gehen,  daß  äußere  Einflüsse  an  der  Ent- 
stehung von  Pygmäenrassen  schuld  sind.  Es  ist 
nun  denkbar,  daß  die  Einflüsse  die  Individuen 
und  das  Keimplasma  direkt  treffen  und  damit 
neue  Formen  Schäften,  oder  daß  die  äußeren  Ein- 
flüsse sich  durch  daßMittelderSelektion 
geltend  machen  und  schon  vorhandene  Varianten 
züchten. 

Wir  besitzen  Beweise  dafür,  daß  äußere  Ein- 
flüsse die  Körpergröße  bestimmen.  Schlagin- 
haufen nennt  hier  namentlich  die  Beobachtungen 
des  französischen  Militärarztes  Collignon  an 
der  Bevölkerung  der  Grafschaft  Limousin.  Die 
Männer  dieser  Gegend  gehören  zu  den  kleinsten  in 
Frankreich,  und  man  erklärte  diese  Gegend  als  die 
„Citadelle  der  keltischen  Rasse  in  Frankreich".  Nun 
konnte  aber  Collignon  den  Nachweis  erbringen, 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


313 


daß  Personen,  die  in  der  Gegend  von  Limousin 
geboren  wurden,  aber  in  anderen  Gegenden  ihre 
Kinder-  und  Entwicklungsjahre  verbracht  hatten, 
größer  waren  als  die  Leute  von  Limousin.  Auf 
der  anderen  Seite  erwies  es  sich,  daß  Personen,  die 
in  einer  anderen  Gegend  geboren  wurden,  aber 
in  Limousin  aufgewachsen  waren,  nur  die 
für  Limousin  charakteristische  Körpergröße  er- 
reichten. Aus  diesen  Beobachtungen  folgt,  daß 
äußere  Einflüsse  die  geringere  Körpergröße  der 
Männer  von  Limousin  bedingen.  Collignon 
weist  hin  auf  das  rauhe  Klima,  die  Unfruchtbarkeit 
des  Bodens,  die  einförmige  Nahrung,  das  schlechte 
Trink-  und  Kochwasser,  auf  die  ungesunden,  in 
ungünstiger,  lichtarmer  Lage  befindlichen  Woh- 
nungen. Nach  Schlagin  häufen  ergibt  sich  aus 
den  Befunden  von  Collignon:  „i.  daß  anschei- 
nend rassenmäßiger  Kleinwuchs  sich  unter  Um- 
ständen als  vorübergehendes,  nicht  auf  Erbanlagen 
beruhendes  Merkmal  herausstellen  kann,  das  seine 
Existenz  nur  der  direkten  Einwirkung  der  Umwelt- 
faktoren verdankt,  2.  daß  durch  die  unmittelbare 
Beeinflussung  von  außen  rassenmäßige  Klein- 
wüchsigkeit, die  auf  endogenen  Varianten  beruht, 
nicht  herbeigeführt  werden  kann."')  Es  wäre 
nun  die  Aufgabe  der  Pygmäenforschung,  zu  unter- 
suchen, ob  eine  direkte  Wirkung  der  Außenwelt 
für  die  Entstehung  der  einzelnen  Pygmäenstämme 
verantwortlich  gemacht  werden  kann.  Zuverlässige 
Beweise  nach  dieser  Richtung  besitzen  wir  jedoch 
nicht. 

Dagegen  scheint  es  sehr  wohl  möglich,  daß  ä  u  - 
ßere  Einflüsse  durch  das  Mittel  der 
Selektion   die  Pygmäenrassen  gestaltet   haben. 

')  Es  sei  hier  auch  auf  die  Untersuchungen  von  Bolk 
hingewiesen,  die  auch  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  XIV,  S.  444) 
besprochen  worden  sind.  Bolk  hat  festgestellt,  daß  die 
Körperlänge  der  Holländer  im  Laufe  der  letzten  50  Jahre 
um  II  cm  zugenommen  hat,  wobei  diese  mittlere  Zunahme 
der  Körperlänge  allein  auf  einer  Hebung  derjenigen  Werte 
beruht,  die  unterhalb  der  Ma.Nimalgröße  liegen.  Die  Maximal- 
große  ist  unverändert  geblieben.  Es  folgt  aus  diesen  Befunden 
von  Bolk,  daß  früher  (im  Laufe  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  in  Holland)  Momente  vorhanden 
waren,  die  einenTeil  desVolkesdarangehindert 
haben,  diejenige  Körpergröße  zu  erreichen,  die 
der  Rasse  eigentümlich  ist.  Es  sind  also  zwei  ver- 
schiedene Gruppen  von  Faktoren ,  welche  die  Körpergröße 
bestimmen;  die  Kaktoren  der  Vererbung  auf  der  einen,  die 
äußeren  E.\istenzbedingungen  auf  der  anderen  Seite.  Erst  aus 
dem  Zusammenwirken  dieser  beiden  Faktoren  resultiert  die 
jeweils  vorhandene  mittlere  Körperlänge,  die  mehr  oder 
weniger  dem  rassenmäßigen  Maximum  angenähert  sein 
wird.  Darauf  deutete  die  Tatsache  hin,  daß  die  mittlere 
Körperlänge  nicht  nur  in  Holland,  sondern  auch  in  allen 
anderen  Ländern  von  West-Europa  im  Laufe  der  letzten  Jahr- 
zehnte zugenommen  hat.  In  meinem  Buch  ,,Zur  allgemeinen 
Physiologie  des  Hungers"  (Braunschweig  191 5)  habe  ich  die 
Tatsache  besonders  betont,  daß  auch  die  mittlere  Körper- 
größe der  einzelnen  sozialen  Klassen  verschieden  ist,  und  ich 
habe  die  Frage  diskutiert,  ob  Unterernährung  als  be-' 
dingender  Faktor  hier  in  Betracht  kommt.  Meine  in  dieser 
Richtung  eingeleiteten  Experimente  an  Mäusen  habe  ich  aus 
Mangel  an  Mitteln  leider  nicht  fortführen  können.  Es  unter- 
liegt keinem  Zweifel,  daß  solche  experimentellen  Untersuchungen 
unseren  Einblick  auch  in  das  Pygmäenproblem  sehr  erweitern 
würden  und  daß  sie  auch  für  das  Vererbungsproblem  schlecht- 
weg von  Bedeutung  werden  könnten, 


Wenn  einer  Gruppe  von  Menschen  eine  geringere 
Nahrungsmenge  als  bisher  zur  Verfügung  steht, 
dann  sind  die  kleineren  Individuen  innerhalb  dieser 
Gruppe  im  Vorteil,  da  das  Nahrungsbedürfnis  der 
Kleineren  geringer  ist  als  dasjenige  der  Größeren. 
Die  Kleinen  werden  mehr  Aussicht  auf  ein  per- 
sönliches Eortkommen  haben.  Die  Kleinen  werden 
in  den  sich  folgenden  Generationen  relativ  zu  den 
Großen  an  Zahl  mehr  und  mehr  zunehmen :  „es 
verschiebt  sich  die  mittlere  Körpergröße  nach 
abwärts;  es  ist  ein  kleinwüchsiger,  den  neuen 
Verhältnissen  gut  angepaßter  Typus  gezüchtet 
worden."  Welche  Faktoren  der  Außenwelt  im 
einzelnen  Fall  wirksam  gewesen  sein  mögen,  das 
ist  eine  Frage  für  sich.  „Im  einen  P'all  kann.  .  . 
das  Nahrungsquantum,  in  einem  anderen  das  geo- 
graphische Milieu  im  weiteren  Sinne,  in  einem 
dritten  der  Krieg,  in  einem  vierten  schließlich 
ein  sozialer  oder  kultureller  Gebrauch  den  Grund 
für  das  Einsetzen  des  selektorischen  Prozesses 
abgeben."  Für  Neuguinea  glaubt  Seh  lagin - 
häufen  auf  Grund  eigener  Beobachtungen  eine 
Parallelität  zwischen  der  Änderung  gewisser 
geographischer  Faktoren  und  derjenigen  bestimmter 
Körpermerkmale  festgestellt  zu  haben.  Die  Küsten- 
stämme sind  von  größerem  Wuchs  als  die  Stämme 
des  Inlands.  Der  Längenbreiten  Index  dagegen 
nimmt  von  der  Küste  nach  dem  Inland  zu.  Nach 
Schlaginhaufen  kann  angenommen  werden, 
„daß  den  in  F"rage  kommenden  Körpermerkmalen 
der  Charakter  von  Funktionen  geographischer 
Momente  zukommt."  Man  könnte  allerdings  ein- 
wenden, daß  die  Küstenvölker  spätere  Ankömm- 
linge sein  könnten,  durch  die  die  Inlandvölker 
verdrängt  worden  seien.  Aber  dann  müßten  zwischen 
den  Küstenstämmen  und  Inlandstämmcn  größere 
somalische  Difterenzen  vorhanden  sein,  als  in  Wirk- 
lichkeit der  Fall.  Für  einen  Abschnitt  des  nörd- 
lichen Nenguinea  hat  Schlaginhaufen  den 
Nackweis  erbracht,  „daß  die  kleinwüchsige  Be- 
völkerung des  Toricelligebirges  einem  einzelnen 
Küstenstamm  näher  steht,  als  die  Küstenstämme 
unter  sich  es  tun.  Dies  spricht  nicht  für  die 
rassenmäßige  Selbständigkeit  dieses  Gebirgsvolkes. 
In  ähnlicher  Weise  konnte  Poutrin  von  seinen 
Batwa  zeigen,  daß  sie  gewissermaßen  verkleinerte 
Neger  sind,  d.  h.  zu  den  Negern  deutliche  mor- 
phologische und  wohl  auch  genetische  Beziehungen 
aufweisen  .  .  ." 

Mit  der  Behauptung,  daß  die  Einflüsse  der 
äußeren  Welt  durch  das  Mittel  der  Selektion  die 
Pygmäenrassen  gestalten,  soll  nicht  gesagt  sein, 
daß  die  Verkleinerung  der  Rasse  eine  Degeneration 
darstelle.  Im  Einklang  mit  fast  allen  Forschern, 
welche  Pygmäenrassen  untersucht  haben,  hat  auch 
Schlaginhaufen  von  den  Eingeborenen  des 
Toricelligebirges  den  Eindruck  gewonnen,  daß  sie 
nichts  weniger  als  verkümmert  sind.  „Diese 
Wahrnehmungen  entsprechen  den  Eigenschaften 
eines  Typus,  den  die  Umweltfaktoren  durch  das 
Mittel  der  Selektion  und  nicht  durch  unmittelbare 
Einwirkung    geformt    haben.      Unter    den    letzt- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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genannten  Umständen  hätten  sich  doch,  wie  in 
dem  Fall  von  Limousin,  da  und  dort  Anzeichen 
von  somatischer  Verkümmerung  bemerkbar  ge- 
macht." 

Nach  alledem  kommt  Schlaginhaufen  zum 
Schluß,  die  Auffassung,  daß  die  Pygmäen  eine 
ursprüngliche  Form  des  Menschengeschlechts  dar- 
stelle, müsse  endgültig  zurückgewiesen  werden. 
An  ihre  Stelle  müsse  die  selektionistische  Auf- 
fassung treten.  A.  I.ipschütz,  Bern. 

Botanik.  Silene  dichotoma  Ehrhart,  erst 
Unkraut,  dann  Kulturpflanze.  Das  Gabelige  Lein- 
kraut, in  Südosteuropa  einheimisch,  hat  in  Deutsch- 
land ein  sehr  zerstreutes  und  unregelmäßiges 
Vorkommen.  Die  vorwiegend  mit  ausländischer 
Kleesaat  eingeführte  Pflanze  hat  sich  nur  hier  und 
da  einbürgern  können;  gewöhnlich  wird  sie,  bevor 
ihre  Samen  reif  sind,  mit  dem  Klee  abgemäht 
und  verschwindet  so  wieder  vom  Standort.  Aber 
auch  wenn  die  Pflanze  zur  Samenreife  gelangt  ist, 
kann  es  doch  sich  ereignen ,  daß  sie  den  ge- 
wonnenen Platz  wieder  räumt,  wenn  nämlich  die 
aufgehenden  Pflänzchen  mit  dem  Klee  nicht  Schritt 
halten  und  überwuchert  werden.  Nach  neueren 
Beobachtungen,  die  H  i  1 1  n  e  r  in  „Praktische  Blätter 
für  Pflanzenbau  und  Pflanzenschutz",  Jahrg.  1916, 
S.  80  ff.  mitteilt ,  scheint  es  gelegentlich  vorzu- 
kommen, daß  Stöcke  der  sonst  einjährigen  Pflanze 
mit  dem  Klee  überwintern  und  im  nächsten 
Frühjahr  frisch  wieder  austreiben.  Es  ist  dabei 
noch  fraglich,  ob  hier  ein  typisches  Ausdauern, 
das  Entstehen  einer  perennierenden  aus  einer  ein- 
jährigen Pflanze  durch  ,, Mutation"  vorliegt,  oder  ob 
die  P"älle  nur  so  zu  erklären  sind,  daß  die  Pflanzen, 
durch  wiederholtes  Abmähen  am  Blühen  und 
Fruchten  verhindert,  eben  noch  nicht  dem  Tode 
durch  Erschöpfung  verfallen  waren ,  wie  sonst 
einjährige  Pflanzen,  die  regelrecht  abgeblüht  und 
Samen  getragen  haben;  letztere  Erklärung  ist 
nicht  unwahrscheinlich. 

Aus  derselben  Mitteilung  von  Hiltner  geht 
aber  weiter  hervor,  daß  die  Meinung,  unsere 
Pflanze  sei  ein  besonders  schädliches  Unkraut, 
neuerdings  begonnen  hat  sich  ins  Gegenteil  zu 
verkehren.  Die  hochwüchsige  Pflanze,  die  wie 
ein  zweiter  lichterer  Wald  über  dem  Dickicht 
des  Kleefeldes  sich  erhebt,  dient  den  Kleepflanzen 
zur  Stütze  und  verhindert  das  Lagern  derselben, 
man  bezeichnet  sie  deshalb  geradezu  als  „Klee- 
halter". Überdies  hat  man  aber  die  Erfahrung 
gemacht,  daß  die  bisher  für  nutzlos  oder  schädlich 
gehaltene  Pflanze  vom  Vieh  gern  angenommen 
wird ;  ja  im  bayrischen  Bezirk  Gerolzhofen,  Unter- 
franken, ist  das  Gabelige  Leinkraut  schon  seit 
einigen  Jahren  feldmäßig  als  F"utterpflanze  ange- 
baut worden,  und  zwar  mit  gutem  Erfolg.  Wenn 
es  freilich  in  jener  Mitteilung  heißt:  „Die  be- 
treffenden Landwirte  hielten  sie  für  eine  Kleeart" 
—  so  kann  man  nur  sagen:  Botanik  schwach !  — 

Die   eben   durch    die  Art   ihres   Vorkommens 


interessante  Pflanze  hatte  ich  selbst  seit  rund 
20  Jahren  nicht  mehr  in  Freiheit  zu  sehen  be- 
kommen, bis  ich  ihr  im  Sommer  1916  an  vier 
z.T.  weit  getrennten  Standorten  begegnete:  i.  in 
je  mehreren  Kleeäckern  am  Wege  von  Ostritz 
nach  Nikrisch,  südlich  Görlitz;  2.  ebenso  zwischen 
Liebau  und  dem  Rabengebirge,  am  Südostfuß  des 
Riesengebirges;  3.  Böschung  am  neuen  Kanal 
nordöstlich  von  Bromberg,  wo  leider  der  ganze 
Pflanzenwuchs  vor  der  Samenreife  abgemäht 
wurde;  4.  ein  großer  Stock  mit  fast  meterlangen 
Ästen  über  dem  Rande  eines  Schützengrabens 
hängend,  der  im  August  191 4  nördlich  von 
Bromberg  zum  Russenempfang  ausgehoben  worden 
war;  hier  dürfte  Aussicht  sein,  die  Pflanze  für 
etliche  Zeit  zu  erhalten ,  die  in  jedem  Falle  in 
Norddeutschland  bedeutend  seltener  auftritt  als 
im  Süden  unseres  Vaterlandes.       Hugo  Fischer. 

W.  Bobilioff-PreißerM  hat  sich  zur 
Aufgabe  gestellt,  zu  entscheiden,  ob  die  Wanderung 
des  Zellkerns,  die  man  in  pflanzlichen  Zellen  be- 
obachten kann,  aktiv  oder  passiv  vor  sich  geht. 
Die  meisten  Forscher,  die  sich  mit  dieser  Frage 
beschäftigt  haben,  sind  der  Meinung,  daß  der  Kern 
nur  passiv,  infolge  von  Plasmaströmung,  wandert. 
Frühere  Beobachtungen  des  Verfassers  an  isolierten 
Palisaden-  und  Schwammparenchymzellen  von  Viola 
lutea  var.  grandiflora  haben  ergeben,  daß  die 
Kerne  dieser  Zellen  kurz  nach  der  Isolation  eine 
intensive  Ortsveränderung  zeigen.  Bei  dieser 
Ortsveränderung  erleiden  die  Kerne  auch  eine 
Gestaltsveränderung.  In  den  Zellen  findet  auch  eine 
Plasmabewegung  statt.  Aber  diese  Plasmabewegung 
setzte  erst  ein,  nachdem  der  Kern  sich  schon  in 
Wanderung  befand.  Darin  liegt  der  Beweis  dafür, 
daß  diese  Kernwanderung  nich  t  bedingt 
ist  durch  die  Plasmast  röm  u  n  g,  sondern 
eine  aktive  Orts  verän  derun  g  darstellt. 
Verf.  hat  nun  weitere  Untersuchungen  über  die 
Kernwanderung  angestellt,  an  einem  Objekt,  bei 
welchem  während  der  Kernwanderung  überhaupt 
keine  Plasmabewegung  stattfindet,  um  auf  diese 
Weise  sicheren  Aufschluß  darüber  zu  gewinnen, 
wie  die  Kernwanderung  vor  sich  geht  und  zustande- 
kommt. Ein  solches  Objekt  fand  Verf.  in  den 
Zellen  ganz  junger  Cucurbitaceenhaare. 

Eine  aktive  Kernwanderung  ist  schon  vor 
Jahren  von  H  a  n  s  t  e  i  n  in  den  Zellen  von  größeren 
Cucurbitaceenhaaren  vermutet  worden.  Dieses  Ob- 
jekt hat  jedoch  den  Nachteil,  daß  hier  die  Umrisse 
des  Kernes  nicht  immer  scharf  zu  sehen  sind,  was 
die  Beobachtungen  natürlich  stört.  Dagegen  sind 
in  den  Zellen  von  ganz  jungen  Cucurbitaceen- 
haaren die  Umrisse  des  Kernes  noch  sehr  scharf 
zu  sehen.  „In  diesen  Zellen  ist  keine  Plasma- 
bewegung   wahrnehmbar.      Einige    Minuten    nach 


')  Die  Zellkernwanderung  in  den  Haarzellen  von  Cucur- 
bitaceen. Vierteljahrsschrift  der  Naturforschenden  Gesellschaft 
in  Zürich.     61.  Jahrg.,   3./4.  Heft,   1916. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


31S 


dem  Übertragen  der  Haare  in  die  Flüssigkeit  (es 
sind  Wasser  oder  schwache  mineralische  Lösungen 
verwendet  worden)  beobachtet  man,  daß  die  Kerne 
zu  wandern  beginnen,  dabei  verändern  sie  in  ganz 
charakteristischer  Weise  ihre  Gestalt.  In  einem 
Augenblick  entstehen  in  der  Richtung,  in  welcher 
der  Kern  sich  bewegt,  Fortsätze,  welche  im  näch- 
sten Augenblick  zurückgezogen  werden.  Bei  ge- 
nauer Beobachtung  kann  man  hier  nachweisen, 
daß  die  Ortsveränderung  des  Kernes  durch  diese 
charakteristische  Gestaltsveränderung  des  Kernes 
vor  sich  geht."  Nach  Bobilioff-Preißer  lassen 
sich  drei  Phasen  der  Kernwanderung  unterscheiden: 
In  der  ersten  Phase  findet  eine  ganz  schwache 
Ortsveränderung  statt,  wobei  die  Gestaltsverände- 
rung ganz  schwach  oder  kaum  wahrnehmbar  ist, 
Inder  z  we  ite  n  Phase,  die  nach  einigen  Minuten 
beginnt,  findet  eine  intensive  Kernwanderung  statt, 
die  verbunden  ist  mit  einer  Fortsatzbildung  in 
der  Richtung  der  Bewegung  des  Kernes.  „Die 
damit  verbundene  Ortsveränderung  ist  besonders 
stark  in  dem  Moment,  wenn  der  F"ortsatz  gebildet 
wird,  oder  wenn  der  Kern  sich  wieder  abrundet. 
Diese  intensive  Kernwanderung  dauert  einige 
Stunden  (in  den  meisten  Fällen  2  bis  4  Stunden)." 
In  der  dritten  Phase  kommt  der  Kern  in  relative 
Ruhe,  (^rtsveränderungen  kommen  jedoch  so 
lange  vor,  als  die  Zelle  noch  am  Leben  bleibt. 
Aber  die  Gestaltsveränderungen  sind  jetzt  nicht 
mehr  so  charakteristisch  und  es  ist  viel  schwieriger, 
sie  wahrzunehmen  als  in  der  Phase  der  intensiven 
Kernwanderung. 

Bobilioff-Preißer  ist  auch  der  Frage  nach- 
gegangen, ob  die  Kernwanderung  in  den  Haarzellen 
der  Cucurbitaceen  eine  traumatotaktische  ist,  d.  h. 
ob  die  Bewegung  nach  der  Kernverwundungsstelle 
zu  gerichtet  ist,  wie  man  auf  Grund  anderer 
Untersuchungen  annehmen  könnte.  Verf  unter- 
suchte die  traumatotaktische  Empfindlichkeit  der 
Haarzellen ,  indem  er  die  Spitze  des  Haares 
abschnitt  oder  das  Haar  an  der  Basis  von  der 
Epidermis  abtrennte.  Wenn  die  Kerne  der  Haar- 
zellen traumatotaktisch  empfindlich  wären,  so 
müßten  sie  im  ersten  Falle  nach  den  der  Spitze 
zugekehrten  Wänden  wandern,  im  zweiten  Falle 
aber  zu  den  Wänden,  welche  der  Basis  zugekehrt 
sind.  ,,Dies  ist  aber  in  keinem  Falle  eingetreten 
und  auch  die  Intensität  der  Bewegung  war  die- 
selbe, ganz  gleich,  ob  eine  starke  Verwundung 
stattgefunden  hatte,  oder  ob  die  Wanderung  ohne 
Verwundungsreiz  vor  sich  gegangen  war."  Verf 
ist  der  Meinung,  daß  durch  das  Übertragen  des 
zu  untersuchenden  Objekts  in  die  P'lüssigkeit  die 
zwischen  dem  Kern  und  den  Protoplasma  be- 
stehenden Stoft'wechselbeziehungen  eine  Verände- 
rung erfahren,  und  daß  diese  Veränderungen  wohl 
die  amöboiden  Gestaltsveränderungen  der  Kerne 
veranlassen,  die  zur  Kernwanderung  in  der  Zelle 
führen. 

Eine  wichtige  Frage  ist  es  nun  noch,  ob  die 
in  isolierten  Zellen  zu  beobachtendeKernwanderung 
auch    in  dem  intakten  Haar  stattfindet.     Verf.  ist 


der  Meinung,  „daß  in  den  intakten  Haarzellen 
höchstwahrscheinlich  eine  regelmäßige  schwache 
Kernwanderung  vor  sich  geht.  Dafür  spricht  die 
Tatsache,  daß  die  Kerne  der  Haarzellen  nicht 
selten  auch  iii  der  ersten  Zeit,  bevor  die  intensive 
Kernwanderung  eingetreten  ist,  eine  unregelmäßige 
Gestalt  zeigen.  Danach  wäre  die  schwache  Wan- 
derung des  Kernes,  welche  der  intensiven  Wanderung 
vorausgeht,  als  eine  Fortsetzung  der  Wanderung, 
wie  sie  normalerweise  in  der  intakten  Pflanze 
stattfindet,  aufzufassen."  A.  Lipschütz. 

Forstwirtschaft.  Der  Krammetsvogelfang  im 
Dohnenstiege.  In  der  Jetztzeit,  wo  es  gilt,  alle 
Nahrungsquellen  unserem  Volke  zu  erschließen, 
mehren  sich  die  Stimmen,  welche  die  Aufhebung 
des  Verbotes  des  Krammetsvogelfanges  im  Dohnen- 
stieg,  welche  durch  das  Vogelschutzgesetz  vom 
30.  Mai  1908  (§  2  b)  erfolgte,  fordern.  Mit  Rück- 
sicht auf  diese  Bestrebungen  mag  es  von  Interesse 
sein,  aus  einem  Aufsatz  des  Geheimen  Regierungs- 
und Forstrates  Ebe  r  ts- Cassel  in  der  „Allge- 
meinen F"orst-  und  Jagdzeitung"  (93.  Jahrg. 
1917,  Heft  I  S.  7—13)  zu  erfahren,  welche  Gründe 
seinerzeit  dazu  geführt  haben,  daß  der  Krammets- 
vogelfang im  Dohnenstieg  als  „nicht  weidgerecht" 
erklärt  wurde.  Der  Dohnenstieg  ist  nach 
F.  von  Raesfeld\)  „ein  von  Reisern  befreiter 
niemals  gerade  auslaufender,  vielmehr  fortwährend 
gekrümmter  Steig  im  Stangen-  oder  Unterholz 
des  Waldes  oder  der  Vorhölzer,  in  dem  die 
Dohnen  angebracht  sind".  Als  Dohnen  (Schlingen) 
unterscheidet  man  je  nach  der  Art  der  Anord- 
nung Hänge-  oder  Steckdohnen.  Man  muß 
die  Dohnen  in  dem  Dohnenstieg  natürlich  so  ein- 
reihen, daß  der  Vogel  von  einer  Dohne  immer 
nur  die  beiden  benachbarten  sehen  kann,  damit  er 
nicht  schon  von  weitem  etwa  frisch  gefangene  Vögel 
sichtet  und  dann  natürlich  sofort  abstreicht.  Von 
größter  Wichtigkeit  für  die  Fangergebnisse  im 
Dohnenstieg  ist  die  Wahl  des  Ortes,  an  dem  man 
ihn  anlegt.  „Schonungen  und  Dickungen  an  den 
P'eldrändern",  sagt  Raesfeld,  „an  größeren 
Blößen  und  Wiesen,  auch  Stangenhölzer,  an 
denen  die  als  Köder  dienenden  roten  Ebereschen- 
beeren weit  gesehen  werden,  liefern  gute  Beute." 
•  Unter  dem  Krammetsvogel  im  eigent- 
lichen Sinn  versteht  man  meist  die  Wach- 
holderdrossel  {Turdus  pilaris  L),  die,  ur- 
sprünglich im  europäischen  und  asiatischen  Norden 
heimisch,  allmählich  ihr  Verbreitungsgebiet  mehr 
nach  Süden  verlegt  hat  und  nun  auch  dauernd 
in  einigen  deutschen  Provinzen,  wie  in  Ostpreußen 
Schlesien  und  Thüringen  anzutreffen  ist.  Im 
weiteren  Sinne  faßt  man  aber  unter  dem  Sammel- 
begriff „Krammetsvögel"  mehr  oder  weniger  alle 
bei  uns  vorkommenden  Drosselarten  zusammen, 
also  neben  der  Wachholderdrossel  noch  die 
Misteldrossel     {Turdus    viscivorus   L.),     die 


1)   „Das   deutsche  Weidwerk",   Berlin,  Paul  Parey,  1914. 


3i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Schwarzdrossel  oder  Amsel  (T.  mcriila  L), 
die  Wein-  oder  Rotdrossel  {T.  iliaais  L.), 
die  Ringdrossel  oder  Wasseramsel 
[T.  torqiiatus  L.)  und  die  Singdrossel  {T. 
iiiusicus  L). 

Die  Gründe,  welche  vor  nunmehr  fast  9  Jahren 
das  Verbot  des  Dohnenstiegs  ausgelöst  haben, 
waren  vor  allem  sentimentaler  Natur.  Man  be- 
hauptete, der  Fang  der  Drosseln  in  Schlingen  sei 
eine  Tierquälerei,  die  nicht  geduldet  werden  dürfte. 
Daneben  wurde  auch  noch  die  Tatsache  wirksam 
ins  Feld  geführt,  daß  im  Dohnenstiege  außer  den 
jagdbaren  Drosseln  noch  eine  Menge  nützlicher 
Kleinvögel  gefangen  und  dadurch  eine  merkliche 
Abnahme  dieser  sowohl  als  auch  der  hauptsäch- 
lich gefangenen  Drosselarten ,  also  der  Wein-, 
Wachholder-,  Schwarz-  und  Misteldrosseln,  ver- 
schuldet würde.  Nun  ist  zwar  nicht  zu  leugnen, 
so  führt  Geheimrat  Eberts  aus,  daß  sich  unter 
dem  Krammetsvogelfang  stets  auch  einige  nützliche 
Singvögel,  wie  Rotkehlchen,  Meisen,  Singdrosseln 
und  vornehmlich  Gimpel  befänden,  aber  da  diese 
nach  seiner  Vogelfangstatistik  höchstens  3,9  % 
des  Gesamikrammetsvogelfanges  ausmachten,  so 
falle  dieser  Prozentsatz  sicher  nicht  allzu  schwer 
ins  Gewicht.  Auch  eine  Abnahme  der  Drossel- 
arten war  nach  des  Verfassers  Erfahrungen,  die 
er  in  der  Oberförsterei  Gemünd  in  der  Eifel, 
einem  an  der  Hauptvogelzugstraße  gelegenen 
Forstreviere ,  sammeln  konnte,  auch  bei  einer 
fleißigen  Übung  des  Dohnenstieges  nicht  zu  be- 
merken. Eine  Abnahme  der  Drosseln  in  Deutsch- 
land vom  Nützlichkeitsstandpunkt  aus,  meint  Ge- 
heimrat Eberts,  wäre  zu  verschmerzen,  da  die 
Nützlichkeit  der  Drosseln  keine  allzu  große  ist: 
abgesehen  davon  nämlich,  daß  die  Misteldrossel 
durch  die  Verbreitung  der  schädlichen  Mistel  im 
Walde  und  die  Amsel  durch  ihre  Vorliebe  für 
Obst  in  vielen  Obstgärten  manchen  Schaden  an- 
richten, sind  auch  die  anderen  Drosselarten  bei 
weitem  nicht  die  unentwegten  Insektenvertilger, 
als  die  sie  oftmals  geschildert  werden.  Die 
Drosseln  nähren  sich  bekanntlich  nur  während 
ihrer  Brutzeit  von  Insekten,  während  sonst  Wald- 
beeren, wie  Heidelbeeren,  Wacholder-  oder  Eber- 
eschenbeeren, ihre  Hauptnahrung  bilden.  Was 
nun  die  besondere  Grausamkeit  anlangt,  welche 
der  Schlingenfang  im  Dohnenstieg  mit  sich 
bringen  soll,  so  weist  der  Verfasser  darauf  hin, 
daß  gutaufgestellte  Dohnen  in  überaus  kurzer  Zeit 
die  sich  darin  fangenden  Drosseln  erwürgen.  Dem 
Übelstande,  daß  einige  Tiere  sich  mit  den  Flügeln 
oder  den  Ständern  in  den  Dohnen  verfangen,  könnte 
durch  das  Verbot  des  Aufstellens  von  Boden- 
schlingen leicht  abgeholfen  werden.  Im  übrigen 
betont  Eberts  ausdrücklich,  daß  der  h'ang  im 
Dohnenstieg  allein  von  allen  Jagdarten  Tier- 
quälereien insofern  gänzlich  ausschließt,  als  jeder 
gefangene  Vogel  hier  auch  tatsächlich ,  auch 
wenn  er  sich  so  in  den  Schlingen  verfangen 
haben  sollte,  daß  sein  Tod  nicht  sogleich  eintritt, 
nach  relativ  kurzer  Zeit  in  die  Hände  des  Jägers 


gelangt  und  nicht,  wie  z.  B.  oftmals  bei  der  Jagd 
mit  Schußwaffen  verwundet  entkommen  kann,  um 
dann  nach  langem  Siechtum  irgendwo  elend  zu 
verludern. 

Der  wirtschaftliche  Gewinn,  welchen  vor  dem 
Verbote  viele  und  gerade  minderbemittelte  Be- 
völkerungsteile aus  dem  Drosselfange  gezogen 
haben,  war  gewiß  nicht  unerheblich;  geht  doch 
aus  der  amtlichen  Statistik  über  den  Wildabschuß 
in  Preußen  vom  i.  April  1885  —  31.  März  1886 
hervor,  daß  während  dieser  Zeit  i  295  702  Drosseln 
gefangen  wurden,  welche,  Eberts  berechnet  pro 
Drossel  nur  25  Pfennig,  einen  Wert  von  über 
300000  Mark  darstellen.  Es  ist  gewiß  für  jeden 
Naturfreund  ein  höchst  betrüblicher  Gedanke,  zu 
wissen,  daß  eine  solch  große  Zahl  von  Drosseln 
innerhalb  weniger  Wochen  dem  Hange  des 
Menschen  nach  einer  Delikatesse  zum  Opfer  ge- 
bracht werden  sollen.  Auch  die  Behauptung  darf 
sicherlich  nicht  als  Milderungsgrund  gelten,  daß 
die  Mehrzahl  der  Drosseln,  die  hier  gefangen 
werden,  der  deutschen  Vogelwelt  nicht  entzogen 
würden,  sondern  daß  die  Vögel,  die  bei  uns  dem 
Fange  zum  Opfer  fielen,  größtenteils  aus  Wein- 
drosseln bestünden,  die  in  Deutschland  bekannt- 
lich nur  als  Durchzugsvögel  in  Betracht  kommen. 
Aber  wie  steht  es  nun  mit  der  gehofften  stärkeren 
Vermehrung  der  Drosseln  seit  der  Aufhebung 
des  deutschen  Dohnenstieges?  Ist  unter  unseren 
deutschen  Drosselarten  tatsächlich  eine  größere 
Vermehrung  zu  beobachten  gewesen  ?  Außer  bei 
der  Amsel,  die  ja  allmählich  immer  mehr  vom 
Walde  ab  in  die  Nähe  menschlicher  Behausungen 
zieht  und  da  nicht  gerade  die  Freude  der  Obst- 
gartenbesitzer weckt,  wird  diese  Frage  von  allen 
Sachverständigen  verneint.  Vornehmlich  die  Sing- 
drosseln, welche  ihres  reizvollen  Gesanges  wegen 
doch  durch  das  Verbot  des  Krammetsvogelfanges 
in  erster  Linie  geschützt  werden  sollten,  sind  in 
den  letzten  9  Jahren  in  unseren  Wäldern  nicht 
zahlreicher  geworden,  ebenso  wie  sie  früher,  also 
zur  Zeit  des  Dohnenstieges  nicht  merklich  an  Zahl 
abgenommen  hatten.  Diese  Tatsachen  haben 
ihren  Grund  darin,  daß  der  Krammetsvogelfang 
heute  außer  in  Oberitalien ')  mit  allen  nur  er- 
denklichen Mitteln,  darüber  ist  ja  kein  weiteres 
Wort  zu  verlieren,  auch  noch  in  Frankreich,  in 
Belgien  und  in  Holland  recht  kräftig  geübt  wird. 
Die  deutsche  Vogelschutzgesetzgebung  schützt 
demnach  die  heimische  Vogelwelt  hauptsächlich 
zu  dem  Zweck,  daß  sie  in  den  Nachbarländern 
—  vor  allem  wieder  in  Italien  —  um  so  reich- 
licher abgefangen  werden  kann.  Geheimrat  Eberts 
macht  nun  besonders  darauf  aufmerksam,  daß  es 
wohl  niemals  gelingen  wird,  in  diesen  Ländern 
ein  wirksames  Verbot  des  Schiingenfanges  durch- 
zusetzen. Solange  aber  dieses  Ziel  nicht  erreicht 
werden  kann,  so  lange  werden  auch  die  von  dem 
deutschen     Vogelschutzgesetz      erhofften     Folgen 

»)  Vgl.  meinen  Bericht  „Die  Bedeutung  Italiens  für  den 
Vogelzug"  in  dieser  Zeitschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


317 


einer    gesteigerten    Vermehrung    der    heimischen 
Vogelwelt  nicht  verwirklicht  werden  können. 
H.  W.  Frickhinger. 


Einfluß  ausgeübt;  einzelne  Arten  verharren  nun 
den  Winter  über  in  der  Nähe  der  Ortschaften, 
andere  aber  sind  zu  Wander-  oder  Strichvögeln 
geworden.  E.  P. 


Zoologie.  In  Heft  i  und  2  des  Ornithologischen 
Jahrbuches  1916  bespricht  in  einer  interessanten 
Arbeit  W.  Knopfli:  Die  mutmaßliche  Ausbildung 
und  Geschichte  der  Vogelgesellschaften  des 
schweizerischen  IVIittellandes ,  den  Einfluß  der 
menschlichen  Kultur  und  der  Pflanzenformationen, 
die  in  den  verschiedenen  Zeitabschnitten  vor- 
herrschend waren,  auf  die  Herausgestaltung  der 
Vogelfauna.  —  Im  Paläolithikum  war  die  Vogel- 
fauna eine  arktisch  alpine.  In  der  Nacheiszeit 
bedeckte  das  Schweiz.  Mittelland  ein  dichter 
Wald,  der  sich  hauptsächlich  aus  Buchen  zusammen- 
setzte und  nur  längs  den  Flußalluvionen  größere 
IVlannigfaltigkeit  aufwies.  Hier  herrschte  das 
reichste  Vogelleben,  während  dasjenige  des  eigent- 
lichen Hochwaldes  als  arm  zu  bezeichnen  ist.  — 
Ähnliche  Verhältnisse  fand  der  Referent  im 
„Pontischen  Urwald"  zwischen  den  Südhängen 
des  westlichen  Kaukasus  und  dem  Schwarzen  Meer. 
Hier  herrscht  die  orientalische  Buche  vor  (Fagus 
Orientalis  Lipsky);  das  dichte  Unterholz  wird 
gebildet  von  Rhododendron  ponticum  L.,  Rh. 
flavum  Don.,  Prunus  Lauracerasus  L.,  Buxus 
sempervirens  L.,  Hex  aquifolium  L.  usw.  Das 
Vogelleben  ist  ebenfalls  sehr  spärlich,  nur  selten 
war  ein  Bienenfresser,  eine  Blaurache  oder  ein 
Mäusebussard  zu  beobachten.  Hingegen  sind  die 
Auenwälder  und  die  stark  gelichteten  Waldpar- 
zellen in  der  Nähe  der  menschlichen  Nieder- 
lassungen von  einer  reichen  Vogehvelt  belebt.  — • 
Im  Mittelalter  war  die  der  Vogelfauna  günstige 
Waldweide  allgemein  verbreitet  und  verursachte 
deren  reiche  Entfaltung.  Erst  beim  Übergang 
zur  Jetztzeit  wurde  sie  aus  wirtschaftlichen  Gründen 
verdrängt.  Sie  wurde  z.  T.  in  reine  Hochwälder, 
in  denen  die  Fichte  eine  wichtige  Rolle  spielte, 
übergeführt.  Dadurch  wurden  einerseits  vielen 
Arten  die  Nistgelegenheiten  geraubt,  andererseits 
traten  in  diesen  Beständen  nun  auch  Vögel  der 
montanen  Region  auf.  Meist  aber  wurde  die 
Waldweide  zugunsten  des  Wies-  und  P'eldbaues 
zurückgedrängt,  wodurch  die  Einwanderung  der 
Steppenvögel  (Feldlerche,  Wachtel)  ermöglicht 
wurde.  —  Mit  zunehmender  Besiedlung  des  Landes 
bildete  sich  eine  typische  Fauna  der  Ortschaften 
aus.  Sie  setzt  sich  zusammen  aus  Vertretern  der 
Alpenfauna  (Schwalben,  Seglern,  Hausrotschwanz), 
der  Waldfauna  (Star,  Dohle,  Fliegenfänger,  Garten- 
rotschwanz, weiße  Bachstelze)  und  der  Steppen- 
fauna des  Ostens  (Sperling  und  die  Haubenlerche, 
dem  Charaktervogel  der  Lagerplätze).  Für  die  Gärten 
und  Parkanlagen  hat  sich  ebenfalls  eine  besondere 
Vogelgesellschaft  ausgebildet;  sie  setzt  sich  aus 
Arten  zusammen,  die  meist  aus  den  Wäldern  zu- 
gewandert sind.  Schließlich  hat  die  Kultur  auch 
auf  die  Zusammensetzung  der  Winterfauna  großen 


Chemie.  Aus  der  Chemie  der  chinesischen 
Dauereier.  Während  bei  den  westlichen  Kultur- 
völkern Eier  hauptsächlich  frisch  verwendet  werden 
und  erst  sehr  wenige  Eierkonserven  bekannt  sind, 
haben  die  Chinesen  seit  langem  eine  ganze  An- 
zahl von  Verfahren ,  Dauereier  herzustellen. 
Fälschlich  sagt  man  ihnen  nach,  sie  äßen  verfaulte 
Eier,  während  man  der  Wahrheit  viel  näher  käme, 
wenn  man  ihre  Dauereier  auf  eine  Stufe  mit  dem 
Käse  stellte,  der  doch  auch  mit  Hilfe  der  Fäulnis 
aus  Milch  gewonnen  wird.  Chemisch  sind  solche 
chinesische  Dauereier  bisher  verhältnismäßig  wenig 
untersucht  worden.  Die  Dauereier,  die  in  China 
als  Pidan  in  den  Handel  kommen,  haben  un- 
längst eine  Chinese  namens  Chi  Che  Wang 
und  eine  Amerikanerin,  Katherine  Blunt,  im 
Laboratorium  für  Nahrungsmittelchemie  der  Uni- 
versität Chikago  einer  genauen  Analyse  unter- 
zogen. Ihre  Ergebnisse  veröffentlichen  sie  im 
„Journal  of  Biological  Chemistry"  (Dezember  1916). 
Pidan  ist  eine  Handelsware,  die  fabrikmäßig  aus 
Enteneiern  hergestellt  wird.  Ausgelesene  Enten- 
eier werden  mit  einer  teigigen  Masse  überzogen, 
die  aus  einem  Aufgusse  von  schwarzem  Tee  unter 
Zusatz  von  Kalk,  Kochsalz  und  Holzasche  her- 
gestellt wird ;  so  bleiben  sie  fünf  Monate  lang 
liegen,  dann  werden  sie  mit  einer  dicken  Schicht 
von  Reisschalen  überzogen  und  sind  nun  handels- 
fertig. Sie  werden  roh  gegessen;  durch  längeres 
Lagern  soll  sich  der  Geschmack  erheblich  ver- 
bessern; namentlich  verschwindet  der  Kalk- 
geschmack ,  der  dem  Pidan ,  der  frisch  von  der 
F"abrik  kommt,  anhaftet.  Öffnet  man  ein  Pidan, 
so  sieht  man  sogleich  die  Unterschiede  zwischen 
dem  zur  Dauerware  gemachten  Ei  und  dem 
frischen  Entenei:  die  Schale  ist  viel  dunkler;  die 
unter  ihr  liegende  Haut  weist  viele  dunkelgrüne 
Hecke  auf,  das  Eiweiß  ist  bräunlich  verfärbt  und 
das  Dotter  ist  graugrün  geworden ;  beim  Zer- 
schneiden findet  man  abgestufte  graue  konzen- 
trische Ringe.  An  der  Luft  verliert  das  Dotter 
die  graue  Färbung.  An  der  Grenze  zwischen 
Eiweiß  und  Dotter  zeigen  sich,  augenscheinlich 
an  der  Dotterhaut  sitzend,  Kristalle,  die  wie 
Tyrosinkristalle  aussehen.  Ferner  zeichnet  sich 
Pidan  durch  einen  eigentümlichen  Geschmack  aus, 
es  riecht  nach  Ammoniak,  aber  nicht  nach 
Schwefelwasserstoff,  und  auch  mit  Bleipapier  läßt 
sich  kein  Schwefelwasserstoff  nachweisen.  Die 
Analyse  wurde  in  der  Weise  vorgenommen,  daß 
einzelne  Pidans  zuerst  bei  45"  fast  völlig  und  dann 
in  Wasserstoff  bei  100"  vollkommen  ge- 
trocknet wurden.  Das  zahlenmäßige  Er- 
gebnis der  Untersuchung  zeigen  teilweise  die 
Tabellen. 


3i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Tabelle   i.     Zusammensetzung  frischer  Enteneier. 

Wasser               Protein  Fett  Asche 

Eiweiß                 87,0                    II,I  0,03  0,8  o/o 

Dotter                  45,8                      16,8  36,2  I>2°/o 


Dotter 

Eiweiß 


Tabelle  2. 

Zusammensetzung  fris 

eher 

Enteneier. 

Ganzes 

Ei           Schale 

Eiweiß 

Dotter 

Schale 

Eiweiß 

Dotter 

Ei  Nr.   I                    67,7 

7.7 

3Ö,o 

24,0  g 

11,4 

53,2 

35,4  7o 

Ei  Nr.  2                    68,1 

7-2 

36,5 

24,4  g 

10,6 

53,6 

35,S°/o 

Tabelle 

3.     Zusani 

mensetzung 

des 

Pidan. 

Ganzes  Ei 

Schale 

Eiweiß 

Dotter 

Verlus 

t 

Pidan  Nr.   1 

58,24 

8,18 

17,79 

31,87 

0,39 

g 

14,1 

30,0 

54,7 

0,6 

7o 

Pidan  Nr.  2 

64,76 

9,29 

15,13 

39,70 

0,64 

g 

15,0 

23,2 

60,9 

0,9 

7o 

Tabelle 

4.     Zusammensetzung 

des  Pidan. 

Gesamtstickstoff 

Wasser            In 

Äther  löslich 

Säuregehalt 

dieses  Auszugs 

Asche 

De 

ren  Alkaligehalt 

2,33 

53,55 

21,06 

7-0 

4,08 

1,79  7o 

3,21 

69,56 

3,"3 

1,21% 

Die  Veränderungen,  die  an  den  Enteneiern 
erfolgt  sind ,  lauten ,  zusammengefaßt  folgender- 
maßen: das  Ei  als  ganzes  verliert  viel  Wasser. 
Aus  dem  Eiweiß  geht  reichlich  Wasser  ins  Dotter 
über.  Der  Gehalt  an  Asche  und  deren  Alkalinität 
nimmt  zu ,  die  mit  Äther  ausziehbaren  Stoffe 
nehmen  ab;  sie  zeichnen  sich  durch  Säurereiclitum 
aus.      Der    absolute    Phosphorgehalt    nimmt    ab, 


ebenso  die  Menge  des  Lezithin-Phosphors.  Der 
Stickstofifgehalt  wächst  erheblich.  Nach  der 
Ansicht  von  Chi  Che  Wang  und  Katherine 
Blunt  entsteht  aus  dem  Entenei  Pidan  durch 
Zersetzung  des  Proteins  und  der  Phospholipoide, 
die  wahrscheinlich  durch  Zusammenwirken  von 
Bakterien,  Alkali  und  Enzymen  bedingt  ist. 

H.  P. 


Die  Chemie  im  Kriege  von  Dr.  E.  A sei  mann. 
Verlag  von  Ferdinand  Hirt  in  Breslau.  1916.  —  8S. 
Das  Heftchen  ist  in  erster  Linie  als  Ergänzung 
des  Lehrbuches  der  Physik  und  Chemie  von 
Siemon- Wunsch  mann-  A  sei  mann  gedacht. 
Es  bietet  in  gedrängter  Darstellung  eine  Übersicht 
über  die  verschiedensten  Zweige  der  Chemie,  die 
im  Kriege  Bedeutung  erlangt  haben,  für  die  Waffen- 
technik, die  Arzneimittelfabrikation,  die  Ernährungs- 
frage usw.  Zur  raschen  Orientierung  über  das 
Gebiet,  insbesondere  für  Unterrichtszwecke,  kann 
die  Schrift  empfohlen  werden.  Scholich. 


F.  Pax,  Schlesiens  Pflanzenwelt.  Eine 
pflanzengeographische  Schilderung  der  Provinz. 
Mit  63  Abbildungen  im  Text  und  i  litho- 
graphischen Tafel.  Jena  191 5,  Gustav  Fischer. 
—  Preis  brosch.  10  M. 
Eine  zusammenfassende  pflanzengeographische 

Schilderung  Schlesiens  gewinnt  besonders  dadurch 


Bücherbesprechuugen. 

an  Interesse,    daß  diese  Provinz    in  mancher  Hin- 
sicht eine  Sonderstellung  unter  den  übrigen  Teilen 


des  Deutschen  Reiches  einnimmt.  Als  Grenzmark 
zwischen  dem  östlichen  und  westlichen  Teil  des 
großen  mitteleuropäischen  Florengebietes  vereinigt 
sie  in  sich  zahlreiche  Vertreter  sowohl  des  sibirischen 
und  pontischen,  als  auch  in  ihren  nordwestlichen 
Teilen  des  atlantischen  Florenelements.  Die  Lage 
des  Gebietes  gestattete  nach  der  Eiszeit  eine  Neu 
besiedelung  gleichzeitig  von  Westen  und  Osten 
während  der  Wall  der  Sudeten  die  Wanderung 
in  nord-südlicher  Richtung  hemmte.  Diese  Ver 
hältnisse  sowie  die  Beziehungen,  die  zwischen 
dem  Riesengebirge  und  den  nächsten  hohen  Ge 
birgen  (Karpaten  und  Alpen)  bestehen,  sind  es 
die  vor  allem  den  Fachmann  interessierten.  Doch 
ist  das  Buch  in  seiner  ganzen  Anlage  und  Aus 
führung  keineswegs  nur  für  diesen,  sondern  viel 
mehr  für  einen  breiteren  Kreis  botanisch  oder 
geographisch  interessierter  Leser  geschrieben:  vor 
allem  aber   für   den   Schlesier,    der  Sinn   für   die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Pflanzenwelt  seiner  Heimat  hat.  Damit  steht  es 
im  Zusammenhange,  daß  ausführliche  Pflanzenlisten, 
die  nur  den  Fachmann  angehen,  möglichst  ver- 
mieden sind  und  auf  die  genaue  Zitierung  der 
Literatur  gänzlich  verzichtet  ist.  Statt  dessen 
sind  manche  Angaben  von  allgemein-biologischem 
Interesse  mit  in  die  Darstellung  verwoben,  die 
man  in  einer  pflanzen-geographischen  Studie  zu- 
nächst nicht  erwarten  würde.  Bei  diesem  be- 
sonderen Charakter  des  Buches  dürfte  eine  kurze 
Übersicht  über  den  Inhalt  zur  sicheren  Orientierung 
am  Platze  sein. 

Die  Darstellung  beginnt  mit  einem  Kapitel 
über  die  Geschichte  der  Erforschung 
von  Schlesiens  Flora,  als  deren  erstes 
Dokument  ein  mit  guten  Abbildungen  geschmückter 
Bericht  des  Andreas  Mattioli  über  eine 
Exkursion  in  das  Riesengebirge  im  Jahre  1563  ge- 
nannt wird.  Mit  großer  Wärme  wird  der  Ver- 
dienste gedacht,  die  sich  Männer  wieGöppert, 
VV immer,  Milde,  Limpricht  und  zahlreiche 
andere  um  die  Kenntnis  der  schlesischen  Flora 
erworben  haben.  Das  zweite  Kapitel  behandelt 
die  Flora  der  Vorwelt,  die  dank  des  uner- 
müdlichen Fleißes  eines  Göppert  zu  den  best- 
erforschten Deutschlands  gehört.  Das  dritte  Kapitel, 
das  Alter  und  Herkunft  der  gegen- 
wärtigen Pflanzenwelt  zum  Gegenstande 
hat,  enthält  statistische  Angaben  über  die  Zahl 
der  vertretenen  Arten  usw.,  unterrichtet  über  die 
hauptsächlichsten  Florenelemente,  die  für  das  Ge- 
biet in  I'Vage  kommen,  zählt  die  endemischen 
Arten  und  Bastarde  auf  und  erörtert  die  Stellung 
Schlesiens  im  eurasiatischen  P'loreiigebiet.  Werden 
hier  also  Fragen  der  Pflanzengeographie  im  engeren 
Sinne  erörtert,  so  gilt  dies  weniger  für  das  folgende 
(4.)  Kapitel,  das  unter  dem  Titel  Tier  und 
Pflanze  Abschnitte  über  Epizoen  und  Endozoen, 
Pflanzen  und  Ameisen,  koprophile,  insekten- 
fressende, tierbewohnende  Pflanzen  und  über 
Symbiose  vereinigt.  Ein  weiteres  Kapitel  mit  der 
Überschrift:  Mensch  und  Pflanzenwelt  be- 
ginnt mit  einem  Abschnitt  über  prähistorische 
Kulturpflanzen,  schildert  das  Verdrängen  der  ur- 
sprünglichen Pflanzendecke  durch  den  Menschen 
und  die  an  ihre  Stelle  getretenen  Formationen, 
die  Nutzpflanzen  und  ihre  Feinde  (hauptsächlich 
die  parasitischen  Pilze),  die  Zierpflanzen  und  die 
neuen  Ansiedler.  Auch  dieses  Kapitel  enthält 
manche  Dinge,  die  mit  der  speziellen  Pflanzen- 
geographie Schlesiens  nur  in  lockerem  Zusammen- 
hange stehen,  aber  vielen  Lesern  gleichwohl  will- 
kommen sein  werden.  Die  vier  übrigen  Kapitel, 
die  die  zweite  Hälfte  des  Buches  ausmachen,  sind 
hingegen  wieder  spezifisch  pflanzengeographischen 
Fragen  gewidmet  und  haben  die  Gliederung  der 
Flora  in  einzelne  Regionen  zum  Gegenstande, 
enthalten  auch  die  klimatischen  Daten  usw.  Von 
den  drei  unterschiedenen  Regionen:  Schlesische 
Ebene,  niederes  Bergland  und  höheres  Bergland, 
haben  die  beiden  letzten  ein  besonderes  Interesse, 
da  das  Iser-    und  besonders  das  Riesengebirge   in 


vielen  Gauen  Deutschlands  zum  Reiseziel  gewählt 
werden.  Es  dürfte  manchem  Besucher  der  Schnee- 
koppe, der  Schneegruben  mit  ihrer  so  üppigen 
Kräuterpracht,  des  Teufelsgärtchens  usw.  sehr 
erwünscht  sein,  sich  in  den  einschlägigen  Kapiteln 
genauer  über  ihre  Flora  unterrichten  zu  können. 
Zahlreiche  meist  recht  schöne  nach  Original- 
photographien  hergestellte  Vegetationsbilder  be- 
leben   die    Darstellung. 

Eine  Übersichtskarte  zeigt  die  Verteilung  des 
Waldes  und  den  Verlauf  der  Grenzlinien  der  Ver- 
breitung einiger  pflanzengeographisch  bemerkens- 
werter Bürger  der  Provinz.  Ein  ausführliches  In- 
haltsverzeichnis erleichtert  die  Benutzung  des 
Buches.  Das  Druckfehlerverzeichnis  hätte  freilich 
noch  eine  beträchtliche  Erweiterung  erfahren 
können. 

Die  Liebe  zur  heimischen  Scholle  war  stets 
ein  hervorstechender  Zug  der  schlesischen  Botaniker. 
Sie  hat  auch  dem  Verfasser  die  Feder  geführt, 
der  seit  mehr  als  einem  Menschenalter  unsere 
Kenntnis  der  schlesischen  Flora  durch  eigene  oder 
unter  seinen  Auspizien  entstandene  Arbeiten  ge- 
fördert hat.  So  wird  das  Buch  besonders  in 
Schlesien    dankbare    Leser  finden.  Buder. 


Dittrich,  O.,  Prof.  D.  M  i  tt  el  u  n  d  Wege  zu  r 
Pilzkenntnis.  Breslau  1917,  G.  P.  Aderholz' 
Buchhandlung.  —  50  Pfg. 
Der  Verfasser  erörtert  in  diesem  Vortrage  in 
eingehender  und  die  wissenschaftlichen  sowohl  als 
die  praktischen  Bedürfnisse  berücksichtigender 
Weise  die  Literatur  über  die  eßbaren  Pilze  und 
macht  auf  besondere  Schwierigkeiten  aufmerksam. 
Des  weiteren  bespricht  er  die  Mittel,  wie  die 
Kenntnis  der  eßbaren  Pilze  in  weitere  Kreise  zu 
tragen  ist,  stellt  den  Mißerfolg  von  Pilzwanderungen 
fest,  erörtert  die  Pilzauskunftstellen  und  Pilzaus- 
stellungen und  kritisiert  (und  zwar  mit  Recht)  die 
künstlichen  deutschen  Bezeichnungen,  die  sich  in  den 
Büchern  finden,  und  die  durch  die  wirklich  im 
Volke  und  am  Markt  gangbaren  Namen  zu  er- 
setzen seien.  Das  Heftchen  stellt  zwar  keine  An- 
leitung zum  Erkennen  der  Pilze  dar,  gibt  aber 
eine  erwünschte  Diskussion  der  Mittel,  die  zu 
diesem  Ziele  führen  können.  Miehe. 


Meteorologie  von  Professor  Dr.  Wilhelm  Trabe rt 
in  Wien.     4,    zum  Teil  umgearbeitete  Auflage 
von  Privatdozent  Dr.  Albert  De fant  in  Wien. 
Mit    46    Abbildungen    und  Tafeln.     (Sammlung 
Göschen    Nr.  54).     G.  J.  Göschen'sche  Verlags- 
handlung   G.    m.    b.   H.    in    Berlin    W    10    und 
Leipzig.  —  Preis  in  Leinwand  gebunden   i  Mark. 
Auch    die    Neubearbeitnng,    die    Dr.    Defant 
an  Stelle  des  erkrankten  Prof.Trabert  vorgenommen 
hat,    brachte    dem   Bändchen    wieder   eine  Anzahl 
Verbesserungen.      So    wurden    die    neueren    Er- 
gebnisse   der    aerologischen    Forschung    über    die 
Hoch-  und  Tiefdruckgebiete,  über  den  Einfluß  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  23 


Reibung  auf  die  Luftströmungen,  sowie  die  der 
Poladichtforschung  u.  a.  mit  berücksichtigt.  Ins- 
besondere hat  der  Abschnitt  über  die  Wetter- 
prognose und  ihre  Hilfsmittel  eine  Neugestaltung 
erfahren.  Hierbei  wäre  es  wohl  angebracht  ge- 
wesen, die  wichtigsten  Regeln  über  die  Verlagerung 
der  barometrischen  Maxima  und  Minima  nicht  nur 
dem  Namen  nach  zu  erwähnen,  sondern  auch 
dem  Inhalt  nach  kurz  zu  skizzieren.  Nötigenfalls 
könnte  dafür  der  im  Rahmen  des  Buches  wohl 
etwas  breit  gehaltene  Abschnitt  über  die  Bedeutung 
des  Staubes  in  der  Atmosphäre  gekürzt  werden. 
Nebenbei  mag  noch  auf  einen  wohl  übersehenen 
falschen  Ausdruck  auf  S.  112  hingewiesen  werden, 
wo  „ein  Volt"  definiert  wird  als  der  0,89  Teil  jener 


,, Kraft",  die  in  einem  Daniellelement  wirksam  ist. 
In  der  Literaturzusammenstellung  vermißt  man 
die  „Dynamische  Meteorologie"  von  Bjerknes.  — 
Dies  alles  vermag  jedoch  den  Wert  des  kleinen 
Buches  nicht  zu  verringern.  Es  kann  noch  wie 
vor  auf  das  beste  empfohlen  werden,  wenn  es 
darauf  ankommt,  einen  schnellen  Überblick  über 
das  Gesamtgebiet  der  meteorologischen  Forschung 
zu  erhalten,  die  ja  bei  dem  raschen  Aufblühen 
des  Luftfahrwesens  und  der  gerade  jetzt  jedermann 
berührenden  Abhängigkeit  der  Landwirtschaft  und 
damit  der  Ernährung  vom  Wetter  mehr  und  mehr 
ein  Gegenstand  allgemeinen  Interesses  wird. 
Scholich. 


Anregungen  und  Antworten. 


Ornithologische  Beobachtungen  im  August  und  September 
1916  in  Galizien,  Wolhynien  und  Russisch-Polen.  Ciconia 
alba.  In  Russisch-Polen,  Galizien  und  Wolhynien  ist  der 
Weißstorch  noch  scharenweise  anzutreffen.  Bei  Domatschew, 
Wlodawa,  Ruda  (Polen)  wurden  in  der  Zeit  vom  4.  bis  7.  8.  16 
auf  Wiesen  16,  23,  26  Stück  beobachtet,  am  8.  8.  16  standen 
am  Djnestre  bei  Halicz  (Galizien)  auf  einer  Stelle  II,  auf 
einer  anderen  14  Stück.  Am  27.  8.  16  konnten  wir,  bei 
Nowy-Zahorow(VVolhynien)  eine  Storch  Versammlung  belauschen. 
Es  war  abends  gegen  6  Uhr  an  einer  sumpfigen  Wiese,  wo 
wir  38  Exemplare  zählten.  Bei  den  Kämpfen  an  der  Bystrzica 
tauchten  am  Abend  des  3.  9.  mitten  im  Schrapnellregen  zwei 
Störche  auf,  die  ziemlich  ruhig  hin-  und  herfiogen  und  dann 
plötzlich  mit  schnellem  Flug  das  Schlachtfeld  verließen.  Am 
4.  9.  (logen  abends  gegen  '/a  7  Uhr  über  dieselbe  Stellung 
46  Störche  nach  Süden.  Bei  Cholm  (Russ.-Polen)  war  von 
einem  abgebrannten  Hause  der  Schornstein  stehen  geblieben. 
Auf  diesem  rissigen  Hausüberrest  hatte  ein  Storchenpaar  sein 
Nest  errichtet. 

Coracias  garrula.  Die  Blauracke  oder  Mandelkrähe 
war  sehr  häufig  bei  Krasnostaw  in  Russisch-Polen  und  bei 
Swiniuchy  und  Nowy-Zahorow  in  Wolhynien  anzutreffen. 

Numenius  arquatus,  der  große  Brachvogel  wurde 
zahlreich  in  der  Zeit  vom  5.  bis  10.  September  1916  bei 
Korytniza  und  Swiniuchy  (Wolhynien)  beobachtet. 

Bei  Rykowicze  (Wolhynien)  befand  sich  auf  hohen  Pappeln 
eine  riesige  Krähenkolonie  (Corvus  frugilegus).  Die  Saatkrähen 
waren  dort  des  Morgens  und  Abends  zu  Tausenden  ver- 
sammelt. 

Am  14.  9.  16  konnten  wir  ebenda  auf  einer  Sumpfwiese 
12  Purpurreiher  (Ardea  purpurea)  belauschen. 

In  Südostgalizien  war  im  Winter  1916 — 17  der  Dom- 
pfaff (Pyrrhula  rubicilla)    massenhaft  anzutreffen. 

Karl  Waase. 


Literatur. 

Berg  er.  Fr.,  Von  Biene,  Honig  und  Wachs  und  ihrer 
kulturhistorischen  und  medizinischen  Bedeutung.  Zürich,  Orell 
Füßli.  —   I   M. 

Jakobsthal,  Prof.  Dr.  W.,  Mondphasen,  Osterrechnung 
und   Ewiger  Kalender.     Berlin  '17,  J.  Springer.  —  2  M. 

Brückmann,  W.,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  westfälischen 
Pilze.  1.  Die  Telephoreen  Westfalens.  Sonderabdruck  aus 
dem  44.  Jahresber.  d.  Westfäl.  Provinzial-Vereins  usw.  Münster 
'16.  —  2,50  M. 

Mehmke,  Prof.  Dr.  O.,  Leitfaden  zum  graphischen 
Rechnen.     Leipzig  und  Berlin  '17,  B.  G.  Teubner.  —  4,80  M. 

Kobert,  Prof.  Dr.  R.,  Über  die  Benutzung  von  Blut  als 
Zusatz  zu  Nahrungsmitteln.  Ein  Mahnwort  zur  Kriegszeit. 
4.  Aufl.     StuUgart  '17,  F.   Enke.  —  3  M. 

Heß- Beck,  Der  Forstschutz.  2.  Bd.:  Schutz  gegen 
Menschen,  Gewächse  und  atmosphärische  Einwirkungen. 
Leipzig  und  Berlin  '16,  B.  G.  Teubner.  —   14  M. 

Kraepelin's  Leitfaden  für  den  zoologischen  Unterricht 
in  den  unteren  und  mittleren  Klassen  der  höheren  Schulen. 
I.  Teil:  Wirbeltiere.  7.  Aufl.  Bearbeitet  von  Prof.  Dr. 
C.  Schäffer.  Leipzig  und  Berlin  '15,  B.  G.  Teubner.  — 
2,60  M. 

Meyer,  Prof.  Dr.  St.  und  Schweidler,  Prof.  Dr.  E.  v., 
Radioaktivität.  Leipzig  und  Berlin  '16,  B.  G.  Teubner.  — 
22,40  M. 

Ruehlmann,  E.,  Goethe's  Farbenlehre.  Sonderdruck 
aus  dem  Jahrbuch  der  Goethe- Gesellschaft,  Bd.  3,  1916. 
Insel-Verlag  Leipzig. 

Naef,  Dr.  A.,  Die  individuelle  Entwicklung  organischer 
Formen  als  Urkunde  ihrer  Stammesgeschichte.  (Kritische  Be- 
trachtungen über  das  sogenannte  „biogenetische  Grundgesetz"). 
Jena  '17,  G.  Fischer.  —  2,40  M. 


Inhalt:  R.  Kräusel,  Die  Bedeutung  der  Anatomie  lebender  und  fossiler  Hölzer  für  die  Phylogenie  der  Koniferen.  (9  Abb.) 
S.  305.  —  Einzelberichte:  Seh  laginhauf  e  n ,  Pygraäenproblera.  S.  311.  Hiltner,  Silene  dichotoma  Ehrhart,  erst 
Unkraut,  dann  Kulturpflanze.  S.  314.  W.  B  o  b  i  1  i  o  f  f- P  r  ei  ß  e  r ,  WaniJerung  des  Zellkerns.  S.  314.  Eberts, 
Der  Krammetsvogelfang  im  Dohnenstiege.  S.  315.  W.  Knopfli,  Die  mutmaßliche  Ausbildung  und  Geschichte  der 
Vogelgesellschaften  des  schweizerischen  Mittellandes.  S.  317.  Chi  Che  Wang  und  Katharine  Blunt,  Aus  der 
Chemie  der  chinesischen  Dauereier.  S.  317.  —  Bücherbesprechungen:  E.  Aselmann,  Die  Chemie  im  Kriege.  S.  318. 
F.  Pax,  Schlesiens  Pflanzenwelt.  S.  318.  O.  Dittrich,  Mittel  und  Wege  zur  Pilzkenntnis.  S.  319.  W.  Trab  er  t, 
Meteorologie.  S.  319.  —  Anregungen  und  Antworten:  (Jrnithologische  Beobachtungen  im  August  und  September  1916 
in  Galizien,  Wolhynien  und  Russisch-Polen.  S.  320.   —  Literatur:  Liste  S.   320. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  17.  Juni  1917. 


Nummer  34. 


Die  Schwefelbakterien  und  ihre  Tätigkeit  in  der  Natur. 


[Nachdruck  vcrb 


Von   Prof.   Dr.  M.  Düggeli,  Zürich. 
Mit  6  Abbildungen  im  Text. 


Ein  Großteil  der  bekannt  gewordenen  und 
näher  studierten  Spaltpilz-  oder  Bakterien-Arten 
gehört  zu  den  Saprophyten  oder  Fäulnisbewohnern. 
Sie  bauen  die  in  den  abgestorbenen  Körpern  der 
Pflanzen  und  Tiere  enthaltenen,  meist  recht  kom- 
plizierten Verbindungen  ab  und  führen  sie  in 
einfacher  zusammengesetzte  Stoffe  über.  Dabei 
gewinnen  die  Saprophyten  einerseits  Nährstoft'e, 
andererseits  Energie  zur  Auslösung  ihrer  Lebens- 
vorgänge. Die  Tätigkeit  der  Fäulnisbewohner  ist 
für  uns  Menschen  zweifellos  sehr  willkommen, 
indem  dadurch  die  in  den  Organismen-Körpern 
enthaltenen  Stoffe  anderweitig  verwendbar  werden 
und  eine  Anhäufung  von  Pflanzen-  und  Tierleichen 
an  der  Erdoberfläche  unterbleibt. 

Diese  saprophytisch  lebenden  Spaltpilze  ver- 
wenden als  Baustoffe  für  ihre  Körper  sowie  als 
Atmungs-  und  Gärmaterial  die  organischen  Ver- 
bindungen des  Pflanzen-  und  Tierkörpers  und  da- 
mit die  von  den  Sonnenstrahlen  unserem  Planeten 
zugeführten  Energiemengen,  die  seinerzeit  von 
den  grünen  Pflanzen  bei  der  Photosynthese  fest- 
gelegt wurden. 

Beim  Abbau  der  kompliziert  zusammengesetzten 
Eiweißkörper,  die  bis  i'/a^/o  Schwefel  enthalten, 
spalten  gewisse,  vorwiegend  bei  Luftabschluß  ar- 
beitende Saprophyten  Schwefelwasserstoff  (H^S) 
ab,  ein  Gas,  das  sich  bekanntlich  durch  seinen 
penetranten  Geruch  noch  in  starker  Verdünnung 
bemerkbar  macht.  Der  Schwefelwasserstoff-Geruch 
wird  allgemein  bezeichnet  als  Geruch  nach  faulen 
Eiern,  obwohl  faulende  Eier  keineswegs  immer 
nach  Schwefelwasserstoff  riechen.  Die  Entstehung 
von  H.,S  ist  in  der  Natur  aber  nicht  gebunden 
an  die  Fäulnis  von  Eiweiß  und  eiweißähnlichen 
Substanzen;  es  gibt  noch  zahlreiche  andere  IVlöglich- 
keiten  der  HjS  Entstehung  in  der  Natur.  Aus 
ihrer  Fülle  sei  nur  der  Fall  herausgegriffen,  wo 
faulende  organische  Substanz  mit  Sulfaten  in  Be- 
rührung tritt.  Dabei  kann  durch  rein  chemische 
Vorgänge  Sulfat  zu  Sulfid  und  dieses  zu  HaS 
zersetzt  werden,  zufolge  der  stark  reduzierenden 
oder  sauerstoffentziehenden  Wirkung  der  faulenden 
organischen  Substanz.  Bei  der  Fäulnis  entsteht 
unter  anderem  Wasserstoff,  der,  zufolge  seiner 
großen  Affinität  zu  Sauerstoff,  auf  die  Umgebung 
sauerstoffentziehend  wirkt.  Wir  können  durch 
zwei  Gleichungen  den  geschilderten  Vorgang  un- 
serem Verständnis  näher  bringen: 
CaSO,  —  2O2  =  CaS 

Diese   Wirkung  wird    ausgelöst  durch   die   redu- 
zierende Tätigkeit  der  faulenden  organischen  Sub- 


stanz. Kommt  Kalziumsulfid  (CaS)  mit  einer  Säure 
zusammen,  z.  B.  mit  der  schwachen  Kohlensäure, 
so    verwandelt    es   sich    in    kohlensaures    Kalzium 
unter  Freiwerden  von  Schwefelwasserstoff: 
CaS  +  H2CO3  =  CaCOs  +  H.,S 

Aber  nicht  bloß  durch  rein  chemische  Prozesse, 
sondern  auch  durch  die  Tätigkeit  bestimmter, 
reduzierend  wirkender  Spaltpilze  wird  Sulfat  zer- 
setzt unter  Produktion  von  fLS.  So  vermag  das 
Spirilluni  dcsitlfurüaiis  Bey.,  aus  Grabenwasser 
isoliert,  im  Liter  geeigneter  Nährflüssigkeit  aus 
Sulfat  238  mg  H.>S  abzuspalten.  Noch  kräftiger 
wirkt  die  aus  Meerwasser  gezüchtete  Alicrospira 
aestuarii  van  Delden,  die  im  Liter  Nährflüssigkeit 
bis  952  mg  H„S  aus  Sulfat  bildet. 

Die  Örtlichkeiten,  wo  solche  aus  Eiweißstoffen, 
oder  dann  aus  Sulfat  H„S  abspaltende  Bakterien 
tätig  sind,  erkennen  wir  leicht,  außer  mit  dem 
Geruchssinn,  durch  die  Schwärzung  hingehängten 
Bleipapiers.  Lassen  sich  schwefelwasserstofifpro- 
duzierende  Mikroorganismen  auf  festen  Nährsub- 
straten züchten,  so  umgeben  sich  ihre  Kolonien 
bei  Zusatz  von  3%  Eisentartrat  oder  Eisensaccharat 
mit  einem  schwarzen  Hof  von  Schwefeleisen. 

Nicht  selten  häuft  sich  der  auf  irgendeine 
Weise,  sei  es  durch  chemische,  oder  durch  bio- 
logische Vorgänge  produzierte  H.jS  an;  nament- 
lich kann  dies  in  Wasserbecken  stattfinden,  da 
der  H,S  in  Wasser  leicht  löslich  ist.  Ein  paar 
Angaben  mögen  dies  belegen. 

Nadson    fand    im   Wasser   des  Weissowo- 
Salzsees   (Gouv.   Charkow,   Rußland)   pro  Liter 
folgende  Mengen  H^S: 
In  der  Tiefe  von  16    m       5,91  ccm=     9,00  mg  H2S 

„  18,1    „  88,31  „        =134-51  -.  M 

„    „       „       „    18,7,,    184,96    „    =281,73    „       „ 

Im  Schwarzen  Meer  konnte  die  russische  Tief- 
see-Expedition vom  Jahre  1891,  von  einer  Tiefe 
von  200 — 400  m  angefangen,  überall  bis  zum 
Meeresboden  H.,S  im  Wasser  nachweisen.  Nach 
dem  Bericht  von  Lebedinzeff  enthielt  ein  Liter 
Wasser  aus  dem  Schwarzen  Meer: 

H,S 


In  einer 

Tiefe 

von 

213  m 

0,3V 

ccn 

1=0,50 

427  ,. 

2,22 

„ 

=  .3„3« 

2026  „ 

^.■;s 

=  «,4S 

„ 

„ 

2528  „ 

6,55 

=9,98 

Die  dem  Grunde  des  Schwarzen  Meeres  auf- 
liegende Wasserschicht  enthält  zwanzigmal  mehr 
H.jS  als  das  Wasser  in  213  m  Tiefe.  Die  Ursache 
der  Entwicklung  von  HjS  in  der  Tiefe  des  Schwär- 


322 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


zen  Meeres  ist  die  Fäulnis  der  dort  abgelagerten 
organischen  Substanzen,  sowie  die  HjS-Abspaltung 
aus  Sulfaten  zufolge  reduzierender  Wirkung  fau- 
lender organischer  Substanz  und  die  Tätigkeit 
sulfatreduzierender  Spaltpilze.  Der  Grund,  weshalb 
diese  Vorgänge  gerade  im  Schwarzen  Meer  und 
nicht  auch  in  anderen  Meeren  in  so  hohem  Grade 
bemerkbar  sind,  ist  nach  Andrussow  darin  zu 
suchen,  daß  im  Schwarzen  Meer  das  spezifische 
Gewicht  des  Wassers  nach  der  Tiefe  rasch  an- 
steigt. Der  vertikale  Kreislauf  der  Wasserschichten 
reicht  deshalb  nur  bis  zu  einer  Tiefe  von  ca  170  m; 
weiter  unten  liegt  die  ganze  Wassermasse  still  und 
ermöglicht  so  die  Anhäufung  von  H.>S. 

Nach  den  Untersuchungen  von  Melle t  und 
Schwyzer  enthält  das  Wasser  des  Ritomsees 
im  Val  Piora,  Kanton  Tessin,  Schweiz,  von  12,5  m 
an  abwärts,  bis  zum  Grunde,  H^S  und  zwar  im 
Maximum  pro  Liter  30  mg  =  19,7  ccm  HjS.  Be- 
kanntlich enthält  auch  das  Wasser  der  sog.  Schwefel- 
quellen   größere    oder   kleinere  Mengen  von  HjS. 

Sobald  im  Wasser  sich  nennenswerte  Mengen 
von  H2S  vorfinden,  ruft  dies  automatisch  eine 
Verminderung  des  Sauerstoffgehaltes,  eventuell 
ein  gänzliches  Verschwinden  dieses  für  die 
Lebewesen  so  wichtigen  Gases  hervor.  Der  Sauer- 
stoffmangel im  Wasser  bedingt  eine  bedeutende 
Rückwirkung  auf  die  im  Wasser  lebenden  Organis- 
men höherer  Natur,  wie  auch  auf  die  Spaltpilze.  Im 
schwefelwasserstoffhaltigen  Wasser  verschwindet 
die  gewöhnHche  Flora  und  Fauna  der  oberen 
Wasserschichten  fast  ganz.  Fs  stellen  sich  nur  solche 
Lebewesen  ein,  die  an  die  vorhandenen  Lebens- 
bedingungen speziell  angepaßt  sind,  so  von  den 
Algen  manche Chroococcaceen,  Diatomeen 
und  grüne  Oscillarien,  daneben  Anguilluli- 
den,  Infusorien  und  Rädertierchen.  Auch 
manche  Spaltpilzarten  gedeihen  im  schwefel- 
wasserstoffhaltigen Wasser  noch  ganz  gut;  so 
viele  obligat  An  aerobe,  also  nur  bei  Sauerstoff- 
abschluß wachsende  Spaltpilze,  sowie  insbesondere 
die  sog.  Schwefelbakterien  oder  Thio- 
bakterien. 

Durch  die  bisherigen  Ausführungen  haben 
wir  die  Überzeugung  gewonnen,  daß  teils  durch 
chemische,  teils  durch  biologische  Prozesse  aus 
organischem  oder  anorganischem  Material  HjS 
abgeschieden  wird.  Wäre  nicht  für  die  Beseitigung 
des  HjS,  eines  für  Pflanzen  und  Tiere  giftigen 
Gases,  gesorgt,  so  müßte  seine  Anhäufung  im 
Wasser,  im  Frdboden,  ev.  sogar  in  der  Luft  statt- 
finden und  es  könnte  vielleicht  auch  zufolge  Entzug 
von  Schwefel  im  H.jS  allmählich  Mangel  an 
Schwefel  in  der  Organismenwelt  auftreten.  Die 
Rückgabe  des  Schwefels  im  H.,S  an  den  Kreislauf 
erfolgt  in  der  Natur  durch  Oxydation  des  H.^S 
zu  Schwefel  und  dieses  letzteren  zu  Schwefelsäure, 
so  daß  den  Pflanzen  Sulfate,  bekanntlich  eine  er- 
wünschte Schwefelquelle,'  gfliefert  werden.  Dieser 
0.xydationsprozeß  kann  rein  chemisch  durch  Luft- 
sauerstoff bewirkt  werden.  Der  in  Wasser  gelöste 
HgS  bildet  beim  Schütteln  mit  Luft  zuerst  feines 


Schwefelpulver,  das  bei  Anwesenheit  poröser  Körper 
rasch  zu  Schwefelsäure  oxydiert  wird.  In  der 
Natur  geht  aber  dieser  Oxydationsvorgang  viel 
kräftiger  und  umfassender  unter  Mitwirkung  be- 
stimmter Spaltpilze  vor  sich ;  es  handelt  sich  dabei 
nicht  mehr  um  einen  rein  chemischen,  sondern 
um  einen  biologischen  Vorgang. 

Alle  Spaltpilze,  die  Schwefelverbindungen  in 
größerer  Menge  verarbeiten  als  sie  zum  Aufbau 
ihres  Körpers  brauchen,  bezeichnen  wir  als  zur 
Gruppe  der  Schwefelbakterien  oderThio- 
bakterien  gehörend.  Diese  biologische  Bak- 
teriengruppe hat  gegenüber  den  meisten  anderen 
Spaltpilzen,  speziell  den  eingangs  erwähnten  Sapro- 
phyten,  die  bemerkenswerte  Fähigkeit,  gewisse 
anorganische  Schwefelverbindungen  zu  oxydieren. 
Von  manchen  Thiobakterien  wissen  wir,  daß  diese 
rein  anorganischen  Oxydationsprozesse  die  Energie- 
quelle sind,  auf  deren  Kosten  sie  ihre  Lebens- 
prozesse auslösen,  während  andere  Organismen 
unbedingt  organischer  Substanzen  zur  Oxydation 
bedürfen. 

Die  Großzahl  der  Schwefelbakterienarten  er- 
freut sich  weiter  Verbreitung  in  der  Natur,  wenn 
auch  die  Anhäufung  der  Individuen  nur  unter  be- 
stimmten Bedingungen  so  wesentlich  ist,  daß  makro- 
skopisch, oder  bei  schwacher  Vergrößerung  mit 
Hilfe  des  Mikroskopes,  ihr  Vorhandensein  beobachtet 
werden  kann.  Grundbedingung  für  eine  wesent- 
liche Vermehrung  der  Thiobakterien  ist  das  Vor- 
handensein von  HoS,  oder  einer  anderen  geeigneten 
Schwefelverbindung  am  Grunde  seichter  Gewässer. 
Dann  bilden  farblose  Schwefelbakterien  weiße, 
zierliche,  netzartige  Belege  am  Boden  der  Wasser- 
ansammlung, die  lebhaft  an  Spinngewebe  erinnern, 
oder  aber  rote  Überzüge,  wenn  es  sich  um  ge- 
färbte Arten  handelt. 

Die  günstigsten  Jahreszeiten  zum  reichlichen 
Auftreten  von  Thiobakterien  sind  der  Spätherbst 
und  das  zeitige  Frühjahr,  weil  dann  größere 
Mengen  von  Pflanzenresten  im  Wasser  zersetzt 
werden;  wobei  HjS  frei  wird.  In  stillen  Meeres- 
buchten mit  bedeutenden  Quantitäten  von  faulendem 
Seegras  macht  sich  der  HjS-Geruch  in  der  Um- 
gebung sehr  lästig  bemerkbar  und  das  Wasser 
ist  dann  auf  weite  Strecken  rötlich  verfärbt,  zu- 
folge reichlichen  Vorkommens  roter  Schwefel- 
bakterien. Solche  Beobachtungen  machte  beispiels- 
weise Warming  an  der  dänischen  Küste. 

Die  Schwefelbakterien  leben  z.  T.  sicher,  z.  T. 
wahrscheinlich  kohlenstoffautotroph.  Unter  kohlen- 
stoffautotrophen  Spaltpilzen  verstehen  wir  solche, 
die  die  Fähigkeit  besitzen,  den  Kohlenstoff  aus 
anorganischen  Kohlenstoffverbindungen  zu  assi- 
milieren. An  den  bisher  reinzüchtbaren  Schwefel- 
bakterien konnte  die  Kohlenstoff-Autotrophie  ein- 
wandfrei festgestellt  werden,  wähjend  wir  bei  den 
bisher  nicht  reinzüchtbaren  Arten,  und  leider  gehört 
die  Großzahl  der  Thiobakterien  hierher,  nur  auf 
berechtigte  Vermutungen  angewiesen  sind.  Die 
reinzüchtbaren  Schwefelbakterien  benutzen  das 
Kohlendioxyd  der  Luft  als  Kohlenstoffquelle.    Die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


323 


zur  Reduktion  des  Kohlendioxyds  notwendige 
Energie  gewinnen  die  Schwefelbakterien  durch 
die  Oxydation  von  nicht  mit  Sauerstoff  gesättigten 
anorganischen  Schwefelverbindungen,  wie  Schwefel- 
wasserstoff, schwefligsauren  und  unterschweflig- 
sauren  Salzen.  Bei  der  Oxydation  von  H^S  zu 
Schwefelsäure  tritt  als  Zwischenstufe  Schwefel  auf. 
Die  Schwefel  Wasserstoff- Oxydation  zu  Schwefel- 
säure sei  durch  zwei  Gleichungen  unserem  Ver- 
ständnis nähergebracht. 

2H2S  -f  O2  =  2H2O  +  S2  -f  122  Cal 
Sa  +  3O2  +  2H2O  =  2H2SO,  +  282  Cal 

Die  Schwefelsäure  wird  durch  vorhandene 
Karbonate,  namentlich  durch  den  im  Wasser  re- 
lativ leicht  löslichen  und  oft  vorhandenen  doppelt- 
kohlensauren Kalk  [CaH.,  (€03)2]  neutralisiert  und 
in  Form  von  Sulfaten  ausgeschieden.  Wieder  soll 
eine  chemische  Gleichung  diesen  Vorgang  ver- 
deutlichen : 

H.,SO,  +  CaH.,(C03)2  =  CaSO,  -f  2CO2  +  2H2O 

Durch  die  Tätigkeit  der  Schwefelbakterien  wird 
also  Karbonat  in  Sulfat  verwandelt.  Die  oben  an 
erster  Stelle  angeführten  beiden  Gleichungen  zeigen, 
daß  es  sich  um  energieliefernde  Vorgänge  handelt, 
welche  Energie  zur  Assimilation  des  Kohlendioxyds 
verwendet  wird.  Unter  günstigsten  Bedingungen 
wird  Schwefelwasserstoff  in  5  Minuten  zu  Schwefel- 
säure oxydiert. 

Für  unsere  weiteren  Besprechungen  wollen 
wir  bei  den  Schwefelbakterien  zwei  Gruppen  aus- 
einanderhalten. 

Die  Angehörigen  der  ersten  Gruppe  sind  da- 
durch charakterisiert,  daß  die  Zellen  in  ihrem 
Innern  nie  Schwefel  einlagern,  während  die  An- 
gehörigen der  zweiten  Gruppe  dies  regelmäßig  tun. 

Betrachten  wir  zuerst  einen  Vertreter  der  er- 
sten Gruppe,  das  Thiobadcrm»!  fhiopanim.  Die 
Rohkultur  dieser  Bakterienart  kann  auf  folgende 
Weise  gewonnen  werden.  Eine  rein  mineralische 
Nährlösung,  die  unterschwefligsaures,  sowie  kohlen- 
saures Natron  enthält,  -wird  in  einem  Glaszylinder 
mit  Grabenschlamm  geimpft.  Wenn  die  Kultur 
angehen  soll,  so  dürfen  keine  organischen  Kohlen- 
stoffverbindungen da  sein.  Nach  einiger  Zeit  über- 
zieht sich  die  Flüssigkeit  bei  Zimmertemperatur 
mit  einer  Haut,  die  aus  Stäbchen  mit  dazwischen 
liegenden  Schwefeltröpfchen  besteht.  Dieses  be- 
wegliche, stäbchenförmige  Thiobactcriitnt  tlnopanini 
oxydiert  das  unterschwefligsaure  Natron  unter 
Schwefelabscheidung  zu  schwefelsaurem  Natron. 
Bieten  wir  statt  unterschwefligsaurem  Natron 
Schwefelwasserstoff,  so  wird  dieses  Gas  zu  Schwefel 
oxydiert.  Auf  Agarplatten  mit  entsprechendem 
Zusatz  von  Nähr-  und  Energiestoffen  kann  die 
Mikrobe  reinkultiviert  werden.  An  diesen  Rein- 
kulturen ist  die  Kohlenstoff-Autotrophie  des  Thio- 
bacterinm  tliiofanim  leicht  nachweisbar.  Ob  bei 
den  beobachteten  Oxydationsvorgängen  Enzyme 
der  Mikroorganismen  tätig  sind,  ist  noch  nicht 
entschieden. 


Die  zweite  Gruppe  von  Thiobakterien,  deren 
Angehörige  in  ihrem  Zellinnern  Schwefel  aufzu- 
speichern vermögen,  war  zuerst  bekannt. 

Nach  der  Ansicht  des  bekannten  Breslauer 
Botanikers  Ferdinand  Cohn  sollten  diese 
Schwefelbakterien  Sulfate  zu  HjS  reduzieren  und 
dann  den  H^S  zu  Schwefel  oxydieren,  wobei  der 
Schwefel  in  den  Zellen  abgelagert  würde.  Der 
russische  Forscher  Winogradsky  zeigte  aber 
durch  einwandfreie  Versuche,  daß  diese  Schwefel- 
bakterien nie  reduzierend,  sondern  stets  oxydierend 
wirken,  mithin  nie  HjS  erzeugen,  sondern  stets 
verbrauchen.  In  sulfathaltigem  Wasser  gedeihen 
diese  Organismen  so  wenig  wie  in  einer  schwefel- 
wasserstofffreien Flüssigkeit;  es  muß  ihnen  unbe- 
dingt H.,S  zur  Verfügung  stehen,  sonst  gehen  sie 
an  der  Unmöglichkeit  die  notwendige  Energie  zur 
Auslösung  der  Lebensprozesse  gewinnen  zu  können, 
zugrunde. 

Der  Schwefelgehalt  des  Zellinnern  ist  abhängig 
von  äußeren  Bedingungen,  vorab  von  der  Menge 
des  zur  Verfügung  stehenden  HjS.  Bald  sind  die 
Zellen  von  Schwefeltröpfchen  ganz  erfüllt,  bald 
fehlen  sie  gänzlich.  Der  Schwefelgehalt  der  Zellen 
darf  deshalb,  weil  er  ein  veränderliches  Merkmal 
ist,  nicht  für  die  Artbestimmung  herangezogen 
werden,  wie  dies  schon  von  verschiedenen  For- 
schern geschehen  ist. 

Der  Schwefel  kommt  in  den  Schwefelbakterien- 
zellen in  Form  von  kugeligen,  das  Licht  stark 
brechenden  Inhaltskörpern  vor.  Es  ist  das  Ver- 
dienst eines  schweizerischen  Botanikers,  C.  Gramer 
in  Zürich,  das  wahre  Wesen  dieser  Inhaltskörper 
erkannt  zu  haben.  In  der  chemisch  physikalischen 
Beschreibung  der  Thermen  von  Baden  im  Aargau, 
die  im  Jahre  1870  von  Ch.  Müller  erschien, 
bezeichnete  Gramer  die  Inhaltskörper  derBeg- 
giatoen  als  aus  Schwefel  bestehend.  Die  in  der 
Literatur  häufig  gebräuchliche  Bezeichnung  Schwe- 
felkörnchen ist  nicht  zutreffend,  da  sie,  wie  Wino- 
gradsky zeigte,  nicht  körnig  fest,  sondern  ölig 
weich  sind.  Diese  Tröpfchen  bestehen  aus  amor- 
phem Schwefel.  Taucht  man  schwefelreiche  Zellen 
in  konzentrierte  Pikrinsäure  und  legt  sie  dann  in 
Wasser  ein,  so  sieht  man  nach  24  Stunden  schön 
ausgebildete  monoklinprismatische  Täfelchen  und 
rhombische  Oktaeder  in  den  Zellen.  Die  wach- 
senden Kristalle  durchreißen  nicht  selten  die  be- 
nachbarten Zellwände. 

Da  die  Schwefeltröpfchen  nur  eine  Zwischen- 
stufe in  der  O.xydation  des  HoS  zu  Schwefelsäure 
sind,  so  werden  sie  nicht  dauernd  im  Zellinnern 
gespeichert.  Wenn  H.jS  den  Schwefelbakterien 
einige  Zeit  mangelt,  so  verbrennen  sie  ihren  auf- 
gespeicherten Vorrat  an  Schwefel  in  i  —2  mal 
24  Stunden  und  sterben  dann  Hungers,  sofern 
ihnen  nicht  im  Wasser  neuer  H^S  geboten  wird. 
Den  HjS  können  die  Schwefelbakterien  nicht  auf 
die  Dauer  entbehren,  da  er  die  eigentliche,  wenn 
nicht  ausschließliche  Quelle  von  Spannkraft  ist. 
Nach  den  Untersuchungen  von  Winogradsky  ver- 
brauchen die  Bakterienzellen  täglich  das  2— 4  fache 


324 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVL  Nr.  24 


ihres      eigenen     Gewichtes     an     HjS      oder     an 
Schwefel. 

Für  unsere  weiteren  Besprechungen  unter- 
scheiden wir  bei  den  im  Zellinnern  Schwefel- 
tröpfchen ablagernden  Thiobakterien  nach  morpho- 
logischen Gesichtspunkten  drei  Gruppen: 

1.  Farblose,  in  Zellfäden  angeordnete  Schwefel- 
bakterien. 

2.  Farblose,  nicht  in  Zellfäden  angeordnete 
Schwefelbakterien. 

3.  Rot  gefärbte  Schwefelbakterien,  die  Thio- 
bakterien unter  den  Purpurbakterien. 

Nach  Winogradsky  können  Rohkulturen 
der  genannten  drei  Gruppen  auf  folgende  Weise 
erhalten  werden.  Im  zylindrischen  Glasgefäß 
werden  die  Rhizome  von  Wasserpflanzen  in  zer- 
schnittenem Zustande  samt  anhaftendem  Schlamm 
mit  Wasser  Übergossen  und  ein  paar  Gramm 
Kalziumsulfat  oder  Gips  zugesetzt.  Wir  lassen 
sie  bei  Zimmertemperatur  einige  Tage  unbedeckt 
stehen.  Wünschen  wir  rot  gefärbte  Schwefel- 
bakterien anzureichern,  so  muß  das  Licht  zum 
Glaszylinder  reichlich  Zutritt  haben;  bei  Lichtab- 
schluß entwickeln  sich  farblose  Thiobakterien. 
Nach  5  —  7  Tagen  findet  aus  dem  zugefügten  Gips 
die  Entwicklung  von  HjS  statt.  Dadurch  ist  die 
Nährflüssigkeit,  in  der  sich  die  Schwefelbakterien 
entwickeln  können,  geschaffen.  Nach  3 — 6  Wochen 
sind  die  Thiobakterien  mikroskopisch  feststellbar, 
vermehren  sich  aber  nach  und  nach  so  stark,  daß 
sie  auch  für  das  unbewaffnete  Auge  sichtbar  sind. 

Wir  wollen  nun  die  einzelnen  Gruppen  von 
schwefelspeichernden  Thiobakterien,  unterstützt 
durch  einige  Zeichnungen,  kurz  besprechen.  Dabei 
sei  die  Bemerkung  vorausgesandt,  daß  die  syste- 
matische Bearbeitung  der  einzelnen  Gruppen  noch 
eine  unbefriedigende  ist.     Zunächst; 

I.  Farblose,  in  Zellfäden  angeordnete  Schwefel- 
bakterien. Bis  jetzt  sind  zwei  Gattungen  näher 
studiert,  nämlich:  Beggiatoa  und  Thiothrix.  Die 
erste  Gattung  umfaßt  bewegliche,  TJnothrix  aber 
festsitzende  Zellfäden.  Beide  Gattungen  sind  von 
Winogradsky  eingehender  studiert. 

Die  Gattungs-Bezeichnung  Beggiatoa  stammt 
von  Trevisan  aus  dem  Jahre  1872  zu  Ehren 
des  italienischen  Arztes  Beggiato  zu  Vicenza. 
Beggiato  hatte  im  Jahre  1838  die  Flora  der 
Schwefelquellen  bei  Padua  bearbeitet.  Die 
Beggiatoa- Arten  bestehen  aus  lebhaft  be- 
weglichen, zylindrischen  Zellfäden,  die  bis  i  cm 
lang  werden.  Die  Bewegung  ist  eine  seltsame 
und  resultiert  aus  drei  Einzelbewegungen ,  d.ie 
bestehen  in  einem  Drehen  um  die  eigene  Achse, 
einem  Hin-  und  Herpendeln  und  gleichzeitigem 
Vor-  und  Rückwärtsgleiten.  Bewegungsorgane 
sind  aber  bei  den  Beggiatoen  nicht  bekannt, 
wie  auch  ein  Zellkern  und  das  Vermögen,  Sporen 
zu  bilden,  vergeblich  gesucht  wurden.  Wenn  das 
den  Beggiatoen  zur  Verfügung  stehende  Wasser 
reich  ist  an  HjS,  so  ist  das  Innere  der  Zellen  so 
reich  an  rundlichen,  stark  lichibrechenden  Schwefel- 
tröpfchen,   daß    die  vorhandenen  Querwände  gar 


nicht  oder  nur  schwer  zu  sehen  sind  (Abb.  1) 
Man  ist  dann  versucht  zu  glauben,  der  Beggiatoa 
Faden  bestehe  nur  aus  einer  einzigen  schlauch 
förmigen  Zelle  und  nicht  aus  zahlreichen  kurz 
zylindrischen  Zellen,  die  fadenartig  hintereinande 
angeordnet    sind,    wie    das   der  Wirklichkeit   ent 


Abb.   1.     Beggi.itoa  alba  Win. 
Die    in  der  Zeichnung    schwarz   gehaltenen  Schwefeltröpfchcn 
sind     zufolge     reichlicher    Anwesenheit    von    HjS     massenhaft 
vorhanden,    so    daß    die    Querwandungen    im    ZcUfaden    nicht 
sichtbar  sind.     Nach  der  Natur  gezeichnet.     Vergrößerung  600. 

Spricht.  In  schwefelwasserstoffarmem,  oder  gar 
in  schwefelwasserstofffreiem  Wasser  geht  die  Zahl 
der  Schwefeltröpfchen  rasch  zurück,  wodurch  die 
Querwände  deutlich  sichtbar  werden.  Bei  Schwefel- 
wasserstoffmangel runden  sich  die  einzelnen  den 
Zellfaden  zusammensetzenden  Glieder  gegensehig 


Abb.  2.     Beggiatoa  alba  Win. 
Infolge  Mangel    an  HjS   sind    in    den  Zellen    keine    oder    nur 
wenige  Schwefeltröpfchen  vorhanden,  die  Querwandungen  sind 
deutlich    zu    sehen    und    der  Zellfaden    zerfällt   stellenweise  in 
seine    kurzen ,    sich    abrundenden    Glieder.      Nach    der    Natur 

gezeichnet.     Vergrößerung  600. 


ab,  lösen  sich  voneinander  los,  so  daß  der  Zell- 
faden in  seine  Glieder  zerfällt.  Dadurch  ist  die 
Möglichkeit  gegeben,  daß  die  ovalen  Zellen  durch 
Strömungen  im  Wasser  leicht  verfrachtet  und  so 
neue  schwefelwasserstoffreichere  Standorte  besiedelt 
werden  können  (Abb.  2). 


N.  F.  XVI.  Nr.  2.|. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


325 


Winogradsky  züchtete  sieunter  Deckglasinder 
feuchten  Kammer.  Zwischen  Deckglas  und  Objekt- 
träger wurden,  außer  schwefelwasserstoffhaltigem 
Wasser,  Glassplitterchen  gebracht,  um  den  Druck 
des  Deckglases  auf  die  Zellen  aufzuheben  und  die 
Erneuerung  der  .Flüssigkeit  mittels  Durchsaugens 
zu  erleichtern.  Soblieben  die  eingesetzten  Beggia- 
toen  Wochen-  bis  monatelang  lebend.  Dabei  ließ 
sich  auch  die  Beobachtung  machen,  daß  die 
Beggiatoen  ohne  gebundenen  Kohlenstoff  in 
anderer  F"orm  als  Kohlendioxyd  zu  erhalten,  ihren 
Körper  normal  aufbauten,  so  daß  die  Vermutung, 
sie  benützen  das  Kohlendioxyd  stets  als  Kohlen- 
stoffquelle mit  Hilfe  der  bei  der  Oxydation  von 
HjS  erhaltenen  Energie,  der  Wirklichkeit  entsprechen 
dürfte. 

Diese  Vermutung  ist  sowohl  für  Beggiatoa 
wie  für  die  gleich  zu  erwähnende  Thiothrix  in 
vollem  Umfange  neuerdings  durch  F.  Keil  be- 
stätigt worden  (Beitr.  z.  Biologie  der  Pflanzen, 
Bd.  XI,  S.  335  ff.,  1912),  dem  es  auch  zum  ersten 
Male  gelang,  einwandfreie  Reinkulturen  der  bei- 
den Schwefelbakterien  herzustellen.  Er  züchtete 
sie  in  einer  mineralischen  Nährlösung,  der  als 
Stickstoffquelle  Ammonsalze  zugesetzt  waren,  und 
in  einen  abgeschlossenen  Gasraum,  der  Kohlen- 
dioxyd, eine  beschränkte  Menge  Sauerstoff  und 
wenig  Schwefelwasserstoff  enthielt  und  durch  Zu- 
fügen des  indifferenten  Wasserstoft'es  auf  Atmo- 
sphärendruck gebracht  wurde.  Die  üppige  Ent- 
wicklung der  Bakterien  zeigte  an,  daß  sie  in  der 
Tat  das  Kohlendioxyd  assimilieren.  Sie  sind 
sogar  auf  diese  C-Quelle  angewiesen,  da  organische 
Verbindungen  zwar  nicht  schädigten,  aber  sich 
als  unausnutzbar  erwiesen.  Zugleich  geht  aus 
diesen  Zuchtversuchen  hervor,  daß  der  Schwefel- 
wasserstoff eine  notwendige  Existenzbedingung 
für  diese  Bakterien  darstellt.  Sie  sind  somit  in 
ähnlicher  Weise  autotroph,  wie  die  grünen  Pflan- 
zen und  etliche  eisen-  und  wasserstoffoxydierende 
Bakterien. 

Da  die  Breitendimensionen  der  Beggiatoa- 
F"aden  ziemlich  konstant  sind,  wurden  sie  für  die 
Spaltung  der  Gattung  in  Arten  zum  Prinzipe  ge- 
wählt. Die  drei  bei  uns  öfters  vorkommenden 
Arten  sind: 

Beggiatoa  alba  Win. 
mit  2,8 — 2,9  n  breiten  Zellfäden 

Beggiatoa  media  Win. 
mit  1,6 — 1,7  ;<  breiten  Zellfäden 

Beggiatoa  minima  Win. 
mit  0,8  ii  breiten  Zellfäden 

Ein  Riese  unter  den  Beggiatoen  ist  Beggiatoa 
mirabilis  Cohn,  die  vom  Grunde  der  Kieler  Bucht 
heraufgeholt  wurde.  .Die  Faden  werden  45 — 50 
Mikra,  also  bis  V20  "i"!  breit  und  sind  schon  bei  be- 
scheidener Vergrößerung  sichtbar.  Dank  diesen, 
für  Spaltpilze  riesigen  Körperdimensionen  ist  es 
möglich  mit  Hilfe  des  Mikrotomes  Längs-  und 
Querschnitte  durch   den  Bakterienleib   zu  machen 


und  so  einen  Einblick  in  seinen  Aufbau  zu  ge- 
winnen. Die  Untersuchung  ergab,  daß  die  Zellen 
von  Beggiatoa  mirabilis  eine  doppelte  Membran 
besitzen,  und  reich  vakuolisierten  Inhalt  aufweisen, 
so  daß  zahlreiche  oft  recht  dünne  Plasmastränge 
das  Zellinnere  durchsetzen.  Spuren  eines  Zellkernes 
wurden  auch  da  nicht  getroffen. 

Die  Beggiatoen  bevorzugen  zufolge  der  freien 
Beweglichkeit  der  Zellfäden  stagnierendes,  schwefel- 
wasserstoffhaltiges  Wasser,  wo  sie  sich,  je  nach 
der  Wassertiefe,  entweder  am  Grunde,  oder  in 
den  oberflächlichen  Schichten  aufhalten. 

Die  festsitzenden  Zellfaden  der  Gattung 
Thiothrix  oder  Schwefelhaar  bilden  büschel- 
förmige, weiße  Fadenkolonien.  Die  Faden  sind 
mittels  schleimigem  bis  gallertigem  Haftkissen  an 
irgendeiner  Unterlage  festsitzend,  so  an  Steinen, 
Holz  usw.  Die  F"aden  der  Th  io  thr  ix-Arten 
unterscheiden  sich  von  denjenigen  der  Beggiatoen 
außer  durch  ihr  Festgewachsensein  noch  durch  Ver- 
jüngung der  Zellfaden  nach  der  Spitze  zu.  Die 
Zellen  nahe  dem  Haftkissen  sind  mithin  von 
größerem  Durchmesser,  als  die  in  der  Nähe  der 
Spitze  (Abb.  3).    Auch  bei  den  Thiothrixfaden 


.Abb.   3.      Thiolhrix  nivea  Win. 
Die  Zellfaden    sind    festgewachsen    und  verjüngen    sich    gegen 
das    freie  Spitzenende  zu.     Die    in    den  Zellen    reichlich    vor- 
handenen   schwarz  gehaltenen  Schwefellröpfchen  lassen  keine 
Querwandungen  im  Thiothrix-Faden  erkennen.    Nach  der  Natur 

gezeichnet.     Vergrößerung  600. 


ist  die  Gliederung  in  einzelne  Zellen  oft  nur  schwer 
zu  sehen  zufolge  der  reichlich  vorkommenden 
Schwefeltröpfchen.  Interessant  ist  das  Vermögen  der 
Thiothrix -Arten  das  oberste  Fadenglied  als 
bewegliche  Konidie  abzugeben.  Winogradsky 
beobachtete,  wie  das  terminale  Fadenstück  von 
8 — 9  Mikra  Länge  sich  abgliederte,  auf  der  festen 
Unterlage  vorwärtskroch,  den  Mutterfaden  streckte 
und  schließlich  sich  losriß.  Der  Mutterfaden  schnellte 
dabei  ähnlich  wie  eine  gespannte  Feder  zurück. 
Die  noch  eine  kurze  Strecke  sich  vorwärts  be- 
wegende Konidie  kam  zur  Ruhe,  erzeugte  ein 
Haftkissen  und  wuchs  zum  Faden  aus.  Dadurch 
entstehen  büschelförmige  weißliche  Fadenkolonien 
und  gleichzeitig  ist  die  Möglichkeit  zur  Ausbreitung 
der  Art  gegeben. 


326 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


Bei   der  Gattung    Thiothrix    wird    ebenfalls 
die   Breite    der    Zellfaden    zum    Einteilungsprinzip 
gewählt  und  danach  unterschieden: 
Tliiotlirix  >nvea  Win. 

mit  am  Grunde  2  f^i  messenden  Zellfaden. 

Thiothrix  temäs  Win. 
mit  am  Grunde   i   /<  messenden  Zellfaden. 

Thiofhrix  temiissima  Win. 
mit   am  Grunde  0,4 — 0,5  /t   messenden  Zellfaden. 

Die  Thiothrix  temdssima  wurde  in  derSchwefeK 
quelle  von  Adelbodenim  Kanton  Bern  (Schweiz 
gefunden  bei  einer  Wassertemperatur  von  bloß 
5-8«C. 

Die  Thiothrix-Arten  sind  in  mehr  oder 
weniger  stark  fließendem  schwefelwasserstoff- 
haltigem  Wasser  anzutreffen,  speziell  in  Quellen, 
wo  sie  zufolge  ihrer  gallertigen  Haftkissen  nicht 
fortgespült  werden.  In  tieferen,  stagnierenden, 
Schwefel  vvasserstofführenden  Wasserschichten  finden 
sich  die  Thiothrix-Arten  nur  gemeinsam  mit 
Oscillarien  und  Chroococcaceen,  die  ihnen 
den  notwendigen  Sauerstoff  liefern. 

Die  zweite  im  Zellinnern  Schwefeltröpfchen 
ablagernde  Gruppe  von  Thiobakterien  umfast  farb- 


Abb.  4.      Thiophysa  voliilans  Hinze. 

Die  beweglichen,  mit  schwarz  gezeichneten  Schwefeltröpfchen 

beladenen    Zellen    zeigen    Kugelgestalt,    bei    der    Vermehrung 

aber  oft  Semmelform.     Nach  Hinze.     Vergrößerung  600. 


lose,  nicht  in  Zellfaden  angeordnete  Schwefel- 
bakterien. Bei  der  Besprechung  dieser  zweifellos 
sehr  großen  Gruppe  von  Schwefelbakterien  können 
wir  uns  ganz  kurz  fassen,  indem  sowohl  ihre 
Morphologie  wie  die  Biologie  und  Systematik  noch 
ganz  ungenügend  studiert  sind.  Als  Vertreter  dieser 
Gruppe  seien  genannt:  Thiophysa  volutaus  Hinze 
(Abb.  4),  Bacillus  tliiugeiiiis  Molisch  und  Spirillum 
bipiDictatum  Molisch. 

Wir  müssen  an  dieser  Stelle  auf  eine  Bildung 
aufmerksam  machen,  die  bei  allen  beweglichen 
Thiobakterien  in  Schwefelwasserstoff  haltigen  Flüssig- 
keiten beobachtet  werden  kann,  nämlich  die  sog. 
Bakterienplatten  von  Jegunow,  oder  die 
Bakterienniveaus,  wie  Beiyerinck  die  Er- 
scheinung nennt.  Schon  Winogradsky  machte 
an  den  Objektträgerkulturen  der  Beggiatoen 
die  Beobachtung,  daß  die  Zellfäden  sich  zwischen 
der  Mitte  und  dem  Rande  des  Wassertropfens,  in 


dem  sie  sich  finden,  hin-  und  herbewegen.  Die 
Faden  gehen  von  der  Mitte  des  Flüssigkeitstropfens, 
wo  sie  sich  mit  H^S  beladen  haben,  an  den  Rand 
des  Präparats,  um  den  HjS  zu  Schwefel  und  zu 
Schwefelsäure  zu  oxydieren  und  kehren  dann  wieder 
zum  Zentrum  zurück,  um  ihre  Tätigkeit  von  neuem 
zu  beginnen. 

Halten  wir  Rohkulturen  in  Standzylindern,  so 
sammeln  sich  die  beweglichen  Schwefelbakterien 
in  jener  Hüssigkeitsschicht  an,  wo  der  Luftsauerstoff 
von  oben  und  der  Schwefelwasserstoff  des  Wassers 
von  unten  zusammentreffen.  Nicht  selten  ist  diese 
Bakterienanhäufung  von  bloßem  Auge  sichtbar; 
wir  nennen  sie,  wie  schon  erwähnt,  die  Bakterien- 
platte. Dieses  Niveau  ist  verschiebbar  je  nach 
dem  Schwefelwasserstoffgehalt  der  Flüssigkeit. 

Der  Bau  der  Bakterienplatte  ist  sehr 
interessant.  Sie  besitzt  mehrere  3 — 4  mm  lange 
quastenartige  Fortsätze,  die  tiefer  in  die  Schwefel- 
wasserstoff haltige  Flüssigkeit  hineinreichen.  Je- 
gunow, der  mit  farblosen,  beweglichen,  nicht 
fädigen  Schwefelbakterien  experimentierte,  be- 
obachtete in  diesen  Quaste hen  oder  Fontänen 
eine  merkwürdige  Bewegung  der  Spaltpilze.  Diese 
Bewegung  kann  verglichen  werden  mit  derjenigen 
des  Wassers  eines  umgekehrten  Springbrunnens, 
indem  die  Bakterien  in  der  Achse  des  Quästchens 
nach  unten  steigen  und  dann  im  Bogen  wieder 
zur  Platte  zurückkehren.  Der  Weg,  der  hierbei 
pro  Sekunde  zurückgelegt  wird,  beträgt  durch- 
schnittlich 20  jx.  Am  Scheitel  des  Quästchens 
wird  der  HoS,  von  unten  zutretend,  von  den  Zellen 
zu  Schwefel  oxydiert  mit  Hilfe  des  von  den  Zellen 
mitgeführten  Sauerstoffes.  Nachdem  die  Bakterien- 
zellen in  den  oberen  Teil  der  Platte  zurückgekehrt 
sind,  wird  der  Schwefel  zu  Schwefelsäure  verbrannt. 
Der  Beweis  für  diese  Vorgänge  wird  folgender- 
maßen erbracht.  Wir  behandeln  einen  Wollfaden 
mit  stark  verdünntem  Eisenchlorid  und  Ammoniak, 
so  daß  der  Faden  hellgelb  gefärbt  erscheint.  Wir 
befestigen  am  Faden  ein  Glasgewichtchen  und 
versenken  ihn  in  die  Fontäne.  Unten  in  der  Fon- 
täne färbt  sich  der  Faden  alsbald  schwarz,  zufolge 
Bildung  von  Schwefeleisen;  oben  dagegen  wird  er 
weiß,  infolge  Schwefelsäureproduktion.  Die  Zeit- 
dauer des  Umlaufes  einer  Zelle  in  der  F"ontäne 
beträgt  nach  den  Beobachtungen  von  Jegunow 
ca.  5  Minuten.  In  dieser  Zeitspanne  wird  also  der 
H^S  von  der  Zelle  aufgenommen  und  zu  Schwefel 
oxydiert,  sowie  der  Schwefel  weiter  verbrannt  zu 
Schwefelsäure  und  dieselbe  ausgestoßen,  so  daß 
Sulfat  entstehen  kann.  Es  ist  uns  nun  auch  so- 
fort klar,  daß  die  Flüssigkeit  unter  der  Bakterien- 
platte mehr  oder  weniger  reich  an  H2S  ist,  während 
über  der  Platte  allmählich  der  Sulfatgehalt  ansteigt. 

Nun  noch  die  dritte,  die  letzte  Gruppe  von 
Thiobakterien,  die  im  Zellinnern  Schwefeltröpfchen 
ablagert.  Sie  zeigt  ebenfalls  nicht  die  Anordnung 
der  einzelnen  Zellen  zu  Zellfaden ;  die  hierher  ge- 
hörenden Arten  besitzen  aber  in  ihrem  Innern 
einen  purpurroten  Farbstoff,  so  daß  wir  kurz  von 
Purpurbakterien     unter     den    Thiobakterien 


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Naturwissenschaftliche   Wochenschrift. 


327 


sprechen;  auch  rote  Schwefelbakterien 
nennen  wir  sie.  Ich  will  ausdrücklich  darauf  hin- 
weisen, daß  nicht  alle  mit  einem  purpurroten  Farb- 
stoff versehenen  Bakterienarten  zu  den  Schwefel- 
bakterien gehören,  sondern  die  meisten  Arien  von 
Purpurbakierien  und  dabei  gerade  die  in  ihren  physio- 
logischen Eigentümlichkeiten  am  besten  studierten 
Spezies  führen  keinen  Schwefel  im  Zellinnern. 
Ich  will  auch  nicht  versäumen  darauf  hinzuweisen, 
daß  zwischen  den  Purpurbakterien  und  den  soge- 
nannten Chromogenen  oder  Farbstoff- 
bildnern unter  den  Spaltpilzen  ein  prinzipieller 
Unterschied  besteht.  Bei  den  in  der  Natur  weit 
verbreitet  vorkommenden  Chromogenen,  die  gelben, 
grünen,  braunen,  roten,  blauen  und  schwarzen  Farb- 
stoff erzeugen  können,  sind  die  Zellen  selbst  farb- 
los und  nur  ihre  nach  außen  abgegebenen  Stoff- 
wechselprodukte sind  gefärbt.  Nicht  so  bei  den 
Purpurbakterien.  Hei  ihnen  ist  das  gesamte  Plas- 
ma mit  einem  purpurroten  Farbstoff  durchtränkt, 
während  die  Stoffwechselprodukte,  soweit  bekannt, 
farblos  sind. 

Zwischen  den  roten  und  den  farblosen  Schwefel- 
bakterien sind  drei  physiologische  Unterschiede  zu 
konstatieren.  Die  roten  Schwefelbakterien  suchen 
das  Licht  auf  und  entwickeln  sich  dort  besser  als 
im  Dunkeln,  ein  ganz  eigenartiger  und  einzig  da- 
stehender F"all  in  der  Spaltpilzwelt ;  alle  Spaltpilze 
sind  lichtscheu  mit  Ausnahme  der  Purpurbakterien. 
Von  den  roten  Thiobakterien  wird  ein  viel  höherer 
Gehalt  an  H.,S  ertragen  als  von  farblosen  P"ormen; 
während  die  Purpurbakterien  noch  in  gesättigten 
Lösungen  von  H^S  in  Wasser  gedeihen,  sterben 
farblose  Formen  darin  rasch  ab.  Schließlich  ist 
noch  darauf  hinzuweisen,  daß  die  roten  Thio- 
bakterien mit  kleinen  Schwefelwasserstoffmengen 
auskommen  können,  während  farblose  Schwt-fel- 
bakterien  dabei  nur  ein  kümmerliches  Dasein 
fristen. 

Die  roten  Schwefelbakterien  wurden  von 
Ehrenberg  im  Jahre  1826  entdeckt.  Bei  einem 
Spaziergange  in  der  Umgebung  von  Jena  bemerkte 
der  genannte  P'orscher  in  einem  Bachtümpel  hand- 
große rote  Flecken.  Sie  bestanden  aus  ungeheuren 
Schwärmen  eines  einzelligen,  roten  Organismus. 
Dieser  besaß  Zylinderform  und  hatte  eine  einzige 
Geißel.  Die  festgestellten  Körperdimensionen  be- 
trugen lo — 15  fi  in  der  Länge  und  5  //  in  der 
Breite.  Ehrenberg  nannte  den  Organismus 
Monas  Okcnü  und  später  Oironiatium  Okciiii 
(Abb.  5.).  Die  Purpurbakterien  und  damit  inbe- 
griffen die  roten  Schwefelbakterien,  umfassen  viele 
Arten,  die  morphologisch  teils  zum  Kugel-,  teils 
zum  Stäbchen-,  teils  zum  Schraubeniypus  gehören. 
Die  Ansicht  von  Zopf,  daß  die  Purpurbakterien 
nur  eine  einzige  Spezies  umfassen,  ist  entschieden 
nicht  richtig.  Außer  Cliromatiiim  Okcnii  Petri 
seien  von  den  roten  Schwefelbakterien  noch  erwähnt : 
Ophidomouas  sangiiiiica  Ehrenberg  und  Spi- 
rillum  volutans  Cohn  (Abb.  6). 

Die  rote  Farbe  der  Purpurbakterien  wird  hervor- 
gerufen  durch   einen  im  Plasma  gleichmäßig  ver- 


teilten roten  Farbstoff.  Der  rote  Farbstoff  ist  eine 
Mischung  von  grünem  Farbstoff,  dem  Bakterio- 
chlorin,  und  einem  roten,  dem  Bakterio- 
purpurin.  Wenn  reinkultivierte  Purpurbakierien, 
z.  B.  der  Rlwdobacilliis  palustris  Moliscli  mit 
Alkohol  behandelt  werden,  so  wird  zunächst  der 
grüne  Farbstoff,  das  Bakteriochlnrin  ausgezogen. 
Am  Grunde  des  Extraktionsgefäßes  bleibt  eine 
schmutzig-braunrote  Massezurück.  Wirddieses Depot 
mit  Chloroform  behandelt,  so  wird  der  rote  Farb- 
stoff,   das    Bakteriopurpurin    extrahiert.     Um    Irr- 


Abb.   5.     Chiomatium  okenn  Petri. 

Die  purpurroten  beweglichen  Zellen  zeigen  Stäbchenform  und 

enthalten    mehr    oder    weniger    zahlreiche    Schwefeltröpfchen, 

die  in  der  Zeichnung  schwarz  eingetragen  sind.     Nach  Cohn. 

Vergrößerung  600. 


Abb.  6.     Spirlllum  volutans  Cohn. 

Die    beweglichen    purpurroten    Zellen    beschreiben    einen    bis 

mehrere    Schraubengänge.       Die    im    Plasma    sich    findenden 

Schwefeltröpfchen    variieren    in    der  Zahl  sehr.     Nach  Cohn. 

Vergröflerung  600. 


tümern  vorzubeugen  sei  ausdrücklich  darauf  hin- 
gewiesen, daß  Bakteriochlorin  und  das  Chlorophyll 
der  höhern  Pflanzen  nicht  identisch,  ja  nicht  ein- 
mal verwandt  sind.  Das  Bakteriopurpurin  hat 
-mindestens  zwei  verschiedene  Modifikationen.  Die 
Färbung  der  Purpurbakterien  ist  in  der  Natur  recht 
verschieden,  von  leuchtend  rot  bis  violett-bräunlich. 
Als  Ursache  dieser  Erscheinung  ist  darauf  hinzu- 
weisen, daß  je  nach  Bakterienart  und  verschiedenen 
Standortsbedingungen,  die  beiden  Farbstoffe  Rot 
und  Grün   nicht    in  gleicher  Menge  gemischt  sind 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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und  bald  die  eine,  bald  die  andere  Modifikation 
des  Bakteriopurpuriiis  vorhanden  ist.  Auch  die 
Schwefelwasserstoffzufuhr  modifiziert  den  Farben- 
ton der  Bakterienansammlung.  So  ruft  reichliches 
Vorhandensein  von  H.^S  eine  rot-violette  Färbung 
hervor.  Auf  die  Entstehung  des  roten  Farb- 
stoffes wirken  Eisen-  und  Mangan-Verbindungen 
fördernd  ein. 

Die  Bedeutung  von  Bakteriochlorin  und  Bakterio- 
purpurin  für  die  Biologie  der  roten  Schwefelbakterien 
ist  noch  nicht  studiert,  indem  es  bis  heute  nicht 
gelang  Reinkulturen  dieser  Thiobakterien  zu  ge- 
winnen. Erst  mit  Reinkulturen  könnte  die  Frage 
beantwortet  werden,  ob  die  roten  Schwefelbakterien, 
ähnlich  wie  Thiobacten'nni  finopanini  Beggiafoa 
und  Thiofhrix  das  Kohlendioxyd  der  Luft 
assimilieren  können  und  ob  dabei  eventuell  dem 
roten  Farbstoff  Bedeutung  zukommt.  Es  ist  der 
Gedanke  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  der 
rote  Farbstoff  vielleicht  für  die  .'\bsorption  der 
Wärmestrahlen  eine  Bedeutung  besitzt. 

Die  roten  Schwefelbakterien  leben  in  Teichen, 
Tümpeln,  Sümpfen,  Brackwassergräben  und  im 
Meervvasser  in  Küstennähe.  Sie  bilden  an  solchen 
Stellen  oft  rote  Ansammlungen,  die  schon  von 
weitem  auffallen;  nicht  selten  ist  das  Wasser  rötlich 
gefärbt  zufolge  ihres  massenhaften  Vorkommens. 
So  war  ich  nicht  wenig  erstaunt  im  Ritomsee  aus 
12,5  m  Tiefe  ein  durch  eine  C  hromatiu  m-Art 
rötlich  gefärbtes  Wasser  an  die  Oberfläche  be- 
fördern zu  können.  In  jener  Tiefe  bildet  das 
Chromatium  eine  ca.  50  cm  mächtige  Bakterien- 
platte an  der  Grenzzone  von  sauerstoffhaltigem 
und  schwefelwasserstoüTührendem  Wasser. 

Bei  einigen  Purpurbakterien  fand  Mo  lisch 
eigentümliche  Einschlüsse,  sog.  Airosomen  oder 


Schwebekörperchen,  so  bei  der  Rhodocapsa 
suspensa  im  Wasser  des  adriatischen  Meeres.  Die 
Airosomen  sind  stark  lichtbrechend.  Sie  be- 
sitzen ein  sehr  geringes  spezifisches  Gewicht  und 
bedingen  die  Fähigkeit  des  Schwebens,  also  auch 
die  Möglichkeit  eine  Wasserblüte  zu  bilden.  Ent- 
fernt man  die  Airosomen  durch  Druck,  so 
verlieren  die  Zellen  ihre  Schwebefähigkeit. 

Bei  den  Purpurbakterien  ist  Phototaxis 
schön  zu  sehen.  Sie  lieben  hohe  Lichtintensität, 
sammeln  sich  im  Deckglaspräparat  an  hellerleuch- 
leten  Stellen  an  und  schwärmen  lebhaft  in  der 
Flüssigkeit  hin  und  her.  Dabei  vermeiden  es  die 
Zellen  in  weniger  beleuchtete  oder  gar  in  ver- 
dunkelte Partien  des  Präparates  überzutreten.  An 
der  Grenze  von  Licht  und  Schalten  angelangt, 
machen  die  Zellen  plötzlich  Halt  und  schwimmen 
in  die  beleuchtete  Zone  zurück.  Wir  nennen 
diese  Eigentümlichkeit  eine  Schreckbewegung. 
Sie  wird  nicht  bloß  gegenüber  Dunkelheit,  sondern 
auch  gegenüber  sehr  intensivem  Licht,  z.  B.  di- 
rektem Sonnenlicht  im  mikroskopischen  Gesichts- 
felde betätigt. 

Resümierend  sei  am  Schlüsse  erwähnt,  daß 
die  Bildung  von  H,S  in  der  Natur  eine  sehr 
häufige  Erscheinung  ist.  Die  Beseitigung  dieses 
giftigen  Gases  wird  außer  durch  rein  chemische 
Vorgänge  rasch  und  sicher  auch  durch  die  Schwefel- 
bakterien durchgeführt,  indem  sie  Schwefelwasser- 
stoff zu  Schwefel  und  den  Schwefel  zu  Schwefel- 
säure weiteroxydieren,  die  sich  an  vorhandene 
basische  Körper  bindet,  wobei  Sulfat  entsteht. 
Die  Thiobakterien  spielen  mithin  im 
Kreislauf  des  Schwefels  in  der  Natur 
eine  wichtige  Rolle. 


I  Nachdruck  verboten]  Von   h. 

Seit  langer  Zeit  hat  man  —  schon  Viktor 
Hehn,  der  große  Kulturforscher,  war  dazu  ge- 
neigt —  auf  Grund  sprachvergleichender  Studien, 
die  Nessel  für  einen  der  ältesten  Faserstoffe  angesehen. 

Die  keltische  Bezeichnung  „1  i  n"  für  die  Nessel 
deutete  darauf,  daß  die  Leine  als  Strick  und  die 
Linie  (von  der  Schnur)  ursprünglich  mit  der 
Nessel  als  Faserstoff  zusammengehängt  haben, 
ebenso  wie  Netz  und  Nessel  nach  den  nordischen 
Sprachkennern  zusammenhängt.  Flüchtige  An- 
deutungen, so  z.  B.  die  von  Albertus  Magnus 
über  den  Pannus  urticae  —  das  Nesseltuch  ■ — 
wiesen  auch  darauf  hin,  daß  die  heute  noch 
ganz  geläufige  Bezeichnung  für  das  minder- 
wertigste Baumwollengewebe  sich,  wie  das  ja  bei 
Textilstoffen  so  leicht  geschieht,  ursprünglich  ein 
anderes  Gewebe  bezeichnete  und  sich  von  diesem 
auf  die  aus  fremdem  Gebiet  bezogene  Pflanze 
herübergeschoben  hat. 


Breuiiesseln  in  neuer  und  alter  Verwendung. 

Von  Ed.  Hahn. 


Besonders  durch  die  Reisen  von  Pallas  und 
seinen  Zeitgenossen,  die  über  die  Verwendung 
unserer  großen  Do  n  nernessel  und  verwandter 
Arten  als  F"aserstoff  zumal  auch  für  Netze  u.  dgl. 
von  Rußland  bis  nach  Kamtschatka  berichteten, 
setzten  schon  im  18.  Jahrhundert  infolge  jener 
Bewegung,  die  hauptsächlich  einheimische  Erzeug- 
nisse zu  verwenden  suchte,  im  Gegensatz  zu  der 
Einführung  fremder  Stoffe  durch  den  Welthandel, 
Versuche  ein,  die  Nesselfaser  in  Deutschland  wieder 
einzuführen,  wie  sie  auch  als  Viehfutter  stark 
empfohlen  wurde. 

Wie  damals  so  oft,  blieb  aber  auch  hier  die 
Bewegung  im  ganzen  erfolglos.  Man  wußte  eben 
die  wirtschaftliche  und  rechnerische  Seite  des 
Problems  zu  wenig  zu  fassen  und  führte  oft  zu 
schnell  Dinge  und  Verfahren  in  die  gewerbliche 
Verwendung  ein,  die  einer  längeren,  wirtschaft- 
lichen Probe  noch  stark  bedurft  hätten.     Jedenfalls 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


329 


sind  die  verschiedenen  F'abriken  für  Nesselzeug, 
von  denen  damals  die  Rede  ist,  später  alle  ohne 
Nachfolge  verschwunden  und  einzelne  begeisterte 
Vertreter  und  Vertreterinnen  haben  trotz  allen 
Eifers  der  Nessel  doch  keine  dauernde  Verwen- 
dung schaffen  können. 

Neues  Leben  gewann  die  Verwendung  der 
Nesselfaser,  als  mit  dem  immer  größeren  Bedarf 
und  mit  der  sinkenden  Flachsproduktion  in 
Deutschland  die  Textilfabriken  nach  der  Mitte 
des  vorigen  Jahrhunderts  sich  gerne  eine  billige, 
reichliche  und  gute  Faser  im  Inlande  besorgt 
hätten,  wenn  die  Einfuhr  mehr  oder  weniger  ver- 
sagte. Und  da  drängte  nun  die  Kunde  von  der 
chinesischen  Nesselfaser,  der  R  a  m  i  e  ,  das  Interesse 
auch  wieder  auf  unsere  einheimische  Nessel. 

Nun  erkannte  die  moderne  Technik  wohl,  daß 
die  Nesselfaser  an  sich  hervorragende  Vorzüge 
hätte.  Sie  gibt  die  „zugkräftigste"  Faser.  Aber 
trotz  der  Energie,  die  besonders  in  Deutschland 
der  Gärtner  Bouche  an  die  Zucht  der  Nessel 
und  G  r  o  t  h  e  an  die  technische  Seite  des  Problems 
verwendeten,  ist  es  damals  bekanntlich  nicht  ge- 
löst worden. 

Das  beruhte,  wie  wir  jetzt  wohl  ohne  Un- 
gerechtigkeit sagen  können,  auf  einer  merk- 
würdigen Kurzsichtigkeit  gegenüber  der  Ver- 
wendung des  Materials.  Dieselbe  Ramie,  deren 
„Dekortikation",  um  diesen  schönen  Ausdruck 
einmal  zu  übernehmen  —  trotz  hoher  Preise,  die 
auf  dies  Problem  gesetzt  wurden,  der  europäischen 
Industrie  weder  auf  maschinellem,  noch  auf 
chemischem  Wege  gelingen  wölke,  hat  doch  dem 
Chinesen  für  einen  verhältnismäßig  sehr  billigen 
Preis  ein  geradezu  bestechend  schönes  Fasergewebe 
mit  Seidenglanz  und  von  großer  Dauerhaftigkeit 
geliefert.  Und  ebenso  hat  nach  allem,  was  wir 
feststellen  können,  in  der  alten  Zeit  die  Nessel- 
faser ein  sehr  dauerhaftes  und  festes  Gewebe  ge- 
geben, dem  der  jüngere  Lein  wahrscheinlich  nur 
deshalb  die  Stellung  nahm,  weil,  wie  es  nun  ein- 
mal im  Menschen  liegt,  gelegentlich  das  Neue  der 
Feind  des  Alten  ist.  Die  alte  Zeit  und  die 
Chinesen  von  heute  werden  eben  gar  nicht  so 
viel  Schwierigkeiten  mit  dem  Gummigehalt  der 
Nesselfaser  gehabt  haben,  über  den  sich  die 
Fabrikation  so  bitter  beklagte;  sie  werden  nur 
mehr  Zeit,  Geduld  und  Sorgfalt  an  die  Zube- 
reitung verwendet  haben. 

Nach  den  Untersuchungen,  über  die  bei  der 
Wichtigkeit  des  Gegenstandes  allerdings  bisher 
nur  kürzere  Mitteilungen  vorliegen,  enthält  unsere 
Nessel  im  grünen  (und  wohl  auch  im  trockenen 
Zustande)  verhältnismäßig  viel  Zucker  in  der 
Rinden  faser.  Und  auf  diesen  Zuckergehalt 
hin  bilden  sich  bei  dem  Gärungsverfahren,  durch 
das  wir  wie  beim  Lein  und  Hanf  auch  die  Faser 
der  Nessel  isolieren  wollen,  sogenannte  wilde 
Gärungen,  die  dann  nicht  nur,  wie  sie  sollen, 
die  anderen  Pflanzenstoffe  zersetzen,  sondern  auch 
die  Faser   selbst   stark   angreifen   und   so  das   an 


und   für   sich    vortreffliche  Material  minderwertig 
machen. 

Nach  den  spärlichen  Nachrichten,  die  ich  aus 
China  datüber  habe,  wird  dort  drüben  die  Ramie 
ebenso  wie  in  Sibirien  die  Nessel  mehrfach  aus 
dem  Wasser  genommen  und  erst  nach  einer 
Bearbeitung  wieder  hineingetan,  wenn  sie  dann 
nicht  überhaupt  in  neues  Wasser  kommt,  und 
das  dürfen  wir  auch  für  unsere  eigene  Vorzeit 
annehmen.  So  wie  man  sich  hier  nun  aber  an 
die  Behandlung  des  Leins,  so  wie  wir  sie  heute 
noch  kennen,  gewöhnt  hatte,  war  eine  erfolgreiche 
Behandlung  der  Nesselfaser  nach  diesem  sonst 
weit  bequemeren  Verfahren  ausgeschlossen;  diese 
verlangte  eben  noch  mehr  Sorgfalt  und  Arbeit. 
Übrigens  zeigen  Lein  und  Nessel,  wenn  man 
sie  zusammennimmt,  daß  das  Problem  des  Anbaus 
unserer  Kulturpflanzen  keineswegs  so  leicht  zu 
lösen  ist  und  so  einfach  liegt,  wie  man  gewöhn- 
lich annimmt.  Die  Brennessel  wird  von  manchen 
Pflanzenkennern  als  eine  Pflanze  angesehen,  die 
wahrscheinlich  sowohl  als  Gemüsepflanze  wie  als 
Faserpflanze  wie  endlich  ihres  Samens  wegen  in 
der  Ernährung  der  älteren  Menschheit  auf  unserem 
Boden  eine  beträchtliche  Rolle  gespielt  haben 
könnte. 

Um  mit  dem  letzten  Punkt,  mit  dem  Samen 
zu  beginnen,  spielen  Brennesselsamen  in  der 
Tierarzneikunde  unseres  Volkes  noch  eine  sehr 
große  Rolle.  Es  wird  immer  empfohlen,  Hühnern 
in  den  ersten  Frühlingstagen  Brennesselsamen  zu 
geben,  um  sie  so  zum  früheren  Eierlegen  zu  ver- 
anlassen. Und  Brennesselsamen  wurde  auch  den 
Pferden  gegeben,  um  sie  recht  glatt  und  glänzend 
im  Fell  zu  machen.  Nun  ist  es  aber  für  den 
Volkskundigen  ausgemacht,  daß  in  die  Volks- 
medizin und  schließlich  auch  in  die  Tiermedizin 
sich  gelegentlich  alte  Nahrungsmittel  des 
Menschen  geflüchtet  haben,  wie  z.  B.  Hafer- 
aufguß, Leinsamenabkochung  u.  a.  m.,  die  bei 
uns  jetzt  ganz  verschwunden  oder  doch  fast 
bedeutungslos  sind.  Nebenbei  ist  es  dann  ja  auch 
immer  noch  eine  Frage,  ob  nicht  der  Hanf,  der 
der  Nessel  als  Vetter  nahe  steht,  in  der  Ver- 
wendung des  Samens  —  Hanfmus  und  Hanföl 
spielen  bei  unseren  östlichen  Nachbarn  noch  eine 
große  Rolle  —  und  weiterhin  der  Lein  der  Nessel 
auch  in  dieser  Verwendung  gefolgt  ist,  d.  h.  erst 
Nahrungs-  und  Ölfrucht  und  erst  zuletzt  Faser- 
pflanze wurde,  wobei  der  Lein  dann  freilich  lange 
in  eine  ganz  ausschlaggebende  Rolle  geriet.  Denn 
wenn  jetzt  der  Flachs  bei  uns  in  seiner  Bedeutung 
im  Ackerbau  außerordentlich  zurückgegangen  ist, 
dagegen  eingeführter  Leinsamen  für  unsere  Technik 
—  man  denke  nur  an  die  Linoleumindustrie  — 
eine  große  Bedeutung  gewonnen  hat  —  so  ist  das 
ja  eine  nicht  ganz  notwendige  und  eigentlich  auch 
nicht  gerade  glänzende  Entwicklung  der  letzten 
Jahrzehnte.  Schlesische  und  westfälische  Leine- 
wand haben  doch  immer  noch  ihren  alten  Ruf, 
auch  wenn  der  Anbau  in  Deutschland  so  gering 
geworden  ist,   daß    unsere  Faser   gar  nicht  mehr 


330 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


in  Betracht  kam,  ja  mancher  Naturfreund  noch 
nie  ein  blühendes  Leinfeld  sah.  Es  ist  das  um 
so  trauriger,  weil  bei  einigem  guten  Willen  auf 
der  einen  Seite  —  bei  der  Industrie,  und  etwas 
weniger  Ergebung  und  Schwerfälligkeit  auf  der 
anderen  Seite  —  bei  der  Landwirtschaft,  dies  im 
ganzen  doch  recht  klägliche  Ergebnis  sich  wohl 
hätte  vermeiden  lassen. 

Aber  jedenfalls  ist  der  Lein  auch  insofern  eine 
richtige  Ergänzung  zur  Nessel  und  zum  Hanf, 
weil  der  Same  gerade  so,  wie  jetzt  noch  der  Hanf 
in  Rußland  als  Volksnahrung,  als  Leinmus  und 
daneben  das  Speiseöl  aus  Leinsamen  einst  eine 
große  Rolle  bei  uns  gespielt  haben.  Während 
aber  die  alten  Ägypter  schon  den  Lein  als  Web- 
stoff ausgiebig  benutzten,  wird  auf  den  weitent- 
legenen afrikanischen  Hochflächen  Abyssiniens  mit 
seiner  im  ganzen  und  großen  aus  Asien  entlehn- 
ten Wirtschaft  (und  Bevölkerung) 'der  Lein  zwar 
viel  angebaut,  aber  nur  sein  Same  als  Speise 
benutzt,  dagegen  weder  seine  Faser  noch  ebenso 
das  Öl  aus  den  Samen  jemals  benutzt. 

Die  Nessel  ist  nun  aber  auch  für  den  deutschen 
Landwirt  und  seinen  älteren  Bruder,  den  Gärtner, 
wichtig  und  interessant,  weil  sie  unbedingt  mit 
dem  alten  Ackerbaugott,  dem  deutschen  t)onar 
zusammenhängt.  Das  geht  nicht  nur  aus  dem 
Namen  der  „Donner"nessel  hervor,  sondern  auch 
aus  dem  eigentlich  für  ganz  Deutschland  fest- 
stehenden Gebrauch,  an  dem  großen  Festtage  des 
Gottes,  dem  Gründonnerstag,  entweder  Nessel- 
gemüse zu  essen  —  für  das  sich  dann  später,  z.  B. 
in  Berlin,  der  Spinat  häufig  eingeschoben  hat  — 
oder  gar  den  Gründonnerstagkohl  aus  neun 
grünen  Pflanzen  zusammenzusetzen,  unter  denen  aber 
die  Nessel  sicher  nicht  fehlen  darf,  denn  Donar, 
dem  Donnergott,  gehört  ebenso  wie  die  Nessel 
auch  die  9,  die  Zahl  der  Kegel,  mit  denen  er  im 
Gewitter  spielt,  als  heilige  Zahl. 

Ich  möchte  aber  in  diesem  Zusammenhang 
noch  hervorheben,  daß  durch  die  neue  Auffassung 
der  Gärungsvorgänge  bei  der  Nessel,  sich  die 
stärkere  Verwendung  als  Gemüse  der  deutschen 
Hausfrau  aufdrängen  sollte.  Denn,  wenn  in  letzter 
Zeit  der  Spinat  von  ärztlicher  Seite  wegen  des 
Chlorophyllgehaltes  kräftig  empfohlen  wird,  auch 
für  kleine  Kinder,  so  legt  sich  die  Nessel  mit 
ihrem  starken  Zuckergehalt  für  den  Haushalt  mit 
Kindern  der  sorgenden  Mutter  noch  mehr  ans 
Herz,  besonders  in  unserer  Kriegszeit.  Und  der 
kräftige  Geschmack  empfiehlt  sie  auch  für  andere 
Mitglieder  des  Haushaltes,  deren  Blutbildung  nicht 
so  sehr  im  Vordergrunde  zu  stehen  braucht,  denn 


der  Zuckergehalt   äußert    sich,    beiläufig  bemerkt, 
im  Geschmack  keineswegs. 

Was  die  Zubereitung  in  der  Küche  angeht, 
können  wir  aber  aus  einer  reichen  Erfahrung  ur- 
teilen, weil  wir  am  eigenen  Tisch  die  Nessel  seit 
über  20  Jahren  eingeführt  haben  und  sie  ständig 
nach  alter  Sitte  zum  Gründonnerstag  zahlreichen 
Gästen  vorgesetzt  haben  und  meist  Nachfolger 
im  Genuß  fanden.  Die  Zubereitung  ist  ganz  die- 
selbe wie  bei  Spinat,  der  wahrscheinlich  seinerzeit 
als  „vornehmeres"  Gemüse  die  alte  Nessel  beiseite 
schob.  Das  Pflücken  geschieht  besser  mit  Hand- 
schuhen, da  unsere  Zeit  wohl  schwer  sich  an 
die  „Heilkraft"  des  Brennens  noch  hält.  Doch 
nimmt  schon  das  Waschwasser  der  Pflanze  die 
Kraft  des  Brennens  in  starkem  Maße,  nach  dem 
Abkochen  ist  nichts  mehr  davon  bemerkbar.  Für 
den  Tisch  sind  alle  Zubereitungsarten  des  Spinats 
anwendbar.  Wenn  man  Fleischbrühe  hat,  geben 
ihr  einige  Löffel  Nessel  eine  außerordentlich  schöne 
dunkelgrüne  Farbe.  Dies  ist  die  in  Schweden  am 
meisten  beliebte  Form.  Uns  erscheint  wohl  die 
Verwendung  als  Gemüsebrei  die  nächstliegende; 
volkskundlich  aber  ist  es  die  Zubereitung  als  Kraut- 
wehen oder  Krautmaullaschen,  ein  recht  bedeut- 
sames Gericht,  das  bei  uns  freilich  sich  der  Be- 
achtung ganz  entzog  und  nur  als  „echt  slavisches" 
Feingericht,  Piroggen  usw.  eine  Rolle  spielte,  da 
es  ja  bis  1914  als  vornehm  galt,  alles  eigenartigere 
als  nicht  deutsch,  z.  B.  auf  slavischen  Ursprung 
zurückzuführen.  Während  nun  Krautwehen  mehr 
allemannisch  sind,  kennt  Bayern  auch  heute  noch 
zum  Gründonnerstag  Nesselknödel.  Dagegen  ist 
in  Norddeulschland,  namentlich  in  Westfalen,  aber 
auch  z.  B.  im  Weichseldelta  die  schon  erwähnte 
Zusammenstellung  mit  anderen  heiligen  Kräutern, 
die  von  Ort  zu  Ort  wechseln,  zur  altheiligen  Neun- 
zahl alte  Sitte,  die  freilich  mehr  und  mehr  zurück- 
tritt. Schweden  aber  ist  noch  so  sehr  an  die 
Nessel  zum  hohen  Frühlingsfeiertage  des  großen 
Ackerbaugottes  gewöhnt,  daß  es,  um  auch  in 
späten  Jahren  des  Genusses  sicher  zu  sein,  die 
Nessel  in  Konserven  auf  den  Markt  bringt. 

Wenn  mein  Aufsatz  für  dies  Jahr  vielleicht 
auch  etwas  spät  für  die  Donnernessel  (Urtica 
dioica),  die  ich  gerne  den  Gärtnern  als  frühestes 
Gemüse  empfohlen  hätte,  kommt,  so  wirkt  er 
vielleicht  doch  fürs  nächste  Jahr.  Und  die  kleine 
Gartennessel  (urens)  ist  ja  fast  immer  frisch  da. 
Vielleicht  teilt  mir  aber  einer  der  Gärtner  bald 
oder  später  Erfahrungen  oder  Vorschläge  zur 
Verwendung  der  Nesseln  mit. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Die  Zukunft  der  deutschen  Bienen- 
zucht. Der  bekannte  Bienenforscher  und  Leiter 
der    Kgl.    Anstalt    für    Bienenzucht    in    Erlangen, 


Prof  Dr.  Zander,  stellt  sich  in  der  vorliegenden 
Flugschrift  (Verlag  Paul  Parey.  1916)  der  „Deutschen 
Gesellschaft  für  angewandte  Entomologie"  die  Auf- 
gabe,   weitere    Kreise    auf    den    Niedergang    der 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


33« 


deutschen  Bienenzucht  und  seine  Ursachen  auf- 
merksam zu  machen  und  Wege  zu  weisen,  wie 
ein  völHger  Verfall  des  einst  so  hochgeschätzten 
Zeidelwesens  zu  verhindern  und  wie  die  Bienen- 
zucht allgemein  zu  heben  ist. 

Als  Hauptursache  des  Verfalles  ist  die  mehr 
und  mehr  fortschreitende  Verarmung  der  Bienen- 
weide anzusehen,  veranlaßt  durch  die  im  Laufe 
der  letzten  Jahrhunderte  vor  sich  gegangene  Ver- 
änderung der  Bodenwirtschaft.  Geordnete  F"orst- 
wirtschaft,  die  keine  hohlen  Bäume,  kein  Unter- 
holz duldet  und  keine  nennenswerte  Bodenflora 
aufkommen  läßt,  intensive  Landwirtschaft,  die  keine 
Unkräuter  leidet,  die  an  die  Stelle  unserer  reichen 
heimischen  Flora  Gräser  und  Futterkräuter  setzt, 
sind  die  größten  Feinde  der  Bienen.  Noch  trüber 
sieht  die  Zukunft  aus,  weil  sie  mit  Riesenschritten 
die  letzten  naiürlicheii  Florengebiete,  die  Heide-, 
Moor-  und  Ödländer,  hinwegräumen  wird ,  von 
denen  Deutschland  immer  noch  reichlich  5  Mill.  ha 
besitzt,  und  die  bisher  als  Honigquelle  eine  un- 
geheure Bedeutung  besaßen.  Verschlechtert  sich 
die  Bienenweide  in  demselben  Maße  weiter,  so 
ist  ein  völliger  Verfall  der  Bienenzucht  unver- 
meidlich. 

Man  könnte  sich  hier  auf  den  Standpunkt 
stellen,  die  Bienenzucht  müßte  dann  eben  den  doch 
natürlich  berechtigten  Bestrebungen,  eine  immer 
intensivere  Forst-  und  Landwirtschaft  zu  betreiben, 
geopfert  werden.  Diese  Auffassung  wäre  auch 
gewiß  berechtigt,  wenn  die  Bienenzucht  nicht 
ein  Faktor  im  Wirtschaftsleben  wäre,  der  ein- 
fach nicht  auszuschalten  ist.  Wie  sehr  das  der 
Fall  ist,  davon  haben  allerdings  nur  wenige  eine 
richtige  Vorstellung. 

Die  dürren  Zahlen  der  Statistik  besagen,  daß 
wir  am  2.  Dez.  191 2  in  Deutschland  2636  337  Stöcke 
hatten,  die  an  Honig  und  Wachs  Werte  von  etwa 
20 — 30  Mill.  M.  abwarfen.  Solche  Angaben  liefern 
aber  nur  ein  sehr  einseitiges  und  höchst  unvoll- 
kommenes Bild  von  der  Bedeutung  der  Honig- 
biene, denn  auf  diesen  unmittelbaren  Gewinn 
könnten  wir  sicher  gut  verzichten.  Viel  größer, 
ja  unberechenbar  groß  ist  aber  der  unmittel- 
bare Nutzen  der  Biene  als  Bestäuber  unserer  Blüten; 
er  ist  viel  größer,  als  man  früher  auch  nur  ge- 
ahnt hat. 

Von  unseren  heimischen  Blüten  sind  ig^/o 
Windblütler,  fast  der  ganze  Rest  besteht  aus 
Insekienblütlern.  Welche  Rolle  bei  deren  Be- 
stäubung der  Honigbiene  zufällt,  dafür  einige 
Beispiele.  Nach  Beobachtungen  sind  von  den 
blütenbesuchenden  Insekten  21%  Hummeln  und 
einzeln  lebende  Hautflügler,  6"/^  andere  Insekten, 
aber  73  "j^  Honigbienen.  An  den  Blüten  eines 
Obstbaumes  zählte  man  6^2  °/o  Fliegen,  Wespen, 
Ameisen,  Käfer  und  andere  Insekten,  5 '  .,  ",'„  wilde 
Bienen  und  Hummeln,  aber  88"/^  Honigbienen. 
Dazu  kommt,  daß  die  Honigbienen  unülDertreff- 
liche  Bestäuber  sind.  Vermöge  ihres  mittellangen 
Rüssels  —  er  mißt  5,5  bis  6,5  mm  —  haben  sie  unter 
den  Blüten  einen  weiten  Spielraum.    Die  Biene  ist, 


weil  sie  in  volkreichen  Kolonien  überwintert  und 
nicht  einzeln  wie  Hummel,  Wespe  u.  a.  gleich  im 
Frühjahr,  besonders  zur  Baumblüte  im  Mai,  Juni 
in  ungezählten  Scharen  vorhanden;  auf  jeden  Obst- 
baum kommen  nach  Berechungen  etwa  5000  Tiere. 
Sie  ist  stetig  in  ihrem  Besuche,  d.  h.  sie  hat  die 
Eigentümlichkeit,  sich  bei  ihrem  Besuche  möglichst 
lange  bei  einer  Art  aufzuhalten,  eine  für  das  Zu- 
standekommen einer  erfolgreichen  Bestäubung 
naturgemäß  äußerst  wichtige  Tatsache.  Wie  weit 
diese  Stetigkeit  geht,  zeigen  folgende  Beobach- 
tungen: Herrn.  Müller  sah  gezeichnete  Bienen 
10,  II  Tage  lang  an  einer  Pflanzenart.  Nach 
Chris tey  besuchte  eine  Biene  117  mal  nach- 
einander Blüten  derselben  Art.  Nach  Betts 
stammten  von  1500  Pollenhöschen  91  %  derselben 
Art;  nur  in  sehr  trachtarmen  Monaten  findet  man 
auch  gemischte  Pollenklumpen.  Referent  kam 
bei  seinen  Studien  zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen. 
Will  man  die  gewaltig  wichtige  Aufgabe  einiger- 
maßen übersehen,  die  die  im  Sommer  unermüd- 
lich von  Blüte  zu  Blüte  fliegenden  Bienen  vollführten 
—  ihre  Zahl  hat  man  für  Deutschland  auf 
1000 000 000 000  Einzeltiere  im  Mai,  Juni  ver- 
anschlagt —  wirft  man  am  besten  einen  Blick 
auf  ihre  Tätigkeit  in  unseren  Obstgärten.  Cook 
wies  nach,  daß  Zweige  von 

mit  Gaze  bedeckt  unbedeckt 

Äpfeln 2"!a 20  "/o 

Birnen o^ S^  lo 

Kirschen    .     .     .     .     3  "/„ 40 "/(, 

Stachelbeeren      •     .     g'/o 27  */„ 

Früchte  brachten.  Zander  hat  im  vorigen  Herbst 
ähnliche  Beobachtungen  gemacht.  Es  brachten 
von  den  Blüten  Früchte 

mit  Gaze  bedeckt  unbedeckt 

Stachelbeeren  .     .     24,6  */o 6o,0  "/o 

Süßkirschen     .     .       1,3 "/(, i4,6"/o 

Sauerkirschen       .       o    "/„ lO,6*/o 

Birnen    ....       o    «/j 8,1  »/o 

Äpfel      ....       0,5  «/o 6.9  »/o 

Von  65  Äpfelsorten  waren  nur  19,  von  30 Birnen- 
sorten nur  4,  von  41  Pflaumensorten  nur  21  und 
von  21  Kirschsorten  nur  5  überhaupt  der  Selbst- 
bestäubung zugänglich.  Von  308 1  mit  eigenen 
Pollen  bestäubten  Birnenblüten  entstanden  nur  5 
winzige  Früchte,  während  man  bei  Fremdbestäubung 
auf  3  Blüten  eine  Frucht  erwarten  kann.  Die  aus 
Fremdbestäubung  hervorgegangenen  Äpfel  sind 
den  anderen  an  Größe  und  Aussehen  weit  über- 
legen. In  Pfirsichtreibhäusern,  wo  man  früher  die 
Bestäubung  mühsam  auf  künstlichem  Wege  herbei- 
führte, stellt  man  heute  1—2  Tage  ein  Bienenvolk 
hinein.  Die  Folge  ist  oft  ein  übermäßig  starker 
Fruchtansatz.  In  den  Vanilleplantagen  Ceylons 
ist  die  Bestäubung  sicherer,  der  Preis  der  Schote 
erheblich  billiger  geworden,  seitdem  man  die 
Biene  eingeführt  hat.  50  Völker  sollen  täglich 
15  Mill.  Vanilleblüten  bestäuben  können.  Auf 
Guadeloupe   hat  sich   seit   Einführung   der  Biene 


332 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


der  Ertrag  der  Kaffee-  und  Kal<aobäume  ver- 
doppelt. 

Das  sind  Tatsachen,  die  uns  die  ganze  Unent- 
behrlichkeit  der  Honigbiene  für  unser  gesamtes 
Wirtschaftsleben  klar  vor  Augen  führen !  Da  aber 
die  Biene  im  wilden  Zustand  weder  auf  unseren 
Äckern,  noch  in  unseren  Forsten  Raum  findet, 
muß  es  Imker  geben,  die  sie  züchten,  die  sich 
aber  nur  in  genügenden  Mengen  finden,  wenn  die 
Bienenhaltung  nutzbringend  ist.  Es  ergeben  sich 
daher  zwei  wichtige  Fragen:  Wie  läßt  sich  die 
Bienenweide  verbessern?  Wie  läßt  sich  die  Er- 
tragsfähigkeit der  Biene  steigern? 

Die  mannigfachsten  Vorschläge  und  Versuche 
sind  gemacht,  die  Honigquelien,  die  man  zerstört 
hat,  wenigstens  teilweise  wieder  herzustellen :  Vor 
allem  Hebung  des  Obstbaues,  Bepflanzung  von 
Straßen  und  Plätzen  mit  honig-  und  pollen- 
spendenden Bäumen,  Beschaffung  von  Hecken 
und  Knicks,  die  auch  im  Interesse  des  Vogel- 
schutzes sind,  vermehrter  Anbau  solcher  tech- 
nischen Pflanzen  und  Ölfrüchte,  die  auch  den 
Bienen  zu  gute  kommen,  Beratung  der  Stadt- 
behörden und  der  Forst-  und  Landwirtschafts- 
behörden im  Sinne  der  Imkerei  bei  der  Anlage 
von  Baumgängen,  öffentlicher  Plätze  und  Stadt- 
parks, bei  der  Herstellung  von  Vogelschutzgehegen, 
Musterviehwirtschaften  usf 

Als  weiteren  mittelbaren  Weg,  die  Weide  zu 
verbessern,  soll  der  Wanderbetrieb  dem  Imker 
mehr  als  bisher  empfohlen  werden.  Er  soll  ver- 
anlaßt werden  nach  solchen  Gegenden  hin- 
zuwandern, wo  eine  überreiche,  aber  zeitlich  oft 
sehr  begrenzte  Honigquelle  sich  erschließt,  so  daß 
die  heimischen  Bienen  sie  nicht  voll  ausnützen 
können,  wie  die  Obstblüte  vieler  Gegenden,  die 
Rapsblüte,  die  Buchweizen-  und  Fenchelfelder,  ge- 
wisse Waldgebiete  mit  reichem  Tannenhonig  und 
vor  allem  die  Heidegebiete.  Von  jeher  war  die 
Lüneburger  Heide  das  Eldorado  des  Wanderimkers. 
Über  400000  Völker  werden  alljährlich  z.  T.  auf 
Extrazügen  dorthin  geschafift,  um  nach  der  Heide- 
blüte mit  durchschnittlich  20 — 30  //.  Honig  wieder 
heimgeholt  zu  werden. 

Ferner  soll  die  Ertragsfähigkeit  der  Bienen- 
zucht gehoben  werden  durch  die  bessere  theo- 
retische Ausbildung  der  Imker.  Denn  ohne  ein 
Mindestmaß  von  Kenntnissen  ist  der  moderne  Be- 
trieb nicht  durchführbar.  Die  geringe  Fühlung 
mit  der  Wissenschaft  ist  immer  noch  der  Krebs- 
schaden, an  dem  die  Bienenzucht  leidet. 

Dann  ist  die  Verbesserung  der  Leistungsfähig- 
keit unserer  Bienen  durch  sorgfältige  Auslese  und 
Rassenzüchtung  mit  allen  Mitteln  anzustreben.  Das 
ist  erreichbar  durch  peinlichste  Sorgfalt  bei  der 
Zucht  der  Königinnen.  Unerläßlich  ist  dabei,  die 
Königin  nur  von  Völkern  zu  gewinnen,  die  von 
erprobtem  Sammeleifer,  von  möglichst  großer 
Schwärmfaulheit,  von  großer  Baulust  und  aus- 
gesuchter Baugeschicklichkeit  ist.  Die  heimische 
dunkle    Rasse   ist    von    dem    fremden    Blute    zu 


reinigen,  das  sie  infolge  der  sinnlosen  Einfuhr 
fremder  Rassen  in  sich  aufgenommen  hat.  Um 
hier  zielbewußt  vorgehen  zu  können,  müssen  die 
Vererbungsgesetze  in  berufenen  Instistuten  weiter 
studiert,  müssen  reine  Stämme  gezüchtet  werden. 
Die  gleiche  Aufmerksamkeit  ist  bei  der  Zucht  von 
Drohnen  nötig.  Da  die  Begattung  in  der  Luft 
vollzogen  wird,  sich  also  der  menschlichen  Über- 
wachung entzieht,  hat  man  in  entlegenen,  „bienen- 
freien" Gegenden  sog.  „Belegstationen"  errichtet, 
wo  man  nur  Völker  mit  auserlesenen  Drohnen 
aufstellt,  und  wohin  die  jungen  Königinnen  ge- 
schickt und  zum  Hochzeitsfluge  zugelassen  werden, 
bevor  sie  dem  praktischen  Imker  zur  Vermehrung 
und  Umweiselung  seiner  Völker  überlassen  werden. 
Der  vorgeschlagene  und  bereits  beschrittene  Weg 
ist  mühsam  und  bis  zum  Ziele  weit,  aber  er  ist 
planmäßig  und  verspricht  Erfolg.  Schon  der 
praktische  Imker  kann  —  und  es  geschieht  schon 
recht  häufig  —  beim  Vermehren  seiner  Völker 
hier  viel  tun,  wenn  er  keine  minderwertigen  Völker 
auf  seinem  Stande  duldet  und  nur  erprobten 
Völkern  gestattet,  Drohnen  zu  erzeugen.  Da  der 
Ersatz  einer  Königin  durch  eine  andere  im 
modernen  Betriebe  keine  Schwierigkeiten  macht, 
die  Arbeitsbiene  aber  im  Sommer  nur  wenige 
Wochen  alt  wird,  ist  bei  gutem  Willen  hier  viel 
zu  erreichen  durch  Ausmerzung  des  Minderwertigen 
und  Förderung  des  Tüchtigen.     Dr.  L.  Olufsen. 

Selbstleuchtende  Regenwürmer.  *)  Professor 
Linsbauer  arbeitete  in  der  Dunkelkammer  des 
Pflanzenphj^siologischen  Instituts  zu  Wien  mit 
Keimlingen  der  Sonnenrose,  die  in  Sägespänen 
aufgezogen  waren,  als  er  plötzlich  in  der  Kultur- 
schale einen  hellen  Lichtpunkt  bemerkte.  Nach 
langem  Suchen  fand  er  auf  dem  Arbeitstisch  einen 
kleinen  Regenwurm  von  3—4  cm  Länge,  dessen 
Hinterende  lebhaft  in  grünlichgelbem  Lichte  err 
strahlte,  das  aber  bald  erlosch  und  dann  nicht 
wieder  zur  Erscheinung  kam.  Als  er  aber  den 
Wurm  durchschnitt,  erstrahlten  die  Schnittflächen 
in  hellstem  Glänze.  Ebenso  konnten  Regenwürmer 
zum  Leuchten  gebracht  werden  durch  rasches 
Töten  durch  Chloroform,  Äther,  Kreosot,  Alkohol, 
aber  nicht  durch  Formol  und  Sublimat.  Nachdem 
das  Tier  nach  einigen  Minuten  regungslos  ge- 
worden war,  traten  zwischen  den  Leibesringen 
helleuchtende  Flecken  auf.  Noch  besser  gelang 
der  Versuch,  wenn  mehrere  Tiere  nach  der 
Narkose  in  der  Reibeschale  mit  Sand  zerrieben 
wurden;  Reibschale,  Sand  und  Pistill  leuchteten 
so  stark,  daß  man  das  Zifferblatt  einer  Uhr  er- 
kennen konnte.  Selbst  hartgefrorene  Würmer 
leuchteten  noch  beim  Zerreiben,  dagegen  erlosch 
die  Erscheinung  im  sauerstofffreien  Raum,  sowie 
bei  einer  Temperatur  von  45 — 50".  Daraus  folgt, 
daß  es  sich  um  ein  Selbstleuchten  handelt  und 
nicht  um  Leuchtbakterien.     Später  gelang  es  dem 

')   Umschau  XXI,  4. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


333 


Vei  fasser,  auch  den  unverletzten  Wurm  zum 
Leuchten  zu  bringen,  indem  er  ihn  mit  einem 
Haarpinsel  leise  bestrich.  Berührung  des  Hinter- 
leibes hatte  Absonderung  eines  feinen  Tröpfchens 
zur  Folge,  das  in  hellem  Lichte  erstrahlte.  Wurden 
diese  Tröpfchen  durch  Fließpapier  aufgesogen,  so 
leuchteten  sie  noch  nach  einem  Tage,  wenn  sie 
angefeuchtet  wurden.  Verfasser  schließt  aus  diesen 
oft  wiederholten  Versuchen,  „daß  das  Leuchten 
auf  ganz  schwache  mechanische  Reize  hin  erfolgt 
und  daß  die  Sekretabsonderung  ausschließlich  von 
dem  Hinterleibsende  ausgeht".  Heycke. 

VVildkaninchenvorkommen  in  Griechenland. 
Das  Testländische  Griechenland  gilt  neben  der 
iberischen  Halbinsel  als  eines  der  Hauptheimats- 
länder des  europäischen  Wildkaninchens  {Orycfo- 
lagtis  cnmculns  L.).  Heutigentags  allerdings  sind 
Wildkaninchen  im  eigentlichen  Griechenland  kaum 
mehr  anzutreffen,  sie  haben  sich  nur  mehr  auf  einigen 
schwach  bewohnten  oder  ganz  unbewohnten  Inseln, 
wie  sie  den  griechischen  Küsten  zahlreich  vor- 
gelagert sind,  zu  erhalten  vermocht.  Viele  Inseln 
heißen  denn  auch  nach  ihrem  Vorkommen  gerade- 
zu „Kanincheninseln".  Über  den  Besuch  auf  einer 
solchen  Kanincheninsel,  auf  der  Inselgruppe  Petali 
bei  Euböa,  berichtet  Eugen  Baumann  in  der 
„Deutschen  Jägerzeitung"  (1916/17  Nr  30).  Nicht 
überall  auf  der  kleinen  Insel  sind  die  Kaninchen 
anzutreffen,  aber  dort,  wo  die  Bodenverhältnisse- 
der  Anlage  ihrer  Erdbauten  günstig  sind,  finden 
sie  sich  in  Massen,  sie  benützen  dann  auch  Erd- 
spalten und  Felslöcher  als  Unterschlupf.  Der 
Schaden,  den  die  Kaninchen  auf  der  Insel  an- 
richten, ist  kein  nennenswerter,  da  der  dortige 
Kulturbetrieb  kein  sehr  intensiver  ist,  höchstens 
die  Maisfelder  leiden  da  und  dort  einigermaßen 
unter  den  Beschädigungen  der  Nager.  Lediglich 
bei  strengen  Wintern,  wie  sie  allerdings  in  diesen 
Breiten  nur  sehr  selten  einsetzen,  können  die  Ka- 
ninchen in  den  Weinbergen  durch  Abnagen  der 
Rebaugen  Schaden  .stiften,  im  Sommer  aber  werden 
dieRebenkulturen  von  denTierenkaum  heimgesucht. 
Haarraubwild,  wie  Füchse  oder  Marder,  kommen 
auf  der  Insel  nicht  vor,  so  daß  als  Feinde  der 
Kaninchen  außer  verschiedenen  Schlangenarten 
hier  nur  einiges  Federraubwild  (Uhu,  Habicht  usw.) 
in  Betracht  kommt.  Gerade  diesem  Umstände, 
dem  gänzlichen  Fehlen  jeglichen  Haarraubwildes, 
vornehmlich  der  Marderarten,  die  in  den  Erdbauten 
unter  der  Kaninchenbrut  vernichtend  hausen  können, 
ist  es  wohl  überhaupt  zuzuschreiben,  daß  die  Wild- 
kaninchen auf  den  griechischen  Inseln  nicht  ebenso 
wie  auf  dem  Festlande  heute. bereits  ausgerottet 
sind.  H.  W.  Frickhinger. 

Physiologie.  Winterst  ein')  weist  auf 
einige   neue   methodische  Wege  hin,   um   die  os- 

•)  Hans  Winterstein,  Die  Untersuchung  der  osmo- 
tischen und  kolloidalen  Eigenschaften  tierischer  Gewebe. 
Wiener  med.   Wochenschr.,   1916. 


motischen  und  kolloidalen  Eigenschaften  tierischer 
Gewebe  jede  für  sich  zu  untersuchen.  Auch  hat 
er  auf  eine  neue  und  sehr  einfache  Methode  hinge- 
wiesen, um  die  Permeabilität  tierischer  Membranen 
zu  untersuchen,  eine  Methode,  die  auch  gestattet, 
die  Permeabilität  für  Wasser  zu  untersuchen 
Das  ist  eine  Frage,  die  bisher  fast  ganz  un 
berücksichtigt  gelassen  wurde.  Den  Untersuchungen 
die  an  Muskeln  ausgeführt  worden  sind,  kommt  je 
doch  eine  allgemein-physiologische  Be 
deutung  zu,  und  namentlich  die  Pflanzen 
Physiologie  wird  sich  dieser  Methoden  sicher 
lieh  mit  guten  Erfolg  annehmen. 

Die  von  Winterstein  angewandte  Me- 
thode zur  Untersuchung  der  Permeabilität  tierischer 
Gewebe,  unabhängig  von  etwaigen  Änderungen 
des  osmotischen  Druckes  im  Zellinnern  oder  des 
Quellungsvermögens,  besteht  in  P'olgendem.  Aus 
den  sehr  zarten  seitlichen  Bauchmuskeln  weiblicher 
Wasserfrösche  werden  kreisrunde  Stücke  heraus- 
geschnitten und  über  die  offenen  Enden  kleiner 
Glaszylinder  von  etwa  2  ccm  Inhalt  gebunden. 
Die  Glaszylinder  sind  mit  einer  Lösung  von  be- 
kannter Zusammensetzung  gefüllt.  „Auf  diese 
Weise  erhält  man  künstliche,  an  zwei  Stellen  von 
Muskelmembranen  begrenzte  Zellen  von  genau 
bekanntem  Zelhnhalt,  dessen  Menge  durch  Wägung 
bestimmt  wird,  indem  man  von  dem  Gesamtgesicht 
der  Zelle  dasjenige  des  Glasröhrchens  und  der 
Muskelmembranen  abzieht."  Die  Zellen  kommen 
nun  für  eine  bestimmte  Zeit  in  die  Lösung,  deren 
osmotische  Wirksamkeit  untersucht  werden  soll, 
und  am  Ende  des  Versuchs  werden  sie  wieder 
gewogen.  So  wird  die  durch  die  Membranen  hindurch 
erfolgte  Wasserverschiebung  ermittelt.  ,,Auf  diese 
Weise  wird  offenbar  unabhängig  von  allen  sonstigen 
Einflüssen  ausc  hl  ieß  lieh  die  Durchgängig- 
keit untersucht,  welche  die  Muskel- 
membranen unter  den  gegebenen  Be- 
dingungen aufweise n."  Diese  Methode  ge-_ 
stattet  es,  sowohl  die  Permeabilität  für  Salze,  als 
diejenige  für  Wasser  zu  ermitteln.  Man 
kann  den  Salzgehalt  der  künstlichen  Zelle  durch 
vorherige  Chlortitration  der  benutzten  Lösung  be- 
stimmen und  am  Ende  des  Versuches  den  Inhalt 
der  Zelle  titrieren.  Die  eingetretene  Änderung 
des  Salzgehaltes  im  Zylinder  zeigt  die  Größe  der 
Salzdiffusion  und  damit  die  Salzpermeabilität  an, 
während  über  die  Wasserpermeabilität  die  Wägung 
Aufschluß  gibt. 

Winterstein  hat  mit  Hilfe  seiner  Methode 
die  Veränderungen  untersucht,  welche  die  Perme- 
abilität für  Wasser  unter  verschiedenen  Bedingungen 
erfährt.  Er  erläutert  diese  Untersuchungen  an 
folgendem  Beispiel.  Von  zwei  mit  IMuskeln  des- 
"  selben  Frosches  bespannten  künstlichen  Zellen 
wird  die  eine  mit  physiologischer  Kochsalzlösung, 
die  andere  mit  physiologischer  Kochsalzlösung 
-|-  5%  Alkohol  gefüllt.  Beide  Zellen  werden  in 
hypotonische  Lösungen  getaucht,  wobei  die  für 
die    zweite  Zelle    einen    Zusatz    von    57o  Alkohol 


334 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


bekommt.  Man  findet  nach  einiger  Zeit,  daß  die 
zweite  Zelle,  trotz  gleich  großer  Druckdifferenz,  eine 
viel  geringere  Gewichtszunahme  aufweist  als  die 
erste.  Das  ist  nicht  etwa  dadurch  bedingt,  daß 
die  Durchlässigkeit  des  Muskels  für  Salze  unter 
dem  Einfluß  des  Alkohols  zugenommen  habe. 
Denn  titriert  man  den  Inhalt  der  Zelle,  so  über- 
zeugt man  sich,  daß  ihr  Salzgehalt  unverändert 
geblieben  ist.  Die  geringere  Gewichtszunahme 
unter  dem  Einfluß  des  Alkohols  kann  also  nur  so 
erklärt  werden,  daß  eine  starke  Herab- 
setzung derDurchlässigkeit  für  Wasser 


zustandegekommen  ist.  Dieses  Moment  wird 
in  einer  Theorie  der  Narkose  berücksichtigt 
werden  müssen. 

Winterstein  hofft,  daß  die  von  ihm  an- 
gegebenen Methoden  nicht  auf  den  Muskel  be- 
schränkt bleiben  werden.  Alle  in  Membranform 
erhältlichen  Gewebe  können  in  derselben  Weise 
auf  ihre  Permeabilität  untersucht  werden  wie  in 
der  Muskel.  Vielleicht  werden  sich  dabei  neue 
wertvolle  Aufschlüsse  über  die  physikalisch- 
chemischen Eigenschaften  der  Zellen  ergeben. 
A.  Lipschütz,  Bern. 


Leidecker,  Carl,  Im  Lande  des  Paradies- 
vogels. Ernstes  und  Heiteres  aus  Deutsch- 
Neuguinea.  Leipzig  1916,  E.  Haberland.  —  3  M. 
In  einer  Reihe  loser  Skizzen,  Erzählungen  und 
Stimmungsbilder  schildert  der  Verf  aus  eigener 
Erfahrung  das  Leben  der  Kolonisten  in  Neuguinea, 
in  dessen  Abgeschiedenheit  schon  die  Ankunft 
eines  Dampfers  ein  Fest  bedeutet,  das  aber  durch 
die  wundervolle  Natur  mit  ihren  mannigfachen 
und  eigenartigen  Schönheiten  immer  neuen  Reiz 
und  Inhalt  bekommt.  Gerade  diese  Naturein- 
drücke sind  mit  einem  unleugbaren  Feingefühl 
für  das  Charakteristische  geschildert  und  geben 
eine  gute  Vorstellung  von  den  Eigenarten  des 
tropischen  Milieus.  Das  hübsche,  frisch  und  ge- 
schickt, wenn  auch  gelegentlich  recht  pathetisch 
geschriebene  Bändchen,  bei  dessen  Lektüre  auch 
der  Leser  nicht  zu  kurz  kommt,  der  auf  eine  an- 
genehme Weise  unterhalten  sein  will,  sei  Tropen- 
und  Kolonialfreunden  empfohlen.  Miehe. 


Bticherbesprechimgen. 

in  deren  Uferrande,  Wäldern  und  Dörfern  mancher 
so  lange  gehaust  hat  und  noch  haust,  verhältnis- 
mäßig wenig  berücksichtigt  ist. 


Miehe. 


Meißner,  Carl,  Das  schöne  Kurland.  Mit 
it)0  Bildern.  München  1917,  R.  Piper  &  Co.  — 
2,80  M. 
Die  zahlreichen  Krieger,  denen  in  diesem 
Kriege  (wie  auch  dem  Rezensenten  selber)  das 
schöne  Land  zwischen  Ostsee  und  Düna  mit  seinen 
herrlichen  Wäldern,  den  vornehmen  Herrensitzen, 
traulichen  Pastoraten  und  anheimelnden  Städtchen 
ans  Herz  gewachsen  ist,  seien  auf  diesen  hübschen, 
mit  dem  kurländischen  Wappen  geschmückten 
Band  aufmerksam  gemacht,  der  die  Erinnerungen 
an  die  große  Zeit  zu  befestigen  und  zu  beleben, 
trefflich  geeignet  ist.  Der  Verfasser  schildert 
Land,  Bevölkerung  und  Landschaft  sowie  die  Ge- 
schichte Kurlands  von  den  ersten  Zeiten  der 
deutschen  Kolonisation  bis  auf  die  Gegenwart. 
Zahlreiche  Bilder,  nach  Photographien  sowie 
nach  Zeichnungen  des  kurländischen  Malers 
W.  S.  Stavenhagen  vortrefflich  wiedergegeben, 
beleben  den  Text.  Schade  (aber  vermutlich  auf 
die  vom  Verf  in  seiner  Vorrede  angedeuteten  Gründe 
zurückzuführen)  ist  es, daß  gerade  dieDünalandschaft, 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  Meeresfauna  West- 
afrikas, herausg.  von  W.  Michaelsen.  Bd.  II, 
Lief  I.  66  S.  8».  i  Taf  und  28  Textabb. 
Hamburg  1916.  —  Preis  5  M. 
Unter  den  von  O.  Pesta  (Wien)  bearbeiteten 
Copepoden  (16  Arten)  sind  zwei  neue  Harpactiden 
aus  den  Gattungen  Harpacticus  und  Amphiascus 
besonders  zu  erwähnen.  H.  Balss  (München)  be- 
richtet über  Dccapoda  macrura  und  anomura 
(außer  Paguriden)  sowie  über  die  Stomatopoden 
des  Küstengebietes  Westafrikas;  unter  den  Ano- 
muren  ist  eine  neue  Gebicula- h.xX.  {Jiupferi)  be- 
achtenswert, deren  nächster  und  einziger  Verwandter 
(G.  exigua)  in  der  Andamanensee  in  Tiefen  von 
330—450  m  gefunden  worden  ist  —  die  neue 
Art  dürfte  ebenfalls  ein  Tiefseebewohner  sein,  der 
nur  durch  das  kalte  Aufiriebwasser  an  die  Küste 
gelangt  ist.  Die  Cumacea  und  Schizopoda  der 
Küsten  Westafrikas  hat  C.  Zimmer  (München) 
bearbeitet.  Auch  unter  diesen  Krustern  ist  die 
Artenzahl  gering,  da  nur  2  Cumaceen  (i  davon 
neu)  und  5  Schizopoden  angeführt  werden  können, 
unter  den  letzteren  allerdings  eine  neue  zu  den 
Leptomysinen  gehörige  Gattung  {^Afroniysis),  die 
Bathymysis  Holt  et  Tatters.  am  nächsten  steht. 
M.  Braun. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  undSü^wasser- 
fauna  Deutsch-Südwestafrikas,   herausg.   von 
W.    Michaelsen.     Lief.  4.    73  S.   8».     i   Taf 
und  26  Textabb. ,  Hamburg  1916.  —  Preis  5  M. 
Die    unter  der  Leitung  von  W.  Michaelsen 
191 1      ausgefürte     Hamburger     Deutsch  Südwest- 
afrikanische Studienreise  hat  nur  wenige  Süßwasser- 
nematoden  mitgebracht;  das  ist  bei  der  geringen 
Größe    dieser  Formen,    ihrer   versteckten    Lebens- 
weise, der  Wasserarmut  des  untersuchten  Gebietes 
und   den    sonstigen  Aufgaben    einer    solchen    Ex- 
pedition   verständlich    genug.      Die    Bearbeitung 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


335 


des  Materials  durch  G.  Stein  er- Zürich  ergab 
5  Arten,  von  denen  3  neu,  die  beiden  anderen 
bereits  aus  Europa  bekannt  sind;  dazu  kommt 
noch  eine  neue  Mermithide  und  eine  seit  langem 
bekannte  Oxyiiris-Axi  {sf'üiicaiida  Duj.).  Unter 
Berücksichtigung  der  Literatur  über  afrikanische 
Süßwassernematoden  läßt  sich  heute  schon  sagen, 
daß  die  Genera  kosmopolitische  Verbreitung  auf- 
weisen und  sicherlich  auch  eine  ganze  Anzahl 
von  Arten.  —  In  demselben  Heft  behandelt 
H.  Fr  lese -Schwerin  die  Apidae  des  Gebietes 
(81  Arten,  darunter  14  oder  15  neu).  Die  IVIehr- 
zahl  der  Arten  sind  kleine,  unscheinbar  behaarte  For- 
men, die  zum  Teil  kaum  noch  an  Bienen  erinnern; 
doch  fehlen  nicht  stärker  behaarte  und  selbst  leb- 
hafter gefärbte  Arten.  Die  Spärlichkeit  der  Schma- 
rotzerbienen (s  Arten)  ist  wohl  bedingt  durch  die 
kümmerliche  Lebensfristung  ihrer  Wirte  (Sammel- 
bienen). Da  die  nächsten  Verwandten  der  süd- 
westafrikanischen Bienen  in  Rhodesia  und  im  Kap- 
lande leben,  dürfte  von  Osten  oder  Süden  her 
die  Zuwanderung  erfolgt  sein;  vielleicht  ist  der 
heutige  Bienenbestand  Deutsch-Südwestafrikas  nur 
der  Rest  einer  in  früheren  Perioden  bei  günstigeren 
Lebensbedingungen  weit  reicher  entwickelt  ge- 
wesenen Bestandes,  womit  die  Armut  an  Indi- 
viduen übereinstimmen  würde.  M.  Braun. 


Oettinger,  Walter,  Privatdozent  Dr.  med.,  Die 
Rasse  nhygiene  und  ihre  wissenschaft- 
lichen Grundlagen.  Berlin  1914,  Fischers 
Medizinische  Buchhandlung  H.  Kronfeld.  — 
1,20  M. 

Der  Verfasser,  Hygieniker  in  Breslau,  prüft  in 
diesem  außerordentlich  klaren  und  besonnenen 
Vortrage  die  Grundlagen  der  Rassenhygiene.     Er 


erkennt  ihre  große  Bedeutung  grundsätzlich  an, 
weist  ihr  auch  selber  bestimmte,  nächste  Auf- 
gaben zu,  bezweifelt  aber  —  und  darin  kann  man 
ihm  durchaus  beipflichten  —  an  der  Hand  sorg- 
fältiger, kritischer  Erwägungen,  daß  die  nur  auf 
dem  Wege  exakter  Vererbungsforschung  gewinn- 
baren Grundlagen  bereits  so  weit  gefestigt  seien, 
daß  sich  praktische,  ja  gesetzliche  Maßnahmen 
von  so  ungeheuerer  Tragweite  rechtfertigen  ließen, 
wie  sie  viele  begeisterte  Vorkämpfer  der  Rassen- 
hygiene unbedenklich  fordern.  Nicht  einmal  die 
gemäßigtere  Forderung,  das  Publikum  aufzuklären 
und  für  die  rassenhygienischen  Reformbestrebungen 
vorzubereiten,  will  er  gelten  lassen,  indem  er 
einwendet,  daß  für  die  Aulklärung  der  öffent- 
lichen Meinung  gerade  das  Beste  und  Sicherste 
gut  genug  sei.  Über  die  rassenhygienische  Ge- 
setzgebung einzelner  nordamerikanischer  Staaten 
urteilt  er  sehr  zurückhaltend ,  sie  sei  nicht  ge- 
eignet, theoretische  Bedenken  zu  besiegen.  Einst- 
weilen sei  das  Fortschreiten  auf  der  gesicherten 
Bahn  allgemein-hygienischer  Fürsorge  der  beste 
Weg,  um  biologisch  bedingte  soziale  Schäden  zu 
bekämpfen  und  zu  vermindern,  das  ist  der  immer 
wieder  durchklingende  Grundton  seiner  kritischen 
Erörterungen. 

Wir  können  die  Schrift  Oettinger's,  die 
trotz  knapper  Form  eine  vortreffliche  Übersicht 
über  die  rassenhygienischen  Probleme  und  Be- 
strebungen gewährt,  angelegentlich  empfehlen. 
Indem  sie  unerbittlich  auf  die  wissenschaftlichen 
Grundlagen  zurückgreift,  wird  sie  ein  sicherer  und 
beruhigender  Führer  für  viele  sein,  die  diesem 
durch  Schlagworle  und  Schiefheiten  Unberufener, 
Halb-  und  Scheinbarberufener  verwirrten  Gebiete 
ratlos  gegenüberstehen.  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Auffallende  Phanerogamen  auf  westlichen  und  östlichen 
Kriegsschauplätzen.  Die  Klora  Mitteleuropas  ist  im  großen 
und  ganzen  dieselbe.  Auffallend  waren  in  den  weiter  unten 
angeführten  Gebieten  eine  Reihe  von  Gewächsen,  die  in 
Deutschland  verhältnismäßig  selten  vorkommen,  hier  dagegen 
häufig  angetroffen  wurden  und  sich  zu  prächtigen,  geradezu 
Musterexemplaren  entwickelt  hatten. 

In  Frankreich. 

Interessant  sind  die  Pflanzengemeinschaften  der  kleinen 
Waldungen  und  Gehölze  zwischen  der  Champagne  und  den 
Argonnen ,  sowie  im  Kanton  Defendu,  westlich  Metz.  Die 
Hauptwaldbäume  sind  Eiche  (Quercus  pedunculata)  und  Birke 
(Betula  alba).  Reichhaltiges  üppiges  Unterholz,  wie  es  in 
Deutschland  selten  vorkommt,  ist  vertreten.  Es  setzt  sich  fast 
überall  zusammen  aus  strauchartig  gewachsenen  Eichen 
(Quercus  peduncuLita),  Zitterpappeln  (Populus  tremula),  Hasel- 
sträuchern  (Corylus  Avellana),  Kornelkirsche  (Cornus\ Schnee- 
ball (Viburnus)  und  Liguster  (Ligustrum  vulgare).  Überall  in 
den  Waldungen  sind  die  großblütige  Lonicera,  die  im  deutschen 
Vaterlande  als  Je  länger  Je  lieber  an  Lauben  gezogen  wird, 
sowie  Efeu  (Hedera  helix)  üppig  wachsend,  bis  hoch  in  die 
Eichbäume  hinein  rankend  und  klimmend,  anzutreffen. 

Im  Bois  de  Forge,  Bois  de  l'Echelle  und  Bois  de  Ville 
bei   Cernay    en    Dormois    fanden    wir    Bienen-    und    Fliegen-, 


Helm-  und  Männliche  Orchis  (Ophrys  myodes  und  muscifera, 
Orchis  niilitaris  und  mascula)  in  prächtigen ,  kräftig  ent- 
wickelten Exemplaren,  wie  sie  z.  B.  in  den  Kalkgebicten  bei 
Freiburg  a.  U.  und  bei  Jena  nie  zu  finden  sind.  Desgleichen 
stand  dort  häufig  Waldbirnbäumchen  (Pirola  major).  Im 
Bois  de  la  Malmaison  (ebenda  gelegen)  stand  neben  einer 
kleinen  Alandart  (Inula)  eine  bis  2  m  Höhe,  desgleichen 
wuchs  dort  Baldrian  (Valeriana  officinalis),  von  dem  die 
größesten  Pflanzen  fast  2,50  m  hoch  waren,  die  wohlriechende 
Maiblume  (Convallaria  majalis)  stand  dort  in  überreichen 
Mengen  und  mit  Früchten  bis  Schlehengröße  besetzt.  Im 
Kanton  Defendu  (Lorraine)  war  auf  Wiesen  hober,  blau- 
blühender Akelei  (Aquilegia  vulgaris)  häufig,  desgleichen  neben 
Platterbse  (Lathyrus  tuberosus)  eine  gleiche  rotblühende  Art 
mit  schmalen,  grasartigen  Blättern.  In  allen  angegebenen 
Waldungen  tritt  eine  Rautenart  gemein  auf,  ebenso  eine  schön 
rotblühende  Brombeerart. 

Im  Dormoisgebiet  zwischen  Bouconville  und  Cernay  en 
"Dormois  stand  Symphytum  officinale  (Schwarzwurz)  weiß-,  rosa- 
und  violettblührnd  nebeneinander,  Blutweiderich  (Lythrum 
salicaria)  zeigte  herrliche  blutrote,  an  anderen  Stellen  weißliche 
und  bläuliche  Blütenblattfarbe,  auch  Achillea  millefolium 
(Schafgarbe)    zeigte   Farbenvariationen  in  weiß,    rosa   und  rot. 

Überall  auf  den  Äckern  in  Lorraine,  in  der  Champagne 
und    in    den  Argonnen    sind  kräftiger  Feldwachtelweizen  (Me- 


336 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  24 


lampyrum)  mit  lief  dunkclroten  großen  Wirtshausschildern, 
sowie  roter  und  blauer  Ackergauchheil  (Anagillis  arvensis  und 
caerulea)  massenhaft  anzutreffen. 

In  Südgalizien. 

In  den  Wäldern  Sudgaliziens 
läufern  der  Karpathen  bei  Stanislau 
(Quercus  pedunculata)   ebenfalls  di 


den  nördlichen  Aus- 
Uzin  ist  der  Eichbaum 
plbaum,    den  Haupt- 


bestandteil des  Unterholzes  liefert  der  Haselstrauch  (Corylus 
Avellana),  der  hier  im  August  1916  mit  überreichen  Früchten 
beladen  war;  einen  derartigen  häufigen  Fruchtansatz  habe  ich 
in  anderen  Ländern  (Frankreich,  Italien,  Spanien,  Deutschland) 
nie  beobachten  können.  Die  Flora  des  Waldbodens  zeigt 
manche  Eigentümlichkeit,  massenhaft  blühte,  kräftig  entwickelt, 
die  große  Astranz  (Astrantia  major).  Häufig  wachsen  Türken- 
bund (Lilium  martagon),  Haselwurz  (Asarum  europaeum),  zwei- 
blättrige Schaltenblume  (Platanthera  bifolia)  mit  großen  (nicht 
so  zwergenhaft  wie  bei  uns  entwickelten),  dunkelgrünen 
Blättern,  außerdem  eine  bis  '/i  m  hohe,  breitere  Lanzettblätter 
tragende  Euphorbia,  die  leider  nicht  bestimmt  werden  konnte, 
sowie  Waldwachtelweizen  (Melampyrum  silv.)  in  dichten  Be- 
ständen mit  herrlichen  tieldunkelvioletlen  Wirtshausschildern. 
Auf  den  etwas  feuchten  Waldwiesen  fielen  besonders  auf; 
Odontites  rubra  (Zahntrost),  Euphrasia  officinalis  (Augentrost), 
Parnassia  vulgaris  (Sumpfhcrzblatt),  Kleeseide  (Cuscuta)  in 
überreichem  Maße,  und  ein  über  l  m  hohes,  lilienartiges 
Staudengewächs,  mit  mächtigen  königskerzenartigen  Blüten- 
schäften, dunkelbraunen,  ochsenzungenartigen  Blüten.  Die 
großen  Blätter  stehen  in  einer  Rosette  und  sind  parallelnervig, 
die  Pflanze    war    häufig,    konnte    aber    der    starken    Truppen- 


bewegungen wegen  an 


Standort 


cht 


den.      Ein    anderer   Standort 


untersucht 
rde    nicht 


bestimmt 
entdeckt. 

Unten  im  Tale  erblickt  man  von  den  Bergwaldungcn 
von  Uzin  die  Bystrzica.  Die  Sümpfe  derselben  zeigten  eine 
geradezu  tropisch  entwickelte  Verlandungsflora. 

In  Nordgalizien. 

Auf  den  Dorfstraßen  von  Spikolosy  und  Tartakow  östlich 
von  Sokal  wuchsen  von  Giftpflanzen  in  ungeheuren  Mengen: 
Stechapfel  (Datura  slramonium),  Schwefel-  und  schmutziggelb 
blühend,  Bilsenkraut  (Hyoscyamus  niger)  und  schwarzer  Nacht- 
schatten (Solanum  nigrum). 

Bei  Tartakow  versuchten  auf  im  Vorjahre  durch  den 
Krieg  abgebrannten  Gehöften  stehende  Bäume  wieder  zu 
neuem  Leben  zu  erstehen.  Trotzdem  die  Bäume  zum  Teil 
total  verkohlt  waren  und  nur  verschwindend  wenig  Kinde 
vorhanden  war,  halten  Eschen  und  Birken  starke  mit  großen 
Blättern  besetzte  Zweige,  welche  die  Pflanzenspezies  fast  un- 
kenntlich machten,  getrieben.  An  andern,  durch  Kriegsbrand 
vernichteten  Baumarten ,  konnten  die  Versuche  des  Weiter- 
lebens nicht  beobachtet  werden. 

Die  auf  der  Straße  Tartakow-Sokal  stehenden  Pappeln 
(Populus  nigra)  waren  von  Mistel  (Viscum  album)  erdrückend 
voll  besetzt. 

Überall  auf  Wegen  und  Ödland  war  Xanlhium  spinosum 
mit  starken  goldgelben  Stacheln,  die  stets  in  der  Dreizahl 
vorhanden  sind,  zu  finden.  Diese  Komposite  hat  in  Süd-  und 
Südosteuropa  ihre  Heimat. 

In  Wolhynien. 

Auch  Wolhynien  hat  seinen  Eichenwald  (Quercus  pedun- 
culata). Aber  derselbe  hat  ein  ganz  anderes  Gepräge  wie  die 
bisher  erwähnten  Waldungen.  Die  nicht  allzustarken  Eich- 
bäume   stehen    zerstreut  in   20  —  30  m   Abstand.     Unterholz  ist 


fast  gar  nicht  vorhanden,  infolgedessen  sind  die  Stämme  von 
unten  bis  oben  mit  Zweigen  bedeckt,  sie  gleichen  von  weitem 
eher  Pappeln  als  Eichen.  Wenig  Schattenstcllen  sind  vor- 
handen, auf  solchen  gedeihen  in  Mengen  Asarum  europaeum 
(Haselwurz),  Alchimilla  vulgaris  (Frauenmantel)  und  Anemone. 
Auf  den  sonnigen  Stellen  wachsen  in  wildem  Durcheinander; 
Braunwurz  (Scrophularia  nodosa),  Erdbeere  (Fragaria  vesca), 
Hohlzahn  (Galeobsis  tetrahit) ,  kleinster  Ampfer  (Rumex  ace- 
tosella),  Brennessel  (Urtica  dioica),  Brunelle  (Brunella  vulgaris), 
Flohknöterich  (Polygonum  persicaria),  purpurroter  Storch- 
schnabel (Geranium  purpureum),  Distel  (Onopordon),  pfirsich- 
blättr.  Glockenblume  (Campanula  persicifolia) ,  Waldveilchen 
(Viola  silvatica),  kriechende  Lysimachie,  Hopfen-  und  Mause- 
klee, Ehrenpreis  und  kanadisches  Berufskraut. 

Bei  Lagow,  Swiniuchy  und  Nowi-Zahorow  fanden  wir 
Blaudistel  (Eryngium)  und  Bilterklee  häufig.  Im  letztgenannten 
Orte  fiel  ein  Ende  August  blühender,  wohlriechender  Holunder 
(Sambucus)  auf,  er  besaß  die  Eigentümlichkeit,  kein  vorjähriges 
Holz  am  Busch  zu  haben,  sonst  glich  er  Sambucus  nigra. 
Bei  Korytniza  in  ganzen  Beständen  kleinstes  Mäuse- 
schwänzchen; bei  Swiniuchy :  auf  Getreideäckern  Jungfer  im 
Grünen  oder  Braut  im  Haar  (Nigella).  Überall  auf  den  wol- 
hynischen  Getreidefeldern  ist  die  Ackertrespe  gemein. 

Bei  Koniuchy  fanden  wir  ein  ziemlich  ausgebreitetes 
Gebüschholz,  welches  sich  aus  Prunus  spinosa  (Schlehe), 
Crataegus  monogyna  (Weißdorn),  Evonymus  (Pfaffenhütchen), 
Viburnus  (Schneeball)  und  Corylus  (Hasel)  zusammensetzte; 
auf  dem  Gebüschboden  standen:  ähriges  Christophskraut  bis 
2,50  m  Höhe,  gewallig  entwickelt,  hohes  Tausendgüldenkraut 
und  Lungenkraut  (Pulmonaria  officinalis)  mit  schön  weiß  ge- 
fleckten Blättern.  Bei  Rykowicze  stand  auf  schwerem  mit 
viel  Kalkmergel  vermischtem  Moorboden  Symphytum  officinale 
mit  tiefdunkelviolelter  Blütenblattrarbe.  —  Ebendort  wuchsen 
im  verwilderten  Garten  einer  Ölmühle  kräftig  entwickelt: 
Atropa  Belladonna  (Tollkirsche),  Datura  slramonium  (Stech- 
apfel), Lappa  major  (Klette  a'/j  m  hoch)  und  am  Wasser 
Conium  maculatum  (gefleckter  Schierling  3  m  hoch). 

Die  bei  NowyZahorow  erwähnte  Sambucusart  stand  am 
14.  g.  16  in  ungeheuren  Mengen  blühend  bei  Rykowicze, 
am  15.  9.  bei  Poryck  in  Wolhynien,  sowie  am  17.  9.  bei 
Sokal  und  Lemberg  in  Galizien.  Es  ist  Sambucus  Ebulus 
(Zwergholunder). 

Bei    Krasne    in    Mittelgalizien    war    an    den    Rändern    der 
Feldwege  eine    hellblau  blühende  Salviaart,    nicht  Salvia  pra- 
tensis Ende  September   1916    massenhaft   blähend   anzutreffen. 
Karl  Waase. 


Literatur. 

Schwarzschild,  Dr.  K.,  Über  das  System  der  Fixsterne. 
Leipzig  u.  Berlin  '16,  B.  G.  Teubner.  —   1,20  M. 

Föppl,  Prof.  Dr.  A.,  Vorlesungen  über  technische 
Mechanik.  I.  Bd.;  Einführung  in  die  Mechanik.  Leipzig 
u.  Berlin  '17,  B.   G.  Teubner.  —  9,20  M. 

Kohlrausch,  Dr.  F.  u.  Holborn,  Dr.  L.,  Das  Leit- 
vermögen der  Elektrolyte,  insbesondere  der  wässerigen 
Lösungen.  2.  vermehrte  Aufl.  Leipzig  u.  Berlin  '16,  B.  G. 
Teubner.  —  7,50  M. 

Oettinger,  Dr.  W.,  Die  Rassenhygiene  und  ihre 
wissenschaftlichen  Grundlagen.  Berlin  '14,  Fischers  Medi- 
zinische Buchhandlung  H.  Kornfeld.  —   1,20  M. 


Inhalt!  M.  Di 


iggel),  Ui 
in  neuer  und  alter  Vc 
Lins  bau  er,  Selbslh 
S.  333.  Winterste 
besprechungen 


Schwefelbakterien  und  ihre  Tätigkeit  in  der  Natur.  (6  Abb.)  S.  321.  Ed.  Hahn,  Brennesseln 
endung.  S.  328.  —  Einzelberichte:  Zander,  Die  Zukunft  der  deutschen  Bienenzucht.  S.  330. 
;htende  Regenwürmer.  S.  332.  E.  Baumann,  Wildkaninchenvorkommen  in  Griechenland. 
1,  Die  osmotischen  und  kolloidalen  Eigenschaften  tierischer  Gewebe.  S.  333.  —  Bücher- 
:.eidecker,lm  Lande  des  Paradiesvogels.  S.  334.    Carl  Meißner,  Das  schöne  Kurland.  S.  334. 


Beiträge  zur  Kenntnis  der  Meeresfauna  Westafrikas.  Bd.  11,  Lief.  I.  S.  334.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  und  Süß 
wasserfauna  Deutsch-Südwestafrikas.  Lief.  4.  S.  334.  Walter  Oettinger,  Die  Rassenhygiene  und  ihre  wissenschaft- 
lichen Grundlagen.  S.  335.  —  Anregungen  und  Antworten:  Auffallende  Phanerogamen  auf  westlichen  und  östlicher 
Kriegsschauplätzen.  S.  335.  —  Literatur:  Liste  S.  336. 


Ma 


skripte 


und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  24.  Juni  1917. 


Nummer  35. 


Fernwetterprophezeiung. 

Von  Hermann  Radestock. 


„Der  hundertjährige  Kalender",  wem  huscht 
nicht  ein  Lächeln  über  das  Gesicht  bei  Erwähnung 
dieses  alten  Rumpelkammerstücks  ?  Wir  alle  wissen : 
es  ist  nichts  darauf  zu  geben.  Und  doch,  ein 
Fünkchen  Wahrheit  ist  darin,  wird  von  der  neueren 
wissenschaftlichen  Forschung  bestätigt.  Wir  wissen 
ja,  daß  die  Mönche  des  Mittelalters  fast  die 
Alleinträger  der  damals  noch  sehr  kümmerlichen 
Naturwissenschaften  waren,  aber  wir  wissen  nicht, 
welche  statistischen  Aufzeichnungen  dem  Abt 
Moritz  Knauer  in  Laugheim  für  sein  Werk, 
eben  den  hundertjährigen  Kalender,  zu  Gebote 
standen.  Wir  wissen  nicht,  ob  er  dabei  nur  der 
runden  Zahl  Mundert  zu  Liebe  verfahren,  oder  ob 
ihn  wirklich  die  Erkenntnis  geleitet  hat,  daß  an- 
nähernd 100  Jahre  dauernde  Witterungsperioden 
für  unsere  Erde  in  Betracht  kommen.  Jedenfalls, 
von  den  uns  jetzt  bekannten  verschiedenen  Sonnen- 
fleckenperioden  dürfte  er  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
noch  keine  Ahnung  gehabt  haben.  Und  gerade 
jene  langen  Doppelperioden  von  durchschnitt- 
lich 111,6  Jahren  sind  ja  auch  uns  noch  nicht 
so  recht  geläufig  und  bedürfen  z.  T.  noch  ver- 
tiefter wissenschaftlicher  Untersuchung.  Auf  alle 
Fälle  scheint  es  daher  etwas  gewagt,  wenn  der 
schwedische  Ingenieur  Enström,')  unter  Annahme 
einer  „Ilochkonjunkturperiode"  von  1850 — 1959, 
diese  sogar  mit  dem  Krieg  in  Beziehung  bringt. 
Innerhalb  dieser  Periode  sollen  nämlich  unter  dem 
P^influß  der  Sonncnfieckenbildungen  z.  B.  die 
Jahre  1850 — 1880  dem  Ackerbau,  damit  auch  der 
industriellen  Unternehmungslust  und  schließlich 
dem  dadurch  hervorgerufenen  scharfen  wirtschaft- 
lichen Wettbewerb  der  Völker  günstig  gewesen 
sein  und  daher  1S50  — 1880  zu  auffallend  vielen 
Kriegen  geführt  haben.  Gegenwärtig  sollen  wir 
in  einer  zweiten,  von  191 1  — 1939  reichenden, 
Kriegszeit  jener  Großperiode  stehen  mit  den  be- 
sonders kritischen  Jahren  1918,  1927  und  1935. 
Wir  werden  sogleich  sehen,  wie  die  wissenschaft- 
lichen Grundlagen  beschaffen  sind,  auf  die  der- 
artige Voraussagen  sich  notwendig  stützen 
sollten. 

Gegen  die  schriftlichen  Aufzeichnungen  der 
Wetterstatistik  vor  dem  Jahre  1750  hegen  wir 
begründetes  Mißtrauen;  sie  sind  ungenau  und  mit 
den  unserigen  nicht  zu  vergleichen.  Zum  Glück 
hat  aber  das  Wetter  früherer  Jahrhunderte  sich 
selbst  aufgezeichnet,  und  zwar  in  den  Jahresringen 
alter  Baumstämme.  Besonders  eignet  sich  die 
Fichte  zu  solchen  Ablesungen.  Schon  an  ihren 
Zweigquirlen    sehen  wir  in   gleichalterigen  Baum- 


beständen, daß  die  Quirlabstände  zwar  bei  den 
einzelnen  Bäumen  ungefähr  gleich  lang,  daß  sie 
aber  bei  allen  zusammen  in  dem  einen  Jahr  länger 
als  in  dem  andern  geraten.  Noch  auffallender  ist 
diese  Verschiedenheit  an  einer  glatt  durchsägten 
Stammfläche.  Tatsächlich  hat  man,  nicht  nur  in 
Amerika  an  520  Jahre  alten  Gelbfichten  (Pinus 
ponderosa  Dougl.),  ^)  sondern  auch  bei  uns  im 
brandenburgischen  Eberswalde  an  unserer  ein- 
heimischen Art,  durch  über  loooo  Messungen 
festgestellt,  daß  diese  Naturaufzeichnungen  über- 
raschend genau  mit  der  seit  Erfindung  des  Fern- 
rohres im  Jahre  1610  in  den  Sternwarten  ver- 
zeichneten Sonnenfleckenhäufigkeii  übereinstimmen. 
Woher  dieser  Zusammenhang? 

Was  zunächst  den  Einfluß  der  Sonnenflecke 
auf  das  irdische  Wachstum  betrifft,  so  ist  klar, 
daß  ein  Übermaß  kleiner  oder  auch  einzelne  große 
Flecke,  die  ja  oft  unsere  ganze  Erde  um  ein 
Vielfaches  an  Umfang  übertreffen,  das  zu  uns 
herabgesandte  Licht  und  die  Wärmekraft  der 
Sonne  erheblich  einschränken.  Diese  Abkühlung 
unserer  Atmosphäre  begünstigt  die  Bildung  von 
Wolken  und  Niederschlägen.  Und  die  letzteren 
wieder  begünstigen  das  Wachstum  der  Pflanzen. 
Kein  Wunder  also,  daß  die  Baumstämme  in  solchen 
feuchten  Jahren  entsprechend  mehr  Holz  bilden, 
was  dann  beim  Fällen  dieser  „lebenden  Witterungs- 
kalender" offenbar  wird.  Vergegenwärtigen  wir 
uns  nun,  wie  viele  verschiedene,  oft  entgegen- 
gesetzt wirkende  F"aktoren  an  dem  Wachsen  oder 
Stocken  jedes  einzelnen  Jahresrings  beteiligt  sind, 
so  müssen  wir  bekennen,  daß  die  Natur  uns  hier 
ein  wahres  Muster  zur  Gewinnung  von  genauen 
jährlichen  Witterungsdurchschnittsmaßen  und 
zahlen  geboten  hat.  Nur  schade,  daß  man  immer 
erst  warten  muß,  bis  das  Resultat  im  gefällten 
Baumstamm  fertig  vor  uns  liegt.  Was  nützt  uns 
das  für  das  richtige  Wettervorhersagen?  Nun, 
wir  wissen  schon  aus  unserm  politischen,  wirt- 
schaftlichen und  bürgerlichen  Leben,  daß  das 
Prophezeien  für  längere  Zeilräume  sehr  schwierig, 
unzuverlässig  und  oft  geradezu  lächerlich  ist. 
Auch  der  geistig  noch  so  hochstehende  Mensch 
wird  auf  diesem  Gebiete  stets  ein  schwankendes 
Rohr  sein  und  bleiben,  weil  sein  ganzes  Tun  und 
Treiben  von  einem  schwankendes  Wetter  machen- 
den Gestirn,  eben  der  Sonne,  beherrscht  wird. 
-  Kenntnis  ihrer  Natur  und  Gesetze  ist  daher  die 
Grundlage  jeder  Wetterforschung. 


1)  Prometheus   1915,   19. 


'■)  A.  E.  Douglas,  Scliätzung  der  Variation  der  Regen- 
menge auf  Grund  der  jährlichen  Zuwachsringe  der  Bäume 
(Meteorolog.  Zeitschr.   1914,  11). 


338 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Wohl  wissen  wir,  daß  unsere  Berge  und  Täler, 
unsere  großen  Land-  und  Wasserflächen  ver- 
schiedenes Klima  haben,  daß  sie  auch  bei  gleicher 
Bestrahlung  und  Erwärmung  verschiedenes  Wetter 
erzeugen,  nämlich  durch  den  über  ihnen 
herrschenden  verschiedenen  Luftdruck,  aber  wir 
sprechen  doch  nicht  mit  Unrecht  von  ausgeprägt 
kalten  oder  warmen  Sommern  oder  Wintern  oder 
Jahren,  selbst  in  bezug  auf  sehr  große  Gebiete, 
oft  ganze  Erdteile.  Ja,  wir  finden  bei  aufmerk- 
samer Beobachtung,  daß  dieses  selbe  Wetter  zu- 
weilen, von  den  jeweiligen  örtlichen  Bodenver- 
hältnissen nur  wenig  gestört,  in  einer  bestimmten 
Bahn  über  unsern  Planeten  wandert.  Wie 
kommt  das?  Es  liegt  an  der  eigentümlichen 
Natur  der  Sonnenflecke.  Nach  dem  jetzigen 
Stande  der  Sonneiibetrachtung  *)  haben  wir  es  bei 
diesen  mit  ähnlichen  Erscheinungen  wie  bei 
unseren  Vulkanen  zu  tun,  nur  mit  dem  Unter- 
schied ,  daß  auf  der  Sonne  die  Ausbrüche  aus 
einem  noch  viel  gasförmig  flüssigeren  Innern  er- 
folgen. Das,  was  wir  in  diesen  Jahren  unserer 
gegenwärtigen ,  nun  bald  ihren  Höhepunkt  er- 
reichenden, Sonnenfleckenperiode  manchmal  schon 
mit  bloßen  Augen  sehen  können,  die  dunklen, 
kohlenartigen  Flecken  in  der  Nähe  des  Sonnen- 
äquators, sind  stark  elektromagnetisch  geladene 
Wolken,  die  bei  der  Berührung  der  heißen 
Dämpfe  mit  dem  kalten  Weltenraum  entstehen 
und  wirbelsturmartig  den  ganzen  Wasserstoff  ihrer 
Umgebung  zusammenziehen.  Da  nun  größere 
Krater  oft  Wochen  und  Monate  lang  geöffnet 
bleiben  und  da  die  sog.  synodische  Umdrehungs- 
zeit der  Sonne  um  ihre  Achse  27  V2  Tage  dauert, 
so  wandert  der  besagte  dunkle  Wolkendeckel, 
die  Hälfte  dieser  Zeil  für  uns  sichtbar  und  fühlbar 
bleibend ,  u.  U.  als  schwacher  Riesenschatten 
ziemlich  langsam  über  ein  gut  Teil  unserer  Erde. 
Doch  das  smd  Ausnahmen.  Im  allgemeinen  sind 
die  Krater  von  bescheidenerer  imd  mittlerer 
Größe,  dafür  aber  äußerst  unbeständig.  Fort- 
während öffnen  und  schließen  sich  alle  und  neue 
in  allen  Größen  und  Gruppenbesiänden.  Zum 
Glück  sind  sie  zur  Zeit  ihrer  größten  Wirksamkeit 
auf  eine  nur  etwa  je  40  Grad  breite  Zone  zu 
beiden  Seiten  des  Sonnenäquators  beschränkt. 
Für  die  wissenschaftliche  Wetterprophezeiung  ist 
jedoch  diese  Erkenntnis  nicht  von  großer  prak- 
tischer Bedeutung.  Man  hat  sich  hier,  zwar 
ähnlich,  aber  völlig  unbeeinflußt  von  dem  schon 
geschilderten,  erst  später  entdeckten,  Baumring- 
beispiel der  Natur,  ganz  vortrefflich  mit  gewissen 
Durchschnittsmessungen  und  -Zählungen  der 
Flecke  geholfen. 

Die  Erfindung  dieser  sogenannten  Sonnen- 
flecken-Relativzahlen  ist  zum  Glück  schon 
sehr  früh  gemacht  worden,  so  daß  sie  lückenlos 
vom  Jahre   174g    an    vorliegen.      Sie    haben  dann 


')  J.  B.  Messerschmi  tt,  Der  Sternenhimmel.  — 
Derselbe,    Physik    der    Gestirne.      (Reclams    Universal -Bibl. 
Nr.  4228—30,  5451— ■^3-) 


1826  zur  Aufstellung  unserer  gebräuchlichsten 
kurzfristigen  Sonnenfleckenperiode,  zu  der  von 
iiVs  Jahren  geführt.  Daß  nun  dieses  Vor- 
gehen für  die  langfristige  Wetterermitilung  das 
richtige  war,  ist  durch  Vergleichen  jener  astro- 
nomischen Zahlen  mit  anderen  Vorgängen  auf 
der  Sonne  selbst  und  auf  unserer  Erde  bewiesen. 
Die  zum  Unterschied  von  den  Flecken  über  die 
ganze  Sonnenoberfläche  gleichmäßig  verteilten 
Protuberanzen,  jene  kleinen,  helleuchtend-heißen 
Fackeln,  treten  z.  B.  immer  zur  Zeit  der  größten 
Fleckenhäufigkeit  besonders  zahlreich  und  heftig 
auf  und  sie  zeigen  bestätigend  bei  der  Durchschnitts- 
rechnung genau  im  Verhältnis  dieselben  Maximum- 
und  Minimtimzahlen  wie  die  Flecke.  Was  uns 
aber  besonders  nahe  angeht  und  zugleich  die 
große  Mannigfaltigkeit  der  von  den  Sonnenflecken 
ausgehenden  Einflüsse  auf  unser  ganzes  Leben 
zeigt,  kann  hier  nur  kurz  angedeutet  werden. 
Die  Elfjahrperioden  mit  hohen  Relativzahlen 
(Maxima)  zeigen  besonders  häufig  Nordlichter  ^) 
sowie  eine  ganz  bestimmte,  gesetzmäßige  Ab- 
lenkung des  magnetischen  Stroms,  zu  sehen  an 
jeder  IVIagnetnadel.  In  ihnen  finden  wir,  wie  die 
alten  F~rosl-,  Hitze-  und  Sturmchroniken^j  beweisen, 
aulfallend  viele  und  große  Temperaturunterschiede 
miteinander  wechseln,  die  dann  oft  verheerende 
örtliche  Wetterstürze  hervorrufen.  Ob  der  fast 
nur  auf  Grasweide  angewiesene  Viehbestand 
Australiens  größer  oder  kleiner,  ob  die  vom 
Meerespiankton  lebenden  Heringe  größer  oder 
kleiner,  mehr  oder  weniger  zahlreich  heranwachsen, 
hängt  durchaus  von  dem  durch  die  Sonnenflecke 
gemachten  „Wachswetter"  ab.  Auf  den  Schuppen^) 
der  Heringe  verzeichnet  übrigens  das  Wetter, 
genau  wie  bei  den  Baumringen,  durch  breitere 
oder  schmälere  Zuwachsbänder  sich  selbst,  und 
überdies  bestätigt  uns  die  alte  Fischfangchronik 
so  mancher  Hafenstadt  die  Ernteergiebigkeit  der 
Sonnenfleckenjahre. 

Was  nun  die  El  fj  ah rp  eriod  e  selbst  betrifft, 
so  steigert  sich  die  Zahl  der  Flecke  schneller 
(durchschnittlich  binnen  5,16  Jahren)  als  sie  ab- 
nimmtfdurchschnittlich binnen  5,96 Jahren).  Immer- 
hin liegt  die  Grenze  ungefähr  in  der  Mitte.  Und 
rechnet  man  das  Grenzjahr,  wie  man  in  Anbetracht 
der  Schwankungen  wohl  berechtigt  ist,  überhaupt 
nicht,  so  haben  wir  schon  zwei  für  die  Fern- 
wettervorhersage in  mancher  Beziehung  brauch- 
bare kürzere  Zeiträume,  zwei  Jahrfünft e.  In 
jedem  von  beiden  wird  sich  das  Wetter  im  großen 
Ganzen  einheitlich,  aber  deutlich  verschieden  von 
der  anderen  Hälfte  gestalten. 

Und  merkwürdig,  die  Zahl  Fünf  hat  sich  auch 
für  die  nächst  folgende  und  wichtigste  Fernwetter- 
prophezeiung, für  die  Tagfünfte,  als  die  richtige 
erwiesen.   Ähnlich  wie  das  Jahreswetter  an  Bäumen 


')  Annalen  der  Hydrographie   1915,  4. 

■=)  Rieh.  Heß  u.  R.  Becker,  Der  Forstschutz.  (Teubner, 
Leipzig  1914.) 

')  K.  Hensen-Kiel,  Fortschritte  in  der  Biologie  der 
Fische  (Naturwissenschaften   1914,  27). 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


339 


und  Fischen  sich  selbsttätig  aufzeichnet,  geschah 
diese  Offenbarung  hinsichtlich  der  Tagfünfte  am 
Menschen  selbst.  Und  zwar  an  gewissen  Fieber- 
kranken. Im  Alpengebiet  z.  B.  äußert  sich  die 
sog.  Föhnkrankheit  ')  u.  a.  durch  ein  innerhalb  zwei 
Tagen  zu  sehr  hohen  Temperaturen  führendes  Fieber. 
Die  allmähliche  Abnahme  verläuft  binnen  drei 
Tagen.  Durch  wissenschaftliche  Aufzeichnung 
mittels  Variographen  in  Innsbruck  hat  sich  eine 
genaue  Übereinstimmung  der  Fieber-  mit  den 
barometrischen  VVetterkurven  ergeben.  Ähnlich 
ist  es  bei  einer  anderen,  in  den  Schützengräben 
des  Ostens  aufgetauchten  Krankheit,  die  man 
sogar  nach  unserer  merkwürdigen  Erscheinung 
„Fünftagefieber"  (Febris  quintana)'-)  getauft  hat. 

Wiederum  völlig  unabhängig  von  dieser  Er- 
kenntnis auf  einem  ihm  fernliegenden  Gebiet,  ist 
nun  Professor  Freybe^)  zur  Aufstellung  seiner 
Weltertagfünfte  gelangt.  Von  59  Stationen  wurden 
die  Wettermittelwerte,  gewonnen  aus  dem  Zeitraum 
von  20  Jahren,  für  jedes  der  73  Tagfünfte  des 
Jahres  berechnet  und  auf  ebensoviele  Karten 
mittels  der  üblichen  Luftdrucksverteilungslinien, 
der  Isobaren  usw.  durch  Kurven  und  Zahlen  ein- 
getragen. In  den  sieben  Wetterstationen  der 
Provinz  Hessen-Nassau  hat  Professor  Freybe  seine 
Karten  den  VVetterdienstleitern  behufs  Anfertigung 
ihrer  Wettervorhersagen  zur  Verfügung  gestellt 
und  dabei  so  gute  Erfolge  erzielt,  daß  er  sich 
zur  Veröffentlichung  seiner  Erfindung  entschlossen 
hat.  An  dem  an-  oder  aufsteigenden  Gang  der 
Linien  der  Karte  seines  Bezirks  sowie  der 
der  benachbarten  sieht  der  betreffende  Leiter,  nach 
welcher  Seite  hin  in  den  kommenden  fünf  Tagen 
das  Wetter  sich  zu  entwickeln  pflegt.  Nun  gilt 
es  nur,  die  allerdings  oft  nicht  so  leichte  und 
einfache  Ausgleichung  zwischen  der  tatsächlich 
vorhandenen  und  der  zwanzigjährigen  Durcli- 
schnitiswetterlage  vorzunehmen,  um  eine  zu- 
treffende Vorhersage  für  den  nächsten  Tag,  oft 
auch  schon  für  die  nächstfolgenden  Tage  zu 
liefern.  Dabei  hat  sich  u.  a.  bereits  folgendes 
wichtige  Gesetz  herausgestellt.  „Deckt  sich  für 
einen  bestimmten  (^rt  und  Zeitpunkt  die  wirklich 
eintretende  Luftdruckverteilungs-  und  Wetter- 
änderung mit  der  der  Tagfünftkarte,  dann  ist  die 
letztere  entscheidend,  und  das  Wetter  ändert  sich 
in  ihrem  Sinne  und  zwar  durchgreifend  und 
anhaltend.  Deckt  sich  die  Eintagskarte  nicht 
mit  der  Fünftagekarte,  so  gibt  es  entweder  gar 
keine,  oder  nur  eine  rasch  vorübergehende 
Änderung." 

Bei  dieser  neuen  Art  der  Wettervorhersage 
sind  also  geschickt  zwei  Durchschnittswerte,  und 
zwar  der  in  großen  Zügen  festgelegte  historische 
von  fünf  Tagen  und  der  eng  begrenzte  gegen- 
wärtige  von    einem    kurzen    Tagesteil,    zu    einem 

')  Meteorolog.  Zeitschrift   1915,  9. 

')  Deutsch,  mediz.  Wochenschrift   1916,  40. 

')  O.  Fr  eybe- Weilburg,  Verteilung  und  Änderung  des 
mittleren  Luftdruckes  über  Europa  nach  Tagfünflen  (Land- 
wirtschaft!. Jahrbücher   1914,  S.   789  ff.) 


IVIittelwert  vereinigt.  Nun  gibt  es  aber,  besonders 
für  den  Landwirt,  Großhändler  und  Ernährungs- 
politiker, sehr  wichtige  Fragen  nach  dem  voraus- 
sichtlichen Wetter  in  kommenden  Wochen  und 
Monaten.  Manche  ältere  Leute  auf  dem  Lande 
schwören  ja  noch  heute  auf  ihre  „Erfahrungen" 
und  prophezeien  z.  B.  bei  jedem  früh  im  Herbst 
Vorräte  eintragenden  Eichhörnchen,  vor  jedem 
besonders  hohen  Ameisenhaufen  im  Spätjahr,  bei 
jedem  vorwinterlichen  Gänse-  oder  Krähenzug, 
vor  jedem  reiche  und  früh  rote  Früchte  tragenden 
Ebereschenbaum  einen  nahen,  strengen  und  langen 
Winter,  während  sie  z.  B.  aus  dem  längeren  Ver- 
bleiben der  Mauersegler  und  Schwalben  gern  und 
ohne  Bedenken  auf  das  Gegenteil  schließen.  Ver- 
nünftigerweise müßten  sie  sich  doch  sagen:  alle 
Tiere  und  Pflanzen  benützen  selbstverständlich, 
und  zwar  recht  eifrig  und  nachholend,  das  gegen- 
wärtige gute  Wetter  nach  dem  voraufgegangenen 
andauernd  schlechten,  während  die  hochnordischen 
Zug-  und  Strichvögel  natürlich  nichts  weiter  tun 
können,  als  vor  dem  beginnenden  Winterwetter 
ihrer  Sommerstätten  nach  Süden  zu  flüchten.  Auf 
alle  P'älle  besitzen  die  Pflanzen  und  Tiere,  wie  ja 
auch  wir  selber,  keinen  angeborenen  Fernwetter- 
sinn. Und  doch  ist  auch  in  jenem  alten  Köhler- 
glauben wieder  ein  Körnchen  Wahrheit,  der  Keim 
eines  neuen  Hilfsmittels,  zu  finden. 

Wie  wär's,  so  ließe  sich  fragen,  wenn  man 
einmal  gleich  die  gemachten  Fortschritte, 
z.  B.  der  Vegetation,  zur  Fernwetterprophe- 
zeiung heranzöge?  Und  das  hat  die  Wissenschaft 
bereits  getan.  ')  In  einer  ganzen  Reihe  landwirt- 
schaftlicher Stationen  Deutschlands  und  Österreich- 
Ungarns  wird,  z.  T.  schon  seit  Jahrzehnten,  an 
Kirsche,  Stachelbeere,  Erdbeere,  Roggen,  Wein- 
stock, Mais,  Flieder,  Holunder,  Liguster,  Roß- 
kastanie, Ahorn,  Buche  und  Linde  Jahr  für  Jahr 
beobachtet  und  aufgeschrieben,  an  welchem  Tage 
diese  Gewächse  dort  das  erste  Laub,  die  ersten 
Blüten  entfalten,  die  ersten  reifen  P^üchte  zeigen 
und  im  Herbst  ihr  sämtliches  Laub  verfärben. 
Auch  aus  diesen  Beobachtungen  hat  sich  bereits 
ein  für  die  Fernwetterprophezeiung  wichtiges 
Grundgesetz  ergeben.  Es  lautet:  „Je  früher  in 
einer  Gegend  ein  Gewächs  zu  blühen  beginnt, 
desto  später  im  Verhältnis  bringt  es  reife  Frucht, 
und  umgekehrt,  je  länger  sich  die  Blüte  verzögert, 
desto  früher  reift  die  Frucht." 

Blüht  die  Kirsche  z.  B.  am  18.  April,  so  reift 
sie  im  Durchschnitt  am  gleichen  Orte  schon  am 
2.  Juni,  also  nach  56  Tagen.  Blüht  sie  aber 
schon  am  8.  April,  so  reift  sie  ebendaselbst  erst 
am  9  Juni,  also  erst  nach  63  Tagen.  Oder,  be- 
ginnt der  Roggen  erst  am  2.  Juni  zu  stäuben,  so 
braucht  er  auf  demselben  Standort  bis  zum  6.  Juli 
nur  35  Tage,  stäubt  er  schon  am  23.  Mai,  so 
braucht  er  bis  zum  3.  Juli  dort  volle  42  Tage 
zur  Reife.  Und  zieht  man  aus  den  Spätaufblüh- 
zeiten   sämtlicher  oben    genannter  Gewächse    ein 


')  Meteorolog.  Zeitschr.    1913,   7;    1914, 


340 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


aus  vielen  Jahren  gewonnenes  Mittel,  so  tritt  die 
Fruchtreife  dann  im  Durchschnitt  noch  immer 
volle  5  Tage  früher  ein  als  in  den  Jahren  mit 
früher  Blüte.  Eine  reife  Frucht  aber  verrät  dem 
Kenner  schon  durch  Aussehen,  Geruch  und  Ge- 
schmack, so  gut  wie  Baumring  und  Fisclischuppe 
dies  für  ganze  Jahre  tun ,  welches  Wetter  im 
allgemeinen  an  dem  betreffenden  Standort  von 
der  Blüte  bis  zur  Frucht  geherrscht  haben  muß. 
Eine  Prophezeiung  vom  Frühjahr  für  den 
Sommer  und  Herbst  desselben  Jahres  auf  dieser 
rein  wissenschaftlichen  Grundlage  hat  daher  ihre 
Berechtigung  und  bedeutet  schon  einen  Fortschritt. 
Aber  man  ist  noch  weiter  gegangen  und  hat  sich 
gefragt:  was  bewirkt  im  wesentlichen  das  Auf- 
blühen der  Gewächse?  Ist  es  der  Regen,  oder 
der  Luftdruck,  oder  der  außen  auf  die  Knospen 
strahlende  Sonnenschein?  Nein,  im  wesentlichen 
ist's  die  Wärme  des  Bodens,  in  dem  die 
betr.  Pflanze  wurzelt.  Der  Boden  ist  ein  Sonnen- 
speicher. Nur  er  gestattet  den  Wurzeln  und  dem 
ganzen  Gewächs  die  Versorgung  mit  Wasser  und 
chemisch-mineralischen  Nährmitteln.  Er  zwingt 
geradezu  den  Strauch  oder  Baum  zum  Blüten- 
offnen,  oft  an  einem  Tage,  der  durchaus  kein 
schöner  ist.  Jedoch  erst  von  einem  ganz  be- 
stimmten Bodenwärmegrad  an  tut  er  das!  In 
den  Beobachtungsorten  Straßburg,  Aachen,  Bonn, 
Witzenhausen,  Potsdam,  Jena,  Großbeeren,  Breslau, 
Bremen,  Helmstedt  und  Biberach  betrug  die  in 
einer  Reihe  von  Jahren  gemessene  Frühlingsboden- 
wärme (für  die  Monate  März  und  April  aus 
Durchschnittszahlen  gewonnen)  bei  ^'l^  m  Tiefe 
4,42  bis  6,28"  C  je  nach  der  geographischen 
Lage  des  Beobachtungsortes.  Und  nun  ergab  sich 
nicht  nur  ein  stets  genau  übereinstimmendes  Ver- 
hältnis zwischen  Bodenwärme  und  erstem  Auf- 
blühen bestimmter  Gewächse,  sondern  man  fand 
zugleich  das  bedeutungsvolle  Gesetz:  „Die  zum 
Aufblühen    nötige    Bodenwärme    beträgt    durch- 


schnittlich 10"  C,  jeder  Grad  weniger  verursacht 
10  Tage  Verzögerung."  *) 

Es  ist  demnach  bereits  heute  möglich,  den 
Zeitpunkt  der  künftigen  ersten  Laubentfaltung, 
des  Aufblühens,  des  Eintritts  der  Fruchtreife  und 
des  Laubfalls  für  eine  Reihe  von  Gewächsen 
Deutschlands  und  Österreich-Ungarns  in  der  für 
uns  wichtigsten  Vegetationszeit  des  Jahres  an 
demselben  Orte  durch  Beobachtung  der  Boden- 
wärme, verbunden  mit  den  Aufblühdurchschnitts- 
zahlen, zu  ermitteln.  Was  ist  das  anderes  als 
angewandte  Fernwetterprophezeiung?  Genau  wie 
bei  den  Tagfünften  haben  wir  eine  vorliegende 
historische  Durchschnittszahl  (die  mittlere  Auf- 
blühzeit) und  daneben  einen  zusammenfassenden 
Gegenwartswert  (die  Bodenwärme).  Aus  beider 
Verknüpfung  ermitteln  wir  den  durchschnittlichen 
Zukunftswert,  d.  h.  die  voraussichtliche  Dauer 
der  weiteren  Entwicklungszeit,  für  die  Pflanze 
unter  dem  Einfluß  des  Wetters  und  damit,  wenn 
auch  nur  in  großen  Zügen,  die  künftige  Wetter- 
gestaltung selbst. 

Wir  sind  am  Schluß  unserer  Darlegungen. 
Soviel  dürfte  aus  ihnen  hervorgehen ,  daß  die 
Fernwetterprophezeiung  in  den  von  mir  geschil- 
derten Arten  kein  Bluff  ist.  Freilich,  was  sie 
verspricht  und  hält,  wird  manchem,  selbst  wenn 
er  dabei  die  schwankende  Sonnenwärme  gebührend 
berücksichtigt,  sehr  bescheiden  vorkommen.  Aber 
was  ist  wertvoller  für  das  öffentliche  Wohl,  frage 
ich,  eine  bescheidene,  aber  auf  fester  wissenschaft- 
licher Grundlage  ruhende,  in  Art  und  Rich- 
tung als  brauchbar  erkannte,  oder  eine 
vielleicht  bestechende,  nach  persönlicher  Erfahrung 
und  Mutmaßung  gemachte  Voraussage?  Die 
Antwort  wird  nicht  zweifelhaft  sein. 


')  Wilh.  Nägler-Dresden,  Die  Erdboden-Temperatur 
in  ihren  Beziehungen  zur  Entwicklung  der  Vegetation.  (Peter- 
mann's  Mitteil.,  Jahrg.  58,   1913.) 


Einzelberichte. 


Bakteriologie.  Selenbakterien.  Die  Fähig- 
keit, Selenit  zu  reduzieren,  kommt  sehr  vielen 
Bakterien  zu.  Doch  spielt  wahrscheinlich  diese 
Reduktion  im  Leben  und  Stoffwechsel  der  be- 
treffenden Bakterien  keine  Rolle,  da  sie  alle  auch 
ohne  einen  Zusatz  von  Seliniten  ebensogut 
wachsen.  Widar  Brenner*)  hat  nun  neulich 
im  Leipziger  Botanischen  Institut  eine  Bakterienart 
entdeckt  und  genauer  untersucht,  die  auf  solche 
Reduktionsvorgänge  vollkommen  angewiesen  ist. 
Der  äußerst  winzige  Micrococcus  selenicus,  wie 
ihn  der  Verf  nennt,  wurde  aus  dem  Schlamm 
des  Kieler  Hafens  isoliert,  dürfte  aber  wohl  eine 
allgemeinere  Verbreitung    besitzen.     Wird    er  auf 


')  Jahrb.  f.  wissenschaftl.   Botanik,    Bd.   57,    S.  95,   1916. 


einem  Agar  kultiviert,  dem  Selenverbindungen 
(Natriumselenit  und  Natriumselenid)  zugesetzt 
worden  waren,  so  entstanden  gallertige  Kolonien, 
deren  kräftig  rote  Färbung  von  dem  reduzierten 
Selen  herrührte.  Die  mikroskopische  Unter- 
suchung zeigte,  daß  die  Selenkörnchen  in  den 
Zellen  der  Bakterien  eingeschlossen  waren.  Als 
Stickstoffnahrung  diente  ihnen  Ammoniumchlorid, 
als  Kohlenstoffquelle  sehr  geringe  Mengen  von 
.Mkoholdänipfen,  die  von  allen  geprüften  Stoffen 
den  besten  Nährwert  besaßen.  Eine  nähere  Unter- 
suchung der  Eignung  verschiedener  Sclenpräparate 
ergab,  daß  das  Selenit  zusammen  mit  dem  Selenid 
am  besten  wirkte,  Selenit  für  sich  schlechter  und 
Selenid  allein  gar  nicht.  Da  es  sich  herausstellte, 
daß  die  Selenkokken  ohne  Selenverbindungen 
überhaupt    nicht   gediehen,    suchte  der  Verf  fest- 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


341 


zustellen,  ob  jene  vielleicht  durch  Stoffe  von  ähn- 
licher leichter  Reduktionsfähigkeit  ersetzbar  seien. 
In  der  Tat  wuchsen  die  Bakterien  mit  dem  Indig- 
karmin,  das  bekanntermaßen  sehr  leicht  in  die 
Leukoform  übergeführt  wird,  ganz  gut,  ohne  daß 
etwa  dieser  Kör|)er  als  Kohlenstoffquelle  in  P>age 
kam.  Die  Kolonien  waren  jetzt  farblos,  wurden 
aber  alsbald  tiefblau,  wenn  sie  abstarben,  wenn 
also  das  reduzierte  Indigweiß  wieder  sich  oxydierte. 
Ähnlich  konnte  auch  Lackmus  ausgenutzt  werden. 
Wahrsclieinlich  decken  die  Selenbakterien  ihren 
Sauerstoffbedarf  dadurch,  daß  sie  ihn  leicht  sauer- 
stoffabgebenden Verbindungen  entnehmen.  Sie 
sind  also  auch  nicht  auf  Selenverbindungen 
schlechtweg  angewiesen,  sondern  werden  wohl 
viele  andere,  auch  organische  Stoffe,  in  ähnlicher 
Weise  benutzen,  können  mithin  zu  der  großen 
Gruppe  der  reduzierenden  Bakterien  gerechnet 
werden.  Sie  nehmen  aber  innerhalb  derselben 
insofern  eine  interessante  Sonderstellung  ein,  als 
sie  merkwürdigerweise  nicht  anaerob  sind,  also  den 
freien  Sauerstoff  nicht  meiden.  Sie  vermögen  ihn 
jedoch  offenbar  nicht  zu  benutzen,  bedürfen  viel- 
mehr des  Sauerstoffes  in  statu  nascendi,  wie  sie 
ihn  sich  aus  der  Reduktion  verschiedener  leicht 
reduzierbarer  Stoffe  beschaffen.  Durch  die  Ent- 
deckung der  Selenkokken  ist  das  Bild  primitiver 
Bakterien  um  einen  neuen  Zug  bereichert  worden. 
Miehe. 


Zoologie.  Schon  oftmals  ist  die  Frage  geprüft 
worden,  welchen  Zweck  die  sog.  Srhwingköibchen 
der  zweiflügeligen  Insekten  (Dipteren  I  haben.  Aber 
weder  die  anatomische  Untersucfiung,  noch  die 
verschiedenen  Experimente  haben  bisher  be- 
friedigenden Aufschluß  gegeben.  Eine  eingehende 
histologischeUntersuchungstammt  von  Wein  land, 
der  feststellte,  daß  besonders  an  ihrer  Basis  eigen- 
artige Sinnesorgane  ausgebildet  sind.  Von  den 
Experimenten  sollte  besonders  das  Festkleben 
oder  die  gänzliche  Entfernung  Klarheit  schaffen, 
denn  in  beiden  Fällen  ist  das  Insekt  nicht  mehr 
fähig  zu  fliegf-n.  Nach  dem  einen  Autor  sind 
die  Halteren  Gleichgewichtsorgane,  die  durch  ihr 
Gewicht  einen  gewissen  Einfluß  auf  den  Flug 
ausüben,  nach  dem  anderen  besteht  ihre  Funktion 
darin,  auf  das  Afterläppchen  der  Flügel  zu  drücken 
und  so  die  Flugbewegungen  zu  beeinflussen. 
Wein  land  betraciitete  sie  als  dynamische  Gleich- 
gewichtsorgane, die  durch  ihre  rapide  Bewegung 
und  die  dadurch  erzeugte  Zentrifugalkraft  die 
Richtung  des  Fluges  bestimmen.  Auch  als  Hör- 
organe oder  als  Organe  zur  Tonerzeugung  wurden 
sie  gedeutet.  Stellwaag  andererseits  stellte  fest, 
daß  sie  für  die  Steuerung  gar  keine  Bedeutung 
haben.  Aus  dem  allen  geht  hervor ,  daß  ihre 
wahre  Bedeutung  noch  ganz  im  Dunkeln  liegt. 

In  seiner  Untersuchung:  Einige  Bemerkungen 
über  den  Schwirrflug  der  Insekten  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Halteren  der  Zweiflügler 
sucht  W.  von  Buddenbrook  (Verh.  d.  naturh.- 


mediz.  Vereins  zu  Heidelberg  1916)  auf  dem  Wege 
des  Analogieschlusses  das  Dunkel  zu  lichten.  Er 
geht  davon  aus,  daß  zu  ihrer  Funktion  eine  rasch 
fibrierende  Bewegung  nötig  ist,  wie  die  bisherigen 
Experimente  ergeben  haben.  ,, Suchen  wir  nach 
ähnlichen  fibrierenden  Bewegungen  bei  anderen 
Insekten,  so  zeigt  sich  zunächst,  daß  man  diese 
ganze  Tiergruppe  nach  ihrer  Art  zu  fliegen  ein- 
teilen kann  in  Schwirrer  und  Flatterer,  die 
freilich  durch  zahlreiche  Übergänge  miteinander 
verbunden  sind."  Zu  den  Schwirrern  rechnet  er 
außer  den  Dipteren  die  größeren  Käfer,  unter  den 
Schmetterlingen  die  dickleibigen  Nachtfalter  und 
schließlich  noch  zahlreiche  Hymenopteren.  Die 
Flatterer  werden  durch  die  Tagfalter  verkörpert. 
Schwirrer  haben  verhältnismäßig  kleine  Flügel, 
Flatterer  aber  große.  Bei  gleicher  Größe  und 
Geschwindigkeit  muß  der  Schwirrer  eine  be- 
stimmte Anzahl  mehr  Flügelschläge  machen  als 
der  Flatterer. 

Wie  Schwirrer  und  Flatterer  sich  in  der  Art 
des  Huges  unterscheiden,  so  verhalten  sie  sich 
auch  verschieden  beim  Obergang  von  der  Ruhe  zur 
Bewegung.  Während  die  Flatterer  ohne  weiteres 
den  Flug  beginnen  können ,  gehen  bei  den 
Schwirrern  Vorbereitungen  voraus,  ohne  die  der 
Flug  nicht  gelingt.  Viele  dickleibige  Schmetter- 
linge fliegen,  wenn  sie  aus  der  Ruhe  gestört  sind, 
nicht  sofort  auf,  sondern  zittern  mit  den  Flügeln 
in  eigentümlicher  Weise,  sie  „schwirren  vor  dem 
Flug  auf  der  Stelle".  Dieses  Fibrieren  findet 
man  auch  hei  größeren  Käfern,  wenn  sie  die 
Elytren  heben  und  mit  Kopf  und  Hinterleib 
„pumpende"  Bewegungen  machen,  v.  Budden- 
brock  teilt  nicht  die  landläufige  Anschauung, 
daß  diese  Vorkehrungen  dazu  dienen,  Luft  in  den 
Körper  aufzunehmen,  sondern  faßt  sie  als  eine 
direkte  Vorstufe  des  Fluges  auf,  als  einen  Über- 
gang von  Ruhe  zum  Schwirrflug.  Er  bezeichnet 
die  das  Schwirren  ausführenden  Organe  als  Schwirr- 
organe. 

Obwohl  die  Dipteren  die  besten  Schwirrflieger 
sind,  fehlen  ihnen  allem  Anschein  doch  solche 
Organe,  wenn  man  nicht  die  Halteren  als  solche 
auffaßt.  Hinsichtlich  ihrer  Bewegungsart  und  ihrer 
Wirkungsweise  sind  sie  den  Schwirrorganen  analog. 
Daraus  ist  zu  schließen,  daß  das  Schwirren  der 
Halteren  bei  den  p-liegen,  das  Zittern  der  Elytren,  des 
Kopfes  und  Abdomens  bei  den  Käfern,  der  Flügel 
bei  den  Nachtfaltern  in  irgendeiner  Weise  die 
Energieleistung  des  Flügelschlages  befördert,  wie 
sie  zur  Durchführung  des  Schwirrfluges  nötig  ist. 
Demnach  sind  die  Halteren  nicht  als  Steuer-  oder 
als  Gleichgewichtsorgane  zu  betrachten. 

Man  kann  die  Tätigkeit  der  Halteren  bis  ins 
Einzelne  mit  derjenigen  der  Hörkölbchen  der 
Medusen  vergleichen  und  beide  Organe  sind  dem- 
nach als  wesensgleich  zu  betrachten.  Hier  wie 
dort  ein  klöppeiförmiges  Gebilde,  das  Reizorgan, 
das  eine  pendelnde  Bewegung  ausführt,  in  seiner 
Nähe  ein  Sinnesorgan,  der  Rezeptor  des  Reizes, 
und    schließlich    in    Abhängigkeit    von    der    Be- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


wegung  des  Köibchens  ein  Erfolgsorgan.  Der 
Verlust  des  Reizorganes  hat  bei  den  Medusen 
völligen  Stillstand  der  Schwimmuskulaiur,  bei 
den  Fliegen  eine  bedeutende  Beeinträchtigung 
der  Flugbewegung  zur  Folge.  Wie  aber  bei  den 
Medusen  der  Reiz  des  schwingenden  Hörkölbchens 
die  Schwimmuskulaiur  zu  lebhafterer  Bewegung 
befähigt,  so  wirkt  bei  den  Fliegen  der  Reiz  auf 
die  Flugmuskeln  und  erzeugt  eine  schnellere 
rhythmische  Bewegung.  Demnach  wären  nicht 
nur  die  Halteren,  sondern  auch  die  Schwirrorgane 
der  übrigen  Insekten  so  zu  deuten,  daß  auch  sie 
zur  Erzeugung  einer  fibrierenden  Bewegung  dienen, 
die  sich  dem  Flügel  überträgt  und  ihn  erst  flug- 
fähig macht. 

Die  biologische  Bedeutung  des  Schwirrens  vor 
dem  Flug  würde  also  hauptsächlich  darin  zu  suchen 
sein,  daß  die  Schwirrflieger  nicht  ohne  weiteres 
aus  der  Ruhelage  in  die  Flugbewegung  übergehen 
können,  sondern  erst  eines  rhythmischen  Reizes 
bedürfen ,  der  allmählich  eine  immer  größere 
Schnelligkeit  der  Flügelschläge  hervorbringt,  bis 
diejenige  Frequenz  erreicht  ist,  welche  einen 
sicheren  Abflug  gestattet.  Die  Halteren  wären  ganz 
besonders  zweckmäßige  Schwirrorgane,  weil  sie 
klein  sind,  und  durch  ihre  Form  der  Luft  nur 
einen  ganz  geringen  Widerstand  darbieten. 

Stell  waag. 


Schlupfwespen  als  Pflanzenparasiten.  Die 
Vertreter  der  großen  Gruppe  der  Ichneumoniden 
oder  Schlupfwespen  sind  allgemein  als  Parasiten 
von  Insekten  bekannt.  Es  gibt  kaum  eine  Insekten- 
ordnung, die  nicht  von  ihnen  heimgesucht  wird, 
ja  sogar  Spinnen  und  Tausendfüßler  werden  als 
Wirtstiere  benutzt.  Bei  einer  so  ausgeprägten 
biologischen  Anpassung  sind  Arten,  die  eine  Aus- 
nahme davon  machen,  besonders  bemerkenswert. 
Sie  gehören  durchweg  den  Chaicididen  an,  und 
zwar  der  Gattung  Isosoma,  einer  Gruppe  aus  der 
Unterfamilie  der  Eurytomineen. 

Schon  im  Jahre  1833  berichtet  Bohemann 
von  der  Art  Syntomaspis:  E  seminibus  baccae 
Sorbi  scandiacae  etiam  exclusus.  Später  hat 
Schlechtendal  die  Larve  wiederholt  aus  den 
Samen  des  Weißdorns  gezogen.  Er  beobachtete 
auch,  auf  welche  Weise  das  Weibchen  die  Früchte 
anbohrt,  um  das  Ei  durch  die  harte  Samenschale 
in  den  Samen  abzulegen.  Es  tastet  nämlich  mit 
seinem  Legebohrer  die  Samenschale  ab,  bis  es 
die  Mycropyle  gefunden  hat.  Sonst  leben  die 
Isosominenlarven  fast  ausschließlich  in  Gramineen- 
samen. In  neuerer  Zeit  wurden  aber  auch  andere 
Samen  als  Wohnorte  gefunden. 

Urbahn's  Th.  D.  (The  Chalcis-fly  in  Alfal- 
faseed,  U.  S.  Agr.  Farmers  Bull.  1914)  stellte 
Bruchophagusfenebris  How.  im  Samen  der  Luzerne 
fest.  Er  kam  sogar  so  massenhaft  vor,  daß  Be- 
kämpfungsmaßnahmen eingeleitet  werden  mußten, 
die  im  wesentlichen  darin  bestanden,  daß  die 
Luzerne    vor   der   Samenreife    geschnitten    wurde. 


In  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Insekten- 
biologie 1916  teilt  Taschenberg  mit,  daß 
Syntomaspis  in  größerer  Zahl  in  reifen  Äpfeln 
angetrofi"en  wurde.  Der  naheliegende  Gedanke, 
als  könnte  die  Art  den  Apfelwickler  Carpocapsa 
pomonella  L.  parasitieren,  wurde  durch  den  Befund 
widerlegt,  daß  keine  Fraßspuren  von  Raupen 
vorhanden  waren.  Außerdem  verläßt  ja  die 
Wicklerlarve  die  Frucht,  ehe  sie  sich  verpuppt  und 
die  Äpfel  waren  schon  einen  Winter  lang  gelagert. 

Die  bisher  beobachteten  F"älle  lassen  den 
Schluß  zu,  daß  die  Eier  in  die  Samen  der  jungen 
Früchte  gelegt  worden  waren.  Die  ganze  Ent- 
wicklung hätte  demnach  mehr  als  ein  Jahr  in 
Anspruch  genommen.  Dies  stimmt  mit  der  An- 
gabe von  Schlechtendal  überein,  daß  die 
Wespe  selten  nach  einmaliger,  meist  nach  zwei- 
bis  dreimaliger  Überwinterung  im  Juni  erscheint. 
Stellwaag. 

Zur  Eiablage  und  Paarung  der  Tagfalter  in  der 
Gefangenschaft  teilt  Emil  Hüb n er  (Obersedlitz, 
Böhmen),  angeregt  durch  die  auch  an  dieser  Stelle 
besprochene  Arbeit  Dr.  E.  Fischer's  (Zürich)^), 
einige  interessante  Beobachtungen  von  seinen 
Zuchtversuchen  mit  (Societas  entomologica 
32.  Jahrg.  1917  Nr  3).  Hübner  gibt,  um  die  frisch- 
gefangenen Schmetterlinge  langsam  an  die  Ge- 
fangenschaft zu  gewöhnen,  die  Tiere  einzeln  oder 
doch  nur  in  kleinerer  Zahl  in  größere  Zuchtbehälter, 
die  anfänglich  an  einem  dunklen  Platze  Aufstellung 
finden  sollen.  Sind  die  Falter  nach  einiger  Zeit 
dann  schon  ruhiger  geworden,  so  werden  die 
Kästen,  um  die  Eiablage  und  die  Paarung  zu 
erreichen,  mit  der  Futterpflanze  der  Raupen  ver- 
sehen und  an  die  Sonne  gestellt;  dabei  ist  aller- 
dings zu  pralle  Sonnenhitze  durch  Gaze  oder 
Seidenpapier  zu  mildern.  Auf  diese  Weise  kam 
Hübner  außer  beim  Segelfalter  {Papilio 
podalirius  L.)  und  beim  großen  Eisvogel 
(Liuuiiifis  popiili  L.)  bei  allen  in  Böhmen  vor- 
kommenden Tagfaltern  zum  gewünschten  Ziel. 
Hübner  nährte  die  Falter  damit,  daß  er  sie 
2 — 3  mal  am  Tage  mit  Honig  oder  Zuckerwasser 
fütterte;  er  brachte  dabei,  um  die  Tiere  zum 
Saugen  zu  bewegen,  ihren  Rüssel  mittels  einer 
Nadel  an  die  F"lüssigkeit  heran.  Sobald  die  Tiere 
den  Süßstoff  verspürten,  blieben  sie  in  den  meisten 
F"ällen  ganz  ruhig  sitzen  und  saugten. 

H.  W.  Frickhinger. 

Über  die  Bekämpfung  des  Mohnwurzelrüssel- 
käfers. Anläßlich  eines  \'ersuches  über  die  zweck- 
mäßigste Reihen-  und  Standweite  bei  Mohnanlagen 
ander  niederösterreichischen  Landes-Acker- 
bauschule  Edelhofbei  Zwettl  konnte  Rudolf 
Ranninger  interessante  Beobachtungen  über  die 
Biologie    des    Mohnwurzelrüßlers    [Codiodes 


')  Vgl.  Na 


VVochenschr.   1917,  Nr.  2,  S.  28. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


343 


fiiliginosHS  Marsh.)  und  die  beste  Art  der  Be- 
kämpfungsmaßnahmen anstellen  (Zeitschrift 
f  angewandte  Entomologie  III.  Bd.  Heft  3 
S.  383  —  387).  In  den  letzten  Maitagen  fielen  dem 
Verfasser  zahlreiche,  meist  in  engem  Verbände 
stehende  und  daher  nicht  besonders  gut  genährte, 
schwächlichere  Pflanzen  dadurch  auf,  daß  sie 
auffallend  gelb  wurden  und  bald  darauf  eingingen. 
„Beim  Herausziehen  dieser  Pflanzen  aus  dem  Boden 
bemerkte  man  an  der  Wurzel  eine  weiße,  braun- 
köpfige,  fußlose  Larve,  in  der  Giöße  von 
3—4  mm;  —  sie  frißt  an  der  Wurzel  etwa  i  mm 
tiefe  längere  Gänge  oder  auch  rundliche  Löcher. 
In  den  weitaus  meisten  F"ällen  sitzt  sie  am  unteren 
Ende  des  Wurzelhalses,  mitunter  auch  bis  3  cm 
und  sehr  selten  bis  8  cm  Bodentiefe.  An  einer 
Pflanze  sitzt  meist  nur  i  Larve,  mitunter  2  und 
seltener  auch  3".  Die  Fraßbeschädigungen  der 
Larven  bewirken  ein  Schwarzwerden  der  Wurzel 
und  ein  Gelb-  oder  Braunwerden  der  Blätter,  Ver- 
färbungen, die  beidesmal  von  unten  ausgehen  und 
nach  oben  fortschreiten.  Diese  Erscheinungen,  die 
zum  Absterben  der  Pflanzen  führten,  traten  aber 
nur  bei  schwächlichen  Mohnpflanzen  auf,  gut  ge- 
diehene, kräftige  Mohnpflanzen  blieben,  obwohl 
sie  sich  auch  befallen  zeigten,  vollkommen  unbe- 
schadet. Etwa  anfangs  Juli  verpuppt  sich  die 
Larve;  „nach  4wöchiger  Puppenruhe  erscheint 
Ende  August-September  der  Käfer,  der  sich  auf 
verschiedenen  Pflanzen  aufhält,  in  der  Erde  über- 
wintert und  im  April  aus  seinem  Winterversteck 
wieder  hervorkommt".  Auch  der  Käfer  ist  ein 
Schädling  der  Mohnpflanzen,  indem  er  von  den 
jungen  Exemplaren  die  Blätter  derart  abfrißt,  daß 
„nur  die  Hauptrippen  der  Blätter  übrig  bleiben". 
Wenn  die  Wirkungen  des  Käferfraßes  unter  dem 
Bestände  der  Mohnkulturen  weniger  verheerend 
waren  als  die  des  Larvenfraßes,  so  war  das  darauf 
zurückzuführen,  daß  der  Käfer  nicht  sehr  lange 
auf  den  Mohnpflanzen  verweilte,  sondern  bald 
wieder  verschwand.  Auch  hier  konnte  Ranninger 
die  Beobachtung  machen,  daß  besonders  zartere 
(saftigere)  Pflanzen  von  den  Käfern  heimgesucht 
wurden.  Diese  Tatsache  weist  von  selbst  auf  die 
offensichtlich  wirksamste  Art  der  Schädlings- 
bekämpfung hin:  durch  eine  Reihe  bewährter  kultu- 
reller Methoden  in  der  Bearbeitung  des  Bodens, 
in  der  Düngung  und  in  der  Verbandsanordnung  der 
Pflanzung  mit  allen  Mitteln  danach  zu  streben, 
kräftige  Mohnpflanzen  heranzuzüchten.  In  bezug 
auf  die  vorteilhafteste  Methode  der  Düngung,  die 
ja  in  ihren  Zusammenhängen  mit  dem  Schädlings- 
befall erst  in  der  allerjüngsten  Zeit  aufgedeckt 
wurde'),  macht  der  Verfasser  folgende  Angaben: 
„Durch  eine  Chilisalpeter- oder  Kalksalpeterdüngung 
wird  durch  Förderung  des  Wachstums  die  Pflanze 
kräftig  und  die  Larve  kann  sie  nicht  mehr  zu- 
grunde   richten.     Ist    von    vornherein    schon    eine 


')  Vgl.  hierzu  meinen  Bericht  „Düngung  und  Insekten- 
befall"  in  Nr.  3  S.  4"  des  heurigen  Jahrgangs  dieser  Zeit- 
schrift. 


Stickstofifdüngung  angezeigt,  also  auf  ärmeren 
Böden  oder  nach  länger  andauernden  Regengüssen 
vor  Anbau,  so  kommt,  je  nach  Boden,  Kalkstick- 
stoff  und  schwefelsaures  Ammoniak  in  Betracht. 
Für  Kalidüngung  (Holzasche)  erweist  sich  Mohn 
ebenfalls  sehr  dankbar  .  .  .  Zum  Mohn  vermeide 
man  Stallmist."  Gelingt  es  dem  Züchter  kräftige 
Mohnpflanzen  zu  erzielen,  so  ist  der 
Schaden,  den  der  Mohnwurzelrüßler  in  den 
Kulturen  anzurichten  vermag,  ein  kaum  nennens- 
werter. H.  W.  Frickhinger. 

Heilkunde.  Über  Hautschädigungen  durch 
Kalkstickstoff",  der  nun  in  viel  weiterem  Umfange 
als  in  Friedenszeiten  als  Düngermittel  verwendet 
wird,  enthält  das  „Zentralblatt  für  Gewerbehygiene" 
einen  sehr  instruktiven  Artikel  von  Medizinalrat 
Dr.  Koelsch.  Das  Kalkstickstoffpulver,  das  in 
den  Handel  kommt,  besteht  hauptsächlich  aus 
Kalziumzyanamid  (55— öo"/,,),  Ätzkalk  (20%)  und 
Kohlenstoff,  ferner  geringen  Mengen  von  Chlor, 
Eisen,  Kiesel-  und  Phosphorsäure,  Azetylen, 
Schwefel-  und  Phosphorwasserstoff.  Der  Kalzium- 
gehalt ist  etwa  4070.  was  ohne  weiteres  die 
Vermutung  nahe  legt,  daß  die  Verwendung  des 
Kalkstickstoffpulver  die  Gefahr  von  Verätzungen 
mit  sich  bringt.  Überdies  leiden  die  mit  diesem 
Pulver  gedüngten  Pflanzen,  wenn  beim  Düngen 
nicht  gewisse  Vorsichtsmaßregeln  befolgt  werden. 
So  darf  man  z.  B.  Kalkstickstoff  niemals  auf 
wachsende  Pflanzen  streuen  und  ebensowenig  in 
frisch  mit  Kalkstickstoff  gedüngten  Boden  säen. 
In  beiden  Fällen  würden  schwere  Wachstums- 
schädigungen die  Folge  sein.  Seine  Nutzwirkung 
als  Düngemittel  entfaltet  der  Kalkstickstoff  erst, 
wenn  er  einige  Zeit  im  Boden  gelegen  hat.  Er 
muß  erst  durch  die  Kohlensäure  des  Bodens  und 
andere  Bodensäuren  in  kohlensauren  Kalk  und 
Zyanamid  gespalten  werden.  Der  Kalk  wird  zum 
Teil  von  den  Zeolithen  absorbiert,  während  das 
freie  Zyanamid  durch  Aufnahme  von  Wasserstoff 
zu  Harnstoff  wird,  der  sich  seinerseits  in 
Ammoniak  bzw.  kohlensaures  Ammoniak  und 
Salpetersäure  verwandelt.  Erst  diese  Stoffe  können 
von  den  Pflanzen  aufgenommen  werden. 

Wenn  Menschen  mit  dem  Kalkstickstoff  in 
Berührung  kommen,  so  ist  ihre  Schädigung  nur 
unter  Anwendung  strenger  Vorsichtsmaßregeln  zu 
vermeiden.  Die  Gefährdung  besteht  vor  allem 
in  den  Stickstofffabriken,  wo  die  Ätzwirkung 
schon  vor  geraumer  Zeit  festgestellt  wurde. 

Überall,  wo  der  feine  Staub  an  der  Körper- 
oberfläche haften  bleibt  (Hautfalten,  durch  Schweiß- 
absonderung, feucht  gehaltene  Körperstellen,  ober- 
flächliche Schleimhäute,  Nasenlöcher  und  Mund- 
winkel) tritt  infolge  der  Ätzwirkung  des  Kalkes 
eine  Lockerung  und  Abstoßung  der  Außenhaut 
ein.  Ist  sie  einmal  entfernt,  so  schreitet  die 
Kalkeinwirkung  auf  der  freigelegten  Unterhaut 
weiter  fort  und  ruft  hier  zahlreiche  zunächst  ein- 
zeln  stehende   Geschwüre    hervor,    die  später  in- 


344 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


einander  übergehen  und  dann  schmierig  belegte, 
nässende  Wundflächen  bilden.  An  den  Schleim- 
häuten gehen  mit  der  Bildung  der  Geschwüre 
vielfach  Entzündungserscheinungen,  chronische 
Bindehautkatarrhe,  hartnäckige  Nasen-,  Rachen- 
und  Bronchialkatarrhe  Hand  in  Hand.  Bei  den 
landwirtschaftlichen  Verbrauchern  treten  vorzugs- 
weise Verätzungen  der  Füße  und  Hände  ein. 
Koelsch  führt  einige  derartige  Fälle  an. 

Einem  45  Jahre  alten  Landwirt  kam  beim 
Streuen  Kalkstickstoff  in  die  Stoffmaschen  der 
dünnen  Arbeitshose.  Kurze  Zeit  darauf  spürte 
der  Betreffende  ein  „eigentümliches  Gefühl"  in 
den  schwitzenden  Beinen.  Die  Haut  beider  Unter- 
schenkel hatte  sich  grünlich  verfärbt  und  hing 
stellenweise  in  Fetzen  herab.  Der  Arzt  stellte 
an  beiden  Unterschenkeln  hochgradige  Entzündung 
fest,  an  einzelnen  Stellen  teils  sehr  schwere  Ver- 
brennungen. Die  Heilung  nahm  fast  4  Monate 
in  Anspruch;  es  blieben  mehrere,  anfangs  empfind- 
liche, bis  handtellergroße  Narben  zurück. 

Ein  46  Jahre  alter  Landwirt  streute  mit  bloßen 
Händen  Kalkstickstoff,  obwohl  er  an  der  einen 
Hand  eine  kleine  Verletzung  hatte.  Gegen  Abend 
traten  in  Hand  und  Arm  starke  Schmerzen  auf, 
und  es  entwickelte  sich  an  der  Hand  eine  fort- 
schreitende Eiterung  mit  brandigem  Gewebezerfall, 
die  die  Amputation  des  rechten  Vorderarmes 
nötig  machte.  Im  letzten  Fall  schreibt  Koelsch 
einer  Infektion  der  Wunde  durch  Bakterien  die 
Hauptrolle  zu,  hält  es  aber  für  sehr  wahrscheinlich, 
daß  sich  die  Wunde  durch  das  Hineingeraten  von 
Kalkstickstoff  verschlimmert  habe.  Von  anderen 
Schädigungen  abgesehen,  wurden  in  allen  Fällen 
Unterschenkel  und  VüQe  befallen ,  die  Ver- 
ätzung war  immer  sehr  umfangreich  und  ihre 
Folgen  waren  langwierig.  Begünstigt  wurde  die 
Einwirkung  des  ätzenden  Staubes  dadurch,  daß 
die  betreffenden  Teile  feucht  waren,  sowie  durch 
die  Unachtsamkeit  oder  Gleichgültigkeit  der  Be- 
troffenen, die  fast  alle  noch  stundenlang  weiter- 
gearbeitet haben,  als  sie  die  Ätzwirkung  des 
Staubes  schon  längst  spüren  mußten.  Zu  be- 
achten ist,  daß  der  Kalkstickstoff  auch  Augen- 
verätzungen hervorrufen  kann,  eine  Gefahr,  die 
allerdings  auch  bei  allen  anderen  Kunstdüngern 
besteht.  Das  Reiben  der  Augen  mit  bestaubten 
Fingern  ist  deshalb  unbedingt  zu  unterlassen. 
Weitere  Vorschriften  für  die  Verbraucher  hat  die 
deutsche  Verkaufsvereinigung  für  Stickstoffdünger 
aufgestellt.  Die  großen  Kalkst  ickstoffabriken 
wurden  unter  dem  Druck  der  Kriegsverhältnisse 
in  Deutschland  gegründet.  In  den  Kreisen  der 
deutschen  Landwirtschaft  mehren  sich  ständig  die 
Stimmen,  die  sich  gegen  die  Weiterverwendung 
des  Kalkstickstoffes  nach  Rückkehr  normaler 
Wirtschaftsverhältnisse  kräftig  verwahren. 
(g.  c.)  Fehlinger. 

Über  Vergiftung  durch  Muskatnuß  berichtet 
Dr.    Beck     in    der    Münch.    med.    Wochenschr, 


(Bd.  61,  H.  16).  Zwei  Fälle,  die  er  im  Städtischen 
Krankenhause  zu  Stuttgart-Cannstatt  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatte,  betrafen  kräftig  gebaute  Dienst- 
mädchen im  Alter  von  20  und  21  Jahren.  Beide 
hatten  sich  aus  einem  halben  Liter  heißen  Weins, 
zwei  zerriebenen  Muskatnüssen  und  einer  Messer- 
spitze Zimmt  ein  Getränk  bereitet  und,  die  erstere 
zur  größeren  Hälfte,  ausgetrunken.  Bei  ihrer  Ein- 
lieferung  waren  beide  bewußtlos.  Das  Gesicht 
war  stark  gerötet,  auf  Anrufen  reagierten  sie  nicht. 
Die  Atmung  war  regelmäßig,  der  Puls  sehr 
schwach,  95  bzw.  85  Schläge  in  der  Minute.  Die 
Pupillen  waren  mittelweit  und  reagierten  auf 
Lichtreiz.  Am  Abend  stieg  der  Puls  bei  der 
ersten  Patientin,  die  die  größere  Menge  zu  sich 
genommen  hatte,  auf  120  Schläge,  die  Temperatur, 
die  bei  der  Einlieferung  37,8  betrug,  auf  38". 
Am  folgenden  Tage  sank  der  Puls  auf  90  Schläge 
und  wurde  voller.  Am  dritten  Tage  reagierte  sie 
gelegentlich  auf  Anruf,  und  erst  am  fünften  Tage 
war  das  Bewußtsein  völlig  klar,  nur  leichte  Kopf- 
schmerzen waren  zurückgeblieben.  Bei  der  zweiten 
Patientin  kehrte  das  Bewußtsein  schon  am  zweiten 
Tage  teilweise  zurück.  Am  dritten  war  es  wieder 
klar.  Beschwerden  waren  hier  nicht  zurückge- 
blieben. 

Nach  ihrer  Herstellung  gaben  beide  Patientinnen 
an,  daß  sich  kurz  nach  dem  Trinken  Atemnot, 
Gedächtnisschwäche,  Schwindel  und  Schläfrigkeit 
eingestellt  hätten.  Bei  der  ersten  ging  der  Schlaf 
in  Bewußtlosigkeit  über,  während  die  zweite  am 
Morgen  mit  schwerem  Kopfe  erwachte,  nach  dem 
Aufstehen  aber  plötzlich  taumelte  und  das  Be- 
wußtsein verlor. 

Vergiftungsfälle  durch  Muskatnuß  sind  bisher 
wenige  gemeldet,  tödlicher  Ausgang  derselben 
beim  Menschen  wohl  noch  nicht  beobachtet  worden, 
obwohl  in  einem  der  bekanntgegebenen  Pralle 
fünf  Nüsse  eingenommen  wurden.  Ihre  Giftigkeit 
wird  zurückgeführt  auf  ätherische  Öle,  die  sie 
enthalten,  und  die,  ebenso  wie  z.  B.  bei  Thuja 
(Lebensbaum),  Taxus  (Eibe)  und  Juniperus  sabina 
(Sadebaum),  in  größeren  Mengen  genossen,  giftig 
wirken.       (GTc.)  Heycke. 

Über  den  Wert  und  die  Wirkungsdauer  der 
Choleraschutzimpfung  berichtet  Prof.  Dr.  Kaup- 
München  in  der  Münch.  med.  Wochenschr.  (Bd.  63, 
Nr.  30).  Die  Ansichten  über  den  Wert  der  Schutz- 
impfungen sind,  selbst  in  Ärztekreisen,  geteilt, 
doch  läßt  sich  ihre  Bedeutung  für  die  Cholera 
nach  den  statistischen  Angaben,  die  bisher  vor- 
liegen, kaum  anzweifeln.  Der  gegenwärtige  Krieg, 
der  durch  die  schlechten  Wohnungs-  usw.  Ver- 
hältnisse, die  gewaltigen  körperlichen  Anstrengungen 
bei  gleichzeitiger  Unterernährung  den  Seuchen  den 
Boden  bereitet,  hat  in  dieser  Beziehung  reiche 
Gelegenheit  zu  Beobachtungen  gegeben.  Als  nach 
der  großen  Offensive  des  Jahres  191 5  die  ver- 
bündeten Armeen  in  die  choleraverseuchten  Ge- 
biete Galiziens  und  Rußlands  eindrangen,    konnte 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


345 


eine  Berührung  mit  der  verseuchten  Bevölkerung 
natürlich  nicht  vermieden  werden.  Auch  in  den 
Gefangenenlagern  fanden  sich  oft  Seuchenherde. 
Nach  amtlichen  Angaben  sind  im  Sommer  und 
Herbst  191 5  viele  Tausende  von  Zivilpersonen  in 
Gaiizien  an  Cholera  erkrankt.  Trotzdem  blieb  die 
Zahl  der  Erkrankungen  in  der  Armee  verhältnis- 
mäßig gering.  Bei  einem  Truppenteil  in  einer 
stark  verseuchten  Gegend,  bei  dem  die  Schutz- 
impfung 3 — 4  Wochen  zurücklag,  traten  einige 
Krankheitsfälle  auf.  Die  Neuerkrankungen  hörten 
aber  bald  auf,  ohne  daß  Nachimpfung  erfolgt 
wäre,  und  trotz  der  unverminderten  Ansteckungs- 
gefahr seitens  der  Bevölkerung.  Von  einer  Brigade 
auf  demselben  Kriegsschauplatze  wird  berichtet, 
daß  täglich  etwa  15—20  Erkrankungs-  und  3—4 
Todesfälle  vorkamen.  Nachforschungen  ergaben, 
daß  es  sich  dabei  um  Mannschaften  handelte,  die 
zum  Teil  noch  nicht  geimpft  waren.  Zweimalige 
Schutzimpfung  hatte  ein  sofortiges  Aufhören  der 
Krankheit  zur  Folge.  Im  Herbst  1914  traten  in 
einem  Gefangenenlager  in  Ungarn  zahlreiche 
Choleraerkrankungen  auf  mit  einer  Sterblichkeit 
von  etwa  50%.  Schleunigste  Impfung  der  30000 
Gefangenen  ergab  nach  5 — 6  Tagen  .'\bnehmen 
und  nach  8  Tagen  vollständiges  Aufhören  der 
Neuerkrankungen.  Ähnliche  Beobachtungen  wurden 
noch  an  vielen  anderen  Truppenteilen  in  den 
verseuchten  Gebieten,  sowie  in  vielen  Gefangenen- 
lagern gemacht. 

Wird  so  durch  die  Schutzimpfung  die  Zahl 
der  Erkrankungen  wesentlich  verringert,  so  ergibt 
sich  weiter  auch  bei  den  trotz  der  Impfung  von 
der  Krankheit  befallenen  ein  viel  milderer  Ver- 
lauf derselben.  Dagegen  trat  die  Krankheit  bei 
den  schon  vor  langer  Zeit  geimpften,  bei  denen 
die  Immunität  schon  erloschen  war,  besonders 
schwer  auf.  Merkwürdig  war  auch  die  Beobach- 
tung, daß  unter  den  Geimpften  eine  große  Zahl 
von  Vibrionenträgern  war,  d.  h.  von  solchen, 
die  den  Ansteckungsstoff  in  sich  tragen,  ohne 
selbst  krank  zu  sein.  In  einem  Falle  wurden  fast 
2  "/„  der  Mannschaften  als  Vibrionenträger  erkannt. 
Bei  einer  Arbeiterabteilung  auf  dem  serbischen 
Kriegsschauplatze  ergab  die  Untersuchung  neben 
13    Cholerakranken    20    gesunde    Vibrionenträger. 

Auch  über  die  Sterblichkeit  liegen  Zahlen  vor, 
die  allerdings  sehr  schwankend  sind,  aber  doch 
den  günstigen  Einfluß  der  Impfung  deutlich  er- 
kennen lassen.  So  betrug  bei  einer  Armee  auf 
dem  russischen  Kriegsschauplatze  die  Sterblichkeit 
der  geimpften  Erkrankten  etwa  8  "/g ,  während 
gleichzeitig  von  der  nicht  geimpften  Zivilbe- 
völkerung etwa  60  %  der  Krankheit  erlagen.  Bei 
einer  anderen  Armee  betrug  das  Verhältnis  etwa 
20 :  30,  noch  andere  geben  das  Verhältnis  an  mit 
27:49  und  19:29.  Das  sind  Zahlen  aus  dem 
Felde;  noch  günstiger  lauten  die  Berichte  aus 
festen  Plätzen.  In  einer  Festung  Galiziens  ver- 
hielt sich  die  Sterblichkeit  der  Geimpften  zu  der 
der  Nichtgeimpften  wie  6  :  22. 

Die   lange   Dauer   des   Krieges    hat   auch   die 


Frage  nach  der  Wirkungsdauer  der  Schutzimpfung 
näher  untersuchen  lassen.  Früher  war  in  der 
Regel  eine  Immunitätsdauer  von  9—12  Monaten 
angenommen  worden.  Die  Erfahrung  des  Jahres 
1915  hat  aber  gezeigt,  daß  diese  Zeit  noch  zu 
hoch  gegriffen  war.  Im  Frühjahr  dieses  Jahres, 
mit  Beginn  der  wärmeren  Jahreszeit,  häuften  sich 
unter  den  im  Herbst  vorher  geimpften  die  Er- 
krankungen bedeutend,  so  daß  man  jetzt  die 
Dauer  der  Immunität  nur  auf  3 — 5  Monate  schätzt. 
Von  einer  Armee  wird  berichtet,  daß  die  Wirkung 
bei  einzelnen  sehr  geschwächten  Personen  schon 
nach  3 — 4  Wochen  erloschen  war,  während  sonst 
bei  diesem  Heeresteile  erst  9  Monate  nach  der 
Impfung  Neuerkrankungen  in  größerer  Zahl  auf- 
zutreten pflegten.  Im  allgemeinen  wurde  die  Er- 
fahrung gemacht,  daß  Schwächung  des  Körpers 
durch  Strapazen,  ungenügende  Ernährung,  Krank- 
heiten (besonders  des  Darmes)  die  Schutzdauer 
stark  herabsetzt ,  dagegen  verlängert  normale 
Lebensweise(mäßige  Anstrengung  bei  ausreichender 
Ernährung)  die  Schutzfrist  bis  zu  6  Monaten. 

Die  Wirkung  der  Impfung  besteht  in  der 
Bildung  von  Schutzstoffen  im  Blut,  die  kurze  Zeit 
nach  der  Impfung  einen  hohen  Grad  von  Immu- 
nität hervorrufen,  dann  aber  nach  und  nach  in 
ihrer  Wirkung  nachlassen.     (g7c)  Heycke. 


Scheintod  und  Wiederbelebbarkeit  behandelt 
Dr.  Kuhn  in  der  Münch.  med.  Wochenschr. 
(Bd.  61,  Nr.  8).  Über  die  Häufigkeit  des  Schein- 
todes sind  im  Volke  wie  auch  in  der  ärztlichen 
Literatur  übertriebene  Angaben  verbreitet.  So 
soll  nach  Köper  (1799)  etwa  ein  Drittel  der 
ganzen  Menschheit  lebendig  begraben  werden, 
nach  Hartmann  (1896)  sich  das  Verhältnis  auf 
1:200,  nach  Le  Guern  auf  1:500,  nach 
Lenormand  auf  1:1000  stellen.  Daß  der 
Scheintod  schon  im  Altertum  bekannt  war,  geht 
daraus  hervor,  daß  viele  Völker  die  Leichen  vor 
der  Bestattung  erst  längere  Zeit  aufbewahrten. 
So  begruben  die  Juden  ihre  Toten  erst  nach 
3  Tagen,  die  Egypter  nach  4,  die  Spartaner  nicht 
vor  dem  10.  Tage,  die  Römer  warteten  sogar 
1 1   Tage,  bis  sie  ihre  Leichen  verbrannten. 

Um  auf  die  Frage  nach  der  Wiederbelebbarkeit 
näher  einzugehen,  so  kommt  zunächst  das  Zentral- 
nervensystem in  Betracht.  Von  diesem  ist  das 
Großhirn,  da  es  den  feinsten  Bau  hat,  auch  am 
leichtesten  zerstörbar.  Über  seine  Wiederbelebung 
herrschen  daher  —  selbst  in  Ärztekreisen  —  sehr 
pessimistische  Ansichten.  Meist  wird  die  Grenze 
der  Wiederbelebbarkeit  mit  10 — 15,  höchstens 
20  Minuten  nach  Stillstand  des  Herzens  ange- 
nommen, doch  ist  zu  beachten,  daß  es  sich  hierbei 
meist  um  Tod  durch  Unglücksfälle  oder  unter 
der  Hand  des  Chirurgen  handelt;  in  letzterem 
Falle  spielt  auch  die  Wirkung  der  Betäubungs- 
mittel auf  das  Hirn  eine  Rolle.  Daß  auch  das 
Großhirn  ziemlich  widerstandsfähig  sein  kann,  hat 
ein  Versuch  von  BrownSequard  gezeigt,  der 


346 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


einen  abgeschlagenen  Hundekopf  durch  künst- 
liche Blutzirkulation  wieder  ins  Leben  rief.  Daß 
Wiederbelebung  auch  nach  längerer  Zeit  möglich 
ist,  zeigen  vielfache  Beobachtungen.  So  sind  F'älle 
bekannt,  in  denen  Ertrunkene  selbst  Stunden 
unter  Wasser  waren  und  doch  wieder  ins  Leben 
gerufen  wurden.     Dasselbe  gilt  von  Erhängten. 

Aus  der  Natur  sind  Beispiele  dieses  latenten 
Lebens  ja  allgemein  bekannt.  So  kann  z.  B.  eine 
ganze  Reihe  von  Wassertieren  (selbst  Fische  und 
Frösche)  ruhig  einfrieren  und  lange  Zeit  in  diesem 
Zustande,  in  dem  also  keine  Spur  von  Leben 
mehr  zu  entdecken  ist,  verbleiben.  Nach  dem 
Auftauen  sind  diese  Tiere  doch  wieder  munter 
wie  vorher. 

Eine  Erklärung  für  diese  Wiederbelebung  des 
Großhirns  längere  Zeit  nach  Stillstand  des  Herzens 
können  wir  in  dem  Umstände  finden,  daß  die 
lebende  Zelle  vermöge  ihrer  Anpassungsfähigkeit 
imstande  ist,  sich  auch  an  den  geringsten  Stoff- 
wechsel zu  gewöhnen  (wie  wir  es  ja  auch  bei 
den  Tieren  während  des  Winterschlafes  beob- 
achten). In  dieser  Beziehung  wird  eine  gesunde 
Zelle  einer  geschwächten  natürlich  überlegen  sein, 
das  Kind  also  dem  älteren  Erwachsenen,  ein  gut 
genährter  Körper  dem  erschöpften  usw. 

Das  zweite  Hauptorgan ,  das  bei  der  Frage 
nach  der  Wiederbelebbarkeit  in  Betracht  kommt, 
ist  das  Herz.  Seine  Tätigkeit  können  wir  nicht 
willkürlich  beeinflussen.  Es  ist  also  vom  Groß- 
hirn unabhängig  und  hat  sein  eigenes  Nerven- 
system. Es  ist  das  Organ ,  das  den  höchsten 
Grad  von  Wiederbelebbarkeit  besitzt,  wie  sogar 
an  solchen  Säugetierherzen  nachgewiesen  ist,  die 
aus  dem  Körper  herausgeschnitten  waren.  Ein 
Durchströmen  des  Herzens,  sei  es  mit  Blut,  sei 
es  auch  nur  mit  einer  anderen  Flüssigkeit,  genügt 
oft,  es  zu  neuer  Tätigkeit  anzuregen.  Schon  ein 
mechanischer  Reiz  ist  oft  imstande,  diese  Wirkung 
hervorzurufen,  daher  gilt  schon  seit  Jahrzehnten 
bei  den  Ärzten  Beklopfen  des  Herzens  als  eins 
der  Hauptmittel  zu  seiner  Belebung.  Günstiger 
noch  wirkt  eine  methodische  Massage  des  Herzens. 
Es  wurden  hierdurch  noch  Erfolge  bis  zu 
1V2  Stunden  nach  dem  Tode  erzielt,  doch  ist 
nicht  zu  vergessen,  daß  es  sich  hierbei  nur  um 
eine  Belebung  des  Herzens,  nicht  des  ganzen 
Körpers  handelte. 

Als  drittes  Organ  kommt  die  Lunge  in  Be- 
tracht. Sie  dient  zur  Versorgung  des  Blutes  mit 
Sauerstoff  und  zur  Ausscheidung  der  gasförmigen 
Stoffwechselprodukte.  Durch  Ventilation  der 
Lunge,  also  künstliche  Atmung,  kann  man  die 
Zellen  also  am  sichersten  und  schnellsten  von 
den  im  Blute  aufgespeicherten  Giftstoffen,  be- 
sonders der  Kohlensäure  befreien. 

Alles  in  allem  genommen  ist  die  Wieder- 
belebung Verstorbener,  da  zuviel  Punkte  dabei 
ins  Auge  gefaßt  werden  müssen,  eine  sehr  schwierige 
Kunst,  die  oft  auf  viele  Stunden  ausgedehnt  werden 
muß.  Auszuschließen  sind  vorläufig  wohl  alle 
Fälle    natürlichen  Todes.     Mehr  Aussicht   auf  Er- 


folg haben  Erstickungsfälle  und  der  Tod  durch 
elektrische  Ströme.  Bei  der  Wahl  der  Mittel 
kommt  es  weniger  darauf  an,  welches  Mittel  an- 
gewandt wird ,  sondern  wie  es  angewandt  wird, 
da  Ausdauer  hierbei  die  Hauptsache  ist.  (G.C.) 
Heycke. 

Astronomie.  Die  periodischen  Veränderungen 
auf  dem  Mars  teils  auf  Grund  eigener  langjähriger 
Arbeiten,  teils  mit  Heranziehung  der  Arbeiten 
früherer  Forscher,  wie  Terby,  Jarry-Desloges, 
behandelt  Lau  in  den  Astr.  Nachr.  Nr.  4878/79, 
191 7.  Er  macht  die  bedeutungsvolle  Neuerung, 
alle  Angaben  nach  Marsjahreszeiten  zu  machen, 
und  das  Marsjahr  in  12  Monate  einzuteilen,  von 
denen  im  folgenden  die  Rede  ist,  wobei  zu  be- 
denken ist,  daß  so  ein  Marsmonat  58  Tage  lang 
ist,  und  die  4  Jahreszeiten  der  Reihe  nach  199, 
183,  146,  i59Tage.  Der  Zusammenhang  zwischen 
den  Veränderungen  und  den  Jahreszeiten  tritt 
dann  um  so  besser  hervor.  In  dem  vorliegenden 
ersten  Artikel  werden  zunächst  nur  die  Polar- 
flecke und  die  mit  ihnen  zusammenhängenden 
Sümpfe  oder  Moraste  besprochen.  Der  nördliche 
Polfleck  ist  im  Frühjahr  meist  nur  ein  mattweißer, 
sich  ständig  verändernder  Schimmer,  auch  im 
Winter  ist  er  oft  von  einem  zum  anderen  Tage 
ganz  verschwunden  und  bildet  sich  ebenso  schnell 
wieder,  so  daß  wir  bei  diesen  weißen  Massen 
nicht  an  unseren  Polarschnee  denken  dürfen,  es 
sind  entweder  nur  dünne  Schichten ,  oder  ein 
Material  wie  Kohlensäure,  das  direkt  vom  festen 
in  den  gasigen  Zustand  übergehen  kann,  oder  ein 
uns  unbekanntes  Material.  Im  Frühjahr  scheint 
der  Fleck  mehr  eine  Wolkenbank  als  eine  Schnee- 
masse zu  sein,  die  im  Juni  verschwindet,  um  von 
September  an  wieder  sichtbar  zu  werden.  Im 
Frühjahr  wird  die  nördliche  Halbkugel  von  einer 
Nebelwelle  überflutet,  über  den  ganzen  Sommer 
entstehen  neue  Nebelmassen,  die  nach  dem  Äquator 
geführt  werden,  so  daß  der  Fleck  sich  verbraucht. 
Der  südliche  P~leck  zeigt  ein  ähnliches  Verhalten, 
natürlich  in  um  ein  halbes  Jahr  verschobenen 
Zeiten.  Nur  scheint  er  beständiger  und  massiver 
zu  sein,  und  scheint  mehr  eine  Eismasse,  was 
vielleicht  seinen  Grund  darin  hat,  daß  der  Nordpol 
mitten  in  einer  weiten  Hochebene  liegt,  der 
südliche  aber  am  Boden  eines  Meeres.  Im  An- 
schluß an  diese  Veränderungen  treten  nun  in  den 
angrenzenden  Gebieten  viele  Veränderungen  auf, 
sumpfige  Stellen,  deren  Aussehen  sich  mit  der 
Jahreszeit  stark  ändert.  Lau  zeigt  dies  eingehend 
an  einer  ganzen  Anzahl  von  Fällen,  die  in  dem 
Original  nachzulesen  sind.  In  den  Kanälen  sieht 
Lau  Täler,  Einbruchst eilen,  die  sehr  breit  sind, 
sich  bisweilen  mit  Nebel  füllen,  und  dann  ver- 
schwinden, oder  doppelt  erscheinen,  wenn  der 
Nebel  sie  nur  in  der  Tiefe  ausfüllt.  Daß  es  sich 
auf  dem  Mars  überall  um  klimatologische  Ver- 
änderungen handelt,  wird  sofort  klar,  wenn  man 
das    ganz    gleichmäßige   Verhalten    der   drei   aus- 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


347 


gedehnten  polaren  Moraste  betrachtet.  Sie  sind 
im  Dezember  und  Januar  unsichtbar,  erscheinen 
im  Februar,  werden  im  März  deutlicher,  und  im 
April  am  dunkelsten.  Im  Mai  hellen  sie  auf,  im 
Juni  und  Juli  zerfallen  sie  in  Seen  und  Kanäle 
und  im  August  und  September  verbleichen  sie 
zusehends,  um  im  November  zu  verschwinden. 
Sie  sind  offenbar  im  Winter  unter  einer  dichten 
Nebeldecke  verschwunden,  deren  Bewegung  die 
Sichtbarkeit  der  Moraste  bewirkt.  Nun  kommt 
noch  eins  hinzu.  Green  hat  187S  die  bekannte 
Teiraederhypothese  aufgestellt,  die  nach  ihm 
von  anderen  angenommen  und  ausgebaut  worden 
ist.  Danach  muß  eine  erstarrte  Kugel  bei  der 
weiteren  Abkühlung  genähert  die  Tetraederform 
annehmen,  weil  sich  auf  diese  Weise  die  größte 
Verkleinerung  des  Rauminhaltes  am  besten  mit 
der  geringsten  Verkleinerung  der  ja  schon  er- 
starrten Kruste  vereinigen  läßt.  Sieht  man  nun 
die  drei  großen  Moraste  als  Einsenkungen  der 
Marsoberfläche  an,  so  findet  sich  in  der  Tat  eine 
recht  gute  Übereinstimmung  mit  der  Tetraeder- 
hypothese. Die  drei  Gebilde  entsprechen  den 
drei  Seiten  der  Figur,   während   die  Grundfläche 


dem  großen  Südpolarmeer  entsprechen  würde. 
Das  stimmt  auch  hinreichend,  wie  die  Karte  lehrt. 
Es  ergeben  sich  dann  noch  folgende  Erwägungen. 
Wie  bei  der  Erde,  so  sind  die  Einsenkungen 
natürlich  gering  im  Vergleich  mit  der  Abplattung, 
aber  doch  sehr  wichtig.  Der  nördliche  Polfleck 
kommt  auf  eine  Hochebene  zu  liegen,  deren  ab- 
fließendes Schmelzwasser  sich  in  den  drei  Ein- 
senkungen sammeln  muß,  weil  es  von  der  süd- 
lichen Einsenkung  durch  die  erhöhten  Ränder 
getrennt  ist.  Aus  demselben  Grunde  aber  muß 
das  Schmelzwasser  auf  der  antarktischen  Senke 
dort  verbleiben.  Durch  starke  Einbrüche  sind 
freilich  die  erhöhten  Ränder  durchbrochen,  wie 
die  großen  Kanäle  zeigen,  und  daher  ist  es  kaum 
möglich,  die  angenommenen  Hochebenen  an  den 
Spitzen  des  Tetraeders  nachzuweisen,  während 
die  4  Senken  sich  deutlich  kundgeben.  Leider 
kennen  wir  am  Monde  nur  die  eine  Seite,  aber 
Lau  meint,  daß  sich  doch  auch  hier  gewisse 
Analogien  nachweisen  ließen,  die  für  die  Wahr- 
scheinlichkeit   der   Tetraederhypothese    sprechen. 

Riem. 


Bücherbesprechuiigen. 


^A^arming-Gräb^er ,  Lehrbuch  der  öko- 
logischen Pflanzengeographie.  Lie- 
ferung 2-4.  Berlin  1916,  Gebr.  Bornträger. 
Im  Gegensalz  zur  floristischen  Pflanzen- 
geographie, die  sich  damit  begnügt,  mit  Hilfe 
von  Pflanzenlisten  und  Floren  eine  möglichst  um- 
fassende Beschreibung  der  Verteilung  der  Gewächse 
über  die  Erdoberfläche  auszuarbeiten,  also  einen 
rein  deskriptiven  und  inventarisierenden  Charakter 
hat,  setzt  die  ökologische  Pflanzengeographie  das 
ätiologische  Prinzip  an  die  Spitze,  indem  sie  die 
Beziehungen  der  Pflanzen  zu  ihrer  Umgebung  be- 
tont und  ihr  Aussehen  und  ihre  Lebensweise, 
ihre  Verbreitung  und  ihren  Zusammenschluß  zu 
kleineren  und  größeren  pflanzengeographischen 
Einheiten  sowie  die  sich  aus  alledem  ergebende 
Physiognomie  der  Vegetationen  als  Ausdruck, 
Korrelat  der  Umgebung  zu  verstehen  sucht.  Sie 
bedient  sich  mithin  in  weitgehendem  Maße  physio- 
logischer Hilfsmittel,  stellt  geradezu  in  gewisser 
Hinseht  eine  Art  angewandter  Physiologie  dar. 
Die  Grundlagen  dieser  vertieften  Auffassung  der 
Pflanzengeographie  wurden  zu  einem  guten  Teile 
durch  Warming  seinerzeit  in  der  ersten  Auflage 
seiner  Pflanzengeographie  gelegt.  Die  vorliegende 
dritte  Auflage,  deren  erste  Lieferung  wir  früher 
(vergl.  Naturw.  Wochenschr.  Bd.  XIV,  S.  480)  kurz 
anzeigten,  ist  inzwischen  bis  zur  4.  Lieferung  ge- 
diehen und  gibt  nunmehr  einen  ausreichenden 
Eindruck  von  der  neuen  Gestalt  des  allgemein 
bekannten  und  geschätzten  Werkes.  Es  ist  in 
vieler  Beziehung  eine  neue  Gestalt,    die    uns    ent- 


gegentritt, dank  der  namentlich  auch  durch  den 
neuen  Mitarbeiter  Gräbner  bewirkten  Erweiterung 
sowie  der  Vermehrung  des  Abbildungsmaterials. 
Über  die  Anlage  des  Buches  möge  folgende  ganz 
kurze  Übersicht  unterrichten. 

Nach  allgemeinen  Erörterungen  und  Begriffs- 
bestimmungen wird  zunächst  festgelegt,  was  man 
unter  den  „äußeren  Bedingungen"  des  Pflanzen- 
wuchses zu  verstehen  hat.  Sie  lassen  sich  unter 
dem  Schlagwort  „Standort"  zusammenfassen  und 
im  einzelnen  gliedern  in  die  breitflächig  wirkenden 
klimatischen  und  in  die  mehr  örtlich  differenzierten 
edaphischen  Bedingungen,  d.  h.  die  des  Bodens. 
Erstere  werden  dann  im  einzelnen  in  ihrer  Be- 
deutung für  das  Leben  der  Pflanzen  auf  der  Erd- 
oberfläche gekennzeichnet :  das  ziemlich  allgemein 
und  relativ  auskömmlich  zur  Verfügung  stehende 
Licht,  die  mehr  örtlich  verteilte  Wärme,  die  für 
die  Pflanzen  ganz  hervorragend  bedeutungs- 
vollen Faktoren  der  Luftfeuchtigkeit  und  der 
Niederschläge,  die  ebenfalls  sehr  mannigfaltig  sind, 
und  die  Luftbewegung.  In  dem  Abschnitt  über 
die  edaphischen  P'aktoren  wird  ein  gedrängter 
Abriß  der  Bodenkunde  gegeben,  der  Boden  also 
geschildert  in  seiner  chemischen  und  physikalischen 
Beschaffenheit,  dazu  die  Bodenluft,  das  Grund- 
wasser, die  Wasserbewegung,  die  Austrocknung, 
Absorptionskraft,  die  Bodenwärme,  die  Mächtig- 
keit der  verschiedenen  Bodenarten  usw.  Bei  der 
wichtigen  Erörterung,  ob  die  chemische  oder  die 
physikalische  Beschaffenheit  von  größerer  ursäch- 
licher Bedeutung   in   pflanzengeographischer   Hin- 


348 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


sieht  sei,  neigt  VVarming  (weniger  Gräbner)  bei 
aller  Betonung  der  Unmöglichkeit  einer  bündigen 
Entscheidung  dazu,  den  physikalischen  Bedingungen 
eine  besonders  einschneidende  Wichtigkeit  zuzu- 
schreiben. Nachdem  dann  die  ökologischen  Wir- 
kungen von  Schnee-  und  Laubdecken,  sowie  die- 
jenigen des  lebenden  Pflanzenteppichs  selber 
sowie  ganz  kurz  die  Tätigkeit  von  Tieren  und 
Pflanzen  im  Boden  (Regenwürmern,  Pilzen,  Bak- 
terien usw.)  und  ihre  Rolle  bei  seiner  Veränderung 
und  Aufbereitung  dargestellt  sind,  wird  das  Wasser 
als  ein  in  vieler  Hinsicht  eigenartiger  ,  Boden" 
einer  gesonderten  Betrachtung  unterzogen,  die 
wiederum  nach  den  Momenten  Licht,  Wärme, 
stoffliche  Zusammensetzung,  GasgehaU,  Bewegung 
gegliedert  ist. 

Hieran  reiht  sich  ein  wichtiger  Abschnitt  über 
die  „Lebensformen",  d.  h.  die  Pflanzentypen,  die  sich 
durch  die  Eigenart  der  Lebensweise,  den  Kreislauf 
ihrer  Entwicklung,  die  Tracht  usw.  unterscheiden 
lassen  und  die  als  die  Elemente  das  bestimmen,  was 
man  die  Physiognomie  einer  Vegetation  nennt. 
Solcher  pflanzengeographischer  Elemente  werden 
in  einer  systematischen  Tabelle  22  aufgestellt,  die 
hier  mitgeteilt  seien  ;  Schmarotzer  und  Ganzsapro- 
phyten,  Flechten,  Wasserpflanzen,  Muskoide  Typen, 
Lianen,  einjährige,  einjährig  überwinternde,  zwei- 
jährige und  nach  mehreren  Jahren  nur  einmal 
blühende  Pflanzen,  ausdauernde  Kräuter  mit  senk- 
rechter Grundachse  und  aufrechten  Langsprossen 
und  solche  mit  aufrechten  Blattstauden,  Rosetten- 
stauden, grasartige  Pflanzen,  Halbsträucher,  Polster- 
pflanzen, Weichstämme,  Stammsukkulenten,  diko- 
tyle  Sträucher,  monokotyle  Sträucher,  Wipfelbäume, 
Schopfbäume  und  kriechende  Pflanzen  mit  ober- 
irdischer wagerechter  Grundachse.  Diese  Typen 
werden  dann  ganz  kurz  an  Beispielen  näher  er- 
läutert. Inwiefern  sie  nun  weiter  in  Bau  und 
Lebensweise  mit  den  Bedingungen  der  Umgebung 
harmonieren,  wird  in  einer  gesonderten  Betrachtung 
auseinandergesetzt,  die  in  allgemein- physiolo- 
gischer Hinsicht  die  Wasserökonomie,  die  Durch- 
lüftung etc.  in  ihren  mannigfaltigen  Formen 
eingehend  schildert,  also  einen  Abriß  einer 
physiologischen  oder  ökologischen  Anatomie  und 
Morphologie  vorstellt. 

Der  folgende  Abschnitt  führt  nun  einen  Schritt 
weiter,  indem  er  die  Vereinigung  von  Pflanzen 
untersucht,  zunächst  ganz  allgemein  die  Wechsel- 
beziehungen der  Organismen  überhaupt,  dann  die 
Beziehungen  zwischen  Pflanzen  und  Tieren,  weiter 
den  Parasitismus,  den  Epiphytismus,  die  Sapro- 
phyten  und  die  Lianen,  um  dann  zu  dem  pflanzen- 
geographisch besonders  wichtigen  Thema  der 
„Pflanzenvereine"  überzuleiten.  Auf  der  Basis  des 
Standortbegriffes  werden  in  grundsätzlichen  und 
kritischen  Erörterungen  die  verschiedenen  Formen 
der  Gesellschaften,  ihre  Gliederung  in  Untergruppen 
und  letzte  Einheiten  präzisiert  und  abgegrenzt. 
Schließlich  werden  dann  in  dem  Abschnitt,  inner- 
halb dessen  das  4.  Heft  abbricht,  ausgeführte 
Bilder    einzelner    Formationsserien    entrollt,     die 


Formationen,  die  an  salziges  Wasser  und  salzigen 
Boden  und  die  an  süßes  Wasser  gebunden  sind, 
die  meso-  und  hygrophilen  Formationen  und  die 
Formationen  der  Torfböden.  In  allen  Abschnitten 
sind  gute  und  zweckmäßig  ausgewählte  Ab- 
bildungen eingestreut. 

Der  „ W arming-Gräbner"  kann  jedem,  der 
sich  ernsthaft  der  in  überaus  reizvoller  Weise  das 
Gesamtgebiet  der  Botanik  umfassenden  und  be- 
lebenden Wissenschaft  der  Pflanzengeographie 
widmen  will,  durchaus  empfohlen  werden.  Es  ist 
freilich  keine  leichte  Lektüre  und  erfordert,  wie 
jedes  gute  Buch  volle  Hingabe.  Wenn  ich  im 
folgenden  einige  Notizen  wiedergebe,  die  ich  bei 
der  Lektüre  niederschrieb,  so  sollen  diese  dem 
unbestreitbaren  Werte  des  Buches  keinen  Ab- 
bruch tun. 

Der  allgemeine  Teil  und  damit  auch  die  mehr 
speziellen  Abschnitte  würden  an  Straffheit,  Ein- 
heitlichkeit und  auch  vielfach  an  Tiefe  gewonnen 
haben,  wenn  die  großen  allgemeinen  biologischen 
Probleme  noch  mehr  in  den  Vordergrund  träten 
und  oft  noch  erschöpfender,  namentlich  auch  von 
ihren  physiologischen  Grundlagen  aus  analysiert 
und  pflanzengeographisch  nutzbar  gemacht  worden 
wären.  Die  große  Kardinalfrage:  wandelt  die 
Umwelt  die  Pflanzen  direkt  um,  sind  also  die  so 
und  so  viel  tausend  Pflanzenformen  das  Züchtungs- 
produkt ebensovieler  in  der  Natur  in  diesem  Be- 
trachte möglicher  Bedingungskonstellaiionen,  oder 
besiedelt  die  aus  dunklem  Grunde  hervorquellende 
Formenmannigfaltigkeit  die  Stellen  der  Erde,  die 
ihren  Gliedern  konform  ist?  hätte  vielleicht  irgend- 
wo erörtert  werden  können.  Das  führt  ohne 
weiteres  in  ganz  große  theoretische  Probleme 
hinein.  Aber  auch  bei  speziellen  Fragen  würde 
eine  tiefere  Analyse,  die  immer  an  physiologischen 
Punkten  anzuknüpfen  hätte,  fruchtbar  sein.  Ge- 
rade hier  ist  manches  nur  angedeutet.  Sehr  er- 
wünscht, ja  an  vielen  Stellen  des  Buches  geradezu 
unerläßlich  wäre  eine  ganz  allgemeine  Erörterung 
über  den  Kreislauf  der  Stoffe,  der  Frage,  woher 
sie  kommen ,  wohin  sie  gehen ,  namentlich  des 
wichtigen  Stickstoffes;  es  ließe  sich  so  z.  B.  die 
Erörterung  der  allgemeinen  Produktionsbedingungen 
im  Boden,  besonders  aber  auch  im  Wasser  noch 
wesentlich  vertiefen.  —  Der  Abschnitt  über  Boden- 
bakteriologie ist  zweifellos  zu  dürftig,  selbst  wenn 
man  ihre  Bedeutung  nicht  überschätzt.  Die  Ab- 
nahme der  Bakterien  nach  der  Tiefe  beruht  nicht 
allein  auf  der  Filtrationswirkung  des  Bodens, 
sondern  vielmehr  auf  dem  seinerseits  wieder  kom- 
plexen Phänomen  der  Abnahme  organischer  Stoffe 
nach  der  Tiefe  zu.  —  Die  Übertragung  der 
pflanzengeographischen  Erörterungen  auf  die 
mikroskopische  Lebewelt,  z.  B.  auf  die  Bakterien, 
würde  sehr  reizvoll  sein  und  ist  auch  wenigstens 
in  einigen  Punkten  möglich,  da  bereits  theoretische 
Ansätze  dazu  vorliegen.  —  Die  Literatur  ist  etwas 
einseitig  herangezogen  worden,  die  deutsche 
kommt  zweifellos  etwas  zu  kurz  dabei.  Auch  ist 
bei    der   Zitierung   der    physiologischen    Literatur 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


349 


eine  gewisse  Willkür  nicht  abzuleugnen.  —  Daß 
die  übliche  Myrmekophilie  -  Theorie  (wenn  auch 
ganz  nebenbei)  unbesehen  hingenommen  wird,  ist 
nicht  zeitgemäß.  —  Auch  der  Epiphytismus  ist 
etwas  herkömmlich  behandelt,  vor  allem  ohne 
tiefergehende  Analyse  der  Ernährungsbedingungen 
der  Epiphyten.  —  Die  Windepflanzen  legen  sich 
gewiß  nicht  in  losen  Windungen  um  die  Stütze, 
auch  wäre  die  Bezeichnung  „unselbständige 
Pflanzen"  für  Lianen  wohl  irreführend,  zum 
mindesten  mißverständlich.  Clusia  umschlingt 
den  Stützbaum  nicht  „durch  Winden",  wie  es  in 
der  Erklärung  zu  Abb.  51  heißt.  —  Unter  den 
Wurzelsymbiosen  hätte  wohl  auch  Alnus  zum 
wenigsten  erwähnt  werden  sollen.  Ob  nicht  über- 
haupt, ähnlich  wie  ja  die  Flechten  zu  einem  der 
22  Typen  erhoben  sind,  auch  die  übrigen  regel- 
mäßig symbiontischen  Pflanzen  zu  einer  Lebens- 
form sich  hätten  vereinigen  lassen  ?  Manche 
Daten  sprechen  dafür,  daß  die  symbiontischen 
Systeme  auch  ganz  bestimmte,  höchst  interessante 
pflanzengeographische  Beziehungen  erkennen 
lassen.  Das  gleiche  gilt  von  derw  Insektivoren, 
die  bisher  noch  gar  nicht  erwähnt  sind.  —  Daß 
die  Azollaalgen  frei  leben  können,  ist  bisher  nicht 
bewiesen,  wahrscheinlich  ist  das  Gegenteil  der 
Fall.  —  Ob  das  Sitzenbleiben  der  alten  Blätter 
wirklich  ein  Anpassungsmerkmal  ist?  —  Mir 
scheint,  daß  auch  die  auf  stark  oder  ausschließlich 
humosem  Boden  vorkommenden  Pflanzen  zu 
einem  besonderen  pflanzengeographischen  Typus 
zusammengefaßt  zu  werden  verdienten ,  einerlei 
ob  sie  Chlorophyll  haben,  oder  nicht.  Man  könnte 
sie  ganz  gut  als  „Humikolen"  bezeichnen. 

Miehe. 

Englands  Kampf  um  den  naturwissenschaft- 
lichen Unterricht.  Aus  dem  Englischen  über- 
tragen und  eingeleitet  vonProfDr.H.  Groß  mann. 
Stuttgart  191 7,  F.  Enkc.  —  3  M. 
Im  Bewußtsein  der  durch  diesen  ungeheuren 
Krieg  vorbereiteten  Verschiebung  der  Ideale  und 
Ziele  auf  den  verschiedensten  Gebieten  hat  man 
bei  uns  neuerdings  auch  wieder  die  Frage  der 
Erziehungsideale  in  den  Vordergrund  gerückt. 
So  sind  von  verschiedenen  Universitäten  Kund- 
gebungen hinausgegangen,  die  für  die  humanistische 
Bildung  als  die  beste  Grundlage  der  modernen 
Erziehung  eingetreten  sind.  Auch  das  hochkonser- 
vative England  hat,  aufgerüttelt  durch  die  Er- 
fahrungen des  Krieges,  Erziehungsfragen  mit  höchst 
bemerkenswerter  Energie  einer  erneuten  Prüfung 
unterzogen,  nachdem  ähnliche  frühere  Versuche 
nur  schwächliche  oder  überhaupt  keine  Ergebnisse 
gezeitigt  hatten.  Vor  etwa  einem  Jahre  fanden 
unter  dem  Vorsitz  von  Lord  Raileigh  in  der 
Versammlung  der  Linnegesellschaft  Verhandlungen 
über  Unterrichtsfragen  statt,  nachdem  die  Öffent- 
lichkeit durch  die  Presse  und  die  Gelehrten, 
Pädagogen  und  Industriellen  noch  besonders  durch 
ein  Rundschreiben  über  die  Ziele  der  neuen  Be- 
wegung   aufgeklärt     worden     waren.      Charakte- 


ristischerweise ist  es  aber  nicht  das  klassische 
Bildungsideal,  das  sich  bedroht  fühlt  von  selten 
des  naturwissenschaftlichen,  sondern  umgekehrt: 
man  macht  mit  höchstem  Nachdruck  auf  die 
schweren  Gefahren  aufmerksam,  die  der  Nation 
aus  der  Vernachlässigung  der  Naturwissenschaften 
erwachsen,  und  fordert,  daß  die  geistigen  Führer, 
die  Beamten,  die  Offiziere,  die  Fabrik-  und  Kauf- 
herren, ja  auch  z.  T.  die  Minister  eine  bessere 
naturwissenschaftliche  Ausbildung  erhalten  und 
überhaupt  die  Naturwissenschaften  aus  der  Asche, 
in  der  sie  ein  aschenbrödelariiges  unbeachtetes, 
ja  verachtetes  Dasein  gefristet  hatten,  zu  Ehren 
und  Ansehen  emporgeführt  werden  müßten.  Die 
kurzen  Ausführungen  der  zahlreichen  Redner,  zu 
denen  auch  Vertreter  der  Geisteswissenschaften, 
ja  auch  etliche  leitende  Männer  der  klassischen 
Hochburgen  Oxford  und  Cambridge  gehörten, 
sind  auch  für  uns  aus  verschiedenen  Gründen 
außerordentlich  interessant.  Sie  geben  uns  einmal 
ein  Bild  von  den  Zuständen,  wie  sie  auf  englischen 
Universitäten  und  anderen  Schulen  herrschen,  ent- 
halten aber  andererseits  auch  manche  zu  eigenem 
Nachdenken  auffordernde  Bemerkung,  die  uns 
in  unseren  Zielen  bestärken  oder  aber  auch  An- 
regungen geben  können.  Die  Verhältnisse  liegen 
ja  bei  uns  sehr  viel  günstiger;  das  meiste,  was 
dem  Engländer  als  Ideal  vorschwebt  und  auf  das 
er,  wenn  auch  oft  nur  widerwillig  oder  zwischen 
den  Worten  in  deutlichem  Hinblick  auf  Deutsch- 
land hinweist,  ist  in  unserem  Lande  schon  seit 
geraumer  Zeit  erreicht.  Aber  auch  bei  uns  wird, 
wenn  auch  die  Gefahr  einer  unerwünschten  Ver- 
schiebung von  der  anderen  Seite  droht,  stets  der 
Gedanke  der  harmonischen  Bildung,  den  auch  die 
englischen  Redner  vielfach  zum  Ausdruck  bringen, 
vor  krassen  Nützlichkeitserwägungen  nicht  ver- 
dunkelt werden  dürfen.  Kommt  doch  gar  dieser 
Gegensatz  schon  innerhalb  der  Naturwissenschaften 
selber  zum  Vorschein  1  Der  hohe  formale  und 
moralische  Wert  der  klassischen,  literarischen  und 
historischen  (und  nicht  zum  wenigsten,  möchten 
wir  noch  hinzufügen,  der  „reinen"  naturwissen- 
schaftlichen) Bildung  darf  nicht  leichtsinnig  aufs 
Spiel  gesetzt  werden.  „Wenn  auch  das  gegen- 
wärtige System",  so  haben  englische  Schriftsteller 
gesagt,  „keinen  anderen  Vorteil  gezeitigt  hat,  als 
daß  es  zum  mindesten  unserere  Jugend  gelehrt 
hat,  wie  sie  sterben  muß,  so  ist  das  doch  ein 
Vorteil."  Aber  Sir  Edward  Schaeffer,  der  diese 
Stimmen  registriert,  fügt  noch  hinzu,  daß  es  von 
gleicher  oder  vielleicht  noch  von  höherer  Bedeutung 
sei,  zu  wissen,  wie  man  in  der  Welt,  die  einen 
umgibt,  am  besten  leben  solle.  Dazu  sei,  das 
ist  der  stets  wiederkehrende  Grundgedanke  aller 
Redner,  eine  gründliche  naturwissenschaftliche 
Bildung  eine  unumgängliche  Notwendigkeit.  Es 
ist  ein  Verdienst  des  Verlages  wie  des  Übersetzers, 
diese  interessanten  Dokumente  zur  Erziehungsfrage 
dem  deutschen  Publikum  zugänglich  gemacht  zu 
haben.  Miehe. 


3SO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Becher,  Erich,  Prof.  Dr.,  Die  fremddien- 
liche Zweckmäßigkeit  der  Pflanzen- 
gallen und  die  Hypothese  eines  iiber- 
individuellen  Seelischen.  Leipzig  1917, 
Veit  &  Co. 
Der  an  der  Münchener  Universität  wirkende 
Philosoph,  der  auch  in  naturwissenschaftlichen 
Kreisen  durch  seine  „Naturphilosophie"  bekannt 
ist,  greift  in  diesem  Bändchen  wiederum  das 
Zweckmäßigkeitsproblem  an,  das  wichtigste,  aber 
auch  schwierigste  Problem  der  theoretischen 
Biologie.  Er  nähert  sich  ihm  diesmal  von  einer 
besonderen  Seite,  indem  er  nämlich  solche  zweck- 
mäßigen Strukturen  und  Einrichtungen  einer 
biologischen  und  philosophisch-kritischen  Analyse 
unterzieht,  die  nicht  dem  betreffenden  Individuum 
nützlich  sind,  sondern  ausschließlich  einem  einer 
anderen  Art  frommen.  Er  führt  für  solche 
Zweckmäßigkeiten  den  glücklichen  Terminus 
„fremddienliche"  ein  und  bezeichnet  im  Gegensatz 
dazu  als  artdienliche  die,  welche  zwar  nicht  dem 
Individuum  selbst,  aber  doch  der  Art  dienen,  und 
als  selbstdienliche  schließlich  solche,  die  dem 
Träger  der  zweckmäßigen  Anpassungen  selbst  zu- 
gute kommen.  Als  Beispiel  für  fremddienliche 
Zweckmäßigkeit  wählt  er  nun  die  Gallen  und 
berührt  damit  ein  biologisches  Fragstück  von 
höchstem  Interesse,  das  gewiß  jedem,  der  ihm 
nachdenklich  entgegengetreten  ist,  schon  viel 
Kopfzerbrechen  gemacht  hat,  das  aber,  wie  Verf. 
ganz  recht  betont,  bisher  von  der  spekulativen 
Biologie  noch  nicht  seiner  grundlegenden  Be- 
deutung entsprechend  gewürdigt  und  ausgebeutet 
worden  ist.  An  der  Hand  der  botanischen  F'ach- 
literatur,  die  er  mit  einer  anerkennenswerten  Kritik 
und  Umsicht  benutzt,  schildert  er  zunächst  an 
Beispielen  die  verschiedenen  Typen  von  Gallen, 
indem  er  überall  die  Frage  der  Fremddienlichkeit 
herausarbeitet.  Er  kommt  dabei  zu  dem  Schlüsse, 
daß  zwar  bei  manchen  der  einfacheren  Gallen- 
typen Struktur  und  Form  der  Galle  aus  gewissen 
allgemeinen  Reaktionsfähigkeiten  der  Pflanze 
heraus  erklärt  und  somit  als  Zwangsbildungen 
aufgefaßt  werden  könnten,  die  auf  den  Reiz  des 
Parasiten  ausgelöst  werden,  daß  aber  die  höchst- 
entwickelten Gallen  so  viel  spezifische,  äußerst 
sinnreiche  und  ausschließlich  dem  Parasiten  nütz- 
liche Einrichtungen  anatomischer  und  morpho- 
logischer Art  zeigen,  daß  hier  eine  auf  besonderer 
Anpassung  beruhende,  aktive  Bildungstätigkeit  der 
Pflanze  zum  Ausdruck  komme,  die  man  nur  als 
fremddienlich  bezeichnen  könne.  Wie  kann  man 
sich  nun  aber  das  Zustandekommen  solcher  Zweck- 
mäßigkeiten vorstellen  r  fragt  Verf.  weiter,  der  als 
Philosoph  nicht  an  der  Schranke  halt  macht,  die 
der  Naturforscher  mit  traditioneller  Resignation 
schlechtweg  konstatiert,  sondern  kühn  darüber 
hinaus  in  sein  eigenstes  Element  dringt.  Als 
Vertreter  eines  Psycholamarckismus  von  der  Be- 
deutung seelischer  Faktoren  bei  organischen  Vor- 
gängen durchdrungen,  kommt  Becher,  nachdem 
er    kurz    die    vitalistischen    Systeme    Schopen- 


hauer's,  v.  Hartm  ann's,  Driesch's,  Berg- 
son's,  Reinke's  an  dem  Gallenproblem  mißt, 
auch  selber  zu  der  Annahme  eines  über  das 
Individuum  hinausgreifenden ,  allverbindenden 
seelischen  Bindemittels.  In  einem  supraindivi- 
duellen, gemeinsamen  Wesensgrunde  wurzelt 
Wirtspflanze  wie  Parasit,  der  Altruismus  jener 
erschiene  damit  verständlich.  Allerdings  muß 
dann  der  Verf  weiterhin  diesen  höchst  intelligenten 
VVeltgrund  gegen  die  Einwände  und  Anklagen 
verteidigen,  die  ihm  aus  den  in  der  Natur  vor- 
kommenden Disharmonien,  Unzweckmäßigkeiten 
erwachsen.  Er  sucht  diesen  uralten  Widerspruch 
dadurch  zu  überwinden,  daß  er  annimmt,  das 
überindividuelle  Seelenwesen  ragt  mit  kleinen 
Teilen  in  die  Individuen  hinein,  gibt  gewisser- 
maßen sehr  kleine  Mengen  psychischer  Fermente 
ab,  die  als  individuelle  Seelenfaktoren  die  Indi- 
viduen zweckmäßig  beeinflussen.  Diese  gestatteten 
sich  aber  allerlei  kleine  Eigensinnigkeiten,  Sonder- 
bestrebungen und  Dummheiten,  doch  käme 
bei  allen  höheren  biologischen  Zweckzusammen- 
hängen das  intelligente  überindividuelle  Seelen- 
wesen zu  reiner  Wirkung.  Das  läßt  sich  hier 
nicht  mit  wenigen  Worten  wiedergeben  und  möge 
im  Original  nachgelesen  werden.  Hier  wollen 
wir  nur  zum  Schluß  die  Frage  aufwerfen,  ob  der 
Verf  wirklich  genötigt  ist,  in  der  zweckmäßigen 
Einrichtung  der  hochentwickelten  Gallen  eine 
reine  Fremddienlichkeit  zu  erblicken. 

Schon  an  verschiedenen  Stellen  des  Buches 
drängt  sich  dem  Leser  eine  Auffassung  auf,  die 
er  dann  auch  von  dem  Verfasser  erörtert,  aber 
abgewiesen  findet.  Seinem  Scharfsinn  ist  die 
folgende  Erklärungsmöglichkeit  nicht  verborgen 
geblieben.  Wäre  es  denn  nicht  denkbar,  daß  die 
Gallenzweckmäßigkeit  rein  auf  das  Konto  des 
Parasiten  zu  setzen  sei,  der  die  Organisationen 
im  Wirtskörper  hervorruft,  die  den  Zwecken 
seiner  Art  dienlich  sind?  Wäre  nicht  die  Phylo- 
genese der  Gallen  der  Ausdruck,  das  Korrelat 
eines  in  Wahrheit  beim  Parasiten  verlaufenen 
Selektionsprozesses,  der  zur  Ausbildung  eines 
äußerst  feinen  Verwundungs-,  Sekretionsmecha- 
nismus oder  wie  man  sonst  den  ganzen  Komplex 
von  Einwirkungen  des  Insekts  auf  den  Wirt 
nennen  will,  führte?  Wir  wissen  nun  allerdings 
gerade  über  die  Art  der  Einwirkung  des  Parasiten 
gar  nichts  genaues,  können  uns  aber  recht  gut, 
namentlich  chemische  Beeinflussungen  von  der 
gedachten  Art  vorstellen.  Nun  dürfen  dies  aller- 
dings nicht  Entwicklungsreize  schlechtweg  sein, 
die  im  Gewebe  des  Wirtes  örtlich  vorhandene 
Bildungsmöglichkeiten  (Überwallungen,  Wuche- 
rungen usw.)  anregen  oder  den  Anstoß  geben 
zu  strukturellen  Leistungen  komplizierterer  Art, 
die  zwar  in  den  allgemeinen  Fähigkeiten  des 
Wirtes  schlummern,  aber  erst  auf  diesen  Anreiz 
hin,  wenn  auch  in  verschobener,  ungeordneter 
Form  zum  Vorschein  kommen.  Denn  damit 
lassen  sich,  wie  Verf.  ganz  recht  sagt,  die  höchsten 
Gallentypen    nicht    erklären.      Für   sie    fordert    er 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


351 


eine  besondere  Potenz,  oder,  wie  wir  in  der 
Sprache  der  Vererbungslehre  besser  sagen  würden, 
Anlagen  im  Erbplasma  der  Pflanzen,  und  dieser 
latente  Anlageiikomplex  wäre  dann  ein  fremd- 
dienlicher, unterläge  also  nicht  der  Einwirkung 
des  Parasiten,  wenn  er  auch  natürlich  erst  auf 
seinen  Anreiz  in  der  Ausbildung  der  Galle  zur 
Wirksamkeit  käme.  Es  würde  sich  also  fragen, 
ob  wir  gezwungen  sind,  für  die  Ausbildung,  sagen 
wir,  einer  Deckelgalle  schon  im  Erbplasma  der 
Wirtspflanze  die  entsprechenden  Anlagen,  Gene, 
anzunehmen,  oder  ob  wir  uns  durch  eine  andere 
Annahme  helfen  können.  Da  scheint  mir  nun 
die  folgende  möglich  zu  sein.  Das  Insekt  bringt 
durch  die  Wunde  einen  Stoff  ganz  besonderer 
Art  in  das  Gewebe  des  Wirtes,  resp.  die  sich 
entwickelnde  Larve  scheidet  einen  solchen  ab. 
Er  verteilt  sich  in  einer  Anzahl  von  Protoplasten, 
wirkt  hier  aber  nicht  einfach  als  Enlwicklungs- 
katalysator,  sondern  baut  sich  in  das  Plasma  ein 
und  wirkt  mit  ihm  organisch  fort,  die  weiteren 
Entwicklungsvorgänge  milbestimmend  und  leitend. 
Dabei  müßten  wir  dann  sogleich  die  weitere 
Annahme  machen,  daß  entweder  dieser  Stoff 
selber  die  P'ähigkeit  besäße,  sich  nach  der  Weise 
lebendiger  Assimiiationsvorgänge  aus  den  ihm  zur 
Verfügung  stehenden  plasmatischen  Baustoffen  zu 
vermehren,  also  zu  wachsen ,  oder  daß  ein  sich 
etwa  aus  ihm  und  Plasmabestandteilen  der  Wirts- 
zelle herausbildendes  Produkt  die  Fähigkeit  des 
Wachstums  besitzt.  So  würde  der  Ausgang  für 
die  Galle  ein  Zellenkomplex  sein,  dessen  einzelne 
Zellen  nicht  mehr  das  reine  Erbplasma  der  übrigen 
Körperzellen  besitzen,  sondern  ein  solches,  das 
durch  den  Eintritt  einer  fremden,  vermehrungs- 
fähigen Substanz  verändert  ist;  die  Zellen  der 
Galle  enthalten  nicht  mehr  reines  Wirtsplasma, 
sondern  eben  Gallenplasma.  Freilich  kennen  wir 
ähnliche  Einwirkungen  bisher  noch  nicht,  das 
Problem  selber  aber,  durch  experimentelle  Appli- 
zierung bestimmter  Stoffe  mutativ  auf  das  Plasma 
zu  wirken,  gehört  durchaus  in  den  Ideenbereich 
der  experimentellen  Vererbungslehre.  Sie  arbeitete 
allerdings  bisher  mit  wesentlich  gröberen  Mitteln 
als  der  sechsbeinige  Experimentator,  der  wohl 
Eiweißstoffe  ganz  besonderer  Art  anwendet.  Un- 
geheuer feine  Stoffe  gewiß,  mit  deren  Mischung 
wir  aber  ganz  gut  die  äonenlange  Apotheker- 
tätigkeit der  Selektion  belasten  können,  deren 
hohe  Zusammengesetztheit  jedenfalls  nicht  wunder- 


barer wäre,  als  die  vieler  anderer,  anatomisch  oder 
morphologisch  besser  faßbarer,  d.  h.  genauer  be- 
schreibbarer Anpassungen  der  Organismen.  Ob 
sich  die  Sache  wirklich  so  verhält,  wie  wir  es 
andeuteten,  oder  nicht,  denkunmöglich  ist  obige 
Annahme  nicht  und  damit  würde  auch  ein 
zwingender  Anlaß  wegfallen,  die  Gallen  als  fremd- 
dienliche Einrichtungen  auffassen  zu  müssen. 

Die  Becher 'sehe  Schrift,  deren  Studium  sehr 
anregend  ist,  scheint  uns  insofern  ein  erfreuliches 
Ereignis,  als  in  ihr  der  Versuch  zum  Ausdruck 
kommt,  die  Philosophie  wieder  in  engere  Beziehung 
nicht  nur  zu  einzelnen  Wissenschaften,  sondern 
auch  zu  Teilproblemen  innerhalb  derselben  zu 
bringen.  Dadurch,  daß  sie  wieder  gewissermaßen 
in  die  Arena  tritt,  wird  sie  sich  einen  guten  Teil 
des  Einflusses  und  der  allgemeineren  Beachtung 
zurückerobern,  den  sie  in  ihrer  erhabenen  Selbst- 
genügsamkeit einbüßte.  Es  gibt  überall  in  den 
Naturwissenschaften  Probleme,  die  der  Forscher 
in  bewußter  Resignation,  oft  aber  auch  nur  unter 
dem  suggestiven  Druck  einer  aligemein  verbreiteten 
Geringschätzung  philosophischer  Ausgestaltungs- 
versuche nur  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  durch- 
denkt. Und  über  solche  Punkte  sich  von  dem 
weiterdenkenden  Philosophen  eine  Wegstrecke 
lang  hinausführen  zu  lassen,  ist  manchem  ein 
Bedürfnis  und  immer  eine  reizvolle  Anregung. 
Miehe. 

Steinmann,    G.,    Prof.   Dr.,    Die    Eiszeit    und 
der  vorgeschichtliche  Mensch.     2.  ver- 
mehrte und  verbesserte  Auflage.     Mit  24  Text- 
abbildungen.    Leipzig    und    Berlin    1917,    B.  G. 
Teubner.  —   1,25  M. 
Das  kleine  Bändchen    schildert    in  sehr  klarer 
Form    und  in  jener  straften,    energisch    fortschrei- 
tenden   Diktion ,    wie    sie    nur    dem    Meister    des 
Stoffes  zu  Gebote  steht,  jene  höchst  merkwürdigen 
Epochen    der   Erdgeschichte,    die    in    besonderem 
Maße  das  jetzige  Antlitz  der  Landschaft  beeinflußt 
haben. '   Einen    besonderen    Reiz    erhält    die    Dar- 
stellung durch  die  Art  und  Weise,   wie  der  Verf. 
den    Menschen    aus    diesem    geologischen    Milieu 
hervorwachsen  läßt,    als  neuen  unerhörten  Faktor 
in  der  Natur,  der  in  immer  steigendem  Maße  bis 
auf  den  heutigen  Tag  in  den  Kreis  eingreift,    aus 
dem  er  doch    selber   hervorging.     Dies  besonders 
gelungene    Bändchen    der  Teubnersammlung    ver- 
dient eine  nachdrückliche  Empfehlung.      Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zu  dem  Aufsatze  von  Prof.  Dr.  Killermann  über 
Alraun  (Mandragora),  in  Nr.  II,  S.  I377^^^Der  gelehrte 
und  kenntnisreiche  Verf.  des  genannten  Aufsatzes ,  dessen 
Arbeiten  jeder,  der  sich  für  die  Geschichte  der  Kulturpflanzen 
und  die  Beziehungen  zwischen  Pflanzenwelt  und  Vorstellungs- 
welt des  Menschen  interessiert,  so  mannigfache  Belehrung  und 
Anregung  verdankt,    möge  mir  den  Hinweis  gestalten,    dafi  er 


.in  seiner  MiUeilung  die  Aufsätze  des  Altmeisters  der  Floristik, 
P.  Ascherson's,  nicht  erwähnt  hat,  die  sich  mit  demselben 
Thema  befassen ;  sie  waren  ihm  wohl  nicht  bekannt. 
Ascherson,  der  sich,  wie  bekannt,  gern  und  wiederholt 
mit  folkloristischen  Fragen  beschäftigte,  hat  die  Mandragora 
wohl  zuerst  in  seiner  .Arbeit  über  das  Vorkommen  der 
Scopolia  carniolica  Jacq.  in  Ostpreußen  (Sitzungsber. 
d.  Gesellsch.    Naturf.  Freunde    Berlin,    1890,    Nr.   1,    S.   59  fT.) 


352 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  25 


berührt;  ausführlicher  hat  er  über  Alraune  und  jene  Solanaceen- 
Gattung  in  den  Verhandl.  Beilin.  anthropol.  Gesellsch.  1891, 
S.  729  (Zeitschr.  f.  Ethnologie  XXUI)  gehandelt;  schließlich 
dann  noch  in  einem  in  den  Bericht.  Pharmaceut.  Gesellsch. 
1892,  S.  45 — 48,  abgedruckten  Vortrage  über  Mandragora. 
In  diesen  Aufsätzen  Ascherson's  sind  teilweise  bereits  viele 
der  älteren  Literaturstellen  ausführlich  besprochen,  von  denen 
uns  auch  Killermann  berichtet;  so  z.  B.  die  Deutung  der 
Bilder  des  Codex  Neapolitanus  des  Dioscorides,  die  seltsame 
Stelle  aus  Josephus  Bellum  Judaicum  u.  a. ;  anderes  dagegen 
erfahren  wir  erst  durch  Killermann  genauer,  wie  besonders 
eine  Anzahl  von  Angaben  aus  der  Literatur  des  Mittelalters 
(z.  B.  die  der  Hildegard  und  des  Albertus  Magnus). 
Ascherson  äußert  die  Meinung,  daß  der  Name  Mandra- 
goras  des  Theophrast  wohl  unsere  Belladonna  bedeutet 
habe;  der  Name  selbst  stammt  nach  ihm  nicht  aus  dem 
Griechischen,  sondern  vermutlich  aus  der  Sprache  eines  alten 
arischen  Kulturvolkes  in  Kleinasien,  wo  noch  heute  der  aber- 
gläubische Geljrauch  der  Wurzel  seinen  Hauptsitz  hat.  Das 
Mittelalter  bei  uns  in  Mitteleuropa  hat  nach  Ascherson 
schwerlich  jemals  wirkliche  Mandragorawurzeln  gekannt,  wie 
sie  im  Orient  in  grotesker  Menschenähnlichkeit  von  eigenen 
Künstlern  durch  geschickt  angebrachte  Einschnitte,  Um- 
schnüren mit  Bindfaden  usw.  und  nachheriges  Wiedereingraben, 
um  die  Spuren  dieser  Eingriffe  verharschen  zu  lassen,  noch 
heute  zugerichtet  werden.  Der  bekannte  Anthropologe  von 
Luschan  hat  solche  Alraune  auf  seinen  Reisen  in  Kleinasien 
und  Syrien  mehrfach  erworben  und  über  sie  berichtet  (Zeitschr. 
f.  Ethnologie  XXIII,  1S91,  S.  726).  Die  europäischen  Alraune 
zeigen  (nach  Ascherson)  mit  den  orientalischen  nicht  die 
geringste  Ähnlichkeit;  nach  den  Angaben  der  Patres  der 
Botanik  wurden  sie  meist  aus  Rhizomen  von  Phragmites 
und  Wurzeln  von  Bryonia,  der  Zaunrübe,  geschnitzt,  welchen 
letzteren  man  an  den  geeigneten  Stellen  durch  eingestopfte 
Gersten-  oder  Hirsekörner,  die  man  in  der  feuchten  Erde,  in 
die  man  die  Artefakte  wieder  eingrub,  keimen  ließ,  sogar 
einen  ziemlich  natürlich  aussehenden  Haarwuchs  verschaffte. 
Unter  den  seltenen  in  einigen  Museen  aufbewahrten  Exemplaren 
abendländischer  Alraune  sind  mehrere,  wie  z.  B.  die  berühmten, 
aus  den  Sammlungen  des  Kaisers  Rudolf  II.  stammenden  der 
Wiener  Hofbibliothek ,  aus  den  Rhizomen  von  AUium 
V  i  c  t  o  r  i  a  1  i  s  (AUermannsharnisch)  hergestellt,  denen  das  Volk 
noch  heute  vielfach  geheime  Kräfte  zuschreibt  und  die  des- 
halb in  den  Apotheken  stets  guten  Absatz  finden  sollen. 
Killermann  erwähnt  1.  c.  S.  144  auch  die  Alraune 
Rudolf 's  II.,  setzt  sie  aber  in  Beziehung  zur  Mandragora, 
während  sie  nach  A.  v.  Perger  von  Allium  Victorialis 
stammen;  darüber  vgl.  R.  Beyer  in  Zeitschr.  f.  Ethnologie 
XXUI.,  1891,  S.  738,  wo  alle  wichtigeren  Angaben  über 
abendländische  Alraune  übersichtlich  zusammengestellt  sind. 
Cbrigens  hat  schon  H.  Marzell  in  seinem  auch  von  K. 
genannten  Aufsatze  über  Zauberpflanzen  (Naturw.  Wochenschr. 
1909,  .'^.  163)  auf  dieses  und  andere  mitteleuropäische  Ersatz- 
mittel für  die  echte  Mandragora  hingewiesen.  Aus  Beyer's 
Mitteilungen  ersieht  man,  daß  noch  jetzt  das  genannte  Allium 
in  der  Volksmedizin,  zum  Verrufen  des  Viehs  oder  als  Aphro- 
disiacum,  eine  Rolle  spielt,  z.  B.  in  Hinterpommern.  Es  sei 
auch  daran  erinnert,  daß  Johannes  Trojan,  der  bekannte 
Dichter  und  Botaniker,  einmal  in  dem  Berliner  Warenhaus 
A.   Wertheim    einen   Glücks-Alraun    für  2,25    Mark   eistand,    in 


einem  kleinen  Medaillon  bestehend ,  in  dem  sich  unter  Glas 
drei  Stückchen  eines  bräunlichen  Pflanzengewebes  befanden, 
die  nach  Ascherson  von  Allium  Victorialis  und  der 
ebenfalls  Inder  Volksmedizin  eine  Rolle  spielenden  S  i  e  g  w  u  r  z  , 
Gladiolus  communis,  stammten  (Trojan:  „Aus  dem  Reich 
der  Flora",  S.  158).  KiUermann's  Angabe,  daß  Dürer 
einen  Alraunapfel  von  Mandragora  deutlich  abbildet,  steht  in 
einem  gewissen  Gegensatz  zu  der  von  Ascherson  vertretenen 
Meinung,  man  habe  damals  die  echten  Alraune,  aus  den 
Wurzeln  jener  Pflanze  gefertigt,  bei  uns  kaum  je  gehabt;  in- 
dessen erwähnt  K.  doch  auch,  daß  nach  Lobelius  die 
Pflanze  in  verschiedenen  Gärten  des  südlichen  Europa,  ja  in 
England  kultiviert  worden  sei. 

Zum  Schlüsse  schreibt  K. :  „Die  östlichen  Länder  Europas 
(Walachei,  Südrufiland)  sollen  noch  Gegenden  sein,  wo  der 
Mandragorakult  in  Blüte  steht."  Dazu  sei  bemerkt,  daß  es 
sich  in  diesen  Gebieten  nach  Ascherson  offenbar  um  die 
verwandte  Solanacee  Scopolia  c  a  r  n  i  o  1  i  c  a  Jacq.  handelt; 
H.  Marzell  (a.  a.  O.  163)  gibt  dies  auch  an.  Diese  im 
Karpathcn-  und  östlichsten  .Mpengebict,  von  Wolhynien  und 
Kiew  bis  Krain,  nördlich  bis  Krakau  verbreitete  Pflanze  findet 
sich  nicht  nur  in  Siebenbürgen  und  Galizien,  sondern  auch  in 
Oberschlesien,  und  wie  Abr  omei  t  festgestellt  hat,  im  litauischen 
Teile  Ostpreußens  und  selbst  in  Kurland  in  Bauerngärten,  wo 
ihre  arzneilichen  und  toxischen  Kräfte  wohl  bekannt  sind. 
In  Siebenbürgen  gilt  sie  auch  als  Liebeszauber.  Der  rumä- 
nische Name  „matragun",  den  sie  in  letzterem  Lande  und 
der  Moldau,  wie  auch  die  nahe  verwandte  Belladonna  führt, 
deutet  darauf  hin,  daß  sich  diese  Verwendung  der  wirklichen 
und  vermeintlichen  Kräfte  der  Scopolia  an  die  gleiche  der 
Mandragora  anlehnt,  und  vielleicht  schon  in  vorchristlicher, 
spätestens  aber  in  byzantinischer  Zeit  in  den  östlichen 
Karpathenländern  stattgefunden  hat,  von  wo  aus  sie  sich, 
jedenfalls  ohne  die  Vermittelung  deutscher  Kultur,  bis  an  die 
Gestade  der  Ostsee  verbreitet  hat  (.ascherson  in  Bericht, 
pharmac.  Gesellsch.  1892,  S.  47).  —  Bei  Shakespeare 
finden  sich  außer  der  von  K.  S.  144  erwähnten  Stelle  noch 
mehrere  andere  Hinweise  auf  Mandragora;  so  z.  B.  Antonius 
und  Cleopatra  (Akt  1,  Scene  5),  wo  Cleopatra  sagt: 

Gib  mir  Mandragora  zu  trinken. 

Daß  ich   die  große  Kluft  der  Zeit  durchschlafe. 

Wo   mein  Antonius  fort  ist  1 

Auch  die  Sage,  wonach  die  Alraunwurzel  schreit,  wenn  man 
sie  aus  der  Erde  reißt,  war  Shakespeare  bekannt  (Ascherson 
in  Sitzungsber.  Anthropol.  Ges.  1S91,  S.  733;  vgl.  H.  Marzell 
a.  a.  O.  162).  —  K.  übersetzt  den  Beginn  der  betrefi'enden  Stelle 
bei  Dioscorides  so:  ,,Die  Mandragora  ...  ist  zweige- 
schlechtlich." Im  latein.  Text  heißt  es:  „duo  eius  genera". 
Das  Wort  ,, zweigeschlechtlich"  im  heutigen  Sinne  bedeutet 
aber  etwas  ganz  anderes,  als  das,  was  der  lateinische  Über- 
setzer des  Dioscorides  meinte,  der  an  getrennte  Geschlechter 
einer  und  derselben  Art  wohl  nicht  dachte,  wie  auch  aus 
anderen  Stellen  hervorgeht,  wo  das  Wort  „genus"  vorkommt ; 
,,genus"  bedeutet  dort  nichts  anderes  als  im  heuligen  Sinne 
Galtung  oder  Art.  Man  müßte  also  etwa  sagen:  ,,Von  der 
Mandragora  gibt  es  zwei  Arten".  In  der  damaligen 
Zeit  waren  die  Begriffe  Gattung  und  Art  noch  nicht  deutlich 
geschieden.  H.   Harms. 


Inhalt:  Hermann  Kadestock,  Fernwetterprophezeiung.  S.  337.  —  Einzelbelichte:  Widar  Brenner,  Selenbakterien. 
S.  340.  W.  von  Buddenbrock,  Welchen  Zweck  die  sog.  Schwingkölbchen  der  zweiflügeligen  Insekten  (Dipteren)  habei* 
S.  341.  Taschenberg,  Schlupfwespen  als  Pflanzenparasiten.  S.  342.  Emil  Hübner,  Zur  Eiablage  und  Paarung 
der  Tagfalter  in  der  Gefangenschaft.  S.  342.  Rudolf  Ranninger,  Über  die  Bekämpfung  des  Mohnwurzelrüssel- 
käfers. S.  342.  Koelsch,  Über  Hautschädiguogen  durch  Kalkslicksloft.  S.  343.  Beck,  Vergiftung  durch  Muskatnuß. 
S.  344.  Kaup,  Über  den  Wert  und  die  Wirkungsdauer  der  Choleraschutzimpfung.  S.  344.  Kuhn,  Scheintod  und 
Wiederbelebbarkeit.  S.  345.  Lau,  Veränderungen  auf  dem  Mars.  S.  346.  —  Bücherbesprechungen:  Warming- 
Gräbner,  Lehrbuch  der  ökologischen  Pflanzengeographie.  Lief.  2 — 4.  S.  347.  H.  Groß  mann,  Englands  Kampf  um 
den  naturwissenschaftlichen  Unterricht.  S.  349.  Erich  Becher,  Die  fremddienliche  Zweckmäßigkeit  der  Pflanzen- 
gallen und  die  Hypothese  eines  überindividuellen  Seelischen.  S.  350.  G.  Steinmann,  Die  Eiszeit  und  der  vorgeschicht- 
liche Mensch.  S.  351.  —  Anregungen  und  Antworten:  Zu  dem  Aufsatze  von  Prof.  Dr.  Kill  er  mann  über  Alraun 
(Mandragora).   S.  351. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonnabend,  den  30.  Juni  1917. 


Nummer  36. 


Etwas  über  den  Begriff  „Brutparasitismus". 


TNachdruck  verboten.]  Von  Prof.   Dr.   C 

In  meinem  Aufsatz  „Einige  Betraclitungen 
über  die  Begriffe  Parasit,  Raubtier  und  Pflanzen- 
räuber" (diese  Zeitschrift  Nr.  12  u.  13,  191 7)  ist 
(S.  172)  nur  ganz  kurz  auf  die  als  Brutparasitis- 
mus bezeichnete  Lebensgemeinschaft  gewisser  Tiere 
hingewiesen  und  darüber  ein  eventuell  eigener 
Artikel  in  Aussicht  genommen  worden.  Da  er 
zur  Abrundung  dieses  interessanten  biologischen 
Themas  gehört,  mag  er  hier  folgen. 

Wenn  man  den  Begriff  „Brutparasitis- 
mus" ')  lediglich  durch  diese  Bezeichnung  erklären 
wollte  und  dabei  letztere  ganz  im  Sinne  und  in 
der  ursprünglichen  Bedeutung  des  griechischen 
TTUQciaiTog  auffassen  würde,  so  wäre  darunter  zu 
verstehen,  daß  die  Brut  mancher  Tiere  ohne 
eigenes  Zutun  durch  fremde  Hand  gespeist  wird. 
Denn  das  war  der  F'all  bei  jenen  im  Tempel- 
dienste der  alten  Griechen  tätigen  Individuen,  die 
den    Namen   Parasiten    führten.      Dabei    muß    auf 


')  Wollte  man  aus  dem  Worte  „Brutparasit",  ohne  von 
dem  damit  verbundenen  Begriffe  etwas  zu  wissen,  auf  den 
letzteren  schließen,  so  könnte  man  wohl  im  Zweifel  sein,  ob 
damit  ein  Parasit  bei  der  Brut  eines  Tieres  gemeint  sei  oder 
aber  ein  im  Jugendzuslande  parasitisch  lebender  Organismus. 
Nach  .Analogie  mit, .Darmparasit",  worunter  man  einen  im  Darme 
seines  Wirtes  lebenden  Schmarotzer  versteht,  könnte  man 
„Brutparasit"  nur  in  erslerem  Sinne  verstehen,  und  damit  ist 
man  auch  im  Rechte;  daß  aber  tatsächlich  auch  die  andere 
Auffassung  nicht  nur  möglich,  sondern  auch  vertreten  ist,  be- 
weist die  in  Ziegler 's  „Zoologischen  Wörterbuch"  gegebene 
Erklärung  (unter  „Parasiten",  S.  481):  „Solche  Tiere,  bei 
welchen  nur  die  Brut  parasitisch  lebt,  werden  zuweilen  Brut- 
parasiten genannt."  Dann  wären  Brutparasiten  dasselbe  wie 
die  in  dem  gleichen  Artikel  als  „Xenositen"  bezeichneten 
Schmarotzer,  die  nur  im  Jugendzustande  parasitisch  leben  und 
denen  die  als  geschlechtsreife  Tiere  schmarotzenden  „Nosto- 
siten"  gegenüberstehen.  Wo  diese  Ausdrücke  übrigens  zum 
ersten  Male  gebraucht  sind,  ist  mir  zu  ermitteln  leider  nicht 
gelungen;  ebensowenig  aber  die  Etymologie  derselben  zu 
verstehen,  bzw.  sie  sprachlich  und  begrifflich  für  richtig  zu 
halten.  Wenn  man  für  die  nur  im  jugendlichen  Alter  para- 
sitisch lebenden  Tiere  einen  Terminus  technicus  schaffen  will, 
der  einigermaßen  das  ausdrückt,  was  er  besagen  soll,  so  wähle 
man  Pädoparasit  und  stelle  ihm  den  T  ele  oparasi  ten 
gegenüber.  Der  Fachmann  wenigstens  wird  wissen,  daß  in 
beiden  Fällen  die  zweite  Hälfte  des  Wortes  als  Subjekt,  die 
erste  als  dessen  Prädikat  anzusehen  ist.  Doflein  (,, Das  Tier 
als  Glied  des  Naturganzen",  Leipzig  u.  Berlin,  B.  G.  Teubner, 
1914,  S.  671)  definiert  Brutparasilismus  dahin,  daß  eine  Arbeit 
im  Interesse  der  Versorgung  der  Nachkommenschaft,  die  von 
anderen  geleistet  worden  ist,  von  gewissen  Bienen  unrecht- 
mäßigerweise für  ihre  eigenen  Nachkommen  zunutze  gemacht 
wird.  Und  in  ähnlicher  Weise  heißt  es  in  dem  von  M.  Luhe 
verfaßten  Artikel  ,, Parasitismus"  (im  „Handwörterbuch  der 
Naturwissenschaften"  Bd.  VII,  S.  517):  ,,Von  Brutparasitismus 
sprechen  wir,  wenn  ein  Tier  die  Brutpflege,  welche  ein  anderes 
übt,  zuungunsten  von  dessen  Nachkommenschaft  für  seine 
eigenen  Zwecke  ausnützt.  Die  Brutparasiten  schlagen  im 
Gegensatz  zu  den  echten  Parasiten  ihre  Wohnung  nicht  auf 
oder  gar  in  den  Körpern  ihrer  Opfer  auf,  sondern  in  deren 
Nestern." 


.  Taschenberg. 

den  Ausdruck  „fremde  Hand"  besonderer  Nach- 
druck gelegt  werden,  um  einen  Unterschied  zu 
dem  in  der  Zoologie  üblichen  Begriff  der  Brut- 
pflege hervorzuheben,  bei  der  es  sich  um  die 
Aufzucht  der  Brut  durch  gewisse,  im  einzelnen 
sehr  verschiedene  Maßnahmen  der  Eltern,  zum 
mindesten  des  Muttertieres  handelt. 

In  diesem  ursprünglichen  Sinne  gebraucht  man 
nun  aber,  wie  wir  wissen,  den  Ausdruck  Para- 
sitismus ^)  in  unseren  biologischen  Wissenschaften 
nicht,  sondern  in  jenem  übertragenen  Sinne,  daß 
die  unter  diesen  Begriff  fallenden  Individuen  sich 
von  integrierenden  Körperbestandteilen  anderer 
lebender  Organismen  ernähren.  Und  von  solchen 
Gesichtspunkten  aus  würde  die  Bezeichnung  „Brut- 
parasitismus" auf  die  eigenartigen  Lebens-  und 
Ernährungsverhältnisse  der  darunter  zusammen- 
gefaßten Tiere  nicht  passen,  wenigstens  in  den 
meisten  Fällen  nicht.  Das  bekannteste  Beispiel, 
welches  man  als  Brutparasilismus  anzuführen 
pflegt,  ist  der  Kuckuck,  unser  heimischer  Cuculus 
canorus, '')    dessen    Eier    in    die   Nester    kleinerer 


')  Dem  ursprünglichen  Sinne  des  Parasitismus  entspricht 
vielmehr  das,  was  wir  seit  P.  van  Beneden  Kommen- 
salismus nennen. 

')  Es  ist  bekannt,  daß  nicht  nur  unser  heimischer  Cuculus 
canorus  die  Gewohnheit  angenommen  hat,  seine  Eier  von 
anderen  Vogelarten  ausbrüten  zu  lassen,  daß  er  aber  darin 
nicht  nur  nicht  der  einzige  Vertreter  der  an  200  Arten  um- 
fassenden Familie  der  Cuculidae  ist  —  die  Mehrzahl  der 
Unterfamilien  der  Cuculinae  (Baumkuckucke)  und  Coccyslinae 
(Häherkuckucke),  erstcre  in  ca.  60,  letztere  in  50  Arten  be- 
kannt ,  machen  es  ebenso  — ,  sondern  daß  auch  unter  den 
Singvögeln  einige  Arten  sich  ihnen  anschließen,  nämlich  die 
zu  den  Stärlingen  (Icteridae)  gehörigen  amerikanischen  Kuh- 
stare  (Molothrus)  und  die  ebendahin  gehörige  Cassidia 
oryzivova,  sowie  die,  in  ihrer  Fortpflanzungsweise  aber  noch 
nicht  sicher  beobachteten  Honiganzeiger  (Indicatoridac), 
Klcttervögel,  die  in  etwa  20  Arten  im  tropischen  Asien,  haupt- 
sächlich jedoch  in  Afrika  heimisch  sind.  Man  ist  geneigt,  die 
Ursache  dieser  „Irrung"  in  der  Brutpflege  den  polyandrischen 
Gepflogenheiten  jener  Vögel  zuschreiben  zu  müssen.  —  Mit 
welchem  Rechte  Escherich  (in  seiner  trefi'lichen  Schrift 
über  die  Termiten,  Leipzig,  Klinkhardt,  1909,  S.  151)  die 
beiden  südamerikanischen  Eidechsen  (Gonatodes  humeralis  und 
Tupinambis  nigropunctatus),  die  ihre  Eier  in  Termitenbauten 
ablegen,  darum  ebenso  zu  den  Brutparasiten  rechnen  und  „an 
die  Seite  des  Schmarotzertums  des  Kuckucks  stellen"  kann, 
ist  mir  nicht  recht  verständlich;  denn  diese  Reptilien  wählen 
wohl  statt  eines  beliebigen  Erdloches  oder  sonstigen  Versteckes 
den  Schutz  von  Termitennestern  und  treiben  in  dieser  Hinsicht 
eine  unendlich  häufig  zu  beobachtende  Form  der  Brutpflege; 
aber  die  rechtmäßigen  Bewohner  dieser  Nester  haben  doch 
nicht  den  geringsten  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  fremden 
Eier,  während  die  des  Kuckucks  ohne  die  Bebrütung  der 
Pflegevögel  zugrunde  gehen  würden.  Die  Eidechsen  würden, 
wenn  man  die  für  das  Verhältnis  von  anderen  Tieren  zu  den 
in  Staaten  lebenden  Insekten  gebräuchlichen  Bezeichnungen 
wählen  wollte,  zu  den  geduldeten  Mitbewohnern  (Paröken) 
gehören,  der  Kuckuck  dagegen  zu  den  Symphilen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Vögel  gelegt  und  dessen  Junge  von  den  recht- 
mäßigen Eigentümern  jener  Nester  großgefüttert 
werden.  Diese  befremdende  Ernährungsweise  kann 
wohl  als  Kommensalismus,  als  Tischgenossenschaft, 
allerdings  in  stark  erweiterter  Form  dieses  Be- 
griffes, niemals  aber  als  Parasitismus  in  Anspruch 
genommen  werden;  denn  daß  die  rechtmäßige 
Nachkommenschaft  der  Pflegeeltern  bei  diesem 
Hilfsdienste  zugrunde  geht,  involviert  an  sich 
allein  nicht  das  Wesen  des  Parasitismus.  Dazu 
gehörte,  daß  der  junge  Kuckuck  sich  vom  Fleisch 
und  Blute  fremder  junger  Vögel  ernährte.  Und 
ganz  ebenso  verhält  es  sich  mit  den  Fällen,  die 
in  Analogie  mit  dem  vorigen  zum  Namen 
-„Kuckucksbienen"  Veranlassung  gegeben 
haben  für  gewisse,  verhältnismäßig  zahlreiche 
Bienen,  deren  Eier  ebenfalls  den  Nestern  anderer 
Bienenarten  anvertraut  werden  und  normalerweise 
zu  Imagines  werden  unter  gleichzeitiger  Ver- 
nichtung der  berechtigten  Nestbrut.  Hier  kommt 
noch  der  besondere  Umstand  hinzu,  daß  das  Ei 
oder  auch  erst  die  daraus  ausgeschlüpfte  Larve 
der  nestbauenden  Biene  von  dem  Sprößling  des 
„Kuckuckseies"  einfach  aufgefressen  wird,  wobei 
sich  letzteres  also  auch  nicht  als  Parasit,  sondern 
als  Raubtier  entpuppt. 

Wenn  man  aber  sich  gewöhnt  hat,  solche 
Entwicklungs-  und  Ernährungsverhältnisse  sub 
specie  eines  Parasitismus  und  unter  dem  Sonder- 
namen des  „Brutparasitismus"  zu  kennzeichnen,  so 
beweist  das  nur,  wie  fest  sich  in  den  Ideenkreis 
selbst  des  Fachmanns  eine  Verflachung  des  Be- 
griffes „Parasitismus"  eingeschlichen  und  festgesetzt 
hat;  wie  man  sich  gleichsam  damit  vertraut  ge- 
macht hat,  überall  da  ein  Schmarotzertum  zu 
suchen  und  zu  finden,  wo  —  um  eine  bekannte 
Ausdrucksweise  aus  dem  menschlichen  Leben  an- 
zuwenden —  jemand  „vor  fremden  Türen  kehrt", 
d.  h.  in  diesem  Falle  sich  um  andere  Tiere  be- 
kümmert, die  ihn  eigentlich  gar  nichts  angehen, 
während  er  in  Wirklichkeit  sich  soweit  mit  ihnen 
einläßt,  daß  man  nicht  mehr  weiß,  was  Mein  und 
Dein  ist. 

Freilich  liegen  in  Wirklichkeit,  wie  das  bereits 
in  unseren  früheren  Auseinandersetzungen  hervor- 
gehoben wurde,  bei  den  tausendfältigen  Beziehun- 
gen der  Lebewesen  untereinander  die  Verhältnisse 
oft  so  verworren  und  verschlungen  vor  unseren 
leiblichen  Augen  und  geistigen  Einblicken,  daß 
es  vielfach  nicht  möglich  ist,  nahverwandte  Vor- 
gänge scharf  gegenemander  abzugrenzen.  Wenn 
es  infolgedessen  auch  vielmehr  darauf  ankommt, 
das  Tatsächliche  des  Sichabspielens  der  Lebens- 
erscheinungen festzustellen,  als  unserem  Bedürf- 
nisse, in  die  Vielheit  durch  Aufstellung  von  Kate- 
gorien eine  gewisse  Ordnung  zu  bringen,  Rech- 
nung zu  tragen,  so  darf  man  doch  andererseits 
nicht  außer  acht  lassen,  daß  bei  den  Versuchen, 
eben  jenem  Bedürfnisse  nach  Einteilungen  ent- 
gegenzukommen, mit  bloßen  Worten  nichts  ge- 
wonnen ist,  wenn  ihnen  nicht  gleichzeitig  der 
richtige  Inhalt  verliehen  wird. 


Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  dürfte  es 
nicht  uninteressant  sein,  das  Thema  des  sog. 
„Brutparasitismus"  etwas  eingehender  zu  behandeln. 
Da  soll  denn  zuerst  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  keineswegs  alle  Fachleute  einstimmig  in  der 
Auffassung  sind,  man  habe  es  hier  in  der  Tat 
mit  einer  besonderen  Form  von  Parasitismus  zu 
tun.  K.  Kraepelin  in  seinem  inhaltsreichen 
Büchelchen  über  „die  Beziehungen  der  Tiere  und 
Pflanzen  zueinander"  ^)  betrachtet  die  Lebensweise 
des  jungen  Kuckucks  als  Beispiel  für  die  Synökie 
bei  einzeln  lebenden  Landtieren,  das  zugleich  zum 
Kommensalismus  gehört,  und  fügt  ihm  die  in 
Nestern  der  Schwalben  und  anderer  Vögel  hausenden 
Milben,  Bücherskorpione,  Käfer,  Mottenraupen  usw. 
an,  „die  hier  im  Detritus  ihre  Nahrung  finden". 
Alsdann  behandelt  er  die  häufige  Ausnutzung  von 
Kolonialbauten,  namentlich  der  Insektenstaaten 
(besonders  der  Ameisen-  und  Termitenwohnungen) 
durch  zahlreiche  Synöken  aus  den  Formenkreisen 
der  Spinnentiere  und  Insekten  (hauptsächlich  der 
Käfer),  die  teils  als  indifferent  geduldet,  teils  als 
Räuber  („Synechtren")  verfolgt  werden,  während 
noch  andere  als  wirkliche  Mutualibten  anzusehen 
sind  („Symphilen")  und  darum  nicht  mehr  zu  den 
Synöken  zählen.  Wohl  aber  wird  an  dieser  Stelle, 
also  unter  der  Überschrift  der  Synöken  vorläufig 
erwähnt  „die  große  Zahl  derjenigen  Insekten,  die 
ihre  Eier  an  die  zum  Zwecke  der  Brutpflege  von 
anderen  Kerbtieren  zusammengebrachten  Vorräte 
legen  (Schmarotzerhummeln ,  Kuckuckbbienen, 
Bienenameisen,  Goldwespen,  Trauerschweber,  Man- 
tispaarten);  doch  handelt  es  sich  in  allen  diesen 
Fällen,  im  Hinblick  auf  die  mit  dieser  Synökie 
einhergehenden  Vernichtung  der  jungen 
Brut  der  Wirte,  um  Verhältnisse,  die  auch 
noch  unter  einem  anderen,  später  zu  erörternden 
Gesichtspunkte  betrachtet  werden  müssen.  Ein- 
facher liegt  die  Sache  bei  den  sog.  Einmietern 
(Inquilinen)  unter  den  Gallwespen,  welche  die  be- 
reits von  anderen  Arten  hervorgerufene  Galle  zur 
Eiablage  benutzen  und  dabei  trotz  kräftigen  „Mit- 
essens" doch  wohl  nur  in  seltenen  Fällen  die  Ent- 
wickhmg  des  rechtmäßigen  Besitzers  beeinträch- 
tigen; sie  sind  echte  Synöken." 

Die  hier  wörtlich  herangezogenen  Sätze 
Kraepelin's  umfassen  im  wesentlichen  jene 
eigenartigen  Lebenserscheinungen,  die  man  viel- 
fach unter  dem  Namen  des  „Brutparasitis- 
mus" zusammengefaßt  hat.  Unser  F"orscher  ge- 
braucht diesen  Namen  selbst  nicht  dafür;  er 
kommt  aber  auf  diese  Fälle  noch  einmal  zurück 
in  dem  Kapitel,  das  die  Überschrift  „Parasitis- 
m  u  s"  trägt.  Ehe  wir  selbst  auf  die  weiteren 
Darstellungen  Kraepelin's  eingehen,  dürfte  es 
angemessen  sein,  noch  ein  wenig  bei  dem  vorher 
Zitierten  zu  verweilen  und  auf  das  besonders  hin- 
zuweisen,   worin    die    Eigenartigkeit    der   im    Zu- 


')  Zweite,  verbesserte  Auflage  in  2  Bändchen.  Leipzig  u. 
Berlin  1913,  B.  G.  Teubner.  („Aus  Natur  und  Geisteswelt" 
426.  u.  427.  Bändchen)  I,  S.  84. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


355 


sammenhange  mit  der  Synökie  erwähnten,  „aber 
auch  noch  unter  einem  anderen  Gesichtspunkte" 
betrachtbaren  F"älle  erkannt  wird,  nämlich  „die 
Vernichtung  derjungen  Brut  der  Wirt  e". 
Ich  muß  da  an  meine  Erörterungen  in  dem 
früheren  Aufsatze  anknüpfen  und  in  Erinnerung 
bringen,  daß  wir  das  eigentlich  Ausschlaggebende 
beim  Begriffe  des  Parasitismus  nicht  sowohl  in  dem 
Zugrundegehen  des  Wirtes,  als  vielmehr  in  seiner 
allmählichen  Ausnutzung  seitens  des  Parasiten  er- 
kannt haben,  der  damit  in  eine  Art  von  Gegen- 
satz zum  typischen  Raubtiere  tritt.  Wir  haben 
auch  betonen  müssen,  daß  in  gewissen  Fällen  die 
Abtötung  eines  Organismus  durch  einen  anderen 
nicht  unter  den  Begriff  des  Parasitismus  gehört,, 
nämlich  dann  nicht,  wenn  die  Vernichtung  nicht 
auf  die  Nahrungsentziehung,  sondern  auf  mecha- 
nische Ursachen  zurückzuführen  ist;  daß  ferner 
der  Grad  der  Schädigung  infolge  von  Para- 
sitismus nicht  bestimmend  sein  kann  für  die  mit 
diesem  Namen  belegte  Ernährungsweise,  die  unter 
Umständen  so  wenig  eingreifend  auf  das  Wohl- 
befinden des  Wirtes  ist,  daß  dieser  „gesund  wie 
ein  Fisch  im  Wasser"  erscheint. 

Von  einem  solchen  Standpunkte  aus  müssen 
wir  uns  tragen :  ist  es  berechtigt,  in  den  in  Be- 
tracht kommenden  Phallen  überhaupt  eine  P'orm 
von  Parasitismus  zu  erkeimen  ?  Ich  meine,  diese 
Frage  in  verneinendem  Sinne  beantworten 
zu  müssen :  einmal  weil  die  Vernichtung  des  be- 
rechtigten Nestbewohners  keine  conditio  sine  qua 
non  für  den  Begriff  des  Parasitismus  ist  und 
zweitens,  weil  in  unseren  Phallen  diese  Vernichtung 
die  P'olge  eines  ganz  unzweifelhaften  Raubanfalls  ist: 
die  Eier,  bzw.  die  ihnen  bereits  entschlüpften 
Larven  der  Brutpflege  übenden  Bienen  werden 
von  der  eingeschmuggelten  Nachkommenschaft 
der  sog.  „Brutparasiten"  einfach  aufgefressen!  Der 
damit  herrenlos  gewordene  Nahrungsvorrat  teilt 
alsdann  das  gleiche  Geschick,  so  daß  man  in 
Wirklichkeit  eine  „Tischgenossenschafi"  ohne  Wirt 
und  einen  räuberischen  Gast  vor  sich  hat. 

Und  hier  knüpfen  wir  wieder  an  die  Aus- 
führungen Krae  peli  n 's  an,  die  im  wesentlichen 
zu  dem  gleichen  Schlüsse  gelangen.  „Eine  ganze 
Reihe  schwer  unterzubringender  P'älle  liefert  end- 
lich das  bei  der  Brut pfl  ege  auftretende  Schma- 
rotzertum, dessen  bereits  .  .  .  Erwähnung  getan 
wurde."  Und  nun  führt  er  „als  klassisches  Bei- 
spiel für  die  hier  zutage  tretenden  Schwierigkeiten" 
den  Lebenslauf  der  Meloelarven  an,  die  im  Fiüh- 
ling  den  in  ein  Erdgrübchen  gelegten  Eiern  ent- 
schlüpfen, die  ersten  Blüten  des  jungen  Jahres 
mit  ihren  drei  schnellaufenden  Beinpaaren  erklettern 
(„Triangulinus"  wurden  sie  genannt,  als  man  sie 
noch  für  selbständige  Arten  hielt),  sich,  sobald 
die  Gelegenheit  es  gestattet,  mit  ihnen  an  den 
haarigen  Körper  der  ebendahin  zur  Nahrungssuche 
kommenden  Honigbienen  anklammern  und  so  in 
deren  Nester  gelangen.  Hier  erfolgt  das,  was 
vorhin  für  die  Kuckucksbienen  gesagt  wurde:  sie 
verzehren    das    Bienenei,    machen    eine    Häutung 


durch  und  damit  die  Verwandlung  in  eine  zum 
Honigaufzehren  organisierten  Larvenform,  die  unter 
Einschaltung  noch  weiterer  Metamorphosen  schließ- 
lich zum  Imagostadium  gelangt.  „Man  pflegt  — 
so  fährt  Krae  peli  n  fort  —  diese  eigentümlichen 
Gewohnheiten  der  Maiwürmer  einfach  als  Para- 
sitismus zu  bezeichnen,  obgleich  es  sich,  streng- 
genommen, bei  der  Benutzung  der  Arbeitsbiene 
als  Transportmittel  um  Synökie  (Epokie),  bei  dem 
Aufzehren  des  Bieneneis  um  die  völlige  Vernich- 
tung, um  ein  Auffressen  des  schwächeren  Tieres 
seitens  der  Maiwurmlarve  handelt,  die  demgemäß 
nunmehr  als  Raubtier  anzusprechen  wäre,  während 
sie  in  der  späteren  Phase  des  Honigfressens  zum 
einfachen  Kommensalen  wird." 

Da  sich  die  meisten  anderen  Beispiele,  die 
von  manchen  Zoologen  unter  dem  Begriffe  des 
„Brutparasitismus"  zusammengefaßt  werden,  im 
wesentlichen  ebenso  verhalten,  wie  die  Meloidae,  so 
würde  der  von  Kraepelin  in  obiger  Darlegung 
vertretene  Standpunkt  mit  der  Verneinung  der 
oben  aufgeworfenen  Frage  zusammentreffen.  Er 
sucht  indessen  diesen  verwickelten  Verhältnissen 
gegenüber  noch  einen  anderen  Ausweg  zu  finden, 
indem  er  neben  dem  gewöhnlichen  Individual- 
parasitismus,  der  nur  das  einzelne  Wirtstier  be- 
trifft, noch  einen  Kommunalparasitismus 
zu  unterscheiden  vorschlägt,  der  dadurch  charak- 
terisiert wäre,  daß  der  Schmarotzer  in  irgend- 
einem als  Ganzes  gedachten  sozialen  Gemein- 
wesen durch  Vernichtung  von  Teilmdividuen  ge- 
rade so  schädigend  wirkt,  ohne  das  Ganze  zu 
zerstören,  wie  dies  beim  gewöhnlichen  Parasitis- 
mus durch  Inanspruchnahme  von  Teilen  des 
Wirtstieres  der  Fall  ist." 

Wir  finden  auch  hier  wieder,  wie  bereits 
vorher  hervorgehoben  ist,  den  schädigenden 
Einfluß  in  den  Vordergrund  gestellt,  der  als  Be- 
gleiterscheinung des  Parasitismus  gewiß  nicht  zu 
leugnen  ist,  aber  doch  nicht  ausschlaggebend  sein 
kann,  wenn  das  Typische  dieser  Ernährungsweise 
nicht  zur  Geltung  kommt.  Daß  es  aber  tatsäch- 
lich auch  solche  Fälle  von  „Brutparasitismus"  gibt, 
wo  nicht  bloß  der  Raubtiercharakter,  sondern 
wirklich  die  für  den  Parasitismus  maßgebende 
Nahrungsaufnahme  anerkannt  werden  muß,  wird 
Gegenstand  späterer  Betrachtungen  sein.  Vor- 
läufig möchte  ich  die  Meinung  aussprechen,  daß 
der  „Brutparasitismus"  nicht  sowohl  unter 
dem  Gesichtspunkte  des  Parasitismus,  als  vielmehr 
unter  dem  der  Brutpflege  aufgefaßt  werden  muß, 
um  ihm  die  richtige  Stellung  in  unserem  biologi- 
schen Systeme  anzuweisen. 

Wenn  Parasitismus  und  Brutpflege  auf  den 
ersten  Blick,  und  namentlich  bezüglich  ihrer  Wir- 
kung bzw.  ihrer  Ziele  ziemlich  heterogene,  bei- 
nahe gegensätzliche  Vorgänge  der  tierischen 
Lebensbetätigung  zu  sein  scheinen,  so  wird  man 
doch  bei  näherer  Erwägung  gewisse  gemeinsame 
Grundzüge  beider  nicht  verkennen  können.  Denn 
um  Fragen  der  Ernährung  handelt  es  sich  hier, 
wie  dort:  beim  Parasitismus  um  die  Existenz  jedes 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Individuums,  das  sich  im  Kampfe  ums  Dasein 
seinen  Platz  erringen  muß,  sei  es  eine  Jugendform 
oder  ein  erwachsenes,  fortpflanzungsfähiges  Wesen; 
bei  der  Brutpflege  um  die  Fürsorge  für  die  Nach- 
kommenschaft, d.  h.  für  das  Fortbestehen  der  Art, 
die  gefährdet  sein  würde,  wenn  der  jungen  Brut 
nicht  von  vornherein  die  Wege  zur  Ernährung 
möglichst  geebnet  wären.  In  beiden  Fällen  sind 
es  besondere,  aber  keineswegs  voneinander  unab- 
hängige Organe,  die  im  Dienste  des  Gesamt- 
organismus in  Funktion  treten  müssen,  um  das 
angestrebte  Ziel  zu  erreichen.  Der  „Hunger"  ist 
der  Ausdruck  für  die  Notwendigkeit  der  Nahrungs- 
aufnahme; der  Besitz  von  Geschlechtsorganen 
der  Trieb  zur  Fortpflanzung.  Wir  müssen  uns 
gegenwärtig  halten,  daß  jedes  Organ,  sofern  es 
normal  ausgebildet  ist,  in  sich  gleichzeitig  die 
Notwendigkeit  des  Funktionierens  trägt,  daß  beide 
Faktoren  in  derselben  Weise  untrennbar  mitein- 
ander verbunden  sind,  wie  die  Energie  mit  der 
lebenden  Substanz,  daß  sie  nur  der  Ausdruck  für 
das  sind,  was  man  gewöhnlich  als  Kraft  und 
Stoff  bezeichnet,  die  Grundlage  als  Seienden.  Der 
innere  Zwang,  d.  h.  die  von  der  chemischen  Be- 
schaffenheit der  Grundlage  als  Ursache  ausgehende 
gesetzmäßige  Wirkung  der  Kraftäußerung  ist  in 
jedem  Organe  so  gewaltig  rege,  daß  die  Funktion 
sich  nicht  zurückdrängen  läßt,  daß  sie  nicht  selten 
in  einer  bis  zur  Brutalität  gesteigerten  Form 
zum  Ausdruck  gelangt.  Was  von  dem  höchst 
organisierten  Wesen  gesagt  ist,  gilt  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  für  alle  Lebewesen:  „Solange  bis 
den  Lauf  der  Welt  Philosophie  zusammenhält, 
erhält  sich  ihr  Getriebe  durch  Hunger  und  durch 
Liebe". 

Hunger  und  Liebe,  die  nichts  anderes  bedeuten 
als  die  Verkörperung  der  F'unktionen  von  Ver- 
dauungs-  und  Geschlechtsorganen,  sind  die  allge- 
waltigen Faktoren,  durch  die  das  Leben  in  der 
Natur  aufrecht  erhalten  wird  und  durch  die  gleich- 
zeitig der  ewige  Wechsel  zwischen  Entstehen  und 
Vergehen,  zwischen  Leben  und  Tod  bedingt  wird. 
Der  Kampf  ums  Dasein  ist  die  notwendige  Folge 
der  allen  Lebewesen  innewohnenden  Bedürfnisse, 
in  erster  Linie  sich  zu  ernähren  und  in  zweiter 
dafür  Sorge  zu  tragen,  daß  die  durch  die  unver- 
meidliche Vernichtung  ihrer  Individualität  ent- 
stehende Lücke  im  harmonischen  Getriebe  des 
Alls  wieder  ausgefüllt  werde.  Das  gleiche  Be- 
dürfnis aller  bei  einer  gewissen  Beschränkung  in 
der  Möglichkeit  der  Befriedigung  muß  notwendig 
zu  einem  Kampfe  um  die  Existenzbedingungen 
führen,  und  dieser  Kampf  ist  wiederum  die  Trieb- 
feder für  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  in  der 
Ausgestaltung  der  Lebensweise,  d.  h.  der  Lebens- 
betätigung jedes  Einzelwesens.  Wie  der  Ernäh- 
rungstrieb zur  Erschließung  aller  nur  denkbaren 
Nahrungsquellen,  aller  nur  durchführbaren  An- 
passungen an  die  inneren  und  äußeren  Lebens- 
bedingungen geführt  hat,  so  sind  durch  den  Fort- 
pflanzungstrieb u.  a.  auch  die  nicht  minder 
mannigfaltigen  Einrichtungen    und  Vorgänge    der 


Brutpflege  ins  Dasein  gerufen,  wenn  sie  auch  als 
der  Ausdruck  einer  gewissen  Organisationshöhe 
erscheinen  und  darum  nicht  in  solcher  Allgemein- 
heit auftreten,  wie  das  jeder  Zelle  inhärente  Be- 
dürfnis der  Nahrungsaufnahme.  Von  solchen  Ge- 
sichtspunkten aus  kann  man  behaupten,  daß  Para- 
sitismus, der  dem  Bedürfnis  der  Selbsterhaltung 
entsprungen  ist,  und  Brutpflege,  die  auf  Fort- 
bestehen der  Art  abzielt,  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  etwas  Gemeinsames  aufweisen,  und  eben 
darum  auch  in  den  einzelnen  Stufen  ihrer  Aus- 
bildung nicht  ohne  mancherlei  Berührungspunkte 
bleiben  konnten.  Wie  der  Ernährungstrieb  er- 
finderisch macht  und  Erscheinungen  zeitigt,  die 
in  der  menschlichen  Sprache  als  ehrlicher  Erwerb, 
saurer  Verdienst,  unlauterer  Wettbewerb,  Eigen- 
tumsverletzung, Entwendung,  Diebstahl,  Raub, 
Vergewaltigung,  Verdrängung,  Usurpation  und  wie 
sonst  noch  bezeichnet  werden,  Dinge,  in  denen 
es  die  „Krone  der  Schöpfung"  selbstverständlich 
noch  viel  weiter  gebracht  hat  als  alle  anderen 
Bestien,  so  muß  auch  der  Trieb,  für  die  Nach- 
kommenschaft zu  sorgen,  vielfach  einer  Konkur- 
renz begegnen,  da  bei  gleichen  oder  ähnlichen 
Bestrebungen  nach  Schutz  eine  freie  Wahl  ge- 
waltig eingeschränkt  wird,  und  der  Stärkere  den 
Schwächeren  zu  verdrängen  sucht.  Es  wird  auch 
auf  diesem  Gebiete  ein  Kampf  angefacht,  der  in 
seinem  Gefolge  alle  möglichen,  vom  Rechtsstand- 
punkte des  Menschen  aus  oft  sehr  fragwürdigen 
Mittel  zur  Erreichung  des  Zieles  hat  und  auch 
zu  mannigfachen  Vergleichungen  zwischen  dem 
Menschen  und  anderen  Tieren  herausfordert. 
Oder  wäre  es  bei  ersterem  etwa  unerhört,  daß 
den  rechtmäßigen  Eltern  ihr  Kind  geraubt  und 
ein  anderes  dafür  untergeschoben,  daß  ihnen 
wider  Willen  zu  den  eigenen  Nachkommen  noch 
ein  fremdes  Kind  heimlich  ins  Haus  gebracht 
wird  oder  andererseits,  daß  eine  junge  Mutter 
genötigt  oder  dazu  geneigt  ist,  unter  Vernach- 
lässigung ihres  Säuglings  die  Brutpflege  bei 
anderen  Kindern  zu  übernehmen?  Wird  es  nicht 
als  Fortschritt  der  Kultur  gepriesen,  daß  man 
einzelnen  Hausvögeln  ihre  Eier  wegnimmt,  ge- 
wissen Haustieren  ihre  Jungen  entzieht,  um  die 
zu  deren  Ernährung  produzierte  Milch  in  seinem 
Interesse  zu  benutzen?  Wie  können  wir  uns 
wundern,  wenn  wir  schon  bei  verhältnismäßig 
niedrig  organisierten  Tieren  ein  Verfahren  der 
Brutpflege  finden,  das  wir  von  unserem  Stand- 
punkte aus  für  äußerst  erfinderisch,  für  raffiniert, 
für  bewundernswert  erklären  müssen  und  daß 
andererseits  bei  Geschöpfen,  von  denen  die  sog. 
„moralischen"  Grundsätze  nicht  erwartet  werden 
können,  doch  im  hohen  Grade  von  dem  Zeugnis 
ablegt,  was  wir  bei  unserer  eigenen  Art  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  höchsten  weiblichen 
Tugend  zu  schätzen  und  zu  rühmen  wissen.  Und 
in  der  Tat:  nur  der  in  seiner  „Gottähnlichkeil" 
zum  Hochmut  Herangebildete  kann  in  Abrede 
stellen,  daß  auch  auf  diesem  Gebiete  der 
Mensch  nur  eine  höhere  Stufe  von  Beanlagungen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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zu  erreichen  vermag,  deren  Anfänge  bis  weit 
hinab  in  die  Reihen  der  unter  ihm  stehenden 
Tiere  verfolgt  werden  können;  daß  auch  beim 
Menschen  die  höchste  Form  der  aufopferndsten 
Mutterliebe  als  nichts  anderes  aufgefaßt  werden 
kann,  als  die  durch  hohe  psychische  Beanlagung 
unterstützte,  geregelte  und  veredelte  Funktion  der 
Organe,  ohne  welche  die  Menschheit  nicht  über 
Adam  und  Eva  hinaus  zur  Entwicklung  gelangt 
wäre  I 

Es  kann  nicht  unsere  Absicht  sein,  hier  den 
unendlich  zahlreichen  und  mannigfaltigen  F"ormen 
der  im  Tierreiche  verbreiteten  Brutpflege  näher- 
zutreten. Es  sollte  nur  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  die  mit  der  sexuellen  Sphäre  zusammen- 
hängenden Instinkte  der  Tiere  eine  in  ähnlicher 
Weise  sich  geltend  machende  Macht  repräsentieren 
wie  das  Ernährungsbedürfnis  und  daß  infolge- 
dessen auf  beiden  Gebieten  auch  analoge  Mittel 
zur  Anwendung  kommen,  um  das  instinktive  Be- 
dürfnis zu  befriedigen.  Wir  lernten  in  einem 
früheren  Artikel  kennen,  wie  Raubtier  und  Parasit 
keine  Gegensätze,  sondern  nur  der  Ausdruck 
einander  eng  berührender  Ernährungsweisen  sind; 
daß  das  Zu.sammenleben  verschiedener  Tierarten 
von  mehr  oder  weniger  zufälligen  und  für  beide 
Teile  indifferenten  Anfängen  sich  zu  sehr  eigen- 
artigen Verhältnissen  herausbilden  kann,  die  so- 
wohl freundschafdichcn  wie  feindlichen  und  damit 
schädlichen  Charakter  annehmen,  wodurch  auch 
hier  die  Grenzen  zwischen  Tischgenossenschaft, 
Mutualismus  und  Parasitismus  verwischt  werden. 
Und  zu  ganz  ähnlichen  Resultaten  kann  auch  die 
Brutpflege  führen,  bei  deren  ursprünglicher  und 
einfachster  Form  die  in  ihrem  Dienste  stehenden 
Individuen  —  sit  venia  verbo  —  nur  an  den 
Schutz  ihrer  Eier  und  Jungen  „dachten",  ohne  die 
Absicht  zu  haben,  dabei  andere  benachteiligen 
zu  wollen. 

Der  instinktive  Trieb  auf  der  einen,  die  Schwie- 
rigkeiten, ihm  gerecht  werden  zu  können,  auf  der 
anderen  Seite  schufen  Rücksichtslosigkeiten  und 
Gewalttätigkeiten,  wie  sie  nicht  ausbleiben,  wo 
„Macht  vor  Recht  geht"  und  man  von  beati  pos- 
sidentes  spricht.  Wenn  der  Kommensalismus 
ebenso  zum  Parasitismus  sich  steigern  wie  das 
Räuberhandwerk  sich  dazu  abschwächen  kann,  so 
vermag  auch  bei  der  Brutpflege  die  harmlose 
Synökie  nach  der  einen  und  der  anderen  Rich- 
tung auszuarten  und  das,  was  im  Bedürfnisse  der 
Fürsorge  für  die  Nachkommenschaft  der  einen 
Art  unternommen  wird,  die  Vernichtung  einer 
anderen  nachsichzuziehen.  Die  Form,  unter 
welcher  eine  solche  Schädigung  zustande  kommt, 
bleibt  maßgebend  für  unsere  Klassifizierung  und 
deren  Benennung,  die  ihren  Zweck  verfehlt,  wenn 
sie  sich  nicht  deckt  mit  einem  bestimmten  Be- 
griffe. Und  damit  sind  wir  wieder  an  dem  Punkte 
unserer  negativen  Stellung  dem  Ausdrucke  „Brut- 
parasitismus" gegenüber  angelangt,  soweit  es 
sich  um  die  bisher  berücksichtigten  Fälle  der  so 
bezeichneten  Brutpflege  handelt. 


Viel  älter  als  der  Ausdruck  „Brutparasitis- 
mus" ist  der  entsprechende  für  die  betreffenden 
Formenkreise  von  Hymenopteren,  die  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  beurteilt  werden,  nämlich 
Schmarotzerbienen,  Schmarotzer  bum- 
meln. Sie  sind  meines  Wissens  bisher  unbean- 
standet beibehalten  aus  einer  Zeit,  wo  man  den 
Begriff  des  Schmarotzertums  viel  allgemeiner  faßte 
als  heutzutage,  wo  man  weder  von  Kommensalis- 
mus noch  von  Synökie  sprach,  sondern  eben 
überall,  wo  man  zwei  verschiedene  Arten  in  engerer 
Lebensbeziehung  antraf,  nur  „Parasiten"  erblickte. 
.  Mit  dem  Begriffe  des  Parasitismus  hat  es  in 
unserer  Wissenschaft  eine  eigenartige  Bewandtnis. 
Er  ist,  wie  in  unserem  ersten  Artikel  darüber 
hervorgehoben  wurde,  so  alt  wie  das  klassische 
Altertum  und  bezog  sich  ursprünglich,  ohne  jede 
Nebenbedeutung,  auf  eine  Priesterkaste  bzw.  auf 
gewisse  im  Dienst  der  Tempel  stehende  Indivi- 
duen, die  auf  öffentliche  Kosten  gespeist  wurden; 
und  wenn  schon  aus  jener  Zeit  das  Wort  als 
Attribut  zu  Fisch  gebraucht  ist  (Ix&ig  naocioiTog), 
so  geschieht  es  lediglich  in  dem  Sinne  von  etwas 
Gesottenem  als  Zukost  zum  Brote  (gleich  oipov). 
Als  es  dann  später  mit  dem  Beigeschmack  der 
Geringschätzung,  ja  der  Verspottung  auf  gewisse 
Menschen  Anwendung  fand,  die  sich  jene  Vor- 
rechte der  Tempeldiener  zu  verschaffen  suchten, 
ohne  dafür  eine  entsprechende  Leistung  im  Inter- 
esse der  Gölterverehrung  zu  tun,  da  erstreckte 
sich  die  Bezeichnung  ebenfalls  nur  auf  den  Men- 
schen im  Sinne  von  Possenreißern,  Schmeichlern, 
Gaunern,  für  die  man  außerdem  die  Ausdrücke 
ßioiio'Kö%oq  und  TA6ßu'Ko<i  hatte,  deren  ersterer 
wiederum  eine  gewisse  Beziehung  zu  den  Al- 
tären zeigte,  die  schon  damals,  wie  noch  heutigen- 
tags, umlauert  wurden  von  Gesindel,  das  vom 
Opfer  etwas  zu  erbetteln  sucht.  Und  in  diesem 
Sinne  übernahmen  auch  die  Römer  das  gleiche 
Wort  in  ihre  Sprache,  aber  bei  Plinius  finden  wir 
es  bereits  auch  auf  gewisse  Tiere  übertragen.  Im 
Laufe  der  Zeiten  wurden  unsere  Kenntnisse  von 
parasitischen  Tieren  außerordentlich  erweitert  und 
der  Begriff  „Parasit"  sowohl  für  Menschen  und 
Tiere  beibehalten,  wie  bis  zum  heutigen  Tag,  nur 
daß  er  allmählich  in  den  biologischen  Wissen- 
schaften einer  kritischeren  Prüfung  unterworfen 
und  in  der  von  uns  besprochenen  Weise  enger 
umgrenzt,  schärfer  definiert  wurde.  Trotzdem 
spielt  die  auf  den  Menschen  übertragene  Bedeu- 
tung des  Wortes  uns  gelegentlich  noch  einen 
Streich,  ^)  wie  das  im  Grunde  nicht  zu  verwundern 

')  Mit  welcher  H.-irmlosigkeit  der  .Ausdruck  „Parasitismus" 
gelegentlich  angewandt  und  gemißbraucht  wird,  zeigt  uns  u.  a. 
eine  interessante  Beobachtung  des  vortrefflichen  Hummel- 
forschers Eduard  Hoffer,  der  ein  freches  Spalzcnmännchen 
als  echten  Slrafienräuber  cnUarvte,  indem  es  einer  Bachstelzen- 
mutter das  für  ihre  Nestjungen  bestimmte  Futter  aus  dem 
Schnabel  entriß,  um  seine  eigenen  Jungen  damit  zu  versorgen. 
Dies  wiederholt  von  ihm  beobachtete  Verfahren  teilt  unser 
.Jiutor  (im  15.  Bande  des  „Kosmos"  1885,  S.  449)  unter  der 
Überschrift  mit  „Eine  merkwürdige  Form  des  Parasitismus 
unseres  Haussperlings  1" 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ist,  wenn  man  dasselbe  Wort  für  Dinge  gebraucht, 
die  sich  nicht  vollkommen  decken.  Denn  daß 
das  Wort  „Parasit"  für  einen  Menschen,  bzw.  für 
eine  gewisse  Kategorie  von  Menschen  nur  bild- 
lich, nur  im  übertragenen  Sinne  aufzunehmen 
ist,  versteht  sich  von  selbst;  wie  man  auch  in 
ähnlicher  Weise  den  Menschen  mit  einem  Raub- 
tiere vergleicht.  Diese  vergleichsweise  Über- 
tragung von  Handlungsweisen  der  Tiere  auf 
Menschen  und  umgekehrt  soll  dazu  dienen,  das 
Verständnis  für  das  eigentliche  Wesen  solcher 
Betätigungen  zu  erhöhen;  etwas,  was  weniger 
allgemein  bekannt  ist,  durch  den  Vergleich  mit 
dem,  was  den  meisten  völlig  klar  vor  Augen 
steht,  gleichsam  zu  illustrieren.  Um  Eigentüm- 
lichkeiten, die  dem  Menschen  nicht  zur  Zierde 
gereichen,  zu  geißeln,  weisen  wir  auf  deren  Tier- 
ähnlichkeit hin,  wie  gelegentlich  auch  umgekehrt, 
um  menschliche  Tugenden  (Mut,  Ausdauer,  Fleiß) 
rühmend  hervorzuheben,  Parallelen  mit  Tieren  ge- 
zogen werden,  die  als  Sinnbilder  für  jene  Vorzüge 
gelten  (wie  der  Löwe,  das  Pferd,  die  Biene, 
Ameise  usw.).  Auf  der  anderen  Seite  suchen  wir 
die  durch  genaue  Beobachtungen  seitens  der 
Fachleute  und  anderer  Berufener  festgestellten 
Lebensäußerungen  der  unter  uns  stehenden  Ge- 
schöpfe dem  Laien  durch  Vergleichung  mit  mensch- 
lichen Gesinnungen  und  Handlungen  ins  rechte 
Licht  zu  stellen  und  dabei  brauchen  wir  auch 
dieselben  Ausdrücke  für  beide.  Das  muß  voll- 
kommen begreiflich  erscheinen,  weil  etwas  be- 
griffen werden  soll,  und  darum  ist  dies  Mittel 
der  Verständigung  durchaus  erlaubt,  nur  darf 
eins  dabei  nicht  außer  acht  gelassen  werden:  die 
Berechtigung  der  bekannten  Worte  „si  duo  faciunt 
idem,  non  est  idem".  Sehr  häufig  ist  die  Be- 
tätigung des  Menschen  auf  einen  sehr  verwickelten 
psychischen  Prozeß  zurückzuführen,  bei  dem  das 
klare  Bewußtsein  seiner  Handlungsweise  eine 
hervorragende  Rolle  spielt,  während  ähnliche  Re- 
sultate bei  Tieren  meist  nur  als  Äußerungen  des 
„Instinktes'  aufzufassen  sind,  eine  dem  Men- 
schen keineswegs  abgehende,  nicht  minder  als 
Ausfluß  des  Zentralnervensystems  zu  erklärende 
Lebenserscheinung,  über  die  die  meisten  Tiere 
nicht  hinausgelangen,  weil  ihnen  der  hochent- 
wickelte Organisationsgrad  fehlt.  Dieses  gewal- 
tigen, wenn  auch  nicht  prinzipiellen,  so  doch 
gradweise  hervortretenden  Unterschiedes  zwischen 
Menschen  und  niederen  Tieren  müssen  wir  uns 
bewußt  bleiben,  wenn  wir  die  beiderseitigen 
Lebensäußerungen  miteinander  vergleichen.    Das, 


was  wir  zum  Maßstabe  für  das  Handeln  des 
Menschen  wählen,  basiert  auf  dem  Bewußtsein 
der  Begriffe  „Recht"  und  „Unrecht",  „erlaubt"  und 
„verboten",  „tugendhaft"  und  „verwerflich",  mit 
einem  Worte  auf  „moralischer"  Grundlage. 
Wieweit  eine  solche  in  ihren  Anfängen  bereits 
bei  manchen  Tieren  anerkannt  werden  kann,  mag 
dahingestellt  bleiben  —  vi/enn  man  dem  Hunde 
Anhänglichkeit,  Treue,  Freude,  Schmerz,  Furcht, 
Dankbarkeit  usw.  nachrühmt,  so  dürften  das  nicht 
bloß  Worte,  nicht  bloß  vergleichsweise  Ausdrücke 
sein  —  eins  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß 
sie  bei  den  allermeisten  Tieren  fehlen,  auch  nicht 
zu  erwarten  sind.  Wenn  wir  dieser  Tatsache 
eingedenk  bleiben,  müssen  wir  den  Standpunkt 
der  Verantwortlichkeit,  der  bei  Beurteilung  der 
menschlichen  Handlungen  als  etwas  Selbstver- 
ständliches erscheint,  für  die  Lebensäußerungen 
der  Tiere  vollständig  fallen  lassen.  Dann  müssen 
aber  auch  die  Folgerungen,  die  wir  für  uns  aus 
der  Verantwortlichkeit  ziehen,  den  Tieren  gegen- 
über unterbleiben,  und  doch  lassen  wir  uns  oft 
unwillkürlich  und  gerade  bei  Anwendung 
gleicher  Worte  für  menschliche  und  tierische 
Handlungen  dazu  verleiten,  den  Tieren  mit  Vor- 
würfen gegenüberzutreten.  Wenn  eins  dem  anderen 
etwas  wegnimmt,  es  vergewaltigt,  es  aus  seinen 
scheinbaren  „Rechten"  verdrängt,  seine  Nahrung, 
seine  Wohnung  kurzerhand  für  sich  in  Anspruch 
nimmt,  also  wenn  sich  alle  die  Einzelheiten  vor 
unseren  Augen  abspielen,  die  wir  als  Tisch- 
genossenschaft, als  Synökie,  als  Schmarotzertum, 
als  Brutparasitismus  bezeichnen,  dann  laufen  wir 
Gefahr,  durch  die  Vergleichung  mit  dem  Leben 
des  Menschen  nicht  nur  das  Verständnis  für  die 
Handlungen  der  Tiere  zu  erwecken,  was  durchaus 
berechtigt  ist,  sondern  sie  gleichzeitig  mit  dem 
Maßstab  zu  messen,  den  wir  an  uns  selbst  anzu- 
legen gewohnt  sind.  Und  darin  liegt  der  Fehler, 
darin  liegt  der  Grund,  weshalb  wir  Bezeichnungen 
gewohnheitsmäßig  beibehalten,  die  den  damit 
verbundenen  Begriffen  nicht  entsprechen.  Das 
Tier  handelt  ein  für  allemal  nach  dem  Grund- 
satze —  natürlich  ohne  sich  eines  solchen  bewußt 
zu  sein  —  „greift  nur  zu  und  seid  nicht  blöde!" 
Wie  sehr  es  in  der  menschlichen  Natur  liegt, 
genau  so  zu  verfahren  —  wer  könnte,  wer  wollte 
es  bezweifeln,  zumal  wenn  er  eine  Zeit  erlebt, 
wie  die  gegenwärtige!  „Encheiresin  naturae  nennt's 
die  Chemie,  spottet  ihrer  selbst  und  weiß  nicht  wie." 

(Schluß  folgt.) 


Einzelberichte. 


Biologie.     Die  Probleme,  Lebensdauer,  Altern 
und    Tod ,    die    K  o  r  s  c  h  e  1 1  M     in    einem    aus 


')  Korscheit,  E.,  Prof.  Dr.,  Lebensdauer,    Altern  u 
Tod.   Mit  44  Textabbildungen.    Jena  1917,  G.  Fischer.  —  5 


den  „Beiträgen  zur  Pathologischen  Anatomie 
und  zur  allgemeinen  Pathologie"  Bd.  63  abge- 
druckten und  F.  Marchand  zu  seinem  70.  Ge- 
burtstage gewidmeten  Buche  erörtert,  haben  von 
jeher    eine    besondere    Anziehungskraft    ausgeübt 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


359 


und  sind  bekannthch  des  öfteren  bereits  von 
hervorragenden  Biologen,  so  besonders  von 
Weismann  behandelt  worden.  Die  Schrift  kann 
deshalb  eines  allseitigen  Interesses  sicher  sein  und 
darf  ein  solches  beanspruchen ,  da  sie  die  sehr 
verwickelten  F'ragen  in  einer  sorgfältig  durch- 
dachten, kritischen  und  umfassenden  Weise  be- 
handelt und  eine  Fülle  von  Anregungen  und 
Kenntnissen  vermittelt.  Die  Lektüre  wird  dem 
NichtZoologen  erleichtert  durch  eine  klare  und  in 
gutem  Sinne  populäre  Darstellungsart. 

Der  Verf.  bespricht  nach  einigen  vorläufigen 
Erörterungen  zunächst  die  Lebensdauer  der  Säuge- 
tiere, wobei  er  gleich  die  Frage  einschließt,  in- 
wieweit etwa  die  Wach'-tumsperiode  in  eine  be- 
stimmte Beziehung  zur  Lebensdauer  gesetzt  werden 
könne.  Nach  Abweisung  der  alten  Ansichten  von 
Buf  fon  und  Flourens,  die  eine  ganz  be.stimmte 
Relation  zwischen  diesen  Zeiten  aufstellen  wollten, 
geht  er  etwas  näher  auf  den  Rubner'schen  Ver- 
such ein,  den  Energieumsatz  mit  der  Lebensdauer 
in  Beziehung  zu  bringen,  der  in  der  Feststellung 
gipfelt,  daß  (abgesehen  von  dem  eine  merkwürdige 
Sonderstellung  einnehmenden  Menschen)  die 
untersuchten  Tiere  in  ausgewachsenem  Zustande 
pro  Kilo  Lebendgewicht  ungefähr  gleich  große 
Energiemengen  verbrauchen  und  auch  während 
ihrer  Entwicklung  die  zur  Verdoppelung  des  Ge- 
wichtes aufgewandte  Energie  ungefähr  gleich  ist. 
Trotz  mancher  noch  bestehender  Unklarheiten 
und  mancher  Einwände,  die  diese  Auffassung  er- 
fahren hat,  glaubt  der  Verf ,  daß  einmal  auf  diesem 
Wege  wichtige  Beziehungen  festgestellt  werden 
könnten.  Im  folgenden  werden  nun  Angaben  über 
das  Alter,  die  Jugendzeit,  Tragzeit  verschiedener 
Säugetiere  gemacht,  soweit  die  hier  spärlich  und 
trübe  fließenden  Quellen  Auskunft  geben.  '■}  und 
in  einer  Tabelle  übersichtlich  zusammengestellt. 
Kurzlebig  sind  Kaninchen,  Hase,  Meerschweinchen 
(5,  7,  8  Jahre),  auch  Hund,  Fuchs,  Katze,  Wolf, 
Reh,  Renntier,  Schaf,  Ziege  (10— 15),  während 
Löwe,  Tiger,  Biber,  Zebra,  Rind,  Stachel- 
schwein 20  und  mehr  Jahre  erreichen.  Bis  auf 
30  bringen  es  Steinbock,  Edelhirsch,  Wildschwein, 
und  noch  älter  werden  Pferd,  Esel,  Dromedar, 
Flußpferd,  Bär,  Nashorn,  deren  Leben  bis  50  Jahre 
währt.  Uralt  wird  der  Elefant,  er  ist  mit  seinem 
Höchstalter  von  200  Jahren  der  Senior  der  Säuge- 
tiere. Aber  keineswegs  damit  aller  Tiere.  Denn 
gleich  unter  den  Vögeln  gibt  es  viele  sehr  lang- 
lebige Arten,  Geier,  Adler,  Falken,  Papageien, 
Eulen,  Raben,  Schwäne,  Saatgänse,  Eiderenten 
werden  über  100,  z.  T.  vielleicht  weit  über  100 
Jahre  alt  und  viele  andere  sind  zwar  weniger  aber 
doch  noch  recht  langlebig,  wie  Hausgänse  (80), 
Störche  (70),  Tauben  und  Kraniche  (50);  selbst 
kleine  Vögel  leben  ziemlich  lange  [Kanarienvögel, 
Grasmücke  (24  Jahre)].     Das  höchste  Alter  treffen 


')  Verf.  bittet  um  die  Mitteilung  zuverlässiger  Daten  über 
das  Alter  von  Tieren,  eine  BiUe,  die  wir  hier  wiederholen 
möchten. 


wir  aber  unter  den  Reptilien  an,  und  zwar  unter 
den  Riesenschildkröten,  von  denen  z.  B.  eine  im 
zoologischeir  Garten  zu  London  auf  300  Jahre 
geschätzt  wurde.  Aber  auch  unsere  Blindschleiche 
wird  überraschend  alt ,  eine  wurde  nach  zuver- 
lässiger Mitteilung  33  Jahre  in  Gefangenschaft 
gehalten.  Selbst  Wassermolche  und  Laubfrösche 
hat  man  15  bzw.  11  Jahre  alt  werden  sehen. 
Daß  unter  den  Fischen  bemooste  Semester, 
namentlich  unter  Hechten,  Karpfen,  Welsen  vor- 
kommen, ist  schon  bekannter.  Dagegen  setzt  das 
Höchstalter  der  Flußperlmuschel  von  100  Jahren 
sehr  in  Erstaunen.  Auch  unter  den  im  ganzen 
kurzlebigen  Insekten  wird  von  hochbetagten  Ver- 
tretern berichtet,  von  15  jährigen  Ameisen,  10 jähr. 
Carabiden,  einer  5  jähr  Chrysomelide(Timarcha)u.a., 
und  wenn  man  das  teilweise  sehr  lange  dauernde 
Larvenstadium  von  Käfern  in  Betracht  zieht  (bei 
Bockkäfern  werden  9 — 10  Jahre  angegeben),  so 
werden  obige  Zahlen  vielleicht  noch  überschritten. 
Schließlich  sind  Blutegel  von  28,  Regenwürmer 
von  10  und  gar  Akiinien  von  67  Jahren  auffallend 
alt.  Irgendeine  Gesetzmäßigkeit  aus  diesen  Zu- 
sammenstellungen herauslesen  zu  wollen,  bezeichnet 
Verf.  als  aussichtslos,  sie  fördern  das  allgemein 
biologische  Problem  der  Lebensdauer  nicht,  es 
muß  in  besonderen  Zügen  der  Organisation  der 
Tiere  verankert  liegen. 

Einen  kurzen  Blick  wirft  Verf  dann  auf  die 
Lebensdauer  der  Pflanzen ,  bei  denen  sich  ganz 
ebenso  wie  bei  den  Tieren  sehr  große  Verschieden- 
heiten erkennen  lassen,  von  der  Vogelmiere,  die  ihr 
Dasein  in  einigen  Monaten  abschließt,  bis  zum 
4000  jährigen  Mammutbaum.  Im  ganzen  darf 
man  aber,  was,  wie  mir  scheint,  Verf.  zu  wenig 
betont  hat,  die  Lebensdauer  und  ihre  mutmaß- 
lichen Ursachen  resp.  die  des  Absterbens  in  nicht 
zu  enge  Parallele  mit  der  der  Tiere  setzen,  weil 
die  Entwicklung  einer  Pflanze  eine  ganz  andere 
ist  wie  die  des  Tieres.  Es  sind  mit  einem  Worte 
„offene  Systeme"  im  Gegensatz  zu  den  geschlossenen 
hier,  der  Begriff  der  Individualität  weist  erhebliche 
Verschiedenheit  auf.  Jedenfalls  ist  im  Pflanzenreich 
die  Frage,  ob  die  Lebensdauer  durch  innere,  auf 
bestimmten  Organisationseigentümlichkeiten  be- 
ruhende Faktoren  bestimmt  werde,  noch  nicht 
spruchreif  und  wohl  nicht  einmal  allgemein  zu 
entscheiden.  In  diesem  Zusammenhange  hätten 
die  Daten  vielleicht  noch  Erwähnung  finden 
können,  die  auf  botanischem  Gebiet  über  die 
Lebensdauer  bestimmter  Zellen  vorliegen ,  z.  B. 
der  Holz-  und  Markzellen  von  Splinthölzern. 
Es  wäre  ja  denkbar,  daß  auch  gewisse  pflanzliche 
Zellen  nicht  ersetzbar  wären  durch  die  dauernd 
tätige  Reproduktionstätigkeit  der  Teilungsgewebe 
und  deshalb  nach  ihrer  Abnutzung  der  Tod  ein- 
treten müßte.  Doch  ist  dies  nicht  sehr  wahr- 
scheinlich; solche  im  eigentlichen  Sinne  vitalen 
Zellkomplexe  müßten  dann  z.  B.  bei  manchen 
Bäumen  Tausende  von  Jahren  alt  werden  können. 
Wahrscheinlicher  ist  es,  daß  bei  den  Pflanzen 
mit  ihrem  besonders  scharf  ausgeprägten  Gegen- 


36o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Satz  zwischen  Reproduktions-  und  Dauergewebe 
in  fortlaufender,  wenn  auch  nicht  an  allen  Punkten 
gleichrhythmischer  Tätigkeit  vollständiger  Ersatz 
geliefert  wird,  so  daß  nach  gewissen  Perioden  auf 
dem  fertigen  Lebensquerschnitt  überhaupt  nur 
neues  Zellmaterial  angetroffen  wird.  Schädigungen 
würden  dann  nur  ganz  grobe,  von  außen  kommende 
sein,  oder,  liegen  sie  im  System  selber,  so  könnten 
sie  schon  auf  ungünstigen,  auch  ziemlich  grob- 
mechanischen, vielleicht  rein  räumlichen  Dishar- 
monien beruhen,  die  durch  die  ununterbrochene 
Volumzunahme  bedingt  sind,  brauchten  durchaus 
nicht  plasmatischer  Natur  zu  sein.  Bei  Gewächsen 
von  determinierter  kürzerer  Lebensdauer,  wie  z.  B. 
einjährigen  Pflanzen  würden  wir  allerdings  wieder 
Schwierigkeiten  begegnen,  hier  würden  JVIomente 
wie  der  erblich  festgelegte  Entwicklungszyklus, 
namentlich  das  Blühen  mitspielen,  oder  die  Un- 
fähigkeit der  Ausbildung  von  Geweben,  die  der 
ungünstigen  Jahreszeit  trotzen,  in  summa  wieder 
erblich  bedingte  Eigentümlichkeiten.  In  diesem 
Zusammenhange  darf  man  auch  vielleicht  darauf 
hinweisen,  wie  im  typischen  Tropenklima  Kräuter 
fast  vollständig  vermißt  werden. 

Nunmehr  verfolgt  Korscheit  sein  Problem 
auf  das  zelluläre  Gebiet,  ausgehend  von  der  An- 
nahme, daß  bei  der  zellulären  Gebundenheit  aller 
Lebensvorgänge  auch  die  mit  dem  Altern  und 
dem  Absterben  zusammenhängenden  zellulär  be- 
dingt sein  müssen.  Das  ist  freilich  nur  eine  An- 
nahme, denn  wir  wissen  heute  nicht,  ob  wirklich 
die  der  anatomisch-zytologischen  Denkweise  ge- 
läufige, ja  fast  selbstverständliche  Vorstellung  von 
dem  Organismus  als  einem  Zellenstaate  in  dieser 
extremen  Form  auch  physiologisch  ausreicht. 
Das  scheint  nun  keineswegs  so,  nicht  ein  einziges 
der  physiologischen  Probleme,  ja  auch  der  onto- 
genetischen  läßt  sich  aus  dem  Zellenleben  allein 
erklären,  die  Einheitlichkeit,  die  Koordination  der 
Leistungen  bleibt  dabei  vollständig  rätselhaft,  das 
Ganze  läßt  sich  nimmermehr  vollkommen  aus 
seinen  Teilen  verstehen,  man  ist  geradezu  ver- 
sucht, die  zelluläre  Fächerung  als  etwas  Sekundäres 
anzusehen,  das  zwar  Unterprobleme,  wie  die 
bessere  örtliche  Sonderung  physiologischer  Pro- 
zesse, die  Ausbesserungs-  und  Ersetzungsfähigkeit, 
die  vollkommenere  Spezialisierung  und  größere 
Leistungsfähigkeit  usw.  umgreift,  aber  die  Haupt- 
probleme selber  ungelöst  läßt.  Das  Ganze  hat 
sich  innerlich  differenziert,  aber  nicht  haben  sich 
spezialisierte  Elemente  vereinigt,  um  auf  rätsel- 
hafte Weise  ein  Ganzes  zu  bilden.  Doch  dies 
nur  nebenbei.  Notwendig  führt  die  zelluläre  Be- 
trachtungsweise dazu,  die  biologischen  Probleme 
auf  die  Verhältnisse  bei  den  Einzelligen  zu  über- 
tragen. So  wird  nunmehr  die  Lebensdauer,  das 
Altern  der  Infusorien  erörtert.  Während  früher 
die  Teilungsfähigkeit  eines  Paramäciums  für 
autogen  beschränkt  galt  und  ein  Aussterben  der 
Linie  für  unabwendbar  gehalten  wurde,  wenn  keine 
Konjugation  eintrat,  ist  dies  nach  den  wichtigen 
Feststellungen    von    Woodruff   sehr    zweifelhaft 


geworden,  der  Paramäcien  unter  günstigen  Be- 
dingungen 7  Jahre  lang  in  rein  ungeschlechtlicher 
Vermehrung  durch  Teilung  erhalten  hat.  Gleich- 
wohl glaubt  Korscheit  nicht,  daß  sie  dauernd 
ausreicht,  wenigstens  spräche  dagegen  die  doch 
einmal  vorhandene  Einrichtung  der  Kopulation. 
Das  scheint  mir  nun  allerdings  ein  Trugschluß  zu 
sein,  insofern  als  jene  Auffassung  von  der  vor- 
läufig ebensowenig  sicheren  Annahme  abhängt, 
daß  die  Kopulation  wirklich  der  Auffrischung 
dienen  soll.  Nachdem  dann  noch  des  eigenartigen 
Rhythmus  in  der  Teilungsenergie  der  Paramäcien 
und  der  damit  verbundenen  Umwandlungen  des 
Kernapparates  gedacht  ist,  geht  Verf.  zu  den 
Protozoenkolonien  über,  die  er  als  die  Übergangs- 
glieder  zu  den  vielzelligen  Organismen  auffaßt, 
indem  er  die  Entstehung  der  Zelldifferenzierung 
entwickelt  und  damit  das  Auftauchen  begrenzt 
lebensfähiger,  durch  weitgehende  .Spezialisierung 
und  verminderte  Teilungsfähigkeit  der  Abnutzung 
anheimfallender  Zellen  im  Gegensatz  zu  den  Ge- 
schlechtszellen konstatiert.  Am  Beispiel  von 
Schwämmen  und  Zölenteraten  wird  dann  die 
stetig  wachsende  Differenzierung  der  Zellen  weiter 
veranschaulicht,  die  schließlich  bei  den  Wirbel- 
tieren auf  eine  besonders  hohe  Stufe  gelangt. 
Mit  dieser  F"estlegung  auf  ganz  bestimmte,  dank 
der  Spezialisierung  besonders  intensiv  verlaufende 
Leistungen  schwindet  die  Teilungs-  und  überhaupt 
die  Erneuerungsfähigkeit  und  wächst  die  Gefahr 
der  Abnutzung.  In  der  Tat  kommen  im  normalen 
Lebensablauf  überall  Rückbildung  und  Untergang 
von  Zellen  vor,  v.?ofür  Beispiele  herangezogen 
werden ;  physiologische  Abstoßung  bzw.  mit  Ab- 
sterben verbundene  Umwandlung  von  Haut-  und 
Drüsenzellen ,  die  kurze  Lebensdauer  der  Blut- 
körperchen, die  weitgehende  Umarbeitung  und 
Einschmelzung  von  Geweben  bei  der  Metamorphose 
der  Insekten  und  die  Einziehung  ganzer  Körper- 
teile bei  derjenigen  der  Frösche  usw.  Sehr  in- 
teressante Tatsachen  werden  dann  in  einem 
folgenden  Abschnitt  erörtert,  aus  denen  hervor- 
geht, daß  nach  der  Entwicklung  die  Teilungs- 
fähigkeit der  Körperzellen  erlischt,  so  daß  ihre 
Zahl  nicht  weiteren  Veränderungen  unterliegt, 
und  mehr  noch,  daß  diese  Zahl  überraschend 
genau  determiniert  ist.  Solches  hat  Martini 
durch  sorgfältige  Zählungen  bei  dem  Rädertierchen 
Hydatina  senta  ermittelt.  Es  ließ  sich  auch  für 
besonders  große,  leicht  erkenn-  und  verfolgbare 
Zellen,  wie  die  Ganglienzellen  direkt  beweisen, 
daß  sie  selber  persistieren,  was  ja  aus  der  Zahlen- 
konstanz nicht  ohne  weiteres  ableitbar  gewesen 
wäre.  Ahnliches  läßt  sich  wenigstens  für  das 
Zentralnervensystem  der  höheren  Tiere  sehr 
wahrscheinlich  machen,  hier  erlischt  die  Teilungs- 
fähigkeit ebenfalls  sehr  frühzeitig,  so  daß  man 
durchaus  berechtigt  ist,  den  Ganglienzellen  eine 
ganz  besonders  lange  dauernde  individuelle  Existenz 
zuzuschreiben.  Daraus  würde  dann  wieder  folgen, 
daß  sie  in  besonderem  Maße  der  Abnutzung  aus- 
gesetzt sind,  die  um  so  fataler  ist,  als  ein  Ersatz 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


361 


durch  Teilung  resp.  eine  damit  einhergehende 
Auffrischung  unmöglich  gemacht  ist.  Bei  anderen 
Geweben  des  VVirbeltierkörpers  stoßen  analoge 
Untersuchungen  auf  große  Schwierigkeiten,  immer- 
hin läßt  sich  vermuten,  daß  auch  andere  Bau- 
steine des  Körpers,  wie  bei  der  Hydatina,  persi- 
stieren, und  bei  Drüsen-  und  Muskelgewebe  und 
namentlich  in  der  Herzmuskulatur  ließ  sich  diese 
Erscheinung  auch  ziemlich  sicherstellen.  Ist  nun 
das  Altern  von  Zellen  mikroskopisch  erkennbar? 
Wiederum  sind  es  die  Ganglienzellen,  die  aus  den 
oben  gekennzeichneten  Gründen  hierfür  das  ge- 
eignetste Untersuchungsobjekt  darstellen.  Schon 
sehr  frühzeitig  tauchen  in  ihnen  Pigmentkörnchen 
auf,  deren  Masse  im  Lauf  des  Lebens  zunimmt, 
auch  an  den  Kernen  ließen  sich  Veränderungen 
nachweisen.  Ähnliches  fand  man  bei  Insekten 
und  einem  Röhrenwurm.  Weniger  auffällig  aber 
doch  in  manchen  Fällen  nachweisbar  sind  Alters- 
erscheinungen anderer  Körperzellen,  deren  Lebens- 
und Funktionsdauer  wahrscheinlich  sehr  ver- 
schieden lang  bemessen  ist.  Fettige  Degenera- 
tionen, Auflösung  des  Chromatins  der  Kerne, 
Aufblähungen  oder  Schrumpfungen  der  Zellen 
werden  beschrieben ,  auch  Zellverschmelzungen, 
Kernübertritte  mit  nachfolgender  Auflösung 
kommen  vor. 

Wesentlich  auffallender,  leichter  erkennbar  und 
seit  langem  erkannt  sind  die  Altersveränderungen 
der  Organe.  So  lassen  die  physiologischen 
Leistungen  nach,  ebenso  wie  sich  auch  an  ihrer 
Beschaffenheit  Veränderungen  verschiedener  Art 
feststellen  lassen,  von  denen  die  Ablagerung  von 
Kalksalzen,  u.  a.  auch  in  den  Gefäßwänden,  die 
starke  Zunahme  der  bindegewebigen  Elemente, 
Schrumpfung  des  Gehirns  hervorgehoben  werden. 
Welche  Organe  durch  allmählich  zunehmende 
Insuffizienz  besonders  verhängnisvoll  werden,  ob 
der  Mensch  immer  einen  „Hirntod"  erleidet,  oder, 
wie  andere  wollen,  stets  „vom  Herzen  aus  stirbt", 
läßt  sich  schwer  entscheiden,  wahrscheinlicher 
dünkt  Korscheit  das  erstere. 

Der  verminderten  Leistungsfähigkeit  durch 
Abnutzung  sowie  dem  Ausfall  durch  gänzlichen 
Schwund  steht  das  Regenerationsvermögen  gegen- 
über und  beeinflußt  damit  die  Lebensdauer  ein- 
mal insofern,  als  es  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
Ersatz  liefert,  dann  aber  auch,  indem  es  umge- 
kehrt infolge  Nachlassens  als  Faktor  am  Altern 
mitwirkt.  Letzteres  offenbart  sich  deutlich  im 
leichten  Wundheilungs-  und  Ersetzungsvermögen 
junger  Tiere  im  Gegensatz  zu  alten.  Mit  Rege- 
nerationserscheinungen können  eigenartige  Ver- 
änderungen verbunden  sein,  die  in  Rück-,  Um- 
und  Neubildungsvorgängen  bestehen  und  zu  einer 
Auffrischung  und  Verjüngung  des  ganzen  Orga- 
nismus führen.  Solche  Umwandlungen  und  Über- 
führungen gehen  mit  der  Reduktion  eines  Teiles 
des  Zellmateriales  einher.  So  bilden  kopflose, 
mithin  ernährungsunfähige  Teilstücke  von  Planarien 
und  Regenwürmern  umfängliche  neue  Teile  aus 
und  machen  dazu   nach  Ausbildung  eines  indiffe- 


renten Regenerationsgewebes  das  alte  Zellen- 
material des  Ausgangsstückes  flüssig,  so  daß  aus 
alten  abgebrauchten  Teilen  fast  embryonal  er- 
scheinende neue  hervorgehen.  Ahnliche  Rück- 
bildungen, Entdifferenzierungen  und  Neubildungen 
finden  vermutlich  auch  bei  dem  Ersatz  von  Glied- 
maßen bei  Amphibien  statt,  ja  spielen  womöglich 
eine  noch  allgemeinere  Rolle.  Ganz  besonders 
weit  gehen  solche  Vorgänge  bei  Aszidien,  bei 
denen  das  ganze  Tier  zu  einem  unorganisierten 
weißlichen  Klumpen  wird,  aus  dem  sich  schließ- 
lich wieder  eine  normale  Aszidie  aufbaut.  Wie 
solche  Vorgänge  im  einzelnen  verlaufen,  ist  schwer 
genau  zu  ermitteln.  In  diesem  Zusammenhange 
wird  noch  die  außerordentlich  merkwürdige  von 
H.  V.  Wilson  und  Karl  Müller  beobachtete 
Tatsache  erwähnt,  daß  isolierte  Zellen  von 
Schwämmen  aufeinander  zukrochen,  sich  zu 
Aggregaten  vereinigten ,  die  weiterhin  zu  einem 
jungen  Schwämme  auswuchsen. 

Die  vorübergehende,  mehr  oder  weniger  lange 
andauernde  Sistierung  der  Lebens-  und  Entwick- 
lungsvorgänge, wie  sie  in  den  Ruhezuständen  zum 
Ausdruck  kommt,  müssen  begreiflicherweise  einen 
Einfluß  auf  die  Dauer  des  Lebens  haben,  die  oft 
dadurch  um  Jahre  verlängert  wird.  Nicht  nur 
Sporen  von  Pilzen,  Samen,  eingekapselte  Infusorien, 
VVürmer,  Krebschen,  sondern  auch  Insektenpuppen, 
Schnecken  usw.  können  ihrem  Leben  Monate,  ja 
viele  Jahre  zulegen ,  indem  sie  in  einen  Starre- 
zustand verfallen,  während  dessen  allerdings  von 
einem  eigentlichen  Leben  natürlich  nicht  die  Rede 
sein  kann.  Daran  schließen  sich  in  verschiedener 
Abstufung  die  mit  dem  Klima  zusammenhängenden 
Schlafzustände  der  Wirbeltiere  und  der  Scheintod. 

Seit  Weis  mann  und  Goette  wird  die 
Lebensdauer  vielfach  mit  der  Fortpflanzung  in 
Beziehung  gesetzt,  das  sterbliche  Soma  lebt  nur 
so  lange,  als  es  einer  hinlänglichen  Zahl  von 
Keimzellen  die  Gelegenheit  ihrer  Vereinigung 
geboten  und  z.  T.  die  Brut  zur  selbständigen 
I-'ortführung  des  Lebens  befähigt  und  erzogen  hat. 
Ganz  besonders  enge  ist  diese  Beziehung  bei 
manchen  nur  einmal  blühenden  Pflanzen,  deren 
Fortexistenz  bei  Herauszögern  oder  gänzlichem 
Verhindern  des  Blühens  verlängert  wird.  Auch 
bei  manchen  Insekten  scheint  die  Sache  ebenso 
zu  liegen.  Immerhin  ist  aber  die  zeitliche  Be- 
ziehung zwischen  Fortpflanzung  und  Altern  so 
wenig  scharf  und  zudem  so  wenig  allgemein  ver- 
breitet, vielmehr  durch  zahlreiche  entgegengesetzte 
Beispiele  durchbrochen,  daß  hier  kaum  ein  einiger- 
maßen allgemeingültiges  Erklärungsprinzip  gegeben 
sein  dürfte,  wenn  auch  vom  allgemein-biologischen 
Standpunkte  aus  die  Auffassung  von  der  Über- 
.  flüssigkeit  des  Individuums  nach  Hervorbringung 
der  Nachkommenschaft  durchaus  befriedigt. 

Gesondert  werden  schließlich  noch  einige 
weitere  Probleme  berührt,  die  vielleicht  mit  dem 
der  Lebensdauer  zusammenhängen  könnten.  Das 
ist  zunächst  das  Wachstum.  Zwar  ist  durchaus 
nicht  die  Länge   der  Wachstumsvorgänge    immer 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


der  Lebenslänge  proportional,  aber  das  Wachstum 
ist  doch  insofern  ein  Altcrsproblem,  als  es  mit 
zunehmendem  Leben  deutlich  schwächer  wird, 
und  zwar  tritt  die  Abnahme,  der  Abfall  einer 
z.  B.  für  die  Gewichtszunahme  konstruierten  Kurve 
auffallend  frühzeitig  ein,  wie  Mi  not  fand.  Beim 
Meerschweinchen  z.  B.  steigt  die  Kurve  in  den 
ersten  Lebenstagen  enorm,  dann  sinkt  sie,  am 
45.  Tage  ist  der  Zuwachs  nur  mehr  gering  und 
nach  etwa  einem  Jahre  hört  er  ganz  auf  Beim 
Menschen  verläuft  das  Wachstum  ganz  ähnlich. 
Wir  können  hinzufügen,  daß  Analoges  auch  bei 
dem  Wachstum  der  Pflanzen  beobachtet  wird,  die 
eine  sogenannte  „große  Periode  des  Wachstums" 
erkennen  lassen.  Als  Erklärung  dient  im  Tierreich 
wieder  die  mit  fortschreitender  Differenzierung 
anwachsende  Abnutzung  und  Teilungsmüdigkeit 
der  Zellen,  während  von  anderer  Seite  für  das 
Altern  spezifische  Zellvorgänge  verantwortlich 
gemacht  werden,  die  mit  denen  der  Entwicklung 
und  Differenzierung  nichts  zu  tun  hätten.  So  soll 
der  Temperaturkoeffizient  für  die  Lebenslänge  ein 
anderer  sein  als  für  die  Entwicklungsgeschwindig- 
keit, behauptet  Lob  und  sucht  auch  seine  An- 
sicht durch  andere  Beobachtungen  zu  stützen. 
Metschnikoff  macht  den  Dickdarm  mit  seiner 
ungünstigen ,  fäulniserregenden  Bakterienbevölke- 
rung für  das  Altern  verantwortlich,  Friedenthal 
führt  als  mitbestimmenden  Faktor  die  Relation 
zwischen  Hirngewiciit  und  lebender  Körpermasse 
ein,  seinen  Cephalisationsfaktor,  und  kommt  zu 
dem  Schlüsse,  daß  die  klügsten  Tiere  am  längsten 
leben. 

Zusammenfassend  kann  man  also  mit  Korscheit 
sagen,  daß  wohl  die  Lebensdauer  eine  spezifische, 
d.  h.  innerhalb  der  Tierart  bestimmte  ist,  daß  sie 
auch  mancherlei  Beziehungen  zu  anderen  biolo- 
gischen, anatomischen,  physiologischen  Erschei- 
nungen erkennen  läßt  und  dadurch  sehr  an  Ver- 
tiefung gewinnt,  daß  wir  aber  von  einer  Er- 
klärung weit  entfernt  sind.  Man  könnte  noch 
ganz  besonders  unterstreichen ,  daß  die  Lebens- 
dauer ein  Artmerkmal  ist,  auf  Erbfaktoren  beruht, 
genau  so  wie  irgendwelche  anderen  gestaltlichen 
Merkmale,  von  denen  man  ebensowenig  sagen 
kann,  weshalb  sie  so  und  nicht  anders  sind.  Bei 
Pflanzen  hat  z.  B  Correns  gezeigt,  daß  Ein- 
jährigkeit und  Zweijährigkeit  mendelnde  Faktoren 
sind.  Miehe. 


Geologie.  Geologisch-Petrographische  Studien 
im  Hochgebirge  des  südlichen  Norwegens  sind  von 
Goldschmidt  in  seinen  beiden  Arbeiten  „Die 
Kalksilikatgneise  und  Kalksilikatglimmerschiefer  des 
Trondhjem-Gebiets"  und  „('bersicht  der  Eruptiv- 
gesteine im  Kaledonischen  Gebirge  zwischen  Sta- 
vanger     und    Trondhjem"    niedergelegt     worden. 

Die  Kalksilikatgneise  und  Kalksilikatglimmer- 
schiefer beobachtete  der  Verfasser  in  einem  Ge- 
biet von  600  km  Länge  und  140  km  Breite  von 
Stavanger  im  Südwesten  bis  Meraker  im  Nordosten. 


Bisher  waren  diese  beiden  Gesteine  nach  ihrer 
Natur  noch  nicht  bekannt  geworden.  Sie  finden 
sich  in  den  Gula-Schiefern,  die  wahrscheinlich 
obersilurischen  Alters  sind.  Sie  bilden  zwischen 
den  Gula-Schiefern  nicht  eine  stratigraphische  Fein- 
heit, sondern  stellen  den  am  meisten  metamorpho- 
sierten  Teil  der  Gula-Schiefer  dar.  Kalksilikatgneise 
sind  Biotit-frei  oder  Biotit-arm,  besitzen  Plagioklas, 
Kalifeldspalt,  Pyroxen  oder  Zoisit-Klinozoisit  als 
Ersatz  für  Plagioklas  und  Amphibol  für  Pyroxen. 
Kalksilikatglimmerschiefer  enthalten  Plagioklas, 
manchmal  durch  Zoisit-Klinozoisit  vertreten, 
Biotit  und  Quarz.  Bei  den  Kalksilikatgneisen 
kommen  als  Nebengemengteile  noch  Skopolith, 
Titanit,  Magnetkies,  Magnetit,  Apatit,  Graphit, 
Rutil,  Muskowit  (letztere  beiden  wohl  als  Sekundär- 
bildungen) in  Betracht.  Textur  ist  gneisartig  mit 
Lagen,  Streifen,  Linsen.  Als  Nebengemengteile 
des  Kalksiiikatglimmerschiefer  sind  nachgewiesen 
worden:  Magnetit,  Magnetkies,  Apatit,  Graphit, 
Turmalin,  sekundärer  Rutil,  Titanit,  Almandia, 
Muskowit.  Struktur  und  Textur  ist  die  der 
Glimmerschiefer.  Die  Biotittafeln  sind  parallel 
angeordnet. 

Sie  sind  wahrscheinlich  Kontaktprodukte  unter- 
irdischerlntrusivmasseninderAchsedesTrondhjem- 
Gebietes.  Die  Kalksilikatgesteine  haben  große 
Ähnlichkeit  mit  den  metamorphen  Mergeln  der 
Bündnerschiefer  und  den  Augitgneisen  des  Nieder- 
österreichischen Wald  viert  eis. 

Äußerst  wichtig  sind  Goldschmidt's 
F'orschungsresultate,  die  sich  auf  die  Eruptiv- 
gesteine derKaledonischen  Gebirgsbildung  beziehen, 
die  er  zu  drei  Stämmen  gehörig  betrachtet,  und 
deren  Eruptionsgebiete  getrennt  oder  einander 
überdeckend  vorkommen. 

Zum  ersten  Stamm,  zum  „Stamm  der  grünen 
Laven"  gehören  Tuffe  und  Inetrusivgesteine, 
ein  fast  rein  basaltischgabbroider  Gesteinsstamm 
mit  basischen,  seltener  sauren  Spaltungsprodukten. 
Was  zu  diesem  Stamm  vereinigt  ist,  sind  Diabas 
Diabasporphyrit,  Variolith,  Grünstein,  Porphyrit, 
metamorpiie  Grünschiefer,  Amphibolite,  Granat- 
arnphibolite,  körnige  PlagioklasAmphibol-Gesleine. 
Jeder  Stamm  umfaßt  tomagmatische  Gesteine. 
Weniger  metamorph  sind  die  Kissenlaven,  Ser- 
pentine, Topfsteine,  vielleicht  sogar  Paläopikrite : 
die  gabbroiden  Gesteine  enthalten  in  Südnorwegen 
die  wichtigen  magmatischen  Kieslagerstätten  von 
Schwefelkies-Kupferkies. 

Das  Vorkommen  der  Kissenlaven  in  unmittel- 
barer Nähe  von  roten  Jaspismassen  lassen  auf 
submarine  Ergüsse  der  ,, grünen  Laven"  in  den 
älteren  und  mittleren  Abteilungen  der  Kambrosilurs, 
im  Gebiete  von  Osterdalen  auch  in  eokambrischen 
Sparagmiten  schließen.  Sie  sind  silurischen  Alters, 
kommen  in  naher  Verbindung  mit  fossilführenden 
unter-  bis  untcrobersilurischen  Sedimenten  vor. 
In  England  und  Wales  treten  die  Gesteine  dieses 
Stammes  schon  bedeutend  früher  auf,  darum  kann 
woiil  von  ursächlichen  Beziehungen  zwischen  Erup- 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


363 


tion  dieser  Gesteine  und  kaledonischer  Gebirgsbil- 
dung  nicht  gesprochen  werden. 

Zum  zweiten  Stamm  gehören  die  „Bergen-Jotun- 
Gesteine".  Mit  zahlreichen  Differentiationsprodukten 
gehören  diese  Gesteine  zur  Anorthosit  Charnockit- 
Reihe.  Verbreitet  sind  sie  zwischen  Sognefjord 
und  Hardangerfjord  im  Südwesten  bis  Gudbrands- 
tals  im  Nordosten,  in  den  BergenBögen.  Der 
Hauptvertreter  ist  der  JotunNorit,  der  in  den 
übrigen  Tiefengesteinen  eine  Menge  Spezialfälle 
erzeugt  hat.  Zu  den  basischen  Gesteinen  des 
„Bergen-Jotun-Stammes"  gehören  Pyroxen-Olivin- 
Gesteine,  normale  Norite  und  Gabbros,  Labrador- 
felse. Intermediäre  Gesteine  dieses  Stammes  sind 
Jotun-Norite  und  Mangerite,  Hypersthensyenite. 
Saure  Gesteine  dieses  Stammes  stellen  Granite 
dar,  Hypersthengranite,  Augitgranite,  Granite  mit 
Ägrindiopsid,  Ägringranite,  Amphibolgranitc,  Biotit- 
granite). Folgende  Altersbeziehungen  der  Tiefen- 
gesteine stehen  fest :  Pyroxenite  und  Peridotite  sind 
älter  als  JotunNorit,  älter  als  Labradorfels,  dieser 
älter  als  normaler  Gabbro  und  normaler  Norit. 
Jotun-Norit,  Labradorfels,  normaler  Gabbro  und 
Norit,  Olivindiabas  sind  älter  als  Pyroxensyenite, 
Manganite  und  alle  Granite.  Sie  gehören  alle  einen 
genetisch  verbundenen  Gesteinsstamm  an,  der  durch 
Differentialion  aus  einem  Stammmagma  enstanden 
ist. 

Die  östlichen  Teile  der  Bergen-Jotun- Eruptiv- 
masse zwischen  Gulbrandsdalen  im  Norden, 
Hardangerfjord  im  Süden  liegen  als  Decken  über 
Kambrium  und  Untersilur.  Im  Nordwesten  senken 
sie  sich  in  den  südnorwegischen  Faltungsgraben 
hinab. 

Die  Bergen-Jotun-Gesteine  sind  frühknledoni- 
sehen  Alters. 

Der  dritte  Gesteinsstamm  sind  die  „Opdelit- 
Trondjemit-Gesteine",  die  in  den  alpinen  Tonaliten 
und  andinen  Granodioriten  mit  ihren  zahlreichen 
Differentiationsprodukten  gleiche  Erscheinungen 
aufweisen.  Die  „weißen  Granite"  des  Trondhjem- 
gebietes    sind    die    charakteristischsten    Gesteine. 

Als  basische  Gesteine  dieses  Stammes  zählt 
man  die  Pyroxenite  und  Peridotite,  gabbroide  Ge- 
steine. Indermediäre  Vertreter  sind  Diorite 
(HypersthenGlimmer-Diorite,  ordinäre  Diorite), 
Opdalit.  An  sauren  Gesteinen  kennt  man  aus 
diesem  Stamm :  Trondhjemite,  deren  Ganggefolge 
folgende  Gruppen  unterscheiden  läßt :  Trondhjemite- 
Porphyrite,  Trondhjemite-Aplite,  Trondhjemite- 
Pegmatite. 

Als  dünne  oder  dicke  Lagergänge  treten  sie 
auf,  selten  die  Schichten  quer  durchsetzend.  Sie 
sind  post-untersilurischen  Alters,  aber  älter  als  die 
devonische  Erosion  des  Gebirges. 

Nicht  in  die  drei  Stämme  lassen  sich  die 
Eruptivgesteine  von  Hitteren  und  Smölen ,  die 
Granite  der  Westküste  Südnorwegens  (Bömme- 
löen,  Karmöen,  Stavanger),  die  Decken  granitischer 
Gesteine  zwischen  Ryfylke,  Hemsedalen,  die 
Augengneise    des    Trondhjem- Gebietes    einreihen. 


Möglich  ist  es,  daß  ein  genetischer  Zusammen- 
hang  zwischen    den    einzelnen  Stämmen    besteht. 
Rudolf  Hundt,  z.  Zt.  im  Felde. 


Paläobotanik.  Zur  Kenntnis  der  Deutschen 
Tertiärfloren.  Die  zahlreichen  Uniersucher  der  in 
Deutschland  recht  häufigen  tertiären  Pflanzenreste 
richteten  ihr  Augenmerk  \-ornehmlich  auf  Blatt-  und 
Fruchiabdrücke  sowie  die  wohl  erhaltenen  Braun- 
kohlenhölzer. Auch  Früchte  von  Jtiglaiis,  Carya 
und  ähnliche,  die  sich  in  den  Braunkuhlenflözen  nicht 
selten  finden,  sind  oft  nachgewiesen  worden.  Nun 
bestehen  die  Kohlenlager  aber  häufig  aus  erdigen, 
mulmigen  Massen,  die,  offenbar  ehemals  zusammen- 
geschwemmt, eine  Unzahl  kleiner  Pflanzenreste, 
Blattfetzen  und  Holzsplitter  enthalten.  Sie  sind 
bei  der  bisherigen  Untersuchung  sehr  zu  Unrecht 
vernachlässigt  worden.  Nur  Lingelsheim  unter- 
suchte solche  Braunkohle  von  Saarau  in  Schlesien 
und  konnte  nachweisen,  daß  sie  zum  großen 
Teile  aus  den  Pollenkörnern  von  Piiiiis,  Taxodiuin, 
bezw.  Sequoia  besteht  (A.  Lingelsheim,  Über 
die  Braunkohlenhölzer  von  Saarau.  85.  Jahres- 
bericht Schles.  Ges.  Breslau  1907).  Auf  ähnlichem 
Wege  zeigten  C.  und  E.  Reid,  daß  in  den  schon 
von  Heer  untersuchten  Flözen  von  Bovey  in 
England  zahlreiche,  zum  Teil  recht  kleine  Samen 
und  Früchtchen  auftreten.  (C.  und  E.  Reid, 
The  Lignite  of  Bovey  Tracey.  Philos.  Transact.  Ro)-. 
Soc.  London.  Ser.  B.  201.  London  191 1.)  Es  war 
daher  zu  erwarten,  daß  die  gleiche  Untersuchungs- 
methode auch  anderwärts  zu  einer  Bereicherung  der 
tertiären  Flora  führen  würde.  Verfasser  sammelte 
daher  in  verschiedenen  Gruben  der  schlesischen 
Lausitz  Proben  erdiger  Braunkohle.  Beim  Kochen 
mit  Kalilauge  zerfielen  sie.  Nach  mehrfachem 
Schlämmen  konnten  die  einzelnen  Bestandteile 
der  überbleibenden  Erde  leicht  getrennt  werden. 
Das  Ergebnis  war  über  Erwarten  befriedigend. 
Die  Hauptmasse  bestand  aus  einer  großen  Anzahl 
kleiner  Samen  und  Früchte,  daneben  aus  sehr 
verschieden  geformten  Pollenkörnern,  die  neben 
den  schon  von  Lingelsheim  genannten  Nadel- 
hölzern auf  Laubgewächse  der  verschiedensten  Art 
hinweisen.  Es  liegt  hierin  eine  deutliche  Wider- 
legung der  immer  wiederholten  Ansicht,  daß  die 
Braunkohle  lediglich  aus  den  Trümmern  riesiger 
Nadelholzwälder  entstanden  sei.  Dikotyle  Holz- 
gewächse waren  zur  Tertiärzeit  ebenso  verbreitet 
wie  heute.  Ihr  Holz  war  aber  weniger  wider- 
standsfähig gegen  Vermoderung  als  das  harz- 
reiche Koniferenholz,  das  so,  von  einigen  wenigen 
Fällen  abgesehen ,  allein  erhalten  geblieben  ist. 
Einige  Proben  von  Grünberg  und  Ingramsdorf 
liefern  weiter  den  Nachweis  einer  reichen  Krypto- 
gamenflora.  Wenn  wir  von  den  ganz  problema- 
tischen auf  Blattabdrücke  gegründeten  Pilzen  ab- 
sehen, kannte  man  bisher  nur  einige  Farnblätter 
als  hierher  gehörende  häufigere  Reste.  In  der 
Braunkohle  sind  nun  Sporangien  von  Farnen  recht 
häufig,  teils  mit,  teils  ohne  Ring.    Ebenso  finden 


364 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


sich  Sporogonien  und  Blätter  eines  Laubmooses, 
das  zu  Spl/agiiiiiii  in  engster  Beziehung  steht,  ferner 
Pilzsporen  in  den  verschiedensten  Stadien  der 
Keimung,  zahlreiche  Hyphen  und  Fruchlkörper 
von  Pilzen,  vielleicht  auch  Diatomeen  und  andere 
Algen.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  eingehende 
Untersuchung  hier  noch  manches  unerwartete 
Ergebnis  zeitigen  wird,  da  die  Mannigfaltigkeit  der 
Reste  sehr  groß  ist.  Erwähnt  sei  noch,  daß  auch 
tierische  Reste  (Rotatorien,  Fragmente  von  In- 
sekten) häufig  sind.  R.  Kräusel. 

Zoologie.  Über  trommelnde  Spinnen.  Im 
Aberglauben  spielt  die  „Totenuhr"  eine  gewichtige 
Rolle,  jenes  eigentümlich  tickende  Pochen,  das 
hier  und  da  im  ruhigen  Zimmer  zu  vernehmen  ist, 
und  den  Tod  eines  Angehörigen  verkünden  soll. 
Es  hat  aber  gar  nichts  Mystisches  an  sich,  sondern 
wird  durch  Anobiumarten  hervorgebracht,  die  im 
alten  Holz  der  Stühle  und  Schränke  leben  und 
dort  Gänge  bohren.  Sie  schlagen  mit  den  Vorder- 
kiefern auf  die  Wandungen  der  Gänge  auf  und 
erzeugen  jene  eigentümlichen  Klopflaute. 

Diese  Art  der  Lautäußerung,  die  also  durch 
Aufschlagen  eines  festen  Körperteiles  auf  eine 
tönende  Unterlage  zustandekommt,  ist  unter  den 
Insekten  ziemlich  selten.  Sie  kommt  nur  noch 
bei  Ameisen  und  Termiten  vor.  Wer  einmal 
einen  Termitenbau  ausgehoben  hat,  weiß,  daß 
stets  zahlreiche  Soldaten  an  den  Rändern  der 
Gänge  erscheinen  und  mit  ihren  großen  Köpfen 
heftige  Zitterschläge  auf  den  Boden  ausführen,  die 
von  weitem  als  sonderbar  zischendes  Geräusch 
zu  vernehmen  sind.  Man  kann  diese  Fähigkeit 
trefifend  auch  als  Trommeln  bezeichnen. 

Einen  solchen  Fall  hat  neuerdings  Prell 
(Zoologischer  Anzeiger  1916)  von  Spinnen  be- 
schrieben, bei  denen  ja  musikalische  Fähigkeiten 
recht  wenig  ausgebildet  sind.  Die  Männchen  der 
Pisauridenart  Pisaura  mirabilis,  die  Ende  April 
bei  warmem  Wetter  öfters    in   lichtem  Laubwald 


anzutreffen  sind,  trommeln  unter  heftiger  Fibration 
des  Körpers  so  schnell,  daß  ein  schwirrendes 
Geräusch  entsteht.  Man  kann  dieses  am  besten 
nachahmen,  wenn  man  mit  dem  Fingernagel 
über  eine  F"eile  fährt,  so  daß  etwa  dreißig 
Leisten  in  der  Sekunde  berührt  werden.  Während 
des  Trommeins  nimmt  die  Spinne  eine  ganz 
charakteristische  Körperhaltung  ein.  Sämtliche 
Beine  sind  aufgesetzt  und  nur  im  Kniegelenk  ge- 
beugt, sonst  aber  fast  gerade  ausgestreckt.  Dann 
wird  der  Hinterleib  stark  nach  abwärts  gebogen. 
Während  die  Taster  sich  schnell  abwechselnd  auf- 
und  nieder  bewegen,  wird  der  Hinterleib  in  eine 
hastige  zitternde  Bewegung  versetzt,  so  daß  seine 
Spitze  in  schneller  Folge  auf  die  Unterlage 
schlägt.  Ist  die  Unterlage  nun  ein  dürres  Blatt, 
so  ist  es  selbstverständlich,  daß  durch  das  wieder- 
holte Pochen  ein  feines  Knarren  entsteht.  Die 
Stärke  des  Knarrens  ist  dabei  naturgemäß  ganz 
von  der  Art  der  Unterlage  abhängig.  Daraus 
folgt,  daß  nicht  immer  ein  gleichmäßiges  Geräusch 
zu  hören  ist.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  wird 
der  Ton  nicht  von  den  fibrierenden  Tastern, 
sondern  von  der  Zitterbewegung  des  Hinterleibes 
hervorgebracht. 

Nur  von  der  beschriebenen  Pisaura  ist  eine 
Tonerzeugung  festgestellt.  Hämmernde  Be- 
wegungen der  Taster  und  des  Hinterleibes  kommen 
allerdings  auch  bei  zahlreichen  anderen  Spinnen 
vor,  doch  ist  noch  festzustellen,  ob  auch  eine 
Tonerzeugung  damit  verbunden  ist. 

Wie  es  scheint,  können  nur  die  Männchen 
trommeln.  Ist  dies  der  Fall,  so  kommt  der 
eigentümlichen  Lautäußerung  sicher  eine  Be- 
deutung bei  der  Annäherung  der  Geschlechter  zu, 
wie  dies  ja  allgemein  von  Insekten  bekannt  ist.  Wie 
hier  das  Männchen  allein  auf  einem  trockenen 
Blatt  sitzt  und  musiziert,  so  sitzt  ja  auch  das 
Grillenmännchen  allein  am  Eingang  des  Erdloches, 
um  durch  sein  Zirpen  das  Weibchen  anzulocken. 
Stellwaag. 


Bticherbesprechimgen. 

Henseling,  Robert,  Sternbüchlein  für  191  7. 
Stuttgart  191 7.  Kosmos,  Franckh'sche  Buch- 
handlung,  —  geh.   I  M. 

Hoffmeister,  Cuno,  Kurze  Einführung  in 
die  Wunder  am  Sternenhimmel.  Für 
nächtliche  Wanderer,  unsere  Jugend  und  unsere 
Soldaten  mit  Rücksicht  auf  den  Gebrauch  des 
Feldstechers     zusammengestellt.      Mit    I    Tafel 


Das  Wiedererscheinen  des  Henseling'schen 
Sternbüchleins,  das  infolge  des  Krieges  zwei 
Jahre  nicht  erscheinen  konnte,  wird  von  allen 
seinen  F"reunden  auf  das  Lebhafteste  begrüßt  werden. 
Ist  es  doch  von  allen  derartigen  Heften  das  bei 
weitem  beste.  Es  gibt  für  jeden  Monat  eine 
Übersicht  der  Planeten  und  des  Sternhimmel 
sowie  Anleitung  zu  Beobachtungen  mit  und  ohne 


3  Sternkarten  und  einigen  Abbildungen.  Bamberg,      F"ernrohr.    Je  ein  kleines  Kärtchen  gibt  den  Anblick 


191 6,  Buchner's  Verlag,  —  Preis  50  Pf. 
Fauth,  Philipp,  15  Astronomische  Stereos 
zur  Unterstützung  des  Raumsinnes 
und  zur  Förderung  der  Raum  Vor- 
stellung. Kaiserslautern  1916,  Hermann 
Kayser.  —  Preis  4,50  M. 


des  Himmels.  Es  folgen,  durch  zahlreiche  Bilder 
unterstützt,  Mitteilungen  über  Finsternisse,  die 
Orte  von  Sonne,  Mond  und  Planeten,  und  eine 
Menge  Angaben  über  neue  Forschungsergebnisse 
aus  allen  Gebieten  der  Astronomie.  Vielen  Be- 
sitzern   kleiner    Fernrohre    wird    ein    Verzeichnis 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


365 


leicht  auflösbarer  Doppelsterne,  von  Veränderlichen 
und  Nebelflecken  und  Sternhaufen  wertvoll  sein. 
Zum  Schluß  gibt  Kritzinger  eine  eingehende, 
vielleicht  ein  wenig  allzu  kritische  Würdigung  der 
Hörbiger-Fauth'schen  Glazialkosmogonie,  die  in 
dieser  Zeitschrift,  19 13  Seite  561/3  besprochen  ist. 
Es  ist  erfreulich,  daß  diese  bedeutende  Schöpfung 
in  immer  weiteren  Kreisen  bekannt  ist. 

Viel  bescheidener  ist  das  Heftchen  von  Hoff- 
meister, als  Gabe  für  unsere  Feldgrauen  gedacht, 
die  draußen  oft  zum  erstenmal  immer  wieder 
Gelegenheit  haben,  sich  eingehend  mit  den  Wundern 
des  Himmels  vertraut  zu  machen,  und  dazu  einer 
kleinen  mit  Liebe  und  Verständnis  geschriebenen 
Anleitung  bedürfen.  Dazu  sind  die  gegebenen 
Hilfsmittel  und  die  Angaben  über  den  Lauf  der 
Planeten  durchaus  genügend. 

Wesentlich  andere  Zwecke  verfolgt  das  dritte 
Heft,  das  die  oft  unglaubliche  Unfähigkeit,  sich 
Vorgänge  im  Sonnensystem  räumlich  vorzustellen, 
durch  Anschauungsmaterial  bekämpfen  soll.  Einige 
Bilder  sind  ausgezeichnet  gelungen,  z.  B.  die  gegen- 
seitige Bewegung  der  Jupitermonde,  die  Lage 
verschiedener  Planeten  und  Kometenbahnen  gegen 
einander,  so  daß  die  kleine  Sammlung,  die  hoffent- 
lich vermehrt  wird,  zu  Unterrichtszwecken  vor- 
zügliche Dienste  leisten  kann.  Riem. 


Hartwig,  Oscar,  Das  Werden  der  Organis- 
men. Eine  Widerlegung  von  Darwin 's 
Zufallstheorie.  710  Seiten.  Mit  115  Ab- 
bildungen im  Text.  Jena  1916,  V^erlag  von 
G.  Fischer.  —  Preis:  geh.  18,50  M.,  geb.  20  M. 
Wohl  kaum  jemals  hat  eine  biologische  Theorie 
nicht  nur  in  den  naturwissenschaltlichen  Diszi- 
plinen eine  solche  Revolution  der  Gedanken  her- 
vorgerufen, sondern  so  heftige,  auf  nahezu  alle 
Gebiete  unseres  Geisteslebens  sich  erstreckende 
Kämpfe  im  Gefolge  gehabt,  wie  die  Darwin'sche 
Selektionstheorie.  Zwar  war  die  Abstammungs- 
lehre, der  durch  das  Erscheinen  von  Darwin 's 
„Entstehung  der  Arten  durch  natürliche  Zuchtwahl 
oder  die  Erhaltung  der  begünstigten  Rassen  im 
Kampf  ums  Dasein"  (1859)  zu  einem  vollen  Siege 
verholfen  wurde,  nicht  neu ;  50  Jahre  früher  hatte 
bereits  Lamarck,  um  nur  den  bedeutendsten 
Vorläufer  Darwin 's  zu  nennen,  in  seiner  „Philo- 
sophie zoologique"  den  Nachweis  zu  führen  ge- 
sucht, daß  die  bis  dahin  geltende  Lehre  von  der 
Unveränderlichkeit  der  durch  einen  oder  mehrere 
Schöpfungsakte  entstandenen  Arten  unhaltbar  ist, 
daß  vielmehr  „alle  Organismen  unseres  Erdkörpers 
wahre  Naturerzeugnisse  sind,  welche  die  Natur 
ununterbrochen  seit  langer  Zeit  hervorgebracht 
hat".  Aber  ebenso  wie  die  übrigen  Vorläufer 
Darwin's  verstand  es  auch  Lamarck  nicht, 
seine  Ansichten  so  vorzutragen,  daß  sie  auf  die 
Fachgenossen  überzeugend  wirkten,  geschweige 
denn  die  Aufmerksamkeit  weiterer  Kreise  auf  sich 
zogen.  Im  Gegensatz  zu  seinen  Vorgängern  brachte 
Darwin,  der,  ein  Meister  der  Naturbeobachtung, 


jahrelang  mit  unermüdlichem  Fleiße  Beobach- 
tungen gesammelt  hatte,  gleich  eine  solche  Fülle 
von  Beweismaterial  für  die  Richtigkeit  seiner 
Theorie  bei,  daß  mit  dem  Erscheinen  seines 
ersten  Werkes  die  Abstammungslehre  und  mit  ihr 
die  Selektionstheorie  sozusagen  mit  einem  Schlage 
im  Mittelpunkte  des  Interesses  standen.  In  zwei 
deutschen  Forschern,  H  a  e  c  k  e  1  und  W  e  i  s  m  a  n  n , 
fand  Darwin  begeisterte  Anhänger,  die  seine 
Lehre  weiter  ausbauten  und  mit  Erfolg  bemüht 
waren,  sie  zu  rascher  Verbreitung  und  zu  all- 
gemeiner Anerkennung  zu  bringen.  Bald  stritt 
man  überall  um  darwinistische  Ideen,  in  Kunst 
und  Religion,  in  den  Rechts-  und  Staatswissen- 
schaften,  und  vor  allem  in  der  Nationalökonomie 
war  der  „Kampf  ums  Dasein",  den  Darwin  ver- 
kündet halte,  zum  Schlagwort  geworden,  er  galt 
als  universales  Erklärungsprinzip.  Unter  Haeckel's 
Führung  nahm  der  Darwinismus  schließlich  den 
Charakter  einer  religiösen  Bewegung  an,  indem 
er  einen  heftigen  Kampf  der  monistischen  mit 
der  dualistischen  Weltanschauung  zur  Folge  hatte. 
„Kaum  ist",  so  sagt  Oscar  H  e  r  t  w  i  g ,  „ein  größerer 
Kontrast  denkbar  als  zwischen  der  Weltanschauung 
der  vorausgegangenen  Jahrhunderte,  mit  ihren  auf 
christlicher  Liebe  basierenden  Lehren,  und  der 
Weltanschauung,  die  aus  dem  erbitterten  Kampf 
ums  Dasein  und  der  auf  Wissenschaft  begründeten 
Selektionstheorie  eine  Orientierung  auf  neue  Lebens- 
ziele zu  gewinnen  suchte".  An  die  Stelle  dieses 
oft  genug  von  beiden  Seiten  mit  leidenschaftlichem 
F"anatismus  und  krasser  Intoleranz  geführten 
Kampfes  ist  um  die  Jahrhundertwende  glücklicher- 
weise allmählich  eine  Periode  exakter,  ruhiger 
Forschung  getreten,  und  siatt  in  blinder  Spe- 
kulationswut Hypothesen  auf  Hypothesen  zu  häufen, 
bemüht  man  sich  jetzt  mehr  und  mehr,  auf  ex- 
perimentellem Wege  die  Grundlagen  der  Ab- 
stammungslehre zu  erforschen.  Kreise,  die  aus 
religiösen  Gründen  dem  Deszendenzgedanken  ab- 
lehnend gegenüberstehen,  pflegen  neuerdings  daraus 
mit  Vorliebe  auf  einen  Niedergang  der  Ab- 
stammungslehre zu  schließen.  Nichts  ist  falscher 
als  dieses.  Das  Entwicklungsprinzip  beherrscht 
heute  mehr  als  je  die  ganze  Biologie.  Nicht 
darüber  streitet  man,  ob  die  heutigen  Lebewesen, 
Pflanze,  Tier  und  IVIensch,  sich  aus  einfacheren 
und  einfachsten  Formen  entwickelt  haben,  sondern 
man  diskutiert  über  die  Faktoren,  die  diese 
Entwicklung  vom  Einfachen  zum  Komplizierten 
bedingt  haben,  es  steht  mit  anderen  Worten  wohl 
der  Darwinismus,  nicht  aber  die  Deszen- 
denztheorie —  man  hat  in  Laienkreisen  die 
beiden  Begriffe  oft  genug  einander  gleichgestellt  — 
zur  Diskussion. 

Was  nun  den  Darwinismus  anbelangt,  so  ist 
man  allerdings  ihm  gegenüber  kritischer  geworden. 
Besonders  war  es  die  seit  dem  Jahre  1900  zu  so 
machtvoller  Entfaltung  gekommene  Vererbungs- 
lehre, die  dazu  führte,  die  Bedeutung  des  Prinzips 
der  Auslese  im  Kampf  ums  Dasein  für  die  Art- 
bildung immer  mehr  einzuschränken.     Man  spricht 


366 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


heute  vielfach  von  einer  ,,Krisis  des  Darwi- 
n  i  s  m  u  s",  und  es  mehrt  sich  die  Zahl  der  Forscher, 
die  nach  anderen  Erklärungsprinzipien  der  Abstam- 
mungslehre suchen.  In  seinem  jüngst  erschienenen 
umfangreichen  Werke  will  Oscar  Hertwig 
den  Beweis  für  die  Unhaltbarkeit  der  Selektions- 
theorie oder,  wie  er  sie  nennt,  um  gleich  die 
Schwäche  der  Darwin 'sehen  Theorie  in  der  Be- 
zeichnung zum  Ausdruck  zu  bringen,  der  Z  u  f  a  1 1  s  - 
theorie  führen,  und  zugleich  unternimmt  er  den 
Versuch,  sie  durch  eine  andere  Theorie,  die 
Theorie  der  direkten  Be Wirkung,  zu  er- 
setzen. Oscar  Hertwig  gehört  zu  den  Forschern, 
die  den  Aufstieg  der  durch  Darwin  neu  be- 
gründeten Entwicklungslehre  persönlich  miterlebt 
haben.  Als  Schüler  Haeckel's  wurde  sein 
Interesse  für  darwinistische  Fragen  frühzeitig  wach- 
gerufen, und  er  hatte  als  solcher  besondere  Ge- 
legenheit, den  Kampf  der  IVleinungen  zu  verfolgen. 
Durch  eine  große  Zahl  ausgezeichneter  Unter- 
suchungen aus  den  Gebieten  der  Entwicklungs- 
geschichte der  Tiere,  der  vergleichenden  Anatomie 
und  der  experimentellen  Biologie  hat  Hertwig 
bedeutenden  Anteil  an  der  sicheren  Funda- 
mentierung  der  Deszendenztheorie  genommen. 
Niemals  ist  er  aber,  wie  er  in  dem  Vorwort  zu 
seinem  Werke  auseinandersetzt,  ein  blinder  Partei- 
gänger des  Darwinismus  gewesen.  Schon  in  einer 
Reihe  früherer  Schriften  hatte  er  Zweifel  an  der 
Richtigkeit  der  Darwin 'sehen  Theorie  geäußert, 
und  wenn  er  gerade  jetzt  die  Selektionstheorie  in 
umfassender  Weise  einer  scharfen  Kritik  unterzieht, 
so  geschieht  das  nicht,  wie  er  versichert,  weil 
Darwin  ein  Engländer  ist  —  bedarf  es  bei  einem 
deutschen  Gelehrten  überhaupt  einer  solchen  Ver- 
sicherung? — ,  sondern  Hertwig  ist  im  Laufe 
jahrelanger  Untersuchungen  zu  seinem  heutigen 
Standpunkte  gekommen  und  will  nun  mit  dieser 
Auseinandersetzung  mit  dem  Darwinismus  seine 
Lebensarbeit  zu  einem  Abschluß  bringen. 

Hertwig  schildert  in  seinem  Werke  über 
das  Werden  der  Organismen  zunächst  die  Ent- 
stehung des  Einzelindividuums,  die  Ontogenese, 
und  setzt  die  diese  bedingenden  Faktoren  aus- 
einander. Damit  vergleicht  er  die  Entwicklung 
des  Stammes,  die  Phylogenie.  Worauf  diese 
beruht,  das  ist  das  große  Problem,  das  Darwin 
durch  seine  Selektionstheorie  zu  lösen  versucht 
hat.  Nach  einer  Besprechung  dieser  Theorie 
begründet  dann  Hertwig  in  den  letzten  Kapiteln 
seines  Werkes  seinen  ablehnenden  Standpunkt  ihr 
gegenüber  und  deutet  die  Wege  an,  auf  denen 
nach  seiner  Ansicht  eine  Lösung  des  Problems 
gefunden  werden  kann.  Der  uns  zur  Verfügung 
stehende  Raum  gestattet  nicht  ein  genaues  Eingehen 
auf  die  Hertwig'  sehen  Darlegungen.  Wir  müssen 
uns  darauf  beschränken,  kurz  seinen  Standpunkt 
zur  Darwin 'sehen  Theorie  zu  skizzieren.  Um 
aber  wenigstens  eine  Vorstellung  von  der  Fülle 
des  in  dem  Werke  behandelten  Stoffes  zu  geben, 
sei  eine  Inhaltsangabe  der  vorhergehenden  Kapitel 
vorausgeschickt.    Hertwig  behandelt: 


Die  älteren  Zeugungstheorien  —  Die  Stellung 
der  Biologie  zur  vitalistischen  und  mechanistischen 
Lehre  vom  Leben  —  Die  Lehre  von  der  Artzelle 
als  Grundlage  für  das  Werden  der  Organismen 
—  Die  allgemeinen  Prinzipien,  nach  denen  aus 
den  Artzellen  die  vielzelligen  Organismen  ent- 
stehen —  Die  Umwertung  des  biogenetischen 
Grundgesetzes  —  Die  Erhaltung  des  Lebens- 
prozesses durch  die  Generationsfolge  —  Das 
System  der  Organismen  —  Die  Frage  nach  der 
Konstanz  der  Arten  —  Die  Stellung  der  Organismen 
im  IVlechanismus  der  Natur  —  Das  Problem  der 
Vererbung  —  Der  gegenwärtige  Stand  des  Ver- 
erbungsproblems. 

Die  weiteren  Kapitel  sind  dem  Lamarekismus 
und  dem  Darwinismus  sowie  der  Kritik  der 
Selektions-  und  Zufallstheorie  gewidmet. 

Während  Lamarck  in  dem  Prinzip  der 
funktionellen  Anpassung  eine  kausale  Er- 
klärung der  Abstammungslehre  gefunden  zu  haben 
glaubte,  suchte  Darwin  eine  solche  Erklärung 
durch  seine  Lehre  von  der  natürlichen 
Zuchtwahl  im  Kampf  ums  Dasein  oder 
die  Selektionstheorie  zu  geben.  Die  Beob- 
achtungen und  Erfahrungen  der  Tier- und  Pflanzen- 
züchter haben  Darwin  den  ersten  Anstoß  zur 
Aufstellung  seiner  Theorie  gegeben.  Es  ist  eine 
allgemeine  Eigenschaft  der  Organismen  zu  vari- 
ieren. Die  Kinder  unterscheiden  sich  von  ihren 
Eltern  und  untereinander  durch  mancherlei,  wenn 
auch  geringfügige  Merkmale.  Bald  variieren  die 
Merkmale  in  dieser,  bald  in  jener  Richtung,  von 
Natur  aus  ist  das  Variieren  richtungslos.  Indem 
nun  der  Züchter  unter  den  ihm  von  der  Natur 
gebotenen  Varietäten  der  Tiere  und  Pflanzen  die- 
jenigen aussucht  und  zur  Fortpflanzung  bringt, 
die  ihm  für  seine  Zwecke  am  geeignetsten  er- 
scheinen, gibt  er  der  Variation  eine  bestimmte 
Richtung.  Denn,  so  schloß  Darwin,  die  bei 
den  ausgesuchten  Varietäten  besser  oder  neu 
ausgebildete  Eigenscliaft  vererbt  sich  auf  die  Nach- 
kummen und  variiert  bei  diesen  wieder.  Erfolgt 
in  den  nächsten  Generationen  immer  wieder  eine 
Auswahl  der  besten  Individuen,  so  wird  die  Eigen- 
schaft immer  mehr  vervollkommnet,  bis  schließlich 
eine  besondere  Rasse,  Varietät  oder  gar  Art  erzielt 
ist.  Durch  solche  künstliche  Zuchtwahl 
sind  nach  Darwin  alle  unsere  heutigen  Kultur- 
pflanzen- und  Haustierrassen  entstanden.  Die 
Zuchtwahl,  die  der  Mensch  im  kleinen  übt,  führt 
die  Natur  im  großen  aus.  Die  Rolle  des  Züchters 
spielt  in  der  Natur  der  Kampf  ums  Dasein. 
Die  Vermehrungsfähigkeit  der  meisten  Organismen 
ist  enorm  im  Vergleich  zur  Existenzmöglichkeit. 
Eine  große,  ja  die  größte  Zahl  der  Nachkommen 
muß  zugrundegehen,  es  entsteht  unter  ihnen 
ein  Kampf  um  Nahrung  und  Raum,  und  in  diesem 
Kampfe  werden  im  allgemeinen  die  Formen  er- 
halten bleiben,  die  infolge  zufälliger  Variationen 
den  Bedingungen  der  Umwelt  besser  angepaßt 
sind  als  andere.  Die  Überlebenden  vermögen  die 
sie   begünstigenden  Abänderungen  auf  ihre  Nach- 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


367 


kommen  zu  vererben,  von  diesen  werden  wieder 
die  am  besten  angepaßten  Individuen  erhalten 
bleiben,  und  so  entwickelt  sich  auch  in  der  Natur 
das  anfangs  vielleicht  nur  ganz  geringfügig  er- 
scheinende Merkmal  mehr  und  mehr.  Das  ist  in 
kurzen  Zügen  Darwin 's  Selektioiistheorie,  die 
dann  durch  Haeckel  und  vor  allem  durch  W e i s - 
mann,  den  Begründer  der  Lehre  von  der  Ger- 
minalselektion,  noch  weiter  ausgebaut  wurde. 
Während  Darwin  und  auch  Haeckel  neben  der 
Selektion  auch  dem  Lamarck'schen  Faktor  eine 
gewisse  Bedeutung  für  die  Artbildung  einräumten, 
hält  Weis  mann  eine  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  für  ganz  unmöglich  und  verkündet 
die  Allmacht  der  Naturzüchtung. 

In  seiner  Kritik  der  Selektions-  und  Zufalls- 
theorie geht  H  e  r  t  w  i  g  vom  Wesen  der  Variation 
aus.  „Beim  Streit  um  die  Selektionstheorie  han- 
delt es  sich  in  erster  Linie  um  die  Erforschung 
der  Bedingungen  und  Ursachen,  unter  denen  die 
Organismen  variieren,  und  um  die  Beantwortung 
der  Frage,  ob  die  Organismen  je  nach  ihrer  spe- 
zifischen Natur  auf  bestimmte  und  während  längerer 
Dauer  einwirkende  Reize  in  ihren  Funktionen  und 
in  ihrer  Organisation  in  bestimmter  oder  in  be- 
liebiger Richtung  variieren."  Diese  Kardinalfrage 
hat  Darwin  unbeantwortet  gelassen.  Erst  durch 
die  neu  geschaffene  Mendelforschung  haben  wir 
hier  Klarheit  gewonnen.  Wir  teilen  heute  die 
Variationen  in  drei  Kategorien  ein:  in  Modifika- 
tionen, Kombinationen  und  Mutationen.  Die  Mehr- 
zahl der  Variationen  sind  Modifikationen; 
diese  werden  hervorgerufen  durch  Einwirkungen  der 
Außenwelt,  durch  Licht,  Temperatur,  Ernährung 
usw.,  und  sind  nicht  erblich.  Eine  unter 
den  Modifikationen  vorgenommene  Selektion  ist 
infolgedessen  vollständig  wirkungslos.  Gerade  die 
Modifikationen  sind  aber  für  Darwin  eines  der 
wichtigsten  Beweismittel  für  seine  Theorie  gewesen  ! 
Auf  zwei  Wegen  vermag  der  Züchter  neue  Kuliur- 
formen  von  I.ebewesen  zu  gewinnen:  i.  durch 
Kombination  zweier  in  einem  oder  mehreren 
Merkmalen  differenten  Idioplasmen,  2.  durch  M  u  - 
tation.  Kombinationen  und  Mutationen  sind 
erblich.  Die  Kombination  erzielt  der  Züchter 
allerdings  durch  Selektion,  aber  sie  führt  nicht  in 
dem  Sinne  zur  Entstehung  neuer  F"ormen,  daß 
dadurch  die  Artbildung  erklärt  werden  könnte, 
auch  ist  der  Zufall  ganz  ausgeschaltet.  Der  Züchter 
verbindet  lediglich,  ähnlich  wie  der  Chemiker,  zwei 
Idioplasmen  zu  neuen  Lebensformen  nach  fest- 
stehenden und  bereits  bekannten  Gesetzen.  Die 
Mutationen  beruhen  niclit  auf  Bastardspaltung; 
über  ihre  Ursache  wissen  wir  bisher  nichts  Be- 
stimmtes, jedoch  ist  es  nicht  mehr  zweifelhaft, 
daß  sie  ganz  unabhängig  von  Selektion 
entstehen.  Nach  dem  Aussehen  sind  die  drei 
Kategorien  von  Variationen  in  der  Regel  nicht 
zu  unterscheiden;  es  muß  meistens  erst  duich 
das  Vererbungsexperiment  festgestellt  werden,  in 
welche  Kategorie  eine  bestimmte  Variation  gehört. 
„Der   Züchter   kann",    das    ist    das   unzweideutige 


Resultat  der  Mendelforschung,  „durch  Selektion 
nichts  Neues  produzieren.  Seine  Kunst  besteht 
ausschließlich  im  Auffinden  und  in  der  geschickten 
Auswahl  für  seine  Zwecke  geeigneter  erblicher 
Abänderungen  von  Lebewesen,  welche  die  Natur 
entweder  durch  Kombination  zweier  verschiedenen 
Idioplasmen  oder  durch  Mutation  eines  bestehen- 
den Idioplasma  hervorgebracht  hat." 

Mit  der  Lehre  von  der  künstlichen  Zucht- 
wahl steht  und  fällt  eigentlich  auch  die  Theorie 
der  natürlichen  Zuchtwahl.  Hertwig  führt 
trotzdem  auch  noch  eine  Reihe  von  Einwänden 
gegen  letztere  ins  Feld:  i.  Kleine  Unterschiede 
zwischen  den  einzelnen  Individuen  können,  auch 
wenn  sie  vorteilhaft  sind,  nicht  den  Ausschlag 
geben  bei  der  Entscheidung  über  Leben  und  Tod, 
sie  können  daher  auch  nicht  durch  Selektion  ge- 
steigert werden.  2.  Die  rein  morphologischen 
Merkmale  der  Pflanzen  und  Tiere,  deren  Zahl  sehr 
groß  ist,  besitzen  keinen  besonderen  Nutzen  für 
den  Organismus,  es  fehlt  ihnen  jeglicher  Selektions- 
wert, ihre  Entstehung  kann  also  nicht  nach  dem 
Selektionsprinzip  erklärt  werden.  3.  Allgemeine 
Gesetzmäßigkeiten  in  der  Organisation  der  Lebe- 
wesen, wie  z.  B.  die  fundamentalen  Eigenschaften 
der  lebenden  Substanz  (Ernährung,  U'achstum, 
Fortpflanzung,  Empfindung),  vermögen  ebenfalls 
durch  Selektion  von  zufälligen  Organisations vor- 
teilen keine  Erklärung  zu  finden.  4.  Die  Genealogie 
der  Organismen  weist  nicht  auf  eine  monophy- 
letische  Abstammung  hin,  wie  sie  die  Anhänger 
des  Darwinismus  postulieren,  sondern  auf  eine 
polyphyletische  Deszendenz.  5.  Die  Stellung  der 
Selektionstheorie  zum  Zweckbegriff:  das  Selektions- 
prinzip löst  nicht  das  Rätsel  des  Zweckmäßigen, 
es  setzt  die  Zweckmäßigkeit  als  etwas  schon  in 
der  Natur   der    Organismen    Vorhandenes    voraus. 

An  die  Stelle  der  Selektions-  und  Zufallstheorie 
will  Hertwig  die  „Theorie  der  direkten 
Be Wirkung"  setzen.  Diese  Theorie  ist  nicht 
neu;  sie  stammt  von  Nägeli,  und  Hertwig 
erklärt  ausdrücklich:  „Nägeli 's  Standpunkt  ist 
auch  der  meinige."  Die  mechanisch-physiologische 
Theorie  der  Abstammungslehre  Nägeli 's,  die 
zu  der  Lamarck'schen  Lehre  in  naher  Verwandt- 
schaft steht,  besagt,  daß  ,,die  Eigenschaften  der 
Organismen  die  notwendigen  Folgen  von  bestimmten 
Ursachen  seien".  Der  Schwerpunkt  bei  der  F"rage 
nach  der  natürlichen  Entwicklung  der  Organismen 
wird  nach  Hertwig  in  der  von  ihm  vertretenen 
Richtung  auf  die  direkte  Bewirkung  und 
auf  die  Vererbung  erworbener  Eigen- 
schaften gelegt,  das  Prinzip  der  Selektion  hat 
zwar  auch  eine  regulierende  Rolle  beim  Werden  der 
Organismen,  aber  diese  Rolle  ist  von  anderer  und 
iTiehr  untergeordneter  Bedeutung  als  beim  Darwi- 
nismus. „Auch  die  Selektion  selbst  ordnet  sich 
als  ein  Glied  der  direkten  Bewirkung  mit  in  die 
Kausalzusammenhänge  des  großen  Naturganzen 
ein." 

Durch  die  Richtung,  die  Hertwig  vertritt, 
ist  auch  sein  Standpunkt  gegenüber  den  modernen 


368 


Naturwissenschaftliche  Woch  enschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  26 


Lehren  vom  Leben,  dem  Vitalismus  und  dem 
Mechanismus,  gegeben.  Er  vermag  sich  keiner 
von  beiden  anzuscliließen,  sondern  sucht  ein  Kompro- 
miß zwischen  beiden.  Dem  Mechanisten  gegen- 
über betont  er  die  Eigenart  biologischer 
Aufgaben,  leugnet  aber  im  Gegensatz  zum 
Vitalisten  die  Existenz  einer  besonderen  „Lebens- 
kraft"; er  möchte  die  Unterschiede  zwischen  der 
unbelebten  und  der  belebten  Körperwelt  nicht 
übersehen  wissen,  betont  aber,  daß  diese  Unter- 
schiede nur  graduelle  sind. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wollten  wir  hier  in 
eine  Kritik  der  Hertwig'schen  Anschauungen 
eintreten.  Auch  die  Theorie  der  direkten  Be- 
wirkung  hat  ihre  Schwächen.  Uns  scheint,  um 
nur  auf  eines  hinzuweisen,  daß  Hertwig,  der 
so  sehr  —  und  ganz  mit  Recht  —  betont,  daß 
die  Grundlagen  der  Selektionstheorie  durch  den 
Mendelismus  zerstört  worden  sind,  den  Nachweis 
zu  führen  unterläßt,  inwieweit  seine  Theorie  mit 
den  Ergebnissen  der  modernen  Vererbungsforschung 
in  Einklang  steht.  „Es  ist  völlig  evident,"  sagt 
Johannsen,  „daß  die  Genetik  die  Grundlage  der 
Darwin 'sehen  Selektionslehre  ganz  beseitigt  hat." 
„Aber,"  so  sagt  er  weiter,  „ähnlich  steht  die  Sache 
in  bezug  auf  die  Hypothesen,  welche  mit  , .erblicher 
Anpassung",  „Vererbung  erworbener  Eigenschaften" 
u.  dgl.  Ideen  in  mehr  oder  wenig  nahem  An- 
schluß an  Lamarck's  Anschauungen  operieren. 
Die  Genetik  hat  hier  absolut  keine  Tatsache  auf- 
gedeckt, die  als  Stütze  derartiger  Ideen  dienen 
könnte."  Doch,  wie  dem  auch  sei,  auch  wer  den 
Anschauungen  H  e  r  t  w  i  g '  s  nicht  zu  folgen  vermag 
und  mit  Johannsen  auf  dem  Standpunkte  steht, 
daß  wir  „eine  zeitgemäße  Theorie  der  Evolution 
augenblicklich  nicht  haben",  wird  aus  dem 
Hertwig'schen  Werke  über  das  Werden  der 
Organismen  reiche  Anregung  schöpfen.  Wie 
Weismann's  „Vorträge  über  Deszendenstheorie" 
so  stellt  auch  Hertwig's  „Werden  der  Organismen" 
einen  Markstein  in  der  Geschichte  der  Abstam- 
mungslehre dar.  Das  Werk  wird  seinen  Wert 
behalten,  auch  wenn  die  darin  vorgetragenen 
Ideen  sich  mit  fortschreitender  Erkenntnis  mehr 
oder  weniger  als  irrig  werden  erweisen  lassen. 
Nachtsheim. 


E.  Freundlich,  Die  Grundlagen  der  Einstein- 
schen  Gravitationstheorie.  Berlin  1916, 
Julius  Springer.  —  Preis  2,40  M. 


Das  Büchlein  ist  aus  einer  Reihe  von  Aufsätzen 
hervorgegangen,  die  der  Verfasser  in  der  Zeitschrift 
„Die  Naturwissenschaften"  veröffentlicht  hat.  Es 
ist  wohl  die  erste  zusammenfassende  Darstellung 
der  neuen  Einstein'schen  Theorie,  die  ja  eine 
durchgreifende  Umwälzung  unserer  bisherigen 
Vorstellungen  bedeutet.  Es  ist  dem  Verfasser  ge- 
lungen —  so  sagt  Einstein  in  dem  von  ihm  ge- 
schriebenen Vorwort  — ,  die  Grundgedanken  der 
Theorie  jedem  zugänglich  zu  machen,  dem  die 
Denkmethoden  der  exakten  Naturwissenschaften 
einigermaßen  geläufig  sind.  Es  kann  daher  allen, 
die  dem  Thema  Interesse  entgegenbringen,  warm 
empfohlen  werden.  Eine  eingehende  Besprechung 
erübrigt  sich,  da  kürzlich  die  Naturwissensch. 
Wochenschr.  eine  ausführliche  und  lesenswerte 
Arbeit  1)  über  dasselbe  Thema  gebracht  hat. 

Seh. 


Pilger,  R.,  Prof  Dr.,  DieMeeresalgen.  Dritte 
Abteilung  des  4.  Bandes  der  „Kryptogamenflora 
für  Anfänger.  Berlin  1917,  J.Springer.  —  5,60  M. 
Mit  diesem  Hefte  erreicht  der  4.  Band  der 
„Kryptogamenflora  für  Anfänger",  der  die  Algen 
behandelt,  zum  Abschluß.  Er  enthält  die  Meeres- 
algen, aber  mit  der  Einschränkung,  daß  nur  die 
Rot-und  Braunalgen  berücksichtigt  werden,  während 
die  grünen  Algen  des  Meeres  sowie  seine  Diatomeen 
bereits  in  den  früheren  Heften  enthalten  sind. 
Der  Zweck  des  Plorenwerkes,  den  Anfänger  und 
Liebhaber  einzuführen  und  ihn  beim  Sammeln 
und  Bestimmen  zu  unterstützen,  rechtfertigt  es,  die 
Phäo-und  Rhodophyzeen  als  typische  Vertreter 
des  marinen  Algenwuchses  gesondert  zu  behandeln. 
Wie  in  den  anderen  Heften  (vgl.  die  Besprechungen 
N.  W.  Bd.  Xlll  S.  783,  Bd.  XV  S.  349)  wird  eine 
ganz  kurze  Belehrung  über  Verbreitung,  Lebens- 
bedingungen, Bau,  Fortpflanzungsverhältnisse  und 
Präparation  der  Meeresalgen  dem  systematischen 
Hauptteil  vorausgeschickt.  Die  Bestimmung 
wird  durch  einfache,  klare  Zeichnungen  er- 
leichtert. Berücksichtigt  wird  die  Algenflora  der 
deutschen  Küsten  sowie  die  des  nördlichen 
adriatischen  Meeres.  Als  praktisches  Hilfsmittel 
für  den,  der  in  erster  Linie  die  Algen  sammeln 
und  bestimmen  will,  ist  die  Flora  nützlich  und 
empfehlenswert.  Miehe. 


')  XVI    (1917),    S.    113,    P.   Riebeseil:    Relativität   und 
Gravitation. 


Inhalt i  O.  Taschenberg,  Etwas  über  den  Begriff  „Brutparasitismus".  S.  353.  —  Einzelberichte:  Korscheit,  Lebens- 
dauer, Altern  und  Tod.  S.  358.  Goldschmidt,  Geologisch-Petrographische  Studien  im  Hochgebirge  des  südlichen 
Norwegens.  S.  362.  Lingelsheim,  Zur  Kenntnis  der  Deutschen  Tertiärlloren.  S.  368.  Prell,  Über  trommelnde 
Spinnen.  S.  364.  —  Bücherbesprechungen:  Robert  Henseling,  Sternbüchlein  für  1917;  Cuno  Hoffmeister, 
Kurte  Einführung  in  die  Wunder  am  Sternenhimmel;  Philipp  Fauth,  15  Astronomische  Stereos  zur  Unterstützung 
des  Raumsinnes  und -zur  Förderung  der  Raumvorstellung.  S.  364.  Oscar  Hertwig,  Das  Werden  der  Organismen. 
Eine  Widerlegung  von  Darwin's  Zufallstheorie.  S.  365.  E.  Freundlich,  Die  Grundlagen  der  Einstein'schen  Gravila- 
tionstheorie.  S.  36S.     R.  Pilger,  Die  Meercsalgen.  S.  368. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.   H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lipperl  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  8.  Juli  1917. 


Nummer  37. 


Etwas  über  den  Begriflf  „Brutparasitismus". 


[Nachdruck  verboten.]  Von   Prof.   Dr.   O. 

Um  noch  einmal  auf  die  hervorgeiiobene  Paral- 
lele zwischen  den  durch  Bedürfnis  nach  Schutz 
und  Nahrung  bedingten  Vereinigungen  verschie- 
dener Tierarten  und  die  zu  ähnlichen  Vergesell- 
schaftungen führenden  Formen  der  Brutpflege  zu- 
rückzukommen, so  würde  es  naheliegen,  die 
unter  dem  Aushängeschilde  des  „Brutparasitismus" 
üblichen  Beispiele  mit  jenen  Epöken  und  Synöken 
in  eine  biologische  Gruppe  zu  vereinigen,  denen 
man  das  Odium  des  Parasitismus  fernhält.  Dahin 
gehören  die  von  Kraepelin  als  Epöken  ange- 
führten „zahlreichen  Würmer  und  Krebse,  die  die 
Gewohnheit  haben,  ihre  Eier  im  Innern  des  Kanal- 
systems der  Schwämme  abzusetzen".  Ferner  die 
besonders  charakteristische  Brutpflege  des  nied- 
lichen Bitterlings  (Rhodeus  amarus)  unter  den 
Fischen,  der  seine  Eier  mit  Hilfe  einer  Legeröhre, 
die  nur  in  der  Laichzeit  zur  Entwicklung  kommt, 
zwischen  die  Kiemenbiätter  der  Teichmuscheln 
absetzt,  wo  die  junge  Brut  bis  zur  Aufzehrung 
des  Nahrungsdotters  verweilt.  Wie  schon  erwähnt, 
begegnen  wir  bei  Kraepelin  den  von  anderer 
Seite  als  Brutparasiten  angesprochenen  Tieren, 
wie  den  Einmietern  unter  den  Gallwespen,  den 
Kuckucksbienen,  Mutillen,  Goldwespen,  gewissen 
Fliegen  („Trauerschwebern")  unter  den  Synöken, 
während  er  die  Maiwürmer  unter  den  wirklichen 
Parasiten  bespricht,  aber  nur  als  „klassisches  Bei- 
spiel für  die  hier  zutage  tretenden  Schwierig- 
keiten" in  der  Klassifizierung.  Allen  diesen  Fällen 
von  Vergesellschaftung  verschiedener  Tierarten  ist 
das  gemeinsam,  daß  es  sich  nicht,  wie  sonst 
wohl,  um  eine  Anteilnahme  an  der  Nahrung 
seitens  Erwachsener,  nicht  um  eine  Tisch- 
genossenschaft (Kommensalismus)  im  gewöhn- 
lichen Sinne  handelt,  sondern  um  Erlangung  der 
Mittel  zur  normalen  Entwicklung  der  jungen 
Brut.  Im  Prinzip  ist  es  das  gleiche;  denn  es 
handelt  sich  um  Fragen  der  Ernährung;  ein  ge- 
wisser Unterschied  zwischen  den  einzelnen,  hier 
zusammengefaßten  Fällen  besteht  nur  darin,  daß 
wir  den  einen  bezüglich  der  „Berechtigung"  im 
menschliclien  Sinne,  bzw.  der  „Unschädlichkeit" 
für  den  Partner  Indemnität  zubilligen,  während 
wir  gegen  den  anderen  den  „Vorwurf"  der  „un- 
berechtigten", weil  schädigenden  Beeinträchtigung 
erheben.  Die  letzleren  werden  dadurch  den  eigent- 
lichen Parasiten  näher  gebracht,  ohne  daß  sie  den 
Namen  verdienen,  weil  sie  ihre  Nahrung  nicht 
den  Körperbestandteilen  ihrer  unfreiwilligen  Gast- 
geber entnehmen.  Wenn  man  nun  ein  solches, 
in  der  Tat  eigenartiges  Verhältnis  mit  einem  be- 
sonderen Ausdrucke  hervorheben  will,  so  würde 
ich  vorschlagen,  statt  von  „Brutparasitismus"  von 


Taschenberg.  (Schluß.) 

Paraxenie  zu  sprechen,  d.  h.  von  einer  un- 
rechtmäßig in  Anspruch  genommenen  Gastfreund- 
schaft; denn  das  griechische  Wort  /lagd^ero);  be- 
deutet einen  „verstellten  Gastfreund",  einen  der 
unrechtmäßig  als  Fremder  eingedrungen  ist.  Da- 
mit hätten  wir  einen  gewissen  Gegensatz  zum 
berechtigten  Gastfreund,  zum  Tischgenossen  oder 
Kommensalen  aufgestellt  und  doch  beider  nahe 
Zugehörigkeit  zur  Synökie,  im  Gegensatz  zum 
Parasitismus  zum  Ausdruck  gebracht.  Wir  sind 
auch  in  der  Lage,  der  Brutpflege  im  allgemeinen 
gegenüber  von  emer  paraxenen  Brutpflege, 
ferner  von  paraxenen  Bienen  und  Hummeln 
zu  sprechen.  Wobei  immer  wieder  hervorgehoben 
werden  muß,  daß  es  sich  lediglich  darum  handelt, 
in  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  von  Lebens- 
erscheinungen zu  unserer  Orientierung  eine  ge- 
wisse Ordnung,  eine  Art  von  System  einzuführen, 
ohne  zwischen  den  einzelnen  Kategorien  eine 
scharfe  Grenze  ziehen  zu  können  und  zu  wollen. 
Wenn  man  die  Verhältnisse  vom  phylogenetischen 
Standpunkte  aus  beurteilen  will,  würde  das  hier 
des  längeren  Erörterte  sich  in  die  wenigen  Worte 
zusammenfassen  lassen:  bei  der  Vergesellschaftung 
verschiedener  Tierarten  kann  sich  aus  dem  Kom- 
mensalismus ebenso  wie  aus  der  Paraxenie  ein 
typischer  Parasitismus  herausbilden. 

Noch  ein  anderer  Berührungspunkt  zwischen 
Parasitismus  und  Brutpflege  soll  nicht  unerwähnt 
bleiben,  der  von  so  eigenartiger  Natur  ist,  daß  er 
unsere  vermeintlich  festgelegten  biologischen  Be- 
griffe auf  den  Kopf  zu  stellen  scheint.  Schon 
Kraepelin  (S.  90  seiner  mehrfach  erwähnten 
Schrift)  macht  darauf  aufmerksam,  „daß  in  ge- 
wissem Sinne  auch  das  saugende  Junge  an  den 
Zitzen  der  Mutter  der  Definition  des  Parasiten 
entspricht,  und  daß  diese  Parallele  noch  voll- 
ständiger wird,  wenn  etwa  die  Jungen  der  Katze 
einer  säugenden  Hündin  untergeschoben  sind". 
Auf  den  ersten  Blick  möchte  es  einem  geradezu 
paradox  erscheinen,  den  Säugling  an  der  Mutter- 
brust —  denn  der  Mensch  erweist  seine  Zu- 
gehörigkeit zu  den  Säugetieren  durch  nichts 
sicherer  als  durch  diese  höchst  entwickelte  Form 
von  Brutpflege  —  als  Parasiten  der  eigenen  Mutter 
in  Anspruch  zu  nehmen !  Und  doch  ist  das  Baby 
in  der  ersten  Zeit  seines  Lebens  ein  Organismus, 
der  seine  Nahrung  den  Säften  eines  anderen  Or- 
ganismus entnimmt,  er  trägt  also  die  Signatur 
des  Schmarotzers  an  sich.  Warum  rechnen  wir 
ihn  in  Wirklichkeit  nicht  dazu?  Wäre  die  „Schä- 
digung" des  Wirts  seitens  seines  Parasiten  wirk- 
lich das  Kennzeichen  des  letzteren,  so  könnte  man 
den  Säugling    schon    darum   davon   ausschließen; 


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denn  er  schädigt  seine  Mutter  nicht  nur  nicht 
durch  die  Entnahme  seiner  Nahrung  aus  den 
Milchdrüsen,  sondern  entlastet  sie  vielmehr  von 
einer  Substanz,  die,  sobald  sie  einmal  gebildet 
ist,  den  Körper  belastet  und  zu  ihrer  Entleerung 
drängt,  nicht  anders  als  andere  Exkrete,  wie 
Harn  oder  wie  unverdaute  Nahrungsreste.  Daraus 
könnte  man  den  Schluß  ziehen,  daß  die  Milch 
kein  integrierender  Bestandteil  des  Organismus  ist, 
der  sie  gebildet  hat;  wie  man  auch  den  ausge- 
schiedenen Schleim  der  Haut,  von  dem  sich  die 
sog.  Fischläuse  ernähren,  mit  zweifelnder  Emp- 
findung noch  als  „Teile  des  betreffenden  Wirts- 
körpers" ansieht.  Übrigens  wäre  bereits  der 
Embryo  jedes  plazentalen  Säugetieres  ebenso- 
gut als  Parasit  anzusprechen,  wie  der  Säugling. 
Des  letzteren  Ernährungsweise  bildet  nur  die 
Fortsetzung  von  der  während  des  Intrauterin- 
lebens  stattfindenden,  und  beide  erscheinen  eben 
als  der  Ausdruck  einer  hochentwickelten  Brut- 
pflege. 1) 

Wenn  man  auch  nicht  an  die  mit  einer  ge- 
wissen Komik  gepaarte  Tatsache  zu  erinnern 
nötig  hat,  die  darin  liegt,  daß  schon  manche 
junge  Frau  die  ersten  Beschwerden  der  heran- 
nahenden Mutterschaft  auf  die  Anwesenheit  eines 
Bandwurms  in  ihrem  Darme  zurückführen  zu 
müssen  glaubte,  so  braucht  man  sich  auch  darum 
nicht  über  Analogien  zwischen  Brutpflege  und 
Parasitismus  zu  verwundern,  weil  beiderlei  Lebens- 
äußerungen tatsächlich  mit  Ernährungsverhält- 
nissen im  engsten  Zusammenhange  stehen  und 
uns  nur  deshalb  wie  Gegensätze  erscheinen  mögen, 
weil  sie  Extreme  einer  Funktion  sind,  die  in 
anderen  Formen  ihrer  x'\ußerung  kaum  eine  Ab- 
grenzung gegeneinander  zulassen.  In  unseren 
wissenschaftlichen  Definitionen  müssen  wir  aber 
keine  Prinzipienreiterei  hervorkehren,  sondern  wie 
im  Zusammenhange  mit  anderen  menschlichen 
Interessen  Kompromisse  gelten  lassen.^)  Das  heißt, 


')  Um  nicht  den  .Anschein  zu  erwecken,  als  ob  ich  mit  diesen 
Bemerliungen  etwas  durchaus  Neues  auszusprechen  mir  einbildete, 
will  ich  nicht  unterlassen  zu  bemerken,  daß  mir  —  allerdings 
erst,  nachdem  ich  obiges  längst  niedergeschrieben  hatte  — 
die  Darlegungen  von  V.  Faussek  (Zool.  Anzeiger,  27.  Bd, 
1904,  Nr.  25,  S.  761  flf.)  zu  Gesicht  gekommen  sind,  die  unter 
der  Überschrift  „Viviparität  und  Parasitismus"  den  Versuch 
machen,  die  Viviparität  und  die  damit  zusammenhängende  Er- 
nährung des  Embryos  auf  Kosten  des  mütterlichen  Organismus 
auf  Parasitismus  zurückzuführen  und  zu  dem  Endresultat  ge- 
langten, daß  dieser  spezielle  Fall  von  Parasitismus  ein  zeit- 
weiliger Parasitismus  der  folgenden  Generation  einer  Art  auf 
der  vorhergehenden  sei.  Ich  will  an  dieser  eigenartigen  Auf- 
fassung zunächst  keine  Kritik  üben  (vgl.  Fußnote  ''),  hier  nur 
bemerken,  daß  sie  mir  nicht  allzusehr  von  jenem  einst  herr- 
schenden Dogma  entfernt  zu  sein  scheint,  wonach  Mutter 
Eva  die  Keime  der  gesamten,  von  ihr  abstammenden  Mensch- 
heit in  ihren  allumfassenden  Ovarien  enthalten  hat.  Ben 
Akiba  behält  eben  recht,  solange  die  Welt  besteht. 

*)  Wie  im  Umgange  mit  den  Menschen  das  ,, natürliche 
Taktgefühl"  oft  vermißt  und  darum  doppelt  geschätzt  wird, 
wo  es  uns  entgegentritt,  so  bedarf  es  auch  in  den  großen 
menschlichen  Gemeinschaften,  die  durch  gleiche  wissen- 
schaftliche Bestrebungen  zusammengehalten  werden,  eines 
gewissen  Taktes,  der  leichter  empfunden  und  vermißt  wird  als 
er  definierbar  ist.    Das  macht  sich  leider  auf  dem  Gebiete  der 


auf  unseren  F"all  angewandt:  die  Ernährungs- 
weise des  jung-en  Säugetieres  ist  kein 
Parasitismus! 

Die  eine  Katze  aufsäugende  Hündin  —  eine 
Zwischenstufe  zwischen  ihr  und  ihren  eigenen 
Nachkommen  bildet  die  menschliche  Amme  — 
verhält  sich  zur  normalen  Brutpflege  wie  die  von 
mir  als  Paraxenie  bezeichneten  Fälle  zum  „Brut- 
parasitismus" und  sind  gleichzeitig  ein  beredter 
Ausdruck  für  die  Macht  des  Instinktes  über  den 
Organismus,  ein  Gebiet,  in  das  u.  a.  auch  die 
„gluckende"  Henne  gehört,  die  ebensogut  Enten- 
eier ausbrütet  wie  ihre  eigenen  oder  die  von 
anderen  Hühnern  gelegten  Eier,  ja  die  sogar  in 
Ermangelung  von  Eiern  auf  dem  bloßen  Erd- 
boden die  gleiche  „Pflicht"  der  Bebrütung  an  den 
Tag  legt  und  darin  vollkommen  den  Pflegeeltern 
des  jungen  Kuckucks  an  die  Seite  gestellt  werden 
kann. 

Der  oben  geäußerten  Auffassung,  daß  das  Se- 


Systematik  in  der  oft  zuweitgehenden  .Arten-  und  Gattungs- 
spalterei  fühlbar  und  kann  auch  im  Zusammenhange  mit  dem 
hier  behandelten  Thema  zur  Geltung  kommen.  ,, Vernunft 
wird  Unsinn,  Wohltat  Plage",  und  noch  ein  anderes  Wort  tritt 
in  seine  Rechte  ein,  das  vor  Überspannung  des  Bogens  warnt: 
'Summum  jus  summa  injuria'.  Daß  zwischen  der  Ernährungs- 
weise eines  Parasiten  und  eines  Embryos  gewisse  Beziehungen 
bestehen,  wie  sie  schließlich  in  Fragen  des  gleichen  physio- 
logischen Vorganges  nicht  allzusehr  überraschen  können,  ist 
nicht  zu  leugnen;  aber  es  gibt  mancherlei  Analogien,  die 
dennoch  ihrem  Wesen  nach  ungleich  sind  wie  u.  a.:  „cacatum 
non  est  pictum".  Der  Standpunkt,  der  sich  in  Faussek's 
Satze  äußert :  „Viviparität  sei  ein  spezieller  Fall  von  Parasitismus", 
ist  übrigens  in  dieser  Fassung  zum  mindesten  von  vornherein 
unrichtig;  denn  Viviparität  als  solche  läßt  sich  nicht  mit  der 
parasitischen  Ernährung  vergleichen,  sondern  nur  dann,  wenn 
sie  Hand  in  Hand  mit  einer  so  engen  Beziehung  zwischen 
Embryo  und  Mutter  geht,  wie  sie  bei  den  plazentalen  Säuge- 
tieren und  in  gewissem  Grade  auch  bei  Haifischen  besteht. 
Es  scheint  mir  indessen  nicht  allzu  schwierig  zu  sein,  ein 
wirkliches  Kriterium  für  die  richtige  Umgrenzung  des  Be- 
griffes ,, Parasitismus"  zu  finden,  welches  auch  im  letzteren 
Falle  seine  Anwendung  ausschließt,  mag  man  ihn  vom  Stand- 
punkte der  Ernährungsphysiologie  oder  der  tierischen  Vergesell- 
schaftung aus  beurteilen.  Wo  immer  man  ihn  bisher  anzu- 
wenden pflegte,  da  hat  die  stillschweigende  Voraussetzung  zu- 
grunde gelegen,  die  auch  in  den  betreffenden  Ausdrücken 
zur  Geltung  gelangt,  daß  von  den  beiden  Individuen,  die 
dabei  beteiligt  sind,  das  eine,  nämlich  der  ,, Parasit",  bzw., 
wenn  man  nur  von  Kommensalismus  redet,  der  „Gastfreund" 
als  ein  ursprünglich  Fremder  an  das  andere,  den  „Wirt" 
oder  „Gastgeber"  von  außen  herantritt.  Und  wenn  dem 
tatsächlich  50  ist,  dann  kann  eine  aus  dem  Zellenstaate  eines 
weiblichen  Tieres  heraustretende,  besondere  Selbständigkeit 
erlangende  Einzelzelle,  die  mit  der  Funktion  der  Arterhaltung 
bttraut  ist  und  sich  unter  normalen  Verhältnissen  zu  einem 
Embryo  entwickelt,  nie  und  nimmer  unter  dem  Gesichtspunkte 
des  Parasitismus  beurteilt  werden.  Dazu  kommt  noch  ein 
zweites  Moment.  Weil  der  Parasit  von  vornherein  für  den 
Wirt  ein  fremder  Eindringling  ist  und  auch  stets  bleibt,  so 
kommt  ihm  —  um  wieder  einmal  vom  menschlichen  Stand- 
punkte aus  zu  sprechen  —  der  Wirt  auch  keineswegs  entgegen, 
um  ihm  bei  seinem  Nahrungsbedürfnis  behilflich  zu  sein,  muß 
sich  vielmehr  sehr  häufig  gefallen  lassen,  daß  er  von  ihm  „mit 
klammernden  Organen"  angepackt  wird.  Darum  wäre  es  völlig 
gegen  den  zur  Beobachtung  kommenden  Befund,  wenn  ein 
Wirt  dem  Parasiten  die  Lebensbedingungen,  insbesondere  die 
Nahrungsaufnahme  erleichterte,  wie  es  tatsächlich  dem  Embryo 
gegenüber  durch  Ausbildung  der  mütterlichen  Plazenta  ge- 
schieht, ein  Vorgang,  der  mithin  dem  Begriffe  des  Parasitismus 
durchaus  zuwider  ist. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kret  der  Milchdrüsen  nicht  als  integrierender  Be- 
standteil des  Organismus  aufgefaßt  werden  könne, 
möchte  ich  noch  etwas  Ähnliches  aus  dem  Pflanzen- 
leben, bzw.  aus  dem  gegenseitigen  Verhältnis  von 
Tieren  zu  Pflanzen  anreihen.  Daß  es  tierische 
Parasiten  bei  Pflanzen  gibt,  ist  in  meinem  früher 
veröffentlichten  Artikel  über  Parasitismus  zur 
Sprache  gebracht  und  dabei  auch  hervorgehoben, 
wie  außerordentlich  schwierig  es  sei,  zwischen 
solchen  und  Pflanzenräubern  eine  Scheidewand 
aufzurichten.  Bei  der  Nahrungsweise  der  Pflanzen- 
läuse, die  durch  Anstich  pflanzlicher  Gewebe 
deren  Säfte  saugen,  kann  kein  Zweifel  bestehen, 
daß  sie  den  Parasiten  zuzurechnen  sind.  Wie  ver- 
hält es  sich  nun  aber  mit  den  zahlreichen  anderen 
Insekten,  die  sich  von  jenen  Pflanzensäfien  ernähren, 
die  frei  zutage  treten  und  als  Nektar  bezeichnet 
werden?  Ist  jemand  ernstlich  auf  den  Gedanken 
gekommen,  alle  die  Tausende  von  Fliegen,  Schmetter- 
lingen und  Hymenopteren,  die  nach  dieser  süßen 
Kost  lüstern  sind,  zu  den  Schmarotzern  zu  rech- 
nen? Ich  glaube  nicht;  aber  warum  nicht?  Weil 
jene  zuckerhaltigen  Stoffe  ebenso  wie  unser  Schweiß, 
sobald  er  aus  den  Hautdrüsen  ausgetreten  ist,  nicht 
mehr  als  Teile  des  Organismus  gelten  können. 
Das  Sekret  der  Mammarorgane  in  derselben  Weise 
zu  beurteilen,  scheint  mir  durchaus  berechtigt 
zu  sein. 

Aber  noch  von  einem  anderen  Standpunkte 
aus  läßt  sich  zu  der  Frage,  ob  ein  saugendes 
Säugetierjunges  mit  Recht  als  Parasit  angesehen 
werden  kann,  Stellung  nehmen.  Die  verschiedenen 
Formen  von  tierischen  Vergesellschaftungen  pflegen 
wir  von  vornherein  in  zwei  Gruppen  zu  teilen, 
die  durchaus  plausibel  erscheinen :  nämlich  in 
solche  zwischen  Individuen  einer  Art  (wie  Ehe, 
Familie,  Herde,  Staat)  und  solche  zwischen  Indi- 
viduen verschiedener  Arten.  Die  Parasiten  rechnet 
man  skrupellos  zur  letzteren  Kategorie.  Daraus 
müßte  der  Schluß  gezogen  werden:  dann  kann 
zwischen  dem  Jungen  und  seiner  Mutter  nie  und 
nimmer  von  Parasitismus  die  Rede  sein,  denn  sie 
gehören  einer  und  derselben  Art  an.  Aber  auch 
mit  dieser  Folgerung  stoßen  wir  auf  Schwierig- 
keilen, da  man  tatsächlich  von  Fällen  spricht,  in 
denen  das  Männchen  als  Parasit  des  eigenen 
Weibchens  auftrete.  Eine  derartige  Auffassung 
hat  insofern  nicht  eben  etwas  Befremdendes,  weil 
man  zur  Genüge  Beispiele  anführen  kann  dafür, 
daß  sich  die  Individuen  einer  Art  untereinander 
auffressen,  und  wenn  diese  Ernährungsweise  nur 
gradweise  vom  Parasitismus  verschieden  ist,  warum 
sollte  man  nicht  auch  den  letzteren  zwischen  Art- 
angehörigen gelten  lassen?  Dann  würden  freilich 
unsere  beiden  Hauptkategorien  tierischer  Gesell- 
schaften ebensowenig  streng  geschieden  sein,  wie 
viele  andere  von  uns  mit  besonderen  Namen  be- 
legte Betätigungen  des  organischen  Lebens.  Aber 
es  ist  sehr  fraglich,  ob  man  überhaupt  berechtigt 
ist,  in  den  Fällen,  wo  Männchen  als  Bewohner 
ihrer  Weibchen  bekannt  geworden  sind,  von  Para- 
sitismus   der   ersteren    zu   sprechen,    wie  es  aller- 


dings und  zwar  wiederum  nur  aus  alter  Gewohnheit, 
gemeinhin  geschieht.  Es  handelt  sich  um  Zwerg- 
männchen, die  bei  Bonellia  als  planarienartige  Wesen 
im  Eileiter  des  Weibchens,  bei  verschiedenen  para- 
sitischen Krebsen  den  zugehörigen  Weibchen  äußer- 
lich angeheftet,  und  bei  Trichosomum  crassicauda, 
einem  Parasiten  in  der  Harnblase  der  Wanderratte, 
im  Fruchthalter  angetroffen  werden,  Beispiele  für 
die  Vereinigung  der  beiden  Geschlechter  einer 
Art,  die  sich  an  die  etwas  modifizierten  Verhält- 
nisse bei  den  in  Cysten  paarweise  eingeschlossenen 
Saugwürmern  und  bei  Schistosomum  haematobium 
anschließen  und  von  dem  Gesichtspunkte  der 
Sicherungsmittel  zur  Eibefruchtung  zu  beurteilen 
sind.  Daß  solche  Zwergmännchen  als  Epöken 
ihrer  Weibchen  gelten  müssen,  ist  zweifellos,  aber 
selbst  angenommen,  daß  sie  überhaupt  der  Nah- 
rungsaufnahme bedürfen  —  sie  entbehren  zumeist 
des  Darmkanals  — ,  so  würden  sie  doch  nicht  als 
Parasiten,  sondern  als  Mutualisten  aufgefaßt 
werden  müssen,  denn  durch  ihre  geschlechtliche 
Funktion  leisten  sie  durchaus  vollwertige  Gegen- 
dienste für  die  minimalen  Nahrungssäfte,  die  sie 
etwa  von  ihren  Weibchen  empfangen  sollten. 
Also  auch  nach  dieser  Richtung  hin  wäre  nach 
unserer  Auffassung  die  landläufige  Anwendung 
des  Begriffes  „Parasitimus"  einzudämmen.  Da- 
gegen verdienen  noch  einige  andere  unter  den 
.Begriff  des  „Brutparasitismus"  fallende  Verhältnisse 
nähere  Berücksichtigung,  weil  sie  diese  Bezeich- 
nung tatsächlich  zu  verdienen  scheinen.  Es  handelt 
sich  dabei  um  die  Brutpflege  von  Wespen,  die 
sich  von  derjenigen  der  nur  Pflanzenstoffe  ver- 
fütternden Bienen  durch  die  Darreichung  von 
animalischer  Kost  unterscheidet  und  damit  etwas 
andere  Gesichtspunkte  der  Beurteilung  veranlaßt. 
Die  „Grabwespen"  umfassen  mehrere  Familien, 
die  man  darum  auch  als  Mordwespen  zu  be- 
zeichnen pflegt,  weil  die  Weibchen,  obgleich  sie 
selbst  von  süßen  Pflanzenausscheidungen  sich  er- 
nähren, für  die  junge  Brut  die  verschiedenartigsten 
Insekten,  jede  Art  meist  andere  und  ganz  be- 
stimmte Formen  einträgt  und,  um  sie  bequem  in 
die  Nester  transportieren  zu  können,  mit  einem 
Stich  ihres  Giftstachels  „morden".  Solange  man, 
in  Anlehnung  hauptsächlich  an  die  Mitteilungen 
des  bekannten  französischen  Entomologen  J.  H. 
Fabre  der  Meinung  war,  daß  die  eingetragenen 
Insekten  durch  jenen  Stich  nicht  sowohl  getötet, 
als  vielmehr  infolge  des  dabei  getroffenen  Gan- 
glions des  Bauchmarks  nur  gelähmt  und  durch 
die  Giftwirkung  sogar  konserviert,  also  frisch  er- 
halten werden,  so  daß  sie  in  Wirklichkeit  als 
lebende  Individuen  anzusehen  seien,  konnte  man 
die  Frage  aufwerfen,  ob  die  junge,  an  diesen 
Futterlieren,  z.  B.  einer  Schmetterlingsraupe 
saugende  Wespenbrut  nicht  die  Lebens-  und  Er- 
nährungsweise von  Parasiten  führt.  Diesen  Stand- 
punkt vertritt  u.  a.  A.  Looss  in  seiner  „Schma- 
rotzertum in  der  Tierwelt"  betitelten  Schrift. 
„Wenn  man  bedenkt  —  heißt  es  da  — ,  daß  die 
Larve,    beispielsweise    eine    große  Raupe   für  eine 


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junge  Ammophila  (Sandwespe)  nicht  eigentlich 
tot,  sondern  gelähmt  ist,  solange  die  Wespenlarve 
an  ihr  zehrt  (und  das  dauert  4—6  Wochen),  daß 
sie  von  dieser  schließlich  allerdings  vollkommen 
aufgefressen  wird,  dann  wird  man  immerhin  zu- 
geben müssen,  daß  dieses  Verhalten  in  gewissen 
Punkten  sehr  nahe  an  jenes,  welches  wir  für  die 
echten  Parasiten  für  charakteristisch  halten,  heran- 
streift. Lassen  wir  nun  die  Raupe  anstatt  ge- 
lähmt, noch  beweglich  sein,  resp.  Lebensäuße- 
rungen geben,  dann  müßte  die  Ammophilalarve 
direkt  als  Parasit  bezeichnet  werden."  Nun  haben 
aber  die  Beobachtungen  der  beiden  P ecken - 
ham's  an  einer  Reihe  von  nordamerikanischen 
Mordwespen  zu  anderen  Ergebnissen  betreffs  der 
Stech-  und  Giftwirkung  der  letzteren  geführt  und 
gezeigt,  daß  durchaus  nicht  immer  ein  Ganglion 
getroffen  wird,  sondern  an  jeder  beliebigen  Körper- 
stelle die  Lähmung  der  Bewegungsfähigkeit  des 
erbeuteten  Insekts  erzielt  wird,  daß  dieses  auch 
keineswegs  immer  nur  gelähmt,  sondern  oft  ge- 
tötet, trotzdem  aber  von  der  Wespenlarve  als 
Nahrung  angenommen  wird.  Damit  würde  die 
Ernährungsweise  der  Wespenlarven  sie  unter  die 
Raubtiere,  bzw.  Saprophagen  verweisen.  Wenn 
wir  Looss  die  Verantwortung  für  die  Richtigkeit 
der  Angabe  überlassen,  daß  man  „an  frei  herum- 
laufenden Spinnen  äußerlich  ansitzend  schma- 
rotzende Larven  beobachtet  hat,  die  später  ihre. 
Wirte  vollkommen  auffressen  und  sich  nach  er- 
folgter Verwandlung  in  Wespen  als  Angehörige 
des  Genus  Pompilus  erwiesen",  so  würde  kein 
Bedenken  bestehen,  darin  ein  Beispiel  von  Para- 
sitismus zu  erkennen.  Und  unter  den  gleichen 
Gesichtspunkten  wären  die  Fälle  anzusehen,  wo 
gewisse  Arten  von  Wespen  nach  Art  der  Kuckucks- 
bienen in  Paraxenie  mit  verwandten  Wespen  leben 
und  der  Fall  eintreten  kann,  daß  die  dem  recht- 
mäßigen Ei  entschlüpfte  Larve  bereits  eine  ge- 
wisse Größe  erreicht  hat,  wenn  die  nachgeborene 
Larve  der  „Schmarotzerwespe"  auskriecht,  und 
nun  von  letzterer  nach  Parasitenart  ausgesaugt 
und  vernichtet  wird. 

Die  Richtigkeit  dieser  Befunde  vorausgesetzt, 
würden  hier  Fälle  von  Brutpflege  vorliegen,  die 
insofern  mit  einem  gewissen  Rechte  als  Brut- 
parasitismus bezeichnet  werden  können,  als  die 
junge  Brut  paraxener  Mordwespen  nicht  die  Eier 
der  zellenbauenden  Verwandten  auffrißt,  sondern 
sich  mit  den  vorgefundenen  Larven,  die  ihnen 
bereits  entschlüpft  sind,  in  derselben  Weise  er- 
nährt, wie  es  ganz  allgemein  seitens  der  Larven 
von  Schlupfwespen  und  den  Tachinen  unter  den 
Fliegen  ihren  Wirten  gegenüber  geschieht.  Es 
würde  die  Paraxenie  zum  Parasitismus  ausgeartet 
sein,  wie  sich  auch  der  Kommensalismus  zur 
gleichen  Steigerung  ausgestalten  kann. 

Nach  der  Auffassung  von  Escherich  (Artikel 
„Insekten"  im  Handwörterbuch  f.  Naturwiss.)  würde 
man  noch  eine  etwas  andere  Erscheinung  unter 
den  Begriff  „Brutparasitismus"  einzureihen  haben. 
Er  sagt:    „Eine  besondere  P'orm  des  Parasitismus 


ist  der  sog.  Brutparasitismus,  der  die  sozialen  In- 
sekten (Ameisen,  Termiten)  betrifft  und  darin  be- 
steht, daß  die  Eier  und  Larven  fremder  Insekten 
von  den  Arbeitern  der  Ameisen  oder  Termiten 
gepflegt  und  aufgezogen  werden,  gleich  wie  die 
eigene  Brut,  ja  mitunter  sogar  noch  sorgsamer 
als  diese,  so  daß  die  eigene  Brut  zu  Schaden 
kommt."  Dieser  höchste  Grad  von  Fremden- 
pflege, der  vom  Wirte  seinen  Gästen  freiwillig  ent- 
gegengebracht wird,  läßt  sich  wohl  am  wenigsten 
vom  Gesichtspunkte  des  Parasitismus  aus  beur- 
teilen. Will  man  diesen  Fall  von  Synökie  oder 
vielmehr  Parökie  im  Sinne  Kraepelin's  unter  einer 
der  Kategorien,  die  für  die  mannigfachen  Mitbe- 
wohner der  Ameisennester  aufgestellt  sind,  rubri- 
zieren, so  kann  nur  diejenige  der  Symphilie 
in  Frage  kommen.  Diese  Ansicht  vertritt  auch 
Doflein,  der  das  Kapitel  „Der  Ameisenstaat" 
mit  folgenden  Worten  schließt:  „Was  uns  aber 
am  meisten  an  Verhältnisse  in  menschlichen 
Staaten  erinnern  muß,  ist  die  Tatsache,  daß  die 
Symphilie  geradezu  eine  soziale  Krankheit  des 
Ameisenstaates  darstellt.  Viele  Symphilen,  so 
Paussus  und  Lomechusa,  fressen  Ameisenbrut, 
andere  saugen  sogar  ihren  Wirten  das  Blut  aus, 
manche  legen  ihre  Eier  in  die  Larven  der  Ameisen, 
und  Formen  wie  Atemeies  und  Lomechusa  lassen 
sich  und  ihre  Larven  von  den  Ameisen  füttern 
und  entziehen  dadurch  dem  Ameisenstaat  selber 
wichtige  Arbeit.  Ganz  mit  Recht  hat  Forel 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  Symphilie 
etwas  sehr  Ähnliches  ist  wie  der  Alkoholismus 
bei  den  Menschen.  Jene  Exsudate  (um  derent- 
willen diese  Vorliebe  für  gewisse  Gä'te  besteht) 
sind  keine  Nahrungsmittel,  sie  sind  ein  Genuß- 
mittel. Um  dieses  Genußmittels  willen  vernach- 
lässigen die  Ameisen  ihre  eigene  Brut.  Sie  pflegen 
Tiere,  welche  noch  dazu  ihre  Brut  ausrotten,  und 
so  kann  ein  Staat  durch  die  Leidenschaft  seiner 
Mitglieder  für  ein  Genußmittel  dem  Untergang 
zugetrieben  werden." 

Aus  diesen  Worten,  die  übrigens  den  Anti- 
alkoholiker nicht  verleugnen  —  den  Andersdenken- 
den imponieren  diese  vielfältig  interessanten 
Ameisen  ob  dieses  menschenähnlichen  Instinktes 
vielleicht  doppelt!  — ,  entnehmen  wir  die  volle 
Berechtigung,  in  diesem  Verhältnis  jener  Ameisen- 
gäste zu  ihren  Wirten  nicht  nur  keinen  Parasitis- 
mus, sondern  vielmehr  eine  Symbiose  im  ur- 
sprünglichen Sinne  de  Barys,  also  einen  Mu- 
tualismus  zu  erkennen;  denn  den  Ameisen 
kommt  ja  das  Entgelt,  das  sie  für  die  Befriedigung 
ihrer  Genußsucht  leisten,    teuer  genug  zu  stehen. 

Wenn  wir  das,  was  hier  über  Parasitismus  und 
verwandte  Lebensverhältnisse  zur  Sprache  gebracht 
worden  ist,  noch  einmal  von  einheitlichen  Gesichts- 
punkten aus  kurz  zusammenfassen  und  in  die 
Biologie  einordnen  wollen,  so  könnte  es  etwa  in 
folgender  Form  geschehen. 

Als  die  hauptsächlichsten  Triebfedern  der 
Lebensbetätigung  treten  uns  entgegen  „Hunger" 
und  „Liebe",  deren  enge  Beziehungen  in  dem  be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kannten  Worte  des  Terenz  ihren  Ausdrucl< 
finden:  „sine  Cerere  et  Baccho  friget  Venus".  ^) 
Auf  dieser  Grundlage  kommt  es  nach  beiden 
Richtungen  hin  unter  dem  instinktiven  oder  be- 
wußten Reize,  daß  unitis  viribus  die  Leistungs- 
fähigkeit   des     einzelnen    erhöht    wird,     zu    ver- 


')  Der  Gebrauch  dieser  Ausdrücke  veranlaflt  mich  zu 
folgenden  Randbemerkungen.  Die  neuere  Richtung  der  Tier- 
psychologie warnt  mit  Recht  vor  den  Gefahren,  die  einer 
richtigen  Einsicht  in  das  Geistesleben  der  unter  uns  stehenden 
Tierwelt  aus  deren  anthropomorphistischer  Beurteilung  er- 
wachsen, wie  sie  von  der  früheren  Schule  so  lange  Zeit  hindurch 
vertreten  war.  Ich  meine  indessen,  daß  ein  Unterschied  zu  machen 
ist,  ob  man  die  gleichen  Ausdrücke,  die  uns  bei  Besprechung 
der  menschlichen  Verhältnisse  geläufig  sind,  auf  ähnliche  Be- 
kundungen der  Tierwelt  überträgt,  um  das  Verständnis  für  die 
letzteren  zu  erhöhen,  oder  ob  man  damit  gleichzeitig  bezweckt, 
beide  aus  gleichen  Ursachen  zu  erklären  und  damit  die  Be- 
tätigungen der  tierischen  Instinkte  mit  menschlichen  Handlungen 
zu  identifizieren.  Nur  das  letztere  Verfahren  ist  verwerflich,  das 
erstere  kaum  zu  vermeiden,  da  man  oft  gar  kein  anderes  Wort 
dafür  anwenden  kann,  um  das,  was  man  meint,  zu  bezeichnen. 
Als  Beispiel  dafür  kann  der  Ausdruck  ,, Diebsameisen"  und 
,, Diebstermiten"  dienen,  der  mit  Recht  für  solche  Ameisen  und 
Termitenarten  gebraucht  wird,  die  sich  in  den  Kolonien 
anderer  -einnisten,  um  in  deren  Nalirungsspeicbern  Beute  zu 
machen.  Auch  H.  v.  Bu  tt  el- Re  e  pen  ,  der  die  anthropo- 
morphistische  Methode  entschieden  bekämpft,  gibt  bei  Wieder- 
gabe der  Drory 'sehen  Schilderung  der  sozialen  Instinkte  der 
Meliponen,  in  die  ,, freilich  eine  Fülle  der  höchsten  menschlichen 
Gefühle  hinein  verwebt  ist",  zu,  daß  sie  gerade  dadurch  uns  näher 
tritt.  Auf  der  anderen  Seite  scheint  mir  für  die  richtige  Beur- 
teilung der  menschlichen  Psyche  keine  geringere  Gefahr  darin 
zu  liegen,  d;iß  man  sie  unter  dem  Einflüsse  der  „Gottähnlichkeit" 
nicht  einmal  gradweise  mit  dem  tierischen  Geistesleben  ver- 
gleichen zu  dürfen  meint.  Wenn  man  z.  B.  bei  Tieren  von 
,, Liebe"  spricht  und  in  dieser  „Gefühlsäußerung"  dem  Wesen 
nach  dasselbe  erkennt,  was  man  bezüglich  des  Menschen  so 
nennt,  so  dürfte  die  Berechtigung  dazu  nicht  weniger  zuzu- 
geben sein,  als  wenn  man  einem  einzelligen  Organi>^raus  mit 
seiner  verliältnismäflig  einfachen  Protoplasmadifferenzierung 
ebenso  „Leben"  beimißt  wie  uns  selbst.  Und  wer  könnte 
sich  anheischig  machen  zu  sagen,  was  bei  der  ,, Krone  der 
Schöpfung"  „Liebe"  sei,  sofern  man  über  die  sehr  prosaische, 
aber  unbestreitbar  richtige  Auffassung  hinausgehen  will,  daß 
diese  „Seclenempfindung"  in  das  Gebiet  der  sexuellen 
Funktionen  gehört.  Im  übrigen  sind  die  individuellen  Ansichten 
darüber  genau  so  geteilt,  wie  über  den  Begriff  „Gott";  „Ge- 
fühl ist  alles;  Name  ist  Schall  und  R.iuch."  Und  „Mutter- 
liebe" äußert  sich  auch  beim  menschlichen  Weibe  in  recht 
verschiedener  Weise,  was  ebenso  für  alle  anderen  ,, Tugenden"  des 
Homo  sapiens  gilt,  dem  man  seine  Abstammung  von  niederen 
Tieren  auf  tausend  Schritte  ansehen  kann.  Kein  Wunder, 
wenn  es   ,, lachende  Philosophen"  gibt! 


schiedenen  Arten  von  Vergesellschaftungen,  die 
sich  sowohl  auf  Mitglieder  einer  Art  als  auch  auf 
solche  verschiedener  Arten  erstrecken  können. 
Danach  kann  man  Gemeinschaften  unterscheiden, 
deren  einigendes  Band  in  dem  ersten  Falle  Fragen 
der  Ernährung  (Tr  oph  ozönose  n),  im  anderen 
Falle  die  der  Fortpflanzung  („Genozönosen") 
bilden.  Im  Zusammenhange  der  Ernährung  haben 
wir  es  im  Tierreiche  einerseits  mit  Pflanzenfressern 
(Phytophagen),  andererseits  mit  Tierfressern  (Zoo- 
phagen)  zu  tun;  die  verschiedene  Art,  wie  die 
betreffende  Nahrung  gewonnen  wird,  läßt  Tier- 
und  Pflanzenräuberei  („Harpagie")  vom  Para- 
sitismus unterscheiden.  Zwischenstufen  zeigen 
sich  im  Kommensalismus  und  Mutualismus,  wobei 
einseitige  und  gegenseitige  Vorteile  eine  Rolle 
spielen,  während  mehr  oder  weniger  indifferente 
Vereinigungen  in  der  Ökie  (Epi-,  Syn-  und  Par- 
ökie)  zutage  treten. 

In  der  Kategorie  der  Genozö  nosen  kommt 
es  stufenweise  zur  Bildung  von  Ehe,  Familie,  Herde 
und  Staat,  wobei  neben  der  Zusammenfindung 
der  Geschlechter  die  Sorge  um  die  dadurch  er- 
zielte Nachkommenschaft  eine  hervorragende  Rolle 
spielt.  Die  dabei  zur  Beobachtung  gelangenden 
Betätigungen  werden  unter  dem  Begriffe  der 
Brutpflege  (Neomelie)  zusammengefaßt,  die  in 
gewissen  Fällen  zur  Paraxenie  ausarten  kann. 
Beide  Formenkreise  von  Vergesellschaftungen  ge- 
hören zusammen  unter  den  Begriff  der  Bio- 
zönosen, die  in  ihrer  Ausdehnung  örtlich  be- 
schränkt und  über  die  gesamte  Erdoberfläche  ver- 
breitet in  die  Erscheinung  treten  und  somit  eine 
gewaltige  Vereinigung,  eine  alles  umfassende  Ge- 
meinschaft der  gesamten  Lebewelt  zum  Ausdruck 
bringen  im  Einklang  mit  den  bekannten  Worten 
Goethe's: 

Müsset  im  Naturbetrachten 
Immer  eins  wie  alles  .achten ; 
Nichts  ist  drinnen,  nichts  ist  draußen ; 
Denn  was  innen,  das  ist  außen. 

Freuet  euch  des  wahren  Scheins, 
Euch  des  ernsten  Spieles: 
Kein  Lebend'ges  ist  ein  Eins, 
Immer  ist's  ein  Vieles. 


Einzelberichte. 


Physiologie.  Schon  wiederholt  (XIII.  Bd.  1914, 
S.  188  u.  ,S.  412,  XIV.  Bd.  191 5,  S,  335)  wurde 
darüber  berichtet,  welche  Folgen  die  Überpflanzung 
der  Keimdrüse  eines  jugendlichen  Wirbeltieers  auf" 
ein  anderes  Individuum  derselben  Art,  aber  des 
anderen  Geschlechts  auf  die  Ausbildung  der  sog. 
sekundären  Geschlechtsmerkmale  hat.  Es  ergab 
sich  daraus,  daß  die  Entwicklung  der  letzteren 
nicht  von  den  Keimzellen  bestimmt  wird,  sondern 
vom  „interstitiellen"  Gewebe  der  Keimdrüse,  den 


Leydig'schen  Zellen.  Die  sie  enthaltende  Puber- 
tätsdrüse bestimmt  es,  ob  das  betreffende  Tier 
männliche  oder  weibliche  Eigenschaften  zeigt. 
Die  früher  übliche  Bezeichnung  „sekundäre"  Ge- 
schlechtsmerkmale muß  fallen  gelassen  werden,  da 
man  jetzt  weiß,  daß  sie  durch  das  Gewebe  der 
Pubertätsdrüse  im  Organismus  zeitlich  ebenso  fest 
fixiert  sind,  wie  die  „primären."  Man  unterscheidet 
das  männliche  und  weibliche  Geschlecht,  je  nach- 
dem   ein    Hoden    vorhanden    ist,    welcher  Samen- 


374 


Naturwissenschaftliche  Wochenschriit. 


N.  F.  XVI.  Nr.  27 


Zellen  hervorbringt,  oder  ein  Eierstock,  welcher 
Eizellen  erzeugt.  Durch  Transplantationsversuche 
konnte  bei  zahlreichen  Wirbeltieren  (Ratten,  Meer- 
schweinchen, Hühnern  usw.)  nachgewiesen  werden, 
daß  die  „sekundären"  Geschlechtsmerkmale  des 
jeweiligen  Geschlechts  zur  vollen  Ausbildung  ge- 
langen, sobald  die  Pubertätsdrüse  zur  Anheilung 
gekommen  ist  und  ihr  entsprechendes  Hormon 
den  Körpersäften  zuführt,  während  die  Geschlechts- 
zellen selbst  verkümmern  und  nicht  zur  Ausreifung 
gelangen,  wie  es  stets  bei  der  Überpflanzung  von 
Keimdrüsen  der  Fall  ist.  Geschieht  die  Trans- 
plantation in  ein  früher  kastriertes  Tier  vom 
gleichen  Geschlecht,  ist  also  das  Hormon  dem 
ursprünglichen  gleich,  homolog,  so  wirkt  es 
im  gleichen  Sinne  wie  dieses,  also  verstärkend; 
andernfalls,  bei  der  heterologen  Transplantation, 
wirkt  es  entgegengesetzt,  abschwächend.  Ist  das 
Hormon  des  früheren  Geschlechts  durch  die 
Kastration  nicht  völlig  ausgeschaltet,  so  hängt  es 
davon  ab,  welche  der  beiden  Pubertätsdrüsen  im 
Konkurrenzkampf  die  Oberhand  behält  und  so 
das  Geschlecht  des  betreffenden  Organismus 
äußerlich  bestimmt.  Aber  nicht  allein  physisch, 
d.  h.  morphologisch  kommt  der  Geschlechts- 
charakter zum  Ausdruck,  sondern  auch  psychisch, 
indem  das  Benehmen  ein  dem  betreffenden  Ge- 
schlecht entsprechendes  ist.  Im  Archiv  für  Ent- 
wickelungsmechanik  der  Organismen  von  Prof 
Dr.  W.  Roux  (42.  Bd.  3.  Heft  1917)  teilt 
E.  Steinach  die  Ergebnisse  der  bei  Meer- 
schweinchen  vorgenommenen  Transplantation  der 
Keimdrüsen  mit.  Wenn  die  ursprüngliche  Keimdrüse 
zurückbleibt,  so  geht  nach  der  Transplantation  eine 
heterologe  Drüse  völlig  zugrunde;  denn  ihre  An- 
heilung setzt  vorherige  Kastration  voraus.  Das 
Transplantat  wirkt  dann  morphologisch  und  psycho- 
logisch auf  das  Individuum  durch  Maskulierung 
bzw.  F"eminierung  eines  weiblichen  bzw. 
männlichen  Tieres.  Bei  feminierten  Meer- 
schweinchen erhielten  sich  die  transplantierten 
Ovarien  bereits  über  3^2  Jahre.  Die  Schwierig- 
keit bei  Überpflanzung  einer  heterologen  Gonade 
kann  nicht  auf  einer  biochemischen  Differenz  des 
Blutes  beruhen,  sondern  auf  einer  antagonistischen 
Wirkung  der  Hormone  der  Pubertätsdrüsen.  Bei 
Ovarimplantation  hört  nach  einiger  Zeit  die  starke 
männliche  Wachstumstendenz  auf  und  die  weibliche 
Körperform  kommt  zur  Ausbildung.  Wenn  die 
Überpflanzung  vor  Eintritt  der  Pubertät  geschah, 
blieben  die  Versuchstiere  Kastraten.  Bei  infantilen 
Kastraten  kann  man  durch  Implantation  der 
Pubertätsdrüse  des  anderen  Geschlechts  allein  die 
sekundären  Sexualcharaktere  allein  zur  Entwicklung 
bringen.  Bei  heterologer  Transplantation  erfolgt 
eine  stärkere  Ausbildung  der  sekundären  Ge- 
schlechtsmerkmale als  bei  bloßer  Kastration. 
Künstliche  Zwitterbildung  erreicht  Steinach 
dadurch,  daß  die  Tiere  durch  vollständige  Kastration 
gewissermaßen  neutralisiert  wurden  bevor  eine 
gleichzeitige  Transplantation    der  homologen  und 


der  heterologen  Keimdrüse  vorgenommen  wurde. 
Die  Gonaden  heilten  an  und  bestanden  längere 
Zeit  nebeneinander. 

Bei  der  Feminierung  ging  die  Umstimmung 
über  den  jungfräulichen  Zustand  hinaus,  so  daß 
die  sekundären  Sexualcharaktere  bereits  im  Zu- 
stand der  Mutterschaft  auftraten.  Es  galt  dies 
vor  allem  bezüglich  der  Milchsekretion  und  bildet 
einen  Beweis  dafür,  daß  für  ihr  Auftreten  keiner- 
lei Umstimmung  der  Körpersäfte,  plazentaren 
oder  fötalen  Ursprungs  in  Frage  kommt,  sondern 
lediglich  das  von  den  Pubertät>diüsen  gebildete 
Hormon.  Normalerweise  tritt  die  Pubertätsdrüse 
erst  nach  der  Entstehung  eines  Corpus  luteurn 
nach  dieser  Richtung  hin  in  F"unktion.  Zwei- 
geschlechtige  Transplantation  gelang  nur  in 
höchstens  20°/q,  Feminierung  und  Maskulierung 
allein  dagegen  in  So^/o-  Besonders  interessant  war 
es,  wenn  männliche  und  weibliche  Gonaden  auf 
demselben  Muskel  nebeneinander  anheihen; 
Elemente  der  weiblichen  und  der  männlichen 
Pubertätsdrüse  fanden  sich  dann  durcheinander  auf 
einem    und    demselben    mikroskopischen    Schnitt. 

Bei  den  neuen  Implantationsversuchen  wurden 
die  homologen  Sexusmerkmale  gefördert,  die 
heterologen  aber  nicht  an  ihrer  Ausbildung  ver- 
hindert. 

Dieser  Abschwächung  des  Antagonismus  ist 
die  Entstehung  von  Zwittern  zuzuschreiben.  Bei 
der  Sektion  eines  solchen  war  das  interstitielle 
Gewebe  sowohl  im  Hoden  als  im  Ovarium  ge- 
wuchert. Männliche  und  weibliche  Pubertätsdrüsen 
waren  hypertrophisch.  Das  Zentralnervensystem 
reagierte  je  nachdem  auf  den  Zufluß  des  männ- 
lichen oder  weiblichen  Hormons  in  periodischen 
Schwankungen. 

Es  ergäben  sich  nach  St.  Schlüsse  daraus  für 
das  Sexualleben  von  großer  Bedeutung  in  medi- 
zinischer, soziologischer  und  juristischer  Beziehung. 
Homosexuelle  Neigungen  bei  Männern  und  Frauen 
treten  periodisch  auf  nach  Angaben  von  Albert 
Moll,  Krafft-Ebing  und  Tarnowsky;  auch 
Magnus  Hirschfeld  und  Iwan  Bloch 
machen  darauf  aufmerksam,  daß  somatische  Ver- 
änderungen mit  den  psychischen  zusammenfallen. 
Die  Pubertätsdrüse  ist  normalerweise  streng  spe- 
zifisch homolog.  Der  Hermaphroditismus  beruht 
darauf,  daß  Teile  der  heterologen  Pubertätsdrüse 
in  das  Gewebe  der  Keimdrüse  eingesprengt  sind 
und  gelegentlich  zur  Herrschaft  gelangen.  Bei 
Zwittern,  die  scheinbar  eingeschlechtig  sind,  gilt 
die  Eingeschlechtigkeit  nur  für  die  Gonade,  während 
die  Pubertätsdrüse  zwitterig  ist.  Eine  scharfe 
Scheidung  zwischen  Hermaphroditismus  verus 
und  Pseudohermaphroditismus  gibt  es  sonach  nicht. 
Aus  der  Einsprengung  von  Zellen  der  heterologen 
Pubertätsdrüse,  wie  solche  gelegentlich  beobachtet 
wurde,  erklärt  sich  nach  St  ei  nach  das  Auftreten 
von  Hermaphroditismus. 

In  einer  zweiten  Arbeit  behandelt  St.  die  Er- 
scheinungen, welche  eine  erhöhte  Wirksamkeit  der 
Pubertätsdrüse  nach  stattgehabter  Transplantation 


N.  F.  XVI.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


375 


anzeigen.    Sie  erklären  sich  daraus,  daß  homologe 
gefördert,   heterologe   dagegen   gehemmt   werden. 

Es  geht  dies  sehr  klar  aus  dem  Verhalten  her- 
vor, welches  zwei  Serien  des  Meerschweinchens 
von  je  4  Stück  desselben  Wurfs  zeigten. 

Am  auffallendsten  war  der  Gegensatz  zwischen 
beiden  Geschlechtern  in  Skelettentwicklung,  vor 
allem  im  Bau  des  Schädels,  in  der  mächtig  ent- 
wickelten Muskulatur  und  in  der  rauheren  Be- 
haarung bei  dem  maskulierten  Weibchen ,  aus- 
gesprochen. Daß  es  darin  den  normalen  Bruder 
übertraf,  war  nicht  auf  eine  zufällig  zartere  Kon- 
stitution des  letzteren  zurückzuführen  ;  kein  anderes 
männliches  Tier  nämlich  aus  den  übrigen  Zuchten 
kam  darin  dem  maskulierten  Weibchen  gleich. 
Wenn  die  Pubertätsdrüse  aber  nur  teilweise  an- 
heilte oder  von  Bindegewebe  reichlich  durch- 
wachsen wird,  ihre  Drüsenzellen  also  sich  weniger 
reich  entwickelten,  erreichen  die  Sexualcharaktere 
jene  Entwicklungshöhe  nicht,  sondern  sie  kommen 
höchstens  wie  beim  normalen  Bruder  zur  Aus- 
bildung. Dasselbe  gilt  mutatis  mutandis  für  die 
Feminierungsserie,  indem  sich  hier  das  feminierte 
Männchen  durch  seinen  grazileren  Körperbau 
auszeichnet.  Die  psychische  Umstimmung  fand 
ihren  Ausdruck  in  der  Erotisierung  des  masku- 
lierten Weibchens  und  in  dem  Bestreben  des 
feminierten  Männchens  Junge  zu  säugen.  In  beiden 
F'ällen  beruhte  die  Erhöhung  der  entsprechenden 
Triebe  auf  einer  Vergrößerung  der  mächtig  ge- 
wucherten Fubertätsdrüse  über  das  normale  Maß 
hinaus.  Sie  konnte  auch  deshalb  eine  erhöhte 
Wirksamkeit  entfalten,  weil  die  heterologe  anta- 
gonistische Pubertätsdrüse  in  Wegfall  gekommen 
war.  Ganz  entsprechende  Resultate  hatten  Ver- 
suche, bei  welchen  durch  Röntgenbestrahlung 
der  Geschlechtsdrüsen  die  generativen  Elemente 
vernichtet  worden  waren,  während  die  Fubertäts- 
drüse, wenigstens  im  Anfang  sich  vergrößerte 
und  eine  entsprechend  gesteigerte  Wirksamkeit 
zeigte.  Die  Hypermaskulierung  des  maskulierten 
Weibchens  erreichte  in  der  Ausbildung  des  Ske- 
letts und  der  Muskulatur  eine  Höhe,  welche  selbst 
weder  der  kastrierte  noch  der  normale  Bruder 
zeigten.  Das  feminierte  Männchen  blieb  in  der 
Körpergröße  hinter  der  kastrierten  jungfräulichen 
und  der  normalen  Schwester  zurück;  die  Hypcr- 
feminierung  fand  auch  darin  ihren  Ausdruck,  daß 
unter  Überspringen  des  jungfräulichen  Stadiums 
sofort  die  Mutterschaftscharaktere,  starke  Ent- 
wicklung der  Milchdrüsen  und  Wucherung  des 
Uterusepithels,  auftraten.  Es  wurde  dies  dadurch 
bewirkt,  daß  die  von  der  vergrößerten  weiblichen 
Pubertätsdrüse  gelieferten  Hormone  noch  vermehrt 
wurden  durch  jene,  welche  vom  Zerfall  der  Follikel 
des  Eierstocks  herrührten  und  welche  normalerweise 
der  Bildung  des  Corpus  luteum  nach  stattgehabter 
Ovulation  ihre  Entstehung  verdanken. 

Kathariner. 

Das  Mundhöhlendach  der  Amphibien  ist 
von  einem  Flimmerepithel  bedeckt.    Die  Richtung 


der  Flimmerbewegung  ist  kaudalwärts,  also 
nach  dem  Schlund  hin  gerichtet.  Es  war  nun 
interessant  zu  erfahren,  wie  sie  sich  verhalten 
würde  an  einem  Hautlappen,  welcher  losgetrennt 
und  nach  einer  Drehung  von  180"  wieder  zum 
Anheilen  gebracht  worden  war. 

In  Versuchen,  die  Th.  v.  Brücke  (Pflüger's 
Archiv  Bd.  166,  I.  u.  2.  Heft  19 16)  am  Wasser- 
frosch anstellte,  ging  meist  das  Flimmerepithel 
des  wieder  zur  Anheilung  gebrachten  Lappens 
zugrunde  und  wurde  von  solchem  ersetzt, 
welches  von  den  Wundrändern  her  vorwucherte. 
Eine  Umstimmung  der  Flimmerrichtung  hatte  also 
nicht  stattgefunden,  ebensowenig  trat  sie  in  den 
Ausnahmefällen  ein,  wo  das  reimplantierte  Flimmer- 
epithel erhalten   blieb. 

Es  flimmerte  also  jetzt  oralwärts  und  behielt 
diese  Richtung  während  der  ganzen  Beobachtungs- 
zeit (bis  zu  49  Tagen)  unverändert  bei. 

In  zwei  Fällen  schien  ein  Konkurrenzkampf 
aufgetreten  zu  sein,  in  welchem  das  ursprünglich 
kaudalwärts,  jetzt  aber  oralwärts  flimmernde 
Hautstück  die  Oberhand  gewann. 

Aus  den  Versuchen  von  Th.  v.  Brücke  scheint 
hervorzugehen,  daß  die  polarisierte  Richtung  des 
Flimmerstroms  auf  einer  morphologischen  Ver- 
schiedenheit der  F'limmern  beruht. 

Kathariner. 


„Hypnose"  bei  Fischen.  Die  Fische  sind 
besonders  leicht  in  hypnotischen  Zustand  zu  ver- 
setzen. Über  derartige  Versuche  von  A.  Kreidl, 
Professor  der  Physiologie  in  Wien,  wurde  schon 
früher  (Nr.  47,  1916  d.  Bl.  S.  675)  berichtet.  In 
einer  neuen  Mitteilung  bestätigt  Eduard  Babak 
(Pflüger's  Archiv  Bd.  i6o  3.  u.  4.  Heft  19 16)  die 
Beobachtungen  von  Kreidl  vollauf.  Von  den 
freilebenden  Süßwasserfischen  findet  auch  er  die 
Bachforelle  für  hypnotische  Versuche  besonders 
geeignet.  Von  ausländischen  Arten  nennt  B. 
besonders  die  südamerikanischen  Panzerwelse 
(Callychthys  callychthys)  und  Docardion. 

Auch  der  indische  Kletterfisch  (Anabas  scandens) 
gerät  außerordentlich  leicht,  häufig  ohne  sichtbaren 
Anlaß,  in  hypnotische  Starre.  Die  Flossen  des 
bewegungslosen  Tieres  sind  gespreizt  und  der 
Kiemendeckel  gehoben,  so  daß  man  die  Hilfsorgane 
fürdie  Luftatmung  sieht;  das  Rollender  großen  Augen 
und  nur  leichte  Bewegungen  des  Kiemendeckels 
zeigen  an,  daß  der  Fisch  noch  lebt.  Auf  Belichtung 
und  Beschattung  zeigt  er  keinerlei  Reaktion  und 
läßt  sich  nur  durch  derbe  Erschütterung  erwecken. 
Viele  Arten  der  jetzt  in  den  Aquarien  gehaltenen 
tropischen  Süßwasserfische  (Zahnkärpflinge, 
Eleotris- Arten  usw.)  verfallen  außerordentlich 
leicht  in  hypnotischem  Schlaf,  in  dem  sie  oft  lange 
Zeit  —  bis  über  eine  Viertelstunde  —  in  der 
unnatürlichsten  Stellung,  z.  B.  senkrecht  mit  dem 
Kopf  nach  oben  oder  nach  unten,  auf  der  Seite 
liegend  usw.,  ausharren.  So  kann  z.  B.  schon  das 
Wechseln    des  Aquariumwassers   den  Eintritt   des 


3/6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  27 


hypnoiden  Schlafs  veranlassen.  Bei  den  zum 
Farbenwechsel  befähigten  Fischen  geht  mit  dem 
Eintritt  der  Hypnose  eine  auffallende  Umfärbung 
Hand  in  Hand.  So  wird  der  schwarzgebänderte 
westafrikanische  Fisch  Polycentrus  schomburgkii 
fast  momentan  weißlich  gelb. 

Den  biologischen  Wert  der  leichten  Hypno- 
tisierbarkeit  und  ihre  Folgen  erblickt  B.  darin,  daß 
die  bewegungslosen  tot  erscheinenden  Fische  einem 
Feind  entgehen,  welcher  nur  lebende  Beute  erjagt. 
B.  weist  darauf  hin,  daß  es  irrig  wäre,  wollte  man 
annehmen,  die  Hypnotisierbarkeit  setze  lange 
Reflexbahnen  voraus;  das  Verhallen  der  Fische 
bewiese  ja  das  Gegenteil.  Zum  Schluß  zieht  B. 
eine  Parallele  zwischen  dem  normalen  Schlaf  der 
Fische  und  ihrer  Hypnose;  auch  in  ersterem 
nimmt  Polycentrus  schomburgkii  eine  ganz  auf- 
fallende abnorme  Körperhaltung  ein,  indem  er 
flach  mit  der  Körperseite  auf  dem  Grund  auf- 
Uegt.  Kathariner. 

Zoologie.  Beiträge  zur  Instinktpsychologie 
der  Ameisen.  Bethe  hatte  alle  Vorgänge  im 
Leben  der  staatenbildenden  Insekten  als  rein  re- 
flektorisch angesehen  und  brachte  dadurch  eine 
gewisse  schemaiisierende  Art  in  die  Deutung  der 
zahllosen  problematischen  Vorgänge,  die  sich  dort 
abspielen.  So  war  auch  nach  ihm  tler  dem  ein- 
zelnen Individuum  anhaftende  Geruch  ausschlag- 
gebend für  das  Benehmen  der  verwandten  oder 
fremden  Individuen.  Ebenso  wie  alle  anderen 
Erfahrungen  spricht  aber  auch  dieses  National- 
gefühl gegen  Bethe's  Erklärungsversuche.  Hier- 
über berichtet  G.  von  Natzmer  in  der  Zeit- 
schrift für  wissenschaftliche  Insekienbiologie  unter 
dem  oben  genannten  Titel  Folgendes: 

Das  Nationalgefühl,  d.  h.  das  Eintreten  einer 
freundschaftlichen  Reaktion  gegenüber  Nestge- 
nossen ,  einer  feindlichen  gegenüber  Individuen 
aus  anderen  Kolonien,    auch    wenn    dieselben  der 


gleichen  Art  angehören,  ist  bei  den  meisten 
sozialen  Insekten  ausgebildet.  Im  einzelnen  aber 
ist  es  verschieden  stark  ausgeprägt.  Besonders 
gut  entwickelt  fand  es  Natzmer  bei  Formica 
rufa  und  bei  den  Lasiusarten,  es  fehlt  dagegen 
nach  den  Mitteilungen  von  C.  Emery  Plagiolepis 
pygmaea,  Leptothorax  unifasciatus,  sowie  nach 
N  er  eil  der  argentinischen  Art  Iridomyrmex 
humilis.  Die  einzelnen  Arten  weisen  ganz  be- 
stimmte Abstufungen  auf,  aber  auch  innerhalb 
der  Art  vollziehen  sich  die  Reaktionen  nicht 
immer  in  gleicher  Weise.  Daraus  folgt,  daß  der 
Geruch  durchaus  nicht  immer  einen  äquivalenten 
Reflex  auslösen  muß.  Dies  geht  besonders  aus 
den  Versuchen  hervor,  wenn  verschiedene  Nester 
unter  wechselnden  Bedingungen  vereinigt  werden. 
Ja  es  scheint ,  als  ob  die  Gewöhnung  rein  indi- 
viduell vor  sich  gehen  würde.  Oft  wird  sie  auch 
durch  die  Kraft  eines  bestimmten  Reflexes  er- 
leichtert. So  fand  Natzmer,  daß  unbedeckte 
Brut  sogleich  abtransportiert  wurde. 

Besonders  bemerkenswert  sind  die  Befunde  bei 
Myrmica  ruginodis,  die  ein  stark  entwickeltes 
Nalionalgefühl  besitzt.  Es  wurde  versucht, 
weibchenlosen  Kolonien  mit  wenigen  Individuen 
fremde  Weibchen  der  gleichen  Art  zuzusetzen. 
In  allen  Fällen  findet  die  Aufnahme  nur  ganz 
langsam  und  allmählich  statt,  und  es  kommt  sehr 
darauf  an,  ob  im  Neste  Brut  vorhanden  ist  oder 
nicht.  Im  ersten  Fall  wurde  das  Weibchen  zu- 
erst stark  angegriften,  dann  geduldet,  aber  erst 
nach  einigen  Tagen  angenommen.  Im  letzten 
Fall  wurde  das  Weibchen  lange  Zeit  als  Feind 
behandelt.  Offenbar  löst  das  Vorhandensein  von 
Brut  in  den  Ameisen  ein  gewisses  Sicherheits- 
gefühl aus,  das  darin  begründet  ist,  daß  die 
Arbeiter  in  noi  maier  Weise  ihrer  Tätigkeit  der 
Brutpflege  obliegen.  Fehlt  die  Brut,  so  ist  das 
psychische  Gleichgewicht  gewissermaßen  gestört 
und  die  normale  Reaktionsfähigkeit  ins  Schwanken 
geraten.  Stellwaag. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zur  Verwertung  von  Kolbenschilf.  Wie  W.  Schütze  in 
der  Allgemeinen  Fischereizeitung  19 17,  Nr.  6,  mitteilt,  hat 
sich  in  Berlin-Charlottenburg  mit  Unterstützung  des  Keichs- 
amtes  des  Innern  eine  „Deutsche  Typhaverweitungs-Gesell- 
schaft  m.  b.  H."  gebildet,  der  an  der  Gewinnung  von  Kolben- 
schilf aus  dem  ganzen  Deutschen  Reiche  im  bevorstehenden 
Sommer,  Juli  bis  Oktober,  viel  gelegen  ist.  Die  Blätter  von 
Typha  latifolia  und  Typha  anguslifolia  liefern  Fasern,  aus 
denen  Filze  aller  Art ,  die  besten  Bindfäden  und  Schnüre, 
unzerreißbare  Gurte  und  Riemen,  Jute  für  Säcke,  haltbare 
Unterkleidung  aller  Art,  auch  Strümpfe,  schliefilich  Stoffe  für 
Mäntel  und  sonslige  Kleidung  hergestellt  werden  können. 
Sie  tun  also  teilweise  den  Dienst  von  Hanf  und  sind  zugleich 
nicht  im  üblen  Sinne  ein  Ersatz  für  Baumwolle.  Ihre  Ab- 
erntung dient    somit    dem  Lande    und   steigert  den   Ertrag  des 


deutschen  Fischers,  dem  sie  zusteht.  Durch  eine  Umfrage  hat 
das  Preußische  Landwirtschaftsministerium  die  vorhandenen 
Bestände  an  Kolbenschilf  feststellen  lassen,  und  viele  Behörden 
wollen  deren  Ausbeutung  unterstützen.  Versuche  der  genannten 
Gesellschalt  sind  im  Gange,  auch  die  Spinnfähigkeit  der  Fasern 
der  Teichbinse  genauer  zu  prüfen,  während  andere  Schilfarten, 
zum  Beispiel  Kalmus,  wertlos  sind.  Auch  in  Frankreich,  vor 
welchem  wir  durch  unsere  hochentwickelte  Textilindustrie 
einen  gewaltigen  Vorsprung  haben,  wurde  in  einem  Leitartikel 
des  „Matin"  vom  22.  Oktober  1916  unter  der  Überschrift 
„Um  unser  Gold  zu  sparen,  laßt  uns  die  Typha  kultivieren" 
auf  das  Beispiel  Deutschlands  hingewiesen.  Die  nicht  spinn- 
fähigen weichen  Fasern  der  Kolben,  der  sogenannten  Bums- 
keulen, fanden  übrigens  während  des  Krieges  Verwendung  zum 
Stopfen   von  Kopfkissen  für  Lazarette.      (GTc.)     V.   Franz. 


Inhalt!   0.  Taschenberg,   Etw 

as  über  den  Begriff  „Brutparasitismus".  (Schluß.)  S.  369.  —  Einzelberichte:  E.Stein  ach, 

Die   Ergebnisse   der    bei   Meei 

rschweinchen   vorgenommenen   Transplantation   der   Keimdrüsen.    S.   373.     T  h.   v.   Brücke, 

Richtung  der  Flimmerbewegui 

ag-  S.  375.     Eduard  Babak,  „Hypnose"  bei  Fischen.  S.  375.     G.  vonNatzmer,  Beitrage 

zur  Instinktpsychologie  der  Ai 

neisen.  S.  376.  —  Anregungen  und  Antworten:  Zur  Verwertung  von  Kolbenschilf.  S.  376. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbetc 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippen  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


>lge  i6.  Band; 
Reihe   32.  Ba 


Sonntag,  den  15.  Juli  1917. 


Nummer  38. 


Zur  Bewertung  der  geistigen  Leistungen  von  Hund  und  Pferd. 


Von  J.  J.  Taudin  Chabot. 


Die  menschlichen  Haustiere  Hund  und  Pferd 
werden  neuerdings  von  verschiedenen  Seiten,  in 
ausgewählten  Stücken,  auf  gewisse  Fähigkeiten 
geprüft,  die,  nach  den  Prüfungsberichten,  eine  An- 
wendung menschlich  gedachter  Verständigungs- 
mittel durch  die  Prüflinge  zulassen  und  damit 
deren  geistige  Fähigkeiten  beweisen,  ohne  daß 
aber  die  betreffenden  Mitteilungen  vorab  erläutern, 
was  denn  solche  P'ähigkeiten  besagen  und  wie  sie 
sich  betätigen.  Diesen  fehlenden  Teil  der  Berichte 
zu  bringen,  soll  hier  versuchsweise  unternommen 
werden  durch  eine  analytische  Betrachtung  des  Vor- 
gangs der  geistigen  Tätigkeit,  sowie  der  Verständi- 
gung zwischen  Menschen  und  Menschen  und  Tieren. 

Als  geistige  Tätigkeit  betrachten  wir,  alige- 
mein gefaßt,  die  Offenbarung  gewisser  Vorgänge 
am  Zentralnervensystem,  die,  selber  bislang  nicht 
zu  beobachten,  durch  Veränderung  am  Leibe  des 
Trägers  des  Nervensystems  in  die  Erscheinung 
treten.  Der  Leib  eines  Lebewesens  kann  sich 
verändern  hinsichtlich  der  äußeren  Anordnung  und 
hinsichtlich  der  inneren  Zusammensetzung  seiner 
Teile  (Konfigurations-  und  Konstitutionsänderung). 

Alle  Veränderungen  der  Konfiguration 
entspringen  aus  Kontraktionen  oder  Dilatationen, 
namentlich  als  Muskelleistungen,  und  zwar  unbe- 
wußt, unterbewußt  oder  bewußt,  wie  wir,  nach 
wachsendem  Umfang  der  Vergegenwärtigung  des 
Endziels  der  Leistung  durch  den  Lebensträger 
selbst,  abstufen  können.  Die  unbewußten  Muskel- 
leistungen, wie  die  zur  Betätigung  des  Herzens, 
der  Lungen,  und  die  reinen  oder  mechanischen  Re- 
flexe auf  entsprechende  Reizungen  hin,  vergegen- 
wärtigt sich  das  Lebewesen  überhaupt  nicht  oder 
nur  in  beschränktestem  Maße;  Allgemeingut  alles 
Lebenden,  bekunden  diese  Leistungen  keine 
geistigen  Fähigkeiten.  Als  unterbewußte 
Muskelleistungen  erscheinen  die  halben  oder  in- 
stinktiven Reflexe,  die  zwar  im  Augenblick  ohne 
vorsätzliches  Wollen  ablaufen,  die  aber  doch  erst 
ermöglicht  werden  durch  Erfahrungen,  welche 
vom  Lebensträger  selbst  oder  von  seinen  erb- 
lassenden Vorfahren  unterbewußt  oder  bewußt 
vorab  gesammelt  sein  müssen,  die  also  erst  statt- 
finden können  nach  der  erfolgten  Festlegung 
(Fixierung)  dieser  Erfahrungen  oder  auf  Grund 
von  vorbereitender  geistiger  Tätigkeit.  Denn 
Muskelleistungen,  die,  an  sich  oder  im  Endziel, 
bewußt  eine  vollwertige  geistige  Tätigkeit  zum 
Ausdruck  bringen,  vermögen  solches  nur  nach 
Maßgabe  der  Fixationen  (Erfahrungen,  Wissen) 
an  gewissen  Stellen  des  Zentralnervensystems, 
wie  solche  durch  dort  erzielte  Einzelheiten  des 
inneren  Baues  oder  der  Konstitution  dieser 
Leibesteile  des  Lebensträgers  gegeben  sind. 


So  beruht  die  geistige  Fähigkeit  auf  Kon- 
stitutionseinzelheiten und  offenbart  sich  die  geistige 
Tätigkeit  durch  Konfigurationsreihen.  Die  Kon- 
stitutionseinzelheiten oder  die  stoffliche  Gestaltung 
der  Fixationen,  wodurch  die  geistigen  Fähigkeiten 
getragen  werden,  vermochten  wir  noch  nicht  zu 
ergründen;  sie  sind  uns  daher  unbekannt  und 
scheiden  aus  den  weiteren  Betrachtungen  aus. 
Es  bleiben  die  Konfigurationsreihen,  die  wir  als 
Äußerungen  geistiger  Tätigkeit  verfolgen  können. 

Konfigurationsreihen  oder  Folgen  von  Ände- 
rungen der  Zusammenlegung  von  Körperteilen 
durchläuft  das  Lebewesen  ohne  jemals  vollständige 
Unterbrechung  während  seines  ganzen  Daseins; 
auch  im  Schlafe  ist  es  nicht  bewegungslos.  Von 
allen  Bewegungen  beschäftigen  uns  hier  aber 
nur  die  Äußerungen  geistiger  Tätigkeit,  die  auch 
Handlungen  genannt  werden  können  und  beim 
Menschen  des  Näheren  sich  unterscheiden  lassen 
als  Äußerungen  von  Empfindungen  und 
Äußerungen  von  Überlegungen,  je  nach- 
dem sie  aus  unterbewußter  oder  aus  bewußter 
geistiger  Tätigkeit  entspringen.  Sind  Empfin- 
dungen gegeben  mit  den  ererbten,  älteren  oder 
sonst  schwerer  beweglichen  Fixationen,  so  ge- 
gestatten erworbene,  jüngere  oder  sonst  leichter 
bewegliche  Fixationen  uns  die  Überlegung. 

Beispiel:  eine  Person  empfindet  Abneigung 
oder  Zuneigung  für  eine  andere  und  überlegt 
daraufhin,  wie  sie  dieselbe  vermeiden  oder  auf- 
suchen kann:  das  Empfinden  deutet  hier  auf 
tiefer  verankerte,  weniger  bewegliche  Fixationen, 
als  Quelle  von  Ab-  oder  Zuneigung,  wogegen  das 
Überlegen  ein  Arbeiten  darstellt  mit  den  erkannten 
Möglichkeiten  sich  zu  vermeiden  oder  zu  treffen, 
als  oberflächlichere,   mehr  bewegliche  Fixationen. 

Stellen  wir  demgemäß  eine  Lehre  derEmp- 
findungen  oderÄsthologie  ')  und  eine  Lehre 
der  Überlegungen  oder  Noologie -)  neben- 
einander, so  bilden  diese  zwei  Disziplinen  zu- 
sammen die  Psychologie  oder  Lehre  der 
geistigen  Tätigkeit  im  allgemeinen. 

Der  Gegenstand  einer  Handlung,  ob  sie  nun 
aus  Empfindung  oder  aus  Überlegung  geschieht, 
ist  leblos  oder  lebendig,  letztes  in  Sonderheit, 
wo  die  Handlung  in  einer  Verständigung 
besteht;  denn  Verständigungen  sind  möglich  nur 
zwischen  Verstandbegabten,  also  Lebensträgern. 

Jede  Verständigung  setzt  zu  ihrer  Ermög- 
lichung voraus  kleinere  oder  größere  gemeinsame 
Begriffsteile  zwischen  Verständiger  und  Verstän- 
digtem.     Diese     festgelegten    Teile    (Fixationen) 

')  Ästhologie,  in  .Anlehnung  an  a'iodouiu,  oder  alaßdm/ini, 
empfinden. 

*)  Noologie,   von  löo:;  oder  rov^,   zu   mioi,  überlegen. 


378 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


können  von  Natur  gegeben  sein  mit  jenen,  allen 
oder  zahlreichen  Lebewesen  gemeinsamen  Eigen- 
heiten, deren  um  so  mehrere  zu  beobachten  sind, 
je  näher  sich  die  Arten  oder  Einzelwesen  stehen, 
oder  sie  können,  nicht  von  Natur  gegeben,  auf 
vorheriger  Abmachung  beruhen.  Während  derart 
die  Verständigung  zwischen  Menschen  und  nicht 
menschlichen  Lebewesen  sich  vollzieht  auf  Grund- 
lage von  natürlich  gegebenen  gemeinsamen  Be- 
griffsteilen (Durst,  Hunger,  Furcht,  Freude  usw.), 
beruht  heute  die  Verständigung  zwischen  Menschen 
und  Menschen,  abgesehen  von  vereinzelten  Natur- 
lauten  und  Gebärden,  ganz  vorwiegend  auf  Ab- 
machung, und  zwar  ausdrücklich  deswegen,  weil 
die  Entwicklung  der  entsprechenden  Teile  des 
Zentralnervensystems  beim  Menschen  die  Fest- 
haltung von  Begriffen  und  die  Bildung  von  Vor- 
stellungen in  einer  Feinheit  bedingt  hat,  die  eine 
Verständigung  hierüber  durch  den  genannten  Aus- 
druck bloß  natürlicher  Empfindungen  nicht  gestattet. 

Die  Abmachung  besteht  in  der  Vereinbarung 
von  Zeichen  oder  Symbolen,  deren  Aufstellung 
bei  ihrem  Wahrnehmer  bestimmte  der  an  seiner 
Gehirnrinde  lagernden  Fixationen  dazu  veranlaßt, 
von  den  wahrgenommenen  bekannten  Zeichen 
oder  Symbolen  aus  die  enisprechenden  Vor- 
stellungen herbeizuführen.  Ohne  deren  vorherige 
Einprägung  oder  Fixierung  würden  die  Zeichen  oder 
Symbole  dem  Wahrnehmer  nichts  sagen.  Die 
Fixierung  aber  gewinnnt  derselbe,  sei  es  durch 
die  Erfahrung,  sei  es  durch  sog.  Erlernen,  das 
ein  überliefertes  Erfahren  in  gedrängter  Form  be- 
deutet, zumeist  aber  durch  beides.  Folgendes  möge 
dieses  erläutern: 

Am  Schreibtisch  wünsche  ich  ein  entfernt 
liegendes  Buch.  Ich  kann  nun  das  Buch  selbst 
holen,  oder  jemanden,  der  mir  gerade  zusieht, 
darauf  hindeuten,  daß  er  mir  das  Buch  bringe. 
Im  ersten  Falle  handle  ich  und  ist  der  Gegen- 
stand meiner  Handlung,  das  Buch,  leblos.  Im 
zweiten  Falle  handle  ich  auch,  aber  der  Gegen- 
stand meiner  Handlung,  die  mir  zusehende  Person, 
ist  lebendig  und  meine  Handlung  ist  eine  Ver- 
ständigung, die  mir  das  Gewünschte,  das  Buch, 
erst  durch  eine  zweite  Handlung,  das  Bringen 
durch  die  mir  zusehende  Person,  verschafft.  Die 
Verständigung  aber  ist  möglich,  weil  die  das 
Buch  bringende  Person  Fixationen  an  der  Gehirn- 
rinde trägt,  die  ihr  auf  das  Wahrnehmen  meiner 
Deutungsgebärde  hin  annähernd  sagen,  daß  ich 
im  Augenblick  wohl  das  Buch,  nicht  jedoch  ein 
etwa  ebenfalls  dort  befindliches  Mikroskop,  Prä- 
parat oder  sonstiges  verlangen  werde.  Diese 
Fixationen,  die  nun  hier  in  Wirkung  treten,  er- 
warb die  betreffende  Person  aus  allgemeiner  Er- 
fahrung, daß  ich  am  Schreibtisch  eher  ein  Buch, 
als  ein  Mikroskop  oder  dergleichen  brauchen 
könnte,  welche  Erfahrung  —  und  auch  solches 
ist  genau  zu  beachten  —  von  derselben  Person 
sowohl  unterbewußt  gesammelt  (perzipiert)  wie 
unterbewußt  angewendet  (produziert)  sein  kann. 
Die  Möglichkeit  dazu,  schließlich,  entspringt  aus  den 
im  vorher  gegebenen    gemeinsamen  Begriffsteilen 


über  den  Gebrauch  von  Büchern,  Mikroskopen  usw. 
auf  meiner  und  des  anderen  Seite. 

-  Die  Erörterung  dieses  einen  Beispiels  zeigt  wie 
verwickelt  bereits  in  den  einfachsten  Fällen  der 
Vorgang  einer  Verständigung  ist.  Weit  belang- 
reicher, als  das  einfache  Hindeuten  mit  irgend 
einem  Körperteil,  und  zugleich  weit  verwickelter 
noch,  gestaltet  sich  die  Verständigung  durch  pneu- 
matisch hervorgebrachte  (produzierte)  und  aku- 
stisch aufgenommene  (perzipierte)  Symbole,  zu  der 
uns  zwei  besondere  Organe,  Kehlkopf  und  Ohr, 
befähigen.  Wohl  die  Mehrzahl  aller  Träger  dieser 
Organe  benutzen  sie  zur  gegenseitigen  Verständigung 
eben  durch  Symbole,  d.  h.  indem  sie  die  Erinnerung 
an  gewisse  Töne  und  Laute  festhalten  (fixieren)  in 
Zuordnung  zu  jeweils  bestimmten  (konkreten  oder 
abstrakten)  Gegenständen  und  Zustandsänderungen 
ihrer  Umwelt,  so  daß  ein  Vernehmen  (perzi- 
pieren)  jener  Töne  oder  Laute  die  gleichen  Vor- 
stellungen, als  Grundlagen  von  Handlungen  oder 
weiteren  Überlegungen,  veranlaßt  (produziert),  wie 
es  die  unmittelbare  Wahrnehmung  der  Gegenstände 
oder  Zustandsänderungen,  denen  die  Symbole  zu- 
geordnet sind,  täte:  Gemsen  sehen  eine  Gefahr 
nahen ;  sie  springen  davon.  Sie  sehen  die  Gefahr  nicht, 
aber  hören  (perzipieren)  einen  ihnen  als  verdächtig 
bekannten  (fixierten)  Laut,  etwa  den  Ruf  eines 
Genossen;  und  sie  springen  ebenso  fort,  wie  wenn 
sie  die  vermutete  Gefahr  selbst  erblickt  hätten. 
Weitgehend  differenziert  hat  sich  nun  diese 
pneumatisch-akustische  Verständigung  beim  Men- 
schen, in  immer  feinerer  Abstufung  und  Unter- 
scheidung der  Symbole,  d.  h.  der  Töne  und  Laute, 
bis  zur  Entstehung  von  dem,  was  wir  Sprache 
nennen  und,  vielgestaltig,  sich  auch  heute  noch 
unaufhörlich  weiter  entwickeln  sehen.  Hier  müssen 
wiederum  die  Symbole  —  jetzt  nicht  sichtbare 
Gebärden,  sondern  hörbare  Worte,  oder,  in  bezug 
auf  die  Gegenstände,  Namen  —  von  beiden  sich 
Verständigenden  vorab  fixiert  sein,  d.  h.  es  müssen 
die  Erinnerungsbilder  (Fixationen)  ihrer  Zuord- 
nung zu  Sachen  und  Vorgängen  festgelegt  sein. 
Abgesehen  von  einigen  Naturlautnachahmungen 
halten  diese  Symbole  keinerlei  inneren  Verband 
mit  dem,  was  sie  bezeichnen  sollen:  Daß  wir  das 
Fohlen,  das  Kalb  gerade  so  nennen,  beruht  auf 
bloßer  willkürlicher  Abmachung  und  könnte  gerade 
so  gut  anders  sein,  wenn  es  nur  —  und  hierauf 
allein  käme  es  an  —  allen  denen  gegenwärtig 
wäre,  denen  bisher  auf  das  Vernehmen  (Perzi- 
pieren) der  Laute  „foh-len"  die  Vorstellung  des 
jungen  Pferdes  und  auf  das  Vernehmen  des  Lautes 
„kalb"  die  Vorstellung  der  jungen  Kuh  entsteht. 

Seit  vielen  hunderten  von  Generationen  seines 
Geschlechts  hatte  der  Mensch  die  Verständigung 
durch  pneumatisch  akustische  Symbole  gepflegt 
und  entwickelt,  als  ihm  die  Erkenntnis  kam,  daß 
nicht  nur  hörbare,  sondern  auch  sichtbare  Sym- 
bole der  Verständigung  würden  dienen  können: 
er  schritt  zur  bildlichen  Darstellung  und  gewann 
damit  den  sehr  großen  Vorteil,  nicht  mehr  aus- 
schließlich angewiesen  zu  sein  auf  den  flüchtigen 
Schall,   der    nur   immer   die  gleichzeitige  Be- 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


379 


tätigung  beider  sich  Verständigenden  zuließ, 
sondern  seine  Vorstellungen  anderen  zugänglich 
machen  zu  können,  ohne  daß  diese  nötig  hätten, 
die  Mitteilung  unmittelbar,  nachdem  sie  gegeben 
(produziert)  wurde,  auch  aufzunehmen  (zu  perzi- 
pieren).  Aus  diesen  Bildern,  die  zumeist  dem 
ursprünglich  Dargestellten  mehr  und  mehr  un- 
ähnlich wurden,  ging  schließlich  hervor,  was  wir 
Schrift  nennen,  in  Sonderheit  der  Gebrauch 
einer  beschränkten  Anzahl  von  Zeichen,  die  nun 
ihrerseits  —  einzeln  oder  in  beliebigen  Verbin- 
dungen —  in  Zuordnung  (Koordination)  zu  den 
Lauten,  die  sie  bedeuten,  an  bestimmten  Gehirn- 
stellen festzulegen  (zu  fixieren)  waren.  Diese  letzte 
Fixierung  rein  menschlicher  Erfindung  ist  das, 
was  wir  „lesen  lernen"  nennen,  während  die 
erste,  die  Koordination  von  Lauten  zu  den  In- 
haltselementen des  Milieus  und  ihren  Verände- 
rungen, die  im  allgemeinen  allen  Trägern  pneu- 
matischer Produktions-  und  akustischer  Perzeptions- 
organe  für  diese  Laute  zukommt,  in  Sonderheit 
beim  Menschen  „sprechen  lernen"  und  „ver- 
stehen lernen"  heißt. 

So  gelangte  der  Mensch,  und  nur  er  allein 
von  allen  Lebewesen,  die  wir  kennen,  erstmals 
zu  einer  Symbolik  zweiter  Ordnung  als  Ver- 
ständigungsmittel: irgend  welche  übereingekom- 
mene graphischen  Zeichen  erinnern  ihn  bei 
optischer  VVahrnehmung  an  die  in  seiner  Fixations- 
sphäre  diesen  Zeichen  zugeordneten  Laute,  worauf 
ihrerseits  die  Laute  Vorstellungen  der  ihnen  koor- 
dinierten konkreten  oder  abstrakten  Sachen  oder 
Vorgänge  erwecken.  Als  sich  dann  herausstellte, 
daß  diese  letzten  Vorstellungen  nach  hinreichender 
Übung,  d.  h.  Zurichtung  der  Fixationssphäre,  auch 
schon  in  erster  Ordnung,  unmittelbar  durch  den 
Anblick  der  koordinierten  Zeichen,  ohne  das 
Zwischenglied  der  Lautkoordination,  entstehen 
konnten,  sah  sich  also  die  Menschheit  im  Besitz 
der  zwei  voneinander  unabhängigen  Verständi- 
gungsmittel zu  Diensten  ihrer  Mitglieder  unter- 
einander, die  in  der  Folge  vor  allem  ihre  einzig- 
artige sog.  geistige  Entwicklung  ermöglichen  sollten : 

Der  Mensch  verfügte  nun  über  das  pneu- 
matisch-akustische System  der  Verstän- 
digung, im  Grunde  wie  zahllose  andere  Lebe- 
wesen, nur  weit  differenzierter,  als  irgend  eins 
von  diesen,  und  außerdem  über  ein  neues,  aus- 
schließlich ihm  bekanntes  graphisch  optisches 
System,  dessen  Erfindung,  erst  vor  einigen  hundert 
Generationen  des  Menschengeschlechts,  die  sog. 
geschichtliche  Zeit  einleitet,  d.h.  in  graphi- 
schen Zeichen  optisch  wahrnehmbare  Reihen  von 
Berichten  über  menschliche  Taten  an 
die  Stelle  von  bloßen  Schlußfolgerungen  auf 
mensch  liehe  Tätigkeiten  aus  Veränderungen 
bis  Bearbeitungen  setzt,  die  an  gefundenen  Gegen- 
ständen aus  vorgeschichtlicher  Zeit  nach- 
weisbar sind. 

Die  charakteristisch  verschiedenen  Hauptmerk- 
male beider  Systeme  bestehen  ersichtlicherweise 
darin,  daß  zur  pneumatisch  -  akustischen  Ver- 
ständigung  die    sich  Verständigenden    selbst    ab- 


wechselnd die  zu  übertragende  Energie  liefern 
müssen  (Schwingen  des  übertragenden  Mittels), 
während  die  Verständigung  auf  graphisch-optischem 
Wege  nur  ein  Filtrieren  (mittels  der  Zeichen  an 
der  Lesefläche)  eines  gegebenen  Ernergieflusses 
(im  Felde  der  elektromagnetischen  Strahlung)  be- 
deutet. Im  ersten  Falle  kommt  folglich  zur  Ver- 
ständigung in  Frage  bloß  die  Anwesenheit  eines 
übertragenden  Mittels  (Luft,  Wasser  usw.),  im 
zweiten  außerdem  dessen  Energieinhalt  (Ver- 
ständigung „im  Dunkeln"  unmöglich). 

Dementsprechend  ist  die  Produktion  zur  Ver- 
ständigung nach  dem  graphisch-optischen  System 
oder  das  Schreiben  etwas  wesentlich  anderes 
als  die  Produktion  zur  Verständigung  nach  dem 
pneumatisch-akustischen  System  oder  das  Spre- 
chen. Denn  während  das  Sprechen  ein  Hervor- 
bringen von  Schwingungen  oder  Beeinflussen 
eines  Bewegungszustandes,  nämlich  des  den 
Schall  übertragenden  Mittels,  darstellt,  bedeutet  das 
Schreiben  die  Bearbeitung  eines  Stoffes, 
d.  h.  seine  dauernde  Gestaltung  derart,  daß  er  da- 
durch zum  Lichtfilter,  oder  dann  Schriftträger,  der 
gewünschten  Anordnung  werde.  Dagegen  erscheint 
die  Perzeption  beider  Verständigungssysteme,  das 
Hören  beim  pneumatisch  akustischen  und  das 
Lesen  beim  graphisch-optischen  System,  wesens- 
gleich: ein  Aufnehmen  wechselnder  Schwin- 
gungen des  jeweils  übertragenden  Mittels. 

Der  mühseligste  Teil  beider  Wege  der  mensch- 
lichen Verständigung,  das  Herstellen  der  Schrift, 
bildet  daher  den  wiederholt  aufgenommenen  Gegen- 
stand des  Versuchs,  diese  außerhalb  des  Menschen- 
hirns verlaufende  Handlung  möglichst  gleichtätig 
zu  gestalten  dem  durch  die  Sinne  unmittelbar 
daraus  entspringenden  Sprechen  oder  unmittelbar 
darin  einlaufenden  Hören  (Verstehen)  und  Sehen 
(Lesen).  So  versuchte  man  durch  Zusammen- 
ziehen mehrerer  Zeichen  in  ein  einziges  die  Gesamt- 
schrift enger  zu  fassen  (Stenographie)  und  ihre 
Ausführung  zu  beschleunigen  (Tachygraphie),  bis 
auf  beliebige  Sprechgeschwindigkeit.  Doch  unter- 
ließ man  es  bisher,  von  den  willkürlich  gewählten 
(vgl.  oben)  Zeichen  abgehend,  eine  graphische 
Darstellung  der  Sprachschwingungen  als  einzig 
natürliche  Schrift  lesen  zu  lernen  und  damit  jene 
Vorrichtungen  ihrem  vollen  inneren  Wert  ent- 
sprechend auszunutzen,  die  Gesprochenes  registrieren 
(pneumatisch- graphisch:  Phonograph)  und  Re- 
gistriertes wieder  zu  Gehör  bringen  (graphisch- 
akustisch :  Grammophon),  die  zwar  schon  ge- 
schaffen wurden,  jedoch  ohne  daß  man  sich  bisher 
bemüht  hätte,  die  zwischenJiegende  Fixation  der 
Maschine  (das  Engramm)  graphisch-optisch  zu  er- 
fassen oder  sofort  zu  lesen,  wozu  die  ungewohnte 
Ausdehnung  dieser  Art  Niederschriften  ein  Hindernis 
bildete.  Gelingt  es  nach  deren  V^erringerung  dem 
angezeigten  Weg  zu  folgen,  so  ist  damit  das  jüngere 
graphisch-optische  System  auf  die  gleiche  Ent- 
wicklungstufe wie  das  ältere  pneumatisch-akustische 
gebracht.  (Daß  dieses  letzte  in  der  Tat  das  ältere 
oder  ,. tiefer  eingeschliffene"  der  beiden  Verständi- 
gungsmittel ist,  beweist,  nebenbei,  seine  Wirksamkeit 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


auch  im  halbbevvußten  Zustande,  d.  h.  im  natür- 
lichen oder  künstlichen  Halbschlaf  oder  Dämmer- 
zustande, wo  durch  das  Ohr  empfangene  Eindrücke 
richtig  verstanden  werden  können,  während  Ein- 
drücke durch  das  Auge  gleichzeitig  nicht  durch- 
dringen.) 

Diese  ursprünglich  bloßen  Verständigungsmittel 
sollten  nun  wieder  selbst  zu  Kulturmitteln  werden, 
und  in  der  Beziehung  war  es  gerade  das  graphisch- 
optische System,  das  etwas  sehr  Bedeutsames 
brachte:  Es  stellte,  zweifellos  von  seiner  ersten 
Entwicklung  an,  eine  Mehrzahl  gleicher  Gegen- 
stände bildlich  vereinfacht  durch  kurze  Striche 
und  Strichverbindungen  oder  Linien  dar.  Hieraus 
ergab  sich  neben  der  Wortbezeichnung  einer  Mehr- 
zahl noch  eine  graphisch-optische  Sondersymbolik 
dafür  durch  eigene  Zahlzeichen  oder  Ziffern  und, 
des  weiteren  die  Erkenntnis  reiner  Quantitäten 
ohne  jede  Qualität,  sowie  von  deren  Verbindungs- 
möglichkeiten, die  in  einer  solchen  Mannigfaltig- 
keit erschienen,  daß  sie  zu  ihrer  förmlichen  Er- 
forschung einladen  mußte.  Derart  entstand  eine 
eigene  Lehre  von  den  Zahlen  (Arithmetik),  die 
zusammen  mit  einer  solchen  von  der  Land-  oder 
Flächenvermessung  (Geometrie)  —  diese  unter 
Verwendung  von  durch  den  Gegenstand  selbst 
gegebenen  bildlichen  Darstellungen  —  die  spätere 
Wissenschaft  der  Mathematik  inaugurierte. 

Diese  Wissenschaft  zu  entwickeln  auf  bloß 
pneumatisch  -  akustischem  Wege  —  wie  durch 
frühere  Jahrtausende  hindurch  die  Ausschmückung 
unserer  ältest  überlieferten  Gesänge  und  Erzäh- 
lungen sich  vollzogen  hatte  —  wäre  wohl  un- 
möglich gewesen.  Hier  also  handelt  es  sich  um  Er- 
kenntnis, die  überhaupt  erst  zu  gewinnen  war,  nach 
Einführung  des  graphisch-optischen  Verfahrens, 
also  in  „geschichtlicher  Zeil",  wo  nun  die  Ent- 
wicklung der  Kultur  mit  wachsender  Ge- 
schwindigkeit abzulaufen  beginnt.  Denn  das  ist 
der  tiefste  Sinn  der  Einführung  (und  steten  Ver- 
vollkommnung) dieses  Verfahrens,  daß  so  der 
„Fortschritt"  unabhängig  gemacht  wird  von  dem 
vorher  ausschließlich  maßgebenden  Faktor  des  Ge- 
dächtnisses, dessen  Können,  wie  das  aller  anderen 
rein  physiologischen  Leistungen,  an  dem  heute 
Erreichten  gemessen,  recht  eng  begrenzt  erscheint. 

Gemeinsames  Merkmal  aller  bisher  betrachteten 
graphisch  optischen  Symbole  ist  ihre  Wirkung 
durch  Einschneiden  in  das  Strahlungsfeld  ohne 
Rücksicht  auf  dessen  Zusammensetzung,  d.  h.  wirk- 
sam sind  bloße  Verschiedenheiten  der  Form,  in 
vielfach  sehr  feinen  Abstufungen.  Außerdem  be- 
steht nun  aber  die  Möglichkeit  einer  Zerlegung 
der  .Strahlen,  und  in  der  Tat  sehen  wir,  daß 
gleichfalls  Farben  als  Symbole  wirken.  Damit 
gelangen  wir  aus  dem  Bereiche  der  Noologie 
oder  Lehre  der  Überlegungen,  die  wohl  ausschließ- 
lich Formensymbole  kennt,  in  den  der  Äsihologie 
oder  Lehre  der  Empfindungen.  Denn  Emp- 
findungen zunächst  sind  es,  die  als  Farbensymbole 
in  die  Erscheinung  treten.  Und  nur  deren  Vor- 
handensein,   von    allen    graphisch-optischen    Sym- 


bolen, entwickelte  sich,  in  größter  Verschiedenheit, 
unter  vielen  Arten  nicht  menschlicher  Lebewesen. 

Diese  graphisch-optischen  Symbole  zweiter  Art 
verdanken  ihre  Wirksamkeit  als  Vertsändigungs- 
mittel  gelegentlich  zwar  ebenfalls  der  vorherigen 
Vereinbarung  (z.  B.  im  Falle  farbiger  Signal- 
lichter, beständiger  oder  wechselnder,  wie  an 
Leuchttürmen),  wurzeln  aber  zumeist,  und  beim 
Tiere  stets,  in  angeborenen  Erbmassen  oder  ent- 
sprechend tief  eingeschliffenen  Einzelerfahrungen. 
Unbewußte  Assoziationen  sind  hier  maßgebend  für 
die  entsprechenden  Fixationen.  Die  nicht  selten  er- 
regende Wirkung  von  Rot,  beispielsweise,  dürfte 
auf  Assoziation  mit  der  Farbe  des  Wirbeltierblutes 
beruhen,  gleich  wie  die  Wirkung  anderer  Farben 
auf  anderen  dunklen  oder  vererbten  Erinnerungen. 
Doch  sind  diese  Symbole  zweiter  Art  infolge  der 
im  allgemeinen  recht  beschränkten  Farbenunter- 
scheidung durch  das  Lebewesen  so  wenig  diffe- 
renziert, daß  ihr  Wert  als  Ausdrucks-  oder  Ver- 
ständigungsmittel gegen  den  durch  Symbole  der 
ersten  Art  sehr  weit  zurücksteht. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nunmehr,  was  unsere 
analytische  Betrachtung  uns  gelehrt  hat,  so  dürfen 
wir  ohne  Zögern  behaupten,  daß  die  Tiere,  über 
deren  in  wenigen  Monaten  oder  Jahren  eingeübte 
Leistungen  berichtet  wird,  einen  Entwicklungs- 
oder Bildungsweg  mit  einer  Geschwindigkeit  zurück- 
gelegt haben,  wogegen  der  Weg  und  die  Entwick- 
lungsgeschwindigkeit der  allergrößten  Geister 
menschlicher  Rasse  seit  ihrer  Geburt  kaum  mehr 
als  mittelmäßig  erscheinen. 

Angesichts  dieser  außerordentlichen  Tatsache 
können  wir  den  Ausdruck  des  Bedauerns  nicht 
zurückhalten,  daß  die  Nachprüfung  der  Leistungen, 
so  weit  wir  aus  der  uns  bekannten  Literatur  er- 
sehen konnten,  offenbar  ziemlich  planlos  vor  sich 
geht.  So  findet  sich  beispielsweise  beim  Rechnen 
die  allererste  Frage :  In  welchem  Ziffernsystem 
rechnet  der  Hund  oder  das  Pferd  ?  weder  beant- 
wortet, noch,  scheint  es,  überhaupt  gestellt.  Es 
wird  stillschweigend  angenommen,  daß  der  Prüfling 
dezimal  rechnet,  wie  sein  Lehrer,  ohne  Rücksicht 
darauf,  daß  in  Sonderheit  einem  Pferde,  das  sich 
seiner  vier  Hufe  bewußt  sein  mag,  gewiß  aber  nichts 
weiß  von  seinen  vier  rudimentären  Zehen  außer- 
dem an  jedem  Bein,  die  Operationen  mit  einem 
Zehnersystem  ähnlich  fernliegen  könnten,  wie  uns, 
Dezimalrechnern,  diejenigen  mit  einem  Fünfund- 
zwanzigersystem. Gerade  die  geheimnisvollsten 
Phasen  einer  tierischen  Rechenoperation,  wie  etwa 
beim  Radizieren,  sollten  es  dem  ernsten  Forscher 
nahelegen,  zu  allernächst  diese  Frage  gewissenhaft 
zu  prüfen,  ja  er  muß  solches  tun,  weil  er,  ohne 
zu  wissen  in  welchem  Ziffernsystem  die  Antwort 
gegeben  wird,  überhaupt  nicht  wissen  kann, 
ob    sie    richtig   ist.')      Denn    die    aus    Ziffern 


')  Meine  eigenen  Erfahrungen  mit  den  seinerzeit  berühmten 
Pferden  von  Elberfeld  beschränken  sich  auf  eine  kurze  Korre- 
spondenz mit  deren  Besitzer.  Gelegenilich  einer  Reise,  die  mich 
unweit  vorüberführen  mußte,  hatte  ich  um  Audienz  angefragt, 
erhielt    aber    von  Herrn  Krall  zur  Antwort,    daß  die  Pferde 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


381 


aufgebauten  Zahlen  sind  wiederum  Symbole,  deren 
Verbindungsgesetze  man  kennen  muß,  um  ihren 
Sinn  zu  verstehen. 

Zusammenfassend  dürfen  wir  sagen,  daß  die 
Symbole,  beider  Arten,  welche  wir  unterschieden, 
erscheinen  wie  die  Tasten  einer  Klaviatur,  worauf 
die  Außenwelt  spielt,  um  durch  ihren  Anschlag  das 
Instrument  der  Innenwelt  des  Lebewesens  zu  erregen. 
Es  kann  daher  jeweils  nur  das  gespielt  werden,  wozu 
die  Tasten  gegeben  und  bis  in  die  letzten  Teile 
des  anschließenden  Mechanismus  wirkbereit    sind. 


wegen  Überarbeitung  momentan  nicht  sichtbar  seien,  dal3  er 
aber  holTe,  daß  ich  nach  meinem  Interesse  für  die  Sache  der 
Gesellschaft  (für  Tierpsychologie)  beitreten  werde.  Ich  ant- 
wortete, mich  darüber  erst  entscheiden  zu  können  angesichts 
der  Leistungen,  die  ich  zunächst  persönlich  kennen  lernen 
müßte;  daß  ich  dazu  den  Mitgliedsbeitrag  (von  dem  mir  Herr 
K.  mitgeteilt  hatte,  daß  ich  ihn  in  Basel  einzahlen  könne)  als 
Eintritt  erlegen  wolle.  Eine  unerwartete  Verschiebung  meiner 
Reise  gab  mir  Gelegenheit,  nach  einigen  Wochen,  in  der  An- 
nahme die  Pferde  würden  sich  inzwischen  erholt  haben,  noch- 
mals wegen  eines  Besuches  anzufragen.  Jetzt  kam  aber  der 
drahtliche  Bescheid  „Pferde  werden  nur  Mitgliedern  gezeigt", 
—  woraufhin  ich  von  weiteren  Bemühungen  leider  .abstand 
nehmen  mußte. 


Ob  solches  der  Fall,  dieses  entscheidet  unfehlbar 
und  endgültig  über  die  Fähigkeit  zu  bestimmten 
Leistungen,  die  ansonsten  unmöglich  sind,  ebenso 
unmöglich  wie  etwa  das  Klavierspielen  auf  einer 
Schreibmaschine  oder  umgekehrt.  Und  genau  das 
Gleiche  wie  für  die  Verständigung  zwischen  Mensch 
und  Mensch  gilt  für  diejenige  zwischen  Mensch  und 
Tier:  sie  kann  nicht  weiter  gehen  als  Umfang  und 
Einrichtung  der  Klaviatur,  d.  h.  das  jeweilige 
System  der  Symbole,  reichen. 

Die  Möglichkeit  aber  ein  solches  System  in  dem 
zu  den  behaupteten  Leistungen  erforderlichen  Um- 
fang an  der  Hirnrinde  eines  nicht  menschlichen 
Lebewesens  zu  errichten,  vermag  zu  bestehen  nur 
auf  Grund  einer  Fähigkeit  der  Erinnerung  oder 
Fixierung,  d.  h.  von  Konstitutionseinzelheiten,  dort- 
selbst,  welche  die,  deren  Äußerungen  wir  von  allen 
diesen,  wofern  uns  bekannten,  Wesen  bisher  jemals 
beobachteten,  ganz  wesentlich  an  Differenzierung 
übertrifft,  demnach  die  Behauptung  des  Geleisteten 
der  Wirklichkeit  nicht  entsprechen  kann  und  die 
eingangs  genannten  Prüfungsberichte  selber  der 
Nachprüfung  bedürfen.     23.  Mai  1917. 


D.1S  Coroniiini,  ein  uueiitdecktes  Edelgas. 

INachdruck  verboten.]  Von   Karl   Kuhn. 


Das  Coronium  ist  ein  Element,  das  noch  nie- 
mals ein  Chemiker  unter  den  Händen  gehabt  hat 
und  doch  besitzen  wir  schon  eine  Reihe  von 
Kenntnissen  über  diesen  Stoff.  Zum  ersten  Male 
sind  im  Jahre  1869  die  Forscher  \' o  u  n  g  und 
Harkness  auf  Anzeichen  gestoßen,  welche  ihnen 
das  Vorhandensein  eines  auf  der  t^rde  unbekannten 
Gases  nahe  legten.  Bei  der  totalen  Sonnen- 
finsternis des  Jahres  1869  richteten  Young  und 
Harkness  das  Spektroskop  auf  die  Corona, 
jenen  die  Sonne  umgebenden  Strahlenkranz,  der 
bei  Finsternissen  mit  bloßen  Augen  gesehen  wird, 
und  beobachteten  nun  auf  einem  schwachen  kon- 
tinuierlichen Spektrum  die  hellen  Linien  des 
Wasserstoffs  und  des  Heliums,  der  leichtesten 
irdischen  Elemente,  die  wir  kennen,  und  außer- 
dem noch  eine  helle  Linie  im  Grün,  für  welche 
die  neueren  Messungen  eine  Wellenlänge  von 
5303,2  Angströmeinheiten  ^)  ergeben  haben.  Diese 
grüne  Linie,  welche  man  als  die  Coronalinie  be- 
zeichnet, ist  mit  keiner  Linie  eines  irdischen 
Stoffes  identisch  und  man  hat  sie  einem  nur  in 
der  Sonnenatmosphäre  vorkommenden,  derSonnen- 
corona  eigentümlichen  Gase,  dem  Coronium,  zu- 
geschrieben. 

Daß  wir  es  beim  Coronium  mit  einem  neuen 
Elemente  zu  tun  haben  und  nicht  mit  einem 
irdischen  Stoff,  der  vielleicht  unter  den  von 
unseren  Laboratoriumsverhältnissen  weit  verschie- 
denen Bedingungen  des  Leuchtens  auf  der  Sonne 


')   I  Angström  (in  der  Spektroskopie  gebräuchliche  Längen- 
einheit) =  Vio  Millimikron  {u/i)  ==  0,0000001  mm. 


jene  hellgrüne  Linie  aussendet,  ist  dadurch  sehr 
wahrscheinlich,  daß  das  Coronium  in  höheren 
Schichten  der  Sonnenatmosphäre  vorkommt  als 
die  leichtesten  irdischen  Gase  wie  Helium  und 
Wasserstoff.  Das  läßt  vermuten,  daß  wir  es  beim 
Coronium  mit  einem  Element  von  noch  geringerem 
Atomgewicht  wie  Wasserstoff  zu  tun  haben. 

Im  Jahre  1868  halte  der  französische  Astronom 
Jannsen  in  Ostindien  eine  gelbe  Linie  in  der 
Chromosphäre  der  Sonne  gesehen,  welche  von 
keinem  damals  bekannten  irdischen  Element  her- 
rührte. Frankland  und  Norman  Lockyer 
schlugen  für  jenes  hypothetische  Sonnengas  den 
Namen  Helium  vor  und  die  Astrophysiker  haben 
bald  darauf  die  gelbe  Heliumlinie  auf  zahlreichen 
anderen  Sonnen  oder  Fixsternen  entdeckt.  Da 
kam  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  die 
großartige  Entdeckung  der  Edelgase  durch  Wil- 
liam Ramsay  und  im  Jahre  1895  fand  dieser 
den  Sonnenstoff  Helium  auch  in  der  Lufthülle  der 
Erde  und  in  allen  radioaktiven  Mineralien.  Damit 
wurde  dann  das  bis  dahin  für  den  Chemiker  in 
unerreichbarer  Ferne  befindliche  Edelgas  Helium 
zum  ersten  Male  der  chemischen  und  physikali- 
schen Untersuchung  zugänglich. 

Helium  ist  in  der  atmosphärischen  Luft  zu 
0,0005  Volumprozent  enthalten.  Daß  in  der  Luft 
-so  wenig  Helium  vorkommt,  rührt  nach  einer 
geistreichen  Hypothese  Stoney's  daher,  daß 
das  durch  die  Mineralquellen  und  radioaktiven 
Substanzen  der  Luft  zugeführte  Helium  aus  den 
obersten  Schichten  der  Erdatmosphäre  in  den 
Weltenraum    entflieht,    weil    die    Anziehungskraft 


382 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  Erde  gegenüber  der  großen  Molekular- 
geschwindigkeit des  Heliums  zu  gering  ist.  Dann 
ist  natürlich  der  Gehalt  der  Luft  an  Coronium, 
wenn  es  überhaupt  in  der  Erdatmosphäre  vor- 
kommt, noch  geringer,  da  das  Coronium  wahr- 
scheinlich noch  leichter  ist  wie  Helium. 

In  William  R  am  say's  Laboratorium  wurden 
bereits  2  Versuche  zur  Auffindung  des  Coroniums 
in  der  Luft  gemacht.  Beim  letzten  Versuch  im 
Jahre  1908  hat  H.  E.  Watson^)  schließlich  nicht 
weniger  wie  73000  1  Luft  mit  den  empfindlichsten 
Spektroskopen  auf  Coronium  ohne  Erfolg  ana- 
lysiert. 

Möglicherweise  haben  aber  doch  schon  einige 
Forscher  Coronium  unter  den  Händen  gehabt; 
als  im  Jahre  1898  Nasini,  Anderlini  undSal- 
vatori'-)  die  Gase  der  Solfataren  und  Fumarolen 
des  Vesuvs  untersuchten,  fanden  sie  wiederholt 
eine  grüne  Spektrallinie  bei  5315  oder  5317.  Sie 
sprechen  die  Vermutung  aus,  daß  damit  Coronium 
möglicherweise  auf  der  Erde  nachgewiesen  sei. 
Es  ist  aber  zu  beachten,  daß  die  Wellenlänge  der 
Coroniumlinie  der  Sonne  sich  von  Nasin i's  Linie 
um  etwa  14  Angströmeinheiten  unterscheidet  und 
das  macht  die  Beobachtung  zweifelhaft. 

Im  Jahre  1900  untersuchten  Liveing  und 
Dewar^)  die  Gase  der  Luft,  welche  durch 
flüssigen  Wasserstoff  nicht  kondensiert  werden 
konnten  und  sahen  neben  vielen  unbekannten 
Linien  auch  eine  schwache  Linie  bei  5304,  welche 
dem  Coronium  gehören  könnte.  Es  ist  jedoch 
sicher,  daß  diese  Beobachtung  De  war's  durch 
die  neueren  erwähnten  Untersuchungen  inRam- 
say 's  Laboratorium  recht  zweifelhaft  geworden  ist. 

Der  berühmte  russische  Chemiker  Mende- 
lejeff,'')  der  eine  Reihe  von  früher  unbekannten 
Elementen  mit  Erfolg  genau  vorhergesagt  hatte, 
beschäftigte  sich  im  Jahre  1903  auch  mit  dem 
Coronium.  Mit  Hilfe  des  periodischen  Systems 
der  chemischen  Elemente  kam  er  zu  der  Ver- 
mutung, daß  das  Coronium,  welches  er  als  Ele- 
ment y  bezeichnete,  ein  sehr  leichtes  Edelgas 
etwa  vom  Atomgewicht  0,4  sei.  „Da  das  Coro- 
nium in  solchen  Entfernungen  von  der  Sonne 
sich  nachweisen  läßt,  in  denen  keine  Wasserstoff- 
linien mehr  zu  sehen  sind,  so  muß  dem  Gase  in 
der  Tat  ein  viel  geringeres  Atomgewicht  und 
eine  viel  geringere  Dichte  wie  dem  Wasserstoff 
zugeschrieben  werden." 

Die  leichten  Gase  Wasserstoff  und  Helium 
kommen  an  der  Erdoberfläche  in  der  Luft  nur  in 
sehr  geringer  Menge  vor;  in  größeren  Höhen  da- 
gegen finden  sich  beträchtlichere  Mengen  in  der 
Atmosphäre,  da  sich  die  leichten  Gase  mit  zu- 
nehmenden Höhen    immer    mehr  anreichern.     So 


»)  Proc.  Roy.  Soc.  A.,  Vol.  Sl,  S.   181— 194  (1908). 

«)  Chemiker -Zeitung  XXII,  Nr.  58  (20.  VII.  1898)  und 
Kayser:  Handbuch  der  Spektroskopie,  Bd.  V,  S.  336  (Leipzig 
1910,  Hirzel). 

^)  Proc.  Roy.  Soc.  A.,  Vol.  67,  S.  467—474  (1900). 

^)  C.  Schmidt:  Das  periodische  System  der  chemischen 
Elemente  S.   53—57  (Leipzig   1917,  J.  A.  Barth). 


könnte  vielleicht  auch  das  Coronium  nur  in  einigen 
hundert  Kilometer  Höhe  in  der  Luft  vorkommen 
und  wir  könnten  es  mit  Wahrscheinlichkeit  dort 
finden;  aber  der  höchste  Registrierballonaufstieg 
erreichte  nur  35  km  Höhe.  Da  hat  nun  die  Natur 
selbst  ein  großartiges  Experiment  angestellt,  das 
uns  Aufschluß  über  die  Natur  der  Gase  in  100 
bis  400  km  Höhe  liefern  kann.  In  solchen  Höhen 
spielt  sich  nämlich  das  Polarlicht  ab  und  mit 
Hilfe  von  Spektroskopen  können  wir  Aufschluß 
über  die  Natur  der  dort  in  magischem  Licht  er- 
glühenden Gase  erhalten.  Schon  im  Jahre  1S69 
fand  Angström,  daß  die  Hauptintensität  des 
Nordlichts  durch  eine  grüne  Linie  im  Spektrum 
hervorgerufen  wird  und  nach  den  neuesten  Mes- 
sungen Vegard 's  M  im  Jahre  1913  hat  die  Nord- 
lichtlinie die  Wellenlänge   5572,5. 

Alfred  Wegener'^)  hat  es  durch  Zusammen- 
stellung der  verschiedenartigsten  physikalischen 
Erscheinungen  in  den  höchsten  Atmosphären- 
schichten (wie  Dämmerungsbögen,  Aufleuchten 
der  Sternschnuppen  usw.)  sehr  wahrscheinlich  ge- 
macht, daß  sich  etwa  zwischen  100  — 500  km  Höhe 
unsere  .Atmosphäre  aus  einem  Gase  zusammen- 
setzt, das  leichter  ist  wie  Wasserstoff.  Denn  die 
grüne  Nordlichtlinie  ist  noch  in  Höhen  sichtbar, 
wo  keine  Wasserstofflinien  mehr  vorhanden  sind. 
Das  Gas,  welches  im  Spektrum  die  grüne  Nord- 
lichtlinie bei  5572  zeigt,  nennt  Wegener  Geo- 
coronium,  da  das  Sonnencoronium  seine  Spektral- 
linie bei  5303  hat.  Wegener  glaubt  aber,  daß 
das  Geocoronium  identisch  sei  mit  dem  Coronium 
der  Sonne  und  die  verschiedenen  Wellenlängen 
der  beiden  grünen  Linien  sollen  durch  die  ver- 
schiedene Art  der  Leuchterregung  bedingt  sein: 
beim  Sonnencoronium  handelt  es  sich  um  ein 
Leuchten  bei  sehr  hohen  Temperaturen,  beim 
Nordlicht  dagegen  um  eine  elektrische  Licht- 
erregung des  Coroniums.  Es  ist  aber  doch  vom 
physikalischen  Standpunkt  aus  eme  solche  Wellen- 
längenverschiebung von  269  Angström  ganz  un- 
wahrscheinlich. 

Überdies  stimmt  die  Wellenlänge  der  grünen 
Nordlichtlinie,  welche  noch  gar  nicht  auf  eine 
Angströmeinheit  genau  bestimmt  ist,  gut  mit  der 
Wellenlänge  von  2  Edelgasen  überein.  Schuster 
undHuggins  machten  1898  darauf  aufmerksam, 
daß  das  Krypton  eine  grüne  Linie  bei  5570  be- 
sitzt und  1913  wies  Vegard  auf  die  grüne  Linie 
5572  des  Argons  hin.  Es  ist  aber  ausgeschlossen, 
daß  das  sehr  schwere  Krypton  (Atomgewicht  82,9) 
noch  in  Nordlichthöhen  vorkommt;  eher  wäre 
dies  beim  Argon  vom  Atomgewicht  39,8  möglich. 

Für  zahlreiche  physikalische  Probleme  der 
höchsten  Atmosphärenschichten  wäre  es  von 
größtem  Interesse,  zu  wissen,  ob  das  Geocoronium 
ein  neues  Element  von  geringerem  Atomgewicht 
wie  Wasserstoff  {^=  i)    ist    oder    ob    es    vielleicht 


')  Physikalische    Zeitschrift    XIV,    Nr.    15,    S.    677- 
(Leipzig   1913,  Hirzel). 

2)  Physikalische  Zeitschrift  XII,  Nr.   5  u.  6  (191 1). 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


nur  das  bekannte  Argon  (39.8)  oder  Krypton  (82,9) 
darstellt.  Da  ist  nun  in  jüngster  Zeit  eine  geist- 
reiche physikalische  Methode  von  Bourget, 
Fabry  und  Buisson'j  ausgearbeitet  worden, 
welche  erlaubt  aus  einer  einzigen  Spektrallinie 
das  Atomgewicht  des  Elementes  zu  bestimmen, 
welches  diese  Linie  aussendet.  Diese  wunderbare 
Leistung  der  modernen  S[)ektroskopie ,  sei  hier 
zum  Schlüsse  noch  beschrieben.  Bekanntlich  be- 
wegen sich  die  Atome  oder  Moleküle  eines  Gases 
schon  bei  gewöhnlicher  Temperatur  mit  ziemlich 
erheblichen  Geschwindigkeiten,  das  Wasserstoff- 
molekül z.  B.  bei  o"  Celsius  mit  rund  1800  m  in 
der  Sekunde.  Bringt  man  den  Wasserstoff  in  einer 
Geißlerröhre  elektrisch  zum  Leuchten,  so  kann 
man  in  guten  Spektroskopen  keine  vollkommen 
scharfen  Linie  bekommen,  denn  das  eine  leuchtende 
Wassersloffmolekül  nähert  sich  vielleicht  gerade 
dem  Spektroskop  mit  1800  m  Geschwindigkeit, 
während  ein  anderes  sich  mit  ähnlicher  Geschwin- 
digkeit von  ihm  entfernt  und  die  Linien  müssen 
desiialb  nach  Doppler's  Prinzip  eine  gewisse 
Verbreiterung  erfahren. 

Unter  Doppler's  Prinzip  versteht  man  z.B. 
die  bekannte  Erscheinung,  daß  eine  Schallquelle 
für  einen  Beobachter,  welcher  sich  ihr  rasch  nähert, 
einen  höheren  Ton  aussendet  wie  für  einen 
ruhenden  Beobachter.  Das  rührt  daher,  daß  der 
bewegte  Beobachter  in  einer  Sekunde  dieselbe 
Anzahl  von  Schallwellen  empfängt  wie  der  ruhende 
Beobachter;  aber  dazu  kommen  noch  die  sämt- 
lichen Schallwellen,  welche  auf  der  Strecke  ver- 
teilt sind,  die  der  bewegte  Beobachter  in  einer 
Sekunde  durchschneidet,  das  heißt  dieser  empfängt 
mehr  Schallwellen,  er  hört  einen  höheren  Ton. 

So    ist    es  auch  beim  Licht.     Ein  leuchtendes 


')  Compt.  rend.   158  (1914), 
S.  241—258  (1914)- 


ad    Astrophys.  Je 


Gasatom,  das  sich  dem  Spektroskop  rasch  nähert, 
sendet  Licht  von  einer  scheinbar  kürzeren  Wellen- 
länge aus  und  ein  Gasatom,  das  sich  rasch  ent- 
fernt, sendet  Licht  von  größerer  Wellenlänge  aus. 
Eine  Spektral„linie''  kann  also  keine  mathemati- 
sche Linie  sein,  sondern  sie  muß  eine  gewisse 
Breite  haben  und  sie  wird  um  so  breiter  sein,  je 
rascher  sich  die  leuchtenden  Gasatome  bewegen. 
Mit  den  modernen  Interferenzspektroskopen  läßt 
sich  die  Breite  der  Spektrallinien  genau  messen 
und  daraus  läßt  sich  sofort  die  Geschwindigkeit 
der  leuchtenden  Gasatome  berechnen.  Die  Ge- 
schwindigkeit der  Atome  eines  Gases  hängt  neben 
der  Temperatur  nur  von  seinem  Atomgewicht  ab. 
Das  Atom  eines  schweren  Elementes  bewegt  sich 
bei  gleicher  Temperatur  viel  langsamer  wie  das 
Atom  eines  leichten  Gases.  Kennt  man  die  Ge- 
schwindigkeit und  die  Temperatur,  so  läßt  sich  das 
Atomgewicht  sofort  angeben.  Die  Geschwindigkeit 
der  Gasatome  des  Geocoroniums  ließe  sich  aber 
durch  die  Messung  der  Breite  der  grünen  Nord- 
lichtlinie feststellen. 

Die  hier  geschilderte  Methode  wurde  zuerst 
von  Bourget, FabryundBuisson  zur  Bestim- 
mung des  Atomgewichts  des  nicht  irdischen  Ele- 
ments Nebulium  im  Orionnebel  angewandt.  Es 
ist  sicher  eine  große  Leistung,  auf  optischem  Wege 
die  Atomgewichte  unbekannter  Elemente  eines  in 
unermeßlicher  Ferne  schimmernden  kosmischen 
Nebels  zu  ermitteln.  Zur  Untersuchung  des  Nord- 
lichts ist  diese  Methode  noch  nicht  benützt  worden 
und  sie  wird  bei  dessen  Lichtschwäche  sicher  ihre 
Schwierigkeit  haben.  Aber  es  ist  hier  wenigstens 
die  Möglichkeit  vorhanden,  das  Atomgewicht  des 
Gases  mit  der  rätselhaften  grünen  Nordlichtlinie 
festzustellen  und  es  wäre  gewiß  von  größtem 
Interesse,  die  kühnen  Spekulationen  A.  Wegen er's 
über  die  Gase  der  höchsten  Atmosphärenschichten 
zu  bestätigen  oder  zu  widerlegen. 


Einzelberichte. 


Geologie.  Ober  „die  erdgeschichtliche  Ent- 
wicklung des  Zechsteins  im  Vorlande  des  Riesen- 
gebirges" berichtet  H.  Scupin  in  den  Sitzungber. 
der  K.  Preuß.  Akad.  der  Wissenschaften  19 16. 
Der  Zechstein  Niederschlesiens  schmiegt  sich  den 
Mulden  im  Norden  des  Riesengebirges  in  Form 
eines  schmalen  Bandes  an.  Er  verdient  unser 
ganz  besonderes  Interesse,  da  er  einerseits  das 
östlichste  Zechsteinvorkommen  in  Deutschland  ist, 
andererseits  weil  er  noch  in  engere  Beziehungen 
zum  Rande  der  böhmischen  Masse  tritt  als  der 
thüringische  und  sächsische  Zechstein. 

Das  Liegende  des  Zechsteins  bildet  das  Rot- 
liegende, das  eine  von  sehr  verschieden 
mächtigen  Schuttmassen  des  alten  Variskischen 
Gebirges  bedeckte  Landschaft  war.     Unterrot- 


liegendes fehlt.  Das  Mittelrotliegende 
besteht  unten  aus  grauen  bis  gelben  groben 
Konglomeraten  und  Sandsteinen  mit  gelegentlich 
zwischengelagerten  Kalkbänkchen  und  grauen 
bis  bituminösen  Schiefern  mit  der  Lebacher  Fauna, 
oben  aus  roten  Gesteinen  mit  mächtigen  Eruptiv- 
decken von  Melaphyr  und  Porphyr.  Die  beiden 
Stufen  lassen  einen  Klimawechsel  von  einer 
kühleren  feuchten  zu  einer  wärmeren  Periode  er- 
kennen. Das  Oberrotliegende  setzt  sich  aus 
mächtigen  roten  sandigen  Porphyrkonglomeraten 
und  roten  Sandsteinen  zusammen,  die  im  Norden 
des  Riesengebirges  zwischen  Lausitzer  Neisse  und 
der  ostsudetischen  Randlinie  von  einem  Kalk- 
konglomerat überlagert  werden,  das  in  über- 
greifender Lagerung  nach  Südwesten  die  älteren 
Glieder  des  Mittel-  und  Oberrotliegenden  überdeckt 


384 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


und  bereits  die  stärkere  Senkung  des  Landes  im 
Nordosten  der  böhmischen  Landmasse  anzeigt. 
Ohne  scharfe  Scheidung  wird  im  Südwesten  der 
ganze  Untere,  dann  auch  der  Mittlere  Zechstein 
von  diesem  durchschnittlich  25  m,  stellenweise 
40—50  m  mächtigen  Kalkkonglomerat  ersetzt,  das 
sehr  wahrscheinlich  kontinentaler  Entstehung  ist 
(VVindkanter  usw.).  Dieses  Kalkkonglomerat,  auch 
Grenzkonglomerat  genannt,  läßt  sehr  deutlich  die 
Geländeverhältnisse  der  alten  Landoberfläche  zur 
Zechsteinzeit  verfolgen. 

Im  N.  und  O.  ist  der  Untere  und  Mittlere 
Zechstein  in  Form  mariner  Kalke  ausgebildet,  die 
im  Katzbachgebiet  etwa  20  m  mächtig  sind  und 
in  den  liegenden  (unteren  Zechstein)  und  den 
hangenden  (mittleren  Zechstein)  Hauptkalk  einge- 
teilt werden.  Der  Hauptkalk  führt  die  bekannte 
deutsche  Zechsteinfauna  mit  auffallend  vielen 
Individuen  von  Schizodus  und  anderen  Zweischalern, 
dagegen  nur  ganz  vereinzelten  Individuen  von 
Productus  horridus.  Der  Untere  Zechstein 
besteht  zu  unterst  aus  dem  etwa  i  m  mächtigen 
Zechsteinkonglomerat  mit  Pseudomonotis  spelun- 
caria,  das  dem  Thüringer  Zechstein  äquivalent  ist. 
Darüber  folgt  der  liegende  Hauptkalk  (ca  14  m) 
mit  Mergelschiefern,  die  in  der  Mitte  Kupfer  führen. 
Dieser  sogenannte  schlesische  Kupferschiefer 
—  etwa  3  m  mächtig  und  weithin  verfolgbar  — 
ist  weder  petrographisch  noch  stratigraphisch  mit 
dem  mitteldeutschen  Kupferschiefer  identisch,  da 
er  dem  mittleren  und  nicht  wie  in  Mitteldeutsch- 
land dem  tiefen  Teil  des  Unteren  Zechsteins  angehört. 
Mit  dem  Abschluß  des  Unteren  Zechsteins  beginnt 
der  Rückzug  des  Meeres.  Das  ganze  flache  Meer 
wird  noch  flacher.  Im  Mittleren  Zech  stein 
entstehen  nun  statt  Kalken  und  Mergelschiefern, 
Dolomite  und  dolomitische  Kalke,  die  den 
hangenden  Hauptkalk  (ca  6—8  m)  bilden. 

Mit  Beginn  des  Oberen  Zechsteins  erreicht 
der  weitere  Rückzug  des  Meeres  seinen  Höhepunkt 
in  den  Roten  Zwischenschichten,  auch  Unterer 
Zechsteinsandstein  genannt  (=  Untere  Letten 
Thüringens),  die  im  Katzbachtal  etwa  6— 8  m 
mächtig  sind.  Es  sind  bunte  Letten  und  Sandsteine 
mit  Gipslagern  und  Steinsalzpseudomorphosen. 
In  dem  darüber  liegenden  Plattendolomit  oder 
Oberkalk  (10  m)  kehrt  das  Meer  nochmals  kurze 
Zeit  zurück,  um  sich  dann  dauernd  zurückzuziehen. 
Nun  kommt  eine  60  m  mächtige  Schichtfolge  von 
klastischen  Wüstensedimenten  (Letten,  Kalk-  und 
Dolomitbänkchen)  zur  Ablagerung,  die  als  Oberer 
Zechsteinsandstein  bezeichnet  wurde  und  den 
Oberen  Letten  Thüringens  entspricht.  Die  ge- 
waltige Mächtigkeit  dieser  Bildungen  ist  nirgends- 
wo in  anderen  Zechsteingegenden  Deutschlands 
zu  finden.  Ohne  wesentliche  klimatischeÄnderungen 
geht  der  Obere  Zechsteinsandstein  in  den  Bunt- 
sandstein über. 

Die  interessanten  Untersuchungen  haben  ge- 
zeigt, daß  der  niederschlesische  Zechstein  eine 
typische    Randbildung    ist,   die    in    sehr   enge  Be- 


ziehungen zur  böhmischen  Masse  tritt.  Charakte- 
ristisch ist  der  auffallende  Fazieswechsel  in  der 
Richtung  gegen  SW.  Nur  im  N.  und  O.  herrschten 
normalere  Verhältnisse.  Hier  zeigt  der  nieder- 
schlesische Zechstein  in  allen  seinen  Gliedern 
weitgehende  Ähnlichkeit  mit  dem  mitteldeutschen, 
insbesondere  dem  sächsischen  und  thüringischen 
Zechstein.  V.  Hohenstein. 


Botanik.    Die  Ernährung  von  Blaualgen  durch 
organische  Stoffe.     Während  m.an  früher  der  An- 
sichtTwar,  daß  die  chlorophyllhaltige,  assimilierende 
Pflanze    organische    Körper    zu    ihrer    Ernährung 
nicht  verwenden    könne,    ist   für   eine    Reihe    von 
Algen  in  neuerer  Zeit  nachgewiesen  worden,  daß 
sie    neben    den    unorganischen  Verbindungen  (die 
schon    allein    zu    ihrer  Ernährung    genügen)   auch 
organische    Stoffe    zu    verarbeiten    vermögen. 
Hierhin  gehören  nach  Küster  (Kultur  der  Mikro- 
organismen  1913,    S.   109)    viele    einzellige    Grün- 
algen sowie  die  Desmidiaceen    und  Diatomaceen. 
Bei  den  Blaualgen  (Cyanophyceen)  ist  diese  Fähig- 
keit  der    ,,heterotrophen"    Ernährung    (neben    der 
„autotrophen"    durch    unorganische    Stoffe)    noch 
nicht    mit    Sicherheit    nachgewiesen.      Das    liegt 
daran,  daß  in  den  meisten  Versuchen,  die  darüber 
angestellt  worden  sind,  keine  bakterienfreien  Rein- 
kulturen erzielt  wurden.  Erst  P  r  i  n  g  s  h  e  i  m  konnte 
191 3  zwei  Oscillarien  und  ein  Nostoc  bakterienfrei 
züchten.      Seine  Versuche    fielen   im  wesentlichen 
negativ    aus:    die    untersuchten    Algen    erwiesen 
sich  zu  heterotropher  Ernährung   nur  in  sehr  ge- 
ringem Maße  oder  gar  nicht  befähigt.    Und  doch 
weisen    verschiedene    Umstände    darauf   hin,    daß 
manche  Blaualgen    ohne    rein    autotrophe    Ernäh- 
rung   fortkommen    müssen;    ganz    besonders    legt 
ihr  Vorkommen  im  Innern  anderer  Pflanzen  diesen 
Schluß  fast  mit  Notwendigkeit  nahe.    Bekanntlich 
findet    sich  Nostoc    nicht  nur  freilebend,    sondern 
auch    innerhalb  gewisser  Lebermoose  und  in  den 
Blatthöhlungen    von  Azolla,   ja    sogar    in  den  tief 
in    die  Erde    eindringenden   Luftwurzeln    von  Cy- 
cadeen   und  in  den  Rhizomen  von  Gunnera,    also 
in    absoluter  Dunkelheit.     Hariot    hat   1892    die 
Algen  aus  diesen  Pflanzen  isoliert  und  festgestellt, 
daß    sie    alle    zur    gleichen    Art,    nämlich   Nostoc 
punctiforme  (Kütz.)  P.  Hariot  gehören,  aber  es 
sind    von    ihm    keine    physiologischen    Ergebnisse 
mitgeteilt    worden.     Andere    kulturversuche    sind 
mißlungen.      Jetzt    hat    Richard   Härder   über 
umfassende  und  sorgfältige  Versuche  berichtet,  in 
denen  Nostoc  aus  Gunnera  isoliert  und  in  Rein- 
kultur   gezüchtet  wurde,    so    daß    die    oben   be- 
berührten   ernährungsphysiologischen   Fragen   ge- 
prüft werden  konnten.     Er  gibt  eine  ausführliche 
Darstellung    des    Kulturverfahrens    und    der    Ent- 
wicklungsgeschichte   und   Morphologie    des   kulti- 
vierten Nostoc    punctiforme   sowie  des  Verhaltens 
der  Algen  in  den  verschiedenen  Nährmedien.    An 
Mineralstoffen    enthielten  diese  zumeist  je  0,01  % 
K.,HPO,  undMgSO^  und  0,05  %  Ca(NO,,),,.  Hierzu 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


38s 


kamen    dann    in    den    einzelnen   Versuchen    ver- 
schiedene organische  Verbindungen. 

Es  zeigte  sich,  daß  schon  in  belichteten  Kul- 
turen das  Wachstum  der  Algen  bei  Anwesenheit 
geeigneter  organischer  Stoffe  meistens  besser  war. 
Selbst  zur  Zeit  der  günstigsten  Beleuchtungs- 
bedingungen, im  Sommer,  war  die  erzeugte  Algen- 
masse auf  solchen  Nährböden  größer  als  auf  den 
rein  anorganischen,  weil  das  Wachstum  auf  diesen 
nur  oberflächlich  war,  während  auf  jenen  auch 
die  tieferen,  weniger  gut  beleuchteten  Algenfäden 
noch  wachsen  konnten.  Noch  viel  deutlicher  war 
die  günstige  Beeinflussung  durch  organische  Stoffe 
im  Herbst-  und  Winterlicht.  Je  geringer  die  Licht- 
menge war,  mit  der  die  Kulturen  beleuchtet 
wurden,  desto  stärker  trat  die  Förderung  durch 
die  heterotrophe  Ernährung  hervor.  Wenn  eine 
solche  Nostoc- Kultur  mit  organischem  Nährstoff 
(Petrischale)  zur  Hälfte  mit  Papier  bedeckt  wurde, 
so  ließ  sich  diese  Wirkung  an  derselben  Schale 
schön  verfolgen.  Am  stärksten  war  der  Gegen- 
satz zwischen  organischer  und  anorganischer  fc;r- 
nährung  bei  Kultur  in  völliger  Dunkelheit;  hier 
unterblieb  auf  reinen  Mineralsalzböden  jedes  Wachs- 
tum, und  nur  bei  Zusatz  organischer  Verbindungen 
erfolgte  Entwicklung.  Das  Dunkelwachstum  war 
ini  allgemeinen  sehr  viel  langsamer  als  das  im 
Lichte,  woraus  sich  die  große  Bedeutung  der 
autotrophen  Ernährung  ergibt.  Das  dürfte  für  die 
Chlorophyllhalligen  Algen  allgemein  zutreffen,  in- 
dessen wird  in  einem  F"alle  (Cystococcus)  ange- 
geben, daß  die  Photosynthese  bei  Gegenwart  von 
Traubenzucker  fast  oder  ganz  ausgeschaltet  war. 
Als  gute  Nährquellen  erwiesen  sich  die  Kohlen- 
hydrate, namentlich  Trauben-  und  Rohrzucker, 
auch  andere  Hexosen  und  Disaccharide,  ferner 
Polysaccharide  (Stärke,  Dextrin).  Viel  weniger 
günstig  und  z.  T.  unbrauchbar  waren  Alkohole 
und  organische  Säuren.  Bei  Steigerung  der  Kon- 
zentration von  0,1  "/„  bis  5";',,  Rohrzucker  wurde 
eine  Zunahme  der  Entwicklung  beobachtet;  Kon- 
zentrationen von  10%  und  darüber  erwiesen  sich 
als  schädlich. 

Aus  diesen  Ergebnissen  darf  nicht  der  Schluß 
gezogen  werden,  daß  alle  Blaualgen  zu  hetero- 
tropher  Ernährung  fähig  sind;  Verf.  betont  auch, 
daß  kein  Grund  vorliegt,  an  der  Richtigkeit  der 
oben  erwähnten  negativen  Ergebnisse  P rings - 
heim's  zu  zweifeln,  schon  deshalb,  weil  das 
Gunnera  Nostoc  eine  seinem  natürlichen  Standort 
angepaßte  physiologische  Rasse  darstellen  könnte. 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  Algen  in  den 
Dunkelkulturen  des  Verfassers  dunkler  gefärbt  und 
bedeutend  intensiver  blaugrün  waren  als  die  der 
Lichtkulturen,  die  mehr  rein  grün  aussahen.  Die 
Erhaltung  des  Chlorophylls  im  Dunkeln  hatte 
schon  Bouilhac  (1898)  für  Nostoc  punctiforme, 
Brunnthaler  (1909)  für  Gloeothece  rupestris 
beobachtet,  während  bei  einigen  anderen  niederen 
grünen  Organismen  festgestellt  worden  ist,  daß 
sie  bei  Kultur  im  Dunkeln  auf  organischen  Stoffen 


unter  gewissen  Bedingungen  ihr  Chlorophyll  ver- 
lieren. 

Reinke,  der  1871  die  Nostoc-Kolonien  in 
Gunnera -Rhizomen  entdeckte,  erklärte  sie  für 
Parasiten,  die  darauf  angewiesen  seien,  ihr  Dasein 
von  dem  gerbstoffreichen  Saft  der  Gunnera  zu 
fristen.  Ob  ihnen  dieser  Gerbstoff  in  der  Tat  als 
Nährquelle  dienen  kann,  ist  erst  noch  festzu- 
stellen. Die  Kulturversuche,  die  Härder  mit 
chemisch  reinem  Acidum  tannicum  ausführte,  er- 
gaben eigentümlicherweise,  daß  gerade  der  Gerb- 
stoff zur  Ernährung  von  Nostoc  punctiforme  völlig 
untauglich  ist,  ja  sogar  schädlich  wirken  kann. 
Daß  Gunnera  die  Alge  nicht  nötig  hat,  zeigte 
schon  Reinke,  indem  er  sie  ohne  Nostoc  züch- 
tete; und  daß  auch  der  ,, Einmieter"  zum  selb- 
ständigen Leben  außerhalb  der  Wirtspflanze  be- 
fähigt ist,  wird  durch  Härder 's  Kulturen  er- 
wiesen. Auch  ist  Nostoc  punctiforme  sonst  in 
der  Natur  weit  verbreitet.  „Offenbar  lebt  die 
Alge  im  Freien  autotroph  und  ernährt  sich  viel- 
leicht auch  noch  an  der  Oberfläche  des  Rhizoms, 
solange  sie  sich  noch  in  schwachem  Lichte  be- 
findet, selbständig,  bei  dem  weiteren  Eindringen 
in  das  Innere  wird  der  Nostoc  dann  zum  Para- 
siten, der,  ohne  große  Ansprüche  zu  machen  und 
ohne  die  Wirtspflanze  wesentlich  zu  schädigen, 
auf  deren  Kosten  lebt."  Aus  welchen  Gründen 
die  Alge  aber  überhaupt  in  das  Gunnera-Rhizom 
eindringt,  ist  um  so  rätselhafter,  als  ihre  beweg- 
lichen Fäden  (Hormogonien),  die  die  Infektion 
herbeiführen,  positiv  phototaktisch  sind.  Da  sie 
durch  die  Kanäle  der  schleimabsondernden  Außen- 
drüsen des  Rhizoms  in  das  Innere  eindringen,  so 
ist  die  Vermutung  gerechtfertigt,  daß  der  Schleim 
auf  sie  anlockend  wirkt.  (Zeitschrift  für  Botanik 
Jahrg.  9,   1917,  Heft  3,  S.  145—242.) 

F.  Moewes. 


Der  Geotropismus  der  Mistel.  Viscum  album 
wird  vielfach  noch  jetzt  als  Beispiel  einer  Pflanze 
genannt,  die  kein  geotropisches,  durch  den  Schwer- 
kraftreiz bestimmtes  Wachstum  zeigt.  Wie  Hein- 
richer darlegt,  ist  diese  Auffassung  irrig  und 
beruht  hauptsächlich  darauf,  daß  die  geotropischen 
Reaktionen  der  Mistel  zeitlich  beschränkt  sind 
und  zumeist  nicht  dauernd  erhalten  bleiben.  Jeder 
junge  Trieb  eines  Mistelbusches  zeigt  aber,  wie 
Heinricher  an  seinen  kultivierten  Misteln  fest- 
gestellt hat,  im  Frühjahr  eine  Periode  geotropischer 
Empfindlichkeit  und  antwortet  auf  den  Schwer- 
kraftreiz mit  einer  Aufwärtskrümmung  (negativem 
Geotropismus).  Der  Wahrnehmung  dieses  Ver- 
haltens mag  auch  der  Umstand  im  Wege  ge- 
standen haben,  daß  an  natürlichen  Standorten 
die  Misteln  sich  in  Höhen  und  Lagen  finden,  die 
solche  Beobachtungen  sehr  erschweren  oder  un- 
möglich machen.  Die  geotropische  Aufwärts- 
krümmung des  ganzen  Triebes  erlischt  bald,  und 
an  ihre  Stelle  treten  autonome  Wachstumskrüm- 
mungen   (Nutationskrümmungen),    die    oft    bis  in 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


den  Herbst  hinein  dauern.  Ebenso  allgemein  wie 
die  jungen  Jahrestriebe  der  älteren  Mistelpflanze 
zeigen  auch  die  Hypokotyle  der  Mistelkeimlinge 
negativen  Geotropismus.  Das  war  schon  von 
Wiesner  erkannt  worden,  dessen  Klinostaten- 
versuche  indessen  keinen  genügenden  Beweis 
dafür  lieferten.  Heinricher  hat  diese  Krüm- 
mungsbewegungen des  Hypokotyls  der  Mistel  in 
einer  eigenen  Untersuchung  behandelt.  Auch  er 
kam  mit  Versuchen  am  Klinostaten  nicht  zum 
Ziel;  der  Grund  lag  darin,  daß  es  bei  den  ge- 
wählten Versuchsbedingungen  nicht  gelang,  den 
Mistelsamen  die  zu  ihrer  Keimung  nötige  hohe 
Lichtmenge  zuzuführen.  In  dieser  Hinsicht  ist 
die  Mistel  nämlich  sehr  anspruchsvoll;  ihre  Emp- 
findlichkeit gegen  Lichtverminderung  ist  außer- 
ordentlich groß,  und  bei  noch  verhältnismäßig 
hoher,  aber  für  sie  nicht  ausreichender  Helligkeit 
tritt  Verzögerung  oder  Einstellung  der  Keimung, 
ja  sogar  Erlöschen  des  Keimvermögens  ein.  Den 
Beweis  für  den  Geotropismus  des  Hypokotyls 
erbrachten  ganz  einfache  Versuche,  am  klarsten 
Kulturen  von  Mistelsamen  auf  horizontal  liegenden 
glatten  Glasplatten.  Das  aus  dem  Samen  aus- 
tretende Hypokotyl  krümmt  sich  zuerst  vom  Lichte 
weg.  (Dieser  negative  Phototropismus  des  Mistel- 
hypokotyls  ist  seit  lange  bekannt.)  Die  Glätte 
der  Platte  verhindert  aber  mei.stens  eine  Befesti- 
gung des  Hypokotyls  mit  der  Haftscheibe,  und 
da  die  phototrope  Empfindlichkeit  bald  ausklingt, 
an  ihre  Stelle  nun  aber  eine  solche  für  den 
Schwerereiz  tritt,  so  stellen  sich  die  Hypokotyle 
mehr  oder  minder  vollkommen  in  die  Lotrichtung 
ein.  Die  geotropische  Reizbarkeit  hält  auch  bei 
den  Hypokotylen  nur  kurze  Zeit  an.  Weiter  zeigt 
Heinricher  an  der  Hand  von  photographischen 
Aufnahmen  aus  seinen  langjährigen  Kulturen,  daß 
an  Hauptstämmen  von  Mistelpflanzen  nicht  selten 
starke  und  dauernde  negativ  geotropische 
Krümmungen  zu  beobachten  sind.  Da  seine 
Misteln  besonders  an  den  senkrechten  Stämmen 
der  Wirtspflanzen  herangezogen  waren,  trat  ihre 
geotrope  Aufrichtung  besonders  auffällig  hervor, 
was  in  der  freien  Natur,  wo  die  Drosseln  die 
Aussaat  besorgen,  weniger  der  Fall  ist.  An  den 
Mistelsprossen  zweiter  und  dritter  Ordnung  wird 
diese  dauernde  geotropische  Reaktion  nicht  wahr- 
genommen. Die  Adventivsprosse  aber,  die  sich 
nach  dem  Zugrundegehen  des  primären  Sprosses 
aus  der  Haftscheibe  entwickeln,  scheinen  sich  wie 
die  Hauptachsen  verhalten  zu  können.  Im  übrigen 
ist  die  geotropische  Empfindlichkeit  bei  den 
Misteln  individuell  sehr  verschieden;  bei  vielen 
äußert  sie  sich  nur  in  geringem  Grade  oder  fehlt 
ganz.  (Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Botanik 
1916,  Bd.  57,  S.  221—262.  Berichte  der  Deutschen 
Botanischen  Gesellschaft,  Bd.  34,  S.  818 — 829.) 
F.  Moewes. 


Paläontologie.     Paläobiologische  Studien.     In 
den  bisher   besprochenen   „Paläontologischen  Be- 


trachtungen" legte  W.  De  ecke  den  Hauptwert 
auf  das  biologische  Moment,  welches  uns  Gesteins- 
beschaffenheit,  Vergesellschaftung  und  dgl.  liefert. 
In  seinen  „Paläobiologischen  Studien"  (Sitzungsber. 
der  Heidelberger  Akad.  d.  Wissensch.  Jahrg.  1916) 
führt  Deecke  eine  andere  biologische  Gruppierung 
der  fossilen  Invertebraten  durch  und  hebt  vor 
allem  die  Ähnlichkeit  in  der  äußeren  Form  und 
inneren  Struktur  der  Schale  hervor,  soweit  sie 
durch  die  Lebensweise  bedingt  ist.  Es  handelt 
sich  um  Konvergenzerscheinungen  bei  ganz 
heterogenen  Gruppen,  z.  T.  um  Betonung  einer 
in  der  Natur  liegenden  Entwicklung  oder  latenter 
resp.  untergeordneter  Eigenschaften  bei  verwandten 
Gruppen. 

Ein  charakteristisches  Beispiel  ist  das  Fest- 
wachsen,  das  am  vollkommensten  durch 
Inkrustieren  erfolgt,  wie  das  bei  den  Coelenteraten 
(Stromatoporen,  Hydrozoen,  Porites,  Thamnastraea, 
sowie  vielen  Bryozocn)  und  den  Lithothamnien 
der  Fall  ist.  Kleinheit  der  Einzelindividuen  bei 
reicher  Kalkabsonderung,  Krustenbildung  mit 
F'lächenwachstum  sind  das  Charakteristische. 
Crinoiden,  Brachiopoden,  Zweischaler,  Schnecken 
und  Krebse  zeigen  dies  nicht,  da  ihre  Individuen 
hoch  bei  kleiner  Anheftungsfläche  sind  oder  sie 
überhaupt  nur  beschränkt  festgewachsen  sind.  Bei 
den  Crinoiden  kann  die  Wurzel  zu  einem  dem 
vergrößeiten  Stocke  entsprechenden  Anker  weiter- 
wachsen (Apiocrinus,  Millericrinus).  Es  ist  eine 
Art  Alterserscheinung,  bei  welcher  auf  diese  Weise 
die  Kalksalze  unschädlich  gemacht  werden.  Im 
allgemeinen  hört  nach  der  Jugend  die  Befestigung  auf 
oder  sie  erfolgt  im  mittleren  Lebensalter  durch 
Wurzeläste  (Omphyma)  oder  Fortsätze  der  Schale 
(Productus,  Spondylus,  Chama).  Das  Bestreben  der 
Einzeltiere  geht  dahin,  den  gemeinsamen  Stock  zu 
verbreitern  und  hinauszuwachsen  in  den  Raum,  um 
vollkommene  Atmung  und  reichlichere  Nahrung  zu 
erhalten  (kegelförmige  und  becherartige  Spongien, 
säulenförmige  Korallen,  Hippuriten,  langröhrige 
Vermetiden,  Serpuliden  und  Teredinen).  Die  kegel- 
förmigen Gestalten  lassen  sich  in  2  Gruppen 
gliedern,  einerseits  solche,  welche  eine  zeitlebens 
mitwachsende  Wurzel  besitzen  wie  die  Spongien 
oder  solche  bei  denen  diese  fehlt  wie  bei  den 
meisten  Einzelkorallen  (Cystiphyllum,  Montlivaultia) 
den  Deckelkorallen  (Goniophyllum,  Calceola)  und 
den  Hippuriten.  Alle  diese  nicht  genügend  be- 
festigten Tiere  lieben  weichen  mergeligen  Boden, 
nicht  aber  sandige  lockere  Sedimente,  die  wenig 
Halt  bieten.  Bei  Diceras,  Requienia  und  manchen 
Exogyren  schützt  spirales  Wachsen  um  den 
Anwachspunkt  vor  Abbrechen  und  verkehrter 
Lagerung.  Spondylus  und  Chama  erzeugen  auf 
der  Unterklappe  Dornen,  mit  denen  sie  die 
Auflagerungsfläche  berühren.  Flache  Ostrea-  und 
Anomia-Arten  sind  vielfach  auf  Aminonitenschalen 
festgewachsen;  besonders  merkwürdig  sind  jene 
auf  den  Steinkernen  von  Ceratites  nodosus,  die 
wohl  das  dünne  Ammonitengehäuse  beim  Wachsen 
resorbiert  haben  müssen. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


387 


Die  Art  der  Unterlage  beeinflußt  die  Form  der 
angehefteten  Tiergehäuse  ziemlich  stark,  wodurch 
die  oft  wechselnde  Gestalt  der  Austern  entsteht, 
die  beim  Bestimmen  vielfach  große  Schwierigkeiten 
bereitet.  Auch  die  auf  Spongien  der  oberen 
Kreide  aufsitzenden  Spondylusindividuen  können 
sehr  vielgestaltig   sein. 

Bei  allen  aufgewachsenen  Tieren  ist  rasches 
Wachstum  notwendig,  um  nicht  im  Schlamme 
des  Sedimentes  zu  ersticken  oder  um  sich  ge- 
nügend Spielraum  freizuhalten.  Dies  ermöglichen 
die  lockere  innere  Struktur  und  mit  dieser  die 
Endothekalbildung.  Zu  einer  massiven  Kalk- 
bildung würde  die  Zeit  nicht  ausreichen. 

DieLockerung  des  Gesamtgewebes  zeigen  am 
deutlichsten  die  Poritiden  und  Madreporiden  unter 
den  Korallen.  Septen,  Mauer-  und  Endothekal- 
lamellen  sind  durchbrochen.  Beides  sind  junge 
Formen,  die  erst  in  der  Neuzeit  zur  Blüte  gelangten. 
Nach  ganz  kurzer  Zeit  waren  die  Hafenanlagen 
von  Port  Sudan  am  Roten  Meere  mit  langen 
Madreporen  dicht  bedeckt.  Innere  Kammerung 
bzw.  lockeren  Bau  zeigen  die  Hippuriten,  die 
Wirbel  von  üiceras  und  Caprina,  die  Unterklappe 
derSpondyliden,dieVermetidenundMagilusformen. 
Schwammig  und  locker,  um  mit  der  geringsten 
Menge  von  Kalksalzen  auszukommen,  sind  die 
Basisplatte  von  Baianus,  die  Alcyonarien,  die 
Echinodermen  und  Knochen  der  Vertebraten 
(Plesiosauriden,  Elephanten)  ausgestattet.  Nicht 
selten  werden  zur  Erhöhung  raschen  Wachstums 
organische  Substanzen,  ja  bei  manchen  Röhren- 
würmern Fremdkörper  eingeschlossen. 

Freien  Spielraum  gewährt  das  Aufwachsen  auf 
beweglichen,  teils  kriechenden  oder  schwimmenden, 
teils  flottierenden  Körpern,  so  von  Seerosen  auf 
Paguriden,  von  Lepadiden  aufF'ischen,  Bimssteinen, 
Holz,  Schiffen,  bei  Pentacrinus  durch  Umfassen 
von  Treibholz.  Muscheln  befestigen  sich  mittels 
des  Byssus,  Brachiopoden  mit  dem  Stiel. 

Eine  andere  Gruppe  von  F"ormen  hat  sehr 
geringen  Ortswechsel,  ist  daher  sessil  zu  neuen, 
ohne  angewachsen  zu  sein.  Es  sind  vorwiegend 
Tiere,  deren  Oberschale  Mützengestalt  hat.  Haupt- 
vertreter sind  die  Patellen  und  Fissurellen,  aber 
auch  Capulus,  Ancylus,  Siphonaria  gehören  hier- 
her, also  ganz  verschiedene  Gruppen ;  analog  sind 
ebenso  die  Haliotiden  unter  den  Pleurotomarien. 
Von  den  Brachiopoden  sind  Crania,  Discina  und 
die  Oboliden  zu  erwähnen.  Das  dichte  Anziehen 
der  Schale  an  den  Untergrund  ist  das  beste 
Schutzmittel,  das  am  vollkommensten  durch  die 
runde  bis  ovale  Napfform  eines  Deckels  bewirkt 
wird  (Rudisten,  Richthofcnien). 

Weitere  Fragen  beziehen  sich  auf  die  An- 
passungserscheiiiungen,  von  denen  die  starke 
Chitinbildung  bei  Süßwassermollusken  erwähnt  sei." 
Unioniden,  Pisidien,  Paludina-Planorbis-Limnaeus- 
Arten  zeigen  sie.  Der  Chitinschutz  dürfte  wohl 
mit  dem  CO.j-reicheren  Wasser  zusammenhängen, 
das  den  Kalk  der  .Schalen  zu  sehr  angreifen  würde. 
Diese    Hornausscheidung    zeigen    alle    Mollusken, 


zeitweilig  tritt  sie  gegenüber  der  Kalkabsonderung 
zurück  (z.  B.  bei  Meeresschnecken  und  -Muscheln, 
dafür  dann  die  entsprechende  Buntfärbung). 

Den  Mollusken  ist  gemeinsam,  den  bilateralen 
Bau  einseitig  durch  Schraube  nbildung 
umzugestalten;  Schnecken,  dann  Diceras  und 
Requienia  unter  den  Muscheln,  Turrilites  und 
Heteroceras  unter  den  Kreidecephalopoden.  Der 
Schraubenbildung  entgegengesetzt  ist  die  Auf- 
lösung des  in  sich  geschlossenen  Gehäuses.  Die 
paläozoischen  Capuliden  zeigen  alle  Übergänge 
vom  normalen  naticaartigen  Gehäuse  bis  zur  losen 
Schrauben  -und  spitzen  Mützenform.  Auch  Magilus 
und  Vermetus  geben  infolge  anderweitigen  Haltes 
die  Konsolidierung  des  Gehäuses  in  sich  selbst  auf. 

Konvergenzen  zeigen  sich  bei  den  Mollusken 
in  der  Skulptur  und  äußeren  Gestalt. 
Silurische  Pleurotomarien  von  Gotland  nehmen 
an  der  Basis  denselben  verbreiterten  flachen  Kiel 
und  eingetiefte  Untersehe  an  wie  die  tertiären 
und  rezenten  Xenophoriden.  Die  paläozoischen 
Murchisonien  gleichen  auffallend  den  Turritellen, 
die  Nerineen  den  Terebra- Arten,  Actaeonellen 
den  Coniden.  Auch  der  Gang  in  der  Entwicklung 
der  Verzierung  ist  bei  den  Gastropodengehäusen 
sehr  gleichartig;  Terebra  nimmt  die  gleiche  Knotung 
an  wie  Nerinea.  Bei  der  Ammonitenskulptur  er- 
scheinen dickere  Rippen,  Knoten  und  Dornen  erst 
an  der  Innenseite,  dann  in  der  Mitte  und  schließlich 
auf  der  Externseite.  ( Trachyceraten,  Cosmoceraten, 
Stephanoceraten).  Bei  sehr  vielen  Muscheln  ist 
die  Skulptur  am  Hinterende  kräftiger  als  an  der 
Vorderseite;  aber  auch  hier  erfolgt  die  Zunahme 
der  Skulpturierung  wie  bei  den  Gastropoden  und 
Cephalopoden  in  durchaus  gleichartiger  Weise 
bei  bestimmten  Familien  und  Ordnungen.  Im 
Gegensatz  dazu  stehen  Gruppen,  die  dauernd  glatt 
sind  (.Actaeon,  Actaeonella,  Bulla,  Pulmonaten, 
Naticiden;  Luciniden,  Donax,  Mactra;  Ptychites, 
Arcestes,  Phylloceras,  Lytoceras. 

Eine  weitere  Eigentümlichkeit  ist  die  Loch- 
b  i  1  d  u  n  g  bei  Seeigeln,  den  jurassisch-cretacischen 
Pygope-Arten  und  den  jungtertiären  und  rezenten 
Scutelliden  (Encope),  die  sich  schrittweise  ver- 
folgen läßt. 

Von  Interesse  ist  auch  der  Schalenverschluß, 
der  bei  kleinen  Formen  einfach  ist,  bei  stattlichen 
kalkschaligen  Brachiopoden  zum  Ausschweifen  der 
Ränder,  also  zum  Ineinandergreifen  von  Sinus  und 
Rippen  führt;  Spirifer  und  Rhynchonella,  letztere 
Gattung  vom  Silur  bis  zur  Gegenwart.  Pentame- 
riden,  Athyriden,  Terebrateln  nehmen  den  Rhyn- 
chonellaHabitus  an.  Ganz  gleich  verhält  es  sich 
mit  den  Zweischalern,  die  im  Paläozoicum  glatt 
sind,  im  Mesozoicum  aber  Leisten,  Kerben  und  Vor- 
sprünge bilden.  Ostrea  Marshi  ist  die  Parallelform 
zu  Rhynchonella;  dasselbe  bei  tertiären  und  rezenten 
Cardien.  Kerbung  am  Schalenrand  besitzen  Astarten, 
Carditen,  Veneriden,  Donaeiden,  mit  denen  die 
Tiere  bei  kräftigem  Schließen  der  Schale  ungebetene 
Gäste  (Würmer,  Nacktschnecken,  kleine  Krebse) 
abbeißen  können. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  28 


Analogien  zeigen  sich  auch  in  der  Größen- 
entwicklung bei  zahlreichen  Gattungen; 
Gryphaea  arcuata  im  unteren  Lias  ist  mäßig  groß, 
Gryphaea  cymbium  im  mittleren  Lias  stattlich. 
Ähnliche  Reihen  ergeben  sich  bei  Myophoria, 
Trigonia,  Inoceramus,  Pholadomya;  Nerinea,  Murex, 
Strombus,  Fusus,  Cypraea  usw.;  Spirifer,  Zeilleria, 
Pentacrinus,  Nummulites  usw. 

Andere  Formen  werden  in  den  verschiedenen 
Gegenden  zu  Kü  mm  er  formen;  z.  B.  Aucella 
im  russisch-sibirischen  Jura  groß,  im  zentralund 
westeuropäischen  Jura  klein,  ebenso  Cardioceras. 
Ganze  Faunen  verkümmern  nach  Art  der  rezenten 
Ostseefauna  infolge  Absperrung  von  der  offenen 
See.  Alte  Formen,  die  irgendwo  persistieren, 
kehren  vielfach  bei  Verschiebung  von 
Meer  und  Land  wieder;  z.  B.  Actinostromaria 
im  Cenocaen,  die  kaum  von  dem  paläozoischen 
seit  dem  Carbon  verschwundenen  Actinostroma 
zu  trennen  ist;  dasselbe  gilt  für  Chaetetiden  und 
Megalodon. 

Im  Gegensatz  dazu  treten  in  allen  Tiergruppen 
Dauertypen  auf,  die  in  einer  Gegend  lange 
ausharren  können;  Discina,  Lingula,  Atrypa  reticu- 
laris; Pecten  textorius  geht  bald  größer,  bald 
kleiner  durch  alle  Jurastufen  hindurch. 

Eigentümlich  ist  das  bank  weise  Vor- 
walten einer  oder  ganz  weniger  Arten 
auf  weiten  Flächen.  Heutige  Beispiele  sind  die 
Austernbänke  oder  in  Binnenmeeren  vom  Ostsee- 
charakter die  Cardien-  und  Mytilussaiide.  Fossil 
entsprechen  ihnen  die  Austernschichten,  Cardien- 
sande,  Paludinen-  undCongerienzonen  des  jüngeren 
Tertiärs,  die  Limabänke  des  VVellenkalkes;  ebenso 
den  muschel-  und  schneckenreichen  Küstenabsätzen 
der  Nordsee,  der  Atlantischen  Küste  und  des  Mittel- 
meeres entsprechende  Lagen  des  Pariser  Grob- 
kalks, mancher  Kreidevorkommen,  des  Malms 
N.-  und  S.-Deutschlands,  des  rheinischen  Unter- 
und  Mitteldevons.  Dagegen  gibt  es  Bänke  wie 
die  Fusulinenkalke  oder  die  Bänke  mit  Terebratula 
lagenalis  und  Rhynchonella  varians,  denen  wir 
heute  nichts  an  die  Seite  setzen  können. 

V.  Hohenstein. 

Zoologie.  Es  ist  bekannt,  daß  die  Kopffüßler 
(Cephalopoda)  unter  allen  wirbellosen  Tieren  allein 
die  Fähigkeit  der  Akkommodation  besitzen,  d.  h. 
sie  vermögen  je  nach  der  Entfernung  des  ge- 
sehenen Objekts  die  Refraktion  ihres  Auges  so  zu 
verändern,  daß  jedem  Objektpunkt  ein  Bildpunkt 
entspricht,  welcher  auf  die  Netzhaut  fällt;  sie 
können  also  Bedingungen  schaffen ,  wie  sie  für 
das  deutliche  Wahrnehmen  eines  zu  sehenden 
Gegenstands  erforderlich  sind.  Bei  den  Wirbel- 
tieren wird  die  Akkommodation  dadurch  erreicht, 
daß  die  Brechkraft  der  Linse  gesteigert  bzw. 
herabgesetzt  wird  durch  eine  Verkleinerung  bzw. 
Vergrößerung  ihres  Krümmungsradius. 

Im  ersteren  Fall  wird  die  Linse  stärker  ge- 
krümmt und  vermag  nun  auch  die  divergenten 
Strahlen,    welche  ein  naher  Objektpunkt    auf    die 


Linse  fallen  läßt,  auf  der  Netzhaut  zu  einem  Schnitt- 
punkt zu  vereinigen,  während  im  zweiten  Fall  die 
schwächer  gekrümmte  Linse  die  praktisch  parallelen 
Straiilen  eines  entfernten  Objektpunkts  zu  einem 
Bildpunkt  auf  der  Netzhaut  vereinigt.  Bei  den 
Kopffüßlern  aber,  deren  Linse  wie  bei  allen 
Wassertieren  nahezu  kugelig  ist,  weil  sie  gewöhn- 
lich nur  in  der  Nähe  deutlich  sehen  müssen,  er- 
leidet die  Linse  keine  Formveränderung  beim 
Sehen  in  noch  größerer  Nähe;  der  Schnittpunkt  der 
noch  stärker  divergierenden  Strahlen  eines  noch 
näheren  Objektpunkts  wird  dadurch  auf  die  Netz- 
haut gebracht,  daß  die  Linse  in  toto  durch  einen 
Akkommodationsmuskel  derselben  genährt  wird. 
Dasselbe  wird  dann  auch  mit  dem  Bild  geschehen 
und  dasselbe  auf  die  Netzhaut  fallen.  Ist  also  der 
Mechanismus  der  Akkommodation  des  Cephalo- 
podenauges  ein  anderer  wie  bei  den  Wirbeltieren, 
so  besitzen  doch  die  Kopffüßler  allein  von  allen 
Wirbellosen  die  P'ähigkeit  der  Akkommodation 
überhaupt;  ihre  Organisationshöhe  spricht  sich  ja 
auch  im  Bau  der  Netzhaut  der  zwei  großen  paarigen 
Augen  zu  beiden  Seiten  des  Kopfes  aus,  welche 
die  einzigen  Sehorgane  bilden  und  je  einen  Seh- 
nerven von  den  Hirnganglien  erhalten;  freilich 
sind  die  Schichten  der  ts'etzhaut  gerade  umgekehrt 
angeordnet  wie  bei  den  Wirbeltieren. 

Es  verdient  nun  unser  besonderes  Interesse, 
das  Verhalten  der  Kopffüßler  in  bezug  auf  das 
Sehen  am  lebenden  Tier  zu  studieren.  In  der 
Sitzung  der  Pariser  Akademie  der  Wissenschaften 
vom  12.  März  1917  berichtete  Maria  Goldsmith 
über  ihre  Versuche  bezüglich  der  Sinneswahr- 
nehmungen des  häufigsten  achtarmigen  Kopffüßlers, 
des  gemeinen  Seepolypen  (Octopus  vulgaris  Lam.) 
(C.  R.  Ac.  sc.  Paris,  Nr.   11,   1917). 

Das  Tastgefühl  ist  sehr  hoch  entwickelt,  und 
es  genügte  schon,  das  Wasser  des  Aquariums  zu 
bewegen,  um  die  Tiere  nach  einer  bestimmten 
Stelle  hin  zu  locken,  i — 2  Stunden  später  re- 
agierten sie  nicht  mehr  auf  die  Bewegung  des 
VVassers,  wenn  sie  dort  nichts  fanden,  sei  es,  weil 
sie  es  müde  wurden  dorthin  zu  schwimmen  oder  . 
weil  sie  die  Erfahrung  gemacht  hatten,  daß  dort 
nichts  zu  finden  war.  Wurden  die  Tiere  auf  eine 
bestimmte  Farbe  dressiert,  etwa  indem  ihnen 
gleichzeitig  etwas  Freßbares  und  ein  buntgefärbter 
Gegenstand  dargeboten  wurde,  so  bevorzugten  sie 
bei  späteren  Versuchen  jene  Körper,  welche  mit 
dem  ersten  gleichgefärbt  waren,  den  sie  früher 
beim  Futter  kennen  gelernt  hatten.  Sie  ließen 
sich  also  auf  eine  bestimmte  Farbe  dressieren, 
indem  sie  den  dadurch  ausgelösten  Sinneseindruck 
im  Gedächtnis  eine  Zeitlang  behielten;  sie  ließen 
sich  nur  höchstens  zweimal  vergeblich  anlocken, 
öfter  nicht.  Noch  besser  haftete  in  demselben 
eine  Tastempfindung.  Mit  den  Armen  Erfaßtes 
brachten  sie  zur  Mundöffnung,  ließen  es  aber  als- 
bald wieder  fallen,  wenn  es  nichts  Freßbares  war. 
Wenn  die  Tiere  die  Erfahrung  6  oder  7  mal  ge- 
macht hatten,  geschah  dies  sofort.    Die  Erinnerung 


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für  den  Tastsinn  büeb  8  Stunden  bestehen,  die 
für  den  Gesichtssinn  aber  nur  2  Stunden.  Ein 
Polyp,  welcher  eine  Erfahrung  schon  gemacht 
hatte,    benahm    sich    ganz  anders  als  ein  Neuling. 

Vier  Tiere  zeigten  insofern  Abweichungen 
voneinander,  als  die  einen  rascher  eine  Farbe 
wieder  erkannten  als  die  andern;  ebenso  schwankte 
die  Zeit  der  Erinnerung  zwischen  2  —  3  Stunden. 
Schwarz  und  Rot  wirkten  in  demselben  Grad. 
Bei  Versuchen  mit  blauen  und  roten,  roten  und 
grünen  Streifen  zeigte  sich,  daß  die  Erinnerung 
an  Rot  sich  rascher  festsetzte  als  die  an  Rlau. 
Wurde  eine  schwarze  und  eine  rote  Scheibe  zu- 
gleich dargeboten,  stürzte  sich  der  Polyp  auf  Rot. 

Zusammenfassend  sagt  G. :  Es  wird  Schwarz 
mit  Rot  nicht  verwechselt.  Es  können  sich  Asso- 
ziationen zwischen  einer  Farbe  und  dem  Futter 
bilden ,  auch  wenn  die  Farbe  normalerweise  in 
der  Umgebung  des  Tieres  nicht  vorkommt;  diese 
bleiben  aber  nur  kurze  Zeit  bestehen. 

Kathariner. 

Die  bombenwerfenden  Flieger  der  Natur.  Es 
ist  eine  besonders  den  deutsche  n  Ornithologen 
angehende  Frage,  die  H.  Krohn  im  IVIaiheft  der 
Ornithologischen  Monatsschrift  anschneidet,  denn 
fast  alle  Vogelarten,  um  die  es  sich  handelt,  ge- 
hören zu  denen  der  deutschen  Fauna  und  alle 
neueren  Beobachtungen  stammen  aus  Deutsch- 
land oder  dem  jetzt  von  uns  besetzten  Gebiet. 
„Vögel ,  die  ihre  Beute  zerschellen  lassen",  die 
hartschalige  Beutestücke  auf  Steine  fallen  lassen, 
um  sie  zu  zertrümmern  und  um  zu  dem  nahrhaften 
Inhalt  zu  gelangen.  Es  verlohnt  sich ,  die  in 
unseren  Naturgescliichtswerken  nur  unvollständig 
behandelten  und  noch  auf  Zweifel  stoßenden  Tat- 
sachen sich  einmal  zu  vergegenwärtigen  und  einige 
gewiß  zeitgemäße  Betrachtungen  daran  zu  knüpfen. 
Nach  Plinius,  berichtet  zunächst  Krohn,  sei 
Äschylos  durch  eine  Schildkröte  erschlagen  worden, 
die  ein  Adler  auf  den  kahlen  Scheitel  des  Greises 
herabgeworfen  habe.  Albertus  Magnus  be- 
richtet von  einer  kleinen  und  bunten  Adlerart, 
die  „Beinbrecher"  genannt  werde  und  die  Knochen 
verzehrter  Tiere  auf  Felsen  fallen  lasse,  um  das 
Mark  zu  gewinnen;  wahrscheinlich  sei  der  Schell- 
adler gemeint.  Eine  arabische  Sage  wolle  sogar 
von  einem  riesenhaften  Vogel  wissen,  der  es 
ebenso  mit  ganzen  Elefanten  mache. 

1909  sah  man  Krähen  in  Hamburg  öfter 
Knochen  in  die  Luft  emporführen  und  auf  die 
Glasdächer  der  Kunsthalle  fallen  lassen.  Größere 
Knochen  schlugen  glatt  durch.  Auch  ein  abge- 
brochener Schirmgriff  aus  Hörn  wurde  einmal  in 
dieser  Weise  abgeworfen.  An  der  Nordseeküste 
sieht  man  zu  anderer  Zeit  Krähen,  und  zwar 
Nebelkrähen,  Muscheln  so  oft  bis  30  m  hoch 
tragen  und  dann  auf  Steine  fallen  lassen,  bis  sie 
zerschellen  und  der  Inhalt  vom  Vogel  gefressen 
wird.  Ebenso  verfuhr,  nach  v.  Tschusi  zu 
Sc  h  m  id  h  of  f  e  n,  eine  Rabenkrähe  mit  einer 
Weinbergschnecke,    überhaupt    Krähen    auch    mit 


Fluß-  oder  Teichmuscheln  und  Walnüssen,  ge- 
legentlich mit  einer  Feldmaus.  Auch  vom  Kolk- 
raben liegen  entsprechende  Beobachtungen  vor, 
sodann  von  Möwen. 

Aber  Fitzinger  stellt  derartige  Berichte,  die 
sich  auf  den  Stelzengeier  beziehen,  als  Fabeln  hin, 
und  unser  Gewährsmann,  Krohn,  bezweifelt  bei 
den  vorher  erwähnten  Vögeln  die  Absicht,  die 
Beute  zu  zerschellen,  meint  vielmehr,  sie  entfalle 
dem  Vogel  nur  versehentlich  und  werde  mitunter 
vor  dem  Niederfallen  noch  wieder  ergriffen.  Die 
zum  absichtlichen  Zerschellenlassen  nötige  Treff- 
sicherheit könne  bei  keinem  Tier  vorausgesetzt 
werden,  „da  man  doch  weiß,  daß  der  Herr  der 
Schöpfung  in  seiner  Eigenschaft  als  bomben- 
werfender Flieger  bei  der  ganzen  Größe  seiner 
Vernunft  oft  nur  verhältnismäßig  geringe  Resul- 
tate erzielt."     Soweit  nach  Krohn. 

Obwohl  es  nun  gewiß  vorkommt,  daß  Krähen 
oder  Raubvögeln  ihre  Beute  versehentlich  entfällt, 
fügt  doch  C.  R.  Hennicke  als  Herausgeber  der 
Ornithologischen  Monatsschrift  den  kritischen  Aus- 
führungen K  r  o  h  n  '  s  sicher  mit  vollem  Rechte 
seinen  eigenen  und  Leege's  Beobachtungen  an 
Möven  an,  die  Muscheln,  Krebse  oder  Wellhorn- 
gehäuse  mit  Einsiedlerkrebsen  erbeutet  hatten, 
sowie  Reiser 's  Angabe  in  der  „Ornis  balcanica", 
daß  ein  Bartgeier  eitien  Knochen  oftmals  hinter- 
einander aus  ungefähr  80  m  Höhe  immer  wieder 
auf  einen  Felsen  fallen  ließ  und  schließlich  herab- 
kam und  den  Knochen,  den  er  im  Schnabel  hielt, 
durch  Anschlagen  gegen  einen  Stein  zu  zerhauen 
suchte.     Die  Absicht  ist   unverkennbar. 

Der  Bart-  oder  Lämmergeier  führt  bei  den 
spanischen  Hirten  den  Namen  Ossifraga  nach 
dieser  seiner  Gewohnheit,  die  auch  den  Tod  des 
Äschylos  herbeigeführt  haben  mag,  die  aber  von 
Naturforschern  noch  wenig  beobachtet  worden 
ist.  Daher  ist  sehr  beachtenswert,  was  neuer- 
dings Major  V.  V.  an  diesem  Vogel  in  Serbien 
feststellte  und  vor  etwa  Jahresfrist  in  der  Deutschen 
Jägerzeitung  mitteilte.  Oftmals  nacheinander  habe 
er  einen  solchen  Vogel  von  hohem  Gebirge  aus 
sich  etwa  300  m  hoch  erheben  und  einen  Gegen- 
stand, vermutlich  eine  griechische  Landschildkröte, 
fallen  lassen,  die,  soweit  erkennbar,  mit  erstaun- 
licher Treffsicherheit  immer  auf  dieselbe  Stelle, 
ein  Felsplateau,  fiel.  Der  Vogel  folgte  dem 
fallenden  Körper  in  großen  Kreisen  und  erneute 
sein  Spiel,  vielmehr  seine  Arbeit,  und  zwar 
machte  er  stets  vor  Abwurf  in  der  Luft  einen 
Augenblick  halt,  hob  die  Flügel  ein  wenig,  so 
daß  er  sich  etwas  senkte,  und  gab  dem  Wurf- 
körper noch  einen  Stoß  durch  Abstrecken  der 
Fänge. 

Hier  wurde  also  eine  erstaunliche  Treff- 
sicherheit und,  was  dem  entspricht,  eine  be- 
sondere Kunst  des  Abwerfe ns  unmittelbar 
beobachtet. 

Der  Vergleich  mit  dem  bombenabwerfenden 
menschlichen  Flieger  mag  naheliegend  erscheinen; 
wer   aber    in    heutigen  Tagen    oft  Flugzeuge  und 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Luftkämpfe  sieht,  wird  finden,  daß  dieser  Ver- 
gleich hinist  im  Verhältnis  zu  anderweitiger 
Tierähnlichkeit  der  jetzigen  Flugzeuge.  Auch  das 
geht  den  Naturforschern  an.  Denn  ach!  wie 
leicht  ist  es,  ein  Loblied  auf  die  fast  naturgleiche 
Vollkommenheit  unserer  Flugapparate  zu  singen. 
Von  nahe  gesehen,  hat  solch  eine  Maschine,  auf 
der  Erde  ruhend,  in  ihrer  Erscheinung,  sagen  wir 
in  ihrem  Körperbau,  ungemein  viel  von  der  Heu- 
schrecke, dabei  aber  lotrechte  und  wagrechte 
Schwanzflossen  wie  Fisch  und  Wal  zusammen, 
nebst  den  steifen  Tragflächen  des  fliegenden 
Käfers.  Die  Farbe  ist  wie  bei  Tieren  unterseits 
hell,  manchmal  himmelblau,  oberseits  gelände- 
farben,  meist  grün  und  braun  gewölkt,  also  aus- 
gesprochene Schutzfarbe.  Nur  Jagdflieger  wählen 
statt  dessen  öfter  auffallende  Trutzfatbe,  und  zwar 
um  so  auffallendere,  je  erfolgreicher  und  kühner 
sie  sind.  Das  bleibende  Element  in  der  Farbe 
ist  nur  das  „Artabzeichen",  bei  den  Deutschen 
das  Eiserne  Kreuz.  Luftkämpfe  erinnern  fabel- 
haft an  Bilder  aus  dem  Vogelleben,  bald  an  die 
Zweikämpfe  zwischen  Falke  oder  Krähe  und  Bus- 
sard, bald  an  die  Jagd  des  Habichts  auf  flüchtende 
Tauben. 

Jedem  unbefangenen  Betrachter  drängen  sich 
diese  Eindrücke  ungewollt  auf,  den  Zoologen 
fordern  sie  zu  biologischen  Betrachtungen  und 
Vergleichen  über  Anpassungen  heraus,  und  dem 
Naturbeobachter  bereitet  der  Anblick  von  Luft- 
kämpfen denselben  Naturgenuß  wie  entsprechende 
Vorgänge  im  Tierleben. 

Gern  wird  man  daran  die  auch  sonst  fest- 
stehende, wenn  selbstverständig  immer  nur  rela- 
tive  Vollkommenheit    dieser    vom    Menschen    ge- 


schaffenen Maschinen  ermessen  —  obwohl  der 
Mensch  nicht  eigentlich  die  Natur  nachahmen 
darf,  sondern  ihr  nur  bis  zu  gewissem  Grade 
selbständig  nacherfinden  kann  und  zum  Beispiel 
recht  daran  tut,  die  Gelenkigkeit  von  Flügeln 
und  Beinen  durch  die  um  ihre  Achse  rotierenden 
Propeller  und  Räder  zu  ersetzen,  Einrichtungen, 
über  die  die  Natur  ein  für  allemal  nicht 
verfügt. 

Wie  vollkommen,  und  wie  ganz  anders  als 
das  Geschütz,  das  mit  riesigem  Kraftaufwand 
hundert-  oder  tausendmal  fehlschießt,  mit  dem 
jetzt  das  blühende  Frankreich  von  den  eigenen 
Soldaten  und  ihren  Verbündeten  zu  Bruch  ge- 
geschossen  wird,  während  kaum  die  geringsten 
gewollten  Erfolge  erzielt  werden,  steht  ferner  das 
Flugzeug  als  Waffe  dal  Es  führt  ein  einziges  Ge- 
wehr und  einige  100  Patronen  mit  sich,  die  mit- 
unter kaum  angerissen  werden,  und  damit  wird 
der  Gegner  verjagt,  zur  Landung  gezwungen  oder 
zum  Absturz  gebracht. 

Gleichwohl  wird  man  von  vornherein  an- 
nehmen, daß  der  naturgeschafifene  Vogel  in  allen 
seinen  Verrichtungen  immer  noch  den  vom  Men- 
schen geschaffenen  erheblich  übertrifft  —  soweit 
solche  Abschätzungen  überhaupt  zulässig  sind  — 
und  was  nun  den  Flieger  als  Bomben werfer 
betrifft,  so  lehrt  das  oben  nach  v.  V.  Erwähnte, 
daß  hierin  der  Vogel  vor  dem  Flugzeug  weit 
voransteht.  Der  Hinweis  auf  den  Menschen  als 
Herrn  der  Schöpfung  hat  also  wieder  einmal 
zu  einem  P'ehlschluß  in  der  Beurteilung  des 
Tierlebens  geführt,  wie  es  ja  nicht  anders  sein 
kann.  V.  Franz. 


Bücherbesprechuugen. 


H.  Henning,  Der  Geruch.  VIII  u.  533  gr  8», 
Leipzig  1916.  Johann  Ambrosius  13arth.  — 
Geh.  15  M.,  geb.  17  M. 
Das  Werk  enthält  Forschungen,  die  in  der 
Zeitschrift  für  Psychologie  Bd.  73  ft".  durch  vier 
Nummern  schon  veröffentlicht  wurden,  bereichert 
durch  neu  hinzukommende  Abschnitte  besonders 
über  die  Reaktion  der  Tiere  auf  Riechstoffe.  Was 
dieser  Arbeit  unter  den  neueren  psychologischen 
Publikationen  unstreitbar  einen  besonderen  Wert 
verleiht,  ist  die  Vollständigkeit  in  der  Bewertung 
des  bisher  über  den  Gegenstand  Gearbeiteten,  die 
strenge  Durchführung  der  methodischen  Gesichts- 
punkte, die  reiche  Ernte  neuer  psychologischer 
Erkenntnisse,  schließlich  der  gründlich  durch- 
dachte Versuch,  das  elementare  Sinnesbild  neu  zu 
konstruieren.  So  ist  ein  Buch  entstanden,  das 
man  zurzeit  gerade  als  das  Werk  über  diesen  Teil 
des  Sinneslebens  bezeichnen  kann.  M.  E.  ist  unsere 
Kenntnis  des  psychologischen  Themas  durch  diese 
Studien  einen  entschiedenen  Schritt  weiter  geführt. 


Die  chemische  Unterlage  der  Henning  'sehen 
Theorie  zu  würdigen,  muß  ich  anderen  überlassen. 
Die  methodischen  Gesichtspunkte,  die  es  anwendet 
und  die  ihn  auf  ganz  neue  Bahnen  bringen,  muß 
man  anerkennen.  In  der  Frage  der  Einteilung 
war  man  bisher  so  ziemlich  bei  Linn6  stehen 
geblieben  und  eine  experimental-psychologische 
Prüfung  der  Geruchsqualitäten  ist  unterblieben. 
Sehr  treffend  ist  die  scharfe  Kritik  der  Klassi- 
fikationsmethode von  Zwaardemaker,  der  che- 
mische, psychologische  und  andere  Gesichtspunkte 
vermengt  und  sich  nicht  an  Selbstwahrnehmurgen 
hält.  Bei  den  von  ihm  selbst  vorgenommenen 
Versuchen  hielt  sich  Henning  fest  an  die 
Art  der  Aufgabe,  die  ja  eine  psychologische  ist 
und  die  das  Augenmerk  zuallererst  auf  die  Samm- 
lung eines  Erfahrungsmaterials  von  qualitativen 
Geruchserlebnissen  richten  mußte.  Sehr  wertvoll 
sind  in  dieser  Schrift  die  Selbstbeobachtungen, 
die  in  den  Aussagen  der  Vpn.  enthalten  sind. 
Ein    Hauptgewicht   wurde    gelegt    auf  das   bisher 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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etwas  vernachlässigte  unwissentliche  Verfahren. 
Zur  Frage  der  Geruchsmessung  wird  wichtiges 
vorgebracht.  Verf.  kritisiert  die  bisherigen  Me- 
thoden. Seinen  eignen  Versuchen  lag  eine  Messung 
nach  der  Gewichtsmethode  (Wolffsche  Flaschen) 
und  nach  der  Volummethode  (vgl.  d.  ehem.  Gaso- 
metrie)  zugrunde. 

Die  große  Leistung  Hs.  ist  vor  allem  die  neue 
Einteilung  der  Geruchsarten.  Eine  bestimmte 
Gliederung  der  psychologischen  Inhalte  wird  nach 
dem  Princip  der  Qualiiätsbeschaffenheit  durch- 
geführt und  damit  eine  Parallele  zu  dem  syste- 
matischem Aufbau  der  Farben-  und  Toneindrücke 
hergestellt.  In  dem  damit  bezeichneten  Sinne 
spricht  H.  von  Grundgerüchen  und  führt  als  solche 
die  folgenden  6  auf:  Würzig,  blumig,  fruchtig, 
harzig,  brenzlich  und  faulig.  Indem  er  den  ver- 
gleichenden Gesichtspunkt  festhält,  wird  er  zur 
bildlichen  Aufstellung  eines  sogenannten  Geruchs- 
prismas veranlaßt.  Jede  einzelne  Grundempfindung 
wird  durch  dieses  Modell  als  kontinuierlich  in 
jede  andere  übergehend  dargestellt,  während  die 
sechs  Ecken  die  Umkehrpunkte  der  Ähnlichkeits- 
richtung darstellen.  Die  sonstige  chemische  Be- 
schaffenheit der  riechenden  Substanzen  hat  bei 
dieser  Klassenordnung  nichts  zu  sagen,  aber  in 
der  innermolekularen  Bindung  besteht  für  alle 
Chemikalien  derselben  psychologischen  Geruchs- 
klasse die  gleiche  Eigenart.  Das  Entscheidende 
bei  der  qualitativen  Reizwirkung  wird  demnach  in 
dem  Bauplan  des  Moleküls  gesucht.  Im  übrigen 
werden  sehr  aufklärende  Untersuchungen  angestellt 
über  die  natürlichen  Reizbedingungen  für  die  Sinnes- 
erregung (Klima,  Tageszeit,  Vegetationsprozeß, 
Wasserdruck)  sowie  über  die  Vorgänge,  die  an- 
genommenermaßen in  dem  Riechorgan  stattfinden 
und  die  Empfindungen  erregen.  Nur  mit  zu  gutem 
Grunde  wird  der  Übelstand  der  Geruchsbezeichnung 
hervorgehoben.  Gerade  beim  Geruch,  der  unser 
empfindlichster  Sinn  ist,  werden  dadurch  eine  große 
Unsicherheit  und  allerlei  Irrungen  verursacht. 
Sehr  leicht  kommt  es  dazu,  das  man  einem  er- 
lebten und  eigentlich  richtig  erkannten  Eindruck 
einen  falschen  Namen  beilegt.  Beim  Riechen  wirkt 
der  vom  Bewußtsein  festgehaltene  Gegenstands- 
eindruck sehr  wesentlich  mit  zur  Ausprägung  des 
inhaltlichen  Sinneserlebnisses.  Das  Rauchen  mit 
geschlossenen  Augen  schmeckt  auf  die  Dauer  nicht. 
Hierbei  spielt  bekanntlich  die  innige  Verschmelzung 
mit  Reizwirkungen  anderer  Sinne  eine  wichtige 
Rolle;  Verf.  untersucht  sorgfältig,  wie  sich  Druck- 
empfindungen, Stich-,  Temperatur-  und  Ge- 
schmacksempfindungen am  Geruchserlebnis  be- 
teiligen können.  Besonders  die  Prüfung  des  letzt- 
genannten Punktes  führte  zu  einer  erheblichen 
neuen  Erkenntnis,  die  H.  dahin  zusammenfaßt, 
daß  der  enge  Zusammenhang  des  Geschmacks- 
und des  Geruchssinnes  nicht  das  Schmecken  mit 
der  Zunge,  sonden  nur  das  nasale  Schmecken 
betrifft. 

Einen  eigenen  Abschnitt  bei  jeder  Geruchs- 
psychologie   stellen     die    Verhältnisse     bei     den 


Mischungen  dar.  Auch  hier  bietet  H.  wesentlich 
neues.  Zunächst  ist  als  verdienstvoll  hervor- 
zuheben, daß  er  die  Z  waardemaker'sche 
Methode,  die  Riechstoffe  monorhin  darzubieten, 
durch  die  dirhine  Exposition  ersetzt,  die  den 
sinnlichen  Eindruck  entschieden  in  größerem 
Reichtum  hervortreten  läßt.  Im  allgemeinen 
konstatierte  H.,  daß  Mischungen  der  Gerüche  sich 
psychologisch  ziemlich  in  Analogie  mit  den  Tat- 
sachen auf  dem  Tongebiet  (bei  Zusammentreffen 
verschiedener  Tonhöhen)  verhalten,  daß  aber  die 
Gerüche  den  Farbenempfindungen  in  der  Rich- 
tungsveränderung ähneln,  die  in  der  Qualitätsreihe 
einsetzt.  Wenn  man  gleichzeitig  disparate  Riech- 
stoffe mit  den  beiden  Nasenlöchern  riecht  (bei 
sogenannten  dichorhinem  Riechen),  tritt  Wettstreit 
ein  oder  Unterdrückung  kann  stattfinden  —  nur 
die  intensivere  Komponente  wird  beachtet;  nie 
aber  fand  H.  bei  seinen  Versuchen  eine  Kompen- 
sation, und  er  bestreitet  die  Kompensation  in  dem 
Sinne,  daß  man  beim  Zusammenrücken  verschie- 
dener Riechstofte  erreichen  kann,  daß  überhaupt 
gar  nichts  gerochen  wird. 

Mehr  als  zuvor  wird  darauf  hingewiesen,  daß 
der  Empfindungsinhalt  beim  Riechen  im  ersten 
Stadium,  bei  fehlender  Übung  oder  unter  be- 
sonderen psychologischen  Umständen,  diffus  und 
unbestimmt  sein  kann.  Es  werden  feine  Beobach- 
tungen darüber  gemacht,  wie  bedeutungsvoll  es 
für  die  Wiedererkennung  sein  kann,  daß  der  be- 
treffende Riechstoff  mit  dem  ihm  zugehörigen 
Namen  reproduziert  wird.  Vieles  hat  dabei  die 
„Einstellung"  zu  sagen.  Bei  Mischungen  treten 
gut  bekannte  Gcruchskomponenten  viel  eindring- 
licher hervor  als  wenn  der  hervorgerufene  Teil- 
geruch wenig  bekannt  oder  fremd  erscheint. 
Minimum  perceptibile  muß  überhaupt  größer  an- 
gesetzt werden,  wenn  einem  die  Gerüche  un- 
bekannt sind.  Es  begegnet  hier  eine  sonderbare 
Spaltung  in  der  Stellung  des  Bewustseins  zur 
VVahrnehmung  des  Geruches,  indem  gelegentlich 
eine  Seite  der  Empfindung  als  bekannt  erscheinen 
kann,  andere  Seiten  hingegen  nicht.  H.  erörtert 
in  diesem  Zusammenhang  etwas,  das  er  F"remd- 
heitsqualität  bezeichnet.  Ob  das  nicht  auf  ein 
fehlendes  Vermögen  hinauskommt,  die  tatsächlich 
erlebte  Geruchsempfindung  mit  einem  anschau- 
lichen Bilde  des  gegenständlichen  Trägers  zu 
verknüpfen? 

Bei  der  Untersuchung  über  die  F'älle  einer 
angeblichen  Ermüdung  der  Geruchsempfindung 
wird  außer  der  tatsächlichen  Ermüdung  des  End- 
organs das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  er- 
klärend herangezogen.  Ein  eindringlicher  Geruch 
nimmt  in  störender  Weise  unsere  Aufmerksamkeit 
mit  Beschlag.  Dieser  Umstand  bewirkt,  daß  wir 
vorziehen,  uns  der  Nähe  zu  stark  parfümierter 
Personen  zu  entziehen.  Die  natürliche  Kapazität 
des  menschlichen  Sensoriums  ist  nicht  als  gering 
zu  bemessen.  Es  ist  nicht  erweislich,  daß  dem 
Geruchssinn  des  Menschen  Fähigkeiten  abgehen, 
die    dem    Tiere    zu    Gebole    stehen.      Die    beim 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Menschen  (und  Affen)  vorhandene  Rückbildung 
des  Zentralapparats  (im  Paläokefalon)  für  diesen 
—  sowie  für  andere  sogenannte  niedere  Sinne 
beweisen  noch  keine  Unterlegenheit  elementarer 
Art.  —  Manche  Eigentümlichkeit  in  der  subjektiven 
Gefühlswirkung  des  Geruches,  seine  vielfach 
variierende  Lust-  oder  Unlustbetonung,  steht  in 
merkbarer  Abhängigkeit  von  Rassenverhältnissen, 
was  der  Verfasser  durch  viele  Belege  veranschau- 
licht. Vielleicht  wäre  die  Vermutung  berechtigt, 
daß  bei  der  Sache  auch  die  Adaptation  mitspricht, 
die  ja  gerade  auf  diesem  Sinnesgebiete  eine  große 
Rolle  spielt. 

Wie  aus  dem  Obigen  schon  hervorgehen  wird, 
bietet  das  Werk  eine  Fülle  neuer  Beobachtungen; 
in  der  Tat  wird  fast  das  ganze  Feld  der  Psycho- 
logie von  H.  bearbeitet,  soweit  sich  Anknüpfungen 
mit  dem  Geruchserlebnis  ergeben.  P^in  Punkt,  der 
noch  weiterer  Erforschung  harrt,  betriff:  die  intern 
psychologische  PVage  von  der  Beziehung  dieser 
Sinnesempfindung  zum  Gefüiilsleben.  Die  Erre- 
gungen, um  die  es  sich  hier  handelt,  sind  quali- 
tativ reichlich  differenziert.  Gerade  beim  Geruch 
ist  die  qualitative  Mannigfaltigkeit  fast  unbegrenzt 
groß.  Zu  gleicher  Zeit  ist  eben  auf  diesem  Gebiet 
die  Beziehung  zur  Lust-Unlustempfindung  eine 
besonders  innige.  Bei  Gerüchen  wird  es  oft 
problematisch  sein,  ob  das  elementare  an  dem 
Erlebnis  nicht  gerade  die  sinnliche  Gefühlserregung, 
zumal  eine  Gemein-  oder  Organempfindung  ist. 
Der  psychologische  Inhalt  kommt  hierdurch  unter 
dem  Gesichtspunkt  der  von  Stumpf  angeregten 
Diskussion  über  die  Gefühlsempfindungen  —  ein 
Problem,  das,  soviel  ich  sehe,  vom  Autor  völlig 
unberührt  gelassen  ist. 

Um  so  erschöpfender  ist  seine  Erörterung 
der  übrigen  psychologischen  Streitpunkte.  Sein 
Werk,  das  auf  naturwissenschaftlicher  Grundlage 
baut,  ist  vor  allem  die  Leistung  eines  Psychologen 
und  enthält  gerade  für  die  psychologische  P"or- 
schung  wertvolle  Lehren.  Gestützt  auf  eigenen 
Experimenten  räumt  H.  mit  vielen  falschen  oder 
unsicheren  Urteilen  auf,  die  bisher  für  gut  und 
sicher  galten.  So  widerlegt  er  z.  B.  die  Behaup- 
tung, daß  mit  vergrößertem  Reiz  die  Empfindungs- 
stärke zunächst  steigt,  um  dann  wieder  zu  fallen. 
Das  Geschlecht  fand  er  in  keinem  Punkte  maß- 
gebend für  die  Feinheit  des  Sinnes;  das  entschei- 
dende liegt  an  den  Erfahrungen  des  Lebens.  Bei 
den  Erscheinungen  der  sogenannten  Parosmie 
bestreitet  er  das  Recht,  etwas  der  P'arbenblindheit 
analoges  aufzustellen.  Viele  angebliche  Anomalien 
sind  einfach  auf  mangelnde  Übung  zurückzuführen. 


Kein  Sinn  wird  dermaßen  vernachlässigt  wie  der 
Geruchssinn.  —  Schließlich  verdient  eine  Beobach- 
tung noch  erwähnt  zu  werden,  durch  die  H.  m.  E. 
die  allgemeine  Psychologie  um  einen  wesentlich 
neuen  Gesichtspunkt  bereichert  hat  und  zwar  auf 
einem  Sinnesgebiete,  daß  besonders  der  Auf- 
klärung bedarf,  nämlich  das  Gebiet  für  die 
sinnliche  Auffassung  der  Mannigfaltig- 
keit und  d  erReihen  folge.  H's.  Experimente 
drängen  ihn  zu  der  Ansicht,  daß  es  ein  allgemeines 
geruchliches  Nebeneinander  und  Hintereinander 
ohne  diejenigen  räumlichen  Charaktere  gibt,  die 
wir  bisher  aus  der  Raumpsychologie  kennen 
gelernt  haben.  Ein  derartiges  allgemeines  Neben- 
einander wird  empfunden  auch  wo  die  Geruchs- 
eindrücke uns  über  die  Lokalisation  nichts  melden. 
Anathon  Aall  aus  Kristiania. 

Hirt,  W.,  Dr.  PI  in  neuer  Weg  zur  Er- 
forschung der  Seele.  München  1917, 
E.  Reinhardt. 
Das  Buch  ist  einesjener  phantastischen  Gedanken- 
gebäude, die,  fern  von  jeder  gesunden  Skepsis  und 
kritischen  Philosophie  errichtet,  den  Anspruch 
machen,  wenn  nicht  alle,  so  doch  die  meisten 
Probleme  Himmels  und  der  Erde  durch  einige 
Zauberformeln  zu  lösen.  Ein  merkwürdiges 
Durcheinander  physikalischer,  psychologischer  und 
soziologischer  Begriffe  bildet  das  Baumaterial. 
Dabei  sind  diese  Begrifie  jedoch  nicht  etwa  hand- 
feste Ziegelsteine,  die  ihre  Gestalt  an  den  ver- 
schiedenen Ecken  des  Gebäudes  bewahren,  sondern 
schattenhafte  Nebelschleier  von  beliebiger  Dehn- 
barkeit und  Gestalt. 

Die  so  zutage  geförderten  Sätze  sind  zum  Teil 
reine  Wortassoziationen,  höchstens  bildhafte  Apho- 
rismen. Wenn  wir  noch  hinzugefügt  haben,  daß 
sehr  viel  zitiert  wird,  können  wir  die  Be- 
sprechung dieser  Publikation  schließen. 

Petersen. 


Literatur. 

Müller,  Prof.  P.  Joh.,  Kepler's  und  Newlon's  Gesetze 
über  die  Bewegungen  im  Sonnenrauni  im  Lichte  der  Strahlen 
und  Ätherdrucktheorie.  Wien,  Teschen,  Leipzig '16,  K.  Prochaska. 

Meißner,  C,  Das  schöne  Kurland.  Ein  deutsches  Land. 
München  '17,   R.  Piper  &  Co.  —  2,80  M. 

Hermann  v.  tielmholtz,  Zwei  Vorträge  über  Goethe. 
Braunschweig  '17,  K.  Vieweg  &  Sohn.     Feldausgabe.  —  So  Pf. 

Karl  Kräpelin's  Leitfaden  für  den  zoolo- 
gischen Unterricht  in  den  unteren  und  mittleren  Klassen 
der  höheren  Schulen.  I.  Teil;  Wirbeltiere.  7.  Aufl.  Be- 
arbeitet von  Prof.  Dr.  C.  Schäffer.  Mit  226  Textabbildungen 
und  drei  farbigen  Tafeln.  Leipzig  und  Berlin  '15,  B.  G. 
Teubner.  —  2,60  M. 


Inhalt I  J.  J.  Taudin  Chabot,  Zur  Bewertung  der  geistigen  Leistungen  von  Hund  und  Pferd.  S.  377.  Karl  Kuhn, 
Das  Coronium,  ein  unentdecktcs  Edelgas.  S.  381.  —  Einzelberichte:  H.  Scupin:  „Die  erdgeschichtliche  Entwicklung 
des  Zechsteins  im  Vorlande  des  Riesengebirges".  S.  383.  Richard  Härder,  Die  Ernährung  von  Blaualgen  durch 
organische  Stoffe.  S.  384.  Heinricher,  Der  Geotropismus  der  Mistel.  S.  385.  De  ecke,  Paläobiologische  Studien.  S.  386. 
Maria  Goldsraith,  Das  Verhalten  der  KopffülSler  in  bczug  auf  das  Sehen.  S.  3S8.  Krohn,  Die  bombenwerfenden 
Flieger  der  Natur.  S.  38g.  —  Bücherbesprechungen:  H.  Henning,  Der  Geruch.  S.  390.  W.  Hirt,  Ein  neuer 
Weg  zur  Erforschung  der  Seele.  S.  392.  —  Literatur:  Liste  S.  392. 


Manuskripte  und  Zuschriften 


iße 


en  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invali. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


erbeten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  22.  Juli  1917. 


Nummer  ä9. 


[Nachdruck  verboten.] 

Die  Seevögel  waren  es,  an  die  in  der  ersten 
bedeutungsvollem  Durchführung  die  Vogelzug- 
kunde ihre  sog.  Zugstraßentheorie  knüpfte.  Pal- 
men, der  schwedische  Forscher,  hatte  1876  in 
seinem  grundlegenden  Werke  „Die  Zugstraßen  der 
Vögel"  die  Lehre  gebracht,  den  bekannten  Satz, 
daß  jede  Vogelart,  die  für  den  Sommer-  und 
Winteraufenthalt  zwischen  zwei  Gebieten  regel- 
recht wechselt,  hierbei  eine  bestimmte  Straße 
habe,  von  der  sie  ohne  Not  nicht  abweicht.  Bei 
den  19  hochnordischen  Wasser-  und  Schwimm- 
vögeln, deren  Wege  den  Gegenstand  der  Pal  men- 
schen Untersuchung  gebildet  hatten,  kamen  haupt- 
sächlich die  großzügigen  Küstenlinien  als  Richt- 
male in  Betracht.  Ein  leicht  übersichtliches  Bild 
also,  das  man  nun  aber,  besonders  in  der  Laien- 
welt, nur  zu  sehr  ins  Allgemeine  zu  übertragen 
sich  gewöhnte,  indem  ein  so  einfacher,  gleich- 
mäßiger Verlauf  (bei  den  Landvögeln  an  Müssen 
und  ähnlichen  Leitlinien  entlang)  nach  und  nach 
für  die  Fernfahrten  von  so  ziemlich  allen  Zug- 
vögeln als  von  vornherein  selbstverständlich  an- 
genommen wurde.  Aber  nicht  nur,  daß  für  ge- 
wisse Überlandflieger  von  fachkundiger  Seite  — 
wie  es  heute  mehr  und  mehr  scheinen  will,  mit 
Recht  —  „ein  Ziehen  in  breiter  Front",  also 
ohne  die  gedachte  Weggebundenheit  geltend  ge- 
macht wird,  so  stellen  sich  nach  den  Ergebnissen 
der  neuern  F"orschungsmethoden,  der  Vogelwarten- 
beobachtung und  des  mit  ihr  Hand  in  Hand 
gehenden,  vom  Leiter  der  Vogelwarte  Rossitten, 
Prof.  Thienemann,  begründeten  Ringexperi- 
mentes, *)  auch  die  Zugverhältnisse  unserer  See- 
vögel teilweise  doch  etwas  verwickelter  dar. 
Aber  gerade  in  dieser  Mannigfaltigkeit  offenbart 
sich  uns  auch  hier  die  Gestaltungskraft  der  Natur 
in  ihrem  ganzen  Reiz  und  ihrer  Fülle. 

Am  buntesten  mutet  das  Wandergetriebe  der 
Möwen  an,  dieser  Charaktervögel  unserer,  wie 
überhaupt  der  Meeresküsten.  Von  der  Silber- 
möwe (Larus  argentatus)  weiß  man  jetzt,  daß 
sie  gar  kein  eigentlicher  Zugvogel  ist,  keiner 
wenigstens,  der  „nach  dem  Süden",  gar  bis  Afrika 
pilgert.  Über  die  Nord-  und  Ostsee  scheinen  die 
hier  beheimateten  nicht  hinauszugehen,  kaum  daß 
ein    vereinzeltes  Hinüberwechseln    von    der    einen 


Die  Wanderungen  unserer  Seevögel. 

Von  A.  WesemüUer. 


')  Von  der  Vogelwarte  Rossillen  und  Helgoland  werden 
bekanntlich  mit  der  Herkunftsbezeichnung  und  einer  Nummer 
versehene  Aluminiumringe  ausgegeben  und  eingefangenen 
Vögeln  um  den  Kuß  gelegt.  Über  On  und  Zeit  des  Auf- 
lasses  wird  genau  Buch  gefuhrt.  Es  kommt  nun  darauf  an, 
daß,  wenn  irgendwo  ein  solches  Tier  erbeutet  wird,  die  Warte 
dann  den  King  mit  Angaben  über  Ort  und  Zeit  der  Erbeutung 
zurückerhält.  Seit  Jahren  sind  auf  diese  Weise  wertvolle 
Aufschlüsse  über  den  Vogelzug  zustande  gekommen. 


in  die  andere  vorkommt,  wobei  dann  die  Grenz- 
scheide nicht  weit  überschritten  wird.  Die  größte 
Strecke,  auf  die  sich  eine  gleichwohl  noch  inner- 
halb des  Meeresbeckens  verbleibende  Ostseemöwe 
entfernte,  betrug  530  km.  Gelegentlich  der  großen 
Herbstzüge,  die  in  bunter  Folge  der  Arten  von 
den  russischen  Ostseeprovinzen  über  die  Kurische 
Nehrung  heranfluten,  war  sie  hier  gefangen,  um 
von  der  Vogelwarte  Rossitten  den  Nummernring 
zu  erhalten.  Nach  zwei  Monaten  hatte  sie  dann 
an  der  Ostküste  Seelands  (Dänemark)  das  Auge 
eines  Jagdschützen  erspäht,  durch  den  der  Er- 
kennungsring an  die  Warte  zurückkam.  Immerhin 
bei  einer  V\'egstrecke  fast  zweimal  so  lang  wie 
von  Hamburg  bis  Berlin  eine  ganz  ansehnliche, 
schon  wie  „Zug"  aussehende  Reise,  zumal  diese 
schon,  wer  weiß  wie  weit,  jenseits  Rossittens  be- 
gonnen hatte.  Doch  ist  es  ein  außergewöhn- 
licher Fall. 

In  der  Nordsee  sind  auf  dem  Memmert,  einer 
winzigen  Insel,  aber  viel  genannten  Vogelkolonie 
bei  Juist,  als  Nestlinge  gezeichnete  Silbermöwen 
im  zweitfolgenden  Winter  bei  Rotterdam  erbeutet 
worden,  vier  weitere  fand  man,  zwei  davon  vor 
Frost  oder  Hunger  verendet,  in  einem  Watt  der 
Niederlande  hinter  Ulrum,  Provinz  Groningen, 
wieder.  Die  Entfernung  bis  Rotterdam  beträgt 
260,  die  bis  Ulrum  nur  etwa  55  km.  Ein  Lieb- 
lingsziel zur  Sommerzeit  ist  scheinbar  die  Insel 
Texel,  Provinz  Nord-Holland.  Memmert-Möwen 
wurden  hier,  etwa  i  50  km  von  der  Geburtsheimat, 
wiederholt  festgestellt.  Eine  in  Dänemark  am 
Rinkjoebing  Fjord  erbeutete  Silbermöwe  wies  mit 
dem  Ring  am  Fuß  ihre  Herkunft  von  den  Färöern, 
ihre  dänische  Staatszugehörigkeit  also  über  260  km 
hin  nach.  Für  „Zugvögel"  sind  das  alles  keine 
großen  Entfernungen.  Deshalb  spricht  man  nun- 
mehr auch  lieber  von  Streifzügen  der  Silbermöwe. 
Die  Tiere  brüten  sogar,  wie  man  heute  ebenfalls 
mit  ziemlicher  Sicherheit  annehmen  kann,  in  der 
engern  Heimat,  wenn  nicht  in  derselben  Nist- 
kolonie wieder,  in  der  sie  das  Licht  der  Welt 
erblickten. 

In  starkem  Gegensatz  zu  diesem  Pfahlbürger- 
tum steht  die  Reiselust  der  Lachmöwen.  Sie 
machen  sozusagen  ganze  Weltfahrten  und  be- 
schränken sich  dabei  nicht  auf  die  bisher  immer 
angenommene  Leitlinie  der  Wasserkante.  Schon 
Palmen  zeigt,  daß  viele  von  der  See  zur  Rhein- 
Rhonestraße  abbiegen.  Das  Beringungsverfahren 
hat  ihm  recht  gegeben:  Von  Ro>sittener  Lach- 
möwen, die  also  das  gesamte  deutsche  Meeres- 
gebiet durchmaßen,  liegen  Ringfunde  vor  aus  dem 
Oberelsaß    vom    Rhein-Rhönekanal,    von   Bregenz 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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am  Bodeiisee,  von  der  Reede  von  Genf  und 
mehrere  von  der  Rhönemündung  (1700  km  von 
Rossitten  I).  Schon  am  Genfer  See  ist  ein  be- 
liebtes Winterquartier,  was  die  Anwohnerschaft 
leider  zu  recht  argen  Nachstellungen,  sogar  mit 
Gift,  veranlassen  soll.  Viele  bleiben  am  Golf  von 
Lion,  andere  aber  folgen  der  italienischen  Küste 
oder  der  durch  die  Baiearen  gewiesenen  Richtung 
und  gelangen   so  nach  Tunis  und  Algier. 

Die  an  der  Rheinmündung  ihren  westlichen 
Weg  fortsetzenden  Scharen  landen  teils  in  Eng- 
land, teils  an  den  Allantischen  Gestaden  Frank- 
reichs, von  wo  manche  noch  weiter  wandern 
nach  Portugal,  Spanien,  bis  Afrika.  Lauter  Ge- 
biete, aus  denen  unsern  Vogelwarten  Ringe  von 
Lachmöwen  zugingen,  die  in  den  verschiedensten 
Gegenden  der  Nord-  und  Ostsee  damit  gekenn- 
zeichnet waren. 

Zum  Mittelmeer  führen  nun  aber  auch,  allen 
bisherigen  Anschauungen  entgegen,  mancherlei 
Wanderwege  von  der  Ostsee  unmittelbar  südwärts 
über  das  F'estland,  indem  offenbar  Ströme  wie 
Elbe,  Oder  und  Weichsel  die  Anfangsrichtung  be- 
stimmen. Wir  haben  z.  B.  Ringfunde  in  einer 
Reihe  von  Königsberg  (Rossitten)  über  die  untere 
Weichsel,  Breslau  hin  bis  Wien,  daneben  aus  der 
Gegend  von  Berlin  (bei  Grünau  und  von  einer 
am  Möwenkäfig  des  zoologischen  Gartens  ange- 
flogenen Lachmöwe),  von  Dresden,  aus  Böhmen  und 
Mähren.  Weiter  südlich  dann  von  der  Donau  und 
Save,  die  eine  beliebte  Zugstraße  bilden,  darauf 
aus  der  Umgebung  von  Görz  und  Triest,  von  der 
dalmatischen  Küste  (Spalato)  einerseits,  andrer- 
seits von  der  Pomündung,  aus  den  Lagunen  von 
Venedig,  der  Provinz  Ravenna,  wo  viele  Möwen 
überwintern,  u.  s.  f.  Eine  Lachmöwe  durchquerte, 
wahrscheinlich  das  Eisacktal  benutzend,  sogar  die 
Alpen.  Sie  wurde  im  Trentino  erlegt.  Auf  dem- 
selben Wege  werden  sich  die  bei  München  und 
im  Inntal  erbeuteten  Lachmöwen  befunden  haben, 
die  ebenfalls  von  Beringungslaiionen  der  Ostsee 
aufgelassen  waren.  Daß  sie  auch  sonst  auf  ihrem 
Fluge  Gebirgsland  nicht  scheuen,  beweisen  ring- 
geschichtliche Stellen  in  den  Westalpen  am  Ufer 
der  oberen  Durance  und  in  den  Vorbergen  der 
Pyrennäen,  genau  in  der  Mitte  des  Festlands- 
bandes zwischen  dem  Golf  von  Biskaya  und  dem 
Mittelmeer. 

Die  Lachmöwe  unserer  Meere  ist  also  ein 
Seevogel,  der  seinen  Zug  wohl  am  Meere  entlang 
nimmt,  aber  sich  nicht  daran  bindet,  der  auch 
den  Flußläufen  folgt,  aber  sonst  in  bezug  auf  die 
Geländeart  nicht  immer  wählerisch  ist.  Nimmt 
man  hinzu,  daß  eine  auf  dem  Wörthsee  bei 
München  erbeutete  und  markierte  Lachmöwe  auf 
dem  Herbstzuge  nach  Norden  flog,  nämlich  den 
Rhein  abwärts  und  dann  an  der  Küste  entlang 
bis  Holland,  so  möchte  man  sagen :  Es  ist  weder 
ein  angeborener  Richtungssinn,  noch  von  vorn- 
herein eine  bestimmte  Landschaftsform,  welche 
hier  die  Wanderungen  leiten.  Vielmehr  scheinen 
dies    die    am    besten    sich    bietenden    Nahrungs- 


quellen, wenn  nur  in  irgendwie  gangbarem  Gebiet, 
zu  tun.  Wie  wenig  eine  andere  Gesetzmäßigkeit 
in  Frage  kommt,  beweist  der  Fall,  wo  fünf  auf 
dem  Möwenbruch  bei  Rossitten  als  Nestlinge  ge- 
zeichnete Lachmöwen  nach  wenigstens  zwei  ver- 
schiedenen Richtungen  mit  fünf  verschiedenen 
Zielen,  die  erreicht  wurden,  zu  gleicher  Zeit  aus- 
einander gepilgert  sind:  je  ein  Stück  nach  Ungarn 
und  Kroatien  und  je  eins  bis  Wesipreußen,  Eng- 
land und  sogar  über  den  Atlantischen  Ozean  nach 
Westindien.  Die  angedeutete  Rolle  der  Nahrungs- 
quellen bestätigt  folgender  außerordentliche  P'all: 

Bei  Ciwitz  m  Böhmen  auf  dem  hier  80— 90  m 
breiten  Flusse  Mieß  sind  Möwen  selten;  Wasser- 
vögel überhaupt  kommen  nur  auf  dem  Durchzuge 
an  und  rasten  hier  dann  nur  kurze  Zeit.  Infolge 
andauernder  Trockenheit  war  der  Wasserstand  ein 
recht  niedriger  geworden,  so  daß  unzählige  tote 
Fische  den  Spiegel  bedeckten.  Infolgedessen 
kamen  ein  paar  IVlöwen  zugeflogen,  am  dritten, 
vierten  Tage  einige  Haufen,  schließlich  Massen 
von  200  Stück,  die  über  dem  Flußbett  auf-  und 
abschwebten  und  in  ungefähr  einer  Woche  das 
ganze  Mahl  vertilgten.  Eine  aus  den  Schwärmen 
herausgeschossene  Lachmöwe  trug  einen  Er- 
kennungsring vom  Wörthsee  bei  München.  Also 
waren  es  Möwen  aus  einer  Richtung,  in  der  sonst 
die  vom  Wörthsee  nie  zu  ziehen  pflegen.  Nur 
die  am  Ort  plötzlich  auftauchenden  Futtermengen 
bestimmten  ihn  zum  Ziel.   — 

Ein  weniger  ausgeprägter  Zugvogeltyp  als  die 
Lachmöwe,  aber  in  dieser  Eigenschaft  doch  ent- 
wickelter als  die  Silbermöwe  ist  die  Sturm- 
möwe (Larus  canus).  Sie  streift  weiter  als  diese 
und  wandert  doch  nicht  so  ausschließlich  und 
regelrecht  wie  jene.  In  heißen  Sommern  siedeln 
manche  recht  zeitig  von  der  Ost-  zur  Nordsee 
hinüber.  So  erlebte  Helgoland  in  der  Gluthitze 
des  Jahres  191 1  eine  geradezu  „abnorme  Sturm- 
möwenüberschwemmung" (Angabe  von  Dr.  Wei- 
gold,  dem  Leiter  der  Vogelwarte  Helgoland). 
Sonst  findet  eine  stärkere  Verbreitung  nach  Westen 
erst  im  Herbst  oder  Spätherbst  statt,  auch  bei 
den  in  der  Nordsee  beheimateten.  Die  F"ahrt 
geht  dann  wohl  bis  Holland,  England  und  Frank- 
reich. In  West-Lynn  in  der  Grafschaft  Norfolk 
werden  zu  der  Zeit  wöchentlich  viele  Hunderte 
gefangen.  Obwohl  Rückmeldungen  von  Rossittener 
Beringten  von  der  Atlantischen  Küste  Frankreichs 
(Bucht  von  Morbihan)  und  eine  sogar  aus  dem 
Binnenlande,  von  Paris,  vorliegen,  scheinen  die 
Sturmmöwen  die  Nordsee  oder  doch  den  Ärmel- 
kanal im  allgemeinen  nicht  zu  überschreiten.  Auch 
in  der  Ostsee  bleiben  manche  den  Winter  über 
zurück,  wie  beringte  Beutestücke  von  der  Flens- 
burger Förde,  aus  Süd-Schweden  und  West- 
Dänemark  bezeugen.  Im  Vogelleben  Helgolands 
spiegelt  sich  das  periodische  Hin-  und  Zurück- 
fluten der  Massen  in  der  Weise  wider,  daß  An- 
fang April  z.  B.  ein  halbes  Tausend  gesichtet 
werden,  das  im  Mai,  offenbar  weiter  ostwärts 
sich  verteilend,  wieder  verschwindet.     Im  August 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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mehrt  sich  der  Zuzug  aufs  neue,  um  abermals 
abzuflauen,  bis  November  die  Rückwanderung  be- 
ginnt mit  der  Höchststeigerung  gegen  Ende  des 
Monats.  — 

Als  richtige  Weltenbummler  zeigt  uns  die  Be- 
ringungsmethode die  Heringsmöwen  (Larus 
fuscus).  Rossittener  Ringe  gelangten  durch  sie 
nach  Ungarn  (Saromberke  an  der  Marosch),  sowie 
bis  Belgrad,  ins  deutsche  Voigtland  (die  Umgebung 
von  Plauen),  nach  Süditalien  (Kalabrien)  und  je 
ein  Färöerring  nach  Mindelo  im  nördlichen  Por- 
tugal und  nach  Casablanka  in  Marokko.  Also 
ein  Auseinanderschweifen  fast  nach  allen  vier 
Winden.  Dabei  ist  aber  doch  eine  Vorliebe  für 
die  mehr  westliche  Zugstraße  zu  erkennen.  Wenig- 
stens liegen  eine  ganze  Reihe  Fundorte  anf  dieser 
Strecke,  von  Liebau  an  über  die  pommersche 
Küste,  auf  der  andern  Seite  über  Dänemark  und 
Schweden,  weiter  über  Holland  bis  zur  Atlanti- 
schen Küste,  an  der  entlang  jedenfalls  die  Färöerln 
von  England  aus  über  Frankreich  und  Spanien 
nach  Marokko  gelangt  ist. 

Von  der  Mantel-  und  der  Dreizehenmöwe 
(Larus  marinus  und  Rissa  tridactyla),  die  auch  in 
unseren  Meeren  vorkommen,  ist  nach  den  bis- 
herigen Untersuchungen  noch  nicht  viel  zu  sagen. 
Es  sind  die  Tiere  des  hohen  Nordens,  die  meist 
nur  den  Winter  bei  uns  verbringen.  Besonders 
die  zweite  Art  ist  von  Oktober  ab  bei  Helgoland 
ziemlich  häufig,  fliegt  von  Fischdampfer  zu  Fisch 
dampfer,  von  Kutter  zu  Kutter,  um  auf  Nahrungs- 
abfälle zu  warten.  Die  große,  schwarzflügelige 
Mantelmöwe  kommt  in  der  Ostsee  aus  hohen 
Breiten  hauptsächlich  bei  starken  West-  und  Süd- 
westwinden an,  also  halb  gegen  den  Wind.  Sie 
wandert  von  hier  auch  wohl  noch  westwärts  und 
sogar  bis  Südeuropa  und  darüber  hinaus.  Raub- 
möwen, die  unsere  Nordseegestade  besuchen  und 
unter  denen  die  auffälligste  die  Riesenraub- 
möwe (Stercorarius  catarrhactes)  mit  ihren  i '/^  m 
Flügelbreite  ist,  stammen  gewöhnlich  von  Nor- 
wegen, Grönland  und  Spitzbergen.  — 

Von  den  Aufenthaltsbewegungen  der  See- 
schwalben  in  der  Nordsee  gibt  uns  der  Leiter 
der  Helgoländer  Warte,  Dr.  W  e  i  g  o  1  d  ,  aus  einem 
der  letzten  Jahre  ein  interessantes  Bild.  Die 
Fluß-  und  Küstenseeschwalben,  die  in 
den  Zugverhältnissen  ziemlich  übereinstimmen, 
faßt  er  dabei  zusammen.  Im  Juli  sind  sie  alle 
noch  an  den  Brutplätzen.  Im  August  beginnt 
das  Umherstreifen,  das  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Monats  stark  zunimmt:  Ringmeldungen  von  der 
Unterelbe,  aus  Holstein,  von  den  nordfriesischen 
Inseln.  Um  den  24.  und  25.  treten  große  Mengen 
bei  Helgoland  auf,  wo  sie  zahllose  junge  Heringe 
finden,  wo  sie  aber  auch  zu  Hunderten  zu  Putz- 
und  Sportzwecken  geschossen  werden.  Zugleich 
ziehen  schon  zahlreiche  Scharen  südwestwärts 
über  See,  so  daß  unter  den  üblichen  Eingängen 
bei  der  Vogelwarte  die  aus  der  Nähe  Dünkirchens, 
von  Klippen  der  französischen  Küste  am  Pas  de 
Calais,  von  Yarmouth  in  England  nicht  überraschen. 


Massen  sind  aber  noch  geblieben,  die  in  böse 
Weststürme  geraten,  so  daß  bald  Ringe  von  weit 
nach  Ost  Verschlagenen  eintreffen,  aus  dem 
Mecklenburgischen  und  von  Rügen.  Die  nach 
Rügen  gelangte  und  eine  von  den  Mecklen- 
burgischen werden,  ein  Opfer  des  Wetters,  ver- 
endet aufgefunden.  Mitte  September  setzt  der 
Abzug  des  Restes  ein  bis  auf  einzelne  umher- 
.streifende,  von  denen  eine  Gezeichnete  im  Olden- 
burgischen am  Zwischenahner  Meer  und  eine  an 
der  Unterelbe  betroffen  wird.  Von  den  Fern- 
züglern geht  aber  inzwischen  schon  eine  Ring- 
botschaft aus  der  holländischen  Provinz  Groningen 
ein,  sowie  je  zwei  von  der  Somme  und  der  Seine- 
mündung, eine  von  Cherbourg  und  am  28.  Sep- 
tember eine  sogar  von  Lissabon.  In  Andalusien 
sollen  einige  Seeichwalben  schon  überwintern. 

Bei  den  Brandseeschwalben  (Sterna  can- 
tiaca)  liegen  die  Verhältnisse  ähnlich.  Nur  haben 
sich  ihre  Scharen  gegen  frühere  Zeiten  bei  Helgo- 
land sehr  verringert,  da  ihre  Futterzufuhren,  die 
Züge  der  Sprotten  und  Heringe,  hier  merklich 
im  Abnehmen  sind.  Auf  dem  Memmert  dagegen 
konnte  vor  kurzem  eine  Zunahme  um  das  Sieben- 
fache festgestellt  werden.  Eine  in  Holland  be- 
ringte war  bis  zur  Goldküste  Afrikas  geflogen. 
Da  ferner  eine  russische  von  der  Insel  Ösel  (Ost- 
seeprovinzen) auf  der  Unterelbe  geschossen  wurde, 
so  liegen  über  Seeschwalben  überhaupt  jetzt  be- 
stimmte Daten  vor  von  Kurland  über  die  Ost-  und 
Nordsee,  am  Atlantischen  Ozean  hin  bis  zum  Golf 
von  Guinea.  Die  Fortführung  des  Beringungs- 
verfahrens verspricht  jedenfalls  noch  wertvolle 
Aufschlüsse.  — 

Über  das  Verhalten  der  meisten  anderen  See- 
vögel zur  Zeit  der  großen  Umsiedlungen  weiß 
man  noch  nicht  viel.  Die  Stockente  (Anas 
boschas)  kehrt  im  Jahr  nach  der  Geburt  in 
Heimatnähe  zurück.  Herbstzügler  aus  Kurland 
und  Ostpreußen  strebten  westwärts,  bis  in  die 
Gegend  von  .Antwerpen  und  weiter,  ins  Innere 
von  Nordfrankreich  (Departement  Aube),  ebenso 
eine  Krikente  (Anas  crecca)  von  Föhr  zur 
französischen  Kanalküste.  Andrerseits  aber  endete 
eine  Ostpreußin  der  ersten  Art,  die  an  der  Weichsel 
entlang  gewandert  sein  wird,  bei  Olmütz  in 
Mähren  und  eine  Krikente  aus  dem  Gouverne- 
ment St.  Petersburg  in  Südungarn,  wo  sie  mit 
über  hundert  Stammesgenossinnnen  gelandet  war. 
Auch  die  Wege  der  Löffelente  (Spatula 
clypeata)  scheinen  von  Küsten-  und  Stromverlauf 
abzuhängen :  Ein  Ring  gelangte  mit  einer  solchen 
Ente  von  der  schwedischen  Insel  Öland  in  ein 
Teichgelände  der  Somme,  100  km  von  der  Mün- 
dung aufwärts.  Noch  weniger  haben  uns  bis 
heute  die  Brand-  und  Spießenten  von  ihren 
'Wanderungen  verraten.  Wissenschaftlich  merk- 
würdig wurde  eine  Pfeifente  (Anas  penelope), 
die,  mit  einem  Ringzeichen  von  Ulrum  versehen, 
auf  dem  See  Suolijärvi  in  Finnland  der  Kugel 
zum  Opfer  fiel  und  zwar  zur  Herbstzeit.  Sie 
hatte    sich    also    auffallenderweise    nordwärts    ge- 


39Ö 


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wandt,  bis  über  den  66.  Breitengrad  hinaus, 
30  Grad  östHcher  Länge  von  Greenwich.  Andere 
ihresgleichen  dagegen  bevorzugten  von  derselben 
Markierungsstelle  aus  die  Westrichtung  am  Ge- 
stade entlang,  wobei  eine  die  625  km  entfernte 
Seinemündung  erreichte.  Derselben  Heerstraße 
gehören  die  IVIassenflüge  der  Trauer-  und 
Sammetente  (Oidemia  nigra  und  fusca)  an, 
die,  über  Helgoland  kommend,  Mitte  Dezember 
an  der  holländischen  Küste  zu  ganzen  Myriaden 
anwachsen,  so  daß  Weigold  durch  ein  solches 
Gewimmel  einmal  dreiviertel  Stunden  lang  fuhr. 
Im  allgemeinen  kann  man  also  von  unseren 
Seevögeln  sagen,  daß  meistens  zwar  die  lang- 
gedehnte „Wasserkante"  unseres  Erdteils  ihre 
Zugstraßen  bestimmt,  daß  aber  die  Wanderflüge 
ins  Binnenland  und  auf  früher  weniger  beachteten 
Straßen  über  das  Festland  hinweg  durchaus  nicht 
verschwindende  Ausnahmen  bilden.  Die  große 
Zugbahn  Ost-West,  bzw.  Ost-Südwest  erfährt  zu- 
dem noch  manche  Verbreiterung  seewärts  wie 
landwärts.  Daß  die  Wege  der  nördlicher  brütenden 
Vögel  geradezu  senkrecht  zu  dieser  Linie  stehen, 
ist  selbstverstär.dlich  und  schon  früher  beachtet 
worden.  Die  Randlinien  Schwedens,  Norwegens 
und  F"innlands  lenken  ihren  auf  Süden,  im  Früh- 
jahr umgekehrt  eingestellten  Umzugsflug.  Vor- 
nehmlich sind  es  Alken,  Lummen,  Eider- 
enten, der  Papageitaucher,  Nordsee- 
taucher, die  Ringelgans  u.  ä.,  die  auf  diesen 
Straßen  ziehen  und  von  Herbst  bis  Frühjahr  in 
'der  Nord-  und  Ostsee  in  großen  Scharen  (im  Ok- 
tober bei  Helgoland  z.  B.  bis  zu  1500  Stück)  er- 
scheinen, manche  wie  die  Ringelgans  nur  auf  dem 


Durchzuge.  Auch  der  wilde  Schwan  (Cygnus 
musicus)  ist  in  Deutschland  vielfach  nur  Durch- 
zügler, überwintert  aber  auch  zahlreich  an  unseren 
Küsten. 

Zu  den  Seevögeln,  die  beim  Quartierwerhsel 
für  die  Hin-  und  Rückreise  verschiedene  Wege 
einschlagen,  zählt  unter  anderen  der  Große 
Brachvogel  (Numenius  arcuatus).  Er  kommt 
im  März  und  April  durch  Deutschland,  zieht  aber 
abwandernd  längs  der  Meeresküste.  Heere  von 
Tausenden  erfüllen  dann  bei  Norderney,  Helgo- 
land und  Sylt  mit  ihrem  lauten  Geschrei  die  Luft, 
in  der  Gewalt  des  Eindruckes  nur  noch  über- 
boten vom  Vorübersausen  der  Goldregen- 
pfeifer (Charadrius  apricarius),  die  gleichfalls 
beide  Strecken  ziehen,  in  der  größern  Zahl  jedoch, 
sowohl  März  wie  Oktober,  den  Seeweg  wählen. 
Von  den  sibirischen  Tundren  kommen  sie  in 
Legionen  herangewallt,  schreiend  und  in  raketen- 
artig sausendem  Flug,  so  daß  wohl  der  Jäger  auf 
der  Lauer  vor  Schrecken  das  Anlegen  des  Ge- 
wehres ganz  vergißt.  Leider  erliegt  dieser  schöne 
Vogel  aber  doch  massenweise  den  Nachstellungen, 
und,  trotzdem  er  noch  immer  in  riesenhaften 
Mengen  bei  Helgoland  erscheint,  kann  Weigold 
gegen  die  früheren  Zeiten,  wo  Gätke  noch 
Vogelwart  auf  der  Insel  war,  eine  merkliche  Ab- 
nahme der  „delikaten  Goldhühner"  feststellen. 
Wie  bei  so  mancher  Vogelart  hält  eben  die  Mord- 
waffe des  Menschen  gegen  die  schöpferische  Fülle 
des  Lebens  in  der  Natur  nicht  nur  gleichen 
Schritt,  sondern  weiß  sie  in  brutaler  Weise  an 
Macht  auch  noch  zu  übertreffen. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Das  Deutsche  Tierleben  in  der  verflossenen 
Kälteperiode').  Infolge  der  ungewöhnlich  strengen 
Kälie  im  vergangenen  Januar,  Februar  und  März 
hat  der  Wolf  öfter  als  in  sonstigen  Wintern  aus 
Rußland  nach  Ostpreußen,  namentlich  nach  Masureri, 
herüber  gewechselt.  — 

Vom  nutzbaren  Wild  ist  erfreulicherweise 
trotz  der  Fütterungsschwierigkeiten  nur  wenig  ein- 
gegangen, selbst  in  Gebirgen,  wie  im  Odenwald,  im 
Harz  und  in  der  Rhön,  wo  es  anscheinend  besonders 
wetterfest  ist.  Erfreulich  ist  das,  weil  infolge  der 
Fleischknappheit  die  Wildbestände  fast  überall 
stark  vermindert  sind  und  jetzt  ständig  für  Jagd- 
pachten utiglaublich  hohe  Preise  geboten  und  ge- 
zahlt werden,  die  wieder  herauskommen  sollen. 
Nur  vereinzelte  gefallene  und  schalenwunde  Stücke 
Rot-  und  Rehwild  wurden  gefunden,  vielleicht 
in  Westpreußen  zahlreichere;  Schwarzwild  war 
bloß    abgemagert.      Mehrfach    sind  die  Junghasen 


')  Nach  Berichten   der  „Deutschen  Jägerzeitu 
Mai  und  nach  anderen  Quellen. 


erfroren.  In  Wolhynien  wurde  am  25.  Februar 
ein  dreitägiger  Junghase  lebend  gefunden.  Also 
selbst  im  dortigen  rauhen  Klima  gibt  es  zeitige 
Hasensätze. 

Auch  F"asanen  haben,  zumal  bei  fehlender  Fütte- 
rung, natürlich  stark  Hunger  gelitten,  Rebhühner 
traf  man  gelegentlich  mit  erfrorenen  Ständern,  so 
daß  sie  unfähig  waren,  zu  laufen  oder  aufzufliegen; 
ebenso  einmal  ein  Teichhuhn. 

In  Bayern  gab  es  erfrorene  Stare,  „Drosseln" 
und  „Feldlerchen"  —  vermutlich  Amseln  und 
Haubenlerchen,  anderwärts  Buch-  und  Bergfinken, 
Goldammern,  Rotkehlchen,  Eisvogel,  Taucher, 
Teichhühner  und  Steinkauz.  Selbst  Krähen  lagen 
verendet  unter  den  Schlafbäumen. 

Die  Jagd  auf  Wassergeflügel  fiel  meist  gut 
aus,  da  Enten,  Gänse,  Säger,  Taucher,  Teich- 
hühner ')  und  in  Norddeutschland  Schwäne  zahl- 
reicher als  sonst  aus  Norden  herankamen  und 
die  ganzen  Scharen  der  Zug-  und  Standvögel  sich 

')  Keine  Art  gil(  heute  mehr  für  ungenießbar. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


397 


nach  Zufrieren  der  Seen  zur  Äsung;  an  den  wenigen 
eisfreien  Stellen  und  an  den  Ufern  sammelten. 
Höchstens  an  der  Küste,  wie  in  Ostfriesland,  fanden 
sie  auf  dem  offenen  Meere  eine  vor  Nachstellungen 
etwas  geschütztere  Zufluchtsstätte.  Durch  Hunger 
ermattet,  konnten  viele  von  den  Schwimmvögeln 
mit  der  Hand  gegriffen  werden.  Solches  etwa 
wird  berichtet  aus  Kurland,  Holstein,  Mecklenburg, 
Schlesien,  dem  bergischen  Lande,  vom  Rhein,  aus 
Belgien,  aus  Bayern.  Viel  Äsung  fand  die 
Vogelwelt,  Enten  und  Säger,  Möwen  und  Krähen, 
auf  den  Flüssen,  z.  B.  auf  dem  Rhein,  als  er  mit 
Eisschollen  bedeckt  war,  die  erfrorenes  Kleingetier 
vom  Grunde  nebst  Küchenabfällen  führten.  Zu 
Tausenden  fuhren  die  Vögel  auf  den  Schollen 
einige  Kilometer  stromab,  strichen  dann  wieder 
der  Strömung  entgegen,  und  so  fort.  Aber  immer 
mehr  engt  sich  der  offene  Strom  ein,  immer 
kleiner  wird  damit  die  Äsungsfläche,  schließlich 
steht  die  Eismasse  fest  und  wächst  stromaufwärts. 
Mit  ihr  wandern  stromauf  die  Vögel. 

Anderwärts  sah  man  Raubvögel  infolge  des 
verschärften  Daseinskampfes  sich  herbei- 
lassen, in  der  Nähe  des  Menschen,  namentlich  am 
frischen  Stallmist,  gemeinsam  mit  Krähen  zu  kröpfen. 
Krähen  setzten  Junghasen  hart  zu,  nahmen  auch 
zu  mehreren  einen  erwachsenen  Hasen  an.  Auf 
der  Maas  erschnappten  Krähen  Stare,  mit  denen 
sie  gemeinsam  auf  Eisschollen  trieben.  Da  keine 
Mäuse  hervorkamen,  hielten  sich  Falken  viel  mehr 
als  sonst  an  die  Kleinvogelwelt.  In  Hadmersleben 
wurde  ein  Mäusebussard  mehrmals  von  einem 
Stalldache  verjagt,  wo  er  sich  anscheinend  den 
Hühnern  zu  nähern  versuchte.  Bei  Mors  wurde 
beobachtet,  wie  ein  Mauser  eine  Elster  schlug. 
Sonst  ist  bekanntlich  der  Bussard  ein  träger  Vogel, 
der  sich  eher  von  Krähen  verjagen  läßt.  Ich  sah 
vor  etwa  i  V-i  Jahren  einen,  der,  offenbar  infolge 
ausgiebigen  Kröpfens,  so  faul  war,  daß  er  sich  von 
zwei  nacheinander  herankletternden  Krähen  und 
sogar  einer  Elster  in  den  Ständer  beißen  ließ, 
worauf  er  endlich  langsam  abstrich. 

Ein  einziges  Dompfaffen[)ärchen  hat  einen 
Kirschbaum  von  Knospen  leer  gefressen. 

Vor  den  Toren  einer  rheinischen  Stadt  er- 
schienen Großirappen,  und  in  den  Straßen 
Bacharachs  schlug  man  eine  Wildkatze  tot.  Der 
Fuchs  vergriff  sich  an  Schwänen,  wenigstens  an 
geflügelten,  und  hat  mehrfach  auch  seinesgleichen 
gerissen  und  gefressen. 

Alles  vierläufige  Raubzeug  hatte  ein  besonderes 
dichtes  Winterkleid  angelegt. 

Bei  der  Schnepfe,  die  kaum  vor  Mitte  März 
irgendwo  in  Deutschland  erschien,  hat  sich  der 
Frühjahrszug  an  den  meisten  Orten  von 
Ungarn  bis  Belgien  sicher  um  etwa  8  bis  14  Tage 
verspätet.  Auch  Schwalben  sah  man  verspätet 
eintreffen.  Während  der  vorangegangenen  kalten 
Monate  waren  zwar  einzelne  Schnepfen  da:  das 
sind  die  wenigen  Standschnepfen,  die  wir  all- 
winterlich haben. 


Viele  Schwimmvögel  rüsteten  ungewöhnlich 
spät  zum  Aufbruch  nach  Norden,  und  ein'ge  werden 
sich  wohl,  da  sie  bereits  legereife  Eier  trugen, 
ihrer  Gewohnheit  entgegen  zum  Bleiben  ent- 
schlossen haben. 

Sonst  ist  mir,  außer  vielleicht  vom  Osten,  aus 
Kurland,  nicht  sicher  bekannt  geworden,  daß  sich 
bei  größeren  oder  bei  kleineren  Vögeln  die  Zug- 
zeit in  diesem  kalten  Spätwinter  merklich  ver- 
schoben hätte,  vielmehr  fiel  in  mehreren  Gegenden 
auf,  daß  die  Kiebitze  zur  gewohnten  Zeit  in  den 
ersten  Märztagen  auf  den  noch  völlig  vereisten 
Wiesen  eintrafen.  Ungezählte  Mengen  sah  man 
in  Belgisch- Limburg. 

Hinwiederum  wurden  Standschnepfen  In  Belgien 
und  Kleiber,  Stare  und  Rotkehlchen  in  Deutsch- 
land in  Gegenden,  wo  sonst  fast  all  winterlich 
einige  ausharren,  diesmal  nicht  mehr  gesehen. 
Sie  kehrten  vielleicht  im  März  wieder  zurück. 
Anders  im  besetzten  Frankreich  mit  seinem 
bekanntlich  im  Durchschnitt  milderen  Klima. 
Ich  traf  am  27.  Januar  in  der  Gegend  von  Valen- 
ciennes  ein,  also  im  nördlichen  Nordostfrankreich, 
wo  der  Schnee  ebenso  wie  am  Rhein  und  etwa  halb 
so  hoch  lag  wie  im  Osten  Deutschlands.  Ohne 
viel  auf  die  Natur  achten  zu  können,  sah  ich  doch, 
daß  Stare  und  Rotkehlchen  auch  in  den  strengsten 
Wintertagen  trotz  der  für  diesen  Landstrich  ganz 
ungewohnten  Rauhheit  der  Witterung  hier  blieben. 
Die  Rotkehlchen  hielten  sich  viel  in  Höfen  am 
Erdboden  und  zeigten  kaum  mehr  Scheu  vor 
dem  Menschen.  .'\n  22.  März  durchritt  ich  bei 
heftigem  Schneeweiter  einen  Laubwald  und  befand 
mich  plötzlich  inmitten  von  fünf  laut  um  die 
Wette  balzenden  Rotkehlchenhähnen,  die  samt  den 
das  Gebüsch  durchschlüpfenden  Weibchen  mein 
Erscheinen  und  das  Wiehern  meines  Pferdes  nicht 
beachteten.  Zur  gleichen  Zeit  war  in  Nord- 
deutschland —  Lüneburg,  Leipzig  —  „noch  alles 
tot  und  still".  Das  ganze  Liebesleben  der  Vögel, 
auch  soweit  diese  schon  da  waren,  setzte  offenbar 
im  größten  Teile  Deutschlands  ziemlich  spät  ein. 
Bestimmt  wird  dies  von  der  Birkhahnbalz  mehr- 
fach berichtet.  Auch  sie  fand  gelegentlich  bei 
heftigem  Schneegestöber  statt. 

In  der  vom  Brocken  herabströmenden  Ilse,  die 
bis  auf  den  Grund  gefror,  ist  der  Forellenbestand 
schwer  geschädigt,  vielleicht  vollständig  vernichtet 
worden.  Ebenso  sind  verschiedentlich  in  Fisch- 
teichen viele  Karpfen  und  Aale  zugrunde  ge- 
gangen, sowie  sonstiges  Wassergetier  in  bis  zum 
Grund  gefrorenen  Kleingewässern.  Begreiflicher- 
weise erwachte  auch  das  lenzliche  Leben  der 
Lurche  und  Kriechtiere  allgemein  spät. 

V.  Franz. 


Bemerkungen  zur  Tonerzeugung  der  Schweb- 
fliegen. In  Nr.  II  der  Naturwissenschaftlichen 
Wochenschrift,  Jahrgang  1917,  erschien  eine  Ab- 
handlung von  Prof  Dr.  W.  v.  Reichenau  über 
den  „Gesang  der  Unsichtbaren  im  Föhrenwalde". 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Prof  V.  Reichenau  schreibt,  daf3  bei  den  Schweb- 
fliegen (Syrphus)  eine  richtige  Singstimme  vor- 
handen sei,  ein  willkürlich  ausgestoßener  Ton, 
kein  Flügelgeräusch. 

Im  folgenden  soll  erörtert  werden,  was  bisher 
vom  Tönen  der  Dipteren  bekannt  ist,  unter  Hin- 
zufügen eigener  Beobachtung. 

Wie  Landois  in  seinen  „Tierstimmen"  1874 
ausführt,  haben  wir  bei  den  Dipteren  3  Stimmen 
oder  Töne  zu  unterscheiden. 

1.  Ein  relativ  hoher  Ton  entsteht  durch  die 
vibrierenden  Flügelschwingungen,  die  ja  bei  den 
Dipteren  besonders  hoch  an  Zahl  sind,  z.  B.  bei 
Mücken  200— 300  mal  in  der  Sekunde.  Außer 
diesen  durch  Vibration  äußerer  Körperteile  hervor- 
gebrachten Tönen  unterscheidet  Landois 

2.  eine  Stimme,  die  von  den  Fliegen  und  Mücken 
durch  die  Stigmen  der  Brust  hervorgebracht  werden 
soll.  Er  hat  diese  Stimme  dann  bei  einzelnen  Fliegen 
untersucht,  z.B.  bei  der  Schlammfliege,  Stubenfliege, 
Dungfliege.  Nachdem  er  den  Rumpf  vom  Abdomen, 
dem  Kopf  und  allen  Anhängen  befreit  hatte,  tönte  der 
Rumpf  doch  noch  und  gab  einen  Laut  von  sich. 
Landois  meinte,  daß  diese  Stimme  nur  ein 
Respirationston  sein  könne,  der  durch  die  aus 
den  Stigmen  ausströmende  Luft  hervorgerufen 
werde,  die  hier  Stimmbänder  in  Schwingungen 
versetzen  sollten.  Er  führt  dies  noch  weiter  aus 
und  gibt  Zeichnungen  und  Beschreibungen  der 
kunstvoll  eingerichteten  Atmungsorgane,  die  diese 
Töne  ermöglichen  sollten. 

Als  3.  Ton  fand  er  dann  noch  bei  einigen  Fliegen 
einen  Vibrationston,  hervorgerufen  durch  eine 
Vibration  des  Kopfes;  hierdurch  wurde  ein 
Brummen  verursacht. 

Wir  hätten  also  bei  den  Dipteren  eine  drei- 
fache Stimmbildung,  erstens  Flügelschwingungen, 
zweitens  Respirationstöne,  drittens  Vibrieren  des 
Kopfes.  Der  Respirationstheorie  ist  dann  von 
verschiedener  Seite  entgegengetreten  worden.  Eine 
Zusammenfassung  der  ganzen  F"rage  in  kritischer 
Erörterung  findet  man  bei  Prochnow,  Die  Laut- 
apparate der  Insekten,  Guben   1907. 

Prochnow  beweist,  daß  ein  Respirationston 
bei  den  Dipteren  nicht  vorkommt,  daß  also  nicht  ein 
ausströmender   Luflstrom   ausgespannte   Häute    in 


den  Stigmen  in  Bewegung  setze,  sondern  daß  der 
Ton,  der  neben  dem  Schwirren  der  Flügel  er- 
klingt, durch  lebhafte  Kontraktionen  der  Flügel- 
muskeln hervorgerufen  werde,  die  auch  nach  dem 
Abschneiden  der  Flügel  noch  wirksam  bleiben 
und  den  gesamten  Thorax  in  Schwingungen  ver- 
setzen, „Schwingungen,  die  wegen  der  Elastizität 
des  Chitins  schneller  erfolgen  als  die  normalen 
Muskelkontraktionen  und  eine  größere  Höhe  des 
sekundären  Flugtones  bedingen,  als  sie  der  Haupt- 
flügelton aufweist". 

Hierzu  möchte  ich  nun  hinzufügen,  daß  ich 
Ende  Juli  1916  im  Eulengebirge  auch  Beobach- 
tungen über  den  Gesang  der  Dipteren  im  Walde 
anstellen  konnte,  und  zwar  bei  Syrphiden. 

Ich  hörte  damals  neben  dem  gewöhnlichen 
Ton,  der  durch  das  schnelle  Schwingen  der  Flügel 
hervorgerufen  wird,  einige  Male  einen  anderen 
Ton,  der  einen  ganz  anderen  Klang  hatte,  vielleicht 
am  besten  mit  einem  feinen  Klingen  einer  Saite 
verglichen  werden  konnte.  Er  blieb  mir  unerklär- 
lich, bis  ich  dann  bald  darauf  ihn  aus  einem 
Strauche  in  nächster  Nähe  hörte  und  hier  auch 
die  Ursache  entdeckte.  Eine  Schwebfliege  saß 
auf  einem  Blatte,  hatte  die  Flügel  angelegt  und 
saß  scheinbar  ganz  stille.  Bei  genauerem  Hin- 
sehen sah  ich,  wie  die  Halteren  in  rasender  Ge- 
schwindigkeit schwangen.  Durch  dieses  Schwingen 
wurde  der  feine  Sington  hervorgerufen.  Ob  nun 
der  feine  Ton  auch  während  des  Fluges  hervor- 
gerufen werden  kann,  kann  ich  nicht  entscheiden, 
aber  es  scheint  mir  nach  meinen  Beobachtungen  so. 

Jedenfalls  steht  hierdurch  fest,  daß  auch  dieser 
merkwürdige  Gesang  der  Syrphiden,  den  wohl 
auch  Prof  v.  Reichenau  beobachtet  hat,  nicht 
ein  Respirationston  ist,  sondern  ein  Vibrationston. 
Echte  Respirationstöne  sind  in  der  Insektenwelt 
bisher  wohl  nur  vom  Totenkopfschwärmer, 
Acherontia  atropos,  festgestellt  worden,  was  aller- 
dings auch  noch  bestritten  wird. 

Wieweit  dieser  sekundäre  Ton  der  Syrphiden 
im  Leben  der  Tiere  von  Bedeutung  ist,  steht 
nicht  fest.  Mir  will  es  nach  meinen  Beobach- 
tungen scheinen,  als  ob  er  ein  Anlockungs-  oder 
Verständigungsmittel  ist. 

Dr.  Hans  Lüttschwager. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Außerordentlich  interessante  Unter- 
suchungen über  die  Beziehungen  zwischen  der 
Wasserstoffionenkonzentration  von  Flüssigkeiten 
und  ihrem  sauren  Geschmack  sind  neuerdings  von 
Theodor  Paul  in  Ergänzung  seiner  in  dieser 
Zeitschrift  bereits  früher  erörterten  Arbeiten  über 
den  Säuregrad  des  Weines  von  physikalisch- 
chemischem Standpunkte    aus  ausgeführt    worden 


und      sollen      im      folgenden      kurz      besprochen 
werden.  *) 

Versuche,  die  Beziehungen  zwischen  dem  sauren 
Geschmack  und  der  sauren  Reaktion  von  Lösungen 
klar  zu  stellen,  sind  zwar  schon  von  verschiedenen 


')  Theodor  Paul,  Beziehungen  zwischen  saurem  Ge- 
schmack und  Wasserstoffionenkonzentration,  Ber.  d.  deutsch. 
Chem.  Gesellsch.,  Jahrg.  49  (1916),  S.  2124—2137. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


399 


Seiten  angestellt  worden,  haben  aber  zu  keinem 
schlüssigen  Ergebnis  geführt,  weil  die  physio- 
logischen Empfindungen,  die  hier  in  Betracht 
kommen,  außerordentlich  subtiler  Natur  sind  und 
der  Mensch  saure  Geschmacksempfindungen  nur 
innerhalb  sehr  enger  Grenzen  zu  differenzieren 
vermag;  auch  ist  es  nicht  möglich,  zu  sagen,  daß 
die  eine  Flüssigkeit  doppelt  oder  dreimal  so  sauer 
schmeckt  als  die  andere,  die  Angabe  muß  sich 
vielmehr  auf  die  qualitative  Aussage  beschränken, 
daß  diese  F^lüssigkeit  saurer  als  jene  schmecke. 
Hierzu  kommt  noch  eins:  Die  Versuche  sind  meist 
mit  wässerigen  Lösungen  reiner  Säuren  angestellt 
worden,  also  Flüssigkeiten,  auf  die  unsere  Ge- 
schmacksorgane überhaupt  nicht  eingestellt  sind, 
denn  auch  der  Geschmack  der  einzigen  Säure, 
mit  der  die  Zunge  des  Menschen  häufiger  in  Be- 
rührung kommt,  der  der  Essigsäure,  wird  wesent- 
lich durch  die  im  Essig  vorhandenen,  von  seiner 
Herstellung  herrührenden  aromatischen  Stoffe  be- 
einflußt. Paul  wählte  für  seine  Versuche  daher 
ein  zwar  recht  kompliziert  zusammengesetztes 
Material,  den  Wein,  das  aber  den  Vorteil  bot,  daß 
es  der  Zunge  des  Menschen  bereits  gut  bekannt  ist. 
Was  die  Säure  des  Weines  anbelangt,  so  sind, 
wie  Paul  in  Gemeinschaft  mit  Ad.  Günther 
bereits  früher  eingehend  nachgewiesen  hat,  zwei 
Dinge  zu  unterscheiden,  nämlich  einerseits  der 
nur  durch  physikalisch-chemische  Methoden,  wie 
die  Methylazetatkatalyse  oder  die  Zuckerinversion 
bestimmbare  Säuregrad,  d.  h.  die  aktuelle  Wasser- 
stoffionenkonzentration, und  der  Säuregehalt,  d.  h. 
die  Menge  Wasserstoffionen,  die  man  bei  der 
Titration  aus  dem  Wein  herausholen  kann  ').  Für 
die  Geschmacksprüfung  kommt,  da  die  Wasser- 
stoffionen beim  Schmecken  ja  wohl  nicht  ver- 
braucht oder  doch  rasch  wieder  ersetzt  werden, 
nur  der  Säuregrad  in  Frage,  und  dieser  schwankt 
nach  den  umfassenden  Untersuchungen  von 
Paul  beim  Wein  im  allgemeinen  zwischen  den 
verhältnismäßig  engen  Grenzen  von  0,17  bis  1,61 
mg  Ion  Wasserstoff  im  Liter.  Die  Weine,  deren  Säure- 
grad an  der  unteren  Grenze  liegt,  schmecken  über- 
haupt kaum  sauer,  diejenigen,  deren  Säuregrad  an 
der  oberen  Grenze  liegt,  sind  so  sauer,  daß  sie  kaum 
mehr  genießbar  erscheinen.  Das  Gebiet  von  0,17 
bis  1,61  mg-Ion  Wasserstoff  bezeichnet  also  ungefähr 
das  Säuregebiet,  das  die  Zunge  des  Menschen  zu 
beherrschen  vermag.  Paul  entsäuerte  nun,  um 
bei  den  geplanten  Geschmacksversuchen  von  jedem 
neben  dem  Säuregeschmack  vorhandenen  sonstigen 
Geschmack  des  Weines  unabhängig  zu  sein,  einen  und 
den  selben  Wein  durch  Zusatz  verschieden  großer 
Mengen  von  Dikaliumtartrat  K.X^H^Og- VaHjO -) 
und  erhielt  so  eine  Reihe  von  Proben,  die  sich 
in  geschmacklicher  Hinsicht  im  wesentlichen  nur 
durch  die  Menge  ihres  Säuregrades  unterschieden.  - 

')  Vgl.  Naturw.  VVochenschr.,  N.  F.  Bd.  14  (1915), 
S.  6u  — 634. 

2)  Die  entsäuernde  Wirkung    des  Dikaliumtartrats  beruht 

darauf,  daß  das   Weinsäureion  QH^O^ sich   zum  Teil  mit 

dem  VVassersloffion  H+   zu    dem    Ion  CiHjOoH—    verbindet. 


Diese  Proben  setzte  er  einigen  Fachleuten,  einem 
Kellermeister,  einem  Küfer,  einem  Weingroßhändler, 
sowie  einigen  besonders  weinverständigen  Privat- 
personen vor,  die  die  Proben  mit  ihrer  geübten  Zunge 
prüfen  und  in  der  Reihenfolge  abnehmenden  Säure- 
geschmacks anordnen  sollten.  Das  Ergebnis  dieser 
Versuche,  die  mit  drei  verschiedenen  Weinsorten 
mit  je  7  im  Durchschnitt  um  0,1  bis  0,2  mglon 
Wasserstoff  im  Liter  verschiedenen  Säuregradstufen 
durchgeführt  worden  ist,  war  durchaus  das  erwartete: 
Im  allgemeinen  wurden  die  Proben  in  der  richtigen 
Reihenfolge  angeordnet. 

Bestätigt  wurden  diese  Ergebnisse  durch  einen 
auf  der  letzten  Hauptversammlung  der  Deutschen 
BunsenGesellschaft  für  angewandte  physikalische 
Chemie  im  großen  durchgeführten  Versuch '): 
Den  —  im  Weinprobieren  natürlich  weniger  ge- 
übten —  Teilnehmern  der  Versammlung  wurde 
ein  sehr  saurer  Wein  mit  dem  enormen  Eigen- 
säuregrad von  1,80  mglon  H+  im  Liter  in 
ursprünglicher  F'orm  und  nach  der  mit  steigenden 
Mengen  von  Dikaliumtartrat  vorgenommenen  Ent- 
säurung  auf  0,95,  0,55  und  0,25  mg-Ion  H+  zur 
Prüfung  vorgesetzt.  Bei  der  Prüfung  ordneten  von 
62  Teilnehmern  37  (=6o''/o)  die  verschiedenen 
Proben  ganz  richtig,  [8  Teilnehmer  (=29"/,,)  be- 
gingen einen  und  nur  7  Teilnehmer  (=11"/^)  be- 
gingen zwei  Fehler  —  ein  überraschend  gutes 
Ergebnis.  Mg. 

Über  die  Herstellung  homogener  Wolfram- 
kristallfäden für  Glühlampen  referierte  auf  der 
letzten  Hauptversammlung  der  Deutschen  Bunsen- 
Gesellschaft für  angewandte  physikalische  Chemie 
Prof.  Dr.  W.  Böttger-  Leipzig.  Seinem,  soeben 
in  der  Zeitschrift  für  Elektrochemie  (Bd.  23, 
S.  121  — 126;  1917)  veröffentlichten,  höchst 
interessanten  Vortrage  sowie  auch  einem  kurzen 
Bericht  mehr  technischen  Charakters,  der  jüngst 
in  der  Elektrotechnischen  Zeitschrift  (Bd.  38, 
S.  234 — 235;  1917)  erschienen  ist,  sind  die 
folgenden  Mitteilungen  entnommen. 

Bisher  wurden  die  Wolframfaden  entweder 
dadurch,  daß  das  Wolframpulver,  das  bei  der 
Gewinnung  des  metallischen  Wolframs  zunächst 
immer  erhalten  wird,  bei  hoher  Temperatur  durch 
Hänmiern  zu  kleinen  Klumpen  verschweißt  und 
dann  durch  Walze-  und  Ziehprozesse  in  Drahtform 
gebracht,  oder  durch  „Spritzen,"  d.  h.  in  der 
Weise  hergestellt,  daß  das  feinverteilte  Metall  mit 
einem  geeigneten  Bindemittel  zu  einer  plastischen 
Masse  verarbeitet  und  dann  unter  hohem  Druck  durch 
Diamantdrüsen  hindurch  gepreßt  wurde.  Die  so 
erhaltenen  Fäden  wurden  nach  geeigneter  Vor- 
behandlung durch  einen  allmählich  gesteigerten 
elektrischen  Strom  bis  zur  Sinterung  erhitzt.  Hierbei 
erhalten  sie  ein  glänzendes  metallisches  Aussehen, 

')  Theodor  Paul,  Wissenschaftliche  Weinprobe  zur 
Feststellung  der  Beziehungen  zwischen  der  Stärke  des  sauren 
Geschmackes  und  der  Wasserstoffionenkonzentralion,  Zcilschr. 
f.  Elektroch.,  23  (1917),  S.  87—93. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


bleiben  aber  hart  und  spröde  und  zerbrechen  bei 
dem  Versuche,  sie  zu  biegen. 

Günstiger  als  Fäden  aus  reinem  Wolfram  ver- 
halten sich  Fäden,  die  unter  Zusatz  von  etwa  2''/o 
Thoriumoxyd,  aber  sonst  in  der  gleichen  Weise 
hergestellt  sind,  denn  sie  lassen  sich  über  eine 
ziemlich  scharfe  Kante  knicken,  ohne  zu  zerbrechen. 
Nun  aber  zeigte  sich  bald,  daß  die  mit  Thorium- 
oxyd hergestellten  Wolframfäden  diese  größere 
Festigkeit  nicht  gleichmäßig  über  ihre  ganze  Länge 
hin  besitzen,  es  ergab  sich  vielmehr,  daß  sich  in 
ganz  unregelmäßiger  Verteilung  neben  Stellen  von 
größter  Knickfestigkeit  Stellen  fanden,  an  denen 
der  Faden  bei  jedem  Knickversuch  in  zwei  Stücke 
zerbrach.  Diese  Tatsache  bildete  den  Ausgangs- 
punkt für  die  neuen  von  Direktor  Otto  Schaller, 
Dr.  H.  Orbig  und  Ingenieur  Elstner  von  der 
bekannten  Firma  Julius  Pint«ch  in  Berlin  aus- 
geführten, in  ihrem  Zielbewußtsein  mustergültigen 
Untersuchungen,  über  deren  ganz  eigenartige  und 
überraschende  Ergebnisse  im  folgenden  kurz  be- 
richtet werden  soll. 

Zunächst  schrieb  man  —  das  ist  ja  selbst- 
verständlich —  das  unregelmäßige  Auftreten  der 
Stellen  geringer  Knickfestigkeit  dem  Walten  des 
Zufalles  zu  und  suchte  sie  durch  ganz  besonders 
peinliches  Arbeiten  zu  vermeiden.  Indessen  ohne 
jeden  Erfolg:  die  schwachen  Stellen  treten  vor 
wie  nach  in  gleicher  Unregelmäßigkeit  auf. 

Dieser  unbefriedigende  Zustand  änderte  sich, 
als  die  Metallographie  zu  Rate  gezogen  wurde. 
Als  die  Fäden  nämlich  in  geeigneter  Weise  geätzt 
und  dann  im  Mikroskop  betrachtet  wurden,  stellte 
sich  heraus,  daß  sie  aus  einzelnen  unregelmäßig 
aneinanderstoßenden,  säulenförmigen  Kristallen 
bestanden.  Und  die  weitere  Untersuchung  ergab 
nun  sehr  rasch  die  Ursache  für  die  Unregelmäßig- 
keiten in  der  Festigkeit  der  Fäden:  Die  Kristalle 
selbst  besaßen  eine  hohe  Knickfestigkeit;  sie 
konnten  geknickt  werden,  ohne  dabei  zu  zerbrechen, 
äußerst  empfindlich  gegen  das  Knicken  aber 
waren  —  das  ist  ja  begreiflich  —  die  Stellen,  an 
denen  zwei  Kristalle  aneinander  stießen:  an  diesen 
Stellen  trat  bei  jedem  Knickversuch  sofort  Bruch  ein, 

In  den  Abbildungen  i  bis  3  werden  die  be- 
schriebenen Frscheinungen  im  Bilde  dargestellt. 
Abbildung  i  läßt  die  Stelle  deutlich  erkennen,  an 
der  zwei  Kristalle  aneinander  stoßen.  Abbildung  2 
zeigt  den  achteckigen  Querschnitt  der  Kristalle. 
Zu  diesem  Bilde  ist  aber  folgendes  zu  bemerken : 
Die  Fäden  haben  nach  der  Herstellung  einen  runden 
Querschnitt;  den  achteckigen  Querschnitt  erhalten 
sieerstdurchdenÄtzprozeß.  Die  der  Böttger'schen 
Abhandlung  beigegebenen  Abbildungen  sowie  die 
Beschreibungen  zeigen,  daß  dem  runden  Krystall- 
faden  ein  Bestreben  innewohnt,  auch  die  ihm  als 
Kristall  zukommende  äußere  F"orm,  die  Begrenzung 
durch  ebene  Flächen,  anzunehmen,  und  diesem  ja 
verständliche  Bestreben  durch  die  Ätzung  gewisser- 
maßen eine  Möglichkeit  zur  Betätigung  gegeben 
wird.  So  entsteht  ja  auch,  wenn  man  eine 
Kalkspathkugel    in    verdünnte    Säure    oder    eine 


Kochsalzkugel  in  Wasser  legt,  als  „Lösungskörper" 
ein  Rhomboeder  bzw.  ein  Oktaeder  oder  Würfel. 
Hierdurch  erklärt  sich  die  Abbildung  3,  die  einen 
zunächst  zur  Hälfte  weggeschliffenen  und  dann  zum 
Teil  angeätzten  Kristall  darstellt;  sie  läßt  deutlich 
den  halb  weggeschliffenen,  nunmehr  einen  halbkreis- 
förmigen Querschnitt  besitzenden  Teil  und  daran 
anstoßend  den  „Ätzkörper"  mit  seinem  charakte- 
ristischen achteckigen  Querschnitt  erkennen. 

Mit  der  Erkenntnis  der  Ursache    für  das  Auf- 
treten   der    knickempfindlichen    Stellen    war    das 


zunächst  praktisch  wohl  unlösbar  erscheinende 
Problem  gegeben,  die  Entstehung  verschiedener 
Kristalle  in  demselben  Faden  zu  verhindern,  d.  h. 
Fäden  herzustellen,  die  in  ihrer  ganzen  Länge  aus 
einem  einzigen  einheitlichen  Kristall  bestehen.  Dies 
Problem  ist  von  Schaller,  Orbig  und  Elstner 
in  folgender  Weise  gelöst  worden :  Der  gespritzte 
Faden  wird  nicht  mittels  des  elektrischen  Stromes 
gleichzeitig  in  seiner  ganzen  Länge  zur  Sinterung  ge- 
brannt, denn  in  diesem  Falle  entstehen  ja  gerade 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


401 


viele  einzelne  Kristallisationskeime  und  wachsen,  ein 
jeder  für  sich,  bis  die  groß  gewordenen  Kristalle 
zusammenstoßen,  sondern  er  wird  durch  äußere 
Erhitzung  zunächst  nur  an  einer  einzigen  Stelle 
erhitzt,  so  daß  sich  auch  nur  ein  Kristallkeim  bildet 
und  nun  schreitet  die  Erhitzung  langsam  in  der 
Länge  des  Fadens  fort,  so  daß  diesem  einen  Kristall- 
keim Gelegenheit  zum  Weiterwachsen  gegeben 
ist.  Praktisch  wird  dies,  wie  Abbildung  4  zeigt, 
in  der  Weise  ausgeführt,  daß  man  den  gespritzten 


geschwindigkeit  gerade  Schritt  hält.  So  wird  es 
tatsächlich  erreicht,  daß  der  zu  Anfang  gebildete 
Kristallkeim,  langsam  und  ohne  daß  sich  neue 
Kristallkeime  bilden,  in  den  gespritzten,  aus 
amorphem  oder  mikrokristallinem  Material  be- 
stehenden Faden  hineinwächst  und  als  Endergebnis 
schließlich  ein  einziger  homogener  Wolfram- 
kristall D  von  theoretisch  beliebiger  Länge  er- 
halten und  auf  der  Rolle  R  aufgewickelt  wird. 
Das  Wachstum  selbst  geht,  wie  Abbildung  5  zeigt, 


Abb.  3. 


Faden  F  durch  eine  mit  einem  indifferenten  Gase 
(Wasserstoff)  gefüllte  Heizkammer  K  laufen  läßt,  in 
der  er  zunächst  in  einer  Heizspirale  S  vorgewärmt 
und  dann  in  der  eigentlichen  Kristallisierzone  s, 
einer  auf  2400  bis  2600"  erhitzten  Wolframspirale 
zur  Kristallisation  gebracht  wird.  Die  Weiterbe- 
wegung des  Fadens  geschieht  mit  einer  Ge- 
schwindigkeit von  etwa  2V2  m  in  der  Stunde  und  ist 
so    geregelt,     daß    sie    mit    der    Kristallisations- 


in  der  Richtung  von  innen  nach  außen  vor  sich; 
die  —  im  Bilde  dunkel  erscheinende  —  Spitze 
des  wachsenden  Kristalls  schiebt  sich  wie  ein  Keil 
in  die  —  im  Bilde  hell  erscheinende  —  Masse 
des  noch  nicht  kristallisierten  Fadens  m. 

Die  Wolframkristalle  werden  in  der  Technik 
in  der  Länge  von  25  m  hergestellt;  ihre  Dicke 
beträgt  0,02  bis  1,00  mm.  Ihre  Zugfestigkeit  hat 
den  hohen  Wert  von  164  kg  pro  qmm,  und  sie 
sind  so  biegsam,  daß  man  sie,  ohne  daß  sie  zer- 
reißen, zu  festen  Knoten  schürzen  kann. 

Über  die  Bedeutung,  die  die  technische  Dar- 
stellung des  Kristallfadens  für  die  Glühlampen- 
Industrie  hat,  brauchen  nach  dem  Vorstehenden 
nur  wenige  Worte  gesagt  zu  werden.  Bei  einem 
gewöhnlichen,  nach  dem  aUen  Verfahren  her- 
gestellten Wolframfaden  wachsen  im  Laufe  der 
zahlreichen  Erhitzungen  während  des  praktischen 
Gebrauches  die  einzelnen  Kristallkeime,  und  der 
Faden  wird  dadurch  als  Ganzes  immer  empfindlicher 
gegen  zufällige  Stöße.  Bei  dem  Kristallfaden  aber, 
der  zur  Herstellung  der  Sirius-Metallfadenlampe 
dient,  kommt  gerade  dieser  unweigerlich  schließlich 
zu  Bruch  des  Fadens  führende  Faktor  nicht  in 
Betracht,  denn  der  Faden  besteht  ja  schon  aus 
einem  einzigen  langen  Kristall.  Also  wird  die 
Lebensdauer  des  Fadens  und  damit  die  Lebensdauer 
der    Glühlampe;    durch    diesen,    die   Lebensdauer 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  gewöhnlichen  Glühlampen  am  meisten  ab- 
kürzenden Umstand  nicht  beeinflußt.  Dazu  kommt, 
daß  die  in  gewöhnlicher  Weise  hergestellten 
Wolframfäden,  die  bei  niedriger  Temperatur 
erheblicli  starrer  als  die  verhältnismäßig  weichen 
und  duktilen  Kristallfäden  sind,  bei  der  hohen 
Temperatur  der  Glühlampe  weich  werden,  so  daß 
sie  sich  leicht  durchbiegen,  während  die  Kristall- 
fäden bei  der  hohen  Temperatur  der  brennenden 
Lampe  merkwürdigerweise  eine  größere  Starrheit 
als  bei  Zimmertemperatur  besitzen. 

Es  ist  sehr  dankenswert,  daß  die  Firma  Julius 
Pintsch  die  Veröffentlichung  ihres  Verfahrens  zu- 
gelassen hat;  es  ist  dadurch  eine  reiche  Quelle 
wertvollster  Anregungen  für  die  Wissenschaft  wie 
für  die  Praxis  erschlossen.  Mg. 


Eine  Reihe  von  sehr  interessanten  Verbindungen 
ist  in  letzter  Zeit  von  W.  Seh  lenk  und  seinen 
Schülern  dargestellt  worden,  über  die  im  folgen- 
den kurz  berichtet  werden  möge. 

Das  Triphenylmethylnatrium ') 
(CeH,)3C.Na 
entsteht  durch  Einwirkung  von  Natrium  in  Form 
von2''/jigemNatriumamalgamaufTriphenylmethyl- 
chlorid  {CgU^).^CC\,  das  in  vollkommen  trockenem 
Äther  gelöst  ist.  Die  Reaktion,  die  in  einer  At- 
mosphäre von  reinem  Stickstoff  vorgenommen 
werden  muß,  verläuft  nach  der  Gleichung 

(QHJ3CCI  +  2Na  =  (CgH5)3C-  Na  +  NaCl. 

Das  Triphenylmethylnatrium,  ein  Stofif  von  dunkel- 
orangeroter  Farbe,    der   vermutlich    der  chinoiden 


Strukturformel         , — [ 


C  = 


^Na 


entspricht  und  in  ätherischer  Lösung  Leitfahigkeits- 
messungen  zufolge  überraschenderweise  deutlich 
ionisiert  ist,  ähnelt  den  bekannten  Grignard'schen 
Magnesiumverbindungen,  ist  ihnen  aber  in  bezug 
auf  Reaktionsfähigkeit  weit  überlegen.  So  liefert 
es  mit  Benzoesäuremethylester  CgH^-CO-OCHj 
in  rascher  Reaktion  neben  Natriummethylalkoholat 
/9-Benzpinakolin : 

(CgH  JaCNa  +  CH3O .  CO .  C„H, 
=  (QHJsC .  COQH,  +  CH3  0Na. 

Mit  wenig  Sauerstoff  oder  Luft  geschüttelt  liefert 
seine  ätherische  Lösung  zunächst  Triphenylmethyl 
und  Natriumsuperoxyd 

(CeHJ^CNa  +  O^  =  (CeH.OgC  +  NaO.„ 


')  W.  Schlenk  und  E.  Marcus,  „Über  Metalladdi- 
tionen an  freie  organische  Radiljale",  Ber.  d.  deutsch,  ehem. 
Gesellsch.,  Bd.  47  (1914),  S.  1665  -  166S.  —  W.Schlenk  und 
RudolfOchs,  „Zur  Kenntnis  des  Ttiphenylmethylnatriums", 
ebenda,  Bd.  49  (1916).  S.  608—614. 


während  ein  Überschuß  des  Sauerstoffs  das  Tri- 
phenylmethyl selbst  natürlich  weiter  in  das  Super- 
oxyd  (CgH5)3C-02  verwandelt.  Kohlendioxyd 
absorbiert  es  unter  Bildung  von  triphenylessig- 
saurem  Natrium 

(QHg^CNa  -f  CO2  =  (C,H5)3C  •  CO.,Na, 

mit  Wasser  setzt  es  sich  sofort  unter  Bildung  von 
Triphenylmethan  um 

(CaHjlgCNa  +  H^O  =  (QHJaCH  +  NaOH. 

Bemerkenswert  ist  sein  Verhalten  gegen  Verbin- 
dungen mit  labilem  Wasserstoffatom,  da  es  mit 
ihnen  unter  Austausch  des  Natriums  gegen  Wasser- 
stoff Triphenylmethan  bildet,  z.  B. 

(CeH,)3C.Na-fCH«.C0.C,H, 
=  (CgHgigCH  +  CH3:C(ONa).OC2H6. 

Mit  Ammoniak  liefert  es  Triphenylmethan  und 
Natriumamid 

(QHj^CNa  +  NH3  =  (QH^^gCH  +  NaNH,,. 

Von  besonderem  Interesse  ist  sein  Verhalten  gegen 
Tetramethylammoniumchlorjd  N(CH3)4CI,  mit  dem 
es  in  glatter  Reaktion  das  Triphenylmethyltetra- 
methylammonium  (CuHg)3C-N(CH.5\ 

(CeH5)3CNa  +  ClXCCHg), 
=  NaCl-f  (C6H5)3C-N(CH3)j, 

die  erste  Substanz,  in  der  —  was  bislang  meist 
für  „unmöglich"  gehalten  worden  ist  —  alle  fünf 
Wertigkeiten  des  Stickstoffatoms  unmittelbar  an 
Kohlenstoff  gebunden  sind. ') 

Das  Triphenylmethyltetramethylammonium  ist 
ein  schön  kristallisierter  Stoff  von  leuchtend 
roter  Farbe,  der  sich  ähnlich  wie  das  Triphenyl- 
methylnatrium (siehe  oben)  durch  seine  große  Emp- 
findlichkeit gegen  Wasser,  Kohlendioxyd  und 
Sauerstoff  auszeichnet.  Mit  Wasser  liefert  es  Triphe- 
nylmethan   und    Tetramethylammoniumhydroxyd 

=  (QH5)3CH-f  (CHg^N-OH, 

mit  Kohlendioxyd  das  Tetramethylammoniumsalz 
der  Triphenylessigsäure 

(QH^lg  •  C  •  N(CH3 ),  +  CO.,  =  (C„H, ) .  CO  •  ON(CH3), 
und  mit  Sauerstoff  oder  Luft  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  Triphenylmethyl  (bzw.  Triphenylmethyl- 
superoxyd)  und  Tetramelhylammoniumsuperoxyd 
(CH3)4N-0.,.  Seine  Lösung  in  wasserfreiem  Pyridin 
leitet  den  elektrischen  Strom,  also  ist  der  Triphe- 
nylmethylrest,  eine  Erinnerung  an  die  Ammonium- 
valenz, an  das  Stickstoffatom  ionogen  gebunden. 
Die  Versuche,  in  ähnlicher  Weise  wie  das 
Triphenyltetramethylammonium  einfachere  Pen- 
taalkylverbindungen  des  Stickstoffs  darzustellen, 
setzte  den  Besitz  der  bisher  nicht  mit  Sicherheit 
bekannten    einfachen     Metallalkyle,     insbesondere 

')  W.  Schlenk  und  Johanna  Holtz,  „Über  eine 
Verbindung  des  Stickstoffs  mit  fünf  Kohlenwasserstoffresten", 
ebenda,  Bd.  49  (1916),  S.  603— 60S. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


403 


der  Alkalimetallalkyle  voraus.  Ihre  Darstellung 
gelang  *)  durch  Einwirkung  von  Natrium-  oder 
Litliiummetall  auf  die  schon  lange  bekannten 
Quecksilberalkyle,  z.  B. 

Hg(CH3)2  +  2Na  =  2Hg  +  2NaCH3. 
Diese  Reaktionen  erwiesen  sich,  wie  ja  auch  zu 
erwarten  war,  trotz  ihrer  einfachen  Formulierung 
als  recht  diffizil;  sie  mußten,  da  die  metall- 
organischen Alkaliverbindungen  ebenso  wie  das 
Triphenylmethjdnatrium  und  das  Triphenylmethyl- 
tetramethylammonium  gegen  Luft,  Feuchtigkeit 
und  Kohlendioxyd  äußerst  empfindlich  sind,  bei 
vollkommenem  Ausschluß  atmosphärischer  Luft  in 
einer  Atmosphäre  von  ganz  reinem,  trockenen 
Stickstoff  ausgeführt  werden.  Dargestellt  und  in 
reiner  Form  isoliert  wurden  die  Alkalialkyle 
NaCHa,    NaC,H„    NaQH,,    n  — NaCsH^,,    LiCHg 

und  LiCjHg, 
die  Alkaliphenyle 

NaCgHj,  und  LiQH, 
und  das  Natriumbenzyl 

NaCH.,.CoH5. 

Die  Natriumalkyle  sind  farblose,  amorphe, 
in  indifferenten  Lösungsmitteln  vollkommen  un- 
lösliche Pulver,  die  sich  beim  Erhitzen,  ohne  zu 
schmelzen,  zersetzen.  An  der  Luft  sind  sie  un- 
gemein entzündlich,  so  daß  sich  selbst  vom  Natrium- 
oktyl,  obwohl  die  Entflammbarkeit  mit  steigender 
Größe  des  Alkylrestes  abnimmt,  größere  Partikel 
an  der  Luft  sofort  entzünden.  Das  Lithiummethyl 
steht  den  Natriumalkylen  nahe,  das  Lithiumäthyl 
hingegen  ist  in  Benzol  und  Benzin  löslich  und  kann 
aus  diesen  Lösungsmitteln  in  Form  von  Kristallen 
mit  scharfem  Schmelzpunkte  erhalten  werden. 
Natrium-  und  Lithiumphenyl  gleichen  den  Natrium- 
alkylen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  das  Natriumbenzyl, 
denn  es  ist  ähnlich  wie  das  Triphcnylmethylna- 
trium  und  das  Triphenylmeihyltetramethylam- 
monium  ein  intensiv  roter,  kristallisierter  Stoff,  der 
das  Natrium  mit  ionogener  Valenz  an  den  Kohlen- 
stoff gebunden  enthält,  denn  seine  ätherische 
Lösung  leitet  den  elektrischen  Strom.  Mit  Kohlen- 
dioxyd liefert  er  phenylessigsaures  Natrium 

QH5 .  CH., .  Na  +  CO2  =  QH, .  CH.^  •  CO.,  Na, 
und  er  ist  auch  das  einzige  von  den  einfachen 
Metallalkylen,  das  bisher  ähnlich  wie  das  Triphe- 
nylmethylnatrium  mit  Tetramethylammonium- 
chlorid eine  Stickstoffverbindung  ergab,  an  deren 
Stickstoffatom  fünfKohlensloffatome  gebunden  sind: 
QH^ .  CHa  ■  Na  +  C1N(CH.,\ 
=  CeHg .  CHs, .  N(CH3),  +  NaCl. 

Auch  das  Benzyltetramethylammonium  ist  ein 
gegen  Sauerstoff  äußerst  empfindlicher,  leuchtend 


rot  gefärbter  Stoff.  Vermutlich  enthält  auch  er 
den  Benzylrest  in  ionogener  Bindung  an  den 
Stickstoff  gebunden.')  Mg. 

Physik.  Mit  der  Höhe  des  Nordlichts  be- 
schäftigt sich  eine  Arbeit  von  L.  Vegard  und 
O.  Krogness  in  den  Annal.  d.  Phys.  51,  S.  416, 
1916.  Die  Messungen  wurden  in  dem  auf  An- 
regung von  Prof  Birkeland  1911  — 13  auf  der 
Haiddespitze  im  nördlichen  Norwegen  erbauten 
Observatorium  (904  m  üb.  d.  Meere)  ausgeführt. 
Es  wurde  gleichzeitig  auf  2  verschiedenen,  tele- 
phonisch miteinander  verbundenen  Stationen  ein 
und  dasselbe  Nordlicht  photographiert.  Aus  der 
Lage  irgendeines  identifizierbaren  Punktes  in 
beiden  Aufnahmen  relativ  zum  Sternenhimmel 
und  dem  bekannten  Abstand  der  Stationen  (er 
betrug  zwischen  17  und  40  km)  läßt  sich  dann 
die  Höhe  dieses  Punktes  berechnen.  In  den 
Jahren  191 3  und  14  wurden  über  400  gute  paral- 
laktische  Aufnahmen  gewonnen,  deren  Auswertung 
natürlich  viel  Zeit  und  Mühe  kostete;  bis  jetzt 
ist  die  Lage  von  ca.  2500  Nordlichtpunkten  be- 
stimmt. Die  obere  Grenze  der  Nordlichter  ist 
gewöhnlich  unscharf  und  läßt  sich  daher  nicht 
sehr  genau  messen;  sie  schwankt  zwischen  lOO 
und  300  km.  Anders  die  untere  Grenze,  sie  ist 
meistens  außerordentlich  scharf  und  läßt  sich 
genau  feststellen.  Die  meisten  der  beobachteten 
Nordlichter  dringen  bis  zu  iio  bis  100  km  her- 
unter; als  tiefste  untere  Grenze  wurde  85  km 
festgestellt.  Und  zwar  gilt  das  gleichmäßig  für 
die  3  Hauptformen :  Bogen,  Draperien  und  dra- 
perieförmige  Bogen.  Ordnet  man  die  Nordlichter 
nach  der  Höhenlage  ihrer  unteren  Grenze,  dann 
ergibt  sich,  wie  schon  erwähnt,  daß  die  meisten 
zwischen  100  und  110  km  liegen;  weiter  zeigt 
sich,  daß  die  Höhe  lOO  km  und  106  km  besonders 
häufig  ist,  daß  also  zwei  Maxima  in  der  Ver- 
teilungskurve vorhanden  sind.  Diese  Tatsache 
führt  zu  folgender  Annahme:  ein  großer  Teil  der 
kosmischen  Strahlen,  die  die  Nordlichter  hervor- 
rufen, besteht  aus  2  Gruppen,  wovon  jede  eine 
ganz  bestimmte  Durchdringungsfähigkeit  besitzt. 
Da  alle  3  häufigsten  Nordlichtformen  diese  Maxima 
zeigen,  müssen  diese  Formen«  durch  dieselbe 
Strahlenart  verursacht  werden.  Seh. 

Über  Lichtenberg'sche  Figuren  veröffent- 
licht S.  Mikola  in  ^rThTsikal.Zeitschr.  (XVIII, 
S.  158,  1917)  Untersuchungen.  Auf  einer  Metall- 
platte, die  mit  der  äußeren  Belegung  einer  Leidener 
Flasche  verbunden  ist,  legt  man  eine  photogra- 
phische Platte,  auf  die  Schichtseite  derselben  eine 
zweite  Platte,  die  über  einer  Funkenstrecke  mit 
der  inneren  Belegung  der  Flasche  in  Verbindung 
steht.  Lädt  man  jetzt  (in  der  Dunkelkammer  bei 
rotem  Licht)  mittels  einer  Elektrisiermaschine  die 


')  W.  Schlenk  uad  Johanna  Holtz,  „Über  die  ein- 
fachsten melallorganischen  Alkylverbindungen",  ebenda,  Bd.  50 
(1917),  S.  262-274. 


■)  W.  Schlenk  und  Johanna  Holtz,    „Über  Benzyl- 
tetramethylammonium",   ebenda,    Bd.  50  (1917),    S.  274—275. 


404 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Flasche  und  den  ihr  parallel  geschalteten  Platten- 
kondensator auf,  bis  ein  Funke  die  Funkenstrecke 
durchschlägt,  und  entwickelt  die  Platte,  so  sieht  man 
auf  ihr  schöne  Lieh  t  en  berg' sehe  Figuren.  War 
die  obere,  der  Schichtseite  aufliegende  Elektrode 
negativer  Pol,  so  gehen  vom  Rande  desselben 
geradlinige  feine  Strahlenbüschel  wie  ein  feiner 
Haarkranz  aus;  war  sie  dagegen  positiv,  so  sind 
die  Büschel  länger,  breiter  und  verästelt.  Steigert 
man  die  Spannung,  bei  der  die  Entladung  erfolgt, 
so  nimmt  die  Länge  (Reichweite)  der  Streifen  zu. 
Übersteigt  sie  einen  bestimmten  Wert,  so  treten 
dort,  wo  die  Streifen  aufhören,  „Explosionszentren" 
auf,  d.  h.  von  bestimmten  Punkten  gehen  radial 
neue  Büschel  von  Strahlen  aus,  als  wenn  hier 
eine  zweite  punktförmige  Elektrode  angebracht 
wäre.  Bei  weiter  erhöiiter  Spannung  nimmt  die 
Zahl  dieser  Zentren  zu,  das  entstehende  Bild  wird 
dadurch  natürlich  verwickelter.  Das  Aussehen 
der  Figuren  wird  durch  Gestalt  und  Material  der 
Elektroden  und  durch  den  Charakter  der  Ent- 
ladung —  oszillatorisch  oder  nicht  —  keineswegs 
beeinflußt.  Wesentlich  für  das  Zustandekommen 
ist,  daß  die  Entladung  einen  disruptiven  Charakter 
hat,  daß  also  die  Spannung  plötzlich  von  einem 
hohen  Wert  auf  Null  sinkt  oder  umgekehrt  von 
Null  auf  einen  hohen  Wert  steigt.  Bei  der  dis- 
ruptiven Entladung  erleiden  die  Kraftlinien  eine 
plötzliche  Richtungs-  und  Geschwindigkeitsände- 
rung, diese  gibt  Veranlassung  zu  elektromagneti- 
schen Impulsen,  die  nun  die  am  Rande  der  Platte 
befindlichen  Luftmoleküle  in  Atomionen  und  Elek- 
tronen von  hoher  Geschwindigkeit  spalten.  Die 
Bahnen  dieser  korpuskularen  Strahlen  bringen  auf 
der  photographischen  Platte  die  Figuren  hervor; 
diese  sind  nach  dieser  Theorie  nichts  anderes  als 
Ionen-  und  Elektronenbahnen,  wie  sie  Wilson 
in  seinen  schönen  Versuchen  mit  Hilfe  von  Wasser- 
dampfkondensation sichtbar  gemacht  hat.  Daß 
die  Reichweite  mit  der  Spannung  zunimmt,  stimmt 
gut  zu  dieser  Erklärung,  ebenso  daß  die  Reich- 
weiten in  verdünnter  Luft  größer  werden  und 
daß  elektrische  Felder  eine  Ablenkung  der  Strahlen 
hervorrufen.  Daß  eine  solche  durch  magnetische 
Kräfte  nicht  nachgewiesen  wurde,  hat  namentlich 
darin  seinen  Grund,  daß  die  zur  Verfügung  stehende 
Feldstärke  zu  schwach  war.  Es  gelang  auf  empiri- 
schem Wege  eine  Formel  aufzustellen  über  die 
Beziehung  zwischen  Reichweite  und  Spannung. 
Daß  sich  dabei,  je  nachdem  ob  es  sich  um  posi- 
tive oder  negative  .Strahlen  handelt,  eine  ver- 
schiedene Gesetzmäßigkeit  ergibt,  deutet  darauf 
hin,  daß  die  positiven  und  negativen  Ionen  ver- 
schiedene Struktur  zeigen.  —  Wenn  die  Sekundär- 
spule eines  Teslatransformators  sprüht,  entstehen 
ganz  ähnliche  Bilder  wie  die  Lichtenberg'schen 
Figuren.  Seh. 

Botanik.  Eins  der  ältesten  und  bekanntesten 
Beispiele  für  Jungfernzeugung  im  Pflanzenreich 
ist   das  Armleuchtergewäclis,    Chara  crinita,    eine 


Süßwasseralge.  Wie  A.  Braun  schon  im  Jahre 
1856  nachwies,  sind  in  verschiedenen  Ländern, 
von  Algier  und  Arabien  hinauf  bis  nach  Schweden 
und  Finnland,  an  zahlreichen  Standorten  immer 
nur  weibliche  Pflanzen  gefunden  worden.  Er 
konnte  dann  aber  selber  zeigen,  daß  das  männ- 
liche Geschlecht  nicht  ganz  verloren  gegangen 
ist,  denn  bestimmte,  von  sehr  weit  zerstreuten 
Orten  stammende  Herbarproben  enthielten  auch 
männliche  Pflanzen.  Seither  gilt  Chara  crinita  als 
eine  zweihäusige  Pflanze,  die  fast  überall  durch 
die  Ungunst  der  Verhältnisse,  d.  h.  infolge  des 
Fehlens  der  Männchen,  „verwitwet"  ist  und  nur 
an  wenigen  Stellen  der  Erde  noch  in  normaler 
ehelicher  Gemeinschaft  leben  kann.  A.  Ernst 
gelang  nun  der  interessante  Nachweis,  daß  die 
Verhältnisse  etwas  anders  liegen. ')  Er  beschaffte 
sich  aus  verschiedenen  Ländern  einmal  die 
„Witwen"  und  dann,  und  zwar  aus  Ungarn  und 
Sizilien,  Pflanzenmaterial,  das  sowohl  weibliche 
als  männliche  Individuen  umfaßte.  Bei  dem  Ver- 
such nun,  die  weiblichen  Pflanzen  zu  befruchten, 
machte  er  die  überraschende  Entdeckung,  daß 
man  unter  den  Weibchen  zweierlei  Formen  unter- 
scheiden muß,  nämlich  solche,  die  nicht  befruchtet 
zu  werden  brauchen,  ja  sich  gar  nicht  befruchten 
lassen,  und  solche,  die  nur  nach  Befruchtung  reife 
Oosporen  entwickeln.  Erstere  sind  die  bekannten 
Formen,  die  von  den  verbreiteten  Witwenstand- 
orten stammten,  letztere  dagegen  Weibchen,  die 
an  dem  seltenen  ungarischen  und  sizilischen 
Standort  mit  Männchen  vergesellschaftet  sind. 
Beide  Arten  von  Weibchen  unterschieden  sich 
auch  durch  gewisse  morphologische  Merkmale 
und  besonders  dadurch,  daß  bei  jenen  der  Ei- 
behälter  nicht  die  eigentümliche,  die  Empfängnis- 
fähigkeit  befördernde  Lockerung  seiner  Hüllzellen 
erkennen  ließ,  wie  sie  bei  diesen  stets  eintrat, 
wenn  die  Eizelle  reif  war.  Überdies  ergab  die 
zytologische  Untersuchung  noch  den  weiteren 
Unterschied,  daß  jene  doppelt  so  viel  Chromo- 
somen besaßen  als  diese.  Die  Art  Chara  crinita 
besteht  also  aus  dreierlei  Formen,  geschlechtslosen 
Individuen  vom  Typus  der  Weibchen,  echten 
Weibchen  und  Männchen.  Die  gewöhnliche  Chara 
crinita  wird  demnach  zu  Unrecht  als  verwitwet 
bezeichnet,  da  sie  überhaupt  nicht  heiratsfähig 
ist.  Sie  kann  auch  nicht  im  strengsten  Sinne 
parthenogenetisch  genannt  werden,  ebensowenig 
wie  alle  übrigen  Fälle  unter  den  Blüten- 
pflanzen diese  Bezeichnung  verdienen.  Denn 
überall  handelt  es  sich  nicht  um  die  Weiterent- 
wicklung einer  sonst  befruchtungsfähigen  Eizelle, 
sondern  eigentlich  um  vegetative  Vermehrung,  die 
mit  Hilfe  einer  von  den  normalen  Eizellen  in 
ihrem  Chromosomenbestande  abweichenden  Ei- 
zelle bewirkt  wird.  Es  liegt  nach  der  Bezeich- 
nungsweise H.  Winkle r's  somatische,  nicht  aber 


')  Experimentelle  Erzeugung  erblicher  Parthenogenesis. 
Zeilschr.  f.  induktive  Abstammungs-  und  Vererbungslehre, 
Bd.  XVII,   1917,  S.  203. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


40s 


generative  Parthenogenese  vor.  Während  aber 
bei  den  partiienogeneti.-chen  Blütenpflanzen  die 
Eizellen  ebensoviele  Chromosomen  haben,  als  die 
Körperzellen  der  Pflanzen,  hat  Chara  crinita  in 
seiner  entsprechenden  geschlechtslosen  Form  zwar 
auch  in  Ei-  und  Körperzellen  gleichviel  Chromo- 
somen, es  sind  aber  doppelt  so  viel  als  die  in 
den  Ei-  und  Körperzellen  der  Geschlechtspflanzen, 
die  aber  wieder  unter  sich  gleich  viel  haben.  Die 
Reduktion  der  Chromosomen  muß  also  bei  nor- 
maler geschlechtlicher  Fortpflanzung  erst  beim 
Keimen  der  befruchteten  Eizelle,  der  Zygote,  ein- 
treten, am  Anfang  der  Entwicklung,  nicht  wie  ge- 
wöhnlich am  Ende  bei  der  Bildung  der  Geschlechts- 
zellen. Bei  der  ehemaligen  Entstehung  der  ge- 
schlechtslosen Form  ist  nun  wahrscheinlich  diese 
Reduktion  ausgefallen,  so  daß  sie  diploid  (d.  h. 
doppehchromosomig)  geblieben  ist.  Ob  dieser 
Ausfall  der  Reduktion  die  Ursache  der  Entstehung 
der  parthenogenetischen  Form  war,  ist  nicht  ohne 
weiteres  zu  entscheiden,  jedenfalls  gelang  es  dem 
Verfasser  nicht,  durch  experimentelle  Eingriffe  bei 
der  Keimung  befruchteter  Eizellen  die  Reduktion 
zu  verhindern  und  so  etwa  Pflanzen  von  der  Art 
der  „Witwen"  zu  erzielen.  Dagegen  gibt  er  in 
dieser  vorläufigen  Mitteilung  an,  daß  sich  unbe- 
fruchtete Eizellen  der  echten  Weibchen  künstlich 
zur  Forlentwicklung  bringen  ließen  und  wieder 
haploide  (einfachchromosomige)  Weibchen  lieferten, 
die  aber  befruchtungsfähige  Eizellen  hervorbringen. 
Inwieweit  dies  nun  eine  experimentell  erzeugte 
„erbliche"  Parthenogenese  sein  soll,  darüber  sowie 
über  manche  andere  PVagen  müssen  wir  die 
Belehrung  des  Autors  in  seiner  ausführlichen  Ab- 
handlung abwarten.  Miehe. 

Die  Ursache  der  Blütenstielkrümmungen,  wie 
sie  beispielsweise  an  den  nickenden  Blüten  des 
Mohns,  des  Maiglöckchens  usw.  auftreten,  ist  Jahr- 
zehnte hindurch  der  Gegenstand  von  Unter- 
suchungen und  Erörterungen  gewesen.  Auf  der 
einen  Seite  betrachtete  man  die  Krümmung  als 
aktive  Reaktion  auf  den  Schwerkraftreiz,  also  als 
eine  geotropische  Reizerscheinuiig;  auf  der  anderen 
glaubt  man,  daß  eine  passive  Lastkrümmung  vor- 
liege, die  nur  durch  das  Gewicht  der  Blütenknospe 
vorliegt.  Diese  zweite  Anschauung,  die  später 
besonders  für  den  Mohn  vertreten  wurde,  vermochte 
sich  der  ersten  gegenüber  zwar  nicht  zu  behaupten, 
wurde  aber  von  Wiesner  dahin  abgeändert,  daß 
er  eine  vitale  Lastkrümmung  annahm.  Hierbei 
sollte  zwar  die  Biegung  auch  mechanisch  durch 
das  Gewicht  der  Knospe  veranlaßt  werden,  aber 
das  gekrümmte  Organ  sollte  sich  nicht  wie  eine 
tote  Masse  verhalten,  sondern  durch  beschleunigtes 
Wachstum  auf  der  Oberseite  und  vermindertes. 
Wachstum  an  der  Unterseite  des  Blütenstiels  ant- 
worten und  die  anfänglich  passive  Krümmung 
fixieren. 

Neue  experimentelle  Untersuchungen,  die  Otto 
Bannert    im  Berliner  pflanzenphysiologischen  In- 


stitut ausgeführt  hat,  ergaben,  daß  die  Annahme 
Wiesner's  unbegiündet  ist.  Um  sie  zu  stützen, 
hatte  Port  heim  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Stiele  von  Maiglöckchenblüten,  aus  denen  er  zur 
Verminderung  des  Gewichts  Fruchtknoten  und 
Staubblätter  entfernt  hatte,  sich  bei  Inversstellung 
der  Blütenstände  nicht  oder  nur  unbedeutend 
krümmten.  Bannert  machte  nun  denselben  Ver- 
such, ersetzte  aber  die  ausgeschnittenen  Geschlechts- 
organe durch  Paraffinstückchen  von  gleichem  Ge- 
wicht und  fand,  daß  die  so  behandelten  Blüten- 
knospen 24  Stunden  nach  Inversstellung  der  Pflanze 
ihre  Lage  ebensowenig  verändert  hatten  wie  an 
der  gleichen  Pflanze  befindliche  kastrierte  Blüten 
ohne  Paraffingewicht,  während  die  unverletzten 
Knospen  sämtlich  abwärts  gerichtet  waren.  Nach 
48  Stunden  hatten  die  verletzten  Knospen  eine 
geringe  Abwärtskrümmung  ausgeführt,  doch  war 
ein  Unterschied  zwischen  den  paraffinführenden  und 
den  paraffinfreien  Blüten  nicht  zu  bemerken.  Das 
Ausbleiben  der  normalen  Krümmung  war  also 
keine  Folge  der  Gewichtsverminderung,  sondern 
entweder  eine  Wirkung  des  Wundschocks  oder 
der  Ausschaltung  der  geotropischen  Reizwirkung 
unter  den  neuen  Verhältnissen.  Daß  nicht  ein 
von  der  Schwerkraft  unabhängiges  Wachstum  der 
Oberseite  des  Blütenstiels  (Epinastie)  die  Krüm- 
mung verursacht,  bewiesen  Rotationsversuche  am 
Klimostaten,  wobei  die  Blütenstiele  der  (um  die 
horizontale  Achse  rotierenden)  Maiblume  vollständig 
gerade  blieben.  Auch  Kontrebalancierungsversuche 
wurden  angestellt,  derart  daß  das  Gewicht  einiger 
Blütenknospen  durch  Anbringung  von  Gegen- 
gewichten aufgehoben  wurde:  die  Stiele  krümmten 
sich  trotzdem.  Aus  allem  folgt,  daß  nur  der  Geo- 
tropismus der  Stiele  die  Krümmung  bewirkt.  Zu 
dem  gleichen  Ergebnis  führten  Versuche  mit 
den  Blütenstielen  einiger  anderer  Pflanzen,  wie 
Fuchsia,  Ipomoea  usw.,  auch  mit  Blütenstandsachsen 
von  Wimosa  und  Pelargonium.  In  allen  Blüten- 
stielen und  Blütenstandsachsen  wurde  übrigens 
stets  reichlich  Statolithenstärke  gefunden.  Sie 
war  meist  in  ein-  bis  mehrschichtigen  Scheiden, 
welche  die  Gefäßbündel  umgeben,  enthalten.  (Bei- 
träge zur  allgemeinen  Botanik,  Bd.  i,  S.  i — 43.) 
F.  Moewes. 


Paläontologie.  Über  die  Variation  der  Blatt- 
form von  Ginkgo  biloba  L.  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Paläobotanik  gibt  R.  Krause l  im  Central- 
blatt  für  Mmeralogie,  Geologie  und  Paläontologie 
19 17  Nr.  3  mancherlei  beachtenswerte  Anregungen. 

Ginkgo  biloba  L.,  der  ostasiatische  Tempel- 
baum, welcher  in  unseren  botanischen  Gärten  und 
Parkanlagen  mancherorts  gehalten  wird,  ist  in 
Japan  als  einziger  Vertreter  der  Gattung  Ginkgo, 
sowie  der  Ordnung  der  Ginkgoinae  und  der  Fa- 
milie der  Ginkgoaceae  zu  Hause.  Die  durch  ihren 
charakteristischen  Blattnervenverlauf  ausgezeich- 
neten Ginkgoinae  sind  seit  dem  oberen  Rot- 
liegenden in  zahlreichen  fossilen  Arten  von  Ginkgo 


4o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


und  verwandten  Gattungen  wie  Baiera,  Saportaea, 
Ginkgophyllum,  Ginkgodium  usw.  vertreten.  Be- 
reits Seward  und  neuerdings  Krau  sei  haben 
sich  mit  der  Frage  beschäftigt,  ob  diese  zahl- 
reichen Arten  zu  Recht  aufgestellt  sind,  da  auch 
der  lebende  Baum  sehr  stark  in  seiner  Blattform 
variiert.  Seward  hat  den  spezifischen  Wert 
vieler  fossiler  Arten  angezweifelt,  die  ein  Analogen 
in  manchen  bei  Ginkgo  biloba  beobachteten  Formen 
finden.  Er  zieht  Ginkgo  digitata  Heer  und  Ginkgo 
Huttoni  Sternb.  zusammen  und  zeigt,  daß  auch 
die  Abgrenzung  von  Ginkgo  und  Baiera  nach  der 
Blattform  willkürlich  und  im  Bau  der  Frukti- 
fikationsorgane  nur  wenig  verschieden  sei. 

Ginkgo  biloba  weist  nicht  selten  Abweichungen 
des  Blattes  von  der  Normalform  auf  Alle  Über- 
gänge von  völlig  ganzrandigen  Blättern  über  die 
Normalform  zu  mehr  oder  weniger  ganz  zer- 
schlitzten Blättern  kommen  vor.  Man  beobachtet 
dies  in  Ostasien  aber  ebenso  auch  an  den  außer- 
halb der  Heimat  wachsenden  Bäumen  wie  an 
gärtnerisch  gezüchteten  Exemplaren.  Kommer- 
zienrat  Hesse,  der  Inhaber  der  bekannten  Baum- 
schulen in  Weener  (Hannover)  beobachtete  an 
jungen  Sämlingen  und  einjährigen  Pflanzen  sehr 
häufig  tiefgeschlitzte  Blätter,  während  bei  Blättern 
mehrjähriger  Zweige  oft  auch  der  mittlere  Ein- 
schnitt ganz  vernarbt.  Verschiedene  abweichende 
Blätter  könnten  so,  wenn  sie  fossil  vorliegen 
würden,  zu  Ginkgo  antarctica  Sap.  oder  G.  Hut- 
toni, ja  einige  sogar  zu  Baiera  gestellt  werden. 

Da  der  Artbegriff  von  den  meisten  Faläo- 
botanikern  äußerst  streng  gefaßt  wird  und  die 
Variationsmöglichkeiten  schon  des  IVIaterials  wegen 
vielfach  nicht  berücksichtigt  werden  können,  so 
kommt  Krau  sei  zu  dem  Resultate,  daß  mehrere 
der  auf  Blattreste  hin  aufgestellten  Arten  ginkgo- 
ähnlicher Pflanzen  ihr  Analogon  innerhalb  der 
rezenten  G.  biloba  finden.  Zum  Schlüsse  wird 
die  verwirrende  Fülle  fossiler  Arten  kritisiert,  die 
oft  das  Zusammenarbeiten  von  Botanik  und  Paläo- 
botanik  erschwert.  V.  Hohenstein. 


Die  Fossilführung  des  Zechsteins  von  Nieder- 
schlesien behandelt  im  Anschluß  an  die  Unter- 
suchungen von  H.  Scupin  (vgl.  die  vorige  Nr.  der 
Naturw.  Wochenschrift)  dessen  Schülerin  Hertha 
Riedel  in  einer  Hallenser  Dissertation   1917. 

Das  Gebiet  des  Unteren  Zechsteins  zer- 
fällt in  eine  Z  w  e  i  sc  h  al  e  r  faz  i  es,  für  welche 
ein  fossilführender  Sandstein  charakteristisch  ist 
.(SO.,  Katzbachgebiet)  und  eine  Brachiopoden- 
fazies  (N.,  Gröditzbergj.  Eine  Vermischung  beider 
Faunen  mit  einem  Vorherrschen  der  Brachiopoden- 
fazies  zeigt  sich  im  Queiß-Neiße  Gebiet.  Veran- 
schaulicht wird  dies  vor  allem  durch  das  Leit- 
fossil Productus  horridus,  das  im  Katzbachgebiet 
fast  ganz  fehlt,  in  den  nördlicher  gelegenen  küsten- 
fernen Gebieten  von  Gröditzberg  und  dem  Queiß- 
Neiße-Gebiet  aber  vorherrschend  wird.  Auffallend 
ist,    daß    diese    Charakterform    des   Zechsteins    in 


Schlesien  nur  auf  den  Unteren  Zechstein  beschränkt 
bleibt,  während  sie  in  Thüringen  auch  im  Mitt- 
leren Zechstein  vorkommt.  Arm  an  Versteine- 
rungen ist  das  östliche  und  westliche  Bobergebiet. 
Scharfe  Leitfossilienhorizonte  durch  ganz  Schlesien 
kommen  nicht  vor,  dagegen  konnten  örtlich  durch 
das  Vorherrschen  einer  Art  die  den  Unteren  Zech- 
stein abschließenden  Gervillien-Sch.  in  der 
Zweischalerfazies  und  dieProductusbank  in 
der  nördlicher  gelegenen  Brachiopodenfazies  aus- 
geschieden  werden. 

Der  Mittlere  Zechstein  mit  seinen  dolo- 
mitischen Kalken  und  Letten  ist  fossilärmer; 
häufiger  kommt  Schizodus  Schlotheimi  var.  trun- 
cata  und  Liebea  Hausmanni  vor.  Ein  Faziesunter- 
schied {."^t  nicht  mehr  vorhanden. 

Im  Oberen  Zechstein  tritt  Schizodus  ro- 
tundatus  sowohl  im  Plattendolomit  wie  in  den 
roten  Zwischenschichten  durchweg  leitend  auf 

Da  der  schlesische  Zechstein  das  östlichste 
Vorkommen  in  Deutschland  ist,  so  lag  der  Ge- 
danke nahe,  seine  Fauna  gegen  die  russische  ab- 
zuwägen. Die  Untersuchungen  von  H.  Riedel 
konnten  indessen  keine  Beziehungen  zur  russischen 
Fauna  feststellen,  da  auch  sämtliche  in  Schlesien 
nachgewiesenen  Versteinerungen  ebenso  in  Thü- 
ringen vorkommen.  V.  Hohenstein. 

Medizin.  Es  war  den  Militärärzten  der  fran- 
zösischen Feldarmee  schon  1914/1915  aufgefallen, 
daß  in  gewissen  fern  voneinander  gelegenen  und 
gar  nicht  miteinander  zusammenhängenden 
Schützengräben  eine  typische  Erkrankung  der 
Füße  vorkam ,  auch  bei  Personen ,  welche  nur 
kurze  Zeit  dortselbst  verweilt  hatten.  Alles 
sprach  dafür,  daß  man  im  Schützengrabenfuß 
(Pied  de  tranchee),  wie  die  Affektion  von  den 
Militärärzten  genannt  wurde,  eine  Infektionskrank- 
heit vor  sich  habe.  Die  Krankheit  äußerte  sich 
zuerst  in  einer  Entzündung  der  Zehen,  namentlich 
der  großen  Zehe,  hatte  aber  im  schlimmsten  Fall 
nur  einen  Verlust  derselben  durch  Amputation 
zur  Folge.  Als  ursächliches  Moment  hatte  man 
im  Anfang  das  Erfrieren  der  Füße,  das  tagelange 
Stehen  im  kalten  Wasser,  sowie  die  mangelhafte 
Blutzirkulation  in  den  vom  Schuhwerk  einge- 
schnürten Füßen  in  Verdacht;  daß  man  aber 
damit  fehl  ging,  ergab  sich  mit  aller  Sicherheit 
daraus,  daß  bei  den  in  dieser  Beziehung  doch 
gleich  gestellten  Besatzungen  der  Schützengräben 
anderer  Gegenden  die  typische  Erkrankung  fehlte; 
sie  war  offenbar  eine  lokalisierte  Infektions- 
krankheit. 

Im  Winter  1916/17  trat  sie  in  einer  besonders 
schweren  Form  bei  den  Arabern  und  namentlich 
den  Sudannegern  in  der  französischen  Feldarmee 
auf  In  zwei  Fällen  galt  sie  sogar  als  die  direkte 
Todesursache.  Wie  mikroskopische  Befunde  und 
Kuliuruntersuchungen  zeigten,  wird  der  ,, Schützen- 
grabenfuß" durch  einen  dem  Erdboden  entstammen- 
den   Pilz,    Sterigmatocystis    versicolor,    verursacht. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


407 


Derselbe  dringt  durch  die  Talgdrüsen  und  Haut- 
abschürfungen des  Fußes  ein  und  wird  durch  den 
Blutkreislauf  im  ganzen  Körper  verbreitet,  so  daß 
nicht  nur  lokale  Schädigungen,  sondern  schwere 
AUgemeincrkrankungen  (hochgradige  Albuminurie, 
typhöse  Erscheinungen  seitens  des  Darmkanals, 
Temperatursteigerung,  Leber-  und  Nierenerkran- 
kungen und  endlich  Kachexie)  sich  als  Folge- 
erscheinungen seines  Eindringens  geltend  machen 
können.  Neben  dieser,  wie  es  scheint,  für  den 
Schützengrabenfuß  spezifischen  Form  werden  noch 
andere  Pilzarten  in  den  Läsionen  gefunden,  so  die 
auch  bei  den  Europäern  anzutreffende  Art  Scopu- 
lariopsis  Königii  Oudemans,  das  Fenicillium  glaucum 


und  verschiedene  Schimmelpilze,  namentlich  der 
Gattung  Mucor.  Die  für  ihr  Gedeihen  nötigen 
Existenzbedingungen  finden  diese  Pilze  nur  beim 
langen  Stehen  in  den  feuchten  Schützengräben; 
nur  dann  vermögen  sie  in  das  lebende  Gewebe 
einzudringen  und  aus  Ektoparasiten  und  Sapro- 
phyten  zu  pathogenen  Endoparasiten  zu  werden. 
Bei  einem  diesbezüglichen  Tierversuch,  wobei 
beide  Pfoten  des  Versuchstieres  tagelang  im  kalten 
Wasser  festgehalten  wurden,  stellte  sich  an  der 
mit  Penicillium  geimpften  Pfote  ein  schleimiges 
Ödem  ein,  während  die  andere  nicht  geimpfte 
Pfote  gesund  blieb.     (cTc)  Kathariner. 


Bttcherbesprechungen. 


Deutsches  Wörterbuch  für  die  gesamte  Optik, 
herausgegeben  vom  „Fremdwortausschuß  für  die 
Optik".  85   S.     Berlin,  A.  Ehrlich. 
Auf     Veranlassung      der     Schriftleitung      der 
„Deutschen  Optischen  Wochenschrift"  hat  ein  aus 
Vertretern  der  Wissenschaft  und  insbesondere  der 
Industrie,    Technik    und    Ladenoptik    zusammen- 
gesetzter Ausschuß  die  Aufgabe  übernommen,  für 
das    Gebiet    der    Optik    eine    sachgemäße    Ver- 
deutschung der  entbehrlichen  PVemdwörter  durchzu- 
führen. 

Das  vorliegende  kleine  Wörterbuch  enthält  das 
Ergebnis  dieser  Arbeit  auf  den  44  ersten  Seiten. 
Es  will  nicht  etwa  die  endgültige  und  vollständige 
Lösung  der  PVemdwortfrage  in  der  Optik  für  sich 
in  Anspruch  nehmen,  sondern  es  stellt  nur  einen 
ersten,  auf  voller  Sachkenntnis  beruhenden  Ver- 
such dar,  die  Fremdwörter  soviel  als  möglich 
durch  den  deutschen  Ausdruck  zu  ersetzen.  Die 
Bearbeiter  vertreten  dabei  den  zweifellos  allein 
richtigen  Standpunkt,  daß  vornehmlieh  diejenigen 
Fremdwörter  auszumerzen  sind,  für  die  die  deutsche 
Sprache  ohne  weiteres  einen  äquivalenten,  sinn- 
gemäßen Ausdruck  besitzt  und  deren  Benutzung 
dann  vielfach  nur  aus  Unkenntnis,  Gedanken- 
losigkeit oder  auch  aus  falscher  Eitelkeit  oder 
törichter  Berechnung  erfolgt.  Natürlich  bean- 
spruchen die  in  diesen  Fällen  gemachten  Vor- 
schläge vielfach  keine  Originalität.  Anders  liegen 
die  Verhältnisse  bei  den  wissenschaftlichen  und 
technischen  Ausdrücken,  die  häufig  als  P^ach- 
ausdrücke  für  ganz  bestimmte  Begriffe  eigens  ge- 
prägt sind  und  daher  weder  in  der  deutschen 
noch  in  einer  anderen  lebenden  Sprache  passende 
Deckwörter  besitzen.  Ein  notwendiges  Bedürfnis 
nach  solchen  Deckwörtern  tritt  hier  meist  zurück, 
und  das  Wörterbuch  führt  derartige  Ausdrücke 
auch  meist  unverändert  an.  Immerhin  muß  jeder 
gelungene  Ersatz  durch  das  deutsche  Wort  auch 
in  diesen  Fällen  als  wertvolle  Bereicherung  unseres 
sprachlichen  Ausdrucksvermögens  und  desdeutschen 
allgemeinen  Wissens   angesehen  und  daher  soviel 


als  möglich  erstrebt  werden.  Die  starke  Neigung 
nach  Bildung  komplizierter  zusammengesetzter 
Wörter  dürfte  hier  nach  Ansicht  des  Ref.  dem 
durchgreifenden  Erfolg  oft  im  Wege  stehen.  Der 
Ersatzausdruck  läßt  sich  dabei  zwar  oft  leicht  ver- 
ständlich und  sinngemäß,  selten  aber  einfach  und 
leicht  anwendbar  gestalten.  Hier  sollte  man  wohl 
vor  originellen  Neubildungen  weniger  zurück- 
schrecken, die  der  allgemeinen  Benutzung  wohl 
ebenso  leicht  zugänglich  werden  könnten  als  jede 
durch  Übersetzung  des  griechischen  bzw.  latei- 
nischen Wortes  erhaltene  komplizierte  Zusammen- 
setzung. Daß  es  jedenfalls  bei  der  Verdeutschung 
nicht  lediglich  anf  eine  Übersetzung  sondern  auf 
die  Wiedergabe  des  Sinnes  ankommt,  betont  das 
vorliegende  Wörterbuch  mit  Recht. 

Gut  gewählte  Deckwörter  dürften  beispielsweise: 
Feinuhr  für  Chronometer,  außerachsig  iür  dezen- 
triert  oder  exzentrisch,  Schleifkante  für  Facette, 
gegengleich  für  holosymmetrisch,  Tauchlinse  für 
Immersion,  Merker  für  Markiervorrichtung,  nach- 
bessern für  retuschieren,  Druckhülse  für  Tube  sein, 
während  die  Angaben:  Kaltlichtstrahlung  für 
Lumineszenz,  Warmlichtstrahlung  für  Temperatur- 
strahlung kaum  glücklich  gewählt  und  die  Aus- 
drücke: Gegengleichheitsmangel  für  Asymmetrie 
oder  Bewegtbild- Gerät  für  Kinematograph  Bei- 
spiele zu  komplizierter  und  daher  kaum  brauch- 
barer Zusammensetzungen  sind. 

Die      zweite      Hälfte      des      Buches      enthält 

Empfehlungsanzeigen     einer    größeren    Zahl     für 

optische    Bedarfsartikel    in    Betracht    kommender 

Firmen,    auf  die  Interessenten  hingewiesen  seinen. 

A.  Becker. 


Arthur  Sachs,  Die  Bodenschätze  der  Erde 

(Salze, Kohlen, Erze, Edelsteine).   Deu- 

ticke,  Wien  u.  Leipzig  1916. 

„Zur    Einführung    für   Laien    und    Studierende 

das  Wichtigste    über   die    Bodenschätze    der  Erde 

in  kürzester  Form  darzustellen"  ist  die  Absicht  des 


4o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  29 


Heftchens.  Ob  Studenten  und  Laien  unbedenklich 
gleiche  geistige  Kost  gewährt  werden  kann,  wird 
man  ebenso  in  Frage  stellen  können  wie  die 
Möglichkeit,  auf  37  Seiten  bei  wenig  kompendiösem 
Druck  auch  nur  das  Allerwichtigste  über  Theorie 
und  Praxis  eines  so  umfassenden  Gebiets  zusammen- 
zubringen. Wird  so  mancher  Leser  diesen  oder 
jenen  Wunsch  unberücksichtigt  finden  können, 
ist  das  Gebotene  doch  durchaus  einwandfrei  und 


durch  Übersichtlichkeit  brauchbar.  Selbst  eine  zu- 
sammenfassende Darstellung  von  Stellung  und  Auf- 
gabe der  Geologie,  von  den  Formationen  und  tek- 
tonischen  Vorbedingungen  für  Vorkommen  und 
Gestalt  der  Lagerstätten  fehlt  nicht.  Die  einzelnen 
Bodenschätze  werden  nach  Alter  und  geographischer 
Verbreitung,  Entstehungsmöglichkeit  und  chemi- 
schem Aufbau,  wirtschaftlicher  Bedeutung  und 
Produktionswerten  behandelt.       Edw.  Hennig. 


Anregungen  und  Antworten. 


Der  Aufsatz  „Die  Bedeutung  der  Anatomie  lebender  und 
fossiler  Hölzer  für  die  Phyloeenie  der  Koniferen"  in  Nr.  23 
der  Naturw.  VVochenschr.  findet  ausführliche  Begründung  in 
einer  Arbeit,  die  in  der  Palaeontographica  erscheint  und  neben 
eingehenden  Literaturnachweisen  eine  kritische  Auf- 
zählung sämtlicher  bisher  beschriebenen  fossilen 
Koniferenhölzer  (außer  A  raucarioxylon)  bietet. 
Die  Arbeit  ist  druckfertig,  konnte  aber  bisher  infolge  der 
durch  die  Zeitumstände  bedingten  technischen  Schwierigkeiten 
noch  nicht  erscheinen. 

Gleichzeitig  bitte  ich ,  folgende  Druckfehler  zu  be- 
richtigen : 

S.   306  rechts,  Zeile  3  von  oben  lies  Abb.  8  statt  6. 

„         ,,  „      9     „        ,,        ,,    ermöglicht  eine  statt 

eine  ermöglicht. 

S.  307  rechts,  Zeile  2  von  unten  lies  anormal  statt  normal. 

,,    links,  Zeile  4  von  unten  lies  tüpfel  statt  tüpel. 
S.  309  rechts,    ,,      35    von    oben    lies    Cupressineen    statt 
Cupressinieen. 

S.  3 10  rechts,  Zeile  19  von  oben  lies  araucarioid  statt  modern. 
S.  311   links,     „     19  von  unten  lies  echten  statt  ersten. 
„     rechts,  Zeile  2  von  unten  lies  Koniferenhölzer  statt 
Koniferen.  R.  Kräusel. 


Was  versteht  man  unter  Isostasie  in  der  Geologie?  Die 
Lehre  von  der  Isostasie  besagt  nach  K.  Kays  er,')  daß  die 
auf  einer  flüssigen  Magmazone  schwimmend  gedachte  feste 
Erdrinde  infolge  der  Achsendrehung  der  Erde  in  allen  ihren 
Teilen  in  einem  hydrostatischen  Gleichgewichtszusland  sich 
befindet.  Dementsprechend  werden  infolge  der  Zentrifugalkraft 
des  rotierenden  Erdkörpers  die  leicliteren  Schollen  in  die 
Höhe  getrieben,  die  schwereren  Schollen  in  die  Tiefe  sinken 
und  die  Erde  sich  so  verhalten,  wie  wenn  sie  flüssig  wäre. 


')  Lehrbuch    der    allgi 
S.  810. 


Geologie,    4.  Au 


Der  Gleichgewichtszustand  der  festen  Erdrinde  erleidet 
durch  die  Abtragung  und  Wiederaufschüttung  des  abgetragenen 
Materials  an  anderen  Stellen  fortwährende  Störungen  im  Sinne 
einer  Entlastung  und  Belastung.  Einer  stärkeren  Belastung 
auf  der  einen  Seite  entspricht  ein  Aufpressen  auf  der  anderen 
Seite.  Dadurch  erklären  sich  die  reichlich  nachgewiesenen 
Vertikalbewegungen  wie  auch  das  Aufdringen  scbmelzfiüssiger 
Lavamassen. 

Eine  Hauptstütze  erfährt  die  isostatische  Theorie  durch 
die  Schweremessungen,  welche  gezeigt  haben,  daß  die  ozea- 
nischen Schollen  durchweg  aus  dichteren  Massen  bestehen  als 
die  Kontinente.  Viele  Geologen  und  Geodäten  sind  Anhänger 
der  Theorie  von  der  Isostasie. 

Eine  vorzügliche  Erörterung  der  isostatischen  Theorie  gab 
Eberhard  Walter  in  einem  Aufsatz  in  der  Naturw. 
Wochenschr.,  N.   F.  XII.  Bd.,  Nr.  35,   1913. 

V.   Hohenstein. 


Literatur. 

Keibel,  Prof.  Dr.  Fr.,  Über  experimentelle  Entwicklungs- 
geschichte. Akademische  Rede.  Straßburg  '17,  J.  H.  Ed.  Heitz 
(Heitz  &  Mündel).  —  i   M. 

Kryptogamenflora  für  Anfänger.  Band  IV,  3. 
Die  Algen.  3.  Abteilung.  Die  Meeresalgen  von  Prof.  Dr. 
R.Pilger.  Mit  183  Textfiguren.  Berlin  '17,  J.  Springer. — 
5,60  M. 

Synopsis  der  Mitteleuropäischen  Flora. 
92.  Lieferung.  Bd.  VII.  Euphorbiaceae  (Fortsetzung).  Leipzig 
'17,  M.  Engelmann.  -  3  M. 

Spranger,  E.,  Begabung  und  Erziehung.  Leipzig  und 
Berlin   '17.  —  B.   G.  Teubner.  —  2  M. 

Abel,  Prof.  Dr.  O.,  Allgemeine  Paläontologie.  Mit  54 
Abbildungen.     Sammlung  Göschen   1917.   —  I   M. 

Werth,  Dr.  E.,  Das  Eiszeitalter.  Mit  18  Abbildungen 
und  einer  Karte.     Ebenda.  —   I   M. 

Machatschek,  Prof.  Dr.  Fr.,  Gletscherkunde.  Mit 
5   Abbildungen  und    16  Tafeln.     Ebenda.  —   i   M. 


Inhalt:  A.  Weseraüller,  Die  Wanderungen  unserer  Seevögel.  S.  393.  —  Kleinere  Mitteilungen:  V.  Franz,  Das  deutsche 
Tierleben  in  der  verflossenen  Kälteperiode.  S.  396.  H.  Lüttschwager,  Bemerkungen  zur  Tonerzeugung  der  Schweb- 
fliegen. S.  397.  —  Einzelberichte:  Theodor  Paul,  Die  Beziehungen  zwischen  der  Wasserstoffionenkonzentration  von 
Flüssigkeiten  und  ihrem  sauren  Geschmack.  S.  398.  W.  Böttger,  Über  die  Herstellung  homogener  Wolframkristall- 
fäden  für  Glühlampen.  (5  Abb.)  S.  399.  W.  Schlenk,  Eine  Reihe  von  sehr  interessanten  Verbindungen.  S.  402. 
L.  Vegard  und  O.  Krogness,  Höhe  des  Nordlichts.  S.  403.  S.  Mikola,  Lichtenbrrg'sche  Figuren.  S.  403. 
A.  Ernst,  Jungfernzeugung  im  Pflanzenreich.  S.  404.  Bannert,  Die  Ursache  der  Blütenstielkrümmungen.  S.  405. 
R.  Kräusel,  Über  die  Variation  der  Blattform  von  Ginkgo  biloba  L.  und  ihre  Bedeutung  für  die  Paläobotanik.  S.  405. 
H.  Riedel,  Die  Fossilführung  des  Zechsteins  von  Niederschlesicn.  S.  406.  Kathariner,  Schützengrabenfaß.  S.  406.  — 
Bücherbesprechungen:  Deutsches  Wörterbuch  für  die  gesamte  Optik.  S.  407.  Arthur  Sachs,  Die  Bodenschätze 
der  Erde  (Salze,  Kohlen,  Erze,  Edelsteine).  S.  407.  —  Anregungen  und  Antworten:  Die  Bedeutung  der  Anatomie 
lebender  und  fossiler  Hölzer  für  die  Phylogenie  der  Koniferen.  S.  408.  Was  versteht  man  unter  Isostasie  in  der 
Geologie?  S.  408.  —  Literatur:  Liste  S.  408. 


Manuskr 


:  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S 


denstraße  42,  erbete 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  29.  Juli  1917. 


Nummer  30. 


[Nachdruck  verboten.) 

Zu    den     schönsten 
gehören    ohne    Zweifel 


Die  Entdeckung  der  Paradiesvögel. 

Von  Prof.  Dr.  -S.  Killermann,  Regensburg. 
Mit  3  Abbildungen. 


Gestalten  der  Tierwelt 
die  Paradiesvögel;  ihre 
Zusammenstellung  in  den  Schaukästen  unserer 
Sammlungen  bildet  immer  ein  Glanzstück  und 
einen  großen  Anziehungspunkt  für  das  Publikum. 
Die  Vögel,  die  mit  unseren  Raben  in  Verwandt- 
schaft stehen,  sind  hinsichtlich  ihrer  Verbreitung 
sehr  beschränkt  und  kommen  hauptsächlich  auf 
Neu-Guinea  und  einigen  umliegenden  Inseln  vor. 
Sie  waren  zum  Teil  bis  vor  kurzem  noch  Mit- 
bürger unserer  Kolonialfauna. 

A.  Reichenow  zählt  in  seinem  Handbuch 
der  systematischen  Ornithologie  ')  eine  große 
Anzahl  von  Paradiesvögeln  auf  und  ordnet  sie  in 
drei  Gruppen.  Es  kommt  uns  hier  besonders  auf 
die  drei  Arten  an:  Göttervogel  (Paradisea  apoda  L.) 
ausgezeichnet  durch  lange ,  orangegelbe  Schleier- 
federn; roter  Paradiesvogel  (Paradisea  rubra  Daud.) 
mehr  rotbraun  gefärbt  mit  zwei  langen  bandartigen 
Schwanzfedern;  Königsparadiesvogel  (Cicinnurus 
regius  L.)  glänzend  kirschrot  und  mit  zwei  draht- 
förmigen,  am  Ende  plättchenartig  verbreiterten 
Schwanzfedern.  Abb.  s.  bei  Brehm,  Vögel,  4.  Bd., 
4.  Aufl.,  S.  275   u.  f. 

Bezüglich  ihres  Vorkommens  sagt  Brehm, 
daß  der  Königsparadiesvogel  der  verbreitctste  von 
allen  sei;  er  finde  sich  auf  dem  ganzen  nördlichen 
Teil  von  Neu-Guinea,  sowie  auf  Misul,  Salawati 
und  den  Aru-Inseln.  Der  Göttervogel  dagegen 
kommt  nur  auf  den  letztgenannten  Inseln  vor  und 
der  rote  Paradiesvogel  auf  Waigiu,  Batanta  und 
Gemien  (nach  Reichenow). 

Einer  der  ersten  Naturforscher,  der  das  Leben 
und  Treiben  der  schönen ,  aber  meist  verborgen 
in  den  Urwäldern  oder  hohen  Baumkronen  lebenden 
Vögel  an  Ort  und  Stelle  beobachtete,  war  be- 
kanntlich A.  R.  VVallace;  er  hielt  sich  längere 
Zeit  1S57  u.  58  auf  den  Molukken  und  in  Neu- 
Guinea  auf  und  hat  uns  über  seine  Erlebnisse 
eine  sehr  ansprechende  Schilderung  -)  hinterlassen. 
Von  den  Paradiesvögeln  handelt  besonders  das 
38.  Kapitel  des  IL  Bd.;  dort  auch  Karten  der 
malayischen  Inselwelt.  Wenn  VVallace  jedoch 
(S.  360)  meint,  daß  diese  Tiere  bis  zum  Jahre 
1760,  als  Linne  die  größte  Art  Paradisea  apoda 
(fußloser  Paradiesvogel)  benannte,  nie  im  voll- 
kommenen Zustande    in  Europa    gesehen  wurden, 


')  A.  Reichenow,  Handbuch  der  systematischen  Orni- 
thologie, 2.  Bd.  (Stuttgart   1914),  S.  335— 33S. 

'-)  A.  R.  Wallace,  Der  malayische  Archipel,  die  Heimat 
des  Orang-Utan  und  des  Paradiesvogels.  Deutsche  Ausgabe, 
2  Bde.     Braunschweig   1S69. 


so  können  wir  ihm  auf  Grund  des  folgenden  nicht 
beistimmen. 

Von  den  Paradiesvögeln  (aves  paradisi)  ist 
zum  erstenmal  bereits  im  Mittelalter  die  Rede. 
Albertus  Magnus')  sagt  (nach  Avicenna), 
daß  es  (im  Orient)  braune  dohlenartige  Vögel 
gäbe  von  großer  Schönheit;  sie  wandern  und 
man  weiß  nicht,  woher  sie  kommen.  Ahnlich 
spricht  sich  P i er ca ndido -)  in  seinem  1460  ge- 
schriebenen, in  der  Vatikanischen  Bibliothek  be- 
findlichen, schöngemalten  Tierbuche  aus.  „Die 
Farbe  dieser  Vögel  sei  braun  und  etwas  rot;  sie 
seien  kleiner  als  Dohlen.  Leider  habe  er  von 
den  Autoren  über  die  Natur  derselben  nichts 
weiter  erfahren  können." '')  Illustriert  ist  das 
Kapitel  mit  mehreren  Bildern,  welche  den  Immen- 
fresser und  den  wirklichen  Paradiesvogel  (Paradisea 
apoda)  zur  Veranschaulichung  bringen.  Die  Zeich- 
nung   des    letzteren    ist   aus  Gesner    (s.  u.)   ent- 


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Abb.    1.     Die   Paradiesvögel  bei  Picrcandido  (Vatik.  Bibl. 

geschrieben   1460,  ausgemalt  im   16.  Jahrh.). 

Links  Balg  vom   Göttervogel  (Paradisea  apoda); 

rechts  der  Immenfresser.     Gr.  ca.    '/.,. 

(Ausschnitt;   phot.    Killermann.)" 

nommen  —  ein  Beweis,    daß  der  Kodex  erst  im 
16.  Jahrh.  ausgemalt  wurde  (vgl.  Abb.   i). 

Es  scheinen  bereits  im  Mittelalter  Bälge  von 
Paradiesvögeln  durch  den  Handel  über  Indien  und 
Arabien  nach  Europa  gelangt  zu  sein ;  doch  haben 
wir  für  diese  Ansicht   keinen  urkundlichen  Beleg. 

')  Alberti  Magni  liber  animalium  XXIII,  N.  25  (Pariser 
Ausgabe  1891  Tom.  XII).  Vgl.  meine  Arbeit:  Die  Vogel- 
kunde des  Albertus  M.     Regensburg  1910,  S.  92  u.   f. 

-)  Vgl.  meine  Arbeit:  Das  Tierbuch  des  Petrus  Candidus 
geschrieben  1460,  gemalt  im  16.  Jahrh.  (Code.'i  Vaticanus  Urb. 
lat.  276).  Zoolog.  Annalen,  Bd.  VI  (Würzburg  1914),  S.  120 
u.   171. 

')  Color  illis  fuscus  atque  subrutilus,  monedulae  forma 
minores  sunt.  Ceterum  nihil  a  me  e.\  illustribus  auctoribus 
de  his  aut  earum  natura  perspectum  est.     (L.  c.  fol.  74  V.) 


416 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Die  Bälge  waren  der  Beine  beraubt;  daher  die 
Meinung,  daß  diese  Vögel  stets  in  der  Luft 
schweben  und  nie  auf  den  trdboden  herabkommen. 

Der  erste  Europäer,  der  in  das  Land  der 
Paradiesvögel  gedrungen  ist  und  von  ihnen  einen 
Bericht  hinterlassen  hat,  war  der  Italiener  A  nt  o  n 
Pigafetta,  der  Reisegenosse  Magalhaes'. 
Unter  dem  17.  Dezember  1521  heißt  es  in  seinem 
Tagebuche 'j:  „Er  (der  König  von  Bachian)  gab 
uns  auch  zwei  sehr  schöne  tote  Vögel  für  den 
König  von  Spanien.  Dieser  Vogel  hat  die  Größe 
einer  Drossel ,  einen  kleinen  Kopf,  einen  langen 
Schnabel,  und  Beine  von  der  Dicke  einer  Schreib- 
feder und  einen  Paimo  lang.  Sein  Schwanz  gleicht 
dem  Schwänze  der  Drossel ;  er  hat  aber  keine 
Flügel,  sondern  an  ihrer  Stelle  lange  Federn  von 
verschiedenen  Farben,  beinahe  wie  die  Reiher- 
federn. Alle  übrigen  Federn  sind  von  dunkler 
Farbe.  Dieser  Vogel  fliegt  nur,  wenn  der  Wind 
geht.  Man  sagt,  daß  er  aus  dem  Paradiese  käme, 
und  nennt  ihn  Bolondinata,  d.  h.  Gottesvogel." 
Das  ereignete  sich  auf  der  Insel  Tadore  in  der 
Molukkenstraße  (jetzt  Tidor  zwischen  Celebes  und 
Neu-Guinea).  Die  Seefahrer  müssen  dann  noch 
einige  Exemplare  erhalten  haben. 

Pigafetta's  Eigenbericht'-)  lautet  genauer : 
Zwei  tote  sehr  schöne  Vögel,  stark  wie  Drosseln, 
haben  einen  kleinen  Kopf  mit  langem  Schnabel; 
ihre  Beine  sind  etwa  handlang  und  fein  wie  ein 
Rohr.  Sie  haben  keine  Flügel,  sondern  an  ihrer 
Stelle  lange  Federn  von  verschiedener  Färbung 
wie  große  Hutfedern;  ihr  Schweif  gleicht  dem 
einer  Drossel;  alle  anderen  Federn,  ausgenommen 
die  Flügel,  sind  lohfarben  und  sie  können  nur 
mit  dem  Winde  fliegen.  Man  behauptet,  daß 
diese  Vögel  aus  dem  irdischen  Paradies  kommen, 
und  heißt  sie  bolon  dinata  d.  h.  Gottesvögel. 

Pigafetta  war  einer  der  wenigen,  die  die 
ganze  Weltreise  überstanden  (MagelhSes  selbst 
war  schon  am  l-].  April  1521  auf  den  Philippinen 
in  einem  Gefecht  mit  Eingeborenen  gefallen;  die 
meisten  wurden  durch  Skorbut  aufgerieben).  Die 
Landung  in  Spanien,  welche  am  6.  Sept.  1522 
stattfand,  und  der  Einzug  in  Valladolid  vor  dem 
Kaiser  Karl  V.  waren  Ereignisse,  bei  denen  auch 
die  mitgebrachten  Paradiesvögel  eine  Rolle  spielten. 
Ein  Deutscher,  der  Geheimsekretär  des  Kaisers, 
Maximilianus  Transsilvanus,  hat  uns  in 
einem  Briefe  an  den  Erzbischof  Lang  von  Salz- 
burg,   datiert    Valladolid    24.    Okt.    1522,     einen 

1)  An  ton  Pi  ga  f  etta'  s  Beschreibung  der  von  Mag  eil  an 
unternommenen  ersten  Reise  um  die  Welt  (Gotha  1801)1  S.  203. 
Das  Original  befindet  sich  in  Mailand  Bibl.   Ambrosiana. 

2)  Veröffentlicht  in  Pigafetta  Raccolta  V,  3,  99  (seit  1894 
aus  Anlaß  des  Kolumbus-Jubiläums  erschienen);  „due  uccelli 
morti  bcUissimi.  questi  uccelli  sono  grossi  come  tordi,  hanno 
lo  capo  piccolo  con  lo  becco  longo,  le  sue  gambe  sono 
longhe  un  palmo  et  sottili  come  un  calamo.  non  hanno  ale 
ma  in  loco  di  quelle  penne  longhe  de  diversi  colori  come 
gran  penachi;  la  sua  coda  e  come  quella  del  tordo ;  tutte  le 
altre  sue  penne  eccetto  le  ale  sono  del  colore  di  taneto  e 
mai  non  volano  se  non  quando  e  vento.  costoro  ne  dicono 
questi  uccelli  venire  del  paradiso  terrestre  e  le  chiamano 
„bolon  dinata  cioe  uccelli  de  Dio". 


Bericht  ^)  über  das,  was  er  dort  gesehen,  hinter- 
lassen: Der  Vogel  „Manucco  Diata",  der  Götter- 
vogel, stellte  das  vornehmste  Geschenk  dar.  Er 
wird  so  genannt,  weil  die  Leute  sich  damit  im 
Gefechte  gesichert  und  unsiegbar  wähnen.  Davon 
waren  es  fünf;  einen  habe  ich  vom  Schiffskapitän 
mir  erbeten,  den  ich  nun  meinem  verehrtesten 
Herrn  (dem  Bischof)  schicke,  nicht  damit  er  sich 
auch,  wie  jene  meinen,  durch  ihn  vor  Nach- 
stellungen und  dem  Schwerte  gesichert  glaube, 
sondern  damit  er  sich  an  der  Seltenheit  und 
.Schönheit  desselben  erfreue.  -) 

Vorher  hatte  Maximilianus  Transsil- 
vanus nämlich  geschrieben:  „Reges  illarum  (in- 
sularum  Moluccarum)  paucis  ante  annis  immortales 
animas  esse  credere  coepere,  haud  alio  argu- 
mento  ducti,  quam  quod  aviculam  quandam 
pulcherrimam  nunquam  terrae  aut  cuiquam  alii 
rei,  quae  in  terra  esset,  insidere  animadverterent, 
sed  aliquando  ex  summo  aethere  exanimem  in 
humum  decidere.  Et  cum  Machometani,  qui 
ad  eos  commercii  causa  commearent,  hanc  aviculam 
in  Paradyso  ortam,  Paradysum  vero  locum  ani- 
marum  (eorum),  qui  vita  functi  essent,  attestaren- 
tur,  induerunt  hi  Reguli  Machometi  sectam,  quod 
haec  de  hoc  animarum  loco  mira  polliceretur. 
Aviculam  vero  Manucco  Diata  appelarunt,  hoc 
est  Dei  Avem,  quamadeo  sancte  religioseque 
habent,  ut  se  ea  Reges  in  hello  tutos  existiment, 
etiamsi  suo  more  in  prima  acie  collocati  fuerint." 

Dieser  Bericht  über  die  Herkunft  des  Vogel- 
namens, der  wohl  aus  dem  Munde  Pigafetta's 
und  seiner  Genossen  stammt,  ist  später  über- 
gegangen in  die  Gesn  er 'sehen  Vogelbücher, 
aus  denen  er  auch  von  Brehm  (Vögel  i.  Bd. 
3.  Aufl.  S.  415)  wiedergegeben  wird. 

C.  Gesn  er  selbst  hat  in  den  ersten  Auflagen 
seines  Werkes  den  Paradiesvogel  noch  nicht  ab- 
gebildet. Meines  Wissens  erscheint  ein  Bild  von 
dem  Vogel  zum  erstenmal  in  der  Ausgabe  von 
Heußlin  (Vogelbuch  1600  p.  393).  Das  Bild 
stammt  von  C.  Peutinger^),  der  auch  nach 
ihm  bezeugt,  daß  er  einen  solchen  Vogel  tot  ge- 
sehen habe.  „Vnd  ist  onlangst  (um  1600)  eine 
Figur  dieses  Vogels  zu  Nürnberg  gedruckt  vnd 
mir  (Heußlein)  mit  diesen  Worten  zugeschickt 
worden",  was  sich  auf  die  Beschreibung  bezieht 
(s.  diese  übrigens  bei  Brehm).  In  der  P""rank- 
furter  Ausgabe  vom  Jahre  1669  ist  die  Zahl  der 
verschiedenen  Paradiesvögel  bereits  auf  ^/j  Dutzend 
angewachsen. 

M  Editio  princeps,  Cöln  1523,  Januar.  Das  Original- 
manusltript  hat  sich  hier  in  Regensburg  St.  Katharinen- 
Spital,  wo  Transsilvanus  gestorben  ist,  aufgefunden. 

'-)  ,,Sed  praecipuum  donura  Manucco  Diata,  hoc  est 
avicula  illa  Dei,  qua  se  in  proelio  tutos  invictosque  putant. 
Harum  quinque  missae  fuere,  unam  impetravi  a  Praefecto  navis, 
(juam  Kev.  D.  V.  mitto,  non  quod  se  ea  ab  insidiis  et 
ferro  tutum  putet,  ut  illi  perhibent,  sed  quod  eins  raritate  et 
pulchriludine  delectetur." 

')  Über  die  Beziehungen  dieses  Humanisten  zu  den 
Welsern  und  anderen  schiffahrenden  Kreisen  s.  Fr.  Wieser, 
Magalläes-Straße  und  Austral-Continent  auf  den  Globen  des 
Joh.  Schöner  (Innsbruck   1881)  S.  97. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


411 


Während  früher  die  Zoologen  sich  über  die 
Beinlosigkeit  des  Vogels  stritten  und  sogar  an 
derselben  festhielten  (auch  Aldrovandi,  de 
avibus  Tom.  I  p.  807),  obwohl  schon  Pigafetta 
diesen  Irrtum  richtiggestellt  hatte,  dämmerte  es 
jetzt  erst  (1669)  dem  Herausgeber  des  Gesn er- 
sehen Vogelbuches  auf,  warum  die  Vögel  immer 
ohne  Beine  nach  Europa  gebracht  wurden.  Nach 
Thuanus,  heißt  es,  schneiden  die  Eingebornen 
den  Vögeln  die  Beine  ab,  um  sie  auf  diese  Weise 
als  größere  Wunder  in  den  Augen  der  Europäer 
hinzustellen  und  mehr  Geld  aus  dem  Verkaufe  zu 
gewinnen.  Unterdessen  hatte  aber  die  Kunst 
schon  den  Paradiesvogel  wie  lebend  mit  zwei 
Beinen  laufend  zur  Darstellung  gebracht. 

Der  Paradiesvogel  bildet  auf  den  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  beliebten  Paradiesesbildern  ein  oft 
wiederkehrendes  Zubehör.  Freilich  Raffael  muß 
sich  in  dem  ihm  zugeschriebenen  P^resko  „Schöpfung 
der  Tierwelt"  ')  (Loggien  im  Vatikan)  noch  mit  dem 
Fasan  als  einem  der  schönsten  Vertreter  der  Vogel- 
welt im  Paradiese  behelfen.  Dagegen  lassen  die 
berühmten  J.  B r  u  e gh  el'schen  Bilder  fast  immer 
den  Paradiesvogel  sehen. 

Als  das  beste  Bild  dieses  Meisters,  der  haupt- 
sächlich von  1600  ab  in  Antwerpen  arbeitete  und 


an  Paradiesvögeln  besondere  Freude  hatte,  ist 
F.  Francken  (t  1642);  sein  „Paradies"  (Dresden, 
K.  Gemäldegalerie  Nr.  946)  führt  uns  zwei  Exem- 
plare dieser  Gattung  vor  (P.  apoda  und  rubra?). 
Auf  R.  Savery's  Gemälden,  die  manchmal  die 
Dronte  (Dido  ineptus  L)  bergen,')  spielen  die 
Paradiesvögel  keine  besondere  Rolle. 

Eine  andere  Art  fand  ich  in  der  Handzeich- 
nungensammlung des  Herzogl.  Museums  in  Braun- 
schweig dargestellt.  Das  Blatt  ist  in  feiner  .A.quarell- 


Abh.   2.      Der   Göttervogel   (Paradisca  apoda). 
n    Külien    Adams    schreitend,    auf   dem    Paradiesesbild 
von  J.   Brueghel  d.  Ä.   (um    IÖOO-1625). 
(Haag,   Reichsmuseum   \r.  253.      Ausschnitt.) 


1625  starb,  gilt  das  Bild  im  Reichsmuseum  im 
Haag  Nr.  253.  Hier  erscheint  mitten  unter  .AfTen, 
Kaninchen,  Putten  und  anderem  Getier  links  ein 
laufender  Paradiesvogel  mit  goldgelbem  Schweif 
und  grünem  Kopf  —  ohne  Zweifel  der  Götter- 
vogel (Paradisea  apoda  L.).  Mit  festen  derben 
vierzehigen  Beinen  trippelt  er  als  der  schönste  im 
ganzen  Vogelreigen  vor  den  Füßen  des  sitzenden 
Adam  herum  (s.  Abb.  2).  Auch  in  der  Luft 
schwirrt  ein  Vogel  dieser  Gattung  (P.  rubra  nach 
meinen  Aufzeichnungen).  Auf  einem  anderen  Bild 
dieses  Meisters,  genannt  Herbstflora  (Madrid  Prado 
Nr.  1248)  tummelt  sich  der  Göttervogel  mit  unserem. 
Pirol  und  mit  Meerschweinchen  in  einem  früchte- 
reichen Garten.    Ein  zweiter  Maler  jener  Zeit,  der 


Abb.  3.     Eine  .^rt  Königsparadiesvogel  (Cicinnurus  spec.) 

Aquarell  von  H.  H  engst  enburgh ,  um   1700. 

(BrauDSchweig,  Herzogl.  Museum.) 

maierei  ausgeführt  und  stellt  uns  eine  Art  Königs- 
paradiesvogel (Cincinnurus)  mit  den  charakteristi- 
schen Schwanzfedern  vor  (vgl.  Abb.  3). 

Es  stammt  nach  der  Signatur  von  Hermann 
Hengstenburgh,  der  von  1667  — 1726  lebte. 
Auf  seinen  Studienblättern  erscheinen  noch  ver- 
schiedene andere  exotische  Tiergestalten,  so  der 
Seidenweber,  das  Chamäleon,  die  Gespenstheu- 
schrecken, der  Nashornkäfer  u.  a.  m. 

Auch  der  merkwürdige  Maler  T.  v.  Kessel 
( 1626—1679»,  der  sich  bemühte,  seinen  Zeitgenossen 
tropische  Landschaften  im  Bilde  vorzuführen,  kennt 
den  Paradiesvogel  und  läßt  ihn  auf  seinen  asiati- 
schen Landschaften  (allerdings  schon  in  Ägypten) 
durch  die  Luft  schwirren  (Schleißheim,  Galerie 
Nr.   1117). 

F"ür  die  in  Rede  stehenden  Tiere  interessierte 
sich  im  18.  Jahrhundert  besonders  der  überhaupt 
etwas  schöngeistige  französische  Naturforscher 
Buffon.  Die  eigentliche  Erforschung  dieser 
Vogelfamilie  hebt  an  mitWallace.  Er  war  der 
erste,  dem  es  1862  gelang,  zwei  Stück  lebend 
nach  Europa  zu  bringen.  Er  ernährte  sie  mit 
Reis  und  Schaben.  Später  kamen  auch  einige 
nach  Hamburg  und  in  die  deutschen  zoologischen 


>)  Als  sonstige  schöne  Vögel    finde  ich  darauf  noch  dar- 
gestellt; Pfau,  StrauiJ  (sehr  gut),   Storch,  Kranich  im  Fluge. 


1)  Vgl.  meinen   Artikel:   Die   ausgestorbenen  Maskare 
Vögel   in  dieser  Zeitschrift,    N.  F.    XIV   (1915).    Nr.  23  u. 


412 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Gärten.  Nach  einer  Notiz  in  der  Zeitschrift 
„Zoologischer  Garten"  (1891,  S.  1571  gelang  es 
zum  erstenmal  in  Kalkutta  Paradiesvögel  „durch- 
zubringen" (wahrscheinlich  bis  zur  Fortpflanzung, 
was  sehr  wünschenswert  wäre). 

Seit  den  Forschungen  von  Wallace,  der 
18  Arten  von  Paradiesvögeln  kannte,  ist  die  Zahl 
derselben  infolge  der  Erforschung  des  Inneren  von 
Neu-Guinea  viel  größer  geworden;  unterdessen 
sind  noch  einige  ganz  wunderbare  Arten  hinzu- 
gekommen, so  der  Kaiser-VVilhelin-Paradiesvogel, 
der  in  Deutsch-Neu-Guinea  gefunden  wurde,  und 
der  blaue  oder  Kronprinz-Rudolf-Paradiesvogel, 
der  in  den  Owen  Stanley-Bergen  von  Britisch- 
Neu-Guinea    heimisch    ist.     Wie  H.  Johnston  ^) 

')  Paradiesvögel  in  „Die  Wunder  der  Natur",  2.  Bd., 
S.  162 — 168.  Dort  auch  eine  gute  Zusammenstellung  von 
Abbildungen. 


darlegt,  sind  viele  Arten  im  Aussterben  begriffen. 
„Die  Sucht  der  Damen,  ihre  Hüte  mit  solchen 
Federn  zu  schmücken,  der  Wunsch  der  malayischen 
Häuptlinge,  Paradiesvogelbälge  als  Zier  des  Turbans 
zu  verwenden,  und  die  sinnlose  Sammelwut  über- 
spannter Amerikaner  haben  einen  solchen  Ver- 
nichtungskrieg gegen  die  Paradiesvögel  hervor- 
gerufen, daß  viele  Arten  bereits  im  Aussterben, 
wenn  nicht  gar  schon  ausgestorben  sind."  Auch 
aus  dem  vormals  deutschen  Teil  von  Neu-Guinea 
wurden  mehr  als  genug  von  Paradiesvogelbälgen 
ausgeführt:  1909  um  65000  Mark,  1910  um 
152000  Mark.  Wenn  die  deutsche  Flagge,  was 
Gott  geben  möge,  wieder  über  jener  Inselwelt 
gehißt  wird,  möge  sie  auch  den  schönsten  Ge- 
schöpfen der  Tierwelt  ein  Zeichen  des  F"riedens 
und  Schutzes  seini 


Einzelberichte. 


Anthropologie.  Über  die  Eigenart  der  Mu- 
sikerschädel veröffentlichte  AdolfKoelsch  eine 
Artikelserie  in  der  Neuen  Zur.  Ztg.  (Dezember  1916). 
Die  schon  vor  mehr  als  einem  Jahrhundert  von 
Gall  aufgenommenen  Forschungen  über  die  Be- 
ziehungen zwischen  Gehirnentwicklung  und  Schädel- 
gestalt wurden  in  neuerer  Zeit  und  auf  neuen  Grund- 
lagen fortgesetzt,  namentlich  von  Schwalbe, 
Tandler,  Auerbach  und  anderen.  An  der 
Außenseite  menschlicher  (wie  auch  tierischer) 
Schädel  treten  Hervorwölbungen  auf,  welche  be- 
stimmten Gehirnteilen,  ja  sogar  einzelnen  genau 
angebbaren  Windungen  des  Großhirns  entsprechen. 
Diese  äußerlichen  Anzeichen  des  Gehirnbaues  sind 
freilich  nicht  am  ganzen  Gehirnschädel  vorhanden 
(wie  Gall  gemeint  hatte);  sie  beschränkten  sich  beim 
Menschen  vielmehr  auf  zwei  scharf  umschriebene 
Bezirke,  nämlich  auf  die  Umgebung  des  Hinter- 
hauptsloches, durch  welches  das  Eückenmark  aus 
dem  Schädel  tritt,  und  auf  die  Schläfengegend. 
Die  Ursache  hiervon  ist,  daß  nur  an  jenen  Stellen, 
wo  die  Schädelkapsel  stark  mit  Muskulatur  be- 
deckt ist,  die  knöcherne  Hülle  so  dünn  und  nach- 
giebig bleibt,  daß  es  auf  ihr  zu  einer  Abbildung 
des  Windungsreliefs  der  darunterliegenden  Hirn- 
teile kommen  kann.  Am  menschlichen  Schädel 
sind  nun  gerade  Hinterhaupt  und  Schläfengegend 
die  Partien  mit  starker  Muskelbepackung;  in  der 
Umgebung  des  Hinterhauptloches  heften  sich  die 
Nackenmuskeln  an,  in  der  Schläfengegend  die 
Ohr-,  Schläfen-  und  Kiefermuskeln.  Sie  bilden 
für  die  darunter  verborgenen  Teile  einen  so  reich- 
lichen Schutz,  daß  eine  viel  leichtere  Knochen- 
verschalung als  an  den  übrigen  Schädelperipherien 
für  die  Befestigung  des  kranialen  Gewölbes  genügt. 
Besonders  eigenartig  sind  die  Verhältnisse  in  der 
Schläfenregion,  weil  hier  das  Schädeldach  so  dünn 
und  unstarr  ist,  daß  sich  die  darunterliegenden 
Hirnwülste,  nach  Maßgabe  ihres  Umfangs,  auf  der 


knöchernen  Hülle  abklatschen  und  schon  am 
Lebenden  zu  Verrätern  seiner  geistigen  Anlagen 
werden  können.  Bis  jetzt  ist  zwar  noch  keines- 
wegs für  jede  buckeltreibende  Windung  des 
Schläfen-  und  Hinterhirnlappen  auch  die  geistige 
Funktion  genau  festgestellt,  die  in  ihr  ihren  Sitz 
hat.  Doch  ist  mindestens  für  eine  Art  ein- 
seitiger Begabung  die  bestimmte  Beziehung 
zwischen  Gehirnbeschaffenheit  und  Schädelform 
nachgewiesen,  nämlich  für  besondere  musikalische 
Fähigkeit.  Die  bisher  an  einem  relativ  umfang- 
reichen Material  vorgenommenen  Untersuchungen') 
ergaben  bei  den  Trägern  musikalischer  Fähigkeiten 
Gehirne  mit  starker  bis  enormer  Breitenentfaltung 
der  vorderen  und  mittleren  Schläfenwindung, 
reicher  Gliederung  dieser  Partien  und  nicht  minder 
auffallender,  das  gewöhnliche  Maß  weit  über- 
schreitender Ausbildung  des  benachbarten,  zum 
Scheitellappen  führenden  Ran  d  hö  ckers  (Gyrus 
supramarginalis).  Bei  Personen  ohne  musikalische 
I*"ähigkeiten  war  dagegen  an  der  Bildung  der 
Schläfenlappen  des  Gehirns  nichts  Besonderes  zu 
bemerken. 

In  Verbindung  mit  den  bezeichneten  Eigen- 
heiten der  Musikerschädel  ist  zu  beachten,  daß 
schon  seit  langem  der  vorderste  Teil  des  Schläfen- 
gehirns als  Sitz  des  Gehörsinns  erkannt  ist,  und 
es  ist  gar  nicht  verwunderlich,  wenn  Tonbegabung 
mit  hervorragender  Ausbildung  des  Gehörsinnes 
verbunden  ist.  Zur  musikalischen  Begabung  ge- 
hört jedoch  außer  einem  guten  Gehör  noch  der 
eigentliche    Ton-    und    Musiksinn,    der    zweifellos 

1)  Sieg  m  und  Auerbach's  Untersuchungen  an  Ton- 
künstlergehirnen im  Archiv  für  Anatomie  und  Entwicklungs- 
geschichte (1906,  1908,  1911,  1913,  1915)  „Über  den  Schädel 
Haydns"  Mitteilungen  der  Anlhrop.  Gesellschaft  Wien,  Bd.  39, 
,,Über  die  Innenform  und  Auflenform  des  Schädels"  (Deutsches 
Archiv  für  klinische  Medizin  1903)  und  „Über  alte  und  neue 
Phrenologie"  (Korrespondenzblatt  für  Anthropologie,  Ethno- 
logie und  Urgeschichte,  Bd.  37), 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


413 


seinen  Sitz  in  jenen  Feldern  des  Schläfenlappens 
hat,  die  sich  an  allen  untersuchten  Musiker- 
gehirnen,  und  nur  bei  diesen,  durch  außerordent- 
liche Größe  und  außerordentlichen  Bau  aus- 
zeichneten. 

Auch  äußerlich  macht  sich  bei  den  meisten 
musikalisch  hervorragend  begabten  Personen  die 
starke  Füllung  der  Schädelkapsel  im  Schläfen- 
bezirk in  ganz  scharf  umschriebenen  Buckelbil- 
dungen des  Schläfenbeins  bemerkbar.  Wie 
Schwalbe  gezeigt  hat,  pausen  sich  schon  am 
Schädel  des  Durchschnittsmenschen  die  vordere, 
mittlere  und  untere  Schläfenwindung  bald  mehr, 
bald  weniger  deutlich  in  drei  knöcherne  Wulst- 
streifen ab,  von  vorn  und  unten  nach  hinten  und 
oben  über  das  Schläfen-  und  Schuppenbein  ziehen, 
und  die  man  an  schwach  verschwarteten  Schädeln 
durch  Betasten  des  Kopfes  nicht  immer,  aber 
doch  häufig  schon  am  Lebenden  feststellen  kann. 
Der  unterste  dieser  knöchernen  Buckel  liegt  dicht 
über  dem  äußeren  Eingang  zum  Ohr.  An  Musiker- 
schädeln pflegen  von  diesen  knöchernen  Vortrei- 
bungen ausgerechnet  die  beiden  vorderen,  welche 
die  Lokalisationszentren  des  Gehör-  und  Musik- 
sinns überdecken,  viel  stärker  ausgebildet  zu  sein 
als  an  gewöhnlichen  Schädeln  und  sich  deswegen 
im  Leben  schon  sehr  merkbar  vorzudrängen.  Von 
Von  berühmten  Musikern  machen  Schubert 
und  Mottl  eine  Ausnaiime  von  dieser  Regel,  die 
man  auf  die  besondere  Schädelform  beider  (Lang- 
köpfigkeit)  zurückführt.  H.  Fehlinger. 


Chemie.  Die  Zerstörungen,  die  die  Metalle  und 
Legierungen  unter  dem  Einflüsse  von  Wasser  und 
wässerigen  Lösungen  im  praktischen  Gebrauche 
erleiden,  spielen  in  der  Praxis  bekanntlich  eine 
außerordentlich  wichtige  Rolle.  Sie  sind  im 
wesentlichen  auf  die  Entstehung  elektrischer 
Ströme  zurückzuführen,  die  entweder  zwischen 
verschiedenen,  in  demselben  Metallbauwerk  neben- 
einander verwendeten  Metallen  oder  zwischen  ver- 
schiedenen Stellen  desselben  Metalles  infolge  von 
Temperaturunterschieden  oder  infolge  von  Unter- 
schieden in  der  Bearbeitung  oder  noch  aus  anderen 
Gründen  entstehen  können.  So  entsteht,  wenn  ver- 
schiedene Metalle  in  demselben  Metallbauwerk  ver- 
wendet werden,  ein  galvanisches  Element,  in  dem 
sich  das  mehr  positive  Metall  auflöst.  An  Dampf- 
kesseln sind  Zerstörungen  nachgewiesen  worden, 
deren  Ursache  in  thermoelektrischen  Strömen  zu 
suchen  ist.  Werden  Metallteile  umgebördelt,  ge- 
nietet, gehämmert,  kurz  irgendwie  bearbeitet,  so 
verhalten  sich  die  beanspruchten  Teile  den  un- 
veränderten Teilen  gegenüber  elektrisch  positiv 
und  werden  daher  zerfressen.  Die  durch  diese 
Zerfressungen  hervorgerufenen  Schwierigkeiten  zu 
beheben,  ist  oft  versucht  worden.  So  hatte  schon 
Davy  im  Jahre  1824  den  Vorschlag  gemacht, 
die  elektrischen  Ströme  so  zu  leiten,  daß  sie 
keine  Zerstörungen  an  den  in  Frage  kommenden 


Metallteilen  hervorrufen  können,  er  hatte  nämlich 
vorgeschlagen,  an  dem  Metallbauwerk,  also  z.  B. 
an  der  Maschine,  an  dem  Kondensatorrohr  usw. 
an  geeigneten  Stellen  und  in  leitender  Berührung 
mit  ihm  ein  sehr  stark  positives  Metall,  nämlich 
Zink  anzubringen.  Hierbei  sollte  das  Zink  Anode 
werden  und,  indem  es  allein  zerfressen  wird,  das 
andere  Metall  vor  dem  Zerfressen  schützen.  Dies 
Verfahren  hat  sich  jedoch  in  der  Praxis  nicht 
durchführen  lassen.  Einerseits  schützt  nämlich 
I  qm  Zink  in  seiner  günstigsten  Form  —  als 
reines  gewalztes  Zink  —  nur  etwa  50  qm  der 
anderen  Metalle,  es  wären  also,  um  eine  durch- 
greifende Schutzwirkung  zu  erzielen,  große  Mengen 
von  Zink  erforderlich,  haben  doch  z.  B.  die  Dampf- 
anlagen auf  den  großen  Ozeandampfern  wasser- 
berührte Kessel-  und  Kondensatorflächen  von  vielen 
Hunderten  von  Quadratmetern.  Andererseits  über- 
zieht sich  erfahrungsgemäß  das  Zink  sehr  bald 
infolge  von  Oxydation  mit  Oxydationsschichten, 
ändert  dadurch  sein  Potential  und  kann  unter  Um- 
ständen, indem  es  edler  wird  als  das  schützende 
Metall,  dessen  Zerstörung,  anstatt  sie  aufzuhalten, 
beschleunigen.  Das  Davy 'sehe  Verfahren  hat 
sich  also,  so  richtig  der  ihm  zugrunde  liegende 
Gedanke  auch  ist,  doch  in  der  Praxis  nicht  be- 
währt. 

Hier  greift  nun  ein  neues  Verfahren  ein,  das 
vor  einigen  Jahren  von  einem  Ingenieur  namens 
Cumberland  vorgeschlagen  worden  ist.  Cum- 
berland  leitet  mit  Hilfe  einer  Niederspannungs- 
maschine einen  Strom  von  6 — 10  Volt  Spannung 
durch  das  zu  schützende  System  und  die  es  um- 
spülende Flüssigkeit,  in  die  er  in  geeigneter 
Weise  Eisenelektroden  einsenkt,  so  daß  diese 
Elektroden  als  Anoden  dienend  zerfressen  und 
die  schützenden  Metallteile  als  Kathoden  fun- 
gierend vor  dem  Zerfressen  geschützt  werden. 
Die  Stromdichte,  die  zu  wirksamem  Schutz  er- 
forderlich ist,  ist  nur  gering;  so  genügt  bei  Ober- 
flächenkondensatoren I  Ampere  zum  Schutz  von 
46,5  qm  Oberfläche   vollkommen. 

Außer  dieser  Schutzwirkung  übt  das  C  u  m  b  e  r  - 
1  a  n  d  -  Verfahren  auch  einen  außerordentlich  gün- 
stigen Einfluß  auf  die  oft  sehr  lästige  Bildung  von 
Kesselstein  aus.  Da  bei  dem  Cumberland- 
Verfahren  fortwährend  ein  elektrischer  Strom  durch 
das  Kesselwasser  fließt,  tritt  Elektrolyse  ein,  die 
positiven  Metallionen  wandern  zur  negativen  Elek- 
trode, d.  h.  zur  Kesselwand,  werden  hier  infolge 
der  verhältnismäßig  hohen  Spannung  entladen  und 
setzten  sich  nun  in  sekundärer  Reaktion  mit  dem 
Kesselwasser  zu  Wasserstoff  und  freier  Base  um. 
Es  findet  also  an  der  Kesselwand  ständig  eine 
schwache  Wasserstoftentwicklung  statt,  und  diese 
.  hindert  die  Ablagerung  von  festem  Kesselstein  an 
der  Kesselwand.  Der  Kesselstein  kann  sich  nur 
als  loser  Schlamm  absetzen  und  in  dieser  Form 
bei  der  Reinigung  des  Kessels  leicht  abgeblasen 
werden.  Ja  es  hat  sich  sogar  gezeigt,  daß  alte 
fest  an  der  Kesselwandung  haftende  Kesselstein- 
schichten bei  Einführung  des  Cumberlan  d'schen 


4i4 


Maturwissenschaftliche  Wochenschrilt. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Verfahrens  erweichen  und  sich  so  von  selbst  von 
der  Kesselwand  loslösen. 

In  der  Praxis  hat  sich  das  Cumberland' sehe 
Verfahren  nach  den  bisher  vorliegenden  Berichten 
ausgezeichnet  bewährt.  Eine  Anzahl  Dampfschiff- 
fahrtsgesellschaften, wie  die  White  Star-Linie,  die 
Union  Steamship  Company  of  New  Zealand  und 
andere,  haben  es  für  iiire  Schiffe  eingeführt.  So 
waren  bei  einem  der  White  Star-Linie  gehörigen 
Schiff,  das  14  Monate  lang  Dienst  als  Hilfskreuzer 
getan  hatte,  bei  seiner  Rückkehr  in  den  Hafen 
die  Kessel  in  vorzüglichem  Zustande,  frei  von 
Rost  und  Kesselstein,  und  die  Kondensatoren, 
die  früher  durch  das  Zerfressen  von  Rohren  viel 
gelitten  hatten,  ganz  unversehrt  —  gewiß  ein 
ganz  hervorragendes  Ergebnis. 

Das  vorliegende  Referat  beruht  auf  einem  Be- 
richt, den  der  Oberingenieur  Janzen  in  Berlin- 
Siemensstadt  unter  dem  Titel  „Das  elektrolytische 
Verfahren  zur  Verhütung  der  Zerfressungen  von 
Metallen"  über  das  Cumberland' sehe  Verfahren 
in  der  „Zeitschrift  d.  Vereins  Deutscher  Ingenieure" 
(Jahrgang  191 7,  Heft  7,  S.  140 — 143)  erstattet  hat. 

Mg. 

Zoologie.  Die  Zahl  der  Generationen  beim 
ungleichen  Borkenkäfer  (Anisandrus  dispar  F.)  hat, 
dem  Ergebnis  seiner  früheren  Beobachtungen  ent- 
sprechend, O.  Schneider-Orelli  für  die 
Schweiz  erneut  mit  Sicherheit  mit  einer  fest- 
gestellt. ■')  Für  diese  Käferart  werden  in  der 
Literatur  beinahe  ausnahmslos  zwei  Generationen 
angegeben. 

Der  ungleiche  Borkenkäfer  verläßt  seine  Bohr- 
löcher im  Frühjahr.  Ende  Juni  und  Anfang  Juli 
191 6  wurden  dem  Verfasser  an  den  befallenen 
Apfelbäumen  neue  Bohrlöcher  gemeldet.  Die 
genaue  Untersuchung  ergab,  daß  dieselben  aber 
vom  großen  Obstbaumsplintkäfer  herrührten.  Mitte 
Juli  stellte  sich  noch  die  dritte  Art  ein,  nämlich 
der  kleine  Obstbaumsplintkäfer.  Dieser  Umstand 
ist  nicht  nur  deshalb  von  besonderem  Interesse, 
weil  er  die  anlockende  Wirkung  des  geeigneten 
Brutholzes  auf  die  verschiedenen  Borkenkäferarten 
veranschaulicht,  sondern  auch  weil  er  zeigt,  wie 
die  irrtümlichen  Angaben  über  die  Zahl  der  Ge- 
nerationen aufkommen  können.  Der  ungleiche 
Borkenkäfer  überwintert  als  fertiges  Insekt,  wäh- 
rend die  beiden  Obstbaumsplintkäfer  dies  im 
Larvenzustand  tun.  Diese  Tatsache  führt  zu  ver- 
schiedenen Flugzeiten.  Alle  haben  aber  nur  eine 
einzige  jährliche  Generation.  A.  Heß. 

Weitere  Beobachtungen  über  die  Partheno- 
genese der  Infusorien.  (Mit  2  Abbildungen.)  Die  kürz- 
lich an  dieser  Stelle  besprochenen  Untersuchungen 
von  Woodruff  und    Er d mann    über    den    pe- 

')  Über  den  ungleichen  Borkenkäfer  an  Obstbäumen  im 
Sommer  1916.  Schweiz.  ,,Zeitschr.  für  Obst-  und  Weinbau" 
1917- 


riodischen  Reorganisationsprozeß  bei  Infusorien ') 
haben  durch  neue  Experimente  von  Jollos^) 
eine  wichtige  Erweiterung  erfahren.  Jollos 
suchte  eine  Antwort  zu  finden  auf  die  Frage: 
Ist  die  Parthenogenese  durch  die  innere,  er- 
erbte Konstitution  der  Infusorien  oder  durch 
äußere  Faktoren  bedingt?  Woodruff  und 
Erdmann  sind  geneigt,  innere  Faktoren  für 
die  Reorganisation  des  Kernapparates  verantwort- 
lich zu  machen.  Die  äußeren  Bedingungen,  Tem- 
peratur, Ernährung,  Beleuchtungsverhältnisse  usw., 
waren  ja  in  ihren  jahrelangen  Zuchten  dauernd 
nach  Möglichkeit  gleichmäßig,  und  der  Prozeß 
wiedft-holte  sich  ganz  regelmäßig  nach  einer 
„bestimmten"  Anzahl  vegetativer  Teilungen, 
ausschalten  ließen  sich  die  „Rhythmen"  nicht. 
Auch  Jollos  stellte  diese  periodische  Wiederkehr 
der  Parthenogenese  in  gleichförmigen  Kulturen 
von  Paramaecium  caudatum  fest.    So  zeigt  Abb.  I 


Teilungsfrequenz 
innerhalb  24  Stunden 


3  g- 
I  3 


. 

_^^ 

+  <:^ 

1 

> 

~? 

^^ 

^-<- 

^x 

20-22 

23-25 
26—28 


die  Teilungsfrequenz  einer  Paramäcienrasse,  die 
mit  Bacterium  proteus  gefüttert  wurde,  eine  Nah- 
rung, die  besonders  geeignet  ist,  um  eine  gleich- 
mäßige Fortpflanzung  zu  erzielen.  Mit  ziemlicher 
Regelmäßigkeit  erfolgen  in  der  Rasse  innerhalb 
24  Stunden  2^3  Teilungen.  Nach  einiger  Zeit 
beobachten    wir    plötzlich    ein    rasches    Absinken 


')  Naturw.  Wochenschr.,  N.  F.  Bd.  14,  1915  (H.  Nachts- 
heim, Parthenogenese  bei  Infusorien)  und  N.  F.  Bd.  16,  19 17 
(Woodruff  und  Erdmann,  Der  periodische  Reorganisa- 
tionsprozeß bei  Infusorien). 

''■)  Jollos,  V.,  Die  Fortpflanzung  der  Infusorien  und  die 
potentielle  Unsterblichkeit  der  Einzelligen.  Biol.  Zentralbl., 
Bd.  36,   1916. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


41 5 


der  Teilungsgeschwindigkeit,  der  dann  ein  ebenso 
lasches  Ansteigen  bis  zur  ursprünglichen  Höhe 
folgt.  Während  dieser  Veränderungen  der  Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit findet  regelmäßig  die 
Erneuerung  des  Kernapparates  (-f-)  statt.  In  einem 
sehr  wichtigen  Punkte  unterscheidet  sich  aber 
diese  Darstellung  der  Teilungsfrequenz  von  der 
Woodruffs  und  Erdmann's.  Diese  geben 
eine  wellenförmig  verlaufende  Teilungsfrequenz- 
kurve wieder,  d.  h.  nach  ihren  Angaben  sollen 
die  Teilungen  zwischen  zwei  Reorganisations- 
prozessen nicht  in  regelmäßigen  Intervallen  er- 
folgen, sondern  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
soll  nach  der  Reorganisation  des  Kernapparates 
langsam  zunehmen  bis  zu  einem  gewissen  Höhe- 
punkte, um  dann  ebenso  langsam  bis  zu  einer 
neuen  Reorganisation  wieder  abzusinken.  Da 
Woodruff  und  Erdmann  im  Gegensatz  zu 
Jollos  keine  näheren  statistischen  Angaben  über 
die  Zu-  und  Abnahme  der  Teilungsfrequenz 
machen,  muß  man  wohl  die  Darstellung  des  letz- 
teren für  die  richtige  halten. 

Das  relativ  regelmäßige  Auftreten  der  Partheno- 
genese unter  gleichförmigen  Außenbedingungen 
ist  nun  aber  noch  kein  Beweis  für  ihren  kon- 
stitutionellen Ursprung.  Die  gleichförmigen  Be- 
dingungen können  auch  gleichmäßig  sich  sum- 
mierende oder  periodisch  einwirkende  Schädi- 
gungen im  Gefolge  haben.  Daß  dem  tatsächlich 
so  ist,  geht  denn  auch  aus  den  weiteren  Experi- 
menten von  Jollos  hervor. 

Abb.  2  gibt  die  Teilungsfrequenz  einer  unter 
normalen  Bedingungen   bei  21''    in  der  Zeit  vom 

März  April  Mai 


l  ^  ^  ii  l  ^  ^lll  ^  l  i  ^  l  i  i  X 

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Abb.   2. 
Weitere  Erklärung  im  Text.     (Aus  Jollos.) 

_  normale  Abzweigungen    von    der   nor- 

■~    Kultur  '  ■  ■  '         malen    Kultur   zur  Auslosung 

von  Parthenogenese 
=  Parthenogenese. 


13.  März  bis  5.  Mai  1916  geführten  Hauptkultur 
von  Paramaecium  aurelia  wieder,  von  der  zu  ge- 
wissen Zeiten  Zweigkulturen  angelegt  wurden. 
Diese  Nebenzuchten  wurden  in  besondere,  die 
Parthenogenesis  begünstigende  Bedingungen  ver- 
setzt. Solche  Bedingungen  können  erzielt  werden, 
indem  man  die  tägliche  Isolierung  und  Über- 
tragung der  Paramäcien  unterläßt,  indem  man 
die  Temperatur    um    einige  Grad   erhöht,   sodann 


durch  Hinzufügung  von  stark  verdünntem  Am- 
moniakwasser zu  dem  Kulturmedium  oder  durch 
Einführung  verschiedener  Bakleriensorten.  Die  Ab- 
zweigung der  Zuchten  geschah  am  14.,  23.  und 
28.  März,  am  4.,  9.,  15.  und  23.  April.  In  der 
Hauptkultur  fand  vom  13.  März  bis  zum  5.  Mai 
zweimal  Parthenogenese  statt  (■  =  Parthenogenese), 
in  sämtlichen  Zweigkulturen  wurde  sie  fast  un- 
mittelbar nach  Versetzung  unter  die  auslösenden 
Bedingungen,  mindestens  aber  in  den  nächsten 
Tagen  festgestellt.  In  weiteren  Experimenten 
wurden  bei  etwas  anderer  Versuchsanordnung  ganz 
ähnliche  Resultate  erzielt.  Die  Auslösung  der 
Parthenogenese  kann  also  in  jedem  Zeitpunkte 
des  Lebens  der  Paramäcien  durch  äußere  Fak- 
toren erfolgen.  Versetzt  man  die  Zweigkulturen 
wieder  in  die  „normalen"  Verhältnisse,  so  verhalten 
sie  sich  wieder  wie  die  Hauptkultur.  Indem 
andererseits  Jollos  einen  Stamm  mehrere  Wochen 
lang  unter  den  „besonderen"  Bedingungen  beließ, 
konnte  er  es  erreichen,  daß  jeden  dritten  Tag, 
d.  h.  durchschnittlich  nach  5—6  Teilungen,  die 
Erneuerung  des  Kernapparates  erfolgte. 

Wenn  aber  die  Parthenogenese  in  jedem 
Lebensabschnitt  durch  Faktoren  der  Außenwelt 
hervorgerufen  werden  kann,  so  erhebt  sich  die 
weitere  Frage,  ob  sich  nicht  andererseits  Be- 
dingungen schaffen  lassen,  unter  denen  die  Par- 
thenogenese ganz  vermieden  werden  kann.  Ver- 
langt die  erbliche  Konstitution  des  Organismus 
unter  allen  Umständen  eine  zeitweise  Erneuerung 
des  Kernapparates,  oder  vermag  er  unter  gewissen 
Bedingungen  dauernd  zu  funktionieren?  Unter  den 
von  Woodruff  und  Erdmann  angewandten 
Bedingungen  schreitet  ein  Paramaecium  aurelia 
nach  40—50,  längstens  aber  60  Generationen  zur 
Parthenogenese.  Indem  Jollos  statt  der  hohl- 
geschliffenen Objektträger  größere  Gefäße,  die  je- 
doch die  tägliche  genaue  Durchmusterung  noch 
zuließen,  zur  Aufzucht  benutzte  und  Salatwasser 
statt  Bouillon  als  Nährmedium  verwandte,  ver- 
mochte er  die  Lebensbedingungen  für  die  Para- 
mäcien noch  bedeutend  zu  verbessern,  und  so 
gelang  es  ihm,  den  Eintritt  der  Parthenogenese 
bis  nach  130 — 140,  in  einem  Falle  sogar  bis  nach 
168  Teilungsschritten  hinauszuschieben.  Dauernd 
die  parthenogenetischen  Prozesse  auszuschalten, 
war  jedoch  nicht  möglich.  Nun  ist  damit  aller- 
dings noch  nicht  der  Beweis  erbracht,  daß  das 
überhaupt  unmöglich  ist,  aber  mit  Recht  erklärt 
Jollos,  daß  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  der 
Makronukleus  der  Infusorien  unter  bestimmten 
Bedingungen  dauernd  funktionsfähig  bleiben  kann, 
außerordentlich  gering  ist.  „Der  Makronukleus 
besitzt",  sagt  Jollos,  „nur  eine  beschränkte 
Lebensdauer;  nicht  so  beschränkt,  wie  es  nach 
den  in  dieser  Hinsicht  ungünstigen  Kulturbedin- 
gungen von  Woodruff  erschien,  wie  ja  auch  die 
Lebenszeit  des  Menschen  nicht  nach  dem  von 
einer,  besonderer  Schädigung  ausgesetzten  Berufs- 
klasse im  Durchschnitt  erreichten  Alter  allgemein 
bemessen  werden  kann  —  aber  Altern  und  natür- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


liebem  Tode  ist  er  offenbar  doch  unterworfen." 
Durch  besondere  Pflege  vermögen  wir  die  Lebens- 
dauer eines  Infusors  ebenso  wie  die  eines  viel- 
zelligen Organismus  zu  verlängern,  Unsterb- 
lichkeit können  wir  indessen  keinem  verleihen. 
Am  Schlüsse  seiner  Abhandlung  nimmt  J  o  1 1  o  s 
noch  Stellung  zu  Weismann's  Lehre  von  der 
potentiellen  Unsterblichkeit  der  Protisten.  Bei 
Besprechung  der  Untersuchungen  Woodruffs 
und  Erdm  ann's  hatten  wir —  ebenso  wie  diese  — 
den  Standpunkt  \ertreten,  daß  die  Weismann- 
sehe  Theorie  dadurch  unhaltbar  geworden  ist. 
Jollos  ist  anderer  Ansicht.  Gewiß  könne  man 
heute  die  Infusorien  nicht  mehr  als  potentiell 
unsterblich  bezeichnen,  aber  die  Weisman  n'sche 
Lehre  bestehe  auch  weiterhin  zu  Recht.  Bei  den 
Infusorien  sei  ■ —  im  Gegensatz  zu  den  übrigen 
Protisten  —  bereits  eine  Trennung  in  Soma  und 
Keimplasma  (Makronukleus  und  Mikronukleus) 
eingetreten,  sie  gehörten  also  in  dieser  Hinsicht 
schon  zu  den  Vielzelligen;  diese  Weismann  bei 
Aufstellung  seiner  Theorie  noch  unbekannte  Tat- 
sache mache  es  verständlich,  daß  es  auch  bei  den 
Infusorien  einen  Tod  gebe,  ja  es  wäre  geradezu 
ein  Beweis  gegen  die  Richtigkeit  der  Weis- 
man n '  sehen  Theorie,  wenn  der  Makronukleus  zu 
dauernder  Erhaltung  befähigt  wäre,  da  dieses  eine 
potentielle  Unsterblichkeit  des  Somas  dartun  würde. 
Doch,  so  fragen  wir,  wo  ist  denn  der  Beweis,  daß 
bei  den  übrigen  Protisten,  bei  denen  sich  mor- 
phologisch eine  Trennung  in  Soma  und  Keim- 
plasma noch  nicht  nachweisen  läßt,  diese  auch 
physiologisch  noch  nicht  erfolgt  ist  ?  Es 
liegen  bereits  Beobachtungen  vor,  die  es  wahr- 
scheinlich machen,  daß  auch  in  anderen  Gruppen 
von  Protisten  Reorganisationsprozesse  stattfinden, 
die  mit  der  Parthenogenese  der  Infusorien  im 
Prinzip  übereinstimmen.  Weitere  Untersuchungen 
müssen  hier  weitere  Klarheit  schaffen.  Jedenfalls 
ist  die  Kluft,  die  Weis  mann  zwischen  Protisten 
und  vielzelligen  Organismen  konstruiert  hat,  nicht 
vorhanden.  Jollos  will  diese  Kluft  an  eine 
andere  Stelle  setzen,  sie  existiert  indessen  wohl 
überhaupt  nicht.  „Auch  die  Protozoen  verhalten 
sich",  um  mit  R.  Hertwig')  zu  sprechen,  „wie 
Maschinen,  welche  bei  ihrer  Tätigkeit  nicht  nur 
das  ihnen  zugeführte  Material  zu  Arbeitsleistung 
verbrauchen,  sondern  zugleich  auch  eine  ihren 
Fortbestand  gefährdende  Abnutzung  erfahren." 
Übrigens  scheint  auch  Jollos,  obwohl  er  als 
Verteidiger  der  Weis  mann'schen  Theorie  auf- 
tritt, auf  einem  ganz  ähnlichen  Standpunkte  zu 
stehen.  Aber  es  heißt  doch  den  Inhalt  von 
Weismann's  Theorie  auf  ein  Minimum  be- 
schränken, wenn  er  sie  in  die  These  faßt:  „Der 
Lebensprozeß  braucht  den  Keim  des  Todes  nicht 
in  sich  zu  enthalten."  Mögen  wir  auch  das 
Altern     nicht     als    eine    Grund  eigenschaft    der 


')  Hertwig,  R.,  Über  Parthenogenesis  der  Infusorien 
und  die  Depressionszustände  der  Protozoen.  Biol.  Zentralbl., 
Bd.  34,   1914. 


lebendigen  Substanz  betrachten,  der  Tod  ist  sicher 
schon  sehr  frühzeitig  aufgetreten  in  der  Entwick- 
lung des  Organischen.  Auch  er  zeigt  eine  all- 
mähliche Entwicklung.  Die  „Monere"  mag  so 
langsam  altern,  daß  sie  für  uns  unsterblich  ist, 
die  Mehrzahl  der  heute  lebenden  Protisten  ist 
aber  ebensowenig  unsterblich  wie  die  Metazoen 
und  Metaphyten,  wenn  auch  jene  nur  einem 
„Partialtode"  verfallen,  während  „bei  Vielzellern 
der  Tod  mehr  und  mehr  seine  Domäne  erweitert" 
(R.  Hertwig)').  „Nicht  erst  mit  der  Vielzellig- 
keit setzte  der  Tod  ein,"  —  diesen  Schlußworten 
von  Jollos  stimmen  wir  vollkommen  zu  —  „wir 
finden  ihn  vielmehr  als  Teilerscheinung  („Partial- 
tod"  R.  Hertwig)  auch  im  Reiche  der  Ein- 
zelligen fortschreitend  ausgebildet,  sehr  sinnfällig, 
wie  wir  sahen,  bei  den  Infusorien,  aber  bald  in 
dieser,  bald  in  jener  Form,  bald  geringe,  bald 
große  Teile  der  lebendigen  Substanz  erfassend 
auch  bei  den  meisten,  wenn  nicht  allen  anderen 
heutigen  Protistenformen.  Sind  doch  die  Protisten 
für  uns  nicht  mehr  die  „einfachsten  Organismen", 
wie  sie  es  noch  für  Weis  mann  waren  und  bei 
dem  damaligen  Stande  der  Wissenschaft  sein 
mußten,  sondern  „höchst  entwickelte  Zellen"." 
Nachtsheim. 

Über  die  Dauer  der  Puppenruhe  beim  Frost- 
spanner hat  O.  Schneider-Orelli  bemerkens- 
werte Versuche  angestellt  und  deren  Ergebnisse 
veröffentlicht.  ^) 

Die  Flugzeit  des  Frostspanners  (Operophthera 
[Cheimatobia]  brumata  L.)  fällt  in  den  Spätherbst. 
Als  Erscheinungszeit  des  Falters  wird  zumeist  der 
Zeitpunkt  des  Auftretens  der  ersten  Nachtfröste 
angegeben.  Dieselbe  fällt  je  nach  der  Lage  des 
Beobachtungsortes  auf  eine  verschieden  vorge- 
rückte Jahreszeit.  Bei  Petersburg  und  in  den 
baltischen  Provinzen  erscheinen  die  Frostspanner 
Ende  September  und  in  der  ersten  Oktoberhälfte, 
in  Zentralrußland  Mitte  bis  Ende  Oktober  und  in 
der  Krim  sogar  erst  Ende  November.  Im  schwei- 
zerischen Hochgebirge  erscheint  er  Ende  Sep- 
tember. In  Wädenswil  am  Zürichsee  (480  m  ü.  IVI.) 
erscheinen  die  ersten  Exemplare  Mitte  Oktober. 
Ende  des  Monats  oder  in  der  ersten  Hälfte  des 
November  erreicht  die  Flugzeit  ihren  Höhepunkt 
und  Anfang  Dezember  gelangt  sie  zum  Abschluß. 

Aus  diesen  wenigen  Angaben  schon  geht  her- 
vor, daß  der  Frostspannerflug  im  Gebirge  und  in 
nördlich  gelegenen  Gebieten  früher  einsetzt  als  in 
tiefen  und  südlichen  Lagen.  Dieser  Umstand  ist 
verständlich,  weil  ein  Ausschlüpfen  der  Falter  aus 
dem  Boden  in  rauheren  Gegenden  der  Schnee- 
decke   oder    des    starken    Frostes    wegen    später 


')  H  e  r  t  w  i  g ,  R.,  Über  den  Ursprung  des  Todes.  Vortrag 
zum  Besten  des  Petlenkoferhauses.  Beilage  zur  Allgemeinen 
Zeitung,  Jahrg.   1906. 

^)  Temperaturversuche  mit  Frostspannerpuppen,  Operoph- 
thera brumata  L.,  in  „Mitteilungen  der  Entomologia  Zürich 
und  Umgebung",  Heft  3,  1916, 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


417 


nicht  mehr  möglich  wäre.  Die  Puppenruhe  muß 
demnach  in  kälteren  Lagen  weniger  lang  dauern, 
als  in  milderen,  da  auch  der  spätere  Frühlings- 
eintritt in  den  ersteren  einen  späteren  Ausfall  der 
überwinterten  Eier  und  eine  spätere  Verpuppung 
der  Raupen  zur  Folge  haben  muß. 

Der  Verfasser  wollte  feststellen,  ob  die  ersten 
Fröste  oder  richtiger  ausgedrückt  die  spätherbst- 
liche Abkühlung  den  Anstoß  zum  Ausschlüpfen 
der  Falter  aus  den  Puppen  gibt.  Zur  Erforschung 
dieser  physiologischen  Erscheinung  nahm  er  im 
Jahre  19 16  verschiedene  Versuche  vor. 

In  Wädenswil  gesammelte  Puppen  wurden  zum 
Teil  nach  dem  Großen  St.  Bernhard  (2473  m  ü.  M.) 
geschickt.  Diese  2000  m  höher  gelegene  Ver- 
suchsstation hat  eine  um  ungefähr  10"  C  tiefere 
mittlere  Jahrestemperatur  als  Wädenswil. 

Die  Versuche  ergaben,  daß  die  Psalter  auf  dem 
Großen  St.  Bernhard  später  schlüpften  als  bei 
den  in  Wädenswil  zurückbehaltenen  Kontroll- 
puppen. Sie  wären  auf  der  Höhenstation  wohl 
gar  nicht  mehr  pro  1916  geschlüpft,  wenn  die 
Behälter  nicht  in  ein,  allerdings  ungeheiztes, 
Zimmer  genommen  worden  wären,  als  die  Außen- 
temperatur zu  tief  sank.  In  Wädenswil  verblieben 
die  Zuchtkasten  immer  im  Freien. 

Die  tiefere  Temperatur  hatte  also  eine  Ver- 
zögerung im  Schlüpfen  des  Falters  zur  Folge. 
Zum  gleichen  Ergebnis  führte  ein  anderer  Ver- 
such. Die  Puppen  wurden  bei  demselben  in 
Wädenswil  behalten,  aber  vom  8.  Juni  bis  12.  Juli 
im  Eisraum  und  dann  im  Freien  gehalten. 
„Das  Erscheinen  der  brumata-Falter  ist  demnach 
nicht  einfach  die  Folge  der  starken  herbstlichen 
Abkühlung,  sondern  der  Abschluß  außerordent- 
lich komplizierter  physiologischer  Reifungspro- 
zesse." 

Versuche  über  den  Einfluß  einer  starken  Tem- 
peraturerhöhung auf  das  Schlüpfen  der  PVost- 
spannerfalter,  die  an  Puppen  vorgenommen  wurden, 
führten  noch  zu  keinem  bestimmten  Ergebnis. 
Dagegen  gelang  bei  anderen,  wie  dies  zu  er- 
warten war,  Eier  in  der  erhöhten  Temperatur 
des  Laboratoriums  zu  einem  früheren  Ausschlüpfen 
als  im  P"reien  zu  bringen.  Auch  die  Raupen  ent- 
wickelten sich  rascher  bei  einer  erhöhten  Tem- 
peratur und  kamen  früher  zur  Verpuppung.  Als 
Ergebnis  der  bisherigen  Versuche  wurde  festge- 
stellt, daß  beim  PVostspanner  die  Dauer  des  Ei- 
zustandes,  die  in  tieferen  Lagen  der  Schweiz  gegen 
5V.2  Monate,  im  Gebirge  sicher  noch  mehr  be- 
trägt, durch  Aufbewahren  der  Eier  in  hoher  Tem- 
peratur auf  beinahe  den  fünften  Teil  verkürzt 
werden  kann.  Das  Raupenstadium  der  schweize- 
rischen Talfrostspanner,  welches  durchschnittlich 
etwa  6  Wochen  dauert,  läßt  sich  durch  die  Auf- 
zucht in  erhöhter  Temperatur  bedeutend  ver- 
kürzen. So  z.  B.  bei  einer  beständigen  Tempe- 
ratur von  25  "  C  auf  den  dritten  Teil  der  nor- 
malen Dauer.  Nicht  gelungen  ist  aber  die  bei 
den  schweizerischen  Talfrostspannern  ungefähr 
5  Monate  dauernde  Puppenruhe  in  entsprechendem 


Maße  abzukürzen.  „Das  Verbringen  von  Talpuppen 
an  einen  2000  m  höher  liegenden  Standort  im 
Gebirge  oder  vorübergehend  auch  in  künstlich 
abgekühlte  Räume  rief  wiederholt  eine  deutliche, 
wenn  auch  an  und  für  sich  nicht  sehr  bedeutende 
Verzögerung  des  Ausschlüpfens  der  Falter  hervor. 
Wahrscheinlich  aber  dauert  die  Puppenruhe  des 
Frostspanners  in  unseren  (schweizerischen)  Ge- 
birgslagen nur  etwa  3V2  Monate.  Es  wird  sich 
in  künftigen  Versuchen  vor  allem  darum  handeln, 
mit  solchen  Gebirgsfrostspannern  im  Tale  Zucht- 
versuche durchzuführen,  um  festzustellen,  ob  sie 
hier  ihre  kürzere  alpine  Puppendauer  beibehalten, 
oder  aber  unter  dem  Einfluß  der  veränderten 
äußeren  Bedingungen  sie  verlängern,  d.  h.  den 
Talfrostspannern  ähnlicher  werden.  Jedenfalls  läßt 
sich  aus  den  vorliegenden  Versuchen  ersehen,  daß 
das  Ausschlüpfen  der  brumata-Falter  in  erster  Linie 
vom  inneren  Reifungsgrad  der  Puppen  abhängt 
und  durch  P'rostwirkung  nicht  beschleunigt  werden 
kann."  A.  Heß. 

Biologie.  Über  einen  neuen  Fall  von  Sym- 
biose zwischen  einem  Kieselschwamm  mit  einer 
Actinie  und  einem  Ringelwurm  in  der  Tiefsee  des 
Atlantischen  Ozeans  berichtet  Ch.  J.  Gravier 
in  der  Sitzung  der  Pariser  Akademie  der  Wissen- 
schaften vom  19.  Februar  191 7  (Sur  l'association 
d'une  Eponge  siliceuse,  d'une  Anemone  de  mer 
et  d'un  Anelide  polychete  des  profondeurs  de 
L'At'lantique.  Presentee  par  Ed.  Perrier.  C.  R. 
Ac.  sc.  Paris  Nr.  8,  191 7).  Auf  den  Forschungs- 
fahrten der  „Princesse  Alice"  des  Fürsten  von 
Monaco  wurden  in  der  Nähe  von  Cap  Vert  in  einer 
Tiefe  von  800— 121 1  m  zahlreiche  noch  lebende 
Bruchstücke  einer  Hexactinellide  gefunden,  welche 
als  Sarostegia  oculata  beschrieben  wurde.  Der 
Schwamm  ist  koloniebildend;  auf  einer  schmalen 
Platte  erheben  sich  zahlreiche  unregelmäßig  dicho- 
tomisch  geteilte,  alle  ziemlich  gleich  lange  Äste. 
Das  Ganze  hat  bisweilen  die  Form  eines  großen 
Fächers;  der  Stock  ist  zu  zerbrechlich  um  im 
Schleppnetz  ganz  zu  bleiben,  so  daß  nur  Stücke 
davon  nach  oben  kommen;  er  stellt  ein  Röhren- 
werk dar,  dessen  bald  gerade,  bald  gebogene  Äste, 
wie  bei  einem  Fächer  am  einen  Ende  ovale  5 
bis  6  mm  große,  einander  gegenüberliegende 
Öffnungen  haben.  Das  Skelett  besteht  aus  drei- 
achsigen Kieselnadeln,  zwischen  denen  am  freien 
Ende  zackige  zerteiUe  Spiculae  liegen.  Der 
Schwamm  wird  von  sehr  zahlreichen  Actinien  be- 
deckt, deren  größte  4  mm  breit  war.  Jetzt,  nach 
langem  Aufenthalt  in  Alkohol,  sehen  sie  aus  wie 
gräuliche  Flecken  auf  dem  braunen  Schwamm; 
ihre  Form  ist  die  einer  wenig  dicken  Scheibe;  das 
.  Peristom  ist  tief  eingezogen,  so  daß  kein  einziger 
Tentakel  zu  sehen  ist.  Das  ganze  Tier  wird  von 
einer  dicken  Schicht  von  Fremdkörpern,  größten- 
teils Foraminiferen,  bedeckt.  Die  Tentakeln,  etwa 
30,  sind  in  zwei  ringförmigen  Reihen  an- 
geordnet. 


4i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Der  Sphinkter  ist  mächtig  entwickelt,  die  Fuß- 
scheibe dagegen  sehr  reduziert.  Aus  dem  Fehlen 
von  Nesselfäden  und  Muskeln  in  den  Tentakeln 
kann  man  schließen,  daß  die  Actinie  nur  sehr 
wenig  und  vor  allem  keine  großen  lebenden  Tiere 
fängt.  Infolge  ihres  dicken  Belags  mit  Foramini- 
feren  ist  die  Actinie  schwer  und  rigid.  Oberhalb 
des  Sphinkters  kann  sie  offenbar  nur  in  ganz  be- 
schränktem Maße  Bewegungen  ausführen.  Höchst- 
wahrscheinlich dienen  ihr  zur  Nahrung  verschiedene 
Organismen,  welche  im  Wasser  in  der  Umgebung 
des  Schwammes  suspendiert  sind.  Wie  man  weiß, 
sind  die  Schwämme  nur  insofern  aktiv,  als  sie  das 
umgebende  Wasser  in  das  Innere  ihres  Körpers 
hineinstrudeln.  Das  Schmarotzertum  der  Actinie 
beschränkt  sich  also  auf  einen  Kominensalismus'). 
Die  Actinie  aber  wird  dem  Schwamm  dadurch 
nützlich,  daß  sie  ihn  davor  bewahrt  von  anderen 
Lebewesen,  wie  z.  B.  von  Moostierchen  überkrustet 
zu  werden,  denn  dieselben  könnten  nämlich  den 
Schwamm  allmählich  so  einschließen,  daß  seine 
Gewebe  nekrotisch  würden,  wogegen  die  kleinen 
Actinien  einen  hinreichend  großen  Teil  seiner 
Oberfläche  freilassen.  Aus  allem  geht  hervor,  daß 
der  Schwamm  nicht  lediglich  als  Unterlage  in  Be- 
tracht kommt,  wie  ja  auch  auf  den  abgestorbenen 
Ästen  sich  keine  Actinien  mehr  finden;  ganz 
allgemein  beginnen  sie  sich  dann  zu  lösen  um  sich 
auf  anderen  lebenden  Tieren,  wie  Mollusken  oder 
Crustaceen  anzusiedeln.  Der  Schwamm  seiner- 
seits bietet  der  Actinie  die  gleichen  Vorteile, 
welche  ein  ortsveränderliches  Tier  hat,  indem  er 
ihr  stets  frisches  Wasser  zuführt. 

In  den  Verästelungen  des  Schwammes  fand  sich 
eine  neue  Polychäte  der  Gattung  Hermadion 
Kinberg  aus  der  Familie  der  Polynoidei;  der  Wurm 
hält  den  Zugang  zu  den  Gallerien  des  Schwammes 
offen,  deren  Verstopfung  für  diesen  verderblich  sein 
würde.  Der  festsitzende  Wurm  seinerseits  genießt 
den  Vorteil  eines  ständig  von  zirkulierendem  Wasser 
durchströmten  Verstecks. 

Zusammenfassend  kann  man  sagen,  daß  die 
Hexactinellide  zwei  ganz  verschiedenen  Tieren  ein 
Obdach  gewährt;  das  eine  davon  ist  festsitzend 
wie  der  Schwamm  selbst  und  spielt  die  Rolle 
eines  äußeren  Halbparasiten,  dessen  Schicksal  eng 
mit  dem  des  Wirtstieres  verknüpft  ist;  es  wäre 
dies  die  Actinie,  während  der  andere,  der  Wurm, 
immer  nur  zwischen  den  Asten  des  Schwammes 
sitzt  und  unabhängiger  vom  Wirtstier  ist  als  der 
vorige.  Die  Vorteile,  welche  Actinie  und  Ringel- 
wurm   aus   dieser  heterogenen  Vergesellschaftung 


')  Vom  Parasitismus  unterscheidet  sich  derselbe  dadurch, 
daß  beide  Tiere,  Wirt  und  Parasit,  ihre  Nahrung  von  außen 
beziehen;  das  eine  benachteiligt  das  andere  nur  als  Mit- 
bewerber, aber  nicht  dadurch,  daß  es  seine  Nahrung  aus  dem 
Körper  des  anderen  zieht,  wie  sich  bei  dem  Parasitismus  der 
Schmarotzer  dem  Wirtstiere  gegenüber  verhält. 


ziehen,  ist  für  beide  von  verschiedenem  Wert. 
Bei  dem  einen  beruht  er  auf  Gegenseitigkeit,  bei 
dem  anderen  ist  er  zwar  nicht  gleich  groß,  aber 
der  Ringelwurm  hat  doch  seinen  Nutzen  von  der 
Symbiose.  Jedenfalls  ist  aber  der  Nutzen  für  den 
Ringelwurm  und  noch  mehr  für  die  Actinie  größer 
als  der  für  den  Schwamm.  Kathariner. 

Geologie.  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Rhät- 
sandsteins  im  Schönbuch  zwischen  Stuttgart  und 
Tübingen  gibt  M.  Brä  u  häuser  in  den  Jahresber. 
u.  Mitteilungen  des  Oberrheinischen  geologischen 
Vereins,  N.  F.  B.  VI,  1916/17,  H.  2. 

Die  oberste  Stufe  des  Keupers,  das  Rhät,  ist 
mit  einer  weit  ausholenden  Transgression  sowohl 
in  den  Gebieten  der  alpinen  wie  auch  der  ger- 
manischen Trias  mit  einer  ähnlichen  Fauna  (Avi- 
cula  contorta  usw.)  zur  Ablagerung  gekommen. 
In  der  germanischen  Trias  folgen  auf  die  bis- 
herigen Kontinentalablagerungen  nunmehr  marine 
Schichten,  die  in  den  Jura  überleiten.  Bräu- 
häuser's  Untersuchungen  haben  ergeben,  daß 
die  Umgrenzung  der  Rhätsandsteingebiete  eine 
ganz  unregelmäßige  ist  und  daß  im  mittleren 
Schwaben  ebenso  wie  im  badisch-schweizerischen 
Grenzgebiet  die  rhätischen  Schichten  durch  oft 
rasches  Einsetzen  oder  unvermutetes  Auskeilen 
charakterisiert  sind.  Marine  Fauna  liegt  im  Schön- 
buch in  der  Umgebung  der  Berge  um  Waiden- 
buch, Steinenbronn  und  Echterdingen,  die  z.  T. 
dem  weltberühmten  Vorkommen  von  Nürtingen 
am  Fuße  der  Alb  an  die  Seite  treten  können. 
Im  Verbände  der  feinkörnigen  Rhätsandsteine  und 
nicht  in  der  Grenzebene  von  Rhät  und  Lias 
kommen  eine  oder  mehrere  Knochentrümmer 
führende  Lagen  („Bonebed")  vielfach  zusammen 
mit  großen  Gerollen  vor. 

Der  Rhätsandstein  ist  eine  fremdartige  Bildung 
über  den  bisher  germanisch  entwickelten  Trias- 
schichten. Er  ist  die  Ablagerung  des  nun  auch 
in  Deutschland  eingebrochenen  offenen  Welt- 
meeres, das  in  den  Alpen  und  fernen  außeralpinen 
Gebieten  mit  einer  ähnlichen  Lebewelt  auftritt. 
Die  Rhätfauna  weist  mancherlei  Beziehungen  zu 
der  darüber  folgenden  Liasfauna  auf  (Präkursor- 
fauna). Auf  der  anderen  Seite  lassen  vor  allem 
die  Ammoniten  des  Rhäts  noch  engere  Zusammen- 
hänge mit  der  marinen  Fauna  der  vorangegangenen 
Triaszeit  erkennen.  Auf  die  Auswertung  der  Fauna 
darf  man  mit  Recht  gespannt  sein. 

Die  Annahme  gelegentlicher  Wiederaufarbei- 
tung und  Umlagerung  schon  zu  rhätischer  Zeit  ab- 
gesetzt gewesener  Sedimente  zu  Beginn  der  Lias- 
bildung  hilft  über  mancherlei  Schwierigkeiten  der 
Abgrenzung  und  der  Deutung  von  Einzelheiten 
in  den  schwäbischen  Profilen  hinweg. 

V.  Hohenstein. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Bücherbesprechungen. 


Die  Chemie  im  täglichen  Leben.  Gemeinver- 
ständliche Vorträge  von  Prof.  Dr.  Lassar- Cohn, 
Königsberg  i.  Pr.  Achte  verbesserte  Auflage, 
mit  23  Abbild,  im  Text.  Leipzig  1916, 
Leopold  Voß.  —  Preis  4,80  M. 
Wie  der  Verfasser  im  Vorwort  bemerkt,  liegen 
nunmehr  von  diesem  bekannten  Buch  Über- 
setzungen vor  ins  Englische,  Finnische,  Französische, 
Hebräische,  Italienische,  Polnische,  Portugiesische, 
Russische,  Schwedische,  Serbische,  Spanische  und 
Tschechische.  Außerdem  ist  das  Werk  in  deutsche 
Blindenschrift  übertragen  und  in  Newyork  erschien 
ein  Nachdruck  mit  englischen  Anmerkungen,  um 
als  deutsches  Lesebuch  in  englichen  Schulen  zu 
dienen.  Dieser  gewaltige  Erfolg  ist  im  höchsten 
Maße  erfreulich,  zeigt  er  doch,  daß  ganz  allgemein 
der  Wunsch  im  Publikum  besteht,  sich  mit  den 
Dingen  des  täglichen  Lebens  etwas  ernsthafter 
zu  beschäftigen,  als  es  lange  Zeit  der  Fall  war.  — 
An  populärer  naturwissenschaftlicher  Literatur 
herrscht  ja  kein  Mangel,  aber  meistens  beschäftigen 
sich  derartige  Bücher  mit  biologischteleologischen 
P'ragen,  die  in  der  Mehrzahl  nicht  von  Gelehrten, 
sondern  von  Schriftstellern  vorgetragen  werden, 
denen  es  im  Grunde  genommen  mehr  um  die 
F^orm  als  um  den  Inhalt  zu  tun  ist.  Die  Folge 
davon  ist  —  abgesehen  von  der  Wiedergabe  von 
Unrichtigkeiten  —  Hervorkehren  „aktueller"  Hy- 
pothesen, was  für  besonders  reizvoll  gehalten  wird, 
und  eine  Darstellungsweise,  die  sich  möglichst 
eng  an  feuilletonistische  Darbietungen  anlehnt. 
In  den  Kreisen  der  Gelehrten  betrachtet  man 
darum  vielfach  die  sogenannte  populäre  natur- 
wissenschaftliche Literatur  recht  skeptisch,  ohne 
zu  bedenken,  daß  dem  Mangel  abzuhelfen  wäre, 
wenn  die  Gelehrten  selbst  das  Popularisieren  in 
die  Hand  nehmen  würden.  Ref  führt  den  Erfolg 
des  vorliegenden  Buches  —  abgesehen  von  der 
klaren  und  fließenden  Darstellungsweise  —  nicht 
zum  wenigsten  darauf  zurück,  daß  das  Laien- 
publikum instinktiv  die  Überlegenheit  des  Autors 
merkt,  der  den  Leser  auf  jeder  Seile  fühlen  läßt, 
daß  er  den  Stoft'  durchaus  beherrscht.  —  Von  der 
Reichhaltigkeit  des  verarbeiteten  Stoftes  zeugt  ein 
Blick  in  das  Sachregister;  wir  werden  über  das 
„Abschäumen  der  Suppe",  über  „Anästhetika", 
„Baumwollfärberei",  „Beefsteakfieisch",  die  „Camera 
obscura",  „Chilisalpeter"  ebenso  belehrt  wie  über 
„Eisenbahnschienen",  „Explosivstoffe",  „flüssige 
Luft"  und  „Fußbekleidung".  Die  „Gärung",  das 
„Glas",  „Hämmern  des  Eisens",  „Holz"  und  „Jodo- 
form" werden  dem  Leser  vorgeführt  wie  die 
„Kartoffeln",  das  „Kokain",  die  „Lichtputzschere" 
und  der  „Madeira".  Der  „Nährwert  des  Alkohols", 
das  „Opium"  und  „Porzellan",  das  „Rosten  des- 
Eisens", die  „Seidenfärberei",  der  „Speck"  und  der 
„Stallmist"  geben  dem  Verfasser  Veranlassung, 
chemische  Kenntnisse  zu  verbreiten  wie  der  „Torf", 
das  „Viehfutter",  der  „Weizen"  und  die  „Zucker- 
krankheit". —  In  der  neuen  Auflage  ist  der,  Zucker- 


krankheit und  ihrer  Behandlung  eine  ganz  besondere 
Aufmerksamkeit  geschenkt.  Verf ,  der  selbst  zucker- 
krank ist,  hat  mit  seiner  Methode  sehr  günstige 
Erfolge  an  sich  erzielt  und  darum  glaubt  er 
seinen  Leidensgenossen  seine  Erfahrungen  nicht  vor- 
enthalten zu  sollen.  Verf  neigt  der  Ansicht 
zu,  „daß  es  sich  bei  Zuckerkranken  um  einen  in 
ihrer  Blutbahn  kreisenden  Stoff  handelt,  der  die 
Nieren  veranlaßt,  Zucker  mit  dem  Harn  zusammen 
durchtreten  zu  lassen".  Im  Auftreten  von  Durst 
sieht  er  „eine  Selbsthilfe  der  Natur"  und  abgesehen 
von  einer  gewissen  Einschränkung  von  Kohle- 
hydrat armer  Kost  wird  eine  Wirkung  erzielt 
durch  „eine  Art  von  Dauertrinkkur".  Jede  wässerige 
Flüssigkeit,  die  nichts  enthält,  was  dem  Pflanzen- 
reich entstammt,  ist  für  diese  Trinkkur  geeignet. 
Verf  empfiehlt  seine  Kur,  die  eine  Ergänzung  der 
Roiloschen  Diät  darstellt,  allen  Zuckerkranken, 
denen  es  ihr  Arzt  erlaubt.  Wächter. 


Fr.  Frech,    Geologie  Kleinasiens   im  Be- 
reich der  Bagdadbahn  (Ergebnisse  eigener 
Reisen,    vergleichender   Studien    und    paläonto- 
logischer   Untersuchungen).      Aus:    Zeitschr.    d. 
deutsch,    geol.    Ges.    Bd.    68,    Berlin    1916,    als 
Sonderdruck  bei  F.  Enke-Stuttgart  m.  20  palä- 
ontol.  Tafeln,  3  geolog.  Karten,  i  Profil,   5  Text- 
bildern. —  20,20  M. 
Die    Aufmerksamkeit    des    ganzen    deutschen 
Volkes  ist  in  erhöhtem  Maße  auf  die  Entwicklung 
all  der  starken  natürlichen  Kräfte  unseres  wackeren 
türkischen  Bundesgenossen   gelenkt  worden.     Die 
vielen    ungehobenen    Bodenschätze    und    ihre    Zu- 
kunft stehen  dabei  mit  in  erster  Linie.    Mehr  als  eine 
Zusammenfassung  ist  darüber  erschienen.    In  dem 
hier   angezeigten  Werke  aber  handelt  es  sich  um 
weniger    und    um   mehr:    Die    praktisch  bergbau- 
lichen   Fragen    treten    bewußt    ein   wenig    zurück 
hinter    der    Erfassung    des    ganzen    geologischen 
Gebäudes    der    kleinasiatischen  Halbinsel.      Es  ist 
das  Ergebnis  mehrerer  Reisen  und  ihrer  Auswertung 
unter     rein     wissenschaftlichen     Gesichtspunkten. 
Eine    geologische  Übersichtskarte    zieht  das  Fazit 
aus  den  Untersuchungen  des  Verfassers.    Die  letzte 
der  Expeditionen  wurde  im  Auftrage  der  Bagdad- 
bahn   unternommen,    die  auch    mit    dieser  Förde- 
rung der  Forschung  ihrem  Wesen  als  Kulturpionier 
treu  geblieben  ist. 

Vielleicht,  daß  die  plötzlich  gesteigerte  Be- 
deutung des  Themas  für  die  Allgemeinheit  die 
Arbeit  zu  etwas  beschleunigtem  Abschluß  gebracht 
hat?  Gewisse  Unausgeglichenheiten  scheinen  dar- 
auf hinzuweisen :  Die  Ausführungen  auf  S.  82/83 
über  „die  Frage  des  Erdbebenschutzes  von  Ge- 
bäuden und  Eisenbahnbauten"  wiederholen  sich 
wörtlich  auf  S.  1 89/191.  Eine  Zahl  schwerwiegen- 
der Einwände  in  geographisch-geologischem  Sinne 
ist  von  einem  solchen  Kenner  des  Landes  wie 
Philippson  in  einem  späteren  Heft  der  gleichen 


420 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Zeitschrift  erschienen,  gegen  die  sich  freilich  der 
Verfasser  großenteils  erfolgreich  (wenn  auch  in 
bedauerlicher  Gereiztheit)  zu  wehren  vermochte; 
gleichzeitig  geht  Oppenheim  gegen  gewisse 
Ergebnisse  paläontologisch-stratigraphischer  Art 
an,  auf  die  der  Verf.  gerade  besonderen  Wert  ge- 
legt zu  haben  scheint,  und  in  diesem  Falle  dürfte 
die  Verteidigung  recht  schwierig  sein. 

Selbst  in  der  Disposition  des  Ganzen  herrscht 
aber  nicht  immer  wünschenswerte  Klarheit.  Ab- 
schnitt I  behandelt  den  Gebirgsbau  von  Anatolien 
und  zwar  in  Schilderungen  einzelner  Beobachtungs- 
abschnitte. Demgegenüber  ist  Abschnitt  II  eine 
zusammenfassende  Übersicht  über  „den  Gebirgsbau 
Kleinasiens"  nach  geographischen  Bezirken  nebst 
Hinblicken  auf  Nachbarländer,  insbesondere  Hellas. 
Hier  wie  dort  sind  dem  Tauros  bestimmte  Kapitel 
gewidmet,  der  nunmehr  aber  nicht  alsTeil  von  Anato- 
lien sondern  als  ihm  gleichgeordnet  erscheint,  so  daß 
das  begriffliche  Verhältnis  von  Anatolien  und  Klein- 
asien in  dauernd  wechselnder  Beleuchtung  auftritt, 
ohne  dabei  an  Klarheit  zu  gewinnen.  Wiederholun- 
gen waren  so  nicht  ganz  zu  vermeiden.  Abschnitt 
III  und  IV  sind  sodann  historisch  angelegt,  und  zwar 
wird  das  Fossilmaierial  aus  dem  Tauros  und  seine 
paläogeographische  Bedeutung  für  Silur-Devon, 
Karbon  und  Kreide  gesondert  beschrieben,  sowie 
zum  Schluß  eine  Erdgeschichte  der  Halbinsel  (die 
nun  aber  wieder  Anatolien  heißt)  nach  geologischen 
Zeiten  getrennt  geliefert,  womit  sich  aber  wieder 
die  Einführung  zu  Abschnitt  III  mindestens  dem 
Thema  nach  deckt.  Der  Leser  verliert  so  ein 
wenig  die  Übersicht,  wo  er  Einzelheiten  noch 
einmal  nachzuschlagen  hat.  Kulturgeschichtliche 
Beobachtungen  und  Meinungsäußerungen  von 
großem  Interesse  sind  hier  und  da  eingestreut, 
schweifen  aber  zuweilen  vom  geraden  Pfade  des 
Themas  ab. 

Es  bedarf  des  Hinweises  kaum,  daß  das 
Frech 'sehe  Werk  als  Materialsammlung  und 
durch  zahlreiche  wichtige  Anregungen  bedeutenden 
Wert  besitzt  und  bei  der  ferneren  Durchforschung 
Kleinasiens  als  nicht  zu  umgehender  Ratgeber 
dienen  wird.  Eine  auch  theoretisch  höchst  wichtige 
Neu-Erfahrung  wäre  das  ungestörte  Übergehen 
stark  gefalteter  Schichten  in  horizontal  gelagerte 
nach  oben  hin  innerhalb  der  Oberkreideschichten 
am  Berge  Kessek  oberhalb  der  Tschakii-Schlucht. 
Es  würden  also  nach  der  Frech 'sehen  Darstellung 
unter  Umständen  gebirgsbildende  Kräfte  die  unteren 
Lagen  zusammenpressen,  die  oberen  aber  lediglich 
zu  heben  vermögen.  Zweifellos  ist  das  ein  zu- 
nächst schwer  vorstellbarer  Vorgang.  Aber  die 
Faltengebirgs-Tektonik  hat  unserer  Vorstellungs- 
kraft ja  schon  ganz  andere  Aufgaben  gestellt  1 
Immerhin  sind  eingehendere  Beobachtungen  natür- 
lich abzuwarten.  Das  Problem  könnte  mit  dem 
anderen,  paläontologischen  im  Zusammenhange  zu 
erfassen  sein,  wonach  die  Seeigelgattung  Clypeaster, 
die  für  tertiäre  Schichten  überaus  charakteristisch 
ist,  an  jenem  Berge  bereits  in  der  Oberkreide 
auftreten  solle.  Nach  den  erwähnten  Oppenheim- 


schen  Einwänden  muß  doch  damit  gerechnet 
werden,  daß  wir  es  auch  hier  mit  echtem  Tertiär 
zu  tun  haben;  dann  aber  könnte  auch  jene  auf- 
fallende Lagerung  auf  andere  Weise  eine  Auf- 
klärung finden. 

In  der  Legende  zur  geologischen  Karte  ist  bei 
„Serpentin"  zu  ergänzen:  „Granit  im  Norden  und 
Zentrum"  (S.  309,  Fußnote  i).  Freilich  bleibt 
auch  dann  eine  einheitliche  Farbengebung  für 
genetisch  und  zeitlich  so  grundsätzlich  verschiedene 
Massengesteine  nichts  weniger  als  glücklich. 
Edw.  Hennig. 


CG.  Calwer's  Käferbuch,  Naturgeschichte 
der    Käfer    Europas.      Sechste,    völlig    um- 
gearbeitete Auflage,  herausgegeben  von  Camillo 
Schaufuß.  2  Bände  mit  1390  Seiten,  48  Tafeln 
und  254  Textfiguren.     Stuttgart,   E.  Schweizer- 
bart'sche     Verlagsbuchhandlung,      Nägele     und 
Dr.  Sproesser.   1916,  Kostenpreis  —  38  M. 
Das  stattliche  Buch  liegt  nun  fertig   vor.     Die 
Literatur  für  die  Coleopterologen  und  Käferfreunde 
ist   wieder   um    ein    gutes    Werk    bereichert.     Ein 
solches  Käferbuch  fehlte    uns   in  unseren  Jugend- 
jahren   und    später.     Es  zeichnet   sich    neben    der 
gewaltigen  Beherrschung  des  systematischen  Haupt- 
teils besonders  durch  die  reichlichen  Mitteilungen 
über  die  Lebensverhältnisse   der  Käferarten 
aus,  die  aligemein  willkommen  sein  werden.    Zum 
ersten    Male    ist    das    bionomische    Material    über 
Käfer    in    diesem    Umfange    gesammelt    und    der 
Öffentlichkeit  mitgeteilt.     Wer   da  weiß,    wie  zer- 
streut   in    der  Literatur   die  immerhin   zahlreichen 
Angaben  über  die  Bionomie  der  vielen  Käferarten 
sind,   der   wird    die   große   Sachkenntnis    und    die 
Emsigkeit     des    Verfassers     im    Zusammentragen 
dieser  in  langer  Zeit  von  Hunderten  von  Beobachtern 
gewonnenen  Kenntnisse  bewundern. 

Die  außerordentlich  fleißige  Bearbeitung  der 
Bionomie  der  Käfer,  die  durch  alle  Gattungen, 
soweit  sie  in  dieser  Beziehung  erforscht  sind,  durch- 
geführt ist,  erscheint  als  der  Eckstein,  an  dem  wir 
dieses  Käferbuch  ganz  besonders  schätzen.  Wir 
erkennen  dabei,  wie  viel  schon  bekannt,  wie  außer- 
ordentlich viel  aber  noch  unbekannt  ist,  und  daß 
für  neue  Jünger  stiller  Beobachtung  intimster 
Vorgänge  in  der  Kleintierwelt  noch  ein  weites 
P"eld  unbekannter  Lebensgeheimnisse  vorliegt  und 
noch  viel  zu  erforschen  ist. 

Der  allgemeine  Teil  des  Werkes  umfaßt  von 
S.  7~'5'4  die  Kapitel  „über  den  Körperbau",  „über 
die  Entwicklung",  „über  die  Lebensweise"  (Fort- 
pflanzung, Ernährung,  Klima,  Bodenbeschaffenheit 
und  sonstige  örtliche  Verhältnisse,  Selbsterhaltungs- 
trieb, Schutzsuchen  vor  Feinden,  geographische 
Verbreitung),  „Fang  und  Zucht",  „Bestimmen 
und  Ordnen",  „Kauf,  Tausch  und  Versand". 

Den  größten  Raum  beansprucht  selbst- 
verständlich der  systematische  Teil.  Am  Kopfe 
der  einzelnen  P'amilien  befindet  sich  je  eine 
tabellarische  Übersicht  zum  Bestimmen  der  Gruppen. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


421 


Darauf  folgen  die  Übersichten  der  Gattungen  mit 
einem  Bestimmungsschlüssel. 

Bei  der  Einteilung  der  Käfer  in  die  großen 
Familiengruppen  hätte  der  Herr  Verfasser  sich  an 
mein  System  der  Käfer  anlehnen  können,  wie  das 
in  vorbildlicher  Weise  Reitter  in  seiner  eben 
abgeschlossenen  „Fauna  Germanica.  Die  Käfer 
des  Deutschen  Reiches"  getan  hat.  Dem  Werte 
des  Schaufuß'schen  Werkes  an  sich  schadet  diese 
Unterlassung  allerdings  nicht. 

Die  meisten  Arten  Nord-  und  Mitteleuropas 
und  manche  südeuropäische  sind  beschrieben. 
Alle  europäischen  und  noch  andere  Arten  des 
paläarktischen  Gebietes  sind  aufgezählt.  Nicht 
alle  Arten,  besonders  nicht  die  zahlreichen  kleinsten 
Staphyliniden  und  noch  verschiedene  andere, 
konnten  aufgeführt  und  beschrieben  werden,  wegen 
des  mangelnden  Raumes.  Die  geographische  Ver- 
breitung und  Angaben  über  die  Verwandlungs- 
stadien sind  eingehend  berücksichtigt.  Ebenso 
ist  das  Vorkommen  nebst  der  Erscheinungszeit 
angemerkt.  Wichtige  und  wissenschaftlich  wert- 
volle Lebensverhältnisse  sind  in  dem  beschrei- 
benden Teile  z.  T.  eingehend  behandelt.  Das 
gilt  besonders  von  den  myrmekophilen  Käfern.  Die 
angeblich  parthenogenetisch  sich  fortpflanzenden 
Käfer  sind  angeführt,  dann  die  heliotropen  und 
heliofugen  Gattungen,  auch  die  im  Wasser  lebenden 
Rüsselkäfer  {Hydroiiumiis,  Lifodaciyiis,  Phylohiits, 
E/iiiryc/ii/is  7'rlafiis),  von  denen  der  letztere  tauchen 
und  schwimmen  kann. 

Die  Tomiciden  (Borkenkäfer),  für  die  der  Verf 
den  verwirrenden  Namen  „Jpiden",  nach  dem  Vor- 
schlage hypermoderner  Entomologen,  einführt,  sind 
recht  vielseitig  bearbeitet,  besonders  inbionomischer 
Beziehung.  Die  neuzeitlichen  Forschungen  über 
die  noch  ungenau  und  unklar  bekannte  Pilz- 
nahrung  der  „Holzbrüter"  sind  hinsichtlich  der 
verschiedenen  Standpunkte  der  Forscher  einer 
allseitigen  Betrachtung  gewürdigt. 

Die  Bru  tpflege  im  weiteren  Sinne  ist  vom 
Verf.  nach  dem  Vorgange  des  Rezensenten  be- 
handelt. Die  providente  Brutpflege  bei  den  Tomi- 
ciden (.Anlage  von  Ei-Nischen)  und  die  besonders 
ausgebildete  Brutpflege  der  Rhynchitiden  usw.  sind 
auf  S.  1032 — 1033  behandelt.  Auf  die  parentelle 
Brutpflege  ist  S.  887  hingewiesen.  Die  Gattung 
//iv?'/'('/>//////5  (Brutpflege  S.  15)  ist  mit  dem  weniger 
guten  Namen  /fvdra/is  bezeichnet.  Seit  alter  Zeit 
in  der  Schul-  und  Lehrliteratur,  auch  in  der 
Gelehrten-  und  populären  Literatur  gebräuchliche 
und  von  alters  her  eingebürgerte  Tier-  und  Pflanzen- 
namen sollten  aus  pädagogischen  und  aus  Gründen 
der  Pietät    und    Nützlichkeit    beibehalten    werden. 

Die  neueste  wissenschaftliche  Literatur  ist 
vollständig  verwertet,  so  daß  das  Werk  den 
wissenschaftlichen  Standpunkt  der  gegenwärtigen 
Käferkunde  vertritt.  Dagegen  fehlen  bei  den 
Gattungen  und  Arten  die  Literaturangaben,  die 
das  Buch  sonst  zu  umfangreich  werden  ließen. 
Ein  weises  Bestreben  zeigt  deutlich,  daß  der  von 
dem    reichen  Stoffe  ausgehende  Trieb    nach  Aus- 


dehnung möglichst  oft  zurückgedrängt  wurde. 
Dennoch  ist  es  recht  dickleibig  geworden;  denn 
es  umfaßt   1390  Seiten. 

Die  vielen  bionomischen  Angaben  sind  es  vor- 
nehmlich, die  das  Buch  als  Nachschlagewerk  sehr 
nützlich  machen. 

Es  ist  ein  sehr  gutes  Lehrbuch  der  Käferkunde 
in  des  Wortes  bester  Bedeutung  geworden.  Sein 
gründlicher  und  vielseitiger  Inhalt,  in  Verbindung 
mit  der  reichen  Illustrierung  macht  es  zu  einem 
Werke,  welches  jeder  Käferkundige,  nicht  nur  der 
Anfänger,  gebrauchen  sollte.  Es  ist  nicht  nur  für 
Laien,  sondern  auch  für  Entomologen  und  auch 
für  jene  geschrieben,  welche  es  zu  gelegentlicher 
Belehrung  benutzen  wollen.  Gegenüber  den 
früheren  Ausgaben  des  Calwer  ist  dieses  neueste 
Werk  reichhaltiger  und  wissenschaftlicher  aus- 
gearbeitet. Der  neueste  „Calwer"  ist  in  Wahr- 
heit eine  Naturgeschichte  der  Käfer,  wie  auch  auf 
dem  Titelblatt  angegeben  ist;  ein  Lehrbuch  und 
zugleich  ein  Buch  zum  Bestimmen  der  Käfer  der 
näheren  und  entfernteren  Heimat,  mit  Hinweisen 
auf  alle  europäischen  Gattungen  und  Arten.  Wer 
es  benutzt,  kann  aus  einem  Sammler  ein  Beobachter 
und  Forscher  werden.  Professor  H.  Kolbe. 


Kobert,  R.,  Prof.  Dr.,  Über  die  Benutzung 
von  Blut  als  Zusatz  zu  Nahrungs- 
mitteln. Ein  Mahnwort  zur  Kriegszeit. 
4.  wiederum  vermehrte  und  zeitgemäß  umge- 
arbeitete Auflage.  Stuttgart  191 7,  F.  Enke. — 
3  M. 
Das  Büchlein  des  Rostocker  Pharmakologen 
ist  in  der  gegenwärtigen  Zeit  der  Revision  unserer 
Ernährungsbegriffe  sehr  verdienstlich,  enthält  aber 
über  diese  ephemeren  Ziele  hinausgreifend,  auch 
so  viel  allgemein  interessantes  und  ist  zudem  so 
lebhaft  und  fesselnd  geschrieben ,  daß  es  eine 
nachdrückliche  Pimpfehlung  verdient.  Der  Verf. 
macht  höchst  energische  Propaganda  für  möglichst 
umfängliche  Verwertung  des  Blutes  zur  mensch- 
lichen Ernährung,  sammelt  dazu  ein  großes 
Material,  widerlegt  Einwände,  klärt  über  Nährwert, 
Zusammensetzung  des  Blutes  auf  und  gibt  vor 
allem  Anleitungen  und  Anregungen  zu  einer 
möglichst  vernünftigen  Verwendung  dieses  wert- 
vollen Nahrungsmittels  an.  Man  muß  ihm  grund- 
sätzlich beipflichten.  Der  Standpunkt,  Nahrungs- 
mittel nicht  in  erster  Linie  nach  dem  Nährwert 
und  selbstverständlich  auch  nach  Geschmack  und 
Geruch  zu  beurteilen  und  zu  wählen,  sondern 
allerhand  andere  unklare,  ja  abergläubische  Ein- 
flüsse mitwirken  zu  lassen,  ist  eines  gebildeten 
Menschen  nicht  würdig.  Nun,  der  Krieg  hat 
manchen  erzogen,  dem  die  eigentlich  zu  jeder 
richtigen  Erziehung  gehörige  Essensdisziplin  ge- 
fehlt hat;  wir  essen  jetzt  endlich  auch  mehr  mit 
dem  Verstände  und  —  müssen  es.  Daß  das  Buch 
während  des  Krieges  schon  vier  Auflagen  erlebt 
hat,  zeigt,  auf  ein  wie  großes  allgemeines  Interesse 


422 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


die  Erörterung  solcher  F"ragen  stößt.    Zu  wünschen  scheint  es  noch  sehr  zu  hapern,  so  daß  wohl  die 

wäre  allerdings,    daß    man  auch  etwas  mehr  von  meisten  trotz  guten  Willens  gar  keine  Gelegenheit 

den  Anwendungen  des  Blutes  und  von  den  Blut-  haben,  ihn  auch  in  die  Tat  umzusetzen.     (G.C.) 
Präparaten    in    der  Praxis   zu    sehen    bekäme,    da  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Literatur. 


dem 


.587- 


-424 


Die  folgende  Liter aturli 
der  „Naturw.  Wochenschr."  erschienenen  Aufsatz  von 
Dr.  Lenk  „Slützeewebe  und  Integumente  der  Tiere"  konnte 
leider  wegen  verspäteten  Eingangs  dem  genannten  .Aufsatz 
nicht  angefügt  werden.  Da  sie  aber  gewiß  für  viele  Leser 
Interesse  besitzt,   sei  sie  hier  nachträglich   mitgeteilt. 

Die  Redaktion. 

1.  O.  V.  Fürth,    Vergleichende    chemische    Physiologie    der 

niederen  Tiere.     Jena    1903,   44X — 490. 

2.  C.  Fr.  \V.  Kruk  enb  erg,  Grundzüge  einer  vergleichenden 

Physiologie     der     tierischen      Gerüstsubstanzen.        Vgl. 
physiol.  Vorträge,   Heft  IV,    184— 269  (1886). 
E.  D  r  e  c  h  s  c  1 ,  Hermann's  Handb.  d.  Physiologie,  Vll 
Leipzig   1883. 

3.  L.  Rhumbler,  Zeitschr.  wiss.  Zool.  61   (1896). 

4.  Bütschli,   Zool.  Anz.  30,   7S4 — 789  (1906). 

5.  E.   Harnack,    Zeitschr.    physiol.   Chemie,    24,    412- 

(1898). 

6.  P.  Friedländer,    Ber.    d.    deutsch,  ehem.  Ges.  42,   765 

{1909);  Monatsh.  f.   Chemie  30,   247  (1909). 

7.  H.  L.  Wheeler  u.  L.  B.  Mendel,  Journ.  of  biol.  Chem. 

7,   I   (1909). 

8.  M.  Henze,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  51,  64(1907). 
C.  T.  Mörner,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  51,  33  (1907). 
H.  L.  W  h  e  e  1  e  r  u.  G.  S.  J  a  m  e  s  o  n ,  Amer.  Chem.  Journ. 

34,  365   (1905);    Biochem.  Zentralbl.  4,  251    (1905/06). 

9.  C.  Th.  Mörner,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  51,  33— 62 

(1907);  55.  77-83  (1908);  55,  223-235  (1908). 

10.  W.  Lindemann,  Zeitschr.  Biol.  39,   18 — 36  (1900). 

11.  O.  V.  Fürth    u.    E.  Lenk,    Biochem.    Zeitschr.    33,    341 

(191 1);   Wiener  klin.   Wochenschr.  Nr.   30  (1911). 

12.  O.    Schmiedeberg,    Mitteil,    aus    d.    zool.    Station    zu 

Neapel  111  373—392  (18S2). 

13.  G.  u.  H.  Harley,  Proz.  Roy.  Soc.  43,  461   (1888). 

14.  Literatur    über  Chitin:    O.  v.  Fürth,    Vergleich,    chem. 

Physiol.   d.   niederen   Tiere  471 — 486.     Jena   I903. 
G.  Zemplen,  Biochem.  Handlexikon  2,  527 — 536  (1911). 

15.  Araki,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  20,  498  (1S95). 

16.  O.  V.  Fürth  u.  M.  Russo,  HofmeistersBeitr.8, 163  (1906). 

17.  Emil  Lenk,  Biochem.  Zeitschr.  23,  47   (1909). 

18.  H.  Brach,  Biochem.  Zeitschr.  3S,  468  (1912). 

19.  S.  Fränkel  u.  A.  Kelly,  Sitzungsber.  d.  Wiener  Akad. 

Mathem.-naturw.  Kl.  HO  Abt.  IIb  Dez.  (1901). 
Th.  R.  Off  er,  Biochem.  Zeitschr.  7,  117  (1907). 
O.  V.  Fürth   u.  E.  Scholl,    Hofmeister's  Beitr.   10,   188 

(1907). 

20.  E.  Winterstein,    Ber.    d.    deutsch,  chem.  Ges.  26,  362 

(1893);  Zeitschr.  physiol.  Chemie   18,  43  (1893). 

21.  E.  Abderhalden  u.  G.  Zeraplen,  Zeitschr.  f.  physiol. 

Chemie   72,  58  (191 1). 

22.  E.  Abderhalden,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  55,  236 

(190S). 

23.  C.  Oppenheimer,  Handb.  d.  Biochemie  des  Menschen 

u.  der  Tiere,  Bd.  I,  340.     Jena  (1909). 

24.  Vgl.  Th.   Gaßmann:  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  70,  16I 

(1910). 

25.  Gabriel,  Zeitschr.  f.  physiol.   Chemie   18,  257  (1893). 
M.  Tanaka,  Biochem.  Zeitschr.  35,   113  (1911). 

26.  Literatur    über   Zusammensetzung    der  Knochen    und 

Zähne:  II.  Aron,  Handb.  d.  Biochemie  2  11,  178—212 
(19091. 

27.  J.   A,  Schabad,  Arch.  f.  Kinderheilkunde  52,  47  (1909). 


,  La  Pediatria  7,  497   (1909). 
n  ,  Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  63,  397  (1909). 
er,  Ergebn.  d.  Physiol.  10,  429 — 453  (1910). 
M.    Samec,    Biochem.    Zeitschr.    17,    235 


28.  C.  Catta 

29.  Th.  Gafii 

30.  F.  Hofm( 
W.  Pauli 

(1909). 
W.  Pauli,  Wiener  med.  Wochenschr.   1910  Nr.  39. 

31.  O.  Klotz,  Journ.  of  e.xperira.   Med.  7,  633  (1905). 

F.  J.  Fisch  1er  u.  W.  Groß,  Ziegler's  Beitr.  z.' pathoL 
An.     Festschrift  für  Arnold  326  (1905). 

H.  G.  Wells,  Journ.  of  Med.  Research  14,  491  (1906); 
17,   IS  (1907);  -2.   ';oi   (l9'o)- 

R.  V.  Zeynek,  F.  Ameseder  u.  A.  Selig,  Zeitschr.  f. 
physiol.   Chem.   70,  415  (19111. 

32.  Literatur  über  Rachitis:  Kassowitz:   Rachitis.     Wien, 

Braumüller  (1882,, 

Pommer,  Osteomalacie  und  Rachitis,  Leipzig  1S83,  Bd.  19. 

Stoeltzner,  Jahrb.  f.  Kinderheilk.  50  (18991  (Stellung 
des  Kalkes  in  der  Pathologie  der  Rachitis). 

Stoeltzner  u.  Salge,  Beitr.  z.  Pathologie  d.  Knochen- 
wachstums.    Berlin   1901,  S.  Karger. 

Stoeltzner,  Pathol.  u.  Therapie  d.  Rachitis,  Berlin  1904, 
S.  Karger  (Literatur!). 

Pfaundler-Schloßraann,   Rachitis   1910,   2.  Aufl. 

Fischl,  Neueres  zur  Pathogenese  d.  Rachitis  (Literatur!). 
Arch.  f.   Kinderh.    1901,  Bd.   31. 

Zappert,   Rachitis.     Die  deutsche  Klinik,    1904,    Bd.   7. 

33.  Literatur    über    den    Mineralstoffwechsel    bei    Rachitis 

und  Osteomalacie:   J.    Mohr:    Xoorden's  Handb.    d. 

Pathol.   d.   Stoffwechsels,    2.   Aufl.    2,    S53  — 871    (19071. 

P.  Morawitz,  Handb.  d.  Biochemie  2,  II,  312—333(19101. 

34.  Meinhard   Pfaundler,  Jahrb.   f.   Kinderheilk.   60,    123 

( 1 904) ;  Vgl.  dagegen  H.  G.  W  e  1 1  s  a  n  d  J.  H.  M  i  t  c  h  e  1 1 , 
Journ.   of  Med.   Res.   22,   501    (1910). 

35.  H.   Aron  u.  Seebauer:   ß'iochem.   Zeitschr.  8,  I    (1907); 

Aron  ebenda   12,  28  (1908). 
■:!b.  Vgl.  auch  Dibbelt,  Ziegler's  Beitr.  z.  path.  An.  48,  147 

(1910). 
J.  A.    Schabad,    Arch.    f.    Kinderheilk.    54,    83    (1910); 

Fortschr.   d.  Med.  28,    1057   (1910). 
W.  Birk  u.  A.Ogler,  Monatsh. f. Kinderheilk. 9,  544(1910). 
H.  Bahrdt  u.  Edelstein,  Jahrb.  f.  Kinderheilk.  72,  lö, 

Ergänzungsheft  (1910). 
Arbeiten      aus     dem      pathol.     Inst.     Tübingen 

( Baumgarten  I   1908  u.    1909. 
Crohnheim  u.  F.  Müller,    Jahrb.    f.    Kinderheilk.   57, 

45  11903  (■ 

37.  C.    Voit,     Forster     u.     Erwin     Voit,     Lehmann, 

König,  Baginsky,  Rohloff,  Aron  u.  Seebauer, 
Stöltzner,  Pfiüger's  Arch.   122,  509  (1908)  usw. 

38.  Heitzmann,        Baginsky,       Weiske,       Caspari, 

Götting,  Virchow's  Arch.    197,   I   (1909)  usw. 

39.  Literatur  über  kalkarme  und  säurereiche  Ernährung: 
H.  Aron,  Handb.  d.  Biochemie  2,  II  195—202  (1909). 
Stöltzner,  Pathol.  u.  Therapie  der  Rachitis.   Berlin  (  1 904). 

40.  Vgl.  Lehnerdt:   Ergebnisse  d.   inn.   Med.   6,    120  (19101. 

41.  F.   V.   Reckling  hausen,  Untersuchungen  über  Rachitis 

und  Osteomalacie.      Verlag   Gustav   Fischer,  Jena   1910. 

42.  Literatur    über    den    Einfluß    der    Kastration    auf   den 

Stoffwechsel:    A.  Magnus  Levy,  Noorden's  Handb. 
d.  Pathol,   d.  Stoffwechsels   I,  415 — 423  (1906). 

43.  E.   Bircher,   Arch.  f.  klin.   Chir.  91,  554  (1910). 

44.  Literatur  über  Exstirpation  der  Hypophyse:  A.  Biedl; 

Innere  Sekretion  290—295   (1910). 
I.   Mor.iwski,  Zeitschr.  f.  Neurol.  u.   Psychiatrie  7,  207 
,19..). 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


45.  M.  Sternberg,    Die    Akromegalie.      Nothnagel's    Hand- 

buch   1897. 
L.  Borchhardl,  Funktion  und  funktionelle  Erkrankungen 

der  Hypophyse.      Ergebn.   d.   inner.   Med.  3,  2SS  ( 1909)- 
R.  Hirsch,  Handb.  d.  Biochemie  3,1,  340—343(1910). 

E.  Münzer  (Sammelreferat),  Berl.  klin.   Wochenschr.  47, 
342,  392  (1912). 

A.  Biedl,  Innere  Sekretion  303—315   (1910). 

46.  J.  Hochenegg,  37.  Kongr.  d.   Ges.  f.  Chir.  80  (1908); 

Wiener  klin.  Wochenschr.   1909,   323. 
Stumme,   Arch.  f.  klin.  Chirurgie  87,  437   (1908). 
A.   E.xner,  Zentralbl.  f.  Physiol.   24,   3S7   (1910). 

47.  Arthur  Schiff,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  32,  Suppl.  (18971 ; 

vgl.  auch  V.  H.  Thompson  and  H.  M.  Johnston, 
Journ.   of  Physiol.  33,    189  (1905). 

48.  Vgl.  J.  A.  Schabad,  Zeitschr.  f.  klin.  Med.  68,  94  (19091. 
Birk,  Monatschr.   f.   Kinderheilk.   7,  450  ligoSj. 

49.  Sc  hau  mann,    4.  Tagung   d.    deutsch,    tropenmed.    Ges. 

Dresden,    18. — 20.  Sept.   191 1. 
Y.  Ternuechi    (Tokio),    Zentralbl.    f   d.    ges.  Biol.    12, 
719  (19111. 

50.  Literatur     über     Leim-     und     Gelatinefabrikation: 

F.  Dawidowsky,    Die    Leim-    und   Gelatinefabrikation. 
Verlag    A.   Hartlcben,    Wien    u.  Leipzig   1906,    4.   Aull. 

Dr.  L.  Thiele,  Die  Fabrikation  von  Leim   und  Gelatine. 

Verlag  Dr.  Max  Jänickc.     Hannover   1907. 
Victor    Cambon,     Fabrication    des     Collcs     animales. 

H.  Dunod   .>i  E.  Pinaut.     Paris   1907. 
R.    Kißling,    ,,Leim"    in    Posts    chem.-techn.    Analyse. 

Verlag  Fr.  Vieweg  &  Sohn.     Braunschweig   1906/7. 

51.  Literatur     über     die    Chemie     des    Knorpelgewebes: 
H.  Aron,    Handb.    d.  Biochemie  2,  II,  212—219  (1909). 

52.  C.  Th.  Morner,  Skandin.  Arch.  f.  Physiol.  I,  210  (1889), 

Zeitschr.  f.  physiol.  Chemie  12,  396(18881 ;  20,356(1894); 
Jahresb.  f.  Tierchemie  24,  402  (18941. 
O.  Schmiedeberg,  Arch.  f.  exper.  Pathol.  28,355  (1891). 

53.  K.  Kondo,   Biochem.  Zeitschr.  26,   116  (1910). 
Pons,  Arch.  Internat,  de   Physiol.   S,   393   (1909). 

i;4.  Literatur     über     die     Chemie     des     Bindegewebes: 
Hans  Aron,   Handbuch    der  Biochemie   11,2,  2 1 7  ff. 

55.  Literatur  über  die  Chemie  der  Zähne :  ebenda  S.  2f>7fT. 

56.  Literatur  über  die  Chemie  der  Haut  und  ihrer  Gebilde  : 

ebenda  S.   219  ff. 

57.  Literatur  über  die  Chemie   der  Haare:   ebenda  S,  222  f. 


Zur  Bestimmung  freilebend  beobachteter  deutscher  Vögel 
ist  Floericke's  „Taschcnbucn  zum  Vogelbestimraen",  Stuttgart, 
Franck'scher  Veilag,  das  Gegebene.  Es  behandelt  die  Stimmen 
der  Vögel  zwar  weniger  vollständig  als  das  von  Ihnen  bereits 
erwähnte  Voigt'sche  Buch  berücksichtigt,  aber  um  so  vielseitiger 
auch  die  Kennzeichen  im  Aussehen,  Gebahren,  Flugbild, 
sowie  die  der  Eier  und  der  Spuren.  Für  Haartiere  ist 
vielleicht  am  besten  das  Büchlein  von  Henning  „Die  Säuge- 
tiere Deutschlands",  Leipzig,  Ouelle  und  Mayer,  zu  verwenden; 
für  Kriechtiere  und  Lurche  das  Buch  von  D  übrigen,  für 
Fische  B.  Hofer 's  Werke,  für  Wassertiere  ferner  Lampe  rt, 
„Das  Leben  der  Binnengewässer";  Kerbtiere  werden  am  ehesten 
in  „Brehms  Tierleben"  in  dem  gewünschten  Sinne  behandelt, 
welches  Werk,  4.  Aufl.,  natürlich  auch  für  die  anderen  Tier- 
klassen verwendet  werden  kann.  Über  Fährten  gibt  Riesen- 
thal's  Jagdlexikon  Auskunft. 


Trepanation  alter  Schädel.  Vielleicht  interessiert  die  folgende 
Mitteilung,  die  sich  auf  den  Aufsatz:  Eine  prähistorische 
Operation,  in  Nr.  17  der  Naturw.  Wochenschr.  bezieht.  Vor 
einer  Reihe  von  Jahren  habe  ich  für  die  Eichstätter  Lyzeal- 
sammlung  aus  dem  germanischen  Reihengräberfeld  bei 
Kipfenberg  an  der  Altmühl  eine  Serie  von  33  Schädeln,  auch 
einige  Skelette,  erworben.  Das  Gräberfeld  liegt  am  Fuße 
des  romantischen  Michelsberges  mit  seiner  prähistorischen, 
teilweise  auch  historischen  Befestigung;  die  Gräber  stammen, 
wie  die  Beigaben  beweisen,  aus  der  Merowingerzeit,  also  aus 
dem  6.  bis  7.  Jahrhundert  n.  Chr.      Zwei    von    den    Schädeln 


nun  sind  ebenfalls  trepaniert  und  zwar  entweder  nach  dem 
Tode  der  Besitzer  oder  unter  Todesfolge,  denn  Reaktionsspuren 
sind  am  Knochen  absolut  nicht  sichtbar.  Die  beiden  Löcher 
sitzen  an  fast  i  d  e  n  t  i  s  c  h  e  n  S  t  e  1 1  e  n  der  Schädel,  an  jedem 
Schädel  eines,  nämlich  in  der  Ecke  des  rechten  Scheitelbeins 
zwischen  der  Krön-  und  Pfeilnaht,  und  sind  auffallend 
klein.  Das  eine,  am  Schädel  Nr.  i  der  Sammlung,  43  der 
Gräberreihenfolge,  hat  einen  Durchmesser  von  7  :  6  mm,  das 
zweite  am  Schädel  Nr.  2,  Grabnummer  51,  gar  nur  von  4  mm. 
Die  Knochenränder  sind  beim  zweiten  glatt,  beim  ersten  etwas 
rauh  und  nach  innen  leicht  konisch  verjüngt,  jedesmal  ohne 
Sprünge.  Die  betr.  Personen  waren  bejahrt,  wenigstens  sind 
die  am  zweiten  Kopf  vorhandenen  Zähne  des  Oberkiefers 
stark  abgekaut.  Die  beiden  Köpfe  sind  typische  Langschädel 
mit  71,42  und  73,40  Längenbreitenindex.  An  der  ganzen 
Schädelserie  zeigt  sich  derselbe  Vorgang,  den  v.  Ranke  an 
Lindauer  Schädeln  konstatierte.  Während  die  jetzige  Be- 
völkerung der  Gegend  sehr  überwiegend  kurzköpfig  ist,  hatten 
die  Germanen  des  Kipfenberger  Reihengräberfeldes  fast  nur 
Langschädel.  21  unter  den  33  waren  dolichocephal ,  also 
Ö3.63°'o'  9  mesocephal  und  bloß  3  brachycephal,  darunter 
I  eigentlicher  Rundkopf  mit  91,43  Index.  Zwei  Langschädel 
maß  ich  mit  dem  Indices  66,5  (197  ;  131  mm)  und  66,66 
(180:120  mm).  Schaltknochen  in  den  Nähten  sind  häufig. 
Prof.  Dr.  Schwertschlager,   Eichstätt. 


Wie  Herr  Oberlehrer  Dr.  Quehl  in  Berlin-Karlshorst 
mitteilt,  ist  ein  empfehlenswertes  Buch  über  die  makrosko- 
pische Anatomie  der  Wirbeltiere  auch  P.  Rö  seier  und 
H.  Laraprecht.  Handbuch  für  Biologische  Übungen.  Berlin 
1914,  J.  Springer. 


Nochmals  der  Sang  der  Unsichtbaren  im  Föhrenwalde. 
Herr  Professor  v.  Reichenau  beschreibt  in  Nr.  II  S.  144 
der  Naturw.  Wochenschr.  von  1917  sehr  richtig  das  in  Kiefern- 
wäldern hörbare  und  jedem  aufmerksamen  Naturforscher  und 
Naturfreunde  bekannte ,  eigentümliche  Geräusch  (Waldes- 
rauschen) und  nennt  es  „den  Sang  der  Unsichtbaren". 

Die  Tatsache  ist  unbestritten,  doch  irrt  Herr  Professor 
V.  Reichenau  in  der  Deutung.  Er  schreibt  dieses  leise 
Tönen  und  Summen  der  Tätigkeit  der  Syrphiden  zu;  doch 
mit  Unrecht.     Diese  Dipteren  sind  sicher  daran  unschuldig. 

Es  handelt  sich  nämlich  in  diesem  Fall  um  das  ganz 
spezifische  Geräusch,  das  der  Wind  in  den  Nadeln  der  Kiefer, 
Pinus  silvestris  L.  und  zwar  nur  und  ausschließlich  in 
dieser  hervorruft.  Dieses  eigentümliche  und  höchst  charakte- 
ristische Rauschen  ist  weder  im  Laubwalde  noch  in  anderen 
Nadelwäldern,  also  auch  nicht  im  Fichten-,  Tannen-  oder 
Lärchenwäldern  warnehmbar.  Diese  Tatsache  ist  jedem  Be- 
obachter bekannt,  der  aufmerksam  und  liebevoll  auf  die 
Stimmen  des  Waldes  achtet  1 

Zum  Zustandekommen  dieses  Geräusches  ist  auch  gar 
nicht  eine  Mehrzahl  von  Bäumen,  also  ein  Wald,  notwendig; 
selbst  eine  einzelne  ,,auf  stolzer  Höhe"  stehende  Kiefer  macht 
diese  eigentümliche  Musik,  die  mit  zu-  und  abnehmender 
Windstärke  lauter  oder  leiser  ertönt. 

So  beschreibt  auch  Herr  v.  Reichenau  vollkommen 
zutreft'end  die  Gehörsempfindung,  die  mau  im  Kiefern walde 
bei  einem  herannahenden  Windzug  wahrnimmt;  gerade  daran 
kann  man  aber  erkennen ,  daß  der  Wind  das  Rauschen 
hervorruft  und  nicht  die  Syrphiden ,  deren  Summen  sicher 
nicht  so  weit  hörbar  sein  dürfte. 

Auf  welche  Weise  der  Luftzug  dieses  Tönen  in  den 
Kiefernadeln  bewirkt,  ist  mir  unbekannt.  Es  könnte  sich 
entweder  um  Reibung  der  langen  Nadeln  (deren  Länge  war- 
scheinlich  maßgebend  ist)  aneinander  handeln,  die  dann  bei 
ihrer  harzigen  Oberfläche  in  der  Art  eines  Violinbogens 
wirken  würden,  und  das  scheint  mir  das  Wahrscheinlichere, 
oder  es  würde  sich  um  die  Reibung  der  Luft  bei  ihrem 
Durchgang  zwischen  den  scharfen,  kantigen  Nadeln  der  Kiefer 
handeln.  Für  die  erstere  Annahme  spricht  auch  die  Tatsache, 
daß  diese  zarte  und  liebliche  Naturmusik  bei  keinem  anderen 
Nadelholz  hörbar  ist. 


424 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  30 


Syrphiden  aber  gibt  es  genug  in  jedem  Walde.  Weiterhin 
ist  zu  bemerken,  dafi  dieses  Phänomen  im  Sommer  wie  im 
Winter,  am  Tage  sowie  in  der  Nacht  zu  beobachten  ist, 
mithin  auch  zu  Zeiten,  in  denen  es  weder  Syrphiden  noch 
andere  musizierende  Insekten  gibt,  und  zwar  genau  in  der- 
selben Weise,  wie  es  von  Herrn  Prof.  v.  Reichenau  durch- 
aus richtig   beschrieben   worden  ist. 

Richard  Hilbert-Sensburg,  z.  Z.  im  Felde. 


Ein  Wünschelruten- Jubiläum.  Die  Ausführungen  von 
Prof.lidw.  Hennig  übe/  die  Wünschelrute  in  Nr.  19 
der  „Naturw.  Wochenschr."  rechtfertigen  vielleicht  eine  Er- 
innerung daran,  daß  vor  gerade  100  Jahren  der  wunderlichen 
Erscheinung  des  Rutengehens  eine  ähnliche  Fürsprache  zuteil 
geworden  ist.  Damals  erschien  (als  „neue  wohlfeile  Ausgabe") 
eine  Übersetzung  des  Werkes  der  Frau  von  Genlis 
„Botanique  hislorique  et  liiteraire"  von  Dr.  K.  J.  Stang 
(Bamberg  und  Würzburg  1S17),  in  der  es  Teil  I,  S.  320  hcil3t; 

„Man  spottet  über  die  Wünschelruthe  und  über  die 
Thorheit  und  Lächerlichkeit  des  Glaubens  daran,  und  hat 
auch  vollkommen  recht.  Unterdessen  hat  sie  dennoch  zu 
allen  Zeiten,  zur  Schande  der  Wissenschaft,  Beschützer  und 
Vertheidiger,  selbst  unter  den  Gelehrten,  gefunden;  denn  alles 
wird  mißbraucht,    die  Wissenschaft  so  gut,  wie  alles  übrige." 

Hierzu   nun  macht  der   Übersetzer   folgende  Fußnote: 

„Die  Verf.  theilt  es  mit  so  Vielen,  diesem  Gegenstande 
nur  eine  Ansicht  von  dieser  Seite  abgewinnen  zu  können, 
und  in  demselben  nur  Betrug  und  Charlatanerie,  Aberglauben 
und  Selbsttäuschung,  lächerliche  Sonderbarkeit  und  Träumerey 
zu  erblicken.  Schon  darum,  daß  alle  diese  Dinge  so  häufig 
bey  ihm  im  Spiele  sind  und  waren,  und  ihn  hauptsächlich 
verrufen  machten;  so  wie  auch  um  der  Furcht  und  Besorgnis 
willen,  sich  durch  ein  Wort  dafür  als  kurzsichtig  und  schwach 
bloß  zu  geben,  wird  dieser  Gegenstand  noch  lange  verkannt 
und  anstößig  bleiben,  und  noch  lange  eine  unbefangene  Be- 
achtung desselben  unmöglich  seyn.  Und  doch  wäre  diese 
nicht  so  schwer.  Denn,  auch  abgesehen  von  so  vielen 
sprechenden  Thatsachen  hierinne,  bedarf  es  zum  glücklichen 
Anfange  nicht  mehr,  als  des  lebendigen  Gedankens  an  das 
organische  Band,  das  die  ganze  Natur  umschlingt,  und  alles 
Besondere  in  ihr  zur  durchgängigen  Wechselwirkung  und 
W'ahlverwandtschaft  verknüpft.  Dieser  Gedanke  muß  den 
Menschen  gleichfalls  nur  unter  diesem  Gesetze,  im  innigsten 
Wechselverbande  mit  allem  ihn  nahe  oder  fern  Umgebenden, 
im  freundlichen  oder  feindlichen  Verhältnisse,  in  höherem 
oder  minderem  Grade  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  er- 
blicken, und  der  geheime,  unsichtbare  Einfluß  der  Außendinge 
auf  den  Menschen,  und  seine  Empfänglichkeit  dafür  hat  ihm 
so  wenig  Befremdendes,  als  die  gröberen  und  sinnefälligeren 
Erscheinungen  der  magnetischen,  der  elektrischen  und  galva- 
nischen Kraft.  Von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es  aber  nicht 
mehr  wohl  möglich,  die  Wünschelruthe  mit  ihren  Erschei- 
nungen so  geradezu  als  eine  bloße  Betrügerey,  und  als  einen 
bloljen  Aberglauben  der  Verlachung  zu  überweisen,  und  von 
einer    ernstlichen   Untersuchung    auszuschließen.      Zur    näheren 


wissenschaftlichen  Betrachtung    dieses    Gegenstandes    sey    hier 
schließlich     die    gehaltvolle,     in    Nürnberg    bey    Campe    er- 
schienene,    von    dem    Herrn    Prof.    Spindler    verfaßte    Schrift 
über  den  Menschen-Magnetismus  anempfohlen." 
F.  Moewes. 


Literatur. 


Che 


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Foerster,  K.,  Vom  Blütengarten  der  Zukunft,  Er- 
fahrungen und  Bilder  aus  der  neuzeitlichen  Garlenentwicklung. 
Mit  36  Schwarz-Weiß-Bildbeilagen  und  10  Vierfarbendrucken. 
Berlin   '17,   Furche-Verlag.   —  4M. 

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Schroeder,  Prof.  Dr.  H.,  Die  Hypothesen  über  die 
chemischen  Vorgänge  bei  der  Kohlensäure-Assimilation  und 
ihre  Grundlagen.     Jena  '17,  G.   Fischer.  —  4,50  M. 

Exner,  Prof.  Dr.  F.,  Dynamische  Meteorologie.  Mit 
68  Textfiguren.  Leipzig  und  Berlin  '17,  B.  G.  Teubner.  — 
1^  M. 


Inhalt)  S.  Killermann,  Die  Entdeckung  der  Paradiesvögel.  (3  Abb.)  S.  409.  —  Einzelberichte:  Adolf  Koelsch, 
Über  die  Eigenart  der  Musikerschädel.  S.  412.  Janzen,  Die  Zerstörungen,  die  die  Metalle  und  Legierungen 
unter  dem  Einflüsse  von  Wasser  und  wässerigen  Lösungen  im  praktischen  Gebrauche  erleiden.  S.  413.  O.  Seh  neide  r- 
Orelli,  Die  Zahl  der  Generationen  beim  ungleichen  Borkenkäfer.  S.  414.  Jollos,  Weitere  Beobachtungen  über  die 
Parthenogenese  der  Infusorien.  (2  Abb.)  S.  414.  O.  S  c  h  n  e  i  d  e  r- O  r  elli ,  Über  die  Dauer  der  Puppenruhe  beim 
Frostspanner.  S.  416.  Ch.  J.  Gravier,  Über  einen  neuen  Fall  von  Symbiose  zwischen  einem  Kieselschwamm  mit 
einer  Actinie  und  einem  Ringelwurm  in  der  Tiefsee  des  Atlantischen  Ozeans.  S.  417.  M.  Bräuhäuser,  Beiträge  zur 
Kenntnis  des  Rhätsandsteins  im  Schönbuch  zwischen  Stuttgart  und  Tübingen.  S.  418.  —  Bücherbesprechungen: 
Lassar-Cohn,  Die  Chemie  im  täglichen  Leben.  S.  419  Fr.  Frech,  Geologie  Kleinasiens  im  Bereich  der 
Bagdadbahn.  S.  419.  C.  G.  Calwer's  Käferbuch.  S.  420.  R.  Robert,  Über  die  Benutzung  von  Blut  als  Zusatz  zu 
Nahrungsmitteln.  S.  421.  —  Anregungen  und  Antworten:  Literaturliste  zu  Dr.  Lenk  ,,Slützgewebe  und  Integumentc 
der  Tiere".  S.  422.  Zur  Bestimmung  freilebend  beobachteter  Tiere.  S.  423.  Trepanation  alter  Schädel.  S.  423.  Buch 
über  die  makroskopische  Anatomie  der  Wirbeltiere.  S.  423.  Nochmals  der  Sang  der  Unsichtbaren  im  Föhrenwalde.  S.  423. 
Ein  Wünschelruten- Jubiläum.  S.  424.  —  Literatur:  Liste.  S.  424. 


Ma 


kripte  und  Zuschrifte 
Druck  der  G. 


ien   an   Prof.  Dr.  H.   Mi  ehe,  Berlin  N  4, 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena, 
hen  Buchdr.   Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Na 


validenstraße  42,  erbeten, 
nburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  5.  August  1917. 


Nummer  31. 


Über  den  Druck  der  Lichtstrahlen. 


[Nachdruck  verboten.] 

Wir  sind  gewohnt,  uns  unter  Lichtstrahlen 
etwas  außerordentlich  F"eines  und  Zartes  vorzu- 
stellen, so  daß  es  uns  Schwierigkeiten  macht  zu 
glauben,  daß  das  Licht  auf  die  Oberfläche,  auf 
die  es  fällt,  einen  Druck  ausübt.  Sehen  wir  zu- 
nächst zu,  welche  Vorstellung  sich  die  Wissen- 
schaft im  Laufe  der  Zeit  vom  Wesen  des  Lichtes 
gemacht  hat,  um  hieraus  über  die  Möglichkeit 
eines  Lichtdrucks  Aufschluß  zu  erhalten.  Das 
Altertum  war  sich  über  den  Vorgang  des  Sehens 
durchaus  nicht  klar;  man  war  sich  nicht  einig 
darüber,  ob  die  Strahlen  vom  leuchtenden  Körper 
zum  Auge  oder  umgekehrt  von  diesem  zum  Ob- 
jekt gingen,  wenn  auch  schon  Aristoteles  gegen 
die  letztere  Ansicht  den  schwerwiegenden  Ein- 
wand erhob,  daß  dann  die  Körper  auch  im  Dunkeln 
sichtbar  sein  müßten.  Eine  durchgearbeitete  Theorie 
über  das  Wesen  des  Lichtes  wurde  zuerst  von 
Gassendi  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts und  um  1700  von  Newton  in  seiner 
Optik  aufgestellt,  die  sog.  Emissionstheorie. 
Nach  ihr  gehen  vom  leuchtenden  Objekt  kleine 
Kügelchen  aus,  die  sich  mit  Lichtgeschwindigkeit 
fortbewegen,  ins  beobachtende  Augen  dringen  und 
ihm  Kunde  von  dem  Gegenstand  geben.  Licht 
ist  danach,  um  einen  heute  gebräuchlichen  Aus- 
druck zu  gebrauchen,  eine  korpuskulare 
Strahlung,  wie  wir  sie  in  den  Kathoden-  und  den 
a-  und  /^Strahlen  der  radioaktiven  Körper  kennen. 
Daß  diese  mit  hoher  Geschwindigkeit  sich  be- 
wegenden Teile  eine  mechanische  Wirkung,  also 
einen  Druck,  ausüben  können,  kann  man  sich 
sehr  wohl  vorstellen.  Doch  schon  vor  Newton's 
Optik  war  eine  Abhandlung  von  Huyghens 
(1678)  erschienen,  in  der  eine  wesentlich  andere 
Lichthypothese  aufgestellt  wurde,  die  Wellen- 
theorie.  Nach  ihr  ist  Licht  ein  Bewegungs- 
vorgang und  zwar  eine  sehr  feine  Wellenbewegung 
des  Äthers,  wie  wir  sie  in  viel  gröberer  Weise 
auf  einer  Wasseroberfläche  beobachten  können. 
Die  Arbeiten  zahlreicher  Forscher,  unter  ihnen 
namentlich  Fresnel,  führten  dann  den  Nachweis, 
daß  die  Wellentheorie  der  Newton'schen  vorzu- 
ziehen wäre,  und  so  fand  die  erstere  zu  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  allgemeine  Anerkennung.  Nun 
ist  es  ja  alltägliche  Erfahrung,  daß  Wasserwellen, 
die  gegen  eine  Ufermauer  anlaufen,  auf  diese  einen 
Druck  ausüben;  es  macht  demnach  auch  die 
Wellentheorie  der  Vorstellung  eines  Lichtdruckes 
anscheinend  keine  Schwierigkeit.  Doch  ist  zu 
bedenken,  daß  der  Träger  der  Lichtwellen,  der 
Äther,  masselos  und  ohne  Trägheit  ist,  daß  er 
ferner  alle  Körper  durchdringt  und  erfüllt,  so  daß 


Dr.  K.  Schutt,  Hamburg. 

die  Möglichkeit  eines  Strahlungsdruckes  doch 
zweifelhaft  erscheint. 

Doch  auch  die  Huyghens'sche  Theorie,  daß 
längs  einem  Lichtstrahl  eine  mechanische,  wellen- 
förmige Bewegung  der  Äiherteilchen  stattfindet, 
hatte  keinen  langen  Bestand.  Schon  in  den  50  er 
und  60  er  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  entwickelte 
Maxwell,  fußend  auf  den  experimentellen  Unter- 
suchungen Faraday's,  seine  elektromagne- 
tische Lichttheorie,  die  in  den  70er  und 
80  er  Jahren  allmählich  Anerkennung  fand.  Nach 
ihr  bestehen  die  Lichtwellen  in  den  Schwingungen 
elektrischer  und  magnetischer  Kräfte  im  Äther. 
Die  glänzende  experimentelle  Bestätigung  der 
Maxwell'schen  Gedanken  brachten  in  den  80er 
Jahren  die  Versuche  von  Hertz. 

Maxwell')  kam  auf  Grund  der  von  ihm  auf- 
gestellten Gleichungen  zu  dem  Resultat,  daß  die 
Oberfläche  eines  Körpers,  auf  den  Licht  fallt, 
einen  Druck  erfährt,  und  zwar  ist  er  bei  senk- 
rechtem Einfall  auf  die  Flächeneinheit  (i  qcm)  be- 
rechnet numerisch  gleich  der  in  der  Volumeinheit 
1 1  ccm)  enthaltenen  strahlenden  Energie,  falls  der 
Körper  absolut  schwarz  ist ,  also  sämtliche  auf 
ihn  fallende  elektromagtietische  Strahlung  ver- 
schluckt. Wird  dagegen  die  Strahlung  voll- 
kommen reflektiert,  ist  also  die  Oberfläche  ein 
idealer  Spiegel,  dann  ist  er  doppelt  so  groß. 
Dieses  Resultat  ist  aus  mathematischen  Gleichun- 
gen errechnet.  Durch  einen  abstrakten  Rechen- 
beweis ist  der  richtige  Physiker  jedoch  nicht  recht 
befriedigt,  er  muß  sich  vielmehr  die  Tatsachen 
auch  anschaulich  machen  können;  das  nennt  er 
erst  „Verstehen".  Wie  steht  es  nun  damit  in 
diesem  Fall?  Wie  schon  gesagt,  finden  längs 
einem  Lichtstrahl  Schwingungen  elektrischer  und 
magnetischer  Kräfte  senkrectl  zur  Fortpflanzungs- 
ricluung  des  Strahles  statt  und  zwar  schwingt 
die  magnetische  Kraft  senkrecht  zur  elektrischen. 
Unter  magnetischen  und  elektrischen  Kräften 
stellen  wir  uns  Spannungszustände  im  Räume 
vor,  von  deren  Richtung  und  Größe  wir  uns  an- 
schaulich ein  Bild  machen  durch  Kraftlinien,  wie 
wir  sie  im  Felde  eines  Hufeisenmagneten  leicht 
durch  Eisenfeile  sichtbar  machen  können.  Jede 
magnetische  Kraftlinie,  die  sich  vom  Nordpol  zum 
Südpol  herumschwingt,  hat  das  Bestreben  sich  zu 
verkürzen;  sie  verhält  sich  demnach  genau  wie 
ein  gespannter  Gummischlauch.  Auch  die-^er  übt 
in    seiner  Richtung    einen  Zug    und   senkrecht 


i873.' 


')  Maxwel 


r.  and    magnet.  Art.   792, 


4i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


dazu  einen  Druck  aus.  Ganz  ähnlich  ist  es 
bei  den  elektrischen  Kraftlinien,  die  man  ebenfalls 
sichtbar  machen  kann;  auch  hier  wirken  in  Rich- 
tung der  Kraftlinien  Zug-,_  senkrecht  zu  ihnen 
Druckkräfte.  Um  also  ein  Bild  von  den  Vor- 
gängen auf  einem  Lichtstrahl  zu  gewinnen,  müssen 
wir  uns  vorstellen,  daß  der  Raum  von  elektrischen 
und  senkrecht  zu  ihnen  von  magnetischen  Kraft- 
linien durchzogen  ist,  die  nun  beide  wieder  senk- 
recht zur  Fortpflanzungsrichtung  des  Strahles 
stehen.  Die  Kraftlinien  sind  in  außerordentlich 
schneller  Bewegung,  sie  wechseln  in  jeder  Sekunde 
rund  10"  mal  ihre  Richtung.  Vermöge  des  Druckes, 
den  die  Kraftlinien  senkrecht  zu  ihrer  Richtung 
ausüben,  drücken  sie  sich  in  Richtung 
des  Lichtstrahls  voneinander  fort,  so 
daß  wir  also  zu  einem  Druck  in  Rich- 
tung des  Strahles  kommen. 

Doch  mit  dieser  anschaulichen  Vorstellung  vom 
Lichtdruck  ist  natürlich  noch  nicht  bewiesen,  daß 
er  wirklich  vorhanden  ist;  das  ist  vielmehr  Sache 
des  Versuches.  Ein  solcher  experimenteller  Nach- 
weis schien  schon  1873  geliefert  zu  sein  durch 
einen  von  Crookes  angegebenen  Apparat,  das 
Radiometer  (Lichtmühle).  Dieses  kleine  In- 
strument, das  man  vielfach  im  Schaufenster  des 
Optikers  sich  drehen  sieht,  besteht  aus  vier  äußerst 
leichten  Kreisblättchen  aus  Glimmer  oder  Alu- 
minium, die  vertikal  stehen  und  an  einem  vier- 
armigen  Kreuz  befestigt  sind.  Dieses  ist  mittels 
eines  Glashütchens  drehbar  um  eine  vertikale 
Achse  aufgehängt.  Das  ganze  hat  also  Ähnlich- 
keit mit  einem  Anemometer,  mit  dem  die  Wind- 
geschwindigkeit gemessen  wird.  Das  Flügelrad 
ist  in  einem  hinreichend  luftleeren  Glasballon  an- 
gebracht. Die  Blättchen  sind  auf  der  einen  Seite 
geschwärzt.  Fällt  Licht  auf  das  Radiometer,  so 
dreht  es  sich,  wobei  die  nicht  geschwärzten 
Seiten  vorangehen,  und  zwar  um  so  schneller,  je 
größer  die  Intensität  der  Strahlen  ist.  Es  sieht 
also  aus,  als  wenn  das  Licht  auf  die  geschwärzten 
Flächen  einen  größeren  Druck  ausübten  als  auf 
die  ungeschwärzten,  was  im  Widerspruch  zu 
Maxwell's  Theorie  steht.  Die  weitere  Unter- 
suchung hat  gezeigt,  daß  bei  zunehmender  Ver- 
dünnung der  Luft  im  Glasballon  die  Drehge- 
schwindigkeit zunimmt,  bei  einem  bestimmten 
Druck  einen  höchsten  Wert  erreicht,  um  dann 
bei  weiterem  Leerpumpen  wieder  abzunehmen. 
Wird  die  Luft  sehr  stark  verdünnt,  dann  bleibt 
das  Rädchen  stehen.  Wäre  es  tatsächlich  der 
Lichtdruck,  der  die  Bewegung  verursacht,  dann 
müßte  bei  der  höchsten  Verdünnung  die  Dreh- 
geschwindigkeit am  größten  sein,  da  dann  die 
Luftreibung,  die  die  Bewegung  hemmt,  am 
kleinsten  ist.  Der  Druck  der  Lichtstrahlen 
kann  also  nicht  die  Mühle  in  Bewegung 
setzen.  Die  Erscheinung  erklärt  sich  auf  ganz 
andere  Weise:  Die  geschwärzte  Seite  der  Flügel- 
chen absorbiert  die  Strahlen,  sie  wird  daher 
wärmer  als  die  ungeschwärzte.  Die  Luftmoleküle, 
die   auf  die  geschwärzten  Flächen  aufprallen,    er- 


wärmen sich  an  ihr,  d.  h.  ihre  Bewegungsenergie 
wird  gesteigert;  sie  verlassen  also  die  geschwärzte 
Seite  mit  größerer  Geschwindigkeit  als  die,  welche 
der  ungeschwärzten,  kälteren  Fläche  abprallen. 
Mithin  ist  auch  der  Rückstoß  auf  die  geschwärzte 
Fläche  (die  Moleküle  stoßen  sich  gleichsam  von 
ihr  ab)  größer,  die  Drehung  erfolgt  im  oben  an- 
gegebenen Sinn.  Das  Radiometer  hat  also 
mit  dem  Lichtdruck  nichts  zu  tun;  es 
kann  vielmehr  als  experimenteller  Beweis  für  die 
Richtigkeit  der  Anschauungen  der  kinetischen 
Gastheorie  gelten. 

Erst  im  Jahre  1900  ist  es  F.  Lebedew^)  ge- 
lungen, den  Lichtdruck  durch  den  Versuch  nach- 
zuweisen und  zu  messen.  Um  eine  Vorstellung 
von  den  experimentellen  Schwierigkeiten,  die  es 
dabei  zu  überwinden  galt,  zu  geben,  sei  eine  Be- 
rechnung der  Größe  des  zu  messenden  Druckes  für 
Sonnenlicht  angeführt.  Denken  wir  uns  an  der 
Grenze  der  Atmosphäre  ein  Quadratzentimeter 
eines  schwarzen  Körpers,  auf  das  die  Sonnen- 
strahlen senkrecht  auffallen,  so  empfängt  dieses 
pro  Minute  einen  Energiebetrag  von  rund  2  Gramm- 
kalorien oder  80-10"  Erg.,  das  sind  j- 10"  Erg.  in 
der  Sekunde.  Diese  Energiemenge  können  wir 
uns  in  einem  über  dem  Quadratzentimeter  er- 
richteten Zylinder  enthalten  denken,  dessen  Höhe 
gleich  der  P'ortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Lich- 
tes, also  300000  km  ist.  Das  ergibt  für  einen 
Kubikzentimeter  einen  Energiebetrag  (Energie- 
dichte) von  4- 10":  3- 10'"  =  ^ •  lO"' Erg.  Nun  ist 
ja  wie  oben  angeführt  nach  Maxwell  dieser 
Energiebetrag  numerisch  gleich  dem  Druck  auf 
das  Quadratzentimeter.  Dieser  ist  demnach  rund 
^-  iO~*  Dynen  auf  i  qcm  oder  ^  Dyn  pro  Quadrat- 
meter bestrahlter  Fläche.  Da  1  Dyn  etwa  gleich 
dem  Gewicht  von  1  mg  ist,  so  handelt  es  sich 
also  darum,  den  Druck  von  ^  mg  auf  i  Quadrat- 
meter Fläche  nachzuweisen,  eine  Aufgabe,  die 
kaum  lösbar  erscheint.  Und  doch  wurde  sie  be- 
wältigt. Der  Lebedew'sche  Apparat,  der  mit 
dem  Radiometer  eine  gewisse  Ähnlichkeit  hat, 
ist  eine  um  eine  vertikale  Achse  drehbare  Dreh- 
wage; an  einem  kurzen  seitlichen  Arm  ist  an 
jeder  Seite  ein  rundes  Blättchen  (5  mm  Durch- 
messer), dessen  Fläche  vertikal  steht,  angebracht. 
Auf  eins  derselben  fällt  durch  ein  Linsensystem 
konzentriert  das  Licht  einer  Bogenlampe.  Aus 
Schwingungen  wird  die  Ruhelage  des  drehbaren 
Systems  bestimmt.  Dann  lenkt  man  durch  ge- 
eignet angebrachte  Spiegel  das  Licht  auf  die 
Rückseite  des  Blättchens  und  bestimmt  von  neuem 
die  Ruhelage;  sie  ist  in  Richtung  der  Strahlen 
verschoben,  aus  der  Differenz  der  beiden  Ruhe- 
lagen läßt  sich  der  Lichtdruck  berechnen.  Ein 
Gefäß  mit  Wasser  nimmt  aus  dem  Licht  der 
Bogenlampe  die  infraroten,  die  Glaslinsen,  die 
ultravioletten  Strahlen  fort.  Die  Blättchen  be- 
stehen aus  Platin  (blank  und  platiniert),  aus  Alu- 
minium,  Nickel    und  Glimmer.     Ihre  IDicke    liegt 


')  Drudes  Ann.  der  Phys.  6,  433  (1901). 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


427 


zwischen  yV  ""^  t^^  ^^-  ^'^  Schwankungen 
in  dem  Energiestrom,  durch  ungleichmäßiges 
Brennen  der  Bogenlampe  hervorgerufen,  werden 
durch  ein  Thermoelement  kontrolliert.  Die  ab- 
solute IVIenge  der  Strahlenenergie,  die  das  Blätt- 
chen trifft,  wird  mit  einem  Kalorimeter  zu  1,2 
bis  1,8  Grammkalorien  pro  Minute  gemessen. 
Der  ganze  Apparat  befindet  sich  in  einem  Glas- 
ballon, in  dem  der  Druck  bis  auf  0,0001  mm 
Quecksilbersäule  erniedrigt  ist.  Der  aus  den 
Versuchen  errechnete  Lichtdruck 
stimmt  gut  mit  dem  sich  aus  der  Theorie 
ergebenden  überein.  Bei  seinen  Versuchen 
war  L  e  b  e  d  e  w  sicher,  daß  die  beobachteten  Ab- 
lenkungen der  Scheibchen  nicht  durch  radiome- 
trische Wirkungen  hervorgerufen  waren.  Die  Ver- 
suche wurden  1901  von  Nichols  und  Hüll 
wiederholt  und  ergaben  wieder  mit  der  Theorie 
übereinstimmende  Resultate.  Der  Lebedew'sche 
Apparat  stellt  eine  Vorrichtung  dar,  wie  ihn  die 
Technik  seit  langer  Zeit  sucht,  nämlich  eine  Vor- 
richtung, durch  welche  die  elektromagnetische 
Energie  der  Sonnenstrahlung  direkt  in  mechanische 
Bewegungsenergie  umgewandelt  wird.  Leider  ist 
die  erzeugte  Leistung  so  gering,  daß  von  einer 
praktischen  Ausnutzung  keine  Rede  sein  kann. 

Um  über  die  Bedeutung  des  Strahlungsdruckes 
weitere  .Aufschlüsse  zu  erhalten,  wollen  wir  ihn 
mit  der  Gravitation  vergleichen,  einer  Energieform, 
die  ja  ebenso  wie  die  strahlende  überall  im 
Weltenraum  gegenwärtig  und  wirksam  ist.  Da 
ist  ohne  weiteres  klar,  daß  der  Lichtdruck,  der 
z.  B.  die  Erde  \)  von  der  Sonne  forttreibt,  zu  ver- 
nachlässigen ist  gegenüber  der  Kraft,  mit  der  die 
Erde  von  der  Sonne  angezogen  wird.  Anders 
wird  aber  die  Sachlage,  wenn  wir  die  Kugel,  auf 
die  beide  Kräfte  wirken,  kleiner  und  kleiner 
werden  lassen.  Ihre  Masse,  die  für  die  Gravi- 
tation in  Betracht  kommt,  nimmt  dabei  mit  der 
dritten  Potenz  des  Radius  ab,  während  die  (halbe) 
Oberfläche,  auf  welche  der  Lichtdruck  wirkt,  mit 
der  zweiten  Potenz  kleiner  wird.  Die  Masse  wird 
demnach  schneller  kleiner  als  die  Oberfläche,  und 
für  eine  genügend  kleine  Kugel  wird  der  Strah- 
lungsdruck gleich,  ja  größer  als  ihre  Schwere 
werden.  Um  die  Zunahme  der  Oberfläche  bei 
wachsender  Zerteilung  eines  Körpers  zu  erläutern, 
dazu  diene  folgende  Zusammenstellung,  die  das 
Oberflächenwachstum  für  einen  Würfel  bei  zu- 
nehmender dezimaler  Zerteilung  angibt: 

Zahl   der  Gesamte 

Würfel  Oberfläche 
I  6  qcm 

I  mm  IO-*  60    „ 

0,001    „    ^  I  /(  10''^  6qm 

0,000001    „    =  1  jufi  10-^  6000   „ 

0,001 /</(  ic""  6qkm 


Kantenlänge 


cm 


')  Für  die  gesamte  Erdkugel  berechnet  sich  der  Druck 
der  Sonnenstrahlen  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Strahlen 
vollständig  absorbiert  werden,  zu  rund  60  Millionen  Kilogramm. 


Nehmen  wir  an,  daß  die  Sonnenstrahlen  senk- 
recht zu  einer  Quadratfläche  auftreffen,  so  ist  der 
Lichtdruck  auf  den  Würfel  von  i  cm  Kantenlänge 
|-lO  ■*  Dyn,  während  er  insgesamt  500  Dyn  = 
rund  0,5  g  beträgt,  wenn  wir  den  Würfel  in  kleine 
von  I  ftfi  Seitenlänge  zerlegen.  Es  ist  also  zu 
erwarten,  daß  sehr  kleine  Körper  sehr  wohl  ent- 
gegen der  Schwere  durch  den  Strahlungsdruck  in 
Bewegung  gesetzt  werden  können.  Versuche  nach 
dieser  Richtung  sind  zuerst  von  den  Amerikanern 
Nichols  und  Hüll  gemacht.  Sie  verkohlen  die 
Sporen  vom  Bovist  durch  Erhitzen  auf  Rotglut 
und  erhalten  so  ein  feines  poröses  Kohlenpulver 
von  etwa  0,002  mm  Durchmesser.  Dieses  wird 
mit  feinstem  Schmirgelpulver  gemischt  in  ein 
evakuiertes  stundenglasförmiges  Geläß  gebracht. 
Der  Pulverstrom  rieselt  durch  die  feine  Öffnung 
in  feinem  Strahle  vertikal  nach  unten  in  das 
untere  Gefäß.  Richtet  man  jetzt  von  der  Seite 
her  auf  den  Strahl  das  durch  Linsen  konzentrierte 
Licht  einer  Bogenlampe,  so  werden  die  Kohle- 
teilchen durch  den  Strahlungsdruck  zur  Seite  ge- 
trieben, während  der  schwere  Schmirgel  weiter 
lotrecht  herabfallt.  Eingehendere  Versuche  sind 
kürzlich  von  F.  Ehrenhaft')  in  Wien  gemacht 
bei  Gelegenheit,  elektrische  Ladungen  zu  ermitteln, 
die  kleiner  sind  als  die  Ladung  des  Elektrons. 
Durch  Zerstäuben  von  Metallen  -)  im  galvanischen 
Lichtbogen  wurden  Metallparlikel  hergestellt,  deren 
Durchmesser  zwischen  10  *  und  lO"*  mm  lag. 
Die  Teilchen  wurden  zwischen  die  horizontal 
liegenden  Platten  eines  kleinen  Kondensators  ge- 
bracht und  von  der  Seite  her  durch  die  horizontal 
verlaufenden  Strahlen  einer  Bogenlampe  beleuchtet, 
die  durch  ein  Mikroskopobjektiv  zu  einem  inten- 
siven Lichtkegel  gesammelt  wurden.  Wegen  der 
starken  Beugung  an  den  kleinen  Partikeln  geschah 
die  Beobachtung  senkrecht  zu  den  Lichtstrahlen 
mit  einem  looofach  vergrößernden  Mikroskop 
(Ultramikroskop).  Man  sah  namentlich  im  hellsten 
Teile  des  Lichtkegels  die  intensiv  leuchtenden 
Gold-  oder  Quecksilberteilchen,  doch  waren  sie 
auch  im  übrigen  Teil  im  diffusen  Licht  sichtbar. 
Der  eigentliche  Zweck  der  Untersuchung  war 
nun  der,  die  Bewegung  der  elektrisch  geladenen 
Teilchen  zu  untersuchen;  sie  fielen  und  konnten 
durch  Anlegen  einer  geeigneten  Spannung  an  den 
Kondensator  schwebend  erhalten  oder  gehoben 
werden.  Aus  ihrer  Bewegung  ließen  sich  Schlüsse 
auf  die  Größe  ihrer  Ladung  machen.  Im  diffus 
beleuchteten  Raum  fielen  die  Teilchen  lotrecht 
nach  unten;  sobald  sie  in  den  intensiven  Licht- 
kegel traten,  erhielten  sie  durch  den  Lichtdruck 
einen  horizontalen  Impuls,  so  daß  sie  sich  oft  in 
horizontaler  Bahn  bewegten.  Die  Horizontalge- 
schwindigkeit, die  zwischen  5,8  und  6o- 10  ^  cm/sek 
lag,    nahm  ab,    wenn    sie   aus  der    hellsten  Zone 


')  Physikal.  Zeitschr.  XV,  608  (1914). 

2)  Auf  ähnliche  Weise  wurden  von  G.  Bredig  durch 
elektrisches  Zerstäuben  unter  Wasser  kolloide  Silberlösungen 
hergestellt. 


428 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


herauskamen.  Eine  radiometrische  Wirkung  war 
nach  Ehrenfest  bei  den  Versuchen  ausge- 
schlossen. Die  Größe  der  Partikel  wurde  aus 
ihrer  vertikalen  Fallgeschwindigkeit  nach  dem 
Stokes'schen  Gesetz  und  aus  der  Farbe  des 
abgebeugten  Lichtes  bestimmt. 

Noch  bevor  das  Vorhandensein  des  Strah- 
lungsdruckes experimentell  nachgewiesen  war, 
ist  er  von  Boltzmann  (1884)  zur  Ableitung 
seines  Gesetzes  über  die  Abhängigkeit  der  Ge- 
samtstrahlung des  schwarzen  Körpers  von  der 
Temperatur  benutzt  worden.  Die  theoretische 
Physik  nimmt  ja  ihre  Zuflucht  häufig  zu  Ge- 
dankenexperimenten, deren  Ausführung  technisch 
unmöglich  ist,  die  aber  doch,  wenn  der  Ablauf 
aller  in  Betracht  kommenden  Vorgänge  genau 
bekannt  ist,  zu  richtigen  Ergebnissen  führen.  Man 
denke  z.  B.  an  die  idealen  Kreisprozesse  in  der 
Wärmelehre.  Denkt  man  sich  nach  Boltz man  n 
die  Strahlung  des  schwarzen  Körpers  in  einem 
Raum  mit  vollkommen  spiegelnden  Wänden  ein- 
gefangen und  darin  abgeschlossen,  so  kann  ein 
Energieaustausch  mit  den  Wänden  nicht  statt- 
finden, da  immer  wenn  die  Strahlen  die  Wände 
treffen,  sie  von  diesen  ohne  Verlust  (Verwandlung 
in  Wärme)  reflektiert  werden.  Die  in  dem  Räume 
eingeschlossene  Energie,  die  also  nicht  in  eine 
andere  Energieform  übergehen  kann,  hat  eine 
ganz  bestimmte  Dichte,  d.  h.  im  Kubikzentimer 
sind  eine  bestimmte  Anzahl  Erg  enthalten.  Hat  der 
schwarze  Körper,  dessen  Strahlung  ich  einschließe, 
eine  höhere  Temperatur,  so  ist  auch  die  Strah- 
lungsdichte größer;  sie  steigt  demnach  mit 
wachsender  Temperatur.  Nun  gibt  es  aber  noch 
ein  zweites  Mittel,  die  Strahlungsdichte  zu  steigern, 
nämlich  dadurch,  daß  man  den  Hohlraum  ver- 
kleinert, dann  wird  die  in  der  Volumeinheit  ent- 
haltene Energiemenge  größer.  Bei  dieser  Kom- 
pression muß  man  eine  Arbeit  gegen  den  Strah- 
lungsdruck leisten,  deren  Größe  sich  berechnen 
läßt,  und  die  zu  einer  Erhöhung  der  Strahlungs- 
dichte und  damit  der  Temperatur  der  Strahlung 
verwandt  wird.  Man  kann  nun  berechnen,  daß 
die  Strahlungsdichte  und  damit  die  Emission  des 
schwarzen  Körpers  mit  der  vierten  Potenz  der 
absoluten  Temperatur  zunimmt  (St  ephan-Boltz- 
mann'sches  Gesetz).  Da  der  Strahlungsdruck 
nach  Maxwell  numerisch  gleich  der  Energie- 
dichte ist,  folgt  ohne  weiteres,  daß  auch  der 
Lichtdruck  proportional  der  vierten  Potenz  der 
absoluten  Temperatur  der  Strahlungsquelle  sein 
muß.  Wäre  die  Temperatur  unserer  Sonne  doppelt 
so  hoch,  dann  wäre  der  Strahlungsdruck  auf  der 
Erde  16  mal  so  groß.  Der  Wert  wäre  immer 
noch  sehr  klein.  Der  Grund  dafür  ist  die  außer- 
ordentlich hohe  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der 
strahlenden  Energie,  nämlich  300000  km  pro  Se- 
kunde. Infolgedessen  ist  die  in  der  Volumeinheit 
des  durchstrahlten  Raumes  enthaltene  Energie 
klein,  obgleich  sehr  große  Energiemengen  den 
Raum  durcheilen. 

Die  Allgegenwärtigkeit  der  strahlenden  Energie 


und  damit  des  Strahlungsdruckes  im  Weltenraume 
legen  den  Gedanken  nahe,  nach  einem  Zusammen- 
hang zwischen  kosmischen  Erscheinungen  und  dem 
Lichtdruck  zu  suchen.  Schon  Kepler,  der  das 
Licht  noch  für  eine  korpuskulare  Strahlung  hielt, 
hat  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  den  Druck 
der  Sonnenstrahlen  zur  Erklärung  für  die  Bildung 
der  Kometenschweife  herangezogen.  Neuerdings 
sind  diese  Gedanken  namentlich  von  A  r  r  h  e  n  i  u  s ') 
(1900)  aufgenommen  und  weiter  verfolgt  worden. 
Zwei  Kräfte  sind  es,  die  auf  jeden  zum 
Sonnensystem  gehörenden  Körper  wirken,  die 
Gravitation,  die  die  Körper  zur  Sonne  zieht,  und 
der  Strahlungsdruck,  der  sie  von  der  Sonne  fort- 
treibt. Wegen  der  größeren  Sonnenmasse  ist  die 
Schwere  an  der  Sonnenoberfläche  27,5  mal  größer 
als  auf  der  Erde,  der  Lichtdruck  ist  dagegen  rund 
46000  mal  so  groß,  er  beträgt  2,75  mg  auf  das 
Ouadratzentimeter.  Daraus  berechnet  der  schwe- 
dische Forscher,  daß  an  einer  Kugel  mit  schwarzer 
Oberfläche  und  der  Dichte  i  sich  die  beiden  Kräfte 
das  Gleichgewicht  halten,  wenn  ihr  Durchmesser 
1,5  /(  ^  0,0015  mm  beträgt.  Für  größere  Partikel 
überwiegt  die  Anziehung,  für  kleinere  die  Ab- 
stoßung. Man  sollte  nun  denken,  daß  die  letztere 
um  so  größer  wird,  je  kleiner  die  Partikel  wird. 
Das  ist  aber  wie  der  kürzlich  verstorbene  Astronom 
Schwarzschild  ^)  gezeigt  hat,  keineswegs  der 
F'all.  Vielmehr  ist  die  abstoßende  Wirkung  der 
Strahlen  am  größten,  wenn  der  Durchmesser  der 
Kugel  gleich  einem  Drittel  der  Wellenlänge  des 
Lichtes  ist.  In  diesem  Fall  hat  das  Verhältnis 
des  Druckes  zur  Massenanziehung  ein  Maximum. 
Wird  die  Partikel  kleiner,  dann  nimmt  dieses 
Verhältnis  schnell  ab,  so  daß  schließlich  die 
Schwere  wieder  überwiegt.  Der  Grund  hierfür 
liegt  in  der  Beugung,  die  die  Strahlen  an  so 
kleinen  Körperchen  erleiden ;  diese  läßt  den  Licht- 
druck nicht  voll  zur  Wirkung  kommen.  Die  Be- 
deutung der  von  .Schwarzschild  an  der  Ar- 
r  h  e  n  i  u  s '  sehen  Rechnung  angebrachten  Korrektur 
liegt  auf  der  Hand.  Für  Gasmoleküle,  deren 
Durchmesser    von    der    Größenordnung    i  ii/t    ist, 

während      für  den  hellsten  Teil  des  Sonnenlichtes 

3 
160  fift  beträgt,  überwiegt  die  Anziehung.  Da- 
gegen werden  Partikel,  deren  Größe  160  ftft  und 
darüber  bis  1,5 /<  =  1500 ,((/(  ist  (immer  unter  der 
Voraussetzung,  daß  ihre  Dichte  i  ist)  durch  den 
Strahlungsdruck  von  der  Sonne  fort  und  in  den 
Weltenraum  hinausgetrieben.  Die  Sonne  verliert 
also  dauernd  an  Masse,  die  in  Gestalt  fein  ver- 
teilter Materie  von  ihr  aufsteigt,  doch  wird  dieser 
Verlust  sehr  wahrscheinlich  durch  die  in  die  Sonne 
stürzenden  Meteore  reichlich  wieder  ausgeglichen. 
Diese  Staubmassen,  welche  die  Sonne  umgeben, 
beobachten  wir  bei  einer  totalen  Sonnenfinsternis 
in  der  rätselhaften  Korona,  einer  leuchtenden 
Dunsthülle,    deren   Durchmesser    namentlich    zu- 


')  S.  Arrhenius:  Das  Werden  der  Welten.  Leipzi 
'-)  Münchener  Berichte  31,  293  (1901). 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


429 


Zeiten  lebhafter  Sonnentätigkeit  den  Sonnendurch- 
messer manchmal  um  das  sechsfache  übertrifift. 
Der  der  Sonne  zunächst  gelegene  Teil  besteht, 
wie  die  spektroskopische  Untersuchung  ergibt, 
aus  Wasserstoff  und  einem  unbekannten,  Koro- 
nium  genannten  Gas,  während  die  äußere  Korona 
durch  ihr  kontinuierliches  Spektrum  sich  als  aus 
festen  und  flüssigen  Partikeln  bestehend  erweist. 
Daß  die  Koronamaterie  äußerst  verdünnt  ist,  geht 
daraus  hervor,  daß  sie  nur  sehr  wenig  IJcht  aus- 
strahlt und  daß  mehrere  Kometen,  die  in  weniger 
als  einem  Sonnenradius  an  der  Sonne  vorbei- 
gingen, in  ihrer  Bewegung  nicht  gestört  wurden. 
Ein  Teil  der  die  Korona  bildenden  Partikel  ver- 
läßt unter  dem  Einfluß  des  Strahlungsdruckes  die 
Sonne  und  dringt  in  den  Weltenraum,  und  zwar 
findet  eine  solche  Ausstrahlung  von  feiner  Materie 
bei  jedem  Fixstern  statt;  sie  ist  um  so  stärker 
je  heißer  der  Stern  ist.  Der  Weltenraum  ist  von 
diesem  kosmischen  Staub  in  äußerster  Ver- 
dünnung erfüllt.  Es  ist  nun  nicht  ausgeschlossen, 
daß  sich  die  Teilchen  bei  zufälligem  Zusammen- 
treffen allmählich  zu  größeren  Massen  zusammen- 
ballen und  so  kleine  Weltkörper,  die  Meteore, 
bilden.  Daß  eine  Neubildung  von  Meteoren  statt- 
finden muß,  erhellt  aus  folgender  Überlegung: 
Jeder  größere  Weltkörper  wirkt  reinigend  auf 
den  ihn  umgebenden  Raum,  indem  er  vermöge 
seiner  größeren  Masse  kleinere  in  seinen  Wirkungs- 
bereich tretende  Massen  anzieht  und  einfängt.  Die 
Masse  der  auf  die  Erde  stürzenden  Meteore  wird 
allein  auf  etwa  20000  Tonnen  pro  Jahr  schätzungs- 
weise berechnet.  Wenn  sie  sich  nicht  neu  bil- 
deten, müßte  ihre  Zahl  im  Laufe  der  Zeiten  ver- 
schwindend klein  geworden  sein.  Auch  die  Struktur 
der  Meteore,  die  unter  dem  Mikroskop  aus  einer 
Unzahl  feiner  Körner  zusammengewachsen  er- 
scheinen, spricht  für  diese  Ansicht. 

Der  durch  den  Strahlungsdruck  in  den  Raum 
hinausgetriebene  kosmische  Staub  stellt  also  die 
Verbindung  zwischen  den  einzelnen  Weltkörpern 
dar.  Wenn  es  eine  Zeit  gegeben  hat,  wo  die  che- 
mische Zusammensetzung  der  Sterne  verschieden 
war,  so  muß  dieser  Transport  von  feinster  Materie 
von  -Stern  zu  Stern  zu  einer  Einheitlichkeit  in 
der  qualitativen  chemischen  Zusammensetzung  der 
Wehkörper  führen.  So  ist  z.  B.  nicht  ausgeschlossen, 
daß  der  Wasserstoff,  der  in  den  höchsten  Schichten 
der  Erdatmosphäre  sich  befindet,  und  die  Edelgase, 
deren  Vorhandensein  in  der  Luft  erst  seit  1894  be- 
kannt ist,  eingeschlossen  in  Sonnenstaub  zur  Frde 
gekommen  sind.  Ein  Teilchen  von  160  (</<  Durch- 
messer (Dichte  i),  das  sich,  wie  oben  erwähnt, 
am  schnellsten  bewegt,  würde  etwa  60  Stunden 
brauchen,  um  von  der  Sonne  zur  Erde  zu  ge- 
langen; die  Marsbahn  würde  es  nach  20  Tagen, 
die  Neptunbahn  nach  14  Monaten  überschreiten. 
Das  nächste  Sonnensystem  («Centauri)  würde  es 
erst  nach  9000  Jahren  erreichen.  Unter  diesen 
Umständen  scheint  es  nicht  unmöglich,  daß 
lebende  Organismen  durch  den  Strahlungsdruck 
von    einem  Stern  zum  anderen  befördert  werden. 


Die  Dauersporen  einer  Reihe  von  Bakterien  haben 
die  für  den  Lichtdruck  günstige  Größe.  Da  bei 
tiefen  Temperaturen  die  Lebensfunkiionen  außer- 
ordentlich langsam  ablaufen,  ist  es  wohl  möglich, 
daß  bei  der  Reise  durch  den  äußerst  kalten  Welt- 
raum ihre  Keimkraft  so  lange  erhalten  bleibt,  daß 
sie  bei  ihrer  Ankunft  noch  lebensfähig  sind.  Die 
abtötende  Wirkung  des  Lichtes  auf  diese  Lebe- 
wesen tritt  nur  bei  Gegenwart  der  Luft  in  Er- 
scheinung. Auch  die  Möglichkeit  dafür,  daß  sie 
die  Erde  verlassen,  ist  vorhanden;  Luftströmungen 
tragen  sie  bis  in  die  höchsten  Schichten  der  At- 
mosphäre empor.  Da  hier,  wie  die  Erscheinung 
der  Nordlichter  zeigt,  Elektronen  vorhanden  sind, 
können  sie  sich  elektrisch  laden  und  nun  unter 
dem  Einfluß  der  elektrischen  Kräfte  aus  dem  Be- 
reich der  Erde  in  den  Raum  hinausgetrieben 
werden,  um  hier  an  irgendeiner  Stelle  von  dem 
Strahlungsdruck  erfaßt  und  weiter  fortgeführt  zu 
werden. 

Als  Newton  sein  Gravitationsgesetz  aus  den 
Kepler 'sehen  Gesetzen  abgeleitet  hatte,  schien 
die  Mechanik  ein  Gesetz  zu  haben,  dem  sich  die 
Bewegung  sämtlicher  Himmelskörper  unterordnete. 
Eine  Ausnahme  machen  die  Kometen;  der  Schweif, 
der  sich,  wenn  sich  der  Komet  auf  seiner  flachen 
elliptischen  Bahn  der  Sonne  nähert,  mehr  und 
mehr  ausbildet,  ist  nämlich  stets  von  der  Sonne 
abgekehrt,  scheint  also  nicht  der  Sonnenschwere 
unterworfen  zu  sein,  sondern  von  der  Sonne  ab- 
gestoßen zu  werden.  Messungen  haben  ergeben, 
daß  die  Abstoßung  verschieden  groß  ist;  bei 
einigen  Kometen  ist  sie  gleich  dem  vierzigfachen 
der  Schwerkraft,  Das  Licht  des  Kometen  erweist 
sich  bei  der  spektralen  Untersuchung  als  Sonnen- 
licht, doch  finden  sich,  namentlich  wenn  der 
Komet  weit  von  der  Sonne  entfernt  ist,  dem 
kontinuierlichen  Spektrum  übergelagerte  Banden- 
spektren, die  auf  die  Gegenwart  von  Kohlen- 
wasserstoffen schließen  lassen.  Nähert  er  sich 
der  Sonne,  so  zersetzen  sich  die  organischen  Ver- 
bindungen unter  dem  Einfluß  der  Sonnenwärme, 
Wasserstoff  und  andere  Gase  entweichen  und  es 
bleiben  kleinste,  schwammartige  Kohlenteilchen 
zurück,  die  nun  vom  Strahlungsdruck 
von  der  Sonne  fortgetrieben  werden 
und  den  Schweif  des  Kometen  bilden. 
Wenn  bei  wachsender  Annäherung  an  die  Sonne 
die  Temperatur  steigt,  verdampfen  auch  schwerer 
siedende  Körper;  man  beobachtet  die  Natrium- 
und  wohl  auch  Eisenlinien.  Der  auf  Seite  427 
angeführte  Versuch  von  N  i  c  h  o  1  s  und  Hüll  ist 
nichts  anderes  als  eine  Nachahmung  von  Kometen- 
schweifen im  kleinen.  Genauere  Rechnungen 
zeigen,  daß  die  Kometen  in  allem  die  Schlüsse 
bestätigen,  zu  welchen  die  Lehre  vom  Strahlungs- 
druck führt. 

Mit  dem  Strahlungsdruck  ist  es  in  der  Wissen- 
schaft gegangen  wie  mit  so  vielen  anderen  Er- 
scheinungen. Zunächst  bedarf  es  großer  Mühe, 
die  Erscheinung  festzustellen.  Ist  das  gelungen, 
dann  ergibt  sich,  daß  sie  überall  wirksam  ist  und 


430 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


daß  sie  in  unserem  Weltbilde  oder  für  unsere 
Technik  eine  große  Rolle  spielt.  Diese  Entwick- 
lung können  wir  besonders  bei  den  elektrischen 
Erscheinungen  feststellen;  Vor  reichlich  100  Jahren 
waren  sie  wenig  bekannt,  und  erst  die  \^olta- 
schen  Versuche  brachten  uns  in  den  galvanischen 
Elementen  eine  recht  unvollkommene  Vorrichtung, 


elektrische  Ströme  zu  erzeugen.  Und  heute,  — 
welche  Rolle  spielt  die  elektrische  Energie  in 
unserem  Leben,  überall  lassen  wir  sie  für  uns 
arbeiten.  Ja  die  Wissenschaft  neigt  zu  der  An- 
sicht, daß  die  Grundbausteine  aller  Materie  elek- 
trischer Natur  sind. 


Maischwanim  uud  Erdsinimerling. 

Von  Prof.   Dr.  S.  Killermann,  Regensburg. 
Mit   5  Abbildungen. 


Neben  dem  bekannten  Stein-  oder  Edelpilz 
(Boletus  edulis  Bull.)  spielen  in  der  Volksnahrung 
seit  alter  Zeit  Maischwamm  und  Erd.simmerling 
eine  Rolle.  Beide  gehören  zu  den  Ritterlingen 
(Tricholoma  Fr.),  die  meist  weiße,  am  Stiel  aus- 
geschnittene Blätter  und  weiße  Sporen  besitzen 
(Leucospori).  Die  genannten  zwei  Arten  (s.  Abb. 
I  u.  2)  sind  weichfleischig,  von  angenehmem,  mehl- 


der  wissenschaftlichen  Literatur  ziemlich  viele: 
Tricholoma  gambosum  Fr.,  auch  Pomonae  Lenz, 
Georgii  (Clus.)  Fr.,  albellum  Fr.,  graveolens  Fers., 
Allescheri  Britz.;  vgl.  Saccardo,  Sylloge  V.  Bd. 
pag.  120 — 123.  Tr.  gambosum  ist  abgebildet  bei 
Krombholz  taf.  63  fig.  18 — 22,  Gonnermann- 
R  a  b  e  n  h  o  r  s  t  taf   1 8  fig.  3,  M  i  g  u  1  a  taf  1 26  fig. 


Abb.   I.     Maischwamm  (Tricholoma  Georgii    Fr.V 

Vom  Regensburger  Markt  Mai   1917;  Gr.   '/»■ 

(Nach   Phot.  des  Verf.) 


Erdsimmerling    (Tricholoma    conglobatum    Vitt.). 
Aus  der  Umgebung   von  Regensburg, 
olonie  in    '/a  Gr.     (Nach  Phot.   des  Verf.) 


artigem  Geschmack  und  Geruch  und  sehr  wohl  eß- 
bar ').  Im  Mai,  Juni  und  dann  im  Herbst  erscheinen 
diese  Pilze  auf  unseren  Märkten  (Regensburg)  und 
werden  gern  gekauft.  Die  Zubereitung  ist  die  ge- 
wöhnliche und  braucht  hier  nicht  geschildert  zu 
werden. 

Als  Maischwämme  bezeichnet  das  Volk  Früh- 
pilze, die,  wie  der  Name  sagt,  im  Mai,  manchmal 
schon  im  April,  „um  Georgi"  (24.  April)  erscheinen 
und  bis  in  den  Sommer  hinein  wachsen.  Dieses 
Jahr  (191 7)  habe  ich  sie  anfangs  Mai  noch  nicht 
gesehen,  wahrscheinlich  infolge  des  außerordentlich 
strengen  Frühjahrs.  Doch  kommen  die  Pilze  auch 
manchmal  schon  unter  dem  Schnee  zur  Entwicklung 
und  gerade  diese  gelten  als  die  besten. 

Die    Namen    für    diese  Maischwämme    sind    in 


')  Über  den  Nährgehalt  gibt  leider  das  Buch  von 
J.  Zellner  (Chemie  der  höheren  Pilze,  Leipzig  1907)  keinen 
näheren  AufschluS. 


I  —  3  (aber  nicht  gut),  Bresadola  f  mang,  e  vel. 
taf.  28  a  (als  Georgii  var.  flavida).  Tr.  Georgii 
findet  sich  bei  letztgenanntem  Autor  taf  27,  bei 
Patouillard  Nr.  103,  Ricken  taf  95  fig.  2; 
Tr.  albellum  bei  Gonnermann-R.  taf.  15  fig.  3, 
C  o  o  k  e  taf  1 05  und  bei  G  i  1 1  e  t ;  Tr.  graveolens 
bei  Krombholz  taf  55  fig.  2—6,  Britz elmayr 
Leucospori  fig.  428;  Tr.  Allescheri  bei  letzterem 
fig.  453.  In  Michael's  Führer  für  Pilzkunde 
dürften  fig.  Nr.  87  (bezeichnet  als  .Agaricus  gambosa) 
Tricholoma  graveolens  und  fig.  Nr.  118  (bezeichnet 
als  Georgii)  Tricholoma  gambosum  sein. 

Ich  habe  gegen  ein  Dutzend  „Maischwämme" 
von  verschiedenen  Lokalitäten;  es  wird  wohl  am 
besten  sein,  alle  die  genannten  4 — 5  Arten  mit 
Ricken  zu  einer  Hauptart  zusammenzuwerfen. 
Die  Synonymik  steht  gerade  in  der  Pilzkunde, 
bei  diesen  so  variablen  und  schwierig  zu  konser- 
vierenden   Objekten    in   großer   Blüte.     Als  Name 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


431 


dieser  Art  ist  am  besten  mit  Bresadola  die  Be- 
zeichnung Tricholoma  Georgii  (Clus.)  Fr.  zu  wählen. 

Was  die  mikroskopischen  Verhältnisse  aller 
dieser  Pilze  betrifft,  so  sind  die  Sporen  bei 
ihnen  eiförmig  elliptisch  5 — 6/3  u  lang  und  breit, 
mit  etwas  körnigem  Inhalt;  die  Basidien  keil- 
förmig 20/5  /'  lang  und  breit ,  mit  4  kurzen 
Sterigmen  ausgestattet.  An  den  Lamellen  (Blättern) 
sehe  ich  bei  jüngeren  Exemplaren  vielfach  feine 
haarförmige  Cystiden  von  bis  50/4  fi  Länge  und 
Dicke.  Das  Fleisch  ist  weiß,  von  angenehmem 
mehlartigen  auch  nußähnlichen  Geschmack;  im 
trockenen  Zustand  hat  es  oft  einen  Duft  wie  Honig. 

Die  Maischwämme  charakterisieren  sich  durch 
ihr  frühzeitiges  Wachstum ;  sie  wachsen  meist  in 
kurzem  Grase  an  sonnigen  Stellen,  auf  mageren 
Viehweiden,  an  Feldrainen,  an  Berghängen,  auch 
unter  Gestrüpp  und  Gesträuch  sowie  in  Parkanlagen, 
falls  es  nicht  zu  schattig  ist.  Der  Pilz  tritt  auf 
in  Zickzackstreifen    und    Hexenringen    gleich    den 


Abb.   3.     Erdsimmerling  aus  Schwandorf. 
Kolonie  in   i/j   GrölSe. 
(Nach  Phot.  des  Verf.) 

blauen,  im  Herbste  erscheinenden  Ritterlingen,  aber 
immer  einzeln,  nicht  viele  zu  einem  Stock  zu- 
sammengewachsen. Wie  mir  scheint,  fehlt  der 
Pilz  dem  Urgebirge  und  ist  mehr  an  Kalkboden 
gebunden.  Nach  dem  Standort  gibt  es  Abweichungen 
von  der  normalen  Form. 

Die  Varietäten  unterscheiden  sich  teils  durch 
die  Färbung,  teils  durch  den  Geruch:  gambosum 
hat  einen  weißgelblichen  gefleckten,  bei  älteren 
Exemplaren  ausgeschweiften  oder  zerrissenen  Hut 
(s.  Michael  1.  c.  Nr.  i  iS);  die  Varietät  wächst  mehr 
an  schattigen  Stellen.  Die  var.  albella  Fr.  hat 
weißen,  schuppig-gefleckten,  schließlich  grau- 
braunen, immer  regelmäßigen  Hut;  der  Geruch 
ist  schwächer.  Hierher  wird  A.  pallidus  Schaeffer 
taf.  50  gezogen,  der  freilich  nach  der  dürftigen  Be- 
schreibung dieses  Gelehrten  „an  den  Wurzeln  der 
Bäume  und  auf  alten  Baumstöcken"  wächst;  im 
Index  secundus  wird  der  Pilz  mit  zwei  anderen  (Clito- 
pilus  prunulus  Scop.  und  Tricholoma  tigrinum 
Schaff)  als  „Mouceron"  angesprochen,  demnach 
als  eßbar  hingestellt.  Ich  finde  ähnliche  Pilze  an 
sonnigen  Waldwegen,  also  immerhin  in  der  Nähe 
von  Baumwurzeln,    z.  B.    um  Landshut.     Die  var. 


graveolens  Pers.  ist  mehr  knollig  mit  halbkugeligem 
Hut,  verfärbt  sich  gern  ins  Rußige;  sie  ist  aus- 
gezeichnet durch  starken,  fast  unangenehmen  Ge- 
ruch; ich  fand  diesen  Pilz  in  den  Jurabergen  bei 
Regensburg  am  Rande  von  Wald  und  Feld. 

Die  Verbreitung  der  Maischwämme  ist  eine 
große.  Saccardo  gibt  insbesondere  von  der  Art 
Tr.  Georgii  an,  daß  sie  hauptsächlich  in  Osteuropa, 
dann  auch  in  Südafrika  (Vorgebirge  der  Guten 
Hoffnung)  und  in  China,  hier  unter  dem  Namen 
Ta  ting-mo und Pai-kou-mo (nach  Bretsch neide r) 
bekannt  sei.  Tr.  gambosum ,  albellum  und 
graveolens  scheinen  mehr  auf  die  nördlichen  Ge- 
genden beschränkt  zu  sein.  In  Schweden  tritt  dafür 
ein  Tricholoma  boreale  Fr.  taf.  41  fig.  i,  auch  bei 
Cooke  taf  11 23  abgebildet;  ich  konnte  diesen 
Pilz,  den  ich  nur  als  \'erspäteten  Maischwamm  be- 
trachte, im  Herbst  auch  um  Regensburg  aufwiesen 
konstatieren.  Um  diese  Zeit  wird  er,  da  andere 
bessere  Speiseschwämme  aufgetreten  sind,  natürlich 
nicht  mehr  gesammelt.  Über  die  Beziehungen 
von  Tricholoma  gambosum  und  boreale  Fr.  s. 
auch  R.  Schulz,  Studie  über  die  Pilze  des  Riesen- 
gebirges (Verhdlg.  des  bot.  Vereins  der  Provinz 
Brandenburg  54.  Jhrg.  (1912)  S.   112). 

Vom  Mai  oder  Georgischwamm  ist  bereits  um 
1600  bei  Clusius,  dem  Begründer  der  Pilzkunde, 
die  Rede.  Unter  den  I'ungi  esculenti  beschreibt  er  ihn 
als  Genus  III  folgendermaßen  ') :  Tertii  generis,  quod 
Ungari  S.zciif  Gvrwrgi  gainhaia,  Germani  Saut 
Gä\rg  S4:Ird'iiiiniicii  appellant,  quia  circa  diem 
D.  Georgio  sacrum  (qui  in  vicesimum  tertium 
Aprilis  incidit)  invenitur,  unicam  observabam 
speciem.  Parva  autem  illa  est,  duarum  unciarum 
amplitudinem  vix  aequans,  orbiculari  fere  forma, 
superne  quidem  aliquantulum  extuberante,  et 
quodammodo  pulvinatä;  inferne  vero  concame- 
rata,  et  quibusdam  veluti  venis  distincta,  pediculo 
crasso,  brevique;  coloris  exalbidi,  cui  flavi  quid- 
piam  admistum  sit.  Crescit  in  siccioribus  atque 
pascuis  pratis:  et  fortasse  is  erit  fungus,  quem 
Horatius  satyra  quarta  lib.  II.  Sermonum,  Optimum 
pronunciat  his  verbis, 

—  pratensibus  optima  fungis 

Natura  est:  aliis  male  creditur. 
Est  vero  tertium  hoc  genus,  aliorum  fungorum 
modo  praeparandus,  qui  repurgati,  ut  plurimum 
elixari  solent,  et  in  frusta  concidi,  quae  inter  binas 
lances  reposita,  insperso  oleo  olivarum  vel  butyro, 
et  pipere  addito,  super  prunas  coquuntur:  aut  cum 
larido  inijcitur  iusculum  ex  lactis  cremore  paratum, 
quod  Germani  Milckrain  appellant. 

Clusius  fügt  dieser,  auch  gastronomisch  inter- 
essanten Beschreibung,  welche  keinen  Zweifel  läßt, 
daß  ihm  Tricholoma  Georgii  Fr.  oder  eine  ver- 
wandte Art  vorlag,  zwei  Holzschnitte  und  ein 
farbiges  Bild  bei.  Die  Holzschnitte  (Istvanffi  1.  c.) 
stellen  den  Pilz  von  oben  und  von  unten  dar,  hier 
mit    abgeschnittenen    dünnen    Stiel;    das  Aquarell 


')  Istvanffi    Gyula,    A    Clusius-Codex,    Budapest  ic 
fol.  (4). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


(bei  Istvanffi  Tafel  18  in  der  Mitte  mit  der 
Überschrift  tertii  generis  esc.)  führt  den  Pilz  in 
sehr  jungem  knollenförmigen  Zustand  vor,  so  daß 
man  seine  Zugehörigkeit  nur  erraten  kann. 

Die  Meinung,  daß  Horaz  bereits  in  der  ange- 
zogenen Satyre  diesen  Wiescnschwamm  als  gute 
Speise  kannte,  ist  natürlich  nicht  gesichert;  immer- 
hin kommt  Tricholoma  Georgii  auch  in  Italien  vor 
und  wird  von  Vittadini  (funghi  mangerecci  e 
velenosi  taf  12)  abgebildet  und  als  eßbar  hin- 
gestellt. 

Ein  zweiter  interessanter,  nur  im  Herbst  er- 
scheinender Pilz  führt  bei  uns  (Bayern)  den  Namen 
„Erdsimmerling";  er  ist  dunkel  mausgrau  ge- 
färbt und  wächst  gesellig  im  Sande  magerer 
Kiefernwälder,  so  besonders  im  Keupergebiet  bei 
Schwandorf  (s.  Abb.  4  u.  5).  Hier  finden  sich 
Kolonien  mit  einem  Durchmesser  von  fast  '/.,  m: 
Dutzende  von  einzelnen  größeren  und  kleineren 
Exemplaren  sind  zu  einem  Pilzstock  vereinigt.    Sie 


Exemplaren,    die    von    unserem  „Erdsimmerling" 
ziemlich  abstehen. 

Eine  der  ersten  und  besten  Abbildungen  lieferte 
m.  E.  Schaff  er  mit  seiner  Taf.  L  XIV.  Dieser 
Autor  heißt  den  Pilz  in  seinem  Kommentar 
(Erlangen  1800,  p.  28):  „Agaricus  terreus,  der  erd- 
farbige Blätterschwamm"  und  beschreibt  ihn 
folgendermaßen :  „Der  Hut  ist  erdfarb,  auch  mauß- 
farb,  über  und  über  zart  gestrichelt,  die  Blätter  und 
der  Stiel  weißlich;  wächst  im  Herbst  in  Wäldern." 
Von  seiner  Eßbarkeit  sagt  er  zwar  nichts,  bemerkt 
aber,  daß  er  mit  dem  Fungus  esculentus  Mich, 
(nov.  gen.  plant,  p.  155  n.  11  und  12)  synonym 
sei.  Gewöhnlich  wird  das  Bild  Schaeffer's 
auf  die  Art  Tricholoma  terreum  Sowerby  t.  76  und 
der  Autoren,  z.  B.  Gonnermann  et  Rabenhorst 
t.  17  fig.  2,  Cooke  taf  83  und  84,  bezogen.  Doch 
war  schon  Pe rs o o n  (Kommentar  zu  Schaeffer 


Abb.  4.      Erdsimmerling. 

Natürl.  Standort,  sandiger  Kieferwald. 

(Nach  Phot.  des  Verf.) 


Abb.  5.     Pilz    (Clitocybe    cartilaginea    Bull.).     Gr.   '/j. 

Aus  den  AUeengärten  von  Regensburg. 

(Nach  Phot.  des  Verf.) 


werden  höchstens  i  dm  hoch;  der  Hut  halbkugelig 
gewölbt  mit  eingezogenem  Rande,  bis  V2  dm,  meist 
nur  I — 2  cm  breit,  der  Stiel  unten  knollig.  Aus 
dieser  knolligen  Basis  entwickeln  sich  die  einzelnen 
Pilzindividuen.  Die  Farbe  des  Hutes  ist  wie  ge- 
sagt grau  bis  bräunlich;  er  erscheint  auch  fein 
gestrichelt  oder  glänzend,  netzig  oder  schmierig. 
Der  Stiel  ist  weiß,  rauhwollig,  nicht  glatt. 

Die  Lamellen  sind  behaart ;  diese  Haare  (Zysti- 
den)  sind  geweihartige,  mit  glänzenden  Körperchen 
versehene  Gebilde,  etwa  70  tt  lang  und  4  u  dünn. 
Die  Basidien  erheben  sich  bis  14/1  über  den  Rand 
und  tragen  an  4  Sterigmen  eiförmige  Sporen  von 
5  —  6=4 — 5  /(  Durchmesser. 

Der  „Erdsimmerling"  heißt  in  der  Pilzliteratur 
Tricholoma  conglobatum  Vitt.,  d.  h.  geselliger 
Ritterling.  Abbildungen  finden  sich  bei  Bresadola 
tav.  XXXIV  und  XXXV.  Nach  Ansicht  dieses 
Forschers  sind  einige  meiner  Pilze,  die  ich  ihm 
vorgelegt  habe,  mehr  zur  Clitocybe  cinerascens 
(Bull.)  Bres.  (1.  c.  tav.  XXXV)  hinneigend.  Die 
letztgenannte  Art  erscheint  bei  Bulliard  taf 
428    fig.    II    in    über     i  dm    großen,    weißlichen 


p.  26)  im  Zweifel,  ob  die  Art  Schaeffer's 
dieselbe  wie  Sowerby's  sei,  und  Saccardo 
(tom.  V  p.  104)  findet  das  Seh  ae  ffer'sche  Bild 
mit  Recht  „atypisch".  M.  E.  hatte  Schaeffer 
unseren  „Erdsimmerling"  im  Auge  und  nannte 
ihn  richtig  (Tricholoma)  terreum.  Die  Bezeichnung 
ist  dann  übergegangen  auf  einen  ebenfalls  im 
Herbst  an  Waldrändern  und  Waldwegen  häufig 
erscheinenden  Pilz,  der  bei  Bull.  t.  423  fig.  i 
als  (Trich.)  argyraceus  erstmals  abgebildet  ist,  auf 
den  auch  Persoon  (1.  c.)  hinweist. 

Weiter  haben  auch  die  Fig.  5,  6,  7  und  10  auf 
Schäffer's  Taf  XIV,  von  ihm  Agaricus  multi- 
formis  genannt,  einige  Ähnlichkeit  mit  unserem 
Erdsimmerling.  Da  dieser  Forscher  in  Regensburg 
arbeitete,  dürfte  er  wohl  diesen  Pilz  gekannt  haben. 

Was  den  Standort  des  Pilzes  betrifft,  so  machen 
Saccardo  (p.  126)  und  Ricken  (p.  360)  keine 
näheren  Angaben.  Der  letztere  bemerkt  nur,  daß 
er  im  Rhöngebiet  in  großen  vielköpfigen  Rasen 
und  langen  Reihen  spät,  selbst  noch  bei  leichten 
Frösten  wachse.  Sonst  wird  der  gesellige  Ritter- 
ling noch  für  Italien,  wo  er  eben  von  Vittadini 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


433 


zuerst  festgestellt  wurde,  und  für  Frankreich  von 
Constantin  und  D  u  f  o  u  r ')  (nicht  von  G  i  1 1  e  tj 
angegeben. 

Daß  der  Erdsimmerling  eßbar  ist  und  sogar 
ein  gutes  Pilzgericht  liefert,  scheint  zuerst 
Schroeter  (1889)  in  seinem  Werke  über  die 
Pilze  Schlesiens  (S.  660)  festgestellt  zu  haben. 
Weder  Saccardo,  noch  Krombholz,  der  den 
Pilz  gar  nicht  aufführt,  sagen  etwas  über  die 
Eßbarkeit.  Schroeter  bemerkt,  daß  Tricholoma 
conglobatum  zwar  eßbar,  aber  in  Schlesien  als 
Speisepilz  nicht  bekannt  sei.  Aus  seiner  Be- 
schreibung und  der  Bemerkung,  daß  der  Pilz  in 
Gärten  und  Höfen  wachse,  ergibt  sich  aber,  daß 
er  nicht  unseren  in  Kiefernwäldern  wachsenden 
„Erdsimmerling"  vor  sich  hatte,  sondern  einen 
ähnlichen  geselligen  Pilz,  der  in  der  Literatur  als 
Clitocybe  hortensis  Pers.,  cartilaginea  (Bull.)  Bres. 
figuriert  (Abb.  bei  Bull.  taf.   589  fig.  2). 

Diese  Art  (s.  Abb.  5)  wächst  auch  in  Regensburg 
in  den  Alleegärten  während  der  Ilerbstmonate 
(August  bis  Oktober)  sehr  viel,  namentlich  an  etwas 
feuchten  Stellen  bei  den  Wasserbecken  und  dgl. 
Dieser  Gartenpilz  zeigt  wie  der  Erdsimmerling  ein 
rasiges  Wachstum  und  Mehlgeruch;  der  Stiel  ist 
aber  nicht  so  knollig,  der  Hut  flacher,  schlapp 
und  bis  handgroß,  die  Haut  fest,  lederig,  die  Kon- 
sistenz etwas  zäh  und  elastisch.  Die  Farbe  ist 
licht-  bis  dunkelbraun,  auch  schwärzlich. 

P.  Hennings  erzählt  in  der  Hedwigia  Bd.  42 
(1903)  S.  216  von  einem  riesigen  Pilz,  der  50  x  30  cm 
lang  und  breit  und  25  cm  hoch  zu  Strasburg  U.-M. 
in  einem  Keller  aus  den  Steinfugen  gewachsen 
und  ihm  zugesendet  worden  war.  Jeder  der  P'rucht- 
körper  des  etwa  aus  30  Hüten  bestehenden  Büschels 
war  auf  das  merkwürdigste  „blumenkohlartig"  ver- 
bildet (s.  1.  c.  taf  IX);  das  ganze  Gebilde  war  von 
weißer  Färbung,  doch  fingen  die  Hüte  nach  einigen 
Tagen  an  sich  an  der  Luft  zu  färben.  Die  abnorme 
Färbung  und  Ausbildung  der  Hüte  ist  natürlich 
auf  den  Lichtabschluß  und  auf  das  Wachstum 
unter  besonderen  Umständen  zurückzuführen. 
P.  Hennings  spricht  diesen  ihm  zugesandten 
Pilz  als  Tricholoma  conglobatum  Vitt.  an  und  be- 
merkt, daß  derselbe  in  Berlin  am  Wege  und  auf 
Grasflächen  am  Botan.  Museum  jährlich,  mit- 
unter schon  im  August  nach  Regen,  1903  allerdings 
erst  Anfang  Oktober  in  gewaltigen,  aus  mehreren 
Hundert  Fruchtkörpern  bestehenden  Büscheln  sich 
entwickelt.  Dieselben  seien  auch  im  Jugendzustande 
zu  dichten  Knollen  verwachsen.  Er  möchte  den 
Pilz  nicht,  wie  Bresadola  will,  zu  Clitocybe 
stellen,  da  die  Lamellen  dem  Stiel  buchtig  ange- 
heftet sind.     Dieser  Meinung  bin  ich  auch. 

Eine  andere  Frage  ist  diese,  ob  es  sich  bei  dem 
Gartenpilz  wirklich    um  Tricholoma  conglobatum 

')  Nouvelle  Flore  des  Champignons  (4.  ed.  Paris)   p.   17. 


Vitt.  im  Sinne  der  Autoren,  den  „geselligen  Ritter- 
ling" und  Speisepilz,  handelt.  Daß  bei  beiden  der 
Geruch  angenehm  ist,  wurde  schon  erwähnt. 
Sporenform  und  -große  sind  wenig  verschieden; 
bei  dem  Gartenpilz  erscheinen  die  Sporen  mehr 
kugelig,  5 — 7  (/.  Bei  der  zähen  Konsistenz  des 
letzteren  dürfte  seine  Bedeutung  als  Eßpilz  nicht 
hoch  anzuschlagen  sein. 

J.  Rothmayr,  der  sehr  viele  Pilze  in  bezug 
auf  ihre  Brauchbarkeit  persönlich  probiert  hat,  sagt 
von  dem  geselligen  Ritterling,  daß  sein  Geschmack 
unbedeutend  und  der  Pilz  „eßbar"  ist,  ohne  ihm 
eine  besondere  Note  zu  erteilen.  Er  meint  hier, 
wie  seine  Abb.  Nr.  29  zeigt,  den  im  Gärten 
wachsenden  Pilz  und  glaubt,  daß  derselbe,  da  ihm 
Rabenhorst's  Kryptogamenflora  im  Anschluß  an 
V  i  1 1  a  d  i  n  i  Norditalien  als  Heimat  angewiesen  hat, 
erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  über  die  Alpen  einge- 
wandert sei  (Fßbare  und  giftige  Pilze  des  Waldes, 
2.  Aufl.,  Luzern  1910,  Nr.  29).  Da,  wie  wir  oben 
gesagt  haben,  Bilder  dieses  Pilzes  schon  bei 
Schaff  er  auftauchen,  erscheint  diese  Hypothese 
gewagt.  ^ 

Die  PVage,  wie  der  Erdsimmerling,  ein  wirklich 
guter  Speisepilz  (Tricholoma  conglobatum  Vitt.  var. 
cinerascens  Bull,  im  Sinne  Bresadola' s),  und  der 
ähnliche  Gartenpilz  (Tr.  conglobatum  Vitt.?,  Clito- 
cybe hortensis  Pers.)  zusammenhängen,  könnte 
vielleicht  dadurch  gelöst  werden,  daß  man  Erd- 
simmerlinge  in  Gärten,  wo  keine  andereren  ähnlichen 
Pilze  vorkommen,  ausstreut  -  ein  Versuch,  der 
von  mir  unternommen  worden  ist. 

Literatur. 

Saccardo,  P.  A.,  Syllogc  Hymenomycelum.  Vol.  V. 
Patavii   1S87. 

Bresadola,  G.,  I  funghi  mangerecci  e  vclenosi  II.  ediz 
Trient    igoö. 

Britzelmayr,  M.,  Die  Hymenomyceten  aus  Südbayern 
Kand   Leukosporen. 

Bulliard,   P.,   Ilerbier  de  la  France.     Paris  1780—1812, 

Cooke,  M.  C,  Ulustrations  of  British  Fungi.  London 
1S81  — 1S90. 

Fries,  E.  M.,  Icones  sclectae.  Upsala  1S67 — 1SS4,  ab' 
gekürzt  Fr. 

Gillet,   C.  C,  Lcs  Champignons  de  la  France,  Hynr 
mycetes.     Alenv,on   1877 — 95. 

Gonnermann-Rabenhorst,  Mycologia  Europaea 
Dresden   1S09— 1S73. 

Michael,  E.,  Fuhrer  für  Pilzfreunde.  3  Bdchen, 
Zwickau    1901 — 1905. 

M  igula.W,,  Kryptogamen-Flora.  Bd. III:  Pilze.  Gera  1912, 

Krombholz,  J.  V.,  Naturgetreue  Abbildungen  und 
Beschreibungen  der  eßbaren,  schädlichen  und  verdächtigen 
Schwämme.     Prag   1831  —  1849. 

Rabenhorst- Winter,  Kryptogamenflora,  Pilze. 
Leipzig   1SS4. 

Ricken,  A.,  Die  Blätterpilze.     Leipzig   1915. 

Schaeffer,  J.  Chr.,  Natürliche  ausgewählte  Abbildungen 
bayerischer  und  pfälzischer  Schwämme.  Regensburg  1 762— 1 770. 

Schroeter.  J,,    Die    Pilze    Schlesiens.     Breslau   1889. 

Vitt  ad  in  i,  C,  Descript.  dei  Funghi  mang,  e  velen. 
d'Italia.     Milano   1835. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Kleinere  Mitteilungen 

Fledermausguanolager  in  der  Umgebung  von 
Budapest.  In  jenen  Höhlen ,  die  zum  Versteck 
der  Fledermäuse  geeignet  sind,  findet  man  häufig 
bedeutende  Mengen  von  Guano.  Die  in  der  Um- 
gebung von  Budapest,  im  Solymärer  Dachstein- 
kalk vorkommende  Höhle  ist  besonders  reich  an 
Guano.  Die  Höhle,  auch  Teufelsloch  genannt, 
ist  bereits  seit  längerer  Zeit  bekannt  und  einige 
Proben  des  vorkommenden  Guanos,    die  ich  dem 


ufelslochhühlc. 


landwirtschaftlich-chemischen  Institut  der  techni- 
schen Hochschule  in  Budapest  zukommen  ließ, 
wurden  auf  ihren  Düngerwert  bereits  im  vorigen 
Jahre  untersucht. 

IVIit  Hilfe  einiger  Studierenden  wurde  nun  im 
vergangenen  Winter  eine  eingehende  Untersuchung 


dieser  Höhle,  deren  Einfahrt  die  zahlreichen  Ver- 
engungen und  die  bedeutenden  Niveauänderungen 
erschweren ,  unternommen.  Die  sciiematische 
Aufnahme,  mit  Bezeichnung  der  Fundorte  ge- 
nommener Proben,  ist  in  Abb.   i   angegeben. 

Zu  vielen  Tausenden  scharten  sich  im  Winter- 
schlaf die  Fledermäuse  und  hingen  von  den  Kanten 
und  Tropfsteinen  der  Höhle  in  dichten  Gruppen 
herab  (Photographische  Aufnahme,  Abb.  2).  Der 
Guano  selbst  erscheint  als  eine  braune,  erdige 
Masse,  die  nur  an  einzelnen  Stellen  und  in  den 
oberen  Schichten  deutlich  ammoniakalisch  riecht. 
Je  nach  der  Menge  des  einsickernden  Wassers 
ist  der  F"euchtigkeitsgrad  desselben  eine  sehr  ver- 
änderlicher. Die  beiläufig  geschätzte  Menge  des 
in  einzelnen  Teilen  der  Höhle  vorkommenden 
Guanos  und  die  Resultate  der  chemischen  Analysen 
mitgebrachter,  bei  100"  C  getrockneter  Proben, 
sind  in  Tabelle  i  angegeben. ')  Der  Stickstoff- 
gehalt schwankt  zwischen  0,54 — 10,26  "/i, ,  doch 
ist  ungefähr  die  Hälfte  desselben  als  Chitin  an 
die  Plügelrückstände  aufgezehrter  Insekten  ge- 
bunden. 

Die  Grenzwerte  des  Phosphorsäuregehaltes 
und  der  erhaltenen  Asche  waren  2,40 — /.SS"/»« 
bzw.  33,18 — 69,05",,.  Gesteinstrümmer  und  Ton 
geben  besonders  bei  jenen  Proben  größere  Prozent- 
zahlen, die  aus  den  verhältnismäßig  guanoarmen 
Teilen  der  Höhle  genommen  wurden.  Die 
Mächtigkeit  der  Guanoschichten  ist  sehr  ver- 
änderlich.      Stellenweise     beträgt     dieselbe     nur 


')  Bei  den  Analysen  war  mir  Frl.  Dr.  E.  Menth 
hilflich.  Für  die  pbotographische  Aufnahme  Sprech 
dem  Herrn  Dr.  K.  Jordan  meinen  besten  Dank  aus. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


435 


Tabelle   i. 

Teufelsloch 

Nagyszä 

11 

m 

IV 

V 

VI          VII        VIII 

IX 

X 

XI 

I 

II           III 

IV 

V 

Guano   in   q 

160 

5° 

120 

140 

160            70      :       — 

90 

420 

'5 

- 

-     i     - 

~ 

- 

Stickstoff    1    0' 

N         (     '» 

6,40 

4.97 

9,28 

0.54 

7,08    1     2,11         9,70 

10,26 

8,55 

1,76 

2.48 

3.15 

4,04 

1,27 

1,06 

Phosphor- 1 

pS    i"'" 

5." 

3,82 

6,30 

2,40 

5.99       2,84  i    7.33 

6,56 

6,07 

2,61 

6,60 

2.77 

4,89 

6,68 

5.42 

einige  Zentimeter,  wogegen  in  den  Vertiefungen 
mehrere  Meter  gemessen  wurden,  ohne  den  Boden 
anzutreffen.  Die  Menge  des  in  den  bezeichneten 
Stellen  vorkommenden  Guanos  kann  auf  ca.  1 500 
Meterzentner  geschätzt  werden,  doch  muß  die  in 
der  Höhle  vorkonmiende  Gesamtmenge  desselben 
bedeutend  größer  sein. 

Es  wurde  auch  eine  andere  Höhle  in  der 
Umgebung  von  Budapest,  am  Berge  Nagyszal 
(bei  Waitzen)  auf  seinen  Guanogehalt  nachgeprüft. 
In  einem  einzigen  Räume  konnte  ich  da  ca.  350 
Meterzentner  antreffen.  Die  Analysen  der  aus 
verschiedenen  Tiefen  und  Teilen  genommenen 
Proben  sind  in  Tabelle   i  angegeben. 


Was  die  Ausbeute  der  Fledermausguanolager  an- 
belangt, so  kann  es  zu  derselben,  trotz  des  Phosphat- 
mangels, erst  dann  kommen,  sobald  die  Ange- 
legenheit einflußreiche  Protektoren  erhalten  hat. 
Eventuell  wird  sich  im  kleinen  derselbe  Fall 
wiederholen,  wie  beim  Erdgas.  Bereits  vor  hundert 
Jahren  haben  dasselbe  die  Siebenbürger  Sachsen 
benützt.  Zur  Ausbeute  des  nun  zufälligerweise 
in  größerer  Menge  vorgefundenen  (lases  kam  es 
aber  erst  mit  der  Unterstützung  und  unter  der 
Leitung  der  Deutschen  Bank. 

Prof.  Dr.  M.  Rc'izsa  (Budapest). 


Einzelberichte. 


Biologie.  Da  Goethes  „Wahlverwandt- 
schaften" noch  niemals  von  naturwissenschaftlicher 
Seite  aus  kritisch  beleuchtet  worden  sind,  untersucht 
Johannes  Orth  in  einer  interessanten  Studie 
das  biologische  Problem  in  Goethes  Wahlverwandt- 
schaften (Sitzungsberichte  der  Kgl.  Preußischen 
Akademie  der  Wissenschaften,  Jahrgang  1916, 
zweiter  Halbband,  Stück  L,  S.  1198 — 12 12). 

In  den  „Wahlverwandtschaften"  entspringt  be- 
kanntlich einer  lieblosen  Umarmung  von  Eduard 
und  Charlotte  ein  Kind,  das  die  Eigenschaften 
zweier  anderer  Personen  besitzt,  an  deren  eine  — 
nämlich  Ottilie  —  Eduard  im  Augenblicke  der 
Kohabitation  gedacht,  und  an  deren  andere  — 
nämlich  den  Hauptmann  —  Charlotte.  Orth  geht 
nun  dem  Problem  nach,  ob  es  tatsächlich  möglich 
sei,  daß  männliche  und  weibliche  Keimzellen 
während  des  Beischlafes  sich  durch  gewisse 
Phantasievorstellungen  so  verändern  können,  daß 
schließlich  der  Nachkomme  ganz  besondere  Körper- 
eigenschafien  zur  Welt  bringe.  Die  Annahme,  daß 
seelische  Einwirkungen  im  Augenblick  der  Um- 
armung bestimmend  für  die  Gestalt  des  Nach- 
kommen sein  könnten,  erweist  sich  als  ganz  alt, 
wie  Orth  ausführlich  zeigt.  Aus  der  Erörterung 
aller    einschlägigen    Fragen    der    Vererbungslehre 


ergibt  sich  dann  nach  ihm,  daß  die  Goethesche 
PLrklärung  der  besonderen  Körpereigenschaft  des 
Kindes  von  Eduard  und  Charlotten  zwar  gewisser, 
tatsächlicher  Grundlagen  nicht  entbehre,  da  sich 
die  Keimzellen  der  beiden  Erzeuger  gerade  in 
ihrer  sog.  sensiblen  Phase  befanden,  also  in  der 
Phase,  in  welcher  jedenfalls  eine  besondere 
Empfänglichkeit  für  veränderungsbewirkende  Be- 
dingungen besteht.  Indessen  ist  eine  gleichzeitige 
Einwirkung  der  beiden  Erzeuger  nach  Orths 
Darlegungen  nicht  denkbar.  Wenn  es  sich  nur 
um  eine  Einwirkung  auf  das  Ei  allein  handelte, 
so  wäre,  da  es  sich  vermutlich  noch  im  Ovar 
Charlottens  befand,  wenigstens  noch  eine  Ab- 
hängigkeit vom  Körper  vorhanden  gewesen,  und 
durch  psychische  Emotionen  hätten  vielleicht 
sekretorische  Vorgänge  ausgelöst  werden  können, 
wenngleich  auch  damit  die  für  das  zukünftige 
Soma  formgebenden  Einwirkungen  uns  noch  un- 
erklärbar sind.  Wie  kann  jedoch  ein  solcher  Ein- 
fluß auf  die  Spermien  stattgefunden  haben,  die 
bereits  alles  körperlichen  Zusammenhanges  ent- 
rückt waren  ?  Hier  versagt  unsere  Erklärung,  und 
wir  können  mit  Orth  in  dem  ganzen  biologischen 
Problem  in  Goethes  „Wahlverwandtschaften"  nur 
dichterische  Phantasie,  nicht  Wirklichkeit  sehen. 
Rudolph  Zaunick,  Dresden. 


436 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Zoologie.  Über  das  Vorkommen  von  physio- 
logischen örtlichen  Rassen  beim  Grasfrosch,  die 
sich  also  nicht  nach  äußeren  Kennzeichen  der 
einzelnen  Stücke,  sondern  nur  nach  gewissen 
physiologischen  oder  entwicklungsmechanischen 
Verhaltungsweisen  unterscheiden  lassen,  handelt 
eine  Arbeit  von  B.  Dürken.  Dieser  Forscher 
hat  nämlich  folgendes  bei  Rana  fusca  aus  der 
Gegend  von  Göttingen  festgestellt,  was  bei  Fröschen 
der  gleichen  Art,  aber  aus  anderer  Gegend,  nicht 
wiederzukehren  scheint:  sehr  frühzeitige  Entfernung 
einer  embryonalen  B e i  n a nl ag e  unter  Verhinderung 
der  Regeneration  bewirkt,  daß  oft  auch  die  anderen 
drei  Beine  in  ihrer  Entwicklung  gehemmt  werden, 
unter  Umständen  bis  zur  gänzlichen  Unterdrückung 
eines  nicht  operierten  Beines.  Entsprechende 
Entwicklungshemmungen  fanden  sich  in  solchen 
Fällen  am  Skelett,  nicht  minder  am  Zentral- 
nervensystem: bei  normaler  Beschaffenheit  der 
Gewebe  treten  abnorme  Asymmetrien  im  Rücken- 
mark, Mittel-  und  Vorderhirn  an  den  Zentren  der 
exstirplerten  Beinanlage  auf,  und  diese  Ent- 
wicklungshemmungen greifen  wiederum  über  auch 
auf  die  Nerven  und  Zentren  der  nichtoperierten 
Gliedmaßen.  Frühzeitige  Exstirpation  eines  Auges 
ferner  ruft  im  Mittelhirn  zunächst  auf  der 
einen,  dann  auf  der  anderen  Seite  die  gleichen 
Entwicklungshemmungen  hervor  wie  die  Ent- 
fernung einer  Gliedmaße.  Diese  greifen  weiterhin 
auf  die  Gliedmaßen  sowie  auf  das  andere  Auge 
über,  so  daß  auch  an  diesen  Teilen  dann  Hemmungen 
beobachtet  werden.  Der  verwickelte  Korrelations- 
komplex, in  welchem  jeder  Teil  auf  die  normale 
Entwicklung  des  anderen  von  Einfluß  ist,  da  seine 
Zerstörung  schrittweise  die  anderen  Teile 
schädigt,  läßt  sich  abgekürzt  so  schreiben : 


Auge 


Auge 


Vorderbein 


Rückenmarks-  /     \  Rückenmarks- 
zentren       /       \        Zentren 


Vorderbein 


Rückenmarks- 
zentren 


Rükenmarks- 
zentren 


Hinterbein 


Hinterbein 


Merkwürdigerweise  hat  nun  ein  anderer  Forscher, 
Luther,  der  an  Froschmaterial  aus  der  Gegend 
von  Rostock  arbeitete,  nach  Entfernung  von 
Extremitäten  keine  korrelativen  Einwirkungen 
beobachtet  und  somit  die  ganz  gewiß  sorgfältig 
gewonnenen,  oftmals  sich  selbst  bestätigenden 
und  nicht  im  mindesten  unwahrscheinlichen  Er- 
gebnisse Dürken 's  nicht  bestätigen  können. 


Dürken  möchte  hieraus  schließen,  daß  es  sich 
bei  den  I'Vöschen  von  Rostock  um  eine  sich  anders 
verhaltende  Lokalrasse  handeln  muß  als  bei  denen 
aus  Göttingen,  und  dabei  erinnert  er  daran,  daß, 
nach  R.  H  e  r  t  w  i  g '  s  einwandfreien  P'eststellungen, 
in  anderer  Hinsicht  Rana  esculenta  physiologisclie 
Lokalrassen  hat:  bei  der  einen  tritt  sehr  früh- 
zeitige Bestimmung  des  Geschlechts  ein,  bei  der 
anderen  herrscht  lange  Zeit  ein  indifferenter  Zu- 
stand, der  die  künstliche  Geschlechtsbestimmung 
weitgehend  ermöglicht  (B.  Dürken:  Über  Ent- 
wicklungskorrclation  und  Lokalrassen  bei  Rana 
fusca.     Biol.  Zentralbl.  Bd.  37,   191 7,  Nr.  3). 

Franz. 

Über  Bau  und  Entwicklungsgeschichte  der 
Mallophagen.  —  Die  Pelzfresser,  Federlinge, 
Haarlinge  oder  Mallopliagcn  sind  kleine  In- 
sekten, die  auf  der  Haut,  zwischen  den  Haaren 
oder  den  Federn  von  Warmblütlern,  von  Säuge- 
tieren sowohl  wie  hauptsächlich  von  Vögeln,  leben. 
Die  Mallophagen  sind,  wenn  sie  auch  häufig  in 
Massen  das  Haar-  oder  Federkleid  ihrer  Wirte  be- 
völkern, für  diese  nicht  schädlich,  da  sie  nicht, 
wie  die  Tierläuse  das  Blut  ihrer  Wirte  mit  ihrem 
Stich  entnehmen,  sondern  sich  lediglich  von  Haaren 
oder  P'edern,  eventuell  noch  von  oberflächlichen 
Hautschüppchen  nähren.  Die  Zahl  der  Haarlinge 
auf  allen  Säugetieren  —  nur  wenige  Ausnahmen 
gibt  es,  wie  die  Waltiere,  die  Elefanten  und  F"leder- 
mäuse,  die  keine  Haarlinge  besitzen  —  ist  Legion 
und  besonders  die  Vögel  sind  oftmals  mit  den 
Parasiten  gleichsam  übersät.  Trotzdem  sind  unsere 
Kenntnisse  von  der  Biologie  und  der  Systematik, 
von  der  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte  der 
Haarlinge  noch  äußerst  lückenhafte.  In  den  letzten 
Jahren  erst  hat  Henrik  Strindberg  eingehen- 
dere wissenschaftliche  Untersuchungen  angestellt 
über  die  Entwicklungsgeschichte  und  den  Bau 
dieser  interessanten  Tiere. ')  Er  hat  sich  dabei 
als  P'orschungsmaterial  der  bekannten  Haarlinge 
des  Meerschweinchens  {Cavia  cobaya  Schreb.), 
des  (ilin'cola gnnilis  N.  und  des  Gyro'pus  o^'aii'sN. 
bedient.  Die  anatomischen  Verhältnisse  und  in 
erhöhtem  Maße  noch  die  entwicklungsgeschicht- 
lichen Ergebnisse,  wie  sie  sich  bei  den  beiden 
untersuchten  Mallophagen  darstellten,  lassen 
Strindberg  vermuten,  „daß  eine  ausgeprägte 
Verwandtschaft  mit  denisoptera,  Termiten, 
herrscht".  Allerdings,  um  die  Inxierung  der  ge- 
nauen Stellung  der  Haarlinge  im  Insektenreiche, 
sowie  der  Zusammengehörigkeit  der  verschiedenen 
E'amilien  und  Gattungen  innerhalb  derselben  Ord- 
nung zu  ermöglichen,  dazu  bedarf  es  auch  nach 
Strindberg's  Ansicht  noch  eingehendster  ana- 
tomischer P'orschung.  H.  W.  P^ickhinger. 

Mineralogie.  Weiterwachsen  von  Orthoklas 
im  Ackerboden,  worüber  O.  Mügge  im  Central- 
blatt  iür  Mineralogie,  Geologie  und  Paläontologie 

')  Zeitschr.   f.  wissensch.  Zoologie,  Bd.   115,  H.  3. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


437 


191 7  Nr.  6  eine  kurze  Mitteilung  gibt,  klingt  höchst 
merkwürdig,  denn  jedes  geologische  Lehrbuch 
führt  den  Zerfall  des  Feldspates  in  seine  Bestand- 
teile als  ein  Beispiel  der  chemischen  Verwitterung 
an.  Und  doch  wird  auch  ein  Weiterwachsen  selbst 
im  Ackerboden  beobachtet.  Beim  Hemers  Bauer 
auf  dem  linken  Ufer  der  Eger  westlich  Karlsbad 
wurden  vor  etwa  20  Jahren  reichlich  Karlsbader 
Zwillinge  gesammelt,  die  von  dort  in  alle  Samm- 
lungen der  Welt  gewandert  sind.  Zumeist  waren 
es  Bruchstücke  mit  unebener  oder  zerfressener 
Oberfläche,  die  sich  zur  Erläuterung  des  Zwillings- 
gesetzes sehr  gut  eigneten.  Die  alten  Bruch- 
flächen tragen  einen  kleinen  Überzug  von  neu- 
gebildetem Orthoklas,  dessen  Flächen  mit  denen 
des  Hauptkristalls  annähernd  gleichzeitig  ein- 
spiegeln. Desgleichen  sind  zu  erwähnen  die  Feld- 
spatvorkommcn  vom  Schneekopf  und  Ochsenkopf 
im  Fichtelgebirge  und  von  Wunsiedel,  soweit  sie 
ausgewittert  sind.  Neubildungen  fehlen  auf  den 
aus  dem  Gestein  frisch  herausgeschlagenen  Ein- 
sprengungen. iVlügge  erwähnt  noch,  daß  Grand- 
jean in  zahlreichen  Kalken  von  karbonischem  bis 
tertiärem  Alter  Neubildungen  von  Feldspat  beob- 
achtet hat,  die  z.  T.  gleichzeitig  mit  den  Sedi- 
menten entstanden  sind  und  ebenso  hat  van  Hise 
in  sehr  alten  Sandsteinen  von  Eagle  Harbour  ein 
Weiterwachsen  von  Feldspat  beobachtet. 

Ref.  möchte  weiterhin  darauf  aufmerksam 
machen,  daß  G.  Fischer  in  seiner  vorzüglichen 
Arbeit:  „Beitrag  zur  Kenntnis  der  unterfränkischen 
Triasgesteine"  (Geogn.  Jahreshefte  1908)  eine  reich- 
haltige Literatur  über  Neubildungen  von  F"eldspat 
erwähnt.  Außerdem  konnte  H.  Fischer  im  Sedi- 
ment neugebildete  (also  nicht  transportierte)  klare 
mikroskopische  Feldspatkristalle  in  umkristalli- 
sierten Triaskalken  häufig  beobachten.  Es  scheint, 
daß  die  Bildungsmöglichkeit  für  diagenetisch  ent- 
standene Feldspatkristalle  noch  etwas  besser  ist 
als  für  Quarzkristalle.  Ebenso  konnten  an  Feld- 
spatbruchstücken des  Trigonoduskalkes  und  des 
Letteiikohlenhauptsandsteines  die  bei  Quarzen 
besser  bekannten  Regenerationserscheinungen  nach- 
gewiesen werden.  Neugebildete  Feldspatkristalle 
ebenso  wie  Quarzkristalle  kommen  nur  in  um- 
kristallisierten, also  diagenetisch  veränderten  Ge- 
steinen vor.  Sie  sind  da  am  häufigsten,  wo  die 
Umkristallisation  am  größten  war. 

V.  Hohenstein. 


Botanik.  Beziehungen  zwischen  Funktion  und 
Lage  des  Zellkerns.  Vor  30  Jahren  hat  Haber- 
fandt  die  Beobachtung  mitgeteilt,  daß  der  Zell- 
kern in  wachsenden  Pflanzenteilen  sich  meist  in 
der  Nähe  derjenigen  Stelle  befindet,  an  der  das 
Wachstum  der  Zelle  am  lebhaftesten  vor  sich 
geht  oder  am  längsten  andauert.  Er  schloß  daraus, 
daß  der  Kern  auf  das  Wachstum  der  Zellhaut  und 
der  Zelle  überhaupt  einen  bestimmenden  Einfluß 
ausübt.  Bei  Wurzelhaaren  und  einzelligen  Haaren 
an  oberirdischen  Organen  wandert  der  Kern  sogar 


in  das  wachsende  Haar  hinein  und  hält  sich 
meistens  nicht  weit  von  der  Spitze  entfernt,  und 
hiermit  steht  es  im  Einklang,  das  die  Wachstums- 
zone, wie  Haberia  n  dt  durch  Markierungsver- 
suche ermittelte,  nur  in  das  halbkugelförmige  Ende 
des  Haares  fällt.  20  Jahre  nach  dieser  Veröffent- 
lichung wies  Küster  auf  einige  Tatsachen  hin, 
die  der  Theorie  Haberlandt's  widersprachen. 
Er  hatte  nämlich  gefunden,  daß  in  den  Wurzel- 
haaren bestimmter  Pflanzen  der  Kern  stets  an  der 
Basis  lag.  Zumeist  handelte  es  sich  dabei  um 
die  Wurzelhaare  von  Wasserpflanzen  und  von 
Aroideen  und  Orchideen  mit  Luftwurzeln. 

Erich  Windel,  der  die  F'rage  im  Berliner 
pflanzenphysiologischen  Institut  neuerdings  einer 
experimentellen  Prüfung  unterzogen  hat,  fand  bei 
Luftwurzeln  den  Kern  gerade  in  den  jüngeren, 
lebhaft  wachsenden  Haaren  der  Spitze  des  Haares 
sehr  oft  so  genähert,  daß  hier  seiner  Ansicht  nach 
von  typischen  Ausnahmen  nicht  gesprochen  werden 
kann.  Dagegen  bestätigt  er  die  Angaben  Küster's 
für  Wasserpflanzen  (Hydrocharis  morsus  ranae  und 
Trianea  bogotensis).  Der  Kern  lag  ausnahmslos 
im  Grunde  der  Wurzelhaarzelle.  Durch  Messungen 
an  Haaren,  an  denen  durch  Bestäubung  mit  feinster 
Mennige  Marken  hergestellt  waren,  wurde  fest- 
gestellt, daß  auch  diese  Haare  nicht  etwa  an  der 
Basis,  sondern  wie  die  Wurzelhaare  von  Land- 
pflanzen an  der  Spitze  wachsen. 

Aber  diese  Tatsache  reicht,  wie  Windel  zeigt, 
nicht  aus,  um  dem  Zellkern  die  angenommene 
Bedeutung  für  das  Wachstum  abzusprechen.  Die 
Wurzelhaare  der  untersuchten  Wasserpflanzen  sind 
nämlich  durch  lebhafte  Bewegung  ihres  reichen 
Plasmainhalts  ausgezeichnet.  Es  wäre  daher  mög- 
lich, daß  eine  Verlagerung  des  Kernes  deshalb 
überflüssig  wird,  weil  vom  Kerne  ausgeschiedene 
Stoffe  rasch  zur  wachsenden  Spitze  gelangen 
können.  Um  Anhaltspunkte  für  diese  Annahme 
zu  gewinnen,  kultivierte  Windel  die  beiden 
Wasserpflanzen  in  der  Weise,  daß  die  Wurzeln 
sich  statt  in  Wasser  in  Sand  befanden.  Es  gelang 
ihm  durch  geschickte  Versuchsanordnung,  bei  der 
teils  grober,  mit  einer  Wasserschicht  bedeckter, 
teils  ganz  feiner,  mit  Wasser  durchfeuchteter  und 
nur  anfangs  wasserüberschichteter  Sand  zur  Ver- 
wendung kam,  eine  Anzahl  solcher  Kulturen  einige 
Wochen  hindurch  zu  erhalten.  Gleich  nach  Ab- 
schluß des  Versuchs  wurden  die  Wurzelhaare 
fixiert. 

Es  zeigte  sich  nun,  daß  die  Wurzelhaare  in 
dem  groben  Sand  da,  wo  sie  auf  den  Wider- 
stand von  Sandteilchen  trafen.  Formen  annahmen, 
wie  sie  an  Landpflanzen  auftreten;  sie  waren 
mehrfach  gewunden  und  hatten  keulig  verdickte 
und  gelappte  Enden.  Und  hier  fand  sich  der 
Zellkern,  der  unter  normalen  Bedingungen  nie- 
mals die  Basis  verläßt,  fast  ausschließlich  an  den 
Stellen,  wo  das  Haar  zu  den  besonderen  Gestal- 
tungen gezwungen  war.  Oft  wiesen  verhätnis- 
mäßig  lange  Haare  unmittelbar  hinter  der  Spitze 
den  Kern   auf.     Bei   Haaren   mit   mehreren   Auf- 


438 


Naturwissenschaftlich  e  Woch  ensch  rift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


treibungen  fand  sich  der  Kern  stets  in  der  jüngsten 
Auftreibung.  In  den  Wurzelhaaren,  die  ungestört 
gerade  gewachsen  waren,  • —  augenscheinlich  solche, 
die  sich  in  wassererfüllten  Hohlräumen  entwickelt 
hatten  — ,  lag  der  Kern  regelmäßig  in  der  Basis. 
In  dem  dichteren  Medium,  das  der  feine  Sand 
darstellte,  kamen  die  erwähnten  Anschwellungen 
an  den  Wurzelhaaren  wegen  des  Fehlens  größerer 
Körnchen,  die  umwachsen  werden  mußten,  nicht 
zustande.  Die  Haare  behielten  ihre  normale  Ge- 
stalt bei,  zeigten  aber  häufig  Membranverdickungen 
am  Scheitel,  die  vermutlich  durch  den  Widerstand 
des  Mediums  ausgelöst  waren.  Der  Kern  lag  hier 
in  vielen  Fällen  in  der  Spitze  des  Haares.  Bei 
abnehmendem  Wassergehalt  und  dadurch  ge- 
steigerter Dichte  des  Mediums  nahmen  die  Kern- 
verlagerungen stetig  zu,  so  daß  in  der  Hälfte  der 
untersuchten  Haare  der  Kern  in  ihrem  oberen 
Teile  lag. 

In  den  j  ünge  ren  Haaren  fand  sich  der  Kern 
zumeist  in  der  Nähe  des  Scheitels.  Auch  bei  den 
Wurzelhaaren  der  Landpflanzen  hat  er  nur  in  den 
jugendlichen  Haaren  diese  Lage,  während  sie  in 
den  ausgewachsenen  Haaren  wechselt. 

Bei  den  geschilderten  Kernverlagerungen  in 
Sandkulturen  handelt  es  sich  nicht  um  Folgen 
einer  Verwundung  (Traumatotaxis),  wie  sie  von 
Nest  1er,  Mi  ehe  u.a.  beschrieben  worden  sind. 
Die  Möglichkeit  einer  chemotaktischen  Wanderung 
(Ritter)  scheidet  ebenso  aus,  da  der  sorgfältig 
gereinigte  Sand  als  chemisch  indifferent  anzusehen 
war.  Auch  eine  passive,  durch  Strömung  oder 
Zusammenballung  des  Plasmas  herbeigeführte  Ver- 
lagerung des  Kerns  betrachtet  Verf.  nach  seinen 
Beobachtungen  und  Versuchen  für  ausgeschlossen. 
Dagegen  hat  er  festgestellt,  daß  die  Schnelligkeit 
der  Plasmaströmung  in  den  Wurzelhaaren  der 
Sandkulturen  gegenüber  der  Strömungsgeschwin- 
digkeit in  den  normalen  (im  Wasser  wachsenden) 
Wurzelhaaren  bedeutend  herabgesetzt  ist.  Er 
schließt  daraus,  daß  eine  gewisse  Annäherung 
des  Kernes  an  die  wachsende  Haarspitze  not- 
wendig sei,  damit  der  stoffliche  Einfluß  des  Kernes 
auf  die  Plasmahaut  der  Spitze  gesichert  werde. 
Wenn  weit  hinter  der  Spitze  Wülste  und  Aus- 
sackungen gebildet  werden  sollen,  sei  die  un- 
mittelbare Nähe  des  Kernes  notwendig,  da  an 
solchen  Stellen  die  Plasmahaut  erst  wieder  zur 
Membranbildung  angeregt  werden  müsse. 

Die  Ortsveränderung  des  Kernes  ist  als  eine 
Reizbewegung  anzusehen  und  als  thigmotaktisch 
zu  bezeichnen,  „da  sie  zweifellos  durch  die  Be- 
rührung der  Wurzelhaare  mit  den  Sandkörnchen 
bzw.  durch  den  von  diesen  geleisteten  Widerstand 
ausgelöst  wird." 

Zur  Stütze  seiner  Deutung,  die  der  Theorie 
Haberlandt's  günstig  ist,  führt  Verf.  noch  zwei 
Beobachtungen  an :  erstens,  daß  in  den  Wurzel- 
haaren des  Hafers  die  hier  ausnahmsweise  vor- 
handene rasche  Plasmaströmung  mit  einer  mehr 
basalen  Kernlagerung  verknüpft  ist,  und  zweitens, 
daß  die  im  Wasser  entstehenden  Wurzelhaare  von 


Azolla  caroliniana,  die  so  lange  von  der  Wurzel- 
haube umschlossen  bleiben,  bis  sie  eine  beträcht- 
liche Länge  erreicht  haben,  den  Zellkern  in  der 
Spitze  führen;  er  erklärt  dies  mit  dem  be- 
deutenden Widerstände,  den  die  stark  eingeengten 
Haare  unter  der  Wurzelhaube  finden.  (Beiträge 
zur  allgemeinen  Botanik  Bd.  i,  S.  45 — 79.) 

F.  Moewes. 


Anatomie.  Wie  aus  den  Untersuchungen  von 
Richard  Hertwig  hervorgeht,  spielt  im  Leben 
der  Zelle  des  Organismus  das  Mengenverhältnis 
von  Kern-und  Protoplasma  eine  äußerst  wichtige 
Rolle.  Dies  ergibt  sich,  von  der  Vererbung  ab- 
gesehen, schon  daraus,  daß  die  Störung  der  Kern- 
plasmarelation, welche  infolge  des  Zellwachstums 
eine  Verschiebung  zu  Ungunsten  des  Kerns  erfahren 
hat,  Ursache  der  Zellteilung  ist. 

Von  P.  Schiefferdecker  (Pflüger's  Archiv 
Bd.  165,  II.  u.  12  Heft,  1916)  erfahren  wir,  daß 
das  Verhältnis  der  Fasern  und  Kerne  der  Musku- 
latur  des  menschlichen  Herzens  zueinander  ge- 
wissen Schwankungen  unterliegt.  Die  Durchschnitts- 
zahl beim  Erwachsenen  für  das  Verhältnis  der 
Kernmasse  zur  Herzfasermasse  beträgt  3,73  :  3,90. 
Die  Größe  des  Faserquerschniltes  nimmt  mit  dem 
Alter  zu,  ebenso  werden  dann  die  Sarkoplasmahöfe 
größer  und  besonders  deutlich  bei  Herzhyper- 
trophie. Es  unterliegt  also  das  Verhältnis  von 
Muskelkern  und  -faser  zueinander  Verschiebungen, 
je  nach  dem  Lebensalter.  Wenn  auch  die  Kern- 
volumina im  einzeln  stark  verschieden  sind,  so 
sind  doch  die  Verschiedenheiten  zwischen  der  ge- 
samten Kernmasse  gering.  Die  Querschnittsgröße 
der  Muskelfaser  nimmt  zu  in  den  zwei  ersten 
Lebensjahren  (25"/„)  und  vom  15.  oder  16.  Lebens- 
jahr bis  zum  Erwachsenen  (41%).  Nach  Schieffer- 
decker gehören  alle  Menschen  zu  einer  bestimmten 
Gruppe  mit  großen  oder  kleinen  Kernen.  Beim 
Kamerunneger  und  Chinesen  war  der  Faserquer- 
schnitt um  etwa  40"  (,  größer  als  bei  den  Deutschen, 
im  Maxium  sogar  äg^j^.  Entweder  sind  die  Men- 
schen in  dieser  Beziehung  reinrassig  oder  nur  das  eine 
ihrer  Eltern  gehörte  zu  einem  der  beiden  Stänmie. 
Die  Untersuchungen  Sch.'s  bezogen  sich  auf  20 
menschliche  Herzen  von  verschiedenen  Lebens- 
altern. Das  Herz  war  zweimal  i  Jahr,  einmal  i  %, 
einmal  2  Jahre,  zweimal  3  Jahre,  einmal  nicht 
genau  bestimmt  3 — 4  Jahre  alt;  es  folgten  jetzt 
gleich  10  Jahre,  dann  zweimal  15  und  einmal 
16  Jahre,  dann  22,  24,  27,  52  Jahre,  soweit  han- 
delte es  sich  um  Deutsche;  außerdem  erhielt  Seh. 
ein  Herz  von  einer  77  jährigen  Italienerin,  einem 
21  jährigen  Kamerunneger  und  einem  30jährigen 
Chinesen. 

Was  die  Veränderungen  im  Laufe  des  Lebens 
anbetrifft,  so  wächst  die  Kernmasse  von  der  Ge- 
burt an  bis  zur  Beendigung  des  Wachstums  und 
die  Zahl  der  Kerne,  auf  welche  sie  sich  verteilt, 
ist  bereits  im  10.  Lebensjahr  gleich  der  beim 
Erwachsenen.    Die  Schwankungen  im  Verlauf  des 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


439 


individuellen  Lebens  werden  nun  durchaus  nicht 
durch  eine  Größenabnahme  der  Kernmasse  ver- 
ursacht, welche  vielmehr  stets  gleich  bleibt,  sondern 
dieselbe  wird  auf  verschieden  zahlreiche  und  dem- 
entsprechend auf  verschieden  große  Kerne  verteilt. 
Die  Differenz  in  den  verschiedenen  Lebensaltern 
beträgt  nur  13 — M^/o,  die  urrassige  Verschieden- 
heit aber  ist  weit  größer,  nämlich  30—40%  der 
kleineren  Zahl.  Je  feiner  und  zahlreicher  die 
Muskelfasern    und  -kerne  sind,   um  so  mehr  kann 


die  Tätigkeit  des  Muskels  differenziert  werden. 
Gerade  die  Herzmuskeln  zeichnen  sich  nun  durch 
die  Feinheit  und  große  Zahl  der  Fasern  vor  der 
Skelettmuskulatur  aus. 

Das  Verhältnis  der  Kerngröße  zur  Muskelfaser 
muß  besonders  groß  sein  bei  starken  körperlichen 
Anstrengungen ;  vielleicht  seien  bei  den  Feldsoldaten 
manche  üble  Zufälle  auf  eine  zu  geringe  Größe 
des  Kerns  der  Herzmuskelfasern  zurückzuführen. 
Kathariner. 


Bücherbesprechungen. 


C.  Doelter,  Die  Mineralschätze  der  Bal- 
kanländer und  Kleinasiens.  Lex.  8, 
VII  u.  138  S.,  27  Textabb.  Stuttgart  191 6, 
Ferd.  Enke.  —  Brosch.  6,40  M. 
Die  vorliegende,  sehr  zeitgemäße  Darstellung 
des  durch  eigene  einschlägige  Arbeiten  in  den 
Balkanländern  bekannten  Wiener  Mineralogen 
möchte  die  Kenntnis  der  nutzbaren  Lagerstätten 
der  genannten  Länder  fördern  und  verbreiten,  da 
zu  hoffen  steht,  daß  die  letzteren  uns  nach  dem 
Weltkriege  nicht  nur  wirtschaftlich  und  politisch 
näher  kommen  werden,  sondern  in  ihnen  auch 
ein  erneuter  Aufschwung  in  bergbaulicher  Hinsicht 
erfolgen  wird,  dessen  die  durch  die  Balkanwirren 
beunruhigten  Länder  durchaus  bedürfen.  Außer 
Bosnien,  dessen  Lagerstätten  in  dem  vorliegenden 
Buche  nicht  mit  behandelt  wurden,  ist  besonders 
das  alte  Serbien,  wie  es  vor  den  Balkankriegen 
bestand,  in  bergbaulicher  Beziehung  einigermaßen 
gut  bekannt,  während  die  über  Bulgarien,  Albanien 
und  Mazedonien  gesammelten  Daten  einen  An- 
spruch auf  Vollständigkeit  nicht  erheben  können. 
Das  Erliegen  des  einst  so  blühenden,  bis  in  die 
Römerzeit,  ja  in  einzelnen  Distrikten  bis  in  prä- 
historische Zeit  zurückgehenden  Bergbaues  be- 
ruhte auf  verschiedenen  Ursachen.  Außer  der 
Entdeckung  Amerikas  und  der  größeren  Nutzbar- 
machung Asiens,  welche  beide  viele  Metalle 
lieferten,  was  natürlich  auf  die  Preise  drückte, 
sind  noch  ai\dere  Gründe  mitbestimmend  gewesen. 
Dahin  gehören  Abnahme  des  Erzadels,  nachdem 
die  reicheren  Erze  abgebaut  waren,  höhere  Arbeits- 
löhne infolge  Fehlens  von  ohne  Lohn  arbeitenden 
Sklaven  und  Kriegsgefangenen ,  endlich  die  Ab- 
holzung  der  in  der  Nähe  der  Bergbaue  gelegenen 
Wälder  zum  Zwecke  des  „Feuersetzens",  das  hier 
wegen  Mangels  an  Sprengmitteln  üblich  war. 
Schließlich  kam  bezüglich  des  Erliegens  des 
Bergbaues  auch  noch  das  von  den  Sultanen  nach 
der  Eroberung  dieser  Länder  erlassene  Ausfuhr- 
verbot für  Edelmetalle  in  Betracht;  Kriege,  Aus- 
treibung der  bis  dahin  produzierenden  Bevölkerung 
und  andere  Umstände  taten  dann  das  Übrige, 
um  den  Stillstand  bald  zu  einem  definitiven  werden 
zu  lassen.  Erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  ist 
durch  fremdes  Kapital,  insbesondere  französisches 


und  belgisches,  weniger  deutsches,  der  Bergbau 
in  einigem  Umfange  wieder  aktiviert  worden. 
Doch  wird  dessen  Zukunft  neben  der  Herstellung 
guter  Verbindungen  ganz  davon  abhängen,  ob 
künftige  Regierungen  demselben  mit  Wohlwollen 
und  Interesse  gegenübertreten  und  in  der  Lage 
sein  werden,  unlautere  Elemente,  wie  sie  nur  zu 
häufig  zum  Schaden  der  beteiligten  Kapitalisten 
ihr  Spiel  getrieben  haben,  fernzuhalten.  Erste 
Vorbedingung  aber  bleibt  noch  eine  unparteiische, 
wissenschaftliche  Untersuchung  der  Lagerstätten, 
welche  erst  endgültig  feststellen  kann ,  was  an 
Vorräten  der  einzelnen  nutzbaren  Mineralien 
überhaupt  vorhanden  ist.  Namentlich  Serbien, 
welches  an  mehreren  Punkten  wertvolle  Metalle, 
wie  Kupfer,  Antimon,  Chrom  enthält,  dürfte  unter 
den  genannten  Umständen  eine  günstige  berg- 
bauliche Prognose  gestellt  werden  können.  Der 
Besprechung  der  Vorkommen  von  nutzbaren 
Mineralien  (einschließlich  Kohlen  und  Mineral- 
quellen) in  diesem  Lande  folgt  das  gleiche  für 
Bulgarien,  Mazedonien,  Griechisch-Mazedonien  (und 
Thessalien),  Europäische  Türkei  (nebst  Albanien 
und  Montenegro),  sowie  Asiatische  Türkei,  insbe- 
sondere Kleinasien.  Für  letzteres  läßt  sich  eine 
sehr  günstige  Prognose  stellen,  falls  die  Beförde- 
rungs-  und  Verkehrsverhältnisse  merklich  ge- 
bessert werden ,  da  dieselben  zurzeit  noch  sehr 
im  argen  liegen.  Neben  Kohlen,  Erdöl,  Asphalt 
und  Steinsalz  kommen  von  Erzen  namentlich 
Chrom-  und  Kupfererze,  auch  Eisenerze  in  Be- 
tracht. Letztere  sind  zum  Teil  sehr  hochwertig, 
leiden  aber  naturgemäß  am  meisten  unter  Ab- 
gelegenheit  vom  Verkehr.  Im  allgemeinen  er- 
gibt sich  hinsichtlich  der  Mineralschätze  der  be- 
handelten Länder  ein  nicht  ungünstiges  Bild.  Es 
kann  daher  der  Doelt er'schen  Übersicht  über 
diese,  auch  für  unsere  eigene  kulturelle  und  in- 
dustrielle Zukunft  nicht  unwichtigen  Dinge  nur 
weiteste  Verbreitung  gewünscht  werden,  (g^c.) 
Andree. 


Doflein,  Franz,  Die  Fortpflanzung,  die 
Schwangerschaft  und  das  Gebären 
der  Säugetiere.  Eine  zoologische  Feld- 
vorlesung für  meine  im  Feld  stehenden  Studenten. 


440 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  31 


5^  Seiten.  Mit  25  Abbildungen  im  Text.  Jena 
1917,  Verlag  von  G.  F'ischer.  —  Preis  geh.  1,50  M. 
In  der  Form  einer  Vorlesung  behandelt  D  o  f  1  e  i  n 
eines  der  interessantesten  Kapitel  der  Biologie, 
ein  Kapitel,  „das  in  und  nach  dem  Krieg  von 
größter  Bedeutung  für  uns  alle  sein  wird".  Denn 
„nach  dem  Krieg  wird  es  zu  den  großen  und 
heiligen  Aufgaben  unseres  Volkes  gehören,  die 
Verluste,  die  uns  der  Krieg  an  Männern  gebracht 
hat,  zu  ersetzen.  Da  wird  es  von  größter  Be- 
deutung sein,  daß  gediegene  Kenntnisse  über  die 
biologischen  Grundlagen  der  Fortpflanzung  in 
weiteren  Kreisen  verbreitet  sind".  Doflein 
wendet  sich  im  besonderen  an  seine  im  Felde 
stehenden  Schüler,  die  jungen  Naturwissenschaftler 
und  Mediziner.  Die  Ausführungen  Doflein 's, 
der  es  trefflich  versteht,  seine  Materie  in  leichtem 
Plaudertone  vorzutragen,  werden  indessen  sicher 
auch  bei  dem  nicht  speziell  naturwissenschaftlich 
oder  medizinisch  Gebildeten  reges  Interesse  finden, 
zumal  da  sie  so  gehalten  sind,  daß  jeder  ihnen 
leicht  zu  folgen  vermag.  Gerade  über  die  Vor- 
gänge bei  der  Fortpflanzung,  über  die  Befruchtung, 
die  Schwangerschaft  und  den  Geburtsakt,  herrscht 
in  Laienkreisen  oft  eine  fast  unglaubliche  Un- 
wissenheit. Schuld  daran  trägt  natürlich  in  erster 
Linie  die  gänzlich  ungenügende  Behandlung  dieser 
Fragen  im  Biologieunterricht  der  Schulen,  sodann 
jedoch  auch  der  Mangel  an  populären,  zugleich 
aber  wissenschaftlichen  Darstellungen  des  Themas. 
Möge  daher  das  vorliegende  Werkchen  nicht  nur 
recht  häufig  ins  Feld  hinauswandern,  sondern  auch 
sonst  weite  Verbreitung  finden  und  dazu  bei- 
tragen, die  Kenntnisse  über  diese  so  wichtigen 
Fragen  zu  verbreiten. 

Doflein  beginnt,  um  nur  einiges  über  den 
Inhalt  mitzuteilen,  mit  einer  Besprechung  der 
Geschlechtszellen  und  ihrer  Reifung.  Es  schließt 
sich  an  eine  Darstellung  der  Befruchtungsvorgänge. 
Weiter  berichtet  er  dann  über  den  Bau  des 
weiblichen  Geschlechtsapparates  und  seine  Funk- 
tion, über  die  Beziehungen  der  Mutter  zur  Frucht, 
über  den  Geburtsakt  und  die  bald  mehr,  bald 
weniger  große  Sorge  der  Mutter  um  ihre  Jungen. 
Eine  Reihe  guter  Abbildungen  ist  dem  Texte 
beigegeben. 

Mit  einem  Appell  an  seine  Studenten,  Körper 
und  Seele  rein  zu  halten  im  Felde  wie  in  der 
Heimat  und  stets  dessen  eingedenk  zu  bleiben, 
daß  von  der  Gesundheit  und  Kraft  unserer  männ- 


lichen Jugend  das  Glück  und  Gedeihen  Deutsch- 
lands abhängt,  mit  der  Mahnung,  die  Ehrfurcht 
vor  der  Mutter  hochzuhalten  und  nicht  zu  ver- 
gessen, welche  Verantwortung  auf  den  jungen 
Männern  ruht,  daß  sie  nicht  Krankheit  auf  Mutter 
und  Frucht  übertragen,  schließt  Doflein  seine 
Ausführungen.  Nachtsheim. 

Mehmke,  Rudolf,  Dr.,   Leitfaden    zum    gra- 
phischen Rechnen.     Mit  1 2 1  F"ig.  im  Text. 
152  S.    Sammlung  math.-physik.  Lehrbücher  19. 
Leipzig  undBerlm  1917,  Teubner.  —  Geh.  4,80  M., 
geb.  5,40  M. 
Das    Buch    enthält    zunächst    die    Vorlesungen 
des  Verfassers  an  der  technischen  Hochschule  in 
Stuttgart,  ist  aber  bestimmt  für  alle,  die  bei  Auf- 
lösung algebraischer  und  analytischer  Gleichungen 
die    Wurzeln    numerisch    erhalten    wollen.      Diese 
Aufgabe   wird    in    sehr   befriedigender   Weise    er- 
füllt, indem  systematisch  zuerst  die  gewöhnlichen 
Rechnungen    und    Auflösungen    von   Gleichungen 
behandelt  werden,  unter  Anwendung  gewöhnlicher 
und  logarithmischer  Maßstäbe.     Dann  wird  Diffe- 
rentiation und  Integration  behandelt,    und    bis    zu 
der    Lösung    von    Differentialgleichungen    dritter 
und    höherer  Ordnung    fortgeschritten.     Dadurch, 
daß  die  einzelnen  Aufgaben  an  Hand  der  Figuren 
bis    zur  Lösung  durchgeführt    werden,   erhält    das 
Buch  einen    ungemein  praktischen  Wert,    so    daß 
ihm  unter  Techiükern,  Ingenieuren  und  Physikern 
weite  Verbreitung  zu  wünschen  ist.  Riem. 

Koppe,  M.,  Prof.,    Die  Bahnen    der   beweg- 
lichen   Gestirne    im    Jahre    191 7.      Eine 
astronomische    Tafel    nebst    Erklärung.      Berlin 
19 17,  Springer.  —  0,40  M. 
Das  Heftchen  ist  den  Freunden  der  Himmels- 
kunde   ein    bewährter   Führer,    der    durch    einen 
Blick    auf  die  Zeichnungen  angibt,   ob  ein  Planet 
sichtbar  ist,  wann  und  wo.    Auch  die  gegenseitige 
Stellung    der    beiden    sonnennahen     Venus    und 
Merkur  als  Abend-  oder  Morgenstern  ist  besonders 
dargestellt.      Neu    ist    die    Bestimmung    der   Süd- 
richtung mit  Hilfe  der  Taschenuhr,  die  sich  gegen 
die  zwar  einfachere  aber  falsche  Vorschrift  wendet, 
die  man    bei  Pfadfindern,  Wandervögeln  usw.  an- 
gegeben findet.     Es  wäre  wünschenswert,  daß  das 
Heftchen    schon    immer  im  Herbst  des  Vorjahres 
erschiene,    um    bei    Zeiten    darauf    hinweisen    zu 
können.  Riem. 


Inhalt:  K.  Schutt,  Über  den  Druck  der  Lichtstrahlen.  S.  425.  S.  Killermann,  Maischwamm  und  Erdsimmerling.  (5  Abb.) 
S.  430.  —  Kleinere  Mitteilungen:  R6zsa,  Fledermausguanolager  in  der  Umgebung  von  Budapest.  (2  Abb.)  S.  434.  — 
Einzelberichte:  Johannes  Orth,  Das  biologische  Problem  in  Goethes  Wahlverwandtschaften.  S.  435.  B.  Dürken, 
Von  physiologischen  örtlichen  Rassen  beim  Grasfrosch.  S.  436.  Henrik  Strindbcrg,  Über  Bau  und  Entwicklungs- 
geschichte der  Mallophagen.  S.  436.  O.  Mügge,  Weiterwachsen  von  Orthoklas  im  Ackerboden.  S.  436.  E.Windel, 
Beziehungen  zwischen  Funktion  und  Lage  des  Zellkerns.  S.  437.  P.  Seh  ie  f  f  erd  e  c  k  er ,  Das  Verhältnis  der  Fasern 
und  Kerne  der  Muskulatur  des  menschlichen  Herzens  zueinander.  S.  438.  —  Bücherbesprechungen:  C.  Doelter, 
Die  Mineralschätze  der  Balkanländer  und  Kleinasiens.  S.  439.  Franz  Doflein,  Die  Fortpflanzung,  die  Schwanger- 
schaft und  das  Gebären  der  Säugetiere.  S.  439.  Rudolf  Mehmke,  Leitfaden  zum  graphischen  Rechnen.  S.  440. 
M.  Koppe,  Die  Bahnen  der  beweglichen  Gestirne  im  Jahre    191 7.  S.  440. 


Manuskr 


pte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,   Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  12.  August  1917. 


Nummer  33. 


(Nachdruck  verboten.] 


Der  Basenaustausch  der  Silikate. 

Von  Werner  Mecklenburg. 
Mit  4  Abbildungen  im  Text. 


Einleitung. 

Die  Lehre  vom  Basenaustausch  der  Silikate, 
ein  in  theoretischer  und  praktischer  Hinsicht  gleich 
wichtiges  und  neuerdings  besonders  durch  die 
Einführung  des  Permutits  in  die  Praxis  der  Wasser- 
reinigung auch  für  weitere  Kreise  beachtenswert 
gewordenes  Gebiet  der  wissenschaftlichen  For- 
schung, ist  aus  Untersuchungen  über  das  Absorp- 
tionsvermögen der  Ackererde  hervorgegangen. 
Als  Absorptionsvermögen  der  Ackererde  be- 
zeichnet mau  bekanntlich  die  Fähigkeit  der  Acker- 
erde, Pflanzennährstoffe  wie  z.  B.  das  Kali  oder 
das  Ammoniak,  die  ihr  in  löslicher  Form  zugeführt 
werden,  so  festzuhalten,  daß  sie  von  dem  Regen 
und  der  strömenden  Bodenfeuchtigkeit  nicht  weg- 
gewaschen werden  können.  Diese  Tätigkeit  be- 
ruht indessen  nicht  etwa,  wie  man  zunächst  viel- 
leicht meinen  möchte,  auf  Adsorption '),  sondern 
auf  einer,  wie  weiterhin  noch  im  einzelnen  dar- 
gelegt werden  wird,  der  AdbOrption  in  ihren 
Gesetzmäßigkeiten  zwar  recht  nahe  verwandten, 
grundsätzlich  aber  —  wenigstens  zunächst  —  scharf 
von  ihr  zu  unterscheidenden  Erscheinung,  nämlich 
der  Erscheinung,  daß  gewisse,  im  Ackerboden 
vorhandene  Stoffe  von  zeolithischem  Charakter 
das  in  ihnen  enthaltene  Calcium  gegen  das  Ka- 
lium oder  Ammonium  des  Bodenwassers  auszu- 
tauschen vermögen.  Die  diesen  Austausch  be- 
herrschenden Gesetzmäßigkeiten,  im  wesentlichen 
schon  in  der  ersten  Hälfte  der  fünfziger  Jahre  des 
vergangenen  Jahrhunderts  von  dem  hervorragenden 
englischen  Agrikulturchemiker  J.  ThomasWay 
erkannt,  sind  im  Laute  der  Zeit  sowohl  von  agri- 
kulturchemischer als  auch  von  mineralogischer 
Seite  eingehend  untersucht  worden  und  haben 
sich  als  so  eigenartig  erwiesen,  daß  ihre  zusammen- 
fassende Darstellung  auch  an  dieser  Stelle  zweifel- 
los von  Interesse  ist. 

Der  Basenaustausch  der  Silikate. 

Die  Darstellung  schließt  zweckmäßig  sogleich 
an  ein  konkretes  Beispiel  an. 

Schüttelt  man  einen  natürlichen  oder  einen 
künstlich  hergestellten  Zeolith,  der  die  P^ähigkeit 
des  Basenaustausches  besitzt,  bei  konstanter  Tem- 
peratur mit  einer  wässerigen  Lösung  von  Chlor- 
ammonium, so  wird  ein  Teil  des  vorhandenen 
Ammoniumions  NH^+  von  dem  Zeolith  aufge- 
nommen und  gleichzeitig  tritt  eine  dem  auf- 
genommenen  Ion    annähernd   äquivalente   Menge 

')  Vgl.  Werner  Mecklenburg,  Die  Adsorption, 
Nalurw.  Wochenscbr.,  N.  F.  Bd.  XV,  S.  409—418;   1916. 


des  Calciums  oder  eines  anderen  im  Zeolith  ent- 
haltenen Ions  in  die  Lösung  über.  Das  Chlorion 
nimmt  an  der  Reaktion  nicht  teil,  es  bleibt  un- 
verändert in  der  Lösung.  Bemerkenswert  ist  es 
nun,  daß  sich  zwischen  dem  Ammoniumion  in 
der  Lösung  und  dem  von  dem  Zeolith  aufge- 
nommenen Ammoniumion  ein  wohldefiniertes,  von 
beiden  Seiten  her  einstellbares  Gleichgewicht 
ausbildet,  das  durchaus  den  Charakter  eines  Ad- 
sorptionsgleichgewichtes trägt  und  sich  auch  ziem- 
lich gut  nach  der  bekannten  Boedeker-  van 
B  e  m  m  e  1  e  n  'sehen  Adsorptionsgleichung  ^) 

y  =  ax'' 
berechnen  läßt,  sich  von  einem  echten  Adsorptions- 
gleichgewicht aber  durch  den  bereits  erwähnten 
Umstand  unterscheidet,  daß  von  dem  Zeolith  eine 
der  Menge  des  in  ihn  eingetretenen  Ammoniumions 
annähernd  äquivalente  Menge  Kation  an  die  Lösung 
abgegeben  ist.  Als  Beleg  für  die  Richtigkeit  des 
Gesagten  dienen  die  beiden  Abbildungen  und 
die  beiden  Tabellen  i  und  2;  sie  zeigen,  daß 
(Tabelle   i)    die  Boedeker-  van  Bemmelen- 

Tabelle  i. 
Anwendbarkeit  der  Boedeker- van  Bemmelen- 
schen  Formel  auf  das  Austauschgleichgewicht 
zwischen  einem  künstlichen  Zeolith  (Permutit)  und 
einer  wässerigen  Chlorammoniumlösung  nach 
Georg  W  i  e  g  n  e  r. 


Millimole  NH. 


I   ccm  der 
Lösung 


aufgenomtnen  von  i   g  Permutit 


berechnet  nach  der 
Formel 

y' =  2,823  x°'336' 


o.ooSS 

0.5 'S 

0.574 

0,0274 

o,So7 

0,843 

0,0487 

'.°54 

1,023 

0,0964 

1.356 

1,286 

0,0972 

■.376 

1,289 

0,2250 

1.S51 

:.7.o 

0,2483 

1.834 

1,768 

0,5649 

2.304 

2,330 

1,3429 

2,726 

2,556 

3.0899 

3,580 

— 

4,6943 

3,436 

- 

')  In  der  Gleichung  ist  y  die  von  einer  konstanten  Menge 
des  Zeoliths  bei  konstanter  Temperatur  im  Verteilungsgleich- 
gewicht   aufgenommene    Menge    des    Ammoniumions,    x    die 


442 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


sehe  Gleichung  das  Austauschgleichgewicht  ebenso  Ammoniun\s  als  Funktion  der  Gleichgewichts- 
gut oder  ebenso  schlecht  wiedergibt  wie  ein  konzentration  in  der  Lösung  darstellt,  den 
gewöhnliches  Adsorptionsgleichgewicht  —  so  gleichen  Charakter  wie  eine  gewöhnliche  Adsorp- 
versagt    sie    insbesondere    beim    Austauschgleich-  tionskurve  (Abbildung  2)  hat. 


/    J 


rl 


Sio-ywn^. 


Adsorption  von  Arsenik  durch   hydratisches  Eisenoxyd  nach  Werner  Mecklenbi 


gewicht  ebenso  wie  beim  Adsorptionsgleichgewicht 
für    die    höheren,    dem   konstanten  Endwerte  sich   ^•» 
nähernden    Konzentrationen    — ,    daß    (Tabelle    2) 

Tabelle  2. 

Beweis  dafür,    daß  der  Basenaustausch  annähernd 

im    Äquivalentverhältnis    erfolgt.      Nach    Geor 

W  i  e  g  n  e  r.       Versuchsmaterial :     ein 

Zeolith  (Permutit). 


künstlicher 


In  der  Lösung  waren 
vor  der  Adsorption 
enthalten  MiUimole 

und  sind  nach  der  Adsorption  in  der 

Gleichgewichtslösung  enthalten 

MiUimole 

NH«  + 

NH4  + 

'/jCa-H-|      K-t- 

Summe 

34,060 

24,807 

6,387 

3.326 

34.520 

17,084 

10,208 

4,616 

2.475 

17,299 

10,291 

S.019 

3-490 

2,069 

10,578 

6,825 

2,792 

2.541 

1,732 

7,065 

3.467 

0,882 

1,678 

1,184 

3.744 

Konzentration  des  Ammoniumions  in  der  Gleichgewichts- 
lösung, a  eine  von  dem  spezifischen  Austauschvermögen  des 
Zeoliths  sowie  von  den  gewählten  Maßeinheiten  abhängige 
Konstante  und  b  eine  Konstante,  deren  Zahlenwert  stets 
zwischen  o  und  I,  in  der  Kegel  zwischen  etwa  0,2  und  0,7 
liegt.  —  Als  auf  eine  historisch  bemerkenswerte  Tatsache  sei 
darauf  hingewiesen,  daß  die  Boedeker-van  Bemmelen- 
sche  ,, Adsorptionsformel"  in  Wirklichkeit  gerade  für  den 
Basenaustausch  der  Silikate  abgeleitet  worden  ist;  ihre  An- 
wendung auf  das  eigentliche  Adsorptionsgleichgewicht  ist  erst 
später  erfolgt. 


Abb.  2.      Austauschgleichgew 
Ammoniumchloridlösung     um 


icht    zwischen    einer    wässerigen 
kristallisiertem    Desmin    nach 
Zoch. 


der  Austausch  annähernd  im  Äquivalentverhältnis 
erfolgt,  und  daß  die  Kurve  (Abbildung  i),  die 
die   von   dem  Zeolith    aufgenommene  Menge    des 


Die  Silikate,  die  zu  dem  im  Vorstehenden  in 
seiner  interessantesten  Eigentümlichkeit  skizzierten 
Basenaustausch  befähigt  sind,  sind,  wie  bereits 
weiter  oben  bemerkt  worden  ist,  Stoffe  von  zeo- 
lithischem  Charakter.  Sie  finden  sich  —  in  amor- 
pher oder  krypto-kristallinischer  Form  —  im 
Ackerboden,  zu  ihnen  gehören  aber  auch  wohl- 
kristalii^ierte  Zeolithe,  wie  z.  B.  der  Desmin  und 
der  Chabasit,  sowie  künstlich  hergestellte  — 
amorphe  oder  kristallisierte  —  Präparate,  deren 
wichtigste  die  Permutite  sind.  Sie  sind,  wie  schon 
Way    für    den  Fall    des   Ackerbodens    festgestellt 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


443 


hat,  Doppelsilikate  von  Aluminium  einerseits  und 
den  Alkalien  und  den  alkalischen  Erden  anderer- 
seits, und  zwar  sind  diese  Doppelsilikate  —  das 
hat  R.  Gans  wahrscheinlich  gemacht  —  dann 
zum  Basenaustausch  besonders  befähigt,  wenn  sie 
„Aluniinatsilikate"  sind,  d.  h.  wenn  die  in  ihnen 
enthaltenen  Alkalien  und  alkalischen  Erden  un- 
mittelbar nicht  an  die  Kieselsäure,  sondern  an 
die  Tonerde  des  Silikatmoleküls  gebunden  sind. 
Im  übrigen  ist  das  Au^tauschvermögen  der  ver- 
schiedenen Silikate  verschieden;  es  hängt  im 
einen  Falle  stark,  im  anderen  Falle  nur  wenig 
von  der  Temperatur  ab,  auch  ist  bei  einem  ge- 
gebenen Material  keineswegs  immer  die  Gesamt- 
menge, sondern  häufig  nur  ein  Teil  der  Alkalien 
und  alkalischen  Erden  von  ihnen  austauschbar,  so 
daß  man  bei  Annahme  der  Vorstellungen  von 
Gans  zu  der  Vermutung  gedrängt  wird,  daß  nur 
ein  Teil  der  Alkalien  und  Erdalkalien  an  Tonerde, 
der  Rest  aber  an  Kieselsäure  gebunden  ist.  Auch 
ist  —  dies  geht  aus  den  auserordentlich  lehr- 
reichen Untersuchungen  von  Felix  Singer 
hervor  —  die  Austauschfähigkeit  keineswegs  auf 
„Aluminatsilikate"  beschränkt,  denn  es  hat  sich, 
ohne  daß  das  Vermögen  des  Basenaustausches 
verloren  geht,  die  Kieselsäure  SiOj  der  Präparate 
ganz  oder  teilweise  durch  Titandioxyd  TiO.,  oder 
Zinndioxyd  SnO.j  (aber  nicht  durch  Zirkondioxyd 
ZrO,2  oder  Blcisuperoxyd  PbO»)  und  die  Tonerde 
durch  Bortrioxyd  BjOg,  Vanadintrioxyd  V.,0.j, 
Manganoxyd  Mn203,  Eisenoxyd  Fe.jOg  und  Cobalt- 
oxyd  Co._,Og  (nicht  aber  durch  Chromoxyd  CrjOg) 
ersetzen  lassen.  An  dem  Austausch  selbst  nehmen 
nur  die  in  den  austauschfähigen  Zeolithen  ent- 
haltenen Alkalien  und  Erdalkalien  teil,  und  zwar 
können  sie  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  gegen 
die  negativen  Bestandteile  aller  mögliciien  wässe- 
rigen Salzlösungen,  so  gegen  andere  Alkalien  und 
Erdalkalien,  gegen  Silber-,  Kupfer-,  Nickelion  usw. 
ausgetauscht  werden,  ja,  wie  Singer  gefunden  hat, 
lassen  sich  durch  Behandlung  der  austauschfähigen 
Zeolithe  mit  wässerigen  Lösungen  von  Alkalisulfidcn 
oder-polysulfiden  wie  z.  B.  mit  wässerigen  Lösungen 
von  (NHj).,S  oder  NaoSj  sogar  lebhaft  gefärbte 
schwefelhaltige  „Zeolithe"  gewinnen,  die  durchaus 
den  Charakter  von  Ultramarinen  tragen. ') 

Der    kristallographisch-ch  emische  Ab- 
und  Umbau. 

Ob  die  Zeolithe  kristallisiert  wie  der  Desmin 
oder   der   Heulandit    oder    ob    sie    amorph    (oder 

')  Der  Umstand,  daß  auch  der  Schwefel  in  das  Zeolith- 
molekül  einzutrrtrn  vermag,  ist  bemerkenswert.  Vermutlich 
handelt  es  sich  hier  um  eine  mit  dem  Basenaustausch  nicht 
ohne  weiteres  zu  identifizierende  Erschemung,  die  den  in  dem 
Abschnitt  über  den  kristallographisch-rhemischen  Abbau  von 
Silikaten  naher  zu  besprechenden  Vorgängen,  wie  der  Abgabe 
von  Wasser  und  der  Aufnahme  anderer  Stofte  durch  den 
Desmin,  nahesteht.  Es  wäre  von  Wichtigkeit,  festzustellen, 
ob  die  Aufnahme  des  Schwefels  durch  die  Zeolithe  auch  im 
Äquivalentverhällnis  erfolgt,  d.  h.  eiwa  für  jedes  in  den  Zeolith 
eintretende  Molekül  NajS  ein  Molekül  CaO  aus  dem  Zeolith 
in   die  Lösung  übertritt. 


kryptokristallinisch)  wie  die  austauschfähigen  Be- 
standteile des  Ackerbodens  oder  der  Permutit 
sind,  ist  auf  die  Tatsache  der  Austauschfähigkeit 
ohne  Einfluß,  wenn  auch  insbesondere  die  Ge- 
schwindigkeit des  Austausches  von  der  äußeren 
Erscheinungsform  des  Materials  stark  beeinflußt 
wird;  so  stellte  sich  nach  Wiegner  das  Aus- 
tauschgleichgewicht zwischen  einem  amorphen 
KalkKali-Pcrmutit  und  einer  wässerigen  Ammo- 
niumchloridlösung innerhalb  weniger  Minuten  ein, 
während  nach  Ilse  Zoch  die  Einstellung  des 
Austauschgleichgewichtes  zwischen  kristallisiertem 
Desmin  und  einer  wässerigen  Ammoniumchlorid- 
lösung einen  Zeitraum  von  40  bis  50  Tagen  er- 
forderte. Sehr  bemerkenswert  aber,  ja  vielleicht 
eine  der  eigentümlichsten  Tatsachen,  die  die  neuere 
Wissenschaft  aufgefunden  hat,  ist  es,  daß  bei  den 
kristallisierten  Zeolithen  der  Austausch  nicht,  wie 
man  zunächst  wohl  erwarten  dürfte,  mit  einer 
Zerstörung  des  Kristallgebäudes  verbunden  zu 
sein  braucht,  sondern  unter  dessen  Erhaltung  vor 
sich  gehen  kann.  Durch  diese  Tatsache  wird  der 
Basenaustausch  der  Silikate  in  Parallele  zu  den 
höchst  interessanten  Beobachtungen  gestellt,  die 
in  neuerer  Zeit  hauptsächlich,  wenn  auch  nicht 
ausschließlich,  von  mineralogischer  Seite  gemacht 
worden  sind  und  die  sich  kurz  unter  dem  von 
F.  Rinne  geprägten  Stichwort  des  ,,kristallo- 
graphisch-chemischen  Ab-  und  Umbaues"  zu- 
sammenfassen lassen. 

In  anbetracht  des  hervorragenden  Interesses, 
das  die  Erscheinungen  des  kristallographisch- 
chemischen  Ab-  und  Umbaus  bieten,  seien  sie  hier 
etwas  eingehender  besprochen. 

Die  ältesten  Beobachtungen,  aus  denen  hervor- 
geht, daß  Kristalle  an  chemischen  Reaktionen 
teilnehmen  können,  ohne  daß  ein  Zusammenbruch 
des  Kristallgebäudes  erfolgt '),  dürften  wohl  die- 
jenigen sein,  die  E.  Mallard  i.  J.  1882  über  die 
Wirkung  der  Wärme  auf  den  Heulandit  angestellt 
hat.  Der  Heulandit  gibt  beim  Erwärmen  Wasser 
ab,  ohne  daß  dabei  die  Heulanditkristalle  zerstört 
würden.  Diese  Erscheinung  ist  jedoch  keineswegs 
aufdie  Zeolithe  beschränkt,  denn  wie  G.  Tarn  mann, 
z.  T.  in  Gemeinschaft  mit  seinen  Schülern,  nach- 
gewiesen hat,    gibt  es  auch  künstlich  hergestellte 

')  Zu  den  hier  besprochenen  Erscheinungen  gehören  die 
dem  Mineralogen  schon  seit  langem  bekannten  Erscheinungen 
der  Pseudomorphose,  d.  h.  das  Auftreten  von  Mineralien  in 
ihnen  nicht  zukommenden  kristallographischen  Formen  nicht. 
Allerdings  bleibt,  wenn  etwa  der  Schwefelkies  FeS»  durch 
Verwitterung  in  Brauneisenerz  Fe^Oj  aq.  übergeht,  häufig  die 
äußere  Form  des  Schwefelkieses  erhalten,  die  Pseudomorphosen 
des  Brauneisenerzes  nach  dem  Schwefelkies  sind  aber  keine 
echten,  sondern  —  dies  hat  schon  vor  mehr  als  100  Jahren 
Gottlob  Abraham  Werner  erkannt—  nur  Afterkristalle, 
d.  h.  ihr  innerer  -Aufbau,  wie  er  etwa  durch  die  optischen 
Untersuchungsmethoden  ermittelt  werden  kann,  entspricht 
nicht  ihrer  äußeren  Form.  So  sind  auch  die  monoklinen 
Schwefelkristalle,  die  man  aus  dem  Schmelzflusse  erhält, 
anfangs  zwar  wirklich  monoklin,  im  Laufe  der  Zeit  aber  gehen 
sie  —  dies  zeigt  z.  B.  die  Bestimmung  ihres  spezifischen  Ge- 
wichtes — ,  ohne  daß  sie  ihre  äußere  monokline  Form  verlören, 
in  rhombische  Kristalle  über;  es  liegt  dann  eine  Pseudo- 
morphose von  rhombischem  nach    monoklinem  Schwefel   vor. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Salzhydrate,  die  wie  das  Magnesiumplatincyanür 
Mg:2Pt(CN)^  •  7H2O,  das  Thoriumoxalat  Th(C2  04)., 
•6H.,0,  das  Natriumammoniumaluminiumoxalat 
Na3(NHJ;,AU-(C.,OJ„-7H,0,  das  Strychninsulfat 
(C2,H,„N.,(3,).,H2S0^.6H,Ö  u.  a.,  das  in  ihnen 
enthaltene  Wasser  ganz  oder  teilweise  abgeben, 
ohne  daß  die  Kristalle  sich,  wie  es  verwitternde 
Kristalle  sonst  zu  tun  pflegen,  trüben.  Daß 
es  sich  hier  in  der  Tat  um  eine  ganz  eigenartige 
Erscheinung  handelt,  ist  wohl  zuerst  bei  der 
Untersuchung  des  iVIagnesiumplatincyanürs  erkannt 
worden.  Verwittert  ein  normales  Salz,  z.  B.  das 
Kupfersulfat  CuS0,-5H.,0 

CuSOi  •  SH^O  =  CuSO,  ■  3H2O  +  2H2O, 
so  bleibt  der  Wasserdampfdruck  des  verwitternden 
Systems,  sofern  man  die  Temperatur  konstant  läßt, 
so  lange  konstant,  bis  die  Gesamtmenge  des 
Pentahydrats  in  das  Trihydrat  umgewandelt  ist, 
sinkt  dann,  wenn  die  Verwitterung  bei  derselben 
Temperatur  weiter  fortschreitet,  mit  einem  Sprung 
auf  einen  niedrigeren  Betrag,  der  dem  Dampf- 
druck des  Systems 

CuSO, .  3H2O  ;<=>■  CuSO, .  H^O  +  2H,0 
entspricht,    und    bleibt   hier  wieder   konstant,    bis 
das  gesamte  Trihydrat  in  Monohydrat  verwandelt 
ist.      Abbildung    3    zeigt   das    Gesagte.      Mit    der 


50 

-.7.. 

in 

30 

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S0„. 

^ 

MolHjOauf  IMolCu 

1 

2 

^1 

h              5 

Abb.  3.     Verwitterung    des  Kupfervitriols    bei  50"  C  als  Bei- 
spiel für  die  normale  Verwitterung  von  Salzhydraten. 

Phasenregel  '■)  steht  dies  Verhalten  in  bester  Über- 
einstimmung, denn  in  dem  aus  2  Komponenten  K, 
dem  wasserfreien  Salz  und  dem  Wasser  aufgebauten 
Systeme  liegen  3  Phasen  P,  das  höhere  und  das 
niedrigere  Hydrat  und  die  Dampfphase,  vor,  also 
ist  die  Zahl  der  Freiheiten 

F  =  K+2— P=2-f  2  — 3=1 


d.  h.  zu  der  gegebenen  Temperatur  gehört  ein 
eindeutig  definierter,  nur  von  der  Natur  der  beiden 
Hydrate  bestimmter,  von  ihrem  Mengenverhältnis 
aber  unabhängiger  Dampfdruck. 

Ganz  anders  verhalten  sich  nun  aber  die  Zeo- 
lithe  und  die  ohne  Trübungserscheinungen  ver- 
witternden Salzhydrate  wie  das  Magnesiumplatin- 
cyanür. Wie  schon  das  Ausbleiben  der  Trübungs- 
erscheinungen bei  der  Verwitterung  beweist,  wird 
durch  die  Wasserabgabe  keine  neue  Phase  gebildet, 
das  in  der  Verwitterung  befindliche  System  besteht 
vielmehr  nur  aus  zwei  Phasen,  nämlich  außer  der 
dampfförmigen  aus  nur  einer  festen  Phase,  also 
jst  die  Zahl  der  Freiheiten 

F  =  K-l-2— P  =  2  +  2  —  2  =  2, 

d.  h.  bei  gegebener  Temperatur  ist  der  Wasser- 
dampfdruck des  verwitternden  Systems  nicht  kon- 
stant, sondern  hängt  von  dem  Wassergehalt  der 
festen  Phase  ab.  Abbildung  4  zeigt  das  Gesagte 
am  Beispiele  des  Strychninsulfats. 


20 

— 

J 

15 
10 

E 
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X 

0 

^ 

^MolHjOinlMol 

3         f         5 

1        7 

•)  Vgl.  Dr.  A.  V.  Vegesack,  Die  Lehre  von  den 
heterogenen  Gleichgewichten,  Naturw.  Wochenschr.,  N.  F., 
Bd.  9,  S.  214 — 221  ;   1910. 


Verwitterung  des  Strychninsulfats  nach  E.  Li 
stein  als  Beispiel  für  die  anomale, 
die  ,,zeolithische"  Verwitterung. 


Ganz  ähnlich  wie  das  Wasser  kann  man  nun 
—  das  geht  besonders  aus  den  schönen,  in  che- 
mischen Kreisen  leider  wenig  bekannten  Unter- 
suchungen von  F.  Rinne  hervor  —  kristallisierten 
Stoffen  auch  andere  Bestandteile  als  das  Wasser  ent- 
ziehen, ohne  daß  das  Kristallsystem  zusammenbricht. 
Als  besonders  markantes  Beispiel  sei  der  Koenenit, 
ein  trigonales,  positiv  doppelbrechendes  Aluminium- 
magnesiumoxychlorid  von  der  Formel  A1,0.,  ■  3MgO 
•  2MgClj-6H80  angeführt.  Ohne  daß  das  Kristall- 
gebäude  einstürzt,  kann  man  dem  Koenenit  durch 
Kochen  mit  Wasser  zunächst  seinen  Gehalt  an 
Magnesiumchlorid  MgClj,  dann  durch  konzentrierte 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


445 


Chlorammoniumlösung  das  Magnesiumoxyd  MgO 
und  endlich  durch  vorsichtiges  Erhitzen  sein  Wasser 
entziehen,  so  daß  schließlich  reines  Aluminiumoxyd 
AlgOg  in  Form  des  Koenenits  übrig  bleibt.  Bei 
diesem  ganzen  Abbau  ist,  schreibt  Rinne, 
„gleichwie  der  allgemeine  optische  Typus  auch  die 
kennzeichnende  basische  Spaltbarkeit  und  die  ganz 
außerordentlich  große  Biegsamkeit  und  Weichheit 
des  Materials  eriialten  geblieben".  In  ähnlicher 
Weise  kann  man  auch  die  Zeolithe  ohne  Zu- 
sammenbruch der  Kristallstruktur  bis  zur  Kiesel- 
säure abbauen,  und  zwar  erweist  sich  —  das  ist 
ja  leicht  verständlich  —  das  Kristallsystem  als 
um  so  widerstaiid>fähiger,  je  kieselsäurereicher 
der  Zeolith  ist;  so  hat  Rinne  aus  dem  verhältnis- 
mäßig kie-ielsäurereichen  Desmin  wasserfreies  Sili- 
ciumdioxyd  SiO.3  in  der  Kristallform  des  Desmins 
erhalten  können.  Auch  in  der  Natur  treten  Vor- 
gänge dieser  Art  auf;  sowohl  die  heute  nach 
Rinne's  Vorgang  meist  als  „B  a  u  e  r  i  t  i  s  i  e  r  u  n  g" 
bezeichnete,  altbekannte  Bleichung  sowie  die 
Chloritisierung  der  Glimmer  werden  von  Rinne 
als  Beispiele  kristallographisch-chemischen  Abbaues 
gedeutet. 

In  die  Lücken,  die  durch  die  beschriebene 
Wegführung  von  Stoffen  im  ursprünglichen  Kri- 
stall entstehen,  können  nun,  das  ist  wieder  eine 
sehr  bemerkenswerte  Tatsache,  unter  Umständen 
andere  Stoffe  eingeführt  werden.  Daß  die  Zeolithe 
sowie  die  ihnen  in  ihrem  Verhalten  bei  der  Ent- 
wässerung entsprechenden  Salzhydrate  das  ihnen 
entzogene  Wasser  in  vollkommen  reversibler 
Reaktion  wieder  aufnehmen  können,  geht  ins- 
besondere aus  den  sorgfaltigen  Untersuchungen 
von  E.  Löwenstein  hervor.  Überraschend  aber 
ist  es,  daß,  wie  G.  Friedel  festgestellt  hat,  auch 
Ammoniak,  Schwefelkohlenstoff,  Alkohol,  Chloro- 
form und  andere  Stoffe  in  die  Lücken  eintreten 
können,  ohne  daß  die  Kristalle  ihren  Kristall- 
charakter verlieren.  Eine  physikalisch  chemische 
Untersuchung  dieser  Vorgänge  steht  leider  noch 
aus,  wie  ja  überhaupt  die  hier  in  kurzer  Skizze 
behandelten  Erscheinungen  eine  Fülle  wichtigster 
physikalisch-chemischer  Fragen  an  den  Forscher 
stellen,  wohl  aber  liegt  eine  sehr  interesante  Ab- 
handlung über  die  kristallographisch  optischen 
Begleiterscheinungen  dieser  eigentümlichen  Reak- 
tion von  F.  Grandjean  vor.  Als  Versuchs- 
material diente  Grandjean  ein  natürlicher  Zeolith, 
ein  Chabasit  von  Aussig.  Dieser  Chabasit  wurde 
zunächst  mit  seinem  natürlichen  Wassergehalt 
untersucht,  dann  wurde  er  entwässert,  und  schließ- 
lich wurden  in  den  entwässerten  Chabasit  bei 
Zimmertemperatur  Luft  und  Ammoniak  und  bei 
höheren  Temperaturen  die  Dämpfe  von  Jod,  von 
Quecksilberchlorür  HgCI,  von  Quecksilber,  von 
Schwefel  und  von  Zinnober  bis  zur  Sättigung  mit 
dem  betreffenden  Stoffe  eingeführt.  Die  Mengen, 
die  der  Zeolith  unter  den  von  Grandjean  an- 
gewandten Versuchsbedingungen  aufnahm,  war 
bei  den  verschiedenen  Stoften  sehr  verschieden. 
Gering   beim  Jod    (0,9  "/ß)  sind  sie  beim  Kalomel 


und  beim  Quecksilber  ganz  enorm:  Der  bei  500" 
entwässerte  Chabasit  nahm  z.  B.  bei  300"  35  "L 
Quecksilber  und  bei  Behandlung  mit  Wasser  in 
der  Kälte  außerdem  noch  25  "/„  Wasser  auf.  „A 
chaud,  l'eau  s'en  va,  puis  le  mercure,  et  l'on  re- 
trouve  la  chabasie  initiale  prete  ä  une  nouvelle 
adsorption."  Bei  allen  diesen  Vorgängen  aber 
bleibt,  wenn  auch  die  Kristalle  selbst  in  einzelnen 
Fällen  durch  die  Fülle  aufgenommenen  Stoffes 
zertrümmert  werden,  doch  die  Kristallstruktur  als 
solche  erhalten ;  nur  ändern  die  optischen  Kon- 
stanten, wie  z.  B.  der  Grad  und  der  Charakter 
der  Doppelbrechung,  ihre  Werte. 

Genauere  Versuche  über  die  Abhängigkeit  der 
optischen  Eigenschaften  von  der  Menge  der  Stoffe, 
die  in  die  leerstehenden  Wohnungen  des  Kristall- 
gebäudes eingezogen  sind,  sind,  soweit  dem  Be- 
richterstatter bekannt  ist,  nur  von  Rinne,  und 
zwar  für  Zeolithe  mit  kontinuierlich  abnehmendem 
Wassergehalt  ausgeführt  worden.  Die  Ergebnisse 
dieser  Versuche,  deren  Diskussion  im  einzelnen 
an  dieser  Stelle  zu  weit  fuhren  würde,  lassen  sich 
kurz  dahin  zusammenfassen,  daß  die  Änderung 
der  optischen  Verhältnisse  der  allmählichen  Ent- 
wässerung vollkommen  parallel  geht  und  daß 
insbesondere  einfache  Molekularverhältnisse  zwi- 
schen dem  Zeolith  und  dem  in  ihm  enthaltenen 
Wasser  auch  physikalisch  durch  besonders  einfache 
optische  Verhältnisse  gekennzeichnet  sind:  „Die 
chemischen  Zustände  multipler  Molekularpropor- 
tionen heben  sich  aus  der  fortlaufenden  Reihe 
physikalisch  heraus." 

Die  Theorie  des  Basenaustausches. 

In  kristallographischer  Hinsicht  ist  der  Basen- 
austausch der  Silikate  eine  dem  kristallographisch- 
chemischen  Ab-  und  Umbau  vollkommen  analoge 
Erscheinung.  Aus  zahlreichen  Versuchen,  vor 
allem  auch  den  jahrelang  fortgesetzten  mineral- 
synthetischen Untersuchungen  von  J.  Lemberg 
über  den  Basenaustausch  bei  natürlichen  Silikaten 
sowie  der  bereits  weiter  oben  besprochenen  Arbeit 
von  Ilse  Zoch  geht  hervor,  daß  der  Basenaus- 
tausch der  Silikate  in  grundsätzlich  gleicher  Weise 
mit  kristallisiertem  wie  mit  amorphem  (oder 
kryptokristallinischem)  Material  vor  sich  geht  und 
daß  der  Basenaustausch  selbst  eine  Zerstörung 
der  Kristallstruktur  nicht  zur  Folge  hat.  Das 
folgende  Zitat  aus  der  Arbeit  von  Ilse  Zoch 
möge  als  Beleg  für  das  Gesagte  dienen.  Das 
Versuchsmaterial,  bis  zu  einer  Korngröße  von 
0,25  mm  zerkleinerter  Desmin  vom  Berufjord, 
„bestand  aus  eckigen,  unregelmäßig  begrenzten 
Spaltstücken,  die  unter  dem  Mikroskop  bei  ge- 
kreuzten Nikols  init  Ausnahme  der  feinsten,  das 
Gesichtsfeld  nur  schwach  aufhellenden  Teilchen  leb- 
hafte Interferenzfarben  aufwiesen."  Als  das  Material 
dann  auf  dem  Dampfbade  mit  starker,  mehrfach 
erneuerter  Chlorammoniumlösung  behandelt  wurde, 
ließ  sich  bereits  nach  einigen  Tagen  „deutliche  Ab- 
nahme der  Doppelbrechung  erkennen :  Zahlreiche 


446 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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kleine  Splitter  zeigten  jetzt  das  Grau  erster  Ordnung, 
einige  der  größeren  nur  noch  stellenweise,  be- 
sonders in  der  Mitte,  höhere  Doppelbrechung.  Je 
länger  die  Einwirkung  dauerte  und  je  geringere 
Mengen  Calcium  noch  in  Lösung  gingen,  desto 
sichtbarer  trat  der  Unterschied  zwischen  dem 
ursprünglichen  und  dem  umgewandelten  Zustande 
hervor.  Als  sich  Calcium  in  der  Lösung  mittels 
Ammonoxalat  nicht  mehr  nachweisen  ließ,  war 
auch  das  gesamte  Pulver  fast  einfachbrechend  ge- 
worden." Würde  nun  das  Ammonium  durch  Be- 
handlung des  Ammoniumdesmins  mit  Natronlauge 
durch  Natrium  ersetzt,  so  wurde  die  Doppel- 
brechung wieder  stärker,  bei  darauf  folgendem 
Wiederersatz  durch  Ammonium  wieder  schwächer 
usw.  Die  Kristallstruktur  des  Desmins  bleibt 
also  —  das  ist  das  Wesentliche  —  beim  Basen- 
austausch erhalten. 

Die  Theorie  des  Basenaustausches  hat  vor 
allen  Dingen  im  Anschluß  an  die  Permutitfrage 
zu  lebhafter  Diskussion  Veranlassung  gegeben. 
Nun  ist  der  Permutit  des  Handels  allerdings  ein 
amorphes  Material,  d.  h.  ein  Material,  dessen 
Kristallstruktur  nicht  nachweisbar  ist,  es  liegt  aber 
kein  Grund  vor,  dem  Permutit  und  den  —  eben- 
falls amorphen  —  austauschfahigen  Silikaten  der 
Ackererde  eine  Ausnahmestellung  unter  den  ande- 
ren basenaustaiischenden  Silikaten  mit  zweifellosem 
Kristallcharakter  zu  geben,  man  wird  also  un- 
bedenklich die  Erscheinung  des  Basenaustausches 
als  grundsätzlich  gleichartig  mit  den  Erscheinungen 
des  kristallographisch-chemischen  Ab-  und  Um- 
baues ansehen  dürfen.  Die  Erscheinungen  des 
kristallographischen  Ab-  und  Umbaues  aber  ge- 
hören wohl  sicher  zu  den  Erscheinungen  der  Ad- 
sorption und  den  Erscheinungen,  die  bei  der  Auf- 
nahme von  Flü'^sigkeiten  durch  nichtquellbare 
Gele  wie  das  Gel  der  Kieselsäure  auftreten  *), 
denn  soweit  bisher  genauere  Untersuchungen  vor- 
liegen, sind  die  in  Frage  kommenden  Gesetzmäßig- 
keiten, mögen  sie  sich  auch  in  Einzelheiten  unter- 
scheiden, doch  im  wesentlichen  die  gleichen. 
Darnach  würde  also  der  Basenaustausch  der  Sili- 
kate unter  die  Adsorptionsvorgänge  einzureihen 
sein.  Dieser  Einreihung  scheint  nun  aber  der  be- 
reits im  ersten  Abschnitt  des  vorliegenden  Be- 
richtes betonte  Unterschied  zwischen  Basenaus- 
tausch und  Adsorption,  nämlich  der  Umstand  zu 
widersprechen,  daß  der  Basenaustausch,  wie  schon 
der  Name  sagt,  eine  A  ustausch  reaktion,  und 
zwar  eine  Austauschreaktion  im  Äquivalentver- 
hältnis ist,  während  die  eigentliche  Adsorption 
mit  einem  Austausch  an  sich  nicht  verbunden  ist. 
Dieser  Unterschied,  der  insbesondere  R.  Gans 
dazu  geführt  hat,  den  Basenaustausch  als  eine  ein- 
fache chemische  L'msetzung  etwa  nach  der  Art 
der  Umsetzung  zwischen  dem  im  Wasser  schwer 
löslichen  Baryumkarbonat  und  löslichem  Natrium- 


')  Vgl.  Werner  Mecklenburg,  L'ber  das  Gel  der 
Kieselsäure,  Nalurw.  Wochenschr.,  N.  F.,  Bd.  14,  S.  545—553; 
1915- 


Sulfat  zu  dem  sehr  schwer  löslichen  Baryumsulfat 
und  löslichem  Natriumkarbonat 

BaCOg  +  Na.,  SO,  =  BaSO,  -f  Na.XO^ 

anzusehen,  ist  indessen  —  darauf  hat  vor  allem 
Georg  Wiegner  aufmerksam  gemacht  —  mit 
dem  Begriff  der  Adsorption  nicht  unvereinbar, 
sofern  man  die  elektrischen  Umstände  des  Vor- 
ganges zur  Beurteilung  der  Sachlage  mit  heranzieht. 
Würde  nämlich,  um  auch  hier  sogleich  wieder  an 
ein  konkretes  Beispiel  anzuknüpfen,  das  Am- 
moniumion einer  Chlorammoniumlösung  von  dem 
Caiciumzeolith  adsorbiert,  ohne  daß  gleichzeitig 
die  äquivalente  Menge  eines  anderen  Kations  in 
der  Lösung  erscheint,  so  würde  sich  der  Zeolith 
außerordentlich  stark  positiv  aufladen  und  die 
Lösung  außerordentlich  stark  negativ  geladen  zu- 
rückbleiben. Da  sich  ein  derartiger  elektrostatischer 
Gegensatz  nicht  ausbilden  kann,  muß  notwendiger- 
weise für  jedes  in  den  Zeolith  eintretende  Kation 
ein  Kation  in  äquivalenter  Menge  aus  den  Zeolith 
in  die  Lösung  übergehen,  d.  h.  es  muß  ein  lonen- 
austausch  im  Äquivalentverhältnis  stattfinden. 
Der  Basenaustausch  der  Silikate  wäre  demnach 
als  ein  durch  elektrostatische  Einflüsse  in  das 
Äquivalenzschema  gezwängter  Adsorptionsvorgang 
anzusehen.  Hiermit  stimmt  es  überein,  daß  der 
Basenaustausch  nur  bei  der  Adsorption  von  Ionen 
stattfindet;  bei  der  Aufnahme  von  Nicht-Ionen 
verhalten  sich  die  kristalli>ierten  Stoffe,  soweit 
bisher  Beobachtungen  vorliegen,  im  wesentlichen 
gerade    so    wie    die    gewöhnlichen    Adsorbentien. 

DieVer Wendung  des  Basenaustausches 
in  der  Praxis. 

In  der  Technik  scheint  der  Basenaustausch 
mit  Bewußtsein  zuerst  von  Harms  und  unab- 
hängig von  ihm  von  Rümpler  angewendet  worden 
zu  sein,  um  aus  Zuckersäften  die  die  Kristallisation 
behindernden  und  dadurch  die  Zuckerausbeute 
herabsetzenden  Stoffe,  wie  das  Kali,  herauszuziehen 
und  durch  den  weniger  schädlichen  Kalk  zu  ersetzen. 
Eine  größere  praktische  Bedeutung  gewann  die 
PIrscheinung  aber  erst,  als  R.  Gans  in  zielbewußter 
Arbeit  besonders  rasch  und  reichlich  austauschende 
Zeolithe,  die  sogenannten  ,,Permu  tit  e",  künstlich 
herzustellen  lehrte  und  für  die  VVasserreinigung 
und    andere    technische    Zwecke    nutzbar    machte. 

Die  Herstellung  der  Permutite  ist  je  nach  dem 
Verwendungszweck  verschieden.  Im  wesentlichen 
beruht  sie  auf  dem  Zusammenschmelzen  eines  in 
bestimmtem  Mengenverhältnis,  insbesondere  unter 
Vermeidung  eines  Überschusses  von  Alkalikarbonat, 
gegebenenfalls  unter  Zuschlag  von  Quarz  her- 
gestellten Gemisches  von  Tonerdesilikaten  oder 
-mineralien  mit  Alkalikarbonat,  Körnung  des  dabei 
entstehenden  grünlichen  Glases  und  Behandlung 
mit  Wasser.  Durch  die  Behandlung  mit  Wasser 
wird  der  Schmelze  das  als  Nebenprodukt  entstandene 
Alkalisilikat  entzogen  und  gleichzeitig  geht  das 
durch  den  Schmelzprozeß  gebildete  Aluminatsilikat 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


447 


unter  Aufnahme  von  Wasser  in  eine  zeolithartige 
Substanz  von  körniger  Struktur  über.  Die  so  ge- 
wonnenen Produkte  enthalten  neben  20  bis  30  "/g 
Wasser  auf  i  Molekül  AljOj  i  Molekül  Na.,0 
(oder  KjO)  und  2  bis  4  Moleküle  SiO,,.  Ein  „ideales" 
Präparat,  d.  h.  ein  Präparat  von  maximaler 
Austauschfähigkeit  entspräche  nach  Gans  der  Zu- 
sammensetzung 2Si0.3-Al.,03  Na.O  +  öHgO.  Aus 
dem  so  primär  erhaltenen  Permutit  können  durch 
Behandlung  mit  Salzlösungen  andere  Permutite, 
so  durch  Behandlung  mit  Calciumchloridlösung 
Calciumpermutit  oder  durch  Behandlung  mit 
Mangansulfatlösung  Manganpermutit  hergestellt 
werden.  Die  entsprechenden  Gleichungen  sind, 
wenn  man  mit  Pe  den  Permutitkomplex  bezeichnet, 
soweit  er  an  dem  Austausch  nicht  beteiligt  ist: 
Pe.Na.,0  +  CaCIj  =  PeCaO  -f  2NaCl 
Pe-Na^Ö  +  MnSO,  =  Pe-MnO  -f  Na^SO,. 
Selbstverständlich  ist,  da  sich  im  allgemeinen 
zwischen  den  Kationen  in  der  Lösung  und  den 
Kationen  im  Permutit  ein  Gleichgewicht  einstellt, 
ein  praktisch  quantitativer  Austausch  nur  dadurch 
zu  erreichen,  daß  man  den  umzusetzenden  Permutit 
mit  einer  immer  erneuten  Lösung  des  einzuführenden 
Kations  behandelt.  In  der  wissenschaftlichen  und 
technischen  Praxis  verfährt  man  daher,  entsprechend 
einem  Vorschlage  von  Gans  stets  so,  daß  man 
den  Permutit  als  Filter  benutzt,  durch  das  man  die 
betreffende  Salzlösung  langsam  hindurchlaufen  läßt. 
Von  den  zahlreichen  Verwendungsmöglichkeiten 
des  Permutits  ist  zurzeit  bei  weitem  die  wichtigste 
seine  Verwendung  zur  Reinigung  des  Kessel- 
speisewassers. Das  natürliche  Wasser  enthält  be- 
kanntlich stets  eine  mehr  oder  minder  große 
Menge  von  Kalk-  (oder  Magnesia)salzen,  die  teils 
in  Form  von  Bikarbonat  CaH(CO.,).,,  teils  in  Form 
von  Sulfat  CaS04  gelöst  sind.  Beim  Kochen  des 
Wassers  im  Dampfkessel  scheiden  sich  nun,  so- 
wohl weil  die  die  Karbonate  in  Lösung  haltende 
Kohlensäure  aus  der  Lösung  entweicht  als  auch 
weil  die  Lösung  sich  infolge  der  ständigen  Ver- 
dampfung des  Wassers  im  Kessel  stark  konzentriert, 
die  Kalksalze  als  häufig  sich  fest  an  den  Boden 
und  die  Wandungen  des  Kessels  ansetzender 
„Kesselstein"  aus,  der  den  Dampfkesselbetrieb  arg 
zu  stören,  zu  verteuern,  ja  unter  Umständen  sogar 
sehr  gefährlich  zu  machen  geeignet  ist.  Es  ist 
daher  eine  für  den  Dampfkesselbesitzer  sehr 
wichtige  Aufgabe,  das  Kesselspeisewasser  vor  der 
Verwendung  von  seinen  Kalk-  und  Magnesiasalzen 
zu  befreien,  und  hierzu  eignet  sich  gerade  das 
Permutitverfahren  ausgezeichnet:  Man  braucht  ein 
als  Kesselspeisewasser  ungeeignetes  Wasser  bloß 
durch  ein  Filter  von  Natriumpermutit  laufen  zu 
lassen,  so  werden  die  Kalk-  und  Magnesiasalze 
mehr  oder  minder  vollständig  durch  die  un- 
schädlichen Alkalien  ersetzt,  z.  B. 

Pe  ■  Na^O  +  CaSO,  =  Pe  •  CaO  +  NaaSO,, 
und  das  vorher  infolge  seines    zu  hohen  Gehaltes 
an    Kalk-    (und    Magnesia)    -Salzen    ungeeignete 
Wasser   kann    nun   unbedenklich    für   den  Kessel- 


betrieb verwendet  werden.  Im  Permutitfilter 
reichern  sich  hierbei  im  I^aufe  der  Zeit  natürlich  die 
Kalksalzean,  und  die  entkalkende  Wirkung  läßt  daher 
allmählich  nach.  Dies  spielt  indessen  in  der  Praxis 
keine  große  Rolle.  Man  braucht  das  Filter  näm- 
lich, sobald  seine  Wirkung  nachläßt,  nur  mit  einer 
konzentrierten  Kochsalzlösung  durchzuspülen,  um 
den  im  regelmäßigen  Betnebe  aufgenommenen 
Kalk  wieder  durch  Natrium  zu  verdrängen 
Pe  ■  CaO  +  2NaCl  =  Pe  ■  NaoO  -f  CaCl.,, 
und  damit  das  Filter  zu  regenerieren. 

Außer  der  Reinigung  von  Kesselspeisewasser 
werden  von  Gans  bzw.  der  Permutitgesellschaft, 
wie  bereits  angedeutet  wurde,  noch  andere  Ver- 
wendungsmöglichkeiten des  Permutits,  so  die  Ver- 
wendung zur  Enteisenung  und  Entmanganung  von 
Leitungswasser  angegeben,  indessen  muß,  soweit 
dem  Berichterstatter  bekannt  geworden  ist,  noch 
dahingestellt  bleiben,  wie  weit  sich  diese  Ver- 
wendungsmöglichkeiten in  der  Praxis  wirklich  be- 
währt haben ;  von  ihrer  Besprechung  kann  daher 
an  dieser  Stelle  Abstand  genommen  werden. 

Wichtigere  Literaturnachweise. 
I.    Über  den  Basenaustausch  der  Silikate: 

1.  R.  Gans,  Zeolithe  und  ähnliche  Verbindungen,  ihre 
Konstitution  und  Bedeutung  für  Technik  und  Landwirtschaft. 
Jahrb.  d.  Königl.  Preu8.  Geol.  Landesamt,  26  (1905), 
S.    179 — 211. 

2.  — ,  Konstitution  der  Zeolithe ,  ihre  Herstellung  und 
technische   Verwendung.      Ebenda,  27   (1906),  S.  63—94. 

3.  — ,  Zur  Frage  der  chemischen  oder  physikalischen 
Natur  der  kolloidalen  wasserhaltigen  Tonerdesilikate.  Ebenda, 
34  11  (l9'3),  S.  242—282. 

4.  Georg  Wiegner,  Zum  Basenaustausch  in  der  Acker- 
erde. Journ.  f.  Landwirtscb.,  Jahrg.  1912,  S.  III  — 150  und 
S.   197  —  222. 

5.  Felix  Singer,  Über  künstliche  Zeolithe  und  ihren 
konstitutionellen  Zusammenhang  mit  anderen  Silikaten.  Disser- 
tation der  Königl.  Technischen  Hochschule  Berlin,   1910. 

6.  Ilse  Zoch,  Über  den  Basenauslausch  kristallisierter 
Zeolithe  gegen  neutrale  Sahlösungen.  Inaugural-Dissertation 
der   Universität  Berlin,   1915. 

II.  Kr  istallograph  isch  -  chemischer  Ab-  und 

Umbau: 

1.  F.  Rinne,  Kristallographisch- chemischer  Ab-  und 
Umbau  insbesondere  von  Zeolithen.  Fortschr.  d.  Mineral., 
Kristallogr.   u.   Pelrograph.,  3  (1913),  S.   159 — 183. 

2.  G.  T  a  m  m  a  n  n  ,  Über  die  Dampfspannung  von  Hydraten, 
welche  beim  Verwittern  durchsichtig  bleiben.  Wiedem.  Ann. 
d.  Phys.,  63  (1897),  S.  16—22. 

3.  E.  Löwenstein,  Über  Hydrate,  deren  Dampf- 
spannung sich  kontinuierlich  mit  der  Zusammensetzung  ändert. 
Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.,  63  (1909),  S.  69  —  139. 

4.  F.  Grandjean,  Etüde  optique  de  l'adsorption  des 
vapeurs  lourdes  par  certaines  zeolilhes.  Compt.  Rend.,  149 
(1909),  S.  866—868. 

III.  Die  praktische  Verwendung  des  Basen- 

austausches: 

1.  A.  Rümpler,  Über  die  Reinigung  von  Rübensäften 
durch  Silikate.  V.  Internal.  Kongreß  f.  angew.  Chemie,  Bd.  III, 
S.  59-69. 

2.  R.Gans,  Über  die  technische  Bedeutung  der  Permutite 
(der  künstlichen  zeolithartigen  Verbindungen).  Chem.  Industrie, 
32  (1909),  S.   197 — 200. 

3.  A.  Kolb,  Über  Permutit,  dessen  Anwendungen  und 
die  mit  ihm  gemachten  Erfahrungen.  Sozial-Technik,  14(1915), 
Heft  7.     (GX:) 


Naturwissenschafthche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


Einzelberichte. 


Physik.  Mit  der  sogenannten  Verbesserung 
der  Blitzableiter  beschäftigt  sich  L.  WebTr 
TKiel)  in  der  Elektrotechn.  Zeitschr.  1916,  Heft  14. 
Er  gibt  zunächst  einen  kurzen  geschichtlichen 
Überblick  über  die  Anleitungen  für  den  Bau  des 
Blitzableiters,  dessen  Grundgedanke  ja  einfach  der 
ist,  vom  Dachfirst  bis  ins  Erdreich  eine  metallische 
Bahn  anzubringen,  die  den  Blitz  von  anderen  ge- 
fährlichen Wegen  durch  das  Haus  abzieht  und 
ihn  unschädlich  abfließen  läßt.  Eine  Erklärung 
der  Berliner  Akademie  von  1880,  daß  auch  ein 
mangelhaft  angelegter  Blitzableiter  die  Gerährlich- 
keit  des  Blitzschlages  vermindere,  scheint  in 
manchen  Kreisen  in  Vergessenheit  zu  geraten. 
Ja  man  scheint  vielerorts  zu  glauben,  daß  ein 
nicht  ganz  vollkommener  Abieiter  eher  schädlich 
als  nützlich  sei.  Die  Hinweise  des  Württembergers 
Find  eisen  verdienen  Beachtung;  dieser  drang 
mit  Recht  darauf,  daß  an  den  Gebäuden  vor- 
handene Metallgegenstände,  wie  Dachrinnen,  Ab- 
fallrohre,  eiserne  Träger  u.  dgl.  beim  Bau  des 
Blitzableiters  mitverwendet  würden,  um  die  Kosten 
desselben  zu  vermindern  und  damit  seine  Ver- 
breitung zu  fördern.  Man  hat  diese  aus  ökono- 
mischen Gesichtspunkten  geforderten  Verein- 
fachungen wohl  als  „Findeisen'sches  System" 
bezeichnet  und  damit  in  manchen  Volkskreisen 
die  Meinung  erweckt,  als  handele  es  sich  um  die 
Anwendung  neuer  physikalischer  oder  elektro- 
technischer Grundlagen,  durch  welche  die  her- 
kömmlichen und  bewährten  Blitzableiterkonstruk- 
tionen über  den  Haufen  geworfen  würden.  Noch 
bedenklicher  ist  es,  wenn  in  Tageszeitungen  statt 
von  vereinfachten  gelegentlich  von  „verbesserten" 
Blitzableitern  gesprochen  wird.  Es  liegt  im  Inter- 
esse der  Allgemeinheit  und  der  ruhigen  Ent- 
wicklung des  Blitzableiterwesens  vor  solchen  Miß- 
verständnissen zu  warnen. 

Die^  angebliche  Zunahme  der  Blitzgefahr 
untersucht  G.  Hell  mann  in  den^Sitzungs^ 
ber.  d.  kgl.  preuß.  Akademie  der  Wissenschaften 
191 7,  S.  198  auf  Grund  statistischer  Angaben 
über  die  Todesfälle,  die  seit  1869  im  Königreich 
Preußen  durch  Blitzschlag  eingetreten  sind.  Die 
absolute  Zahl  der  jährlich  vom  Blitz  getöteten 
Personen  hat  zugenommen,  berechnet  man  jedoch 
die  auf  eine  Million  Einwohner  entfallende  Zahl 
von  Blitztötungen,  so  findet  man  im  ersten  und 
letzten  Jahrzehnt  des  betrachteten  Zeitraums 
(1871  — 1913)  4,2  bzw.  4,3.  Die  Schwankungen 
in  der  jährlichen  Zahl  hängen  hauptsächlich  von 
der  wechselnden  Gewittertätigkeit  ab.  Beide 
Kurven  zeigen  im  allgemeinen  denselben  Verlauf. 
Plötzliche  An-  und  Abstiege  treten  in  beiden  zur 
selben  Zeit  auf  Hieraus  geht  unzweifelhaft  her- 
vor, daß  die  Blitzge fahr  für  den  Menschen 
in  Preußen  nicht  zugenommen  hat, 
ferner  zeigt  sich,  daß  auch  die  Zahl  der  Gewitter- 
meldungen seit  1891  keinerlei  systematische  Zu- 
nahme erkennen  läßt.  K.  Seh. 


Ähnlich  wie  für  die  Materie  nimmt  man  auch 
für  .die  Elektrizität  einen  atomistischen  Auf- 
bau an;  man  nennt  bekanntlich  die  (negativen) 
Elektrizitätsatome  Elektronen.  Die  Gründe,  die 
zu  diesen  Anschauungen  führen,  sind  im  vorigen 
Jahre  in  der  Naturw.  Wochenschr.  (S.  217 — 220) 
auseinandergesetzt  worden;  sie  beruhen  der 
Hauptsache  nach  auf  Versuchen,  die  von  dem 
amerikanischen  Gelehrten  Millikan  und  seinen 
Mitarbeitern  ausgeführt  worden  sind.  Vor  einer 
Reihe  von  Jahren  hat  der  Wiener  Forscher 
Ehrenhaft  (1909)  Zweifel  an  der  Richtigkeit 
dieser  scheinbar  so  sicher  begründeten  und  unserer 
Vorstellung  außerordentlich  zusagenden  Ansicht 
erhoben;  er  habe  elektrische  Ladungen  nach- 
gewiesen, die  wesentlich  kleiner  sind  als  die 
Ladung  des  Elektrons  (4,7  10  1»}.  Damit  wäre 
natürlich  ein  atomistischer  Aufbau  der  Elektrizität 
nicht  ausgeschlossen ;  man  wäre  lediglich  genötigt, 
das  was  man  bisher  für  ein  Elektrizitätsatom  ge- 
hahen  hat,  das  Elektron,  als  aus  noch  kleineren 
Atomen  zusammengesetzt  anzunehmen.  In  den 
Naturwissenschaften  V,  373  (1917)  gibt 
W.  König  einen  Überblick  dieser  für  unsere 
Grundanschauungen  so  außerordentlich  wichtigen 
Streitfrage.  Beide  Forscher,  Millikan  wie 
Ehrenhaft,  arbeiten  im  Prinzip  nach  demselben 
Verfahren,  indem  sie  ein  elektrisch  geladenes 
Partikelchen  in  das  Feld  eines  kleinen  Konden- 
sators mit  horizontalen  Platten  bringen,  seine 
Bewegung  unter  dem  Einfluß  der  Schwere  und 
der  elektrischen  Kräfte  beobachten  und  aus  der 
beobachteten  Geschwindigkeit  Schlüsse  auf  die 
Größe  seiner  Ladung  und  seine  eigene  Größe 
ziehen,  Millikan  erhält  die  Partikel  durch 
mechanisches  Zerstäuben  von  Flüssigkeiten  (Wasser, 
Öl,  Quecksilber);  sie  haben  einen  Radius  von 
60  bis  5-10-^  cm  (in  der  letzten  Arbeit  1916 
2,5- 10^  cm)  und  werden  mit  einem  Fernrohr 
in  einem  Kondensator  von  20  cm  Plattendurch- 
messer beobachtet.  Bei  den  Versuchen  von 
Ehrenhaft  sind  alle  Dimensionen  kleiner.  Seine 
durch  Zerstäubung  von  Edelmetallen  im  elek- 
trischen Lichtbogen  erhaltenen  Partikel  sind  fast 
alle  kleiner  als  die  kleinsten  von  Millikan  be- 
obachteten, ihre  Radien  liegen  zwischen  2,5  und 
0,6  •  10  ^  cm.  Seine  Kondensatorplatten  haben 
nur  14  mm  Durchmesser,  und  die  Beobachtung 
geschieht  durch  ein  Mikroskop  von  220-  bis 
1 000  facher  Vergrößerung.  Für  die  größeren  seiner 
Teilchen  findet  er  Ladungen,  die  sich  nicht  auf- 
fallend von  den  M  i  1 1  i ka n 'sehen  Werten  unter- 
scheiden; erst  bei  noch  kleineren  wird  das 
Elementarquantum  unterschritten,  das  nach  seiner 
Meinung  wesentlich  kleiner  (0,1  •  10  ^°)  ange- 
nommen werden  muß.  Da  an  der  Richtigkeit 
und  Exaktheit  der  Beobachtungen  der  beiden 
Forscher  nicht  zu  zweifeln  ist,  dreht  sich  der 
Streit  um  eine  Deutung  der  Messungen.  Eine 
wesentliche    Stütze     erhält     die    Millikan 'sehe 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


449 


Ansicht  dadurch,  daß  die  Ladung  des  Elektrons 
auf  verschiedenen,  ganz  anderen  Wegen  (Elek- 
trolyse, Planck'sche  Strahlungsformel,  Zählung 
der  a-Teilchen  radioaktiver  Stoffe)  auch  rund 
gleich  4,7  •10'"  gemessen  wird.  Demnach 
kann  wohl  kein  Zweifel  sein,  daß  dieser 
Wert  der  richtige  ist  —  darüber  ist  sich  die 
Mehrzahl  der  Forscher  einig.  Es  fragt  sich  nun- 
mehr, wo  wir  dem  M  ill  ikan 'sehen  Standpunkte 
beigetreten  sind,  wie  die  Eh  re  n  h  a  ft 'sehen 
Messungen  zu  deuten  sind.  Da  ist  es  nun  zweifel- 
haft, ob  die  Beweglichkeit  der  Teilchen  richtig 
gemessen  ist,  ob  das  Stokes'sche  Gesetz,  das  bei 
dieser  Messung  benutzt  wird,  noch  gültig  ist,  wenn 
die  Teilchen  so  klein  werden  wie  bei  den 
Ehrenhaft 'sehen  Versuchen.  Man  hat  daher 
die  Beweglichkeit  auch  nach  einer  anderen 
Methode  gemessen,  nämlich  unter  Benutzung  der 
Theorie,  die  von  Einstein  für  die  Bro wn'sche 
Bewegung  aufgestellt  ist.  Es  ergibt  sich,  daß 
eine  Übereinstimmung  für  die  beiden 
B  e  r  e  c  h  n  u  n  g  s  a  r  t  e  n  nicht  besteht, 
während  sie  für  die  größeren  Partikel 
Millihan's  vorhanden  ist.  Es  bedarf  dem- 
nach einer  neuen  theoretischen  und  experimen- 
tellen Nachprüfung  der  Gesetze,  die  für  die  Be- 
wegung so  kleiner  Teilchen  in  einem  Gas  be- 
stehen; erst  dann  dürfte  man  in  der  Lage  sein, 
die  Ergebnisse  Ehrenhaft's,  deren  Wert  für  die 
Wissenschaft  nicht  zu  verkennen  ist,  richtig  zu 
deuten  und  die  heute  noch  bestehenden  Wider- 
sprüche zu  beseitigen.  K.  Seh. 

Anthropologie.  Die  Maori.  Die  Plingebornen 
Neu-Seelands  und  der  umliegenden  kleinen  Inseln 
werden  Maori  genannt.  Sie  gehören  zur  polyne- 
sischen  Rasse,  deren  Verbreitungsgebiet  von  Hawaii 
im  Norden  über  Samoa  nach  Neu-Seeland  im 
Süden  und  bis  zur  Osterinsel  im  Osten  reicht;  es 
umfaßt  also  die  Inseln  des  östlichen  Stillen  Ozeans. 
Die  Maori  sind  mittelgroß;  nach  Deniker  be- 
trägt die  durchschnittliche  Körperlänge  der  Männer 
168  cm.  Der  Körperbau  ist  ebenmäßig  und 
muskulös;  man  sieht  weder  zu  schlanke  noch  zu 
dicke  Leute.  Die  Gesichtsbildung  ähnelt  sehr 
jener  der  Europäer,  so  daß  sogar  ein  in  bezug 
auf  Hypothesen  so  vorsichtiger  Anthropologe  wie 
C.  H.  St  ratz')  der  Meinung  zuneigt,  man  habe 
es  hier  mit  einem  versprengten  Stamm  von  rein 
mittelländischer  Rasse  zu  tun.  Wahrscheinlich 
ist  dies  allerdings  nicht,  sondern  es  ist  vielmehr 
Konvergenzähnlichkeit  anzunehmen.  Die  Nase  ist 
mittellang  und  mäßig  hoch,  schmal  bis  mittelbreit 
und  meist  etwas  gebogen.  Die  Lippen  sind 
mittelbreit,  aber  gewöhnlich  doch  etwas  dicker 
als  bei  Europäern.  Die  Stirne  ist  meist  hoch 
und  breit.  Die  Gesichtszüge  werden  häufig  durch 
kunstvolle  blaue  Tätauierungen  etwas  verdeckt, 
aber  auch  unter  dieser  Maske  erkennt  man  den 
kühnen  regelmäßigen  Gesichtsschnitt.     Die  Haut- 


')  Rassenschönheit,  S.  238. 


färbe  ist  gewöhnlich  hellbraun,  wie  die  eines 
reifen  Weizenkornes,  doch  kommen  auch  ziemlich 
dunkelhäutige  Personen  vor.  Th.  MoUison^) 
faßt  diese  dunkelhäutigen  Individuen  —  die  jedoch 
in  bezug  auf  die  Schädelbildung  von  den  hell- 
häutigen nicht  zu  trennen  sind  —  als  einen  au- 
stralisch -  melanesischen  Einschlag  auf  Andere 
polynesische  Gruppen ,  wie  die  Chatam-  und 
Sandwich  Insulaner  (Hawaiier)  zeigen  dasselbe  Bild. 
So  nimmt  Mollison  wohl  mit  Recht  an,  daß 
auf  allen  diesen  Inselgruppen  eine  dunkle  Urschicht 
der  Bevölkerung  vorhanden  war,  als  die  Polynesier 
kamen,  die  sie  dann  zum  Teil  ausrotteten,  zum 
Teil  in  sich  aufnahmen.  Der  Wuchs  des  Kopf- 
haares ist  straff  oder  mehr  oder  weniger  wellig, 
niemals  kraus.  Die  Haarfarbe  ist  bei  der  Mehrzahl 
der  Maori  dunkelbraun,  bei  manchen  Personen  aber 
rot  oder  rotblond  —  ein  Umstand,  der  mit  dazu 
verleitet,  an  ihre  europäische  Herkunft  zu  denken. 

Dem  Charakter  nach  sind  die  Maori  stolz, 
selbstbewußt,  aber  auch  rachsüchtig  und  leicht 
verletzbar.  Diese  Charaktereigenschaften  waren 
gewiß  viel  Schuld  an  den  bis  in  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  andauernden  fortwährenden 
Kämpfen  der  einzelnen  Stämme  untereinander, 
durch  welche  die  Volkszahl  stets  gering  gehalten 
wurde.  Kinder  und  alte  Leute  werden  gut  be- 
handelt. In  geistiger  Beziehung  zeichnen  sich  die 
Maori  durch  Regsamkeit  und  gute  Auffassungs- 
gabe aus.  Das  Temperament  ist,  wie  bei  den 
Polynesiern  überhaupt,  ziemlich  lebhaft,  wenn 
auch  ein  Einschlag  von  Schwermut  nicht  fehlt,  der 
vielleicht  als  l^'olge  einer  melanesischen  Blutbei- 
mischung aufzufassen  ist.  Der  mündlich  überlieferte 
Schatz  erzählender  Dichtungen  ist  ziemlich  reich.  ^) 

Bei  den  Maori  hat  sich  die  Überlieferung  der 
Einwanderung  aus  einem  fernen  Lande  erhalten, 
das  Hawaiki  genannt  wird;  doch  war  es  bisher 
noch  nicht  möglich,  mit  Sicherheit  festzustellen, 
welches  Land  dies  ist.  P.  Smith  nimmt  auf 
Grund  der  Traditionen  der  Maori  und  ihrer 
augenscheinlichen  körperlichen  Verwandtschafts- 
beziehungen an,  daß  sie  aus  Vorderindien  kamen. 
Die  Auswanderung  von  dort  müßte  allerdings  in 
der  vor-buddhistischen  Zeit  erfolgt  sein,  da  weder 
die  Religion  der  Maori,  noch  die  anderer  Polynesier, 
eine  Spur  buddhistischen  Einflusses  erkennen  läßt. 
Schon  sehr  frühzeitig,  etwa  im  5.  oder  6.  Jahr- 
hundert unserer  Zeitrechnung,  waren  Polynesier 
auf  den  Fidschiinseln  ansäßig  und  von  dort 
scheinen  sie  sich  sowohl  nach  Osten  und  Nord- 
osten, wie  nach  Süden,  ausgebreitet  zu  haben. 
Diese  Wanderungen  wurden  durch  die  Meeres- 
strömungen und  die  herrschenden  Windrichtungen 
begünstigt.  Als  kaum  zweifelhaft  gelten  können 
noch  spätere  Wanderungen  von  den  mittelpoly- 
nesischen  Inseln  nach  Neu-Seeland. 

Gewöhnlich  wird  angenommen,  daß  die  Zahl 
der  Maori  zur  Zeit  der  Entdeckung  Neu-Seelands 

')  Mollison,  Beitrag  zur  Kraniologie  und  Osteologie  der 

Miiori.  Zeitschr.  f.  Morphol.  und  Anthropol.,  Bd.  1 1,  S.  529—595. 

2)  Vgl.  „Südseemärchen".     Jena  1916,  Eugen  Diederichs. 


450 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


durch  T  asm  an  (1642)  viel  größer  gewesen  sei 
als  jetzt,  und  daß  infolge  der  Kämpfe  mit  den 
europäischen  Kolonisten  und  infolge  verderblicher 
Einflüsse  der  europäischen  Kultur  die  Einge- 
borenenbevölkerung dieser  Inselgruppe  stark  zu- 
rückging. 1)  In  jüngster  Zeit  hat  sich  die  Zahl 
der  Maori  vermehrt.  Sie  betrug:  1891  42COO; 
1896  40000;  1901  43  100;  1906  477CO  und 
1911  49800;  davon  waren  26500  männlichen  und 
23  300  weiblichen  Geschlechts  —  es  besteht  also, 
wie  bei  fast  allen  „Farbigen",  ein  erheblicher 
IVIännerüberschuß.  Die  Zahl  der  Maori-Mischlinge 
nahm  von  4865  1S91  auf  7060  I911  zu;  von 
diesen  lebten  2873  auf  europäische  Art  und  unter 
Europäern.  Die  Masse  der  Maori  hält  zähe  an 
der  überlieferten  Lebensweise  und  der  Stammes- 
organisation fest.  Nach  und  nach  aber  werden 
sie  doch  europäisiert,  und  zwar  vornehmlich  durch 
den  Einfluß  der  Geistlichkeit.  Die  Kleidung  be- 
stand früher  aus  lose  um  den  Körper  geschlungenen 
Flachsmatten;  jetzt  werden  schon  vorwiegend 
europäische  Kleider  getragen.  Besondere  Ge- 
schicklichkeit und  Kunstfertigkeit  zeigen  die  Maori 
im  Bau  und  in  der  Ausschmückung  ihrer  Wohn- 
häuser und  Boote,  die  reich  mit  Schnitzerei  ver- 
ziert sind.  Heute  ist  diese  Kunst  ebenfalls  schon 
im  Verfall  begriffen.  Vom  Haus-  und  Bootbau 
abgesehen,  hatten  die  Gewerbe  bei  den  Maori 
niemals  große  Bedeutung.  Hackbau  und  Fischerei 
bildeten  in  der  Vergangenheit  die  wichtigsten 
Erwerbsquellen  und  sie  sind  es  heute  noch,  ob- 
zwar  man  sich  auf  selten  der  britischen  Ansiedler 
bemüht,  die  Maori  zum  Übergang  zu  europäischer 
Wirtschaftsweise  zu  veranlassen. 

An  ein  Aussterben  der  Maori,  das  von  manchen 
Autoren  befürchtet  wird,  ist  unter  den  jetzigen 
Verhältnissen  kaum  zu  denken,  da  der  Geburten- 
überschuß, trotz  hoher  Sterblichkeit,  relativ  groß 
ist  und  eine  Zunahme  der  Eingebornen  verbürgt. 
Die  Rassenkreuzung  mit  englischen  Kolonisten 
ist  nicht  umfangreich.  Mehr  gefährdet  werden 
könnte  die  Existenz  der  reinen  Maoribevölkerung 
durch  zunehmende  Einwanderung  von  Ostasiaten 
und  Kreuzung  mit  denselben.       H.  Fehlinger. 

Meteorologie.  Fließt  eine  Flüssigkeit  durch 
eine  Röhre,  so  laufen  die  Stromfäden  nur  parallel 
der  Achse,   solange   die   sogenannte   Reynoldsche 

Zahl  R=  - --^  kleiner  als  rund  2000  ist.    Hierin  ist 

Q  die  Dichte,  v  die  mittlere  Geschwindigkeit,  /<  der 
Reibungskoeffizient  der  P'lüssigkeit,  1  der  Röhren- 
durchmesser. Bei  Überschreitung  des  Grenzwertes 
geht  die  Strömung  in  eine  turbulente  über,  die 
einzelnen  Flüssigkeitsteilchen  bewegen  sich  in 
Wirbelfäden.  In  der  freien  Atmosphäre  sind  nun 
die  Verhältnisse  derart,  daß  immer  Turbulenz 
auftritt,  d.  h.  die  Luftströmung  findet  stets  in 
mehr  oder  minder  heftigen  Windstößen  statt. 
A.    Wegener    (Meteorol.   Zeitschr.    191 2,    S.  49) 

')  Vgl.  z.  B.  Buschan,  „Völkerkunde",  Seite  213.  — 
K.  und  L.  J.  Stout,  New  Zealand,  Seite  83 ;  Cambridge  1911. 


hat  zuerst  auf  die  Bedeutung  dieser  Erscheinung 
für  die  atmosphärische  Zirkulation  hingewiesen. 
E.  Barkow  hat  gezeigt  (Meteorol.  Zeitschr.  1915, 
S.  97),  daß  die  Größe  der  einzelnen  Windstöße, 
der  Turbulenzelemente,  etwa  proportional  der 
Windstärke  ist.  Um  nun  die  Beziehungen  zwischen 
Turbulenz  und  Windänderung  mit  der  Höhe  in 
übersichtlicherer  Form  darstellen  zu  können,  führt 
Barkow  (Ann.  d.  Hydrograph.  45,  1917,  S.  i)  den 
neuen  Begriff  des  „Turbulenzkörpers"  ein.  Er  stellt 
einen  Mittelwert  der  Ausschläge  der  einzelnen 
Lufiteilchen  von  der  Mittellage  dar.  Er  hat  mithin 
eine  ähnliche  Bedeutung  wie  die  mittere  freie  Weg- 
länge der  Moleküle  in  der  kinetischen  Gastheorie. 
Der  Turbulenzkörper  wird  eine  Kugel,  wenn 
die  Größe  der  Bewegungen  in  horizontaler  und 
vertikaler  Richtung  gleich  ist.  Dies  ist  der  Fall, 
wenn  die  Temperaturverteilung  in  der  Atmosphäre 
adiabatisch  ist.  Beträgt  aber  die  Temperatur- 
abnahme weniger  als  i"  pro  100  m,  so  bleibt  die 
horizontale  Bewegung  ungeändert,  dagegen  ist  ein 
Luftteilchen  am  unteren  Ende  seiner  Bahn  im 
Mittel  zu  warm,  am  oberen  zu  kalt.  Die  vertikale 
Bewegung  ist  also  gehemmt.  Der  Turbulenzkörper 
wird  demnach  ein  abgeplatteter  Rotationskörper 
sein.  Die  Abplattung  wird  um  so  stärker,  je  kleiner 
der  Temperaturgradient  ist;  besonders  stark,  wenn 
er  negativ  ist,  d.  h.  in  den  Inversionsschichten. 
Die  Turbulenzkörper  benachbarter  Raumteile 
werden  einander  durchdringen,  so  daß  benachbarte 
Luftschichten,  zwischen  denen  in  der  Regel  eine 
gewisse  Geschwindigkeitsdifferenz  besteht,  einander 
beeinflussen  werden.  Dies  wird  um  so  mehr  der 
Fall  sein,  je  ausgedehnter  die  Turbulenzkörper  in 
vertikaler  Richtung  sind.  Die  Reibung  wird  dem- 
nach um  so  größer,  je  größer  der  vertikale 
Temperaturgradient  in  der  Atmosphäre  ist.  Sind 
die  Turbulenzkörper  flach,  so  ist  eine  größere 
Anzahl  zur  Ausfüllung  des  Raumes  zwischen  den 
Schichten  nötig,  es  kann  ein  größerer  Windsprung 
auftreten.  Setzt  in  einem  aufsteigenden  Luftstrom 
Kondensation  des  Wasserdampfes  ein,  so  vermindert 
sich  damit  plötzlich  der  Temperaturgradient  um 
etwa  die  Hälfte;  die  Turbulenzkörper  werden  ent- 
sprechend flacher.  Daher  wird  auch  häufig  an 
Wolkengrenzen  eine  sprungweise  Windzunahme 
beobachtet. 

In  der  freien  Atmosphäre  können  die  Turbulenz- 
bewegungen ungestört  verlaufen.  Bei  Annäherung 
an  den  Erdboden  muß  sich  jedoch  der  Turbulenz- 
körper in  immer  kleinere  Wirbel  auflösen.  Die 
Reibung  wird  hier  also  immer  kleiner.  Die  Be- 
einflussung beginnt  erst  merklich  zu  werden  in 
einer  Höhe  über  dem  Erdboden,  die  der  Größen- 
ordnung des  Turbulenzkörpers  entspricht.  In  den 
winterlichen  Hochdruckgebieten  mit  den  stark 
ausgebildeten  nächtlichen  Bodeninversionen  muß 
deshalb  schon  in  geringer  Höhe  die  Wind- 
geschwindigkeit ziemlich  groß  sein.  Bei  zu- 
nehmendem Temperaturgradienten  tritt  dann  ein 
Ausgleich  ein ;  die  Geschwindigkeit  wird  am  Boden 
größer  und  in  der  Höhe  geringer.       Scholich. 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


4SI 


Bücherbesprechungen. 


Schwarzschild,    K.,    Dr.,    Über    das    System 
der  Fixsterne.     Mit  13  Fig.  im  Text.    Berlin 

I  und  Leipzig   1916,  Teubner.  —    i   M. 

I  Das  Heft  ist  das  erste  der  von  der  Urania  in 

Berlin  herausgegebenen  Sammlung  naturwiss. 
Vorträge  und  Schriften  und  unveränderter,  nur 
mit  einigen  besseren  Bildern  versehener  Abdruck 
der  Ausgabe  von  1909.  Wir,  die  wir  um  den 
vor  kurzem  an  den  Folgen  des  Krieges  vorzeitig 
verstorbenen  großen  Gelehrten  trauern,  freuen 
uns,  daß  dies  sein  gedankenreiches  Weik  eine 
neue  Ausgabe  verlangt.  Die  4  Vorträge,  vom 
Fernrohr,  über  Lambert's  kosmologische  Briefe, 
über  das  System  der  Fixsterne  und  vom  Universum, 
geben  weit  mehr,  als  der  anspruchslose  Titel  an- 
deutet. Jedes  Thema,  auch  das  historische  zweite 
steht  auf  der  Höhe  modernsten  Wissens,  und  ist 
reich  an  wichtigen  Ideen  und  Tatsachen,  die  in 
der  glänzendsten  Weise  übermittelt  werden. 

Riem. 

Jacobsthal,  Walther,  Prof.  Dr.,  Mondphasen, 
Osterrechnung  und  ewiger  Kalender. 
116  S.  Berlin  191 7,  Springer.  —  2  M. 
Auch  ein  Werk,  das  nur  bei  den  Hunnen  ge- 
schrieben werden  konnte,  dessen  Verfasser  als 
Hauptmann  und  Kompagnieführer  im  Felde  steht, 
und  das  den  feldgrauen  Freunden  zugeeignet  ist, 
von  denen  der  Verfasser  weiß,  wie  sie  oft  nach 
geistiger  Nahrung  hungern  und  auch  bisweilen 
mit  Nutzen  angeben  möchten,  wanp  eine  be- 
stimmte Mondphase  eintritt.  Anknüpfend  an  die 
Gaußische  Osterformel  zeigt  der  Verfasser  den 
Weg,  wie  man  zu  deren  und  ähnlicher  F"ormeln 
Ableitung  gelangen  kann ,  um  zum  Schluß  eine 
eigene  bequeme  zu  bringen.  Auf  diesem  Wege 
aber  gewinnt  er  eine  Anzahl  interessanter  Er- 
gebnisse nebenher,  die  das  Buch  auch  für  den 
angehenden  Mathematiker,  ja  für  die  Schüler  der 
höheren  Lehranstalten  wertvoll  machen,  indem  sie 
Leben  in  die  Mathematik  bringen,  besonders  in 
einige  wenig  gelehrte  Zweige  der  einfachen 
Zahlentheorie.  Den  Schluß  bildet  eine  Oster- 
tabelle  von  1582— 1999.  Riem. 


Müller,  P.  I.,    Sludienrat  Prof.,    Kepler's    und 
Newton 's     Gesetze     über     die     Bewe- 
gungen   im    Sonnenrauine    im    Lichte 
der   Strahlendruck-    und    Ätherdruck- 
theorie.      Wien,      Teschen,      Leipzig    1916, 
K.  Prochaska. 
Ein  höchst  unerfreulicher  Genuß  des  auf  diesem 
Gebiete    schon    bekannten    Verfassers.      Wenn    er 
behauptet,  daß  die  Kepler'schen  und  Newton- 
schen  Gesetze,   weil    nicht    auf  dem  Gebiete    der 
Physik  und  Chemie  fußend,    als  Irrlehren    zu  ver- 
werfen seien,    und  daß    der   Pythagoras   diejenige 
mathematische  Idee  sei,    die  die  Bedingungen  er- 
möglicht, unter  denen  sich  organisches  Leben  bis 


zur  höchsten  Stufe  entwickeln  und  bestehen 
könne,  so  fragt  man  sich  entsetzt,  wo  denn  da 
der  Fehler  liegt.  Man  findet  ihn  darin,  daß  die 
Gravitation  nicht  erklären  kann,  woher  die  tangen- 
tiale Bewegung  der  Planeten  um  die  Sonne  kommt! 
Gerade  als  wenn  das  nicht  ein  kosmologisches 
Problem  wäre.  Wir  verlangen  doch  auch  nicht 
von  der  Physik,  anzugeben,  woher  Kraft  und 
Materie  kommen.  Verfasser  berechnet  die  Erd- 
atmosphäre zu  42162,59  km- Höhe  I!  und  erhält 
damit  das  spezifische  Gewicht  der  Erde  zu 
0,0125017!!  und  ähnliche  Unbegreiflichkeiten  mehr. 
Und  das  bei  der  jetzigen  Papierknappheit. 

Riem. 

Lietzmann,  W.,  Dr.,  Riesen  und  Zwerge 
im  Zahlenreich.  Mit  18  Fig.  im  Text. 
Mathematische  Bibliothek,  Heft  25.  Leipzig  und 
Berlin  1916,  Teubner.  —  0,80  M. 
Das  Büchlein  erfüllt  den  ihm  zugeschriebenen 
Zweck,  durch  seine  Plaudereien  kleinen  und  großen 
Freunden  der  Rechenkunst  in  diesen  trüben  Zeiten 
einige  fröhliche  Stunden  zu  bereiten,  im  höchsten 
Maße.  Nicht  nur  die  vergnügliche  Art  der  Dar- 
stellung, sondern  auch  die  oft  verblüffenden  und 
unerwarteten  Ergebnisse  der  scheinbar  ganz  ein- 
fachen Aufgaben  ziehen  immer  wieder  an,  und 
reizen  dazu,  auch  andere  mit  den  eben  gewonnenen 
Kenntnissen  ins  Erstaunen  zu  versetzen,  oder 
hineinzulegen.  Wer  hätte  je  daran  gedacht,  die 
Moleküle  eines  Kubikzentimeters  als  Perien  anzu- 
ordnen oder  auf  einem  Tisch  auszubrehen  und  zu 
überlegen,  wie  lang  die  Schnur  wird  oder  wie 
groß  der  Tisch  sein  muß!  Solche  Scherze,  zum 
Teil  auch  bekannte,  wie  die  Sandrechnung  des 
Archimedes,  sind  hier  so  hübsch  vereinigt,  daß 
jeder  Lehrer  froh  sein  wird,  die  Mathematikstunde 
mit  den  hier  gegebenen  Gewürzen  schmackhafter 
zu  machen.  Riem. 

Kunkel,  K.,  Zur  Biologie  der  Lungen- 
schnecken. Heidelberg  1916. 
Will  man  dem  Buch  Künkel's,  seinem 
Lebenswerk,  voll  und  ganz  gerecht  werden,  so 
muß  man  die  ungewöhnlichen  Umstände  würdigen, 
unter  denen  dieses  Werk  entstanden  ist.  In  dem 
Vorwort  erfahren  wir  von  Kunkel,  daß  ihn 
das  Schneckenfutter  allein  während  seiner  Unter- 
suchung mehrere  Tausend  Mark  gekostet  hat. 
Daß  er  aber,  ganz  unbemittelt,  hierbei  auf 
seinen  Gehalt  als  Seminarlehrer  angewiesen  war, 
und  daß  er  daher  seinen  letzten  Sparpfennig  für 
die  Schnecken  hingab,  wußten  nur  die  Einge- 
weihten. Diese  finanziellen  Opfer  sind  ja  nicht 
das  Wichtigste.  Dennoch  spreche  ich  von  ihnen 
zuerst,  denn  sie  bleiben  immer  ein  guter  Prüfstein 
des  Idealismus. 

Als  sein  Lebenswerk  darf  Kunkel  diese 
Publikation  bezeichnen,  obwohl  sie  nur  die  Früchte 
seiner  freien,   neben   seinem  anstrengenden  Beruf 


452 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


erübrigten  Zeit  darstellt.  Über  15  Jahre  hat  er 
daran  mit  nimmermüder  Begeisterung  gearbeitet. 
Wer  ihn  kennt  und  damals  schon  kannte  ist  bei- 
nahe versucht  zu  sagen,  daß  er  der  Sklave  seiner 
Schnecken  wurde.  Aber  damit  würde  man  das 
Wesentliche  nicht  treffen :  er  war  der  Sklave  seines 
Forschungstriebes. 

Die  Ergebnisse  seiner  Arbeit  sind  gleich  be- 
deutungsvoll für  den  Morphologen,  den  Systema- 
tiker, den  Biologen  und  den  Physiologen,  und 
auch  dem  experimentellen  Zoologen  bieten  sie 
viel  Anregung.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  dieses 
Werk  über  den  Kreis  der  Fachzoologen  hinaus 
recht  weite  Verbreitung  fände.  Möge  es  anderen 
Lehrern  ein  Beispiel  sein,  wie  ein  jeder  neben 
seinem  Beruf  der  Wissenschaft  Wertvolles  leisten 
kann,  wenn  sich  nur  mit  klarem  Denken  Forscher- 
drang und  Selbstkritik  in  glücklicher  Weise  ver- 
binden. Künkel's  Werk  mag  ihnen  zeigen,  wie 
weit  sich  auch  eine  groß  angelegte  Untersuchung 
vertiefen  und  fruchtbringend  durchführen  läßt, 
auch  wenn  die  modernen  Hilfsmittel  nicht  in 
vollem  Umfange  zu  Gebote  stehen. 

Der  erste  Teil  des  Buches  behandelt  die 
Wasser- Aufnahme  und  Abgabe  und  die  Bedeutung 
des  Wassers  im  Organismus. 

Der  Schleim,  den  die  Schnecken  ausscheiden, 
ist  in  hohem  Maße  quellungsfähig.  Wasserarmer 
Schleim  klebt  nicht  nur  an  der  Unterlage,  sondern 
auch  an  dem  Körper  der  Schnecke  und  erschwert 
so  die  Kriechbewegungen  oder  hebt  sie  ganz  auf. 
Wasserarme  Schnecken  vermögen  aus  der  mit 
Wasserdampf  gesättigten  Luft  kein  Wasser  auf- 
zunehmen. Bei  Beträufelung  mit  Wasser  können 
Nacktschnecken  durch  die  Haut  bis  zu  74  "/o  ihres 
Körpergewichts  Wasser  aufnehmen.  Das  auf  diesem 
Wege  gewonnene  Wasser  genügt  jedoch  nicht  um 
die  Schnecke  dauernd  am  [.eben  zu  erhalten.  Dies 
spricht  dafür,  daß  das  durch  die  Haut  aufgenommene 
Wasser  nicht  beliebig  im  Körper  verwendet 
werden  kann,  sondern  an  die  peripheren  Bezirke 
gebunden  bleibt,  d.  h.  also,  daß  es  nicht  ins  Blut 
übergeht.  Dies  wird  durch  Versuche  mit  Salz- 
lösungen erhärtet.  Durch  den  Mund  vermögen 
wasserarme  Nacktschnecken  bis  zu  dem  4,3  fachen 
des  Körpergewichts  Wasser  aufzunehmen.  Die 
Gehäuseschnecken  stehen  in  dieser  Hinsicht  be- 
deutend zurück.  Sie  sind  andererseits  auch  gegen 
Wasserabgabe  besser  geschützt  als  die  Nackt- 
schnecken. 

Nur  sehr  wasserreiche  Schnecken  sind  fähig, 
Wasser  durch  die  Haut  auszupressen.  Der  weit- 
aus größte  Teil  des  von  den  Schnecken  getrunkenen 
Wassers  wird  durch  Verdunstung  abgegeben.  Bei 
hohem  Wassergehalt  ertragen  Nacktschnecken 
einen  Wasserverlust  bis  zu  80  "/^  des  Körper- 
gewichts. Die  Austrocknungsfähigkeit  der  Ge- 
häuseschnecken ist  viel  geringer.  Das  verschlossene 
Gehäuse  ist  ein  sehr  wirksamer  Schutz  gegen  die 
Wasserverdunstung.  Bei  einer  Nemoralis  betrug 
der  Gewichtsverlust  der  kriechenden  Schnecke  in 
derselben  Zeit  (16  Minuten)  44  mal  so  viel  als  bei 


der  in  geschlossenem  Gehäuse  ruhenden.  Helix 
arbustorum  vermag  bis  zu  58"/,,  ihres  Gewichts 
an  Wasser  zu  verlieren  ohne  Schaden  zu  nehmen. 
Die  in  Winterruhe  liegenden  Schnecken  enthalten 
eine  relativ  geringe  Menge  Wasser.  Dadurch  wird 
der  Stoffwechsel  stark  herabgesetzt.  Der  Gewichts- 
verlust der  Schnecken  in  der  Winterruhe  wird 
beinahe  ausschließlich  durch  Wasserabgabe  be- 
dingt. Die  Kohlensäureabgabe  liefert  nur  mini- 
male Beträge. 

Nur  wenn  die  Tiere  durch  reichliche  Wasser- 
aufnahme über  die  nötige  Blutmenge  verfügen, 
sind  sie  imstande  die  Kopulationsorgane  auszu- 
stülpen. Bei  genügendem  Wasservorrat  bleibt  das 
Sperma,  das  ein  Tier  bei  der  Kopulation  emp- 
fangen hat ,  mindestens  ein  volles  Jahr  lebens- 
und  befruchtungsfähig.  Die  Eier  wasserreicher 
Tiere  haben  eine  straffe  Eihülle,  die  wasserarmer 
Tiere  weisen  eine  schlaffe  Hülle  auf  Wasserreiche 
Limax  legen  ihre  Eier  einzeln  ab,  bei  wasser- 
armen hängen  sie  perlschnurartig  zusammen.  Zu 
geringer  Wassergehalt  macht  die  Eiablage  un- 
möglich. 

Das  durch  die  Haut  aufgenommene  Wasser 
wird  durch  die  Drüsenöffnungen  von  dem  Drüsen- 
schleim aufgesaugt.  Fori  aquiferi  konnten  nicht 
nachgewiesen  werden.  In  das  Blut  gelangt  das 
durch  die  Haut  aufgenommene  Wasser  nicht, 
sondern  nur  in  die  Schleimdrüsen  und  in  die 
Gewebe  der  Körperwand. 

Der  zweite  Teil  des  Buches  berichtet  über 
Zuchtversuche,  die  interessante  Ergebnisse  der 
verschiedensten  Art  lieferten.  Wie  Lang  so  er- 
hielt auch  Kunkel  von  linksgewundenen  Stamm- 
eltern ausschließhch  rechtsgewundene  Nachkommen. 

Nach  eingetretener  Geschlechtsreife  sind  die 
männlichen,  nicht  aber  auch  die  weiblichen  Ge- 
schlechtszellen entwickelt.  Bei  der  Kopula  wird 
das  Sperma  stets  gleichzeitig  übertragen.  Aktive 
Bewegungen  der  Spermatozoen  von  Arionen 
wurden  nie  beobachtet.  Sie  wandern  passiv  von 
der  Zwitterdrüse  zum  Zwittergang  und  von  da 
zum  Epiphallus,  wo  sie  zu  einer  Sparmatophore 
vereinigt  werden.  Nachdem  das  Sperma  über- 
tragen ist,  wird  im  Receptaculum  der  Schwanz- 
faden samt  dem  Achsenfaden  aufgelöst,  und  man 
findet  bald  nur  noch  Spermienköpfe,  die  ebenfalls 
unbeweglich  sind.  Erst  in  diesem  Zustande 
scheinen  sie  begattungsfähig  zu  sein.  Sonst  müßte 
stets  eine  Selbstbefruchtung  eintreten,  da  zur  Zeit 
der  Eiablage  Zwittergang  und  Divertikel  noch 
reichlich  eigene  geschwänzte  Spermatozoen  ent- 
halten. 

Schließt  man  eine  Limax  von  der  Kopulation 
mit  einem  anderen  Tier  aus,  so  findet  man  trotz- 
dem bei  geschlechtsreifen  Tieren  das  Receptaculum 
mit  Sperma  erfüllt,  das  bald  wie  fremdes  Sperma 
den  Schwanzfaden  verliert.  Dieses  eigene  Sperma 
ist  in  normaler  Weise  befähigt,  die  Eier  zu  be- 
fruchten. Die  F"urchung  und  die  Embryonal- 
entwicklung der  selbstbefruchteten  Eier  verläuft 
normal    (96  %    der  Eier    entwickelten  sich).     Daß 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


453 


die  Eier  wirlthch  befruchtet  waren ,  ist  aus  der 
Ausstoßung  beider  Richtungskörperchen  zu 
schließen. 

Es  findet  also  bei  diesen  Tieren  Selbstbe- 
fruchtung   und    zwar   ohne  Selbstbegaltung   statt. 

Damit  sind  die  wesentlichsten  Ergebnisse 
wiedergegeben.  Eine  reiche  Fülle  von  Beobach- 
tungen konnten  hier  nicht  ausführlich  behandelt 
werden.  So  Ermittelungen  des  Lebensalters,  der 
Widerstandsfähigkeit  gegen  Hunger,  Kälte,  Er- 
trinken, ferner  Beobachtungen  über  den  Winter- 
schlaf, über  die  Blutzusammeiisetzung,  über  die 
Embryonalentwicklung.  Bei  den  Zuchtversuchen 
wird  die  Pflege  dieser  Tiere  näher  erläutert,  wir 
erfahren  mancherlei  über  die  Nahrung,  über  die 
Unterbringung.  Es  folgen  Angaben  über  die 
Kopulation,  Eiablage,  über  Wachstumsperiode, 
Gehäusewachstum,  Vererbung  von  Pigment  und 
Pigmentlosigkeit.  Hierbei  hat  sich  ergeben,  daß 
Arion  rufus  und  ater  nur  eine  Art  sind.  Es 
schließen  sich  Versuche  über  die  Beeinflussung  der 
Farbe  durch  das  Futter  an.  Die  Humussäure 
scheint  hierbei  eine  bedeutsame  Rolle  zu  spielen. 
R.  Demoll. 


Bolle,  J.,   Direktor  i.  R.  der   k.  k.   landw.  ehem. 
Versuchsstation  in  Görz,  Österreich:    Die  Be- 
dingungen     für      das     Gedeihen      der 
Seidenzucht      und     deren     volkswirt- 
schaftliche Bedeutung.    4.  Flugschrift  der 
deutschen    Gesellschaft    für    angewandte    Ento- 
mologie.    Mit  33  Textabbildungen.    Verlag  von 
Paul  Parey  in  Berlin  SW,  Hedemannstr.   10.  — 
Preis   1,60  M. 
Nach       statistischen       Angaben      verbrauchte 
Deutschland    vom    Jahre    1908 — 1910    im    Durch- 
schnitt jährlich  3502000  kg  Rohseide,   die  sämt- 
lich   aus    dem   Ausland    bezogen    wurden.      Nicht 
immer  lagen  die  Verhältnisse  so,  daß  in  Deutsch- 
land   überhaupt    keine    Seide    erzeugt    wurde.     In 
vielen    Gegenden,    besonders    in    Süddeutschland 
finden    sich    noch    Maulbeerbäume,    die    in    einer 
Zeit    angebaut  worden  waren,    als    die  Zucht  der 
Seidenraupe  eine  gewisse  wirtschaftliche  Bedeutung 
besaß.     Es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  die  Seiden- 
raupenzucht   bei    uns    lediglich    aus    äußerlichen 
Gründen  wieder  aufgegeben  wurde.    Einer  gedeih- 
lichen Entwicklung   standen  vielmehr    gewichtige 
sachliche  Hindernisse  im  Weg,    die    zum  Teil  im 
Fortkommen  der  Seidenraupen  in  unserem  Klima, 
zum  Teil    in  der  wirtschaftlichen  Rentabilität  der 
Zuchten  lagen. 

Schon  der  Gegensatz  zwischen  Erzeugung  und 
Verbrauch,  dann  der  Umstand,  daß  das  Ausland 
keine  Seide  mehr  liefern  kann,  noch  mehr  aber 
das  Bestreben,  unseren  Kriegsinvaliden  einen 
lohnenden  Erwerb  zu  sichern,  hat  den  Gedanken 
reifen  lassen,  neuerdings  zu  versuchen,  den  Seiden- 
bau in  Deutschland  heimisch  zu  machen.  Es  ist 
ja  nicht  ausgeschlossen,  daß  das  Zusammenarbeiten 
wissenschaftlicher  und  praktischer  Sachverständiger 
unter    den    heutigen    Bedingungen    es    ermöglicht. 


daß  die  Fehlschläge  einer  vergangenen  Zeit  ver- 
mieden werden.  Auf  der  einen  Seite  wird  mit 
Eifer  für  die  Idee  Stimmung  gemacht,  auf  der 
anderen  Seite  warnend  abgeraten.  Bei  der  Un- 
klarheit der  Meinungen  ist  die  vorliegende  un- 
parteiische Schrift  Bolle's  von  besonderem  Wert, 
der  als  einer  der  besten  Kenner  der  Seidenzucht- 
probleme gilt  und  durch  langjährige  Erfahrung 
sowie  durch  persönliche  Anschauung  der  Ver- 
hältnisse ausländischer  Seidenbaubezirke  in  der 
Lage  ist,  ein  maßgebendes  Urteil  zu  fällen. 

Bolle  gibt  kein  Gutachten  ab,  ob  sich  der 
Seidenbau  in  Deutschland  rentieren  wird  oder 
nicht.  Er  legt  ganz  allgemein  die  Bedingungen 
klar,  unter  denen  ein  erfolgreicher  Betrieb  möglich 
ist.  „Die  Seidenzucht  kann  nur  dort  gedeihen, 
wo  jene  Bedingungen  vorhanden  sind,  welche 
ihren  Betrieb  in  großem  Maßstabe,  sowie  ihre 
weitere  Ausbreitung  ermöglichen.  Vor  allem  ist 
es  nötig,  daß  ausgedehnte  und  gut  kultivierte 
Anlagen  von  Maulbeerbäumen  das  erforderliche 
Laub  in  genügender  Menge  und  guter  Qualität 
liefern.  Dann  muß  durch  eine  rationelle  Aufzucht 
der  Seidenraupe  eine  quantitativ  und  qualitativ 
entsprechende  Kokonsernte  gesichert  werden  und 
schließlich  muß  diese  eine  solche  Verwendung 
finden,  daß  der  Seidenzüchter  einen  sicheren  und 
gewinnbringenden  Verdienst  in  Geld  für  seine 
Mühe  erziele."  Diese  verschiedenen  Bedingungen 
werden  in  einzelnen  Kapiteln  nacheinander  durch- 
gesprochen. Jedes  Land,  das  die  Seidenzucht  neu 
einführen  will,  wird  die  Nutzanwendung  aus  den 
allgemein  gehaltenen  Darlegungen  ziehen  können. 

Welche  Bedeutung  die  Nahrung  für  die  Raupen 
spielt,  geht  am  besten  aus  der  folgenden  Über- 
legung hervor:  Etwa  30  g  Seidenraupeneier 
(Samen)  liefern  etwa  42000  Räupchen.  Für  ihre 
Aufzucht  benötigt  man  10 — 12  Meterzentner  Laub 
oder  25  bis  30  Maulbeerbäume  in  vollster  Ent- 
wicklung. Wie  die  Obstbäume  müssen  daher  die. 
Maulbeerbäume  gut  gepflegt  und  gedüngt  werden, 
wenn  sie  guten  Ertrag  liefern  sollen.  In  Süd- 
europa werden  sie  in  eigenen  Kulturen  oder  längs 
der  Straßen  und  Feldwege  gepflanzt.  Die  Blätter 
werden  entweder  abgestreift  oder  samt  den 
Zweigen  abgeschnitten. 

Da  die  Bäume  in  kälteren  Gegenden  zu  spät 
ausschlagen  und  überhaupt  etwa  erst  nach 
6 — 7  Jahren  ertragsfähig  werden,  wird  von  vielen 
Seiten  als  Ersatz  die  Schwarzwurzel  empfohlen. 
Bolle  rät  auf  Grund  seiner  Aufzuchtversuche, 
die  geradezu  kläglich  verliefen,  und  seiner  Be- 
obachtungen in  anderen  Gebieten  ganz  davon  ab. 
Die  Raupen  fressen  wenig,  bleiben  in  der  Ent- 
wicklung zurück,  werden  leicht  krank  und  liefern 
keine  marktfähigen  Kokons. 

Die  Aufzucht  kann  überall  dort  betrieben 
werden,  wo  bei  genügender  Nahrung  für  die  Tiere 
Zuchträume  mit  Heizvorrichtung  vorhanden  sind, 
da  die  Raupen  eine  Wärme  von  21  "  C  bean- 
spruchen. Ein  besonders  wichtiger  Faktor  ist  die 
Auswahl    der  Rasse.     Sie    muß    vor   allem   gegen 


454 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  Schlaft'sucht  widerstandsfähig  sein.  Mehr  als 
eine  Unze  Samen,  d.  h.  30  g  kann  eine  Familie 
nicht  aufziehen;  denn  zur  Zeit,  wo  sich  die 
Raupen  verpuppen  wollen,  haben  Mann  und  Frau, 
ein  erwachsener  Jüngling  oder  zwei  Knaben  oder 
Mädchen  eine  unausgesetzte  fleißige  Arbeit  zu 
versehen,  die  nur  kurz  von  den  notwendigsten 
Hausarbeiten,  vom  Essen  und  Schlafen,  unter- 
brochen werden  darf.  Zuerst  alle  zwei,  später 
alle  drei  oder  vier  Stunden  muß  Futter  gereicht 
werden ,  täglich  erfolgt  eine  Umbettung  der 
Raupen  vom  alten  zum  neuen  Futter,  für  Rein- 
lichkeit, Lufterneuerung  und  Heizung  ist  zu  sorgen. 
Dazu  kommt  neben  manchem  anderen  die  Vor- 
bereitung der  Hürden,  wenn  sich  die  Raupen 
einspinnen  wollen,  und  nach  etwa  acht  Tagen  die 
Auslese  der  Kokons,  von  denen  nur  ein  Teil 
tadellos  und  preiswert  ist.  Bei  rationeller  Züchtung 
werden  von  30  g  Samen  etwa  60  kg  solcher 
Kokons  erzielt.  Abzüglich  aller  Auslagen  liefern 
sie  einen  Gewinn  von  etwa  100  M.,  ein  geringer 
Lohn  für  die  Mühe,  die  die  ganze  Aufzucht  ver- 
ursacht. Daraus  folgt,  daß  die  Seidenzucht  nur 
dort  einträglich  ist,  wo  nicht  für  andere  Arbeiten 


hohe  Löhne  bezahlt  werden  oder  wo,  wie  auf 
dem  Lande,  billige,  zum  Teil  kostenlose  Arbeits- 
kräfte zur  Verfügung  stehen. 

Die  Verarbeitung  der  Kokons  zu  Seidenstoffen 
kann  bei  uns  als  Hausindustrie  nicht  betrieben 
werden.  Sie  wird  am  besten  von  größeren  Firmen 
oder  Anstalten  übernommen,  die  das  Abtöten 
der  Schmetterlinge,  das  Abhaspeln  der  Fäden,  die 
Gewinnung  gesunden  Samens  und  die  Auslese 
besonders  leistungsfähiger  Rassen  betreiben. 

Biologische  und  wirtschaftliche  Umstände  sind 
es  also,  die  wohl  erwogen  werden  müssen,  wenn 
die  Seidenzucht  in  einem  Lande  auch  wirtschaft- 
liche Bedeutung  erlangen  soll.  Grundbedingung 
ist  Futter  in  genügender  Menge  und  gesunder 
Seidenraupensamen.  Dazu  kommt  noch,  daß  die 
Bevölkerung  willig  sein  muß,  sich  einer  nicht 
mühelosen  Arbeit  mit  Eifer  und  Liebe  zu  widmen. 

Welche  Erfolge  die  Seidenzucht  erreichen  kann, 
wenn  diese  Bedingungen  erfüllt  sind,  lehrt  deutlich 
das  Beispiel  der  Wiedereinführung  der  Seidenzucht 
in  Ungarn,  wo  das  Unternehmen  staatlich  orga- 
nisiert und  finanziert  ist.  Stellwaag. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zunahme  von  Tierarten  im  Kriege.  Benecke  in  Bad 
Schmiedeberg  erwähnt,  daß  dort  die  Wachtel  und  bei 
Wittenberg  die  Nachtigall  neuerdings  wieder  zahlreicher  ge- 
worden sei,  und  möchte  es  auf  verminderte  Nachstellungen 
während  des  Krieges  zurückführen.  Unsere  Wachteln  wandern, 
wie  Röhrig  nachgewiesen  hat,  im  Winter  nach  Ruflland; 
auch  dort  könnten  sie  jetzt  weniger  gefangen  werden  als  in 
Friedenszeit  (Ornithologische  Monatsschrift,  1917,  S.  148 — 150). 
Es  wären  also  Parallclfälle  zu  dem  neulich  von  der  Elster 
hier  erwähnten.  Es  wird  auch  über  Zunahme  der  Fuchsplage 
in  manchen  Gegenden  geklagt  sowie  über  die  immer  zahl- 
reicher auftretenden  ,, Fixköter"  und  verwilderten  Katzen. 
_Auch  das  sind  Folgen  des  Kriegs,  insbesondere  des  fehlenden 
Abschusses,  wie  bei  der  Elster.  Schon  einige  Stellvertretende 
Generalkommandos  sahen  sich  veranlaßt,  dem  durch  wildernde 
Hunde  veranlaßten  Schaden  durch  besondere  Verordnungen 
entgegenzuwirken.  Gleich  der  Elster  sind  Wachtel,  Nachtigall, 
verwilderte  Katzen,  Fuchs  und  ,, Fixköter"  im  besetzten  Westen 
und  wenigstens  die  beiden  letzteren  auch  im  Osten  viel  zahl- 
reicher als  in  Deutschland  vorhanden.  V.   Franz. 

Ein  weiterer  Nachtrag  zu  den  Katastrophen  von  Krakatau 
und  Santiago.  '|  Die  Krakalau-Explosion  soll  am  26.  August 
1SS3  eine  Neben-  oder  genauer  Vorläufererscheinung  an  der 
Unterelbe  gehabt  haben.  Nach  dem  Altonaer  Schriftsteller 
Th.  Overbeck  soll  am  Vormittage  dieses  Sonntags 
gegen  10  '/j  Uhr  der  große  Kronleuchter  der  Hauptkirche 
Altonas  in  Schwingungen  geraten  sein.  Der  Vorfall  hätte 
solchen  Eindruck  gemacht,  daß  der  amtierende  Prediger,  Herr 
Pastor  Köster,   den   Gottesdienst  unterbrochen  habe. 

Dieser  Bericht  fesselte  mich  in  hohem  Grade.  Im  Falle 
seiner  Bestätigung  war  ein  neues  Beispiel  seismischer  Korre- 
spondenz im  Meridianäquator  der  Pendulation  gesichert  bei 
starker  Ausbruchstäligkeit  nahe  dem  einen  Pole  der  Pendu- 
lation, im  Sundagebiet,  und  bei  vulkanischen  Nebenerschei- 
nungen (Erddonner   in  Westindien)    nahe    dem    anderen  Pole. 


')  Vgl.  die  Mitteilung  „Ein  Nachtrag  zur  Katastrophe 
von  Krakatau"  auf  S.  183  des  „Weltall"  1916,  21/22,  sowie 
Nr.  30  der  „Naturw.   Wochenschr.",  N.  F.  XV. 


Um  so  mehr  bedauerte  ich  das  nachfolgende  Anfangs-Ergebnis 
meiner  schon  sogleich  nach  der  Veröffentlichung  eingeleiteten 
Nachforschungen  in  Altona. 

Die  Altonaer  und  Hamburger  Tageszeitungen  1883  der 
letzten  August-  und  der  ersten  Septemberwochen  enthielten 
keine  Mitteilung  des  Ereignisses. 

In  den  Kirchenbüchern  der  Hauptkirche  war,  nach  Aus- 
kunft des  Herrn  Hauptpastor  Esmarch,  in  den  hinterlassenen 
geschichtlichen  Aufzeichnungen  und  sonstigen  chronologisch 
genau  geordneten  Papieren  des  früheren  Hauptpastor  W  a  1 1  r  o  t , 
nach  Aussage  seines  Sohnes  Herrn  Pastor  Wallrot,  eben- 
falls keine  Andeutung  zu  finden. 

Nach  dem  für  den  26.  August  1S83  in  Hamburger  und 
Altonaer  Tageszeitungen  mitgeteilten  Kirchenzettel  amtierte  an 
diesem  Sonntage  Herr  Propst  Lilie  und  nicht  Herr  Pastor 
Köster. 

Die  seit  einigen  Jahren  verwitwete  Frau  Pastor  Köster, 
die  ebenfalls  bei  meinem  Besuche  schriftliche  Aufzeichnungen 
zu  Rate  ziehen  konnte,  hatte  weder  bei  ihren  regelmäßigen, 
höchstens  durch  Krankheit  unterbrochenen  Kirchenbesuclien 
einen  solchen  Vorfall  erlebt,  noch  gesprächsweise  von  ihrem 
Manne  dergleichen  erfahren. 

Als  einziger  Zeuge  blieb  der  Kirchenälteste  Herr  Drogen- 
händler Meßtor  ff  in  Altona.  Er  verwickelte  sich  aber  in- 
sofern in  Widersprüche,  als  er  die  Schwankungen  des  Leuchters 
erst  vom  Kirchenältestenstuhle  aus  beobachtet  haben  wollte, 
während  er  in  18S3  nur  Gemeindevertreter  und  deshalb  zu 
einem  anderen,  weiter  abgelegenen  Kirchenstuhle  zusiändig 
war.  Auch  wußte  er  auf  den  Hinweis,  daß  Herr  Propst 
Lilie  und  nicht  Herr  Pastor  Köster  amtierte,  nur  zu  ent- 
gegnen,  daß   vielleicht  ein  anderer  Sonntag  in  Frage  kam. 

Damit  stürzt  aber  der  ganze  behauptete  Zusammenhang 
mit  der  Krakatau-Katastrophe  zusammen. 

Vom  Küster  Herrn  Rcschke  hörte  ich  noch,  daß  der 
Kronleuchter  bestimmt  vor  etwa  10  Jahren  (vor  1916,  also  1906) 
geschwankt  habe.  Das  würde,  der  Jahreszahl  nach,  in  Über- 
einstimmung stehen  mit  einer  sicheren  Beobachtung  solcher 
Korrespondenz  des  meridianäquatorialen  Bodens  gerade  an 
der  Unterelbe  mit  einer  schweren  Erdkataslrophe  nicht  allzu- 
weit von  einem  der  Pole  der  Pendulation.  Freilich  habe  ich 
über    diese    Beobachtung    sehr    bald    danach    in    Hamburger 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


455 


Tageszeitungen  veröffentlicht,  so  daß  es  sich  bei  der  angeb- 
lichen Altonaer  Beobachtung  von  1906  auch  sehr  wohl  um 
einen  der  im  modernen  Zeitungsleben  nicht  seltenen  Revenants 
handeln  konnte.  Jedenfalls  sei  an  dieser  Stelle  die  an  mich 
gerichtete  briefliche  Mitteilung  des  Beobachters,  des  in  Schiff- 
bauerkreisen hochgeschätzten  Ingenieurs  Herrn  L.  Benjamin, 
hier  als  geophysikalische  Urkunde  im  Wortlaut  mitgeteilt. 

Hamburg,  den  27.  August  1906. 
Rentzelstrafie  16. 
Meinem  Versprechen  gemäß  teile  ich  Ihnen  hierdurch  er- 
gebenst  mit,  daß  an  dem  Tage,  an  welchem  abends  das  Erd- 
beben in  Santiago  gemeldet  wurde,  nachmittags  um  5'/s  L'hr 
in  meiner  Wohnung  deutliche  Anzeichen  davon  durch  das 
Schwingen  der  Hängelampen,  wie  ich  solches  früher  häufig 
in  Japan  bei  Erdbeben  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt 
habe,  zu  spüren  waren  .  .  .   (gez.)  Ludwig  Benjamin." 

Daß  sich  zu  dieser  sicheren  Hamburger  Beobachtung  eine 
entsprechende  Altonaer  Beobachtung  an  dem  lang  herab 
pendelnden  Kronleuchter  der  Hauptkirche  gesellte,  ist  durch- 
aus nicht  unwahrscheinlich.  Der  volle  Nachweis  ist  für  diesen 
Erdbebentag,  den  16./17.  August  1906,  allerdings  nicht  er- 
bracht. 

Für  den  zö.jzj.  August  1883  mußte  aus  diesen  ersten 
Ergebnissen  meiner  Erhebungen  leider  ein  strenger  Gegen- 
beweis gegen  die  O  verbec  k'sche  Darstellung  gefolgert 
werden. 

Zu  den  dargelegten  Gegengründen  der  Altonaer  Erhebung 
über  das  Ereignis  in  der  dortigen  Hauptkirche  vor  34  Jahren 
trat  noch  als  erschwerender  Umstand,  daß  nach  den  Geburts- 
und Taufregistern  des  Jahres  1883  am  26.  August  dieses 
Jahres  eine  Vertretung  des  Propstes  Lilie  durch  den  jungen 
Pastor  K  Osler  ausgeschlossen  erschien.  Denn  nach  Aussage 
beider  Register  waren  an  diesem  Sonntag  6  Taufen  vom 
Propst  (Pr.)  und  nur  I  Taufe  von  seinem  Kompastor  (Comp.) 
vollzogen. 

Doch  setzte  gerade  an  dieser  Stelle  die  Gegenwirkung 
ein  gegen  die  scheinbar  erdrückende  Last  der  Widerstände. 
Sie  beruhte  auf  der  bestimmten  und  amtserfahrenen  Aussage 
eines  noch  lebenden  Freundes  des  Pastor  K  Osler,  des  Herrn 
Propstes  Pauls  en  an  der  Altonaer  Johanniskirche.  Nach 
ihr  war  Pastor  Kost  er  damals  gar  nicht  Kompastor  der 
Hauptkirche,  sondern  persönlicher  .\djunkt  des  Propstes  Lilie, 
während  Kompastor  ein  älterer  Geistlicher  Biernatzki  war. 
Als  Adjunkt  hatte  Pastor  Köster  auch  die  Taufen  in  Ver- 
tretung des  Propstes  zu  vollziehen,  ohne  selbst  genannt  zu 
werden.  So  war  der  Gegengrund  aus  jenen  Registern  hin- 
fällig. Außerdem  erklärte  Herr  Paulsen,  sich  bestimmt  der 
Erzählung  seines  Freundes  zu  erinnern,  daß  jenes  Erlebnis 
sich  ereignete,  als  er  den  Propst  Lilie  einmal  zu  vertreten 
hatte.  Im  Jahre  1906  gehörte  dieser  längst  nicht  mehr  den 
Lebenden  an.  Das  chilenische  Erdbeben  vom  lö.  .August 
dieses  Jahres    kam  danach  für  jenes  Erlebnis    nicht  in   Krage. 

Daß  Frau  Pastor  Köster  sich  dessen  nicht  entsinnt, 
kann  an  einer  langwierigen  sehr  schweren  Erkrankung  liegen, 
unter  der  sie  in  der  ersten  Zeit  ihrer  Ehe  litt. 

Die  Widersprüche  in  der  Aussage  des  Kirchenältesten 
Meßtorff  finden  eine  besser  befriedigende  Lösung  auch 
wohl  darin,  daß  er  nach  dem  Gottesdienste  am  26.  August 
1883  von  dem  Stuhle  der  Gemeindevertreter  nach  dem  der 
Kirchenältesten  hingegangen  war  und  sich,  wie  er  sich  auch 
erinnerte,  an  der  Besprechung  des  Zwischenfalles  beteiligt 
hatte. 

So  darf,  wenn  man  die  Ergebnisse  der  Altonaer  Erhebung 
abwägt,  doch  am  "Ende  auf  die  Bewahrheitung  dieses  Vor- 
ganges und  auf  seinen  Zusammenhang  mit  einem  der  der  Ex- 


plo!.ion      de 


Krakatau 


ngegan 


iignisse 


katastrophaler  Art  geschlossen  werden.  Aus  den  Schwierig- 
keiten dieser  nachträglichen  Erhebung  geht  hervor,  wie 
wichtig  und  für  wissenschaftliche  Zwecke  geradezu  notwendig 
es  ist,  daß  solche  Vorfälle  sofortige  Veröffentlichung  erfahren. 
Denn  jene  Erhebung  schien  zuerst  ein  völlig  negatives  Ergebnis 
zu  lielern. 

Späte  VeröffentlichuDg  wurde  auch  einer  anderen  Neben- 
erscheinung der  Krakatau-Katastrophe  zuteil,  die  wegen  ihrer 
noch    weiteren  Entfernung    von    deren    Herde    ein    besonderes 


Interesse  bietet.  Es  war  eine  Schallerscheinung,  die  im 
Kolonial-Patois  der  Bewohner  Haitis  als  Gouffre  bezeichnet  wird. 
,,Die  Oktobernummer  1 907  des  Meteorologischen  Bulletin, 
verölTentlicht  von  Professor  S  c  h  e  r  e  r  vom  College  St.  Martial, 
Port  au  Prince,  Haiti,  enthält  eine  Mitteilung  über  den 
Goufifre,  der  erklärt  wird  als  ein  Geräusch  ähnlich  dem 
Donnerrollen  eines  Gewitters  oder  fernem  Kanonendonner, 
und  der  häufig  in  Haiti  beobachtet  sein  soll.  Besonders 
geschah  das  zur  Zeit  des  Krakatau-Ausbruches." 

Dieses  in  getreuer  ÜberseUung  gebrachte  Zitat  aus  dem 
Dezemberhefte  1907  des  amerikanischen  Monthly  Wealher 
Review  (S.  575)  ist  tatsächlich  das  Erste,  was  die  wissenschaft- 
liche Welt  von  dieser  Beteiligung  der  Großen  Antillen  an 
der  Krakatau-Katastrophe  erfährt.  An  dieser  Beteiligung  ist 
von  vornherein  ein  Zweifel  deshalb  ausgeschlossen,  weil  von 
einer  anderen  Inselgruppe  Westindiens  ein  ganz  ähnlicher 
Bericht  bereits  vorlag.  Er  war,  auf  Grund  eines  Briefes  des 
Schiffskapitäns  Rob.  Woodville,  schon  im  März  1885  von 
F.  A.  Forel  der  Pariser  Akademie  im  März  1885  erstattet 
worden.  Er  betraf  donnernde  Geräusche,  die  am  26.  August 
1883  auf  der  Insel  Caiman-Brac,  westlich  von  Jamaika,  gehört 
worden  waren  und  dort  eine  Panik  erzeugt  hatten.  Ich  lasse 
die  wörtliche  Übersetzung  auch  dieser  überaus  wichtigen 
wissenschaftlichen  Urkunde  folgen: 

,,.'\m  Sonntag  dem  26.  August  1883  wurden  die  Be- 
wohner von  Caiman-Brac  überrascht  von  der  Wahrnehmung 
von  Geräuschen  wie  fernem  Donnerrollen.  Der  Himmel 
war  jedoch  klar.  Ihr  erster  Gedanke  war,  daß  ein  spanischer 
Kreuzer  einen  kubanischen  Flibustier  abgefaßt  hätte.  Da 
sie  im  Süden  nichts  sahen,  liefen  sie  über  die  Insel  nach 
Norden.  .Xber,  nach  welcher  Richtung  sie  auch  die  Blicke 
schweifen  ließen,  sie  sahen  weder  Rauch  noch  Schiff.  In- 
dessen hielt  die  Kanonade  an.  Zurücklaufend  kamen  sie 
dahinter,  daß  dieses  Getöse  unterirdisch  war.  Im  ersten 
Augenblick  erwarteten  sie,  ihr  Eiland  vom  Meere  ver- 
schlungen oder  in  einen  Vulkan  verwandelt  zu  sehen.  Aber 
allmählich  hörten  die  Donnerschläge  auf,  und  die  Besorgnisse 
wichen  mit  ihnen.  Diese  ungewöhnliche  Erscheinung  bildete 
noch  lange  ein  Gesprächsthema.  Man  hatte  weder  die 
Tatsache  noch  ihr  Datum  vergessen,  als  die  Zeitungen  die 
ersten  Nachrichten  von  der  Krakatau-Katastrophe  brachten. 
Die  Nachdenklichen  stellten  fest,  daß  die  Caimans  und  Java 
ungefähr  zueinander  antipodal  gelegen  sind."  — 

Das  Ereignis  von  Caiman  geschah ,  wie  zweifellos  aus 
dem  Berichte  hervorgehl,  am  hellen  Tage.  Für  die  eigentliche 
Explosionskatastrophe  des  Krakatau  war  es  deshalb  zu  früh. 
Wenn  man  die  Zeit  ihrer  frühesten  Angabe,  von  Buitenzorg, 
zugrunde  legt,  ereignete  sich  diese  Explosion  erst  gegen  6  h  45 
am  Morgen  des  27.  August  1883  der  Sundazeit,  deshalb 
frühestens  gegen  7  am  Abende  des  26.  August  der  westindischen 
Zeit. 

Die  gleichen  Zeilverhältnisse  kommen  für  die  Altonaer 
Begleiterscheinung  in  Betracht,  wie  Th.  Overbeck,  der  sich 
das  unleugbare  Verdienst  ihrer  ersten  Kettung  für  die  Wissen- 
schaft erwarb,  auch  schon  ganz  richtig  andeutete.  Jene  Sunda- 
zeit entfiel  in  die  Mitlernachtstunde  zum  27.  August  1883  für 
Altona,  auf  (oh  37a  mitteleuropäischer),  oh  17a  Altonaer  Zeit. 
Die  Vormitlagszeit  des  vorhergehenden  Sonntags  zwischen 
10  und  11  entsprach  der  Sundazeit  zwischen  4  und  5  Uhr 
nachmittags  am  26.  August  1883.  In  dieser  Hinsicht  erscheint 
eine  Stelle  des  Buches  „Krakatau"  von  Bedeutung,  das  der 
Chefingenieur  des  niederländisch  -  indischen  Bergwesens 
R.  D.  M.  Verbeek  im  Auftrage  des  Generalgouverneurs 
verfaßt  hat.  Verbeek  berichtet  da  als  Ohrenzeuge  in 
Buitenzorg  selbst:  „Bald  wurden  die  Donnerschläge  stärker, 
besonders  gegen  5  Uhr  nachmittags.  Die  später  erhaltenen 
Meldungen  haben  uns  berichtet,  daß  diese  Detonationen  auf 
der  ganzen  Insel  Java  gehört  worden  waren."  —  Das  war 
auf  die  beträchtliche  Entfernung  bis  nahezu  1200  Kilometer. 
Es  liegt  nahe,  die  Steigerung  der  unterirdischen  Vorgänge, 
die  von  jenen  Detonationen  angezeigt  wurden,  als  eigentliche 
Ursachen  der  Nebenerscheinungen  im  holsteinischen  Altona 
und  auf  den  grnannten  westindischen  Inseln  zu  beanspruchen. 
Eigentliche  Erdbeben  waren  es  aber  nicht.  Auch  nicht  Erd- 
beben der  schwächsten  Art  wurden  bei  der  Katastrophe  des 
August  1S83,  wie  schon  bei  ihrer  Vorläuferin  im  Mai  1883, 
beobachtet.     Verbeek  hat  das  auf  S.  33  seines  Buches  aus- 


4S6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  32 


drücklich  festgestellt.  Auch  kamen  für  Westindien  nicht 
Schallschwingungen  der  Luft  in  Betracht.  Denn,  wie  aus  den 
Zeilangaben  der  im  Schallgebiete  der  Krakatau-Katastrophe  am 
weitesten  nach  Osten  gelegenen  australischen  Stationen  Alice 
Springs  und  Daly  Waters  übereinstimmend  hervorgeht,  wurde 
auf  diese  Höchstentfernungen  tatsächlich  der  Donner  der 
eigentlichen  Krakatau-E.xplosion  vom  Morgen  des  27.  August 
1883  gehört.  Der  Telegraphenbeamte  Skinner  gab  für 
Alice  Springs  loh  10,  der  Telegraphenbeamte  Kemp  für 
Daly  Waters  9h  20  bis  loh  am  Vormittage  des  27.  August  an. 
Diese  Angaben  entsprachen  hinreichend  der  Sundazeit  zwischen 
6  und  7  am  Morgen  dieses  Tages.  Für  den  Donner  von 
Caiman-Brac  kam  dieses  Maximum  des  von  der  Luft  ver- 
breiteten Krakatau-Donners  also  ebenso  zu  spät,  wie  das 
Maxiraum  der  Ausbruchs-Explosionen. 

So  können  für  die  Erscheinungen  in  Westindien  und  in 
Holstein  nur  Ereignisse  des  Erdinnern  in  Betracht  kommen. 
Und  zwar  nur  solche,  die  der  Explosions-Katastrophe  des 
Krakatau  vorbereitend  vorausgingen.  Das  zwingt  zu  der  An- 
nahme einer  Wellbeben-Erscheinung,  die  im  Sundagebiete 
ihre  Auslösung  und  gewissermaßen  Entlastung  durch  den 
vulkanischen  Ausbruch  erfahren  hat.  Mit  ihrer  so  mächtig 
betonten  geographischen  Beziehung  zum  Sundagebiet  steht  sie 
auch  keineswegs  vereinzelt  da. 

Holsteinische  Wetter-  und  Sonnen-Warte 
Schneisen  bei  Hamburg-Altona. 

Wilhelm  Krebs. 


Zu  der  oben  mitgeteilten  Beobachtung  kann  ich  aus  eigener 
Erfahiung  noch  folgendes  hinzufügen.  Bei  einem  gefechts- 
mäßigen Infanterieschiefien  konnte  ich,  neben  den  Schulzen 
kniend,  mit  einem  Zeißglase  die  Geschoßbahn  als  eigentüm- 
lichen flimmernden  oder  schlierigen  Streifen  wahrnehmen,  so- 
daß  sich  auch  dann,  wenn  der  Geschoßeinschlag  nicht  oder 
nicht  scharf  sichtbar  war,  ziemlich  gut  das  Ergebnis  des  Schusses 
angeben  ließ.     Die  Sonne  stand  im  Rücken.     (G.c:)       M. 


Ein  seltenes  Echo-Phänomen  habe  ich  auf  einem  Spazier- 
gang im  Kampfgelände  an   der  Aisne  beobachtet: 

Bei  völliger  Windstille  und  klarem  Sonnen-Nachmittag 
tackte  in  400  m  Entfernung  von  meinem  Standpunkte  ein 
Maschinengewehr  4,  5  Schüsse  hintereinander;  2,  3  Sekunden 
nachher  begann  das  Echo  diese  Schüsse  zu  wiederholen. 
Ich  veränderte,  verdutzt,  wiederholt  meinen  Standpunkt,  indem 
ich  einen  Kreis  von  '/ä  l^n>  Halbmesser  schlug:  Das  Echo 
schwieg  nicht;  es  äffte  sogar,  um  meine  Verblüffung  zu  steigern, 
Abschüsse  schwerer  Geschütze  nach  und  zwar  sowohl  solche 
eigner  als  auch  feindlicher  Stellungen.  Endlich  stellte  ich  als 
widerwerfende  Schallwand  fest:  einen  Fesselballon  in  ungefähr 
800  m  Höhe  über  mir.      (GX.) 

Oberstabsarzt  Dr.  Fuhrmann. 


Daß  Luftwellen  als  Schlieren  sichtbar  werden  können, 
und  zwar  auf,  wenn  nicht  richtiger  gesagt  vor  vielleicht 
1000  m  hohen  weißen  Schrapnellwolken,  die  von  einer 
Fliegerbeschießung  herrühren,  sah  ich  zum  ersten  Male  am 
6.  April  1917.  Man  sah  mit  einer  Geschwindigkeit,  die  auf 
rund  300  m  in  der  Sekunde,  also  auch  auf  Schallgeschwindig- 
keit, geschätzt  werden  könnte,  parallele  helle  Linien  in  Ab- 
ständen von  rund  300  m  voneinander  sich  über  die  Wolke 
hinwegschieben.  Einige  Sekunden  dauerte  die  merkwürdige 
Kriegshimmelserscheinung,  um  dann  zu  schwinden  und  bald 
wieder  in  genau  derselben  Weise  einzutreten;  doch  wurden 
diese  stets  aus  einer  und  derselben  Richtung  heranfließenden 
Lichtstreifen  mitunter  auch  gekreuzt  von  solchen ,  die  aus 
einer  anderen  Richtung  kamen,  und  für  Augenblicke  war  die 
Wolke  voller  Lichtreflexe  wie  eine  gekräuselte  Wasserfläche. 
Das  Zerfließen  der  Wolke  setzte  der  Erscheinung  ein  Ende, 
doch  wurde  sie  am  folgenden  Tage  —  nicht  von  mir  — 
wieder  beobachtet.  Ich  vermute,  daß  die  fortschreitenden 
scheinbar  geradlinigen,  parallelen  Lichtstreifen  Teile  sehr 
großer  konzentrisch  sich  vergrößernder  Kreise  sind  und  diese 
nichts  anderes  als  das  optische  Bild  von  Kugelwellen,  die 
von  den  Mündungen  feuernder  Geschütze  ausgehen  und  den 
Luftraum  durcheilen.  Daß  sie  auf  der  Sprengwolke  sichtbar 
werden,  mag  an  deren  verhältnismäßig  geringer  Höhe,  an  der 
etwa  tangentialen  Blickrichtung  des  Beobachters  und  vielleicht 
noch  an  weiteren  Gründen  liegen,  wahrscheinlich  auch 
wesentlich  an  ihrer  Größe  —  Wellenlänge  —  und  Stärke  und 
dem  geeigneten  Abstand  des  Beobachters.  Auf  anderem, 
höherem  Gewölk  sowie  am  blauen  Himmel  sah  man  nichts 
davon.  In  der  Annahme,  daß  der  Anblick  noch  nicht  be- 
schrieben ist  und  sich  vielleicht  auch  jemand  anders  zu  seiner 
Erklärung  äußern  könnte,  möchte  ich  mit  diesen  Zeilen  darauf 
hinweisen.  V.   Franz. 


Literatur. 


Escherich,  Prof.  Dr.  K.,  Die  Ameise,  Schilderung  ihrer 
Lebensweise.  2.  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Mit 
gS  Abbildungen.  Braunschweig  '17,  F.  Vieweg  &  Sohn.  — 
10  M. 

Dessoir,  M.,  Vom  Jenseits  der  Seele.  Die  Geheim- 
wissenschaften in  kritischer  Betrachtung.  Stuttgart  '17,  F.  Enke. 
—  II   M. 

C.  K.  Schneider's  illustriertes  Handwörterbuch  der 
Botanik.  Unter  Mitwirkung  zahlreicher  Fachgelehrter,  heraus- 
gegeben von  Prof.  Dr.  K.  Linsbauer  (Graz).  2.  völlig  um- 
gearbeitete Auflage.  Mit  396  Textabbildungen.  Leipzig  '17, 
M.   Engelmann.  —  25   M. 

Silbermann,  Dr.  Th.,  Der  Weltanfang  und  die  Bildung 
von  Energien  und  Stoffen.  Halle  a.  d.  S.  '17,  Kommissions- 
verlag, Louis  Neberts  Verlag.  —  3  M. 

Offermann,  Dr.  H.,  Das  nordwestdeutsche  Erdöl- 
vorkommen, chemisch-physikalisch-geologisch.  Braunschweig 
'17,  V.  Vieweg  &  Sohn.   —  4  M. 

Schlick,  M.,  Raum  und  Zeit  in  der  gegenwärtigen 
Physik.  Zur  Einführung  in  das  Verständnis  der  allgemeinen 
Relativitätstheorie.     Berlin  '17,  J.  Springer.  —  2,40  M. 

Graetz,  Prof.  Dr.  L.,  Die  Physik.  Mit  385  teils  farbigen 
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Leipzig  '17,  Verlag  „Naturwissenschaften".  —   16  M. 

Auerbach,  Prof.  Dr.  F.,  Die  Grundbegriflfe  der  modernen 
Naturlehre.  Einführung  in  die  Physik,  4.  Aufl.  Mit  71  Text- 
figuren.    Leipzig  u.  Berlin  '17,  B.   G.  Teubner.  —   1,50  M. 


I  Werner  Mecklenburg,  Der  Basenaustausch  der  Silikate.  (4  Abb.)  S.  441.  —  Einzelberichte:  L.  Weber, 
Sogenannte  Verbesserung  der  Blitzableiter.  S.  44S.  Hellmann,  Die  aägebliche  Zunahme  der  Blitzgefahr.  W.  König, 
Alomistischer  Bau  der  Elektrizität.  S.  44S.  Mollison,  Die  Maori.  S.  449.  E.  Barkow,  Turbulenz  und  Windänderung 
mit  der  Höhe.  S.  450.  —  Bücherbesprechungen:  K.  Schwarzschild,  Über  das  System  der  Fixsterne.  S.  451. 
Walther  Jacobsthal,  Mondphasen,  Osterrechnung  und  ewiger  Kalender.  S.451.  P.  I.Müller,  Kepler'sund  Newton's 
Gesetze  über  die  Bewegungen  im  Sonnenraume  im  Lichte  der  Strahlendruck-  und  Ätherdrucktheorie.  S.  451.  W.  Lietz- 
mann,  Riesen  und  Zwerge  im  Zahlenreich.  S.451.  K.  K  ü  n  k  e  1 ,  Zur  Biologie  der  Lungenschnecken.  S.451.  J.  Bolle, 
Die  Bedingungen  für  das  Gedeihen  der  Seidenzucht  und  deren  volkswirtschaftliche  Bedeutung.  S.  453.  —  Anregungen 
und  Antworten :  Zunahme  von  Tierarten  im  Kriege.  S.  454.  Ein  weiterer  Nachtrag  zu  den  Katastrophen  von  Krakatau  und 
Santiago.  S.  454.    Luftwellen  als  Schlieren  sichtbar.  S.  456.     Ein  seltenes  Echo-Phänomen.  S.  456.  —  Literatur:  Liste.  S.  456. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippcrt  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  ig.  August  1917. 


Nummer  33. 


Zur  Lösung  der  Frage  des  Organismenlichtes. 


[Nachdrurk  verboten 


Von  Privatdozent  Dr.  E.  Trojan  (Prag). 


Das  Kapitel  vom  Licht  der  Lebewesen  ist 
wohl  eines  der  buntesten  in  der  Wissenschafts- 
geschichte; es  reicht  so  weit  zurück,  als  die  Lite- 
ratur der  Naturgeschichte  überhaupt.  Schon  Ari- 
stoteles waren  die  Leuchtkäfer  gut  bekannt. 
Welche  Vorstellungen  bei  den  Römern  das  herr- 
liche Phänomen  des  Meerleuchtens  auslöste,  wenn 
sie  von  ihren  berühmten  Bädern  zu  Bajä  aus  die 
See  in  warmen  Nächten  weit  hinüber  bis  nach  Capri 
in  weißem  Silberglanz  erstrahlen  sahen,  erfahren 
wir  aus  keiner  Schrift.  Nur  des  Dichters  Wort 
sagt  uns,  daß  die  Erscheinung  wert  war,  unter 
den  Schönheiten  der  Natur  besungen  zu  werden. 
Daß  er  selbst  oder  andere  dabei  an  Licht  der 
der  Tiere  gedacht  hätten,  zumal  Plinius 
von  leuchtenden  Medusen  und  Pholaden  lehrte, 
soll  nicht  für  ausgeschlossen  gelten.  Und  wenn- 
gleich schon  von  den  Griechen  und  Römern  ab  alle 
Völker  um  die  Gestade  der  Meere  das  Leuchten 
der  See  gewiß  gekannt,  kühne  Seefahrer  auch 
später  jahraus  jahrein  von  dem  seltsamen  Wunder 
zu  erzählen  wußten,  dauerte  es  jahrhundertelang, 
bevor  die  Versuche  begannen,  natürliche  Gründe 
für  jenes  bezaubernde  Spiel  der  Natur  zu  finden. 
Je  vertrauter  die  Menschen  seit  der  Entdeckung 
Amerikas  mit  den  ( Izeanen  wurden,  desto  zahl- 
reicher mehrten  sich  die  Angaben,  denen  zufolge 
bald  hier,  bald  dort  Polypen,  Medusen,  Rippen- 
quallen, Würmer  und  Kruster  leuchtend  gesehen 
wurden.  Häufiger  denn  eliedem  fand  sich  nach 
dem  hergestellten  Kontakt  mit  der  neuen  Welt 
und  namentlich  den  Tropen  Gelegenheit,  auch 
leuchtende  Tiere  des  Festlandes,  neue  Arten  von 
Käfern  und  Tausendfüßlern,  zu  entdecken.  Daß  aber 
die  Ursache  des  auffälligsten  Exempels  tierischen 
Lichtes,  des  Meerleuchtens,  beinahe  am  längsten 
verborgen  bleiben  mußte,  war  nicht  anders  mög- 
lich, da  es  sich  hier  in  erster  Reihe  in  den  Er- 
zeugern des  Lichtes  um  Urtiere  handelte,  deren 
Wesen  dem  Forscherauge  insolange  verschlossen 
blieb,  als  es  ihm  an  der  richtigen  optischen  Aus- 
rüstung gebrach.  Inzwischen  war  der  freien 
Phantasie  Raum  gelassen  und  bald  an  Vulkane 
des  Meeres,  bald  an  die  Reibung  von  Salzteilchen 
des  Seewassers  untereinander  oder  gegen  die  an- 
grenzenden Luftschichten,  kurz  an  die  Begleit- 
erscheinung der  Reibungselektrizität  gedacht;  eine 
Zeitlang  behauptete  sich  auch  die  Meinung,  daß 
der  Phosphorgehalt  des  Meeres  Grund  des  Leuch- 
tens  sei.  Andere  glaubten  das  Licht  im  Gefolge 
der  F"äulnisprozesse  von  Seetierexkrementen  oder 
Schleimabsonderungen  bzw.  verendeten  Seetieren, 
wieder  andere  als  die  Wiedergabe  jener  Fülle  von 
Licht    und   Wärme    der   Sonne,    die    der  Wasser- 


spiegel tagsüber  in  sich  aufgenommen  hatte, 
deuten  zu  können.  Wenn  ferner  zur  Erklärung 
des  Phänomens  die  Analogie  der  Irrlichter,  Eis- 
bildung oder  endlich  einfache  Reflexion  heran- 
gezogen wurde,  so  sind  damit  wohl  alle  die 
irrigen  Anschauungen  der  Vergangenheit  erschöpft. 
Sie  waren  mit  einem  Schlage  aus  der  Welt  ge- 
schafft, als  das  überzeugende  Experiment,  das 
Filtrieren  des  leuchtenden  Seewassers  zeigte,  daß 
nur  der  Rückstand  im  Filter  zu  leuchten  vermag, 
nicht  aber  das  Wasser.  Die  optischen  Behelfe 
gestatteten  auch  bereits  insoweit  eine  Analyse 
des  Filterinhaltes,  daß  man  mit  unzweifelhafter 
Sicherheit  Tiere  als  die  Träger  des  Lichtes  er- 
kannte. Am  längsten  dauerte  es,  bevor  das  Bak- 
terienlicht unserem  Wissen  erschlossen  wurde. 

Mit  der  Feststellung  des  lebenden  Objektes, 
der  Lichterzeuger,  ist  der  Wissenschaft  ein  neues 
Problem  erstanden :  Wie  kommt  das  Organismen- 
licht zustande?  Die  einschlägige  Literatur  gibt 
das  beste  Zeugnis  dafür,  daß  das  Interesse  der 
Forscher  für  diese  Materie  von  Jahr  zu  Jahr 
immer  reger  wurde.  Daß  die  bedeutendste  I'^örde- 
rung  der  Sache  durch  die  stets  intensiver  sich 
gestaltende  Tiefseeforschung  zuteil  ward,  hängt 
mit  dem  natürlichen  Reiz  des  tierischen  Lichtes 
zusammen;  die  Neugierde,  zu  erfahren  ob  an  der 
märchenhaften  Lichtpracht  der  Tiefen  des  Welt- 
meeres, wo  es  von  selbstleuchtenden  Uuallen, 
Würmern,  Krebsen,  Weichtieren,  See-  und 
Schlangensternen  und  Fischen  nur  wimmle  und 
ganze  Rasenflächen  von  Korallentieren  und  Bryo- 
zoen  im  Licht  erstrahlen,  etwas  Wahres  sei,  war 
nur  berechtigt.  Heutzutage  ist  für  jeden ,  der 
sich  ernst  mit  der  P^rage  des  Organismenlichtes 
beschäftigt  und  persönlich  Erfahrungen  mit  leuch- 
tenden Tieren  gesammelt  hat,  jene  Ansicht  so  gut 
wie  abgetan.  Groß  ist  ja  die  Zahl  der  bisher 
beobachteten  leuchtenden  Formen  und  dazu  dürfen 
wir  uns  noch  nicht  rühmen,  von  allen  bereits  Kennt- 
nis erlangt  zu  haben;  jede  Tiefseeexpedition  hat 
bisher  Ungeahntes  auch  auf  diesem  Spezialgebiete 
beschert  und  so  ist  aller  Grund  vorhanden,  daß 
auch  bei  nächster  Gelegenheit  neue  Bereicherung 
bevorsteht.  Das  eine  aber  läßt  sich  schon  heute 
mit  Sicherheit  sagen:  nur  bei  den  Plschen  ist 
eine  kontinuierliche,  auf  längere  Zeit  sich  er- 
streckende Lichtausstrahlung  beobachtet  worden; 
mag  man  aber  von  all  dem  anderen  leuchtenden 
Getier  reichlich  genug  beisammen  haben  und  in 
der  glücklichen  Lage  sein,  es  unter  günstigen  Be- 
dingungen lebend  zu  halten  und  Tag  und  Nacht 
darüber  zu  wachen:  das  bald  da,  bald  dort  auf- 
blitzende Licht    oder  der  intermittierende  Schein, 


458 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


der  noch  dazu  nicht  freiwillig,  sondern  erst  in- 
folge eines  äußeren  Anstoßes  auftritt,  gebietet 
jedweder  phantastischen  Vorstellung  Halt.  Über- 
dies gilt  es  heute  auch  als  erwiesen,  daß  die 
sich  immerzu  wiederholenden  Angaben  über  das 
Leuchten  von  Spongien  irrtümlich  sind ;  das  Licht 
hat  sich  bisher  in  allen  Fällen  auf  andere  Indi- 
viduen, die  in  dem  reichen  Kanalsystem  des 
Schwammes  Aufenthalt  genommen  haben,  zurück- 
führen lassen. 

Es  ist  klar,  daß  die  Forschung  nicht  dabei 
stehen  bleiben  konnte,  bloß  festzustellen,  welche 
Tiere  leuchten  oder  nicht;  der  nächste  Schritt 
galt  der  Suche  nach  dem  eigentlichen  Sitz  der 
Luminiszenz.  Eine  Durchsicht  des  kompilatori- 
schen  Teiles  der  verdienstvollen  Arbeit  iVIan- 
gold's*)  über  die  Produktion  von  Licht,  die 
mit  dem  Jahre  1910  abschließt  oder  der  auch 
die  späteren  Leistungen  aufnehmenden,  derzeit 
erscheinenden  Kapitel  zur  Lichtproduktion  bei 
Tieren  von  D  a  h  1  g  r  e  n  -)  eröffnet  dem  Leser, 
wie  produktiv  dieser  Zweig  biologischer  Forschung 
bisher  gewesen  ist. 

Im  Frotistenleib,  dessen  Plasma  an  sich  schon 
mit  einer  ganzen  Reihe  von  Funktionen  bedacht 
ist,  gesellt  sich  bei  manchen  Organismen  noch 
die  der  Lichtentwicklung  hinzu.  Gleichberechtigt 
mit  den  anderen  nimmt  auch  sie  mit  dem  Ein- 
tritte der  Arbeitsteilung  im  Metazoenkörper  eine 
Zellart  für  sich  in  Anspruch.  Als  einer  einfachen 
Drüsenzelle  im  Hauptepithel  niederer  Tiere  be- 
gegnen wir  da  dem  Leuchtorgan  in  seiner  primi- 
tivsten P^orm.  Seine  Leistungsfähigkeit  steigert 
sich  im  Zusammenschluß  von  2,  4  und  mehr 
solcher  Drüsenzellen,  die  in  Form  einer  echten 
Drüse  mehr  oder  weniger  tief  in  die  Körperdecke 
sich  versenken,  ja  schließlich  bloß  durch  einen 
feinen  Kanal  ihre  Verbindung  mit  der  Außenwelt 
bewahren.  So  lassen  sie  dem  Drüsenhals  ein 
Sekret  entströmen,  das  nach  seinem  Austritt  im 
Kontakt  mit  dem  Seewasser  zu  feurigen  Kugeln 
sich  ballt  oder  in  feinster  Verteilung  das  Wasser 
milchig  glänzend  macht.  Bisweilen  ist  aber  von  einer 
Abgabe  leuchtender  Substanz  nichts  zu  merken  und 
es  leuchten  die  Drüsenzellen  mit  ihrem  Inhalte 
an  sich;  so  etwas  mag  den  Drüsenkanal  überflüssig 
erscheinen  lassen,  so  daß  es  wohl  verständlich 
ist,  wenn  man  ihn  bei  einem  Typus  von  Leucht- 
organen zum  Teil,  anderswo  auch  ganz  rückgebildet 
sieht.  Die  Drüsen  sind  nicht  mehr  offen,  sondern 
geschlossen.  Ausschließlich  an  solch  letzteren 
setzt  auch  der  Hebel  zur  Erreichung  des  mög- 
lichst großen  Lichteffektes  an :  so  kommen  Hilfs- 
apparate zustande,  wie  der  Reflektor  im  Hinter- 
grunde der  Drüse,  ein  Refraktor  in  ihrem  Zen- 
trum und  nicht  selten  vor  ihr  suspendiert  eine 
Sammellinse.    Ja  selbst  an  Lidfalten  fehlt  es  nicht, 

')  Mangold,  E.,  Die  Produktion  von  Licht.  Handbuch 
der  vergl.  Physiologie,  herausg.  von  Winterslein.  3,  2.  Hälfte, 
S.  225  (1910 — 1914). 

2)  Dahlgren,  U.,  The  production  of  liglit  by  .-inimals. 
Journal  of  Ihe  Franklin  Institute.   1916. 


wo  es  gilt,  das  Licht  abzublenden.  Damit  ist 
aber  auch  der  Höhepunkt  der  Organisation  eines 
Leuchtorgans  erreicht.  Es  braucht  wohl  nicht  erst 
besonders  betont  zu  werden,  welcher  Fülle  von  Ob 
jekten  es  bedurft  hat,  bevor  die  hier  mit  wenigen 
Worten  wiedergegebene  Erkenntnis  der  phylogene- 
tischen Entwicklung  des  tierisclien  Leuchtapparates 
gereift  ist;  sie  hat  die  größte  Förderung  durch  die 
reichhaltige  Sammlung  leuchtender  Cephalopoden 
und  P'ische  anläßlich  der  „Valdivia"-Tiefseeexpe- 
dition  erfahren.  So  steht  es  seit  etwa  5  Jahren 
um  die  morphologische  Seite  der  Frage  und 
nachdem  von  Neuerscheinungen  seit  jener  Zeit 
nichts  zu  verbuchen  ist,  was  sich  in  das  obige 
Schema  nicht  einreihen  ließe,  könnte  leicht  die 
Meinung  entstehen,  daß  sich  dem  Problem  von 
selten  der  Zoologen  kaum  etwas  Wesentliches 
mehr  abgewinnen  lassen  wird.  Daß  dem  nicht 
so  ist,  soll  das  Nachfolgende  lehren. 

Die  Frage  des  Organismenlichtes  ist  noch 
lange  nicht  damit  erschöpft,  wenn  wir  den  Bau 
der  Leuchtorgane  bis  ins  Genaueste  kennen,  sie 
birgt  ein  biologisches  Rätsel,  dessen  Lösung  der 
Biochemie  wird  vorbehalten  bleiben  müssen,  nach- 
dem heutzutage  kein  Zweifel  darüber  besteht,  daß 
es  sich  bei  jener  Art  des  Lichtes  um  eine  Che- 
moluminiszenz  handelt.  Aber  wie  in  vielen  anderen 
Fällen  dürfte  man  auch  hier  rascher  zum  Ziele 
kommen,  wenn  die  einzelnen  P"achwissenschaften 
Hand  in  Hand  zusammen,  statt  wie  bisher  ge- 
sondert gehen.  Gerade  dem  letzten  Umstände 
ist  es  nicht  zum  geringen  Teil  zuzuschreiben,  daß 
die  Bemühungen  um  die  vorliegende  Materie 
seitens  der  Chemie  bei  weitem  noch  keine  greif- 
baren Resultate  zeitigten.  An  Versuchen  hat  es 
nicht  gefehlt.  Daß  es  sich  bei  dem  sog.  Nocti- 
lucin,  dessen  Namen  leicht  die  Vorstellung  einer 
chemischen  Substanz  erwecken  kann,  niemals  um 
eine  solche  gehandelt  hat,  sondern  um  Massen 
von  Leuchtbakterien,  hat  Molisch')  bereits  vor 
Jahren  festgestellt.  Zwei  andere  Substanzen  hin- 
gegen mit  vollem  Ansprüche,  als  spezifische  I  .eucht- 
stoffe  anerkannt  zu  werden,  fanden  durch  D  u  - 
bois")  seinerzeit  zum  erstenmal  in  der  Literatur 
Eingang,  das  Lu  eiferin  und  die  Luciferase. 
Beide  entstammten  ein  und  derselben  Ouelle, 
nämlich  der  Bohrmuschel  (Pholas  dactylus),  einem 
ziemlich  weit  in  den  Meeren  verbreiteten  Mollusk. 
Jenes  Tier  antwortet  auf  Angriffe  von  außen  mit 
einem  Strahl  klarer  Flüssigkeit,  die  im  F"instern 
leuchet.  Das  Drüsengewebe,  das  jenen  leuch- 
tenden Schleim  erzeugt,  liefert  mit  Sand  in  90  % 
Alkohol  verrieben,  12  Stunden  lang  mazeriert  und 
nachher  filtriert,  eine  Plüssigkeit,  die  Licht  ent- 
wickelt, wenn  sie  mit  einer  zweiten  gemischt 
wird,  die  aus  dem  mit  Chloroformwasser  behan- 
delten Rückstand  nach  mehreren  Stunden  Stehens 
abfiltriert      wird.        Für       sich      allein      leuchtet 

')  Molisch,  H.,  Leuchtende  Pflanzen.     Jena   1904. 

')  Dubois,  R.,  Nouvelles  recherches  sur  la  production 
de  la  lumiere  par  les  animaux  et  les  vegetaux.  C.  R.  111 
(1890).  —  Lecon  de  physiologie  etc.     Paris   189S. 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


459 


weder  die  eine  noch  die  andere.  Der  Leucht- 
versuch gehngt  aber  nicht  mehr,  wenn  die  letztere 
Flüssigkeit  zum  Sieden  erhitzt  oder  mit  viel  Al- 
kohof gemischt  wird;  sie  gibt  dann  einen  flockigen 
Niederschlag.  Nach  seinen  mit  der  Bohrmuschel 
gemachten  Erfahrungen  sah  der  französische  Phy- 
siologe im  Organismenlicht  einen  fermentativen 
Vorgang.  Luciferase  nennt  er  die  eiweißartige 
Substanz  mit  den  Eigenschaften  eines  Ferments 
und  bezeichnet  ausschließlich  die  Leuchtdrüsen 
als  ihren  Sitz;  Lu  eiferin  nennt  er  einen  unbe- 
kannten, kristallisierbaren  Körper,  der  überall  im 
Körper  des  Tieres  verteilt  sei.  Dieser  entwickle 
mit  jener  unter  Beisein  von  Sauerstoff  und  Wasser 
Licht.  Es  ist  leicht  verständlich,  wenn  D  u  b  o  i  s 
der  Vorwurf  nicht  erspart  bleiben  konnte,  daß 
sein  Ferment,  die  Luciferase  auf  eine  etwas  un- 
exakte Weise  beurteilt  worden  und  daher  frag- 
licher Xatur  sei.  Denn  der  flockige  Niederschlag 
nach  der  Behandlung  des  mazerierten,  mit  Chloro- 
formwasser ausgewaschenen  Rückstandes  könnte 
leicht  anderen  Ursprungs  sein,  nachdem  laut 
eigenen  Angaben  des  Autors  das  zu  untersuchende 
LcLichtdrüsengewebe  durch  einfaches  Abschaben 
mit  dem  Messer  gewonnen  wurde.  Dubois')  ist 
auf  diesen  Einwand  eingegangen  und  hat  bei 
seinen  nächsten  Versuchen  bloß  mit  dem  ent- 
leerten Sekret  des  Pholaden  gearbeitet;  seine  Ex- 
perimente modifizierte  er  derart,  daß  er  fürs  erste 
eine  Portion  des  ausgespritzten  Saftes  bis  zum 
Erlöschen  des  Lichtes  aufbewahrte,  fürs  zweite 
eine  andere  frisch  leuchtende  auf  70  Grad  er- 
hitzte. Abermals  waren  so  beide  Flüssigkeiten 
wie  seinerzeit  ihres  Eigenlichtes  bar,  mit  dem 
Momente  ihres  Zusammentreffens  jedoch  trat  die 
Luminiszenz  ein.  Dubois  geht  von  der  Voraus- 
setzung aus,  daß  Luciferin  und  Luciferase 
anfangs  in  beiden  Flüssigkeiten  enthalten  sind; 
nachdem  durch  das  Erhitzen  diese  in  der  letzteren 
Flüssigkeit  unwirksam  gemacht  werde,  bleibe  hier 
nur  jenes  übrig.  Um  mit  diesem  Licht  zu  ge- 
winnen, bedürfe  es,  wie  er  in  seinen  weiteren 
Versuchen  zeigte,  nicht  einmal  des  obigen  abge- 
standenen Sekretes  desselben  Pholaden,  es  genügt, 
in  das  Reagenzglas  mit  Luciferin  Leibeshöhlen- 
flüssigkeit anderer  Weichtiere  oder  auch  Krebse, 
ja  selbst  Blut,  Wasserstoffsuperoxyd  oder  Kalium- 
permanganat zu  bringen  und  der  Lichteftekt  ist 
da.  Auf  solche  Tatsachen  gestützt,  glaubt  D  u  - 
bois  letzthin  in  der  Luciferase  eine  Peroxydase 
mit  weiter  Verbreitung  im  Tierreich  zu  erkennen; 
das  Luciferin,  das  er  für  ein  Nukleoalbumin 
hält,  komme,  wie  er  meint,  nur  Tieren  mit  Leucht- 
vermögen zu:  bei  der  Oxydation  dieses  Eiweiß- 
körpers durch  jene  Peroxydase  entstehe  das 
Organismenlicht. 

Molisch,-)    der    über    die    Lichtentwicklung 
bei  Bakterien  eingehende  und  umfassende  Studien 


')   Dubois,    R.,     Nouvellcs    rechcrches    sur    la     lumiei 
physiologique  chez  Pholas  dactylus.     C.  R.  153,  S.  690  (1911 
■')  Molisch,  IL,  1.  c. 


durchgeführt  hatte,  sprach  sich  anfangs  für  eine 
zuwartende  Haltung  gegenüber  der  Ferment- 
theorie von  Dubois  aus  und  kam  zu  dem 
Schlüsse,  es  handle  sich  bei  leuchtenden  Tieren 
wahrscheinlich  um  die  Erzeugung  einer  spezifi- 
schen Substanz,  des  Photogens,  wie  er  den 
Stoff  nannte,  das  bei  Gegenwart  von  Wasser  und 
freiem  Sauerstoff  Licht  zu  entwickeln  vermag. 
Aber  sein  Hinweis  von  damals  auf  die  einst  zu 
erhoffende  Darstellung  jenes  Photogens  im 
Reagenzglase  losgetrennt  von  der  lebenden  Zelle 
ähnlich  der  Gewinnung  der  Zymase  aus  der  Hefe, 
scheint  mir  darauf  hinzudeuten,  daß  er  mit  den 
Ansichten  Dubois  sympathisiere. 

In  neuester  Zeit  ist  allerdings  den  Versuchen 
jenes  französischen  Gelehrten  ein  böses  Schicksal 
beschieden  gewesen.  Harvey''')  wandte  nämlich 
die  obigen  .Arbeitsmethoden  bei  einer  Anzahl  leuch- 
tender Tiere  und  zwar  bei  2  Leuchtkäferarten, 
Luciola  parva  und  vitticoUis,  dem  Krebschen 
Cypridina  Hilgendorfii,  dem  Plsche  Wata- 
senia  scintillans,  dem  Korallentier  Caver- 
nularia  Haberi  und  dem  Urtierchen  Nocti- 
luca  miliaris  an.  Überall,  bis  auf  die  Leucht- 
käfer und  den  Leuchtkrebs  schlugen  die  Versuche 
fehl  und  dazu  sah  sich  Harvey  auf  Grund  der 
gewonnenen  Resultate  genötigt,  dort,  wo  nach 
Dubois  die  Diagnose  auf  Luciferase  ausfiel, 
für  das  Luciferin  einzustehen  und  umgekehrt 
statt  des  Luciferin  für  Luciferase.  Der 
sonst  unvermeidlichen  Verwirrung  konnte  nur 
durch  Schaffung  neuer  Benennungen  abgeholfen 
werden:  Photogenin  statt  Luc  iferase,  Pho- 
to p  h  e  1  e  i  n  statt  Luciferin;  das  erstere  soll  im 
Gegensatz  zu  Dubois'  Anschauung  als  der  wahre 
Lichterzeuger  gelten  und  kein  Ferment  sein,  das 
letztere  helfe  bei  den  chemischen  Prozessen  gleich- 
sam als  „Koenzym"  mit.  Wenn  schließlich  Harvey 
darauf  deutet,  daß  bei  der  Photogenin -Photo- 
phelein  -  Lichtreaktion  Ähnlichkeiten  mit  der  Zy- 
mase der  Hefe  bestehen,  so  beweist  das  nur,  daß 
auch  er  der  Fermenttheorie  huldigt.  Ob  nun 
Luciferin  und  Luciferase  oder  Photogen 
oder  Photogenin  und  Photophelein  —  wir 
haben  bisher  noch  keinen  Anhaltspunkt,  um  eine 
dieser  hypothetischen  Substanzen  chemisch  zu 
fassen  und  bei  den  widersprechenden  Erfahrungen 
seitens  Dubois  und  Harvey  tauchen  unwill- 
kürlich Zweifel  an  der  Exaktheit  der  Methoden 
auf,  zumal  es  sich  bei  dem  amerikanischen  Forscher 
wieder  um  Leuchttiere  handelt,  bei  denen  die 
Möglicheit  einer  Isolierung  der  Leuchtsubstanzen 
aus  dem  Körper  in  Frage  gestellt  werden  muß. 
Ein  gemeinsamer  Zug  wohnt  aber  allen  jenen 
Bestrebungen  der  biochemischen  F"orschung  inne, 
die  Suche  nach  einem  spezifischen,  chemisch  de- 
finierten Substrat,  dem  Leuchtstoff.  Und  doch 
müßte  es  vielleicht  gar  keinen  solchen  überhaupt 


')  Harvey,  E.  N.,  Tlie  light- producing  substances 
photogenin  and  photophelein  of  luminous  animals.  Science, 
N.  S.  XLIV,  Nr.   II 40. 


460 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


in  der  Natur  geben;  hat  doch  Rad zisze  wski ') 
schon  gezeigt,  daß  Alkohole,  die  mehr  als  vier 
Kohlenstoffatome  im  Molekül  enthalten,  ferner 
ätherische  Öle,  Fettsubstanzen,  namentlich  fette 
Öle  und  deren  einzelne  Bestandteile,  gewisse 
Kohlenwasserstoffe,  organische  Säuren  und  Lipoide 
im  Laboratorium  zur  Luminiszenz  gebracht  werden 
können,  und  wir  wissen,  daß  mehrere  von  diesen 
Stoffen  und  Verbindungen  in  lebenden  Organismen 
vorkommen;  so  haben  weiter  Trautz  und  Scho- 
rigin-)  dargetan,  daß  die  Mehrzahl  organischer 
Stoffe,  sofern  sie  unter  400  Grad  oxydierbar  sind, 
beim  Oxydationsprozeß  leuchten.  Der  Schwer- 
punkt der  Frage  der  Bioluminiszenz  würde  in 
solchem  Falle  nicht  so  sehr  nach  dem  Leucht- 
stoff, als  vielmehr  nach  dem  Leuchtprozeß 
neigen. 

Es  mag  auf  den  ersten  Blick  unwahrscheinlich 
aussehen,  daß  in  solchen  Dingen  ein  Zoologe  mit 
seinem  Fachwissen  etwas  von  Nutzen  mitsprechen 
könnte;  um  so  mehr  gereichte  es  mir  zur  Freude 
und  war  gewissermaßen  eine  Genugtuung  für 
mich,  daß  sich  die  aus  meinen  vielfachen  Er- 
fahrungen mit  lebenden  leuchtenden  Tieren  und 
Studien  über  ihre  l>euchtorgane  gezogenen  Schlüsse 
auf  den  Leuchtvorgang  mit  den  Ansichten  eines 
Biochemikers  deckten,  der  ohne  leuchtende  Tiere 
auf  dem  Wege  der  Laboratoriumsversuche  mit 
gleichen  Gedanken  um  die  Lösung  desselben 
Problems  bemüht  war.  Der  Konsens  der  Mei- 
nungen bei  unserem  zufälligen  persönlichen  Zu- 
sammentreffen im  verflossenen  Winter  bot  uns 
Bürgschaft  genug,  daß  der  eingeschlagene  Weg 
der  richtige  sei  und  wir  beschlossen  daher,  gleich- 
zeitig zu  publizieren.  ^)  Mein  Ideengang  gründet 
sich  auf  biologische  Momente,  die,  durch  morpho- 
logische Tatsachen  gestützt,  den  Leuchtprozeß 
unter  den  Gesichtswinkel  des  allgemeinen  Stoff- 
wechselgetriebes im  Organismus  stellen.  So  oft 
in  den  letzten  Jahren  über  das  Leuchtvermögen 
eines  Tieres  berichtet  wurde,  fehlte  es  nie  an  der 
guten  Absicht,  einen  besonderen  Nutzen  des 
Lichtes  für  dessen  Träger  ausfindig  zu  machen. 
So  lebte  man  sich  allmählich  in  die  Vorstellungen 
ein,  daß  in  dem  Dunkel  der  Tiefsee  die  Nahrungs- 
suche erleichtert,  Beute  geködert.  Feinde  ge- 
schreckt, Artangehörige  erkannt  werden  u.a.m. 
Wenn  auch  die  eine  oder  andere  Erklärung  recht 
plausibel  klingt,  so  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß 
bei  einer  großen  Anzahl  von  Tieren  gar  keine 
paßt;  man  denke  nur  an  die  Heere  winziger, 
leuchtender  Protisten,  an  leuchtende  Würmer  und 
Schlangensterne,  die  in  Sand  und  Schlamm  oder 
eigenen  Wohnröhren  zeitlebens  ihr  Dasein  fristen, 

')  Radziszewski,  B.,  tjber  die  Phosphoreszenz  der 
organischen  und  organisierten  Körper.  Liebig's  Ann.  d.  Chemie, 
203,  S.  305   (1S80). 

-)  Trautz  und  Schorigin,  Über  Chemilurainiszenz. 
Zeitschr.  f.  wiss.  Photographie,  3  (1905). 

')  Trojan,  E.,  Die  Lichtentwicklung  bei  Tieren.  Inter- 
nat. Zeitschr.  f.  physik.-chem.  Biologie,  3,  S.  94  (1917).  — 
Heller,  R.,  Bioluminiszenz  und  Stoffwechsel.  Ebenda,  S.  106 
(1917)- 


an  die  kleinsten  Krebschen  des  Planktons  mit 
ihrem  aufblitzenden  Licht  u.  a.  Nur  in  einem 
Falle  ist  ein  höherer  biologischer  Wert  für  tieri- 
sches Licht  durch  das  Experiment  erwiesen,  d.  i. 
bei  Leuchtkäfern  die  Anziehung  der  Geschlechter 
zur  Paarungszeit.  Es  leuchtet  das  Weibchen  von 
Luciola  italica  nur  solange,  bis  es  ein  Männ- 
chen seiner  Spezies  auf  sich  aufmerksam  gemacht 
und  herbeigelockt  hat,  ja  es  richtet  zu  diesem 
Zwecke  das  Weibchen  von  Lampyris  nocti- 
luca  die  bei  normaler  Körperhaltung  dem  Boden 
zugekehrten  Leuchtorgane  gerade  dem  fliegenden 
Männchen  zu ;  es  legt  sich  im  Gras  auf  den 
Rücken  und  streckt  den  Hinterleib  empor.  Nahezu 
mit  der  Beweiskraft  eines  Experiments  zwingen 
gewisse  Umstände  auch  bei  manchen  P'ischen 
die  gleiche  Erklärung  gelten  zu  lassen.  Die  bei 
Angehörigen  ein  und  derselben  Art  erstaunlicher- 
weise genau  eingehaltene  gleiche  Zahl  und  Lage 
der  Leuchtorgane  am  Körper  der  Tiere,  das  Er- 
scheinen gewisser  Leuchtorgaiie  und  Leuchtplatten 
erst  zur  Zeit  der  Geschlechtsreife,  insbesondere 
die  Beobachtung,  daß  eine  Uschart  (Porich thys) 
trotz  reichlichen  Besitzes  an  Leuchtorganen  gar 
kein  Licht,  oder  bei  Anwendung  künstlicher  Reize 
nur  wenig  davon  merken  ließ,  während  Exemplare 
derselben  Spezies  bei  der  Brutpflege  herrlich 
leuchtend  gesehen  worden  sind,  sprechen  für  die 
Analogie  zum  Hochzeitskleid  im  besonderen,  wie 
für  den  Ersatz  an  Farben  anderer  Tiere  im  all- 
gemeinen. 

Das  von  mir  seit  Jahren  an  marinen  Stationen 
beobachtete  Tiermaterial  war  zur  Aufstellung  von 
Hypothesen  bezeichneter  Art  größtenteils  nicht 
geeignet  und  ich  begnügte  mich  daher  des  öfteren 
mit  der  Annahme,  daß  das  Leuchten  eine  zu- 
fällige Begleiterscheinung  im  Stoffwechsel  des  be- 
treffenden Tieres  sei;  weil  ich  aber  bei  niederen 
Tieren  das  Lichtphänomen  zumeist  an  eine  Ab- 
scheidung gekettet  sah,  kam  mir  der  Gedanke, 
ob  sich  nicht  etwa  der  Organismus  bei  dieser 
Gelegenheit  eines  Baiastes  an  Abbauprodukten 
entledigt.  Die  Bildung  der  Farbstoffe  im  Tier- 
körper beruht  auf  einer  Ablagerung  gewisser  Abbau- 
stoffe  des  Dissimilationsprozesses;  sie  kann,  muß 
aber  nicht  zu  sekundären  Geschlechtsmerkmalen 
führen;  vielleicht  ließe  sich  Ähnliches  vom  Or- 
ganismenlicht denken.  Die  seinerzeit  von  mir 
an  leuchtenden  Pyrocysteen  gemachte  Beobach- 
tung, daß  das  Licht  an  der  Peripherie  ihrer  Chro- 
matojihoren  erscheint,  die  Verlagerung  der  Leucht- 
drüsen am  Hinterleib  des  Chaetopterus  in 
den  Nephridialkanal,  das  aus  alter  Zeit  schon  ge- 
meldete Leuchten  des  menschlichen  Harnes,  eine 
Erscheinung,  die  auch  heute  durch  Verabreichung 
gewisser  Stoffe  herbeigeführt  werden  kann,  sowie  die 
Erscheinung  leuchtenden  menschlichen  Schweißes 
konnten  der  besagten  Idee  nur  förderlich  sein; 
der  Umstand,  daß  in  der  Nähe  der  Leuchtdrüsen 
mitunter  harnsaures  Ammoniak,  harnsaures  Kali, 
harnsaurer  Kalk  oder  Guanin  vorhanden  ist,  kam 
ihr    nur    zustatten.     Bei    den    Purinsubstanzen    so 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


461 


angelangt,  verfolgte  ich  den  Gedanken  weiter  und 
meine,  daß,  da  ja  auch  unter  den  tierischen  Farb- 
stoffen Purinsubstanzen  bereits  bekannt  sind,  Licht- 
kleid und  Farbenkleid  nicht  nur  biologisch,  son- 
dern auch  biochemisch  zusammengehören.  Es  ist 
erwiesen,  daß  die  Pigmente  der  menschlichen  Haut, 
des  Auges  u.  a.,  kurz  die  Melanine  ihre  Entstehung 
als  sekundäre  Umwandlungsprodukte  von  Amino- 
säuren den  Eiweißkörpern  verdanken;  daß  es 
sich  aber  auch  beim  Organismenlicht  um  den 
Zerfall  gerade  der  letzteren  handelt,  machen  die 
Versuche  Weitlaner's  'j  mit  leuchtendem  Humus 
wahrscheinlich.  Von  Eiweißkörpern  verlangen  die 
Nukleoproteide  hier  volles  Interesse,  weil  die  Iso- 
lierung der  Purinbasen  Guanin,  Adenin,  Xanthin 
und  Hypoxanthin  aus  ihnen  bereits  gelungen  ist. 
Schwebte  mir  so  als  nächste  Aufgabe  der  Bio- 
chemie die  Beobachtung  von  Umsetzungen  bei 
der  Bildung  von  Purinsubstanzen  vor,  so  ist  gleich- 
zeitig, wie  ich  jetzt  ausführlich  meiner  Schwester- 
publikation entnehme,  der  Beginn  der  Arbeit  in- 
auguriert. Heller  ist  zu  der  Überzeugung  ge- 
langt, daß  sich  bestimmtere  Vorstellungen  über 
den  Reaktionstypus  der  biochemischen  Prozesse 
des  Organismenlichtes  am  ehesten  von  den  \'er- 
suchen  Radziszewski's'-)  gewinnen  lassen 
werden,  zumal  jene  heutzutage  einer  experimen- 
tellen Prüfung  nicht  unzugänglich  sind.  Den  .»Aus- 
gangspunkt bildet  für  ihn  die  Luminiszenz  des 
Lophins. 

CuH-,-C— NHv 

>C— C,H-,. 
C,J-Ir,-C— N/ 

Zwei  Möglichkeiten  bestehen,  um  von  dem 
Leuchten  des  Lophins  aus  die  Frage  des  Orga- 
nismenlichtes anzugehen ,  entweder  auf  Wegen 
der  Canizzaro' sehen  Reaktion  oder  von  Ein- 
griffen auf  den  Imidazolring.  Nachdem  der  Autor 
die  Gründe  für  und  gegen  die  Annahme  der 
ersten  Möglichkeit  diskutiert  hat,  holt  er  die 
Tatsache  hervor,  daß  in  den  verbreitetsten  End- 
produkten des  Stoffwechsels,  den  Purinkörpern, 
ein  Imidazolring  im  Molekül  vorkommt.  Das 
weist  ihn  auf  die  Eventualität  eines  Zusammen- 
hanges zwischen  Bioluminiszenz  und  den  Abbau- 
prozessen stickstoffhaltiger  Stoffwechselprodukte. 
Wie  die  große  Verbreitung  des  Organismenlichtes 
bei  Tieren  verschiedenster  Stämme  und  seine 
geringe  biologische  Bedeutung  bei  der  Überzahl 
derselben  und  der  Umstand,  daß  es  schon  an  die 
frühesten  Stadien  des  Lebens  geknüpft  ist  u.  a.  m. 
gegen  die  Annahme  spezifischer  Leuchtstoffe 
spricht,  so  drängen  dieselben  Tatsachen  um  so 
mehr    zu    der   Überzeugung,    daß    das    Licht    an 

')  Weitlaner,  Weiteres  vom  Johanniskäferlicht  und 
vom  Organismenleuchten  überhaupt.  Verh.  zool.  bot.  Ges. 
Wien.  61   (191 1). 

^)  Radziszewski,  B.,  Über  das  Leuchten  des  Lophins. 
Ber.  deutsch,  ehem.  Ges.    10. 


allgemeine  Stoffwechselprodukte  geknüpft  ist. 
„Da  Imidazolverbindungen  als  allgemeine  End- 
produkte des  Abbaues  stickstoffhaltiger  Ver- 
bindungen in  Organismen  auftreten ,  ist  die  ein- 
fachste und  exakten  Versuchen  zugänglichste 
Annahme  jene,  daß  die  Bioluminiszenz  an  die 
letzten  Phasen  des  Abbaues  im  Stickstoffwechsel 
geknüpft  ist,  die  zur  Ausscheidung  von  Purin- 
körpern führt."  Unter  den  Purinkörpern  ist  für 
Harnsäure  Chemiluminiszenz  bei  Einwirkung  von 
Chlorkalk,  Natriumhypochlorit,  Kalium-  und 
Natriumhypobromit  erwiesen.  Heller  hat  es 
nun  aber  auch  für  eine  ganze  Reihe  von  Purin- 
derivaten,  die  bei  seinen  Versuchen  eine  intensive 
und  länger  andauernde  Photophosphoreszenz 
zeigten,  höchst  wahrscheinlich  gemacht,  daß  sie 
unter  geeigneten  Bedingungen  vielfach  auch  bei 
chemischen  Reaktionen  Luminiszenz  entwickeln 
werden.     Es  sind  dies: 

Monoxypurine:  Hypoxanthin  (6- Oxypurin). 
Aminooxypurine:    Guanin    (2-Amino,    6- 
Oxypurin),  Guanosin  (Guanin-d-Ribose). 

Dioxypurine:  Xanthin  (2,  6-Dioxypurin), 
8-Methylxanthin. 

Theobromin  (3,  7-Dimethylxanthin),  Theobro- 
minum  natro-aceticum  und  salicylicum,  Theobro- 
minsäure. 

Coffein  (i,  3,  7-Trimethylxanthin). 
Coffeinum     citricum,     natro  -  salicylicum     und 
hydrochloricum. 

8-Methylcoffein,  Hydroxycoffein. 
Von  anderen  Substanzen,  die  mit  dem  Stickstoff- 
stoffwechsel   in    inniger    Beziehung    stehen,    phos- 
phoreszierten besonders  stark: 

Uracil,  Allantoin,  Phenylhydantoinprolin, 
Gaunidin,  Guanidinchlorhydrat,  Kreatin,  Krea- 
tinin, 

Amidobarbitursäure ,  Alloxan,  Alloxanthin, 
Parabansäure. 

Die  chemische  Zusammensetzung  speziell  dieser 
Stoffe  lasse  schließen,  daß  möglicherweise  auch 
der  weitere  Abbau  der  Purinkörper  von  Luminis- 
zenz begleitet  ist  (Pyrimidinring,  Imidazolring) 
oder  so  mancher  von  jenen  Stoffwechselprozessen, 
die  zu  anderen  Stickstoffringen  beziehungsweise 
nicht  ringförmigen  Stickstoffverbindungen,  ins- 
besondere also  zu  aliphatischen  Harnstoffderivaten 
führen. 

Die  nächste  Aufgabe  wird  es  nach  Hell  er 's 
Dafürhalten  sein,  die  Phase  des  Abbaues,  in  der 
das  Licht  auftritt,  zu  finden.  Ob  es  sich  bereits 
auf  der  Stufe  der  Nukleinsäuren  zeigt  (vgl.  meinen 
Hinweis  oben)  oder  später,  ob  und  inwiefern 
Fermente  eine  Rolle  dabei  spielen,  läßt  sich  heute 
nicht  sagen. 

Sollten  sich  aber  die  hier  entwickelten  Direktiven 
für  die  biochemische  Lösung  der  Frage  als  frucht- 
bar erweisen,  dann  haben  Zoologen  gewiß  einen 
guten  Teil  dazu  beigetragen. 


462 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


Einzelberichte. 


Astronomie.  Über  die  chemische  Zusammen- 
setzung der  Meteore  berichtet  Merril  in  den 
Mem.  of  the  national  Akad.  of  Sciences,  Washington 
1916.  F"est  stand  schon  lange  die  Anwesenheit 
folgender  nicht  gasförmigen  Elemente :  Silizium, 
Aluminium,  Eisen,  Chrom,  Mangan,  Nickel,  Kobalt, 
Magnesium,  Calzium,  Natrium,  Kalium,  Schwefel, 
Phosphor,  Kohlenstoff.  Mehr  oder  weniger  zweifel- 
haft erschien  das  Vorkommen  von  Antimon, 
Arsenik,  Kupfer,  Gold,  Blei,  Palladium,  Platin,  Zinn, 
Titan,  Wolfram,  Uran,  Vanadium  und  Zink.  Es 
handelte  sich  darum,  durch  genaueste  Analyse  und 
mikroskopische  Untersuchung  das  Vorkommen 
dieser  und  gegebenenfalles  anderen  Elementen 
festzustellen.  Vor  allem  bei  Meteoren  des  Feld- 
spathtypus  wurden  sorgfältig  nach  Barium,  Stron- 
tium und  Zirkon  gesucht.  In  zweifelhaften  Phallen 
suchte  man  ein  Stück  desselben  Meteores  zu  er- 
halten, von  dem  eine  frühere  Analyse  das  ange- 
deutete Element  ergeben  hatte.  Ein  Stück  von 
etwa  50  g  Gewicht  war  immer  ausreichend,  und 
nur  in  seltenen  Fällen  mußte  man  sich  mit  Proben 
von  nur  10  g  begnügen.  Die  Arbeit  gibt  nun  die 
genauen  Analysen  einer  größeren  Anzahl  von 
Meteoren  an,  in  denen  sich  bis  zu  21  verschiedene 
Mineralien  finden.  Die  Verarbeitung  aller  dieser 
Einzelergebnisse  zeitigt  folgende  Schlüsse.  Gold 
hat  sich  weder  in  den  Eisen-  noch  in  den  Stein- 
meteoren gefunden,  wohl  aber  Spuren  von  Platin, 
Palladium,  Iridium  und  Ruthenium.  Demgegen- 
über hat  aber  Mingay e  im  Pallasit  von  Mt 
Dyrring,  Neusüdwales  bestimmt  Spuren  von  Gold 
in  Verbindung  mit  Platin,  Iridium  und  Palladium 
gefunden,  ebenso  in  dem  Eisenmeteor  von  Barraba 
Platin,  Iridium  und  Spuren  von  Zinn.  Hinsichtlich 
des  Phosphor  scheint  die  PYage  noch  immer  oft'en 
zu  sein,  möglicherweise  hat  sich  des  Material  im 
Laufe  der  Zeit  so  verändert,  daß  es  seinen  Phosphor- 
gehalt durch  Verwitterung  abgegeben  hat.  Silizium 
ist  sicher  nachgewiesen,  doch  ist  noch  problema- 
tisch, in  welchen  Verbindungen  es  auftritt.  Schwefel 
kommt  vor  an  Eisen  gebunden  oder  als  Oldhamit 
an  Kalzium  gebunden.  Zinn  kommt  vor  teils  an 
Eisen  gebunden,  teils  als  Schwefel  Verbindung. 
Vanadium  ist  in  zwei  Fällen  nachgewiesen,  Titan 
nicht,  aber  es  ist  anzunehmen,  daß  in  anderen 
Meteoren  dies  Metall  noch  vorkommen  wird,  nach 
Analogie  seines  Vorkommens  auf  der  Erde.  Ebenso 
ist  das  Nichtauftreten  von  Barium  und  Strontium 
in  den  Analysen  der  Tatsache  zuzuschreiben,  daß 
die  Mineralproben  nicht  dem  Feldspathtypus  an- 
gehörten, solche  waren  nicht  zu  beschaffen.  Zum 
Schluß  gibt  eine  tabellarische  Zusammenstellung 
von  61  Analysen  einen  Überblick  über  das  Ver- 
hältnis des  Vorkommens  der  einzelnen  Elemente 
und  Verbindungen  in  den  Meteoren.  So  kommt 
Kohlenstoff  immer  nur  geringfügig  vor,  ebenso 
Kupfer.  Minerale,  die  auf  der  Erde  nicht  vorkämen, 
erwähnt  die  Arbeit  nicht.  Riem. 


Eine  abschließende  Bearbeitung  des  gesamten, 
in  den  Museen  der  Vereinigten  Staaten  und  Mexikos 
vorhandenen  Materials  an  Meteorsteinen  gibt  uns 
der  13.  Band  der  Veröff.  der  National  Academy 
of  Sciences,  Washington  191 5.  Alle  bis  zum 
1.  Jan.  1909  bekannt  gewordenen  Fälle  sind  da 
eingehend  besprochen,  eine  Mitteilung  über  Beob- 
achtungen beim  Niederfallen,  Suchen  und  Finden 
des  Steines,  dessen  genaue  Beschreibung  nach 
Gewicht,  mineralogischer  und  chemischer  Zu- 
sammensetzung, und  äußerem  Ansehen.  Die  Ver- 
öffentlichung bringt  sogar  auf  Karten  der  einzelnen 
Staaten  die  I*"undstelle  und  deren  geographische 
Koordinaten,  offenbar,  damit  in  dem  dünnbe- 
völkerten Lande  das  Suchen  nach  etwaigen  Bruch- 
stücken ermöglicht  wird.  Das  Gewicht  der  in 
den  Museen  gesammelten  Steine  geht  von  wenigen 
Gramm  bis  zu  27000  Kilo,  und  umfaßt  201  ein- 
zelne Funde,  von  denen  mehrere  eine  Anzahl  zu- 
sammengehöriger Teile  umfassen.  Wenn  auch 
keinerlei  Abbildungen  der  Meteore  selber,  oder 
ihrer  Schleifflächen  oder  des  mikroskopischen  Be- 
fundes gegeben  sind,  so  ist  das  sehr  umfangreiche 
Werk  doch  für  die  iMeteoritenliteratur  eine  be- 
deutende und  wichtige  Erscheinung,  wie  sie  in 
gleicher  Vollständigkeit  sonst  noch  nicht  vor- 
handen ist.  Riem. 

Vererbungslehre.  Einen  Beitrag  zur  Ver- 
erbungslehre bringt  der  Berner  Pathologe  W egelin 
in  einer  Arbeit  „Über  eine  erbliche  Mißbildung 
des  kleinen  Fingers".^)  Wegelin  teilt  den 
.Stammbaum  einer  Familie  mit,  in  welcher  in  drei 
Generationen  eine  vererbbare  Mißbildung  des 
kleinen  Fingers  vorgekommen  ist.  Die  Mißbildung 
besteht  in  einer  Abbiegung  der  Endphalanx  nach 
der  radialen  Seite  hin,  wie  es  das  Röntgenbild 
(Abb.  i)  zeigt.  Die  Endphalanx  selbst  ist  völlig 
normal,  aber  die  distale  Gelenkfläche  der  Mittel- 
phalanx ist  nach  der  radialen  Seite  geneigt, 
woraus  sich  eine  abnorme  Stellung  der  End- 
phalanx ergibt.  Auch  ist  die  Mittelphalanx  zu 
kurz.  Im  übrigen  ist  der  kleine  Finger,  wie 
auch  die  anderen  P"inger,  völlig  normal.  Die  Miß- 
bildung ist  stets  an  beiden  Händen  vorhanden. 
An  den  Füßen    fehlt    die  Verbiegung   der  Zehen. 

Die  Angehörigen  dieser  in  Trawelan  (Berner 
Jura)  lebenden  Familie  wurden  von  Wegelin 
größtenteils  persönlich  untersucht ,  zum  Teil 
stützte  er  sich  auf  die  genauen  Angaben  von 
P'amilienmitgliedern.  Die  Verbreitung  dieser  Miß- 
bildung in  der  Familie  illustriert  der  beifolgende 
Stammbaum  (Abb.  2),  in  welchem  die  positiven 
Fälle  durch  Schwarz  gekennzeichnet  sind.  Die 
Mißbildung  ist  durch  die  Großmutter  (P)  in  die 
F"amilie  gekommen.  In  der  nächsten  Generation  (Fj ) 
waren  von  10  Kindern  6  mit  der  Mißbildung  be- 
haftet. Eine  Bevorzugung  des  Geschlechts  war  nicht 


'j  Berliner  klinische  Wochenschrift  igiy,  Nr.   12. 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


463 


vorhanden.  Von  den  10  Kindern  heirateten  9 
normale  Individuen.  Die  Kinder  (F.,)  waren  nor- 
mal, soweit  sie  von  normalen  Eltern  abstammten. 
Dagegen  waren  in  allen  übrigen  Familien,  wo 
einer  der  Eltern  die  Mißbildung  aufwies,  miß- 
bildete Kinder  vorhanden.  In  4  Familien  waren 
sämtliche    Kinder    mißbildet,    was    besonders 


pflegt  und  somit  dominanten  Charakter  besitzt". 
Nimmt  man  an,  daß  die  Fingerverkrümmung  ein 
dominantes  Merkmal  darstellt,  die  normale  Gestalt 
des  kleinen  Fingers  dagegen  ein  rezessives ,  so 
kann  die  Generation  P,  die  das  dominante  Merk- 
mal besitzt,  homozygot  sein,  d.  h.  von  zwei  miß- 
bildeten   Eltern    abstammen,     oder    heterozygot. 


Abb.   I.     Nach   W 


<?5 


?        S       f 


TT    nun 


Abb.  2.     Nach   VVegcIin. 


bei  der  einen  siebenköpfigen  Familie  in  die  Augen 
fällt. 

Es  handelt  sich  also  um  eine  in  hohem  Maße 
vererbbare  Mißbildung,  die  einer  ganzen  Reihe 
anderer  vererbbarer  Mißbildungen  der  Extremitäten 
an  die  Seite  zu  stellen  ist.  Es  fragt  sich  nun, 
ob  die  Vererbung  dieser  Mißbildung  den  Mendel - 
sehen  Vererbungsregeln  folgt.  Nach  W  e  g  e  1  i  n 
ist  das  nicht  der  Fall:  „Das  einzig  Sichere,  was 
sich  aus  unserem  Stammbaum  ergibt,  ist  die 
Tatsache,  daß  die  beschriebene  Fingerverkrümmung 
bei    der    Mehrzahl    der    Nachkommen    aufzutreten 


d.  h.  von  einem  normalen  und  einem  mißbildeten 
abstammen.  Das  letztere  ist  von  vornherein 
wahrscheinlicher:  es  sollte  also  die  Hälfte  der 
Kinder  (F, )  normal,  die  Hälfte  mißbildet  sein. 
Das  beobachtete  Verhältnis  —  4  und  6  —  ent- 
spricht dem  ungefähr.  In  der  nächsten  Gene- 
ration (F.,)  sollte  wieder  die  Hälfte  normal,  die 
Hälfte  niißbildet  sein.  Auf  den  ersten  Blick 
scheint  auch  hier  dieses  Verhältnis  gewahrt 
(16  normale:  14  mißbildete).  Wegelin  weist 
jedoch  darauf  hin,  daß  die  Dinge  hier  nicht  so 
einfach    genommen  werden   können.     Denn  wenn 


464 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  33 


man  die  einzelnen  Familien  von  F,  vornimmt,  so 
sind  hier  wider  Erwarten  häufig  sämtliche 
Kinder  mit  der  Mißbildung  behaftet,  was  nament- 
lich bei  der  siebenköpfigen  Familie  der  Fall  ist. 
Der  Vater  besitzt  hier  völlig  normale  Finger,  und 
wenigstens  ein  Teil  der  Kinder  sollte  hier 
normal  sein. 

VVegelin  weist  auf  Grund  seiner  und  anderer 
Beobachtungen  darauf  hin,  daß  man  in  der  Praxis, 
in  der  Eugenik,  sich  nicht  ganz  von  den  durch 
die  M  e  n  d  e  r  sehen  Regeln  gegebenen  Gesichts- 
punkten leiten  lassen  darf.  „Jedenfalls  ist  so  viel 
sicher,  daß  das  bei  Ehen  zwischen  Mißbildeten 
und  Normalen  .  .  .  eine  Vorausbestimmung  der 
Zahl  der  Mißbildeten  nach  den  Mendel'schen 
Regeln  in  den  meisten  Fällen  nicht  möglich  er- 
scheint und  noch  viel  unsicherer  ist  die  Be- 
rechnung bei  erblichen  Krankheiten,  welche 
manchmal  erst  im  späteren  Leben  zum  Ausbruch 
kommen."  VVegelin  schlägt  darum  in  gutem 
])raktischen  Sinn  vor,  daß  die  Aufgabe  des  Arztes, 
welcher  der  Eugenik  folgen  will,  nur  sein  soll, 
„in  jedem  Einzelfall  durch  möglichst  genaue 
genealogische  Forschung  die  Wahrscheinlichkeits- 
quote der  Erblichkeit  festzustellen.  Natürlich 
wird  man  sich  bei  den  Schlußfolgerungen  danach 
zu  richten  haben,  inwieweit  Individuum  und  All- 
gemeinheit durch  eine  vererbbare  Mißbildung  oder 
Krankheit  geschädigt  werden  und  ob  nicht  der 
Schaden  durch  die  zu  erwartende  Zahl  der  Ge- 
sunden aufgewogen  wird." 

Wegelin  erörtert  zum  Schluß  noch  ein 
anderes  Problem,  das  ebenfalls  von  praktischer 
Bedeutung  für  die  Eugenik  werden  kann. 
Wegelin  weist  darauf  hin,  daß  die  von  ihm 
beobachtete  Fingerverkrümmung  keine  absolut 
konstante  Größe  darstellte:  sie  ist  bei  den  ein- 
zelnen Mitgliedern  der  Familie  verschieden  stark 
ausgebildet.  Es  wäre  natürlich  möglich ,  daß  es 
sich  um  ein  Merkmal  handelt,  das  um  einen 
Mittelwert  schwankt.  Es  wäre  aber  auch  daran 
zu  denken,  daß  es  sich  um  eine  unvoll- 
kommene Dominanz  handelt.  „Es  wäre  von 
Interesse,  bei  variablen  vererbbaren  Mißbildungen 
und  Krankheiten  des  Menschen  künftig  darauf  zu 
achten,  wie  sich  in  der  Deszendenz  das  Verhältnis 
der  einzelnen  Abstufungen  zueinander  gestaltet. 
Vorerst  ist  hierüber  noch  nichts  bekannt,  jeden- 
falls aber  ist  die  Abschwächung  einer  erblichen 
Mißbildung  oder  Krankheit  durch  die  Ehe  mit 
einem  Gesunden  praktisch  nicht  ohne  Bedeutung." 
Lipschütz. 

Zoologie.  Immer  weniger,  scheint  es,  sollen 
wir  an  den  Schönheitssinn  im  Tierreich  glauben; 
doch    die    Wahrheit    würde    uns    nie   enttäuschen. 


sondern  wir  spüren  ihr  nach.  Vor  wenigen  Jahren 
sprach  S.  Günther  die  Vermutung  aus,  die  Be- 
deutung der  sogenannten  Schmuckfarben  männ- 
licher Vögel  bestehe  nicht  in  der  Anwartschaft 
auf  den  Schönheitssinn  der  Weibchen,  wie  Darwin 
meinte,  sondern  die  auffallenden  Farben  dienen  viel- 
leicht mehr  zur  Einschüchterung  anderer  Männchen 
beim  Werben  um  die  Weibchen.  Nun  spräche 
noch  die  Tatsache,  daß  manche  Vögel  ihr  Nest 
mit  Blüten  schmücken,  wie  der  .Stieglitz  unter  den 
einheimischen,  die  Laubenvögel  unter  vielen  aus- 
ländischen Arten,  für  den  Schönheitssinn  dieser 
Arten.  Andre  Vogelarten  tragen  grüne  Pflanzen- 
teile herbei:  der  Wespenbussard  Lärchenreislein, 
Tannenzweige  der  Nußhäher  und  Hühnerhabicht, 
grüne  Kleestengel  nimmt  der  kleine  Würger, 
Erlenblätter  die  Singdrossel,  und  eine  Schwarz- 
amsel nahm,  wie  Pastor  W.  Schuster')  berichtet, 
Stecklinge  von  Kohlrabi.  Der  Buchfink  und  noch 
viele   andre  Vögel    verwenden  frischgrünes  Moos. 

Soweit  grüne  Pflanzenteile  verwendet  werden, 
denkt  man  vielleicht  am  ehesten  daran,  daß  diese 
das  Nest  teilweise  verdecken  und  es  somit  vor 
feindlichen  Augen  schützen.  Diesen  Gedanken 
zieht  allerdings  Schuster  gar  nicht  in  Betracht. 
Weiterhin  mag  die  Bedeutung  lebender  Pflanzen- 
teile darin  bestehen,  daß  deren  Geruch 
schädliche  Insekten  fernhält.  Diese  Er- 
klärung erscheint  Schuster  im  großen  und 
ganzen  recht  plausibel.  Er  wurde  darauf  aufmerk- 
sam, daß  die  meisten  von  den  Vögeln  eingetragenen 
grünen  Stoffe  stark  riechen,  was  man  für  Nadel- 
gewächse beim  Bussard  und  andern  Raubvögeln, 
für  Heidekraut  bei  der  Steppenweihe  zugeben  wird 
und  selbst  für  frischduftendes  Buchenlaub  und  andre 
weniger  stark  riechende  Pflanzen  wenigstens  in  dem 
.Sinne  annehmen  kann,  daß  deren  zarter  Duft 
auf  Kerbtiere  nicht  anziehend  wirkt.  Der 
Star  holt  sich  in  seine  Nistkästen  Salat  und  Thymian. 
Thymian  und  Waldmeister  legt  auch  der  Mensch  in 
Schubladen,  um  Motten  fern  zu  halten.  Gerade 
diejenigen  Vögel,  führt  .Schuster  aus,  tragen  mit 
Vorliebe  grüne  Pflanzenteile  auf  ihrNest,  deren  Junge 
von  zugetragenen  Mäusen,  Ratten  u.  dgl.  leben  und 
gewöhnlich  Reste  von  Aas  liegen  lassen. 

Es  mag  mit  alledem  die  P'rage  noch  nicht 
völlig  geklärt  sein.  Doch  könnte  sehr  wohl  etwas 
Wahres  daran  sein,  daß  der  scheinbare  Schmuck 
der  Nester  der  nützlichen  Sauberkeit  dient.  Und 
so  wird  von  diesen  Ausführungen  jeder  gern  Kennt- 
nis nehmen,  auch  wer  nicht  mit  Schuster  die 
Erklärung  durch  einen  einfachen  Schönheitssinn 
von  vornherein  als  anthropozentrisch  verwerfen 
und  der  aristoselischen  Erklärung,  Zauberwirkung, 
gleichstellen  würde.  V.  Franz. 

')  Gesellschaft  Luxemburger  Naturfreunde   1917. 


_  ■»  K.  Trojan,  Zur  Lösung  der  Frage  des  Organis 
Zusammensetzung  der  Meteore.  S.  462.  —  Meteorsteine 
S.   Günther,    Schönheitssinn  im   Tierreich.  -S.  464. 


lenlichtes.    S.  457.    —    Einzelberichte:     Merril,    Chemische 
S.  462.      Wegelin,   Erbliche  Mil3bildung.    (2  Abb.)    S.  462. 


;en  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Lippcrt  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Ml 


nuskripte  und  Zuschrifte 

Druck  der   G.   Pätz'schen   Buchd 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  26.  August  1917. 


Nummer  34. 


Faraday's  Stellung  in  der  Geschichte  der  Physik. 

Zu  seinem  50.  Todestag  am  26.  August. 

Von  Victor  Engelhardt,  Assistent  am  Physikalischen  Institut  der  Kgl.  Landwirtschaftlichen  Hochschule  Berlin. 
[Nachdruck  verboten.]  Mit  2   Abbildungen. 

Fluida    angenommen    werden.      Als  Coulo 


I.  Faraday's  Zeitalter  und  seine  wissen- 
schaftliche Persönlichkeit. 

Wenn  man  einmal  anfängt  die  historische 
Nachbarschaft  jedes  einzelnen  Arbeitsgebietes 
eines  Forschers  zu  untersuchen,  so  findet  man 
schnell  eins  ins  andere  so  innig  verwoben,  daß 
die  Versuchung  nahe  liegt,  die  ganze  Geschichte 
der  Wissenschaft  überhaupt  zu  behandeln.  Die 
Unmöglichkeit  dieses  Vorhabens  zwingt  uns 
Grenzen  zu  setzen ,  die  historische  Bedingtheit 
einerseits  und  die  Folgen  der  betrefTenden 
Forschungsarbeit  andererseits  an  einem  mehr  oder 
minder  willkürlichen  Punkt  abzubrechen.  —  Inner- 
halb des  so  gefühlsmäßig  bestimmten  Gebietes 
könnten  wir  streng  historisch,  d.  h.  rein  chrono- 
logisch verfahren.  Dann  müßten  wir  aber  in 
ebenso  willkürlicher  Weise,  wie  die  Aufgaben  im 
Leben  des  Gelehrten  wechselten,  fortwährend 
neue  Fäden  anknüpfen  und  wieder  verlieren,  was 
in  einer  kurzen  Betrachtung  große  Verwirrung 
hervorrufen  würde.  —  Man  ist  darum  gezwungen, 
ein  der  historischen  Behandlungsweise  vollkommen 
fremdes  Element  einzuführen,  bis  zu  gewissem 
Grade  systematisch  vorzugehen.  Freilich  sehen 
wir  dann  das  Leben  nur  idealisiert,  gleich  einer 
von  ferne  erschauten  Landschaft,  wir  sehen  die 
Hauptzüge  allein,  können  aber  dafür  deren  Ver- 
lauf ungehindert  durch  störendes  Beiwerk  ver- 
folgen. 

Auch  ein  so  selbständiger  Geist  wie  Faraday 
ist  historisch  bestimmt.  Um  ihn  ganz  zu  ver- 
stehen, müssen  wir,  neben  seinem  persönlichen 
Charakter,  neben  den  zufälligen  Umständen  seiner 
Umgebung,  vor  allem  den  wissenschaftlichen 
Standpunkt  der  Zeit  in  Rechnung  setzen,  in 
welcher  er  wirkt.  —  Newton')  hatte  1686  das 
Gesetz  der  allgemeinen  Massenanziehung  gefunden. 
Wo  er  aber  noch  die  Bildung  jeder  Hypothese 
ablehnte,  sprachen  seine  Nachfolger  schon  von 
einer  Qualität  der  Materie,  die  sie  Gravitation 
benannten.  Als  dann  mit  den  Ergebnissen  der 
experimentellen  Physik  die  elektrischen  und 
magnetischen  Kräfte  in  den  Mittelpunkt  des 
Interesses  traten,  war  es  für  die  Newtonianer 
durchaus  naheliegend,  auch  diese  Kräfte  als  die 
„Qualität"  einer  Materie  anzusehen.  Da  sie  mit 
der  gewöhnlichen  Masse  aber  keineswegs  immer 
verbunden  waren,  mußten  jedoch  als  Träger  be- 
sondere  Materien,    elektrische    und    magnetische, 

')   Philosophia  naturalis  principia  mathemalica   1687. 


b>) 

langjährigen  Versuchen  von  1785 — 1789  für 
Elektrizität  und  Magnetismus  der  Gravitations- 
formel ähnliche  Beziehungen  fand,  war  das  darum 
denjenigen,  welche  diese  Kräfte  von  Newton's 
Standpunkt  aus  ansahen,  eine  große  Stütze.  Die 
Kräfte  wurden  aber  dadurch  auf  letzten  Endes 
unerklärbare  Fernkräfte  zurückgeführt  und  diese 
wiederum  an  Materien  gebunden,  die  nichts  mit- 
einander zu  tun  hatten.  Da  gab  es  keine  Brücke 
mehr,  welche  die  Kräfte  verband. 

Soweit  war  die  Zeit,  als  die  experimentelle 
Seite  der  Physik  von  neuem  erstarkte  und  in 
zahlreichen  Entdeckungen  den  Zusammenhang 
der  Kräfte  nachwies.  Aber  noch  war  man  in 
den  gewohnten  Anschauungen  zu  sehr  befangen, 
um  die  schlechte  Übereinstimmung  zwischen 
Experiment  und  Theorie  voll  zu  erfassen.  • —  Erst 
eine  neue,  bisher  noch  ganz  unbekannte  Tatsache 
vermochte  die  Geister  aufzurütteln.  Im  Jahre  1820 
beobachtete  Oersted'-)  die  Ablenkung  einer 
Magnetnadel  durch  den  elektrischen  Strom.  Der 
dadurch  nachgewiesene  Zusammenhang  zwischen 
Elektrizität  undMagnetismusveranlaßte  Ampere"'), 
das  magnetische  Fluidum  zu  eliminieren  und  den 
Magnetismus  auf  elektrische  Ströme  zurückzu- 
führen, welche  die  Moleküle  umkreisten.  Nach- 
dem auf  diese  Weise  wenigstens  eine  Scheidewand 
zwischen  den  Kräften  gefallen  war,  vermochte  der 
Gedanke  immer  mehr  Boden  zu  gewinnen,  daß 
auch  alle  anderen  Kräfte  letzten  Endes  ein  und 
dasselbe  seien. 

Dieses  Prinzip  konnte  in  voller  Klarheit  aber 
nur  von  einem  Mann  ausgesprochen  werden, 
welcher  sich  von  der  Fessel  hergebrachter  Tradi- 
tionen frei  genug  fühlte,  um  auch  das  Neueste 
und  Kühnste  mutig  zu  denken.  Dieser  Mann  war 
F"araday.  —  Faraday's  große  Unabhängigkeit 
von  der  Überlieferung  wurde  durch  seinen  Charakter 
und  sein  persönliches  Schicksal  bedingt.  Er  kam  *) 
am  22.  September  1791  in  Newington  Butts  bei 
London,  als  der  Sohn  eines  Hufschmieds,  zur  Welt. 
In  den  einfachsten  Verhältnissen  aufgewachsen, 
ging  er  im  Alter  von  13  Jahren  zu  einem  Buch- 
binder   in    die   Lehre.      Während    seiner   Lehrzeit 


>)  Mem.  de  l'acad.  Par.   178c;— Sg. 

2)  Deutsch  in  Gilb.  Ann.  LXVl,   1S20,  S.  295. 

*)  Mem.  de  l'acad.  Par.    1S23. 

*)  S.  P.  Thompson,  Michael  Faraday's  Leben  und 
Wirken,  übersetzt  von  Schütte  und  Daneel,  Knapp, 
Halle   1900,  S.   I   u.  f. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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fand  Faraday  Gelegenheit  zur  Selbstbildung  in 
den  Büchern,  die  man  ihm  zum  Einbinden  gab 
und  in  populären  Vorträgen,  die  er  durch  die 
Gunst  seiner  Kunden  hörte.  Sir  Humphry 
Davy,  welcher  auf  Faraday  als  einen  fleißigen 
Zuhörer  aufmerksam  geworden  war,  stellte  ihn 
1813  als  Laborant  in  der  Royal  Institution  an. 
Hier  hat  er  es  durch  eisernen  Fleiß  immer 
weiter  bis  zu  den  höchsten  Ehren  gebracht. 
1824  wurde  er  IWitglied  der  Royal  Society,  1825 
Direktor  des  Laboratoriums  und  183 1,  nach  der 
Entdeckung  der  Induktion,  wuchs  sein  Ruhm 
weit  über  die  Grenzen  des  Vaterlandes  hinaus. 

Faraday  war  also  Autodidakt  von  unge- 
wöhnlichem Geiste.  Eine  so  eigenartige  Laufbahn 
konnte  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Art  der 
Forschung  bleiben.  Er  hatte  nur  die  Gemeinde- 
schule besucht  und  keine  anderen  mathematischen 
Kenntnisse  erworben,  als  die  einfachste  Algebra. 
Zwar  bedauerte  er  oft  sein  „unvollkommenes 
mathematisches  Wissen",  war  stets  bereit  die 
mathematischen  Leistungen  anderer  aufrichtig  zu 
bewundern,  und  doch  mußte  er  gefühlt  haben, 
daß  diese  Einseitigkeit  des  Geistes  für  ihn  von 
Vorteil  wäre.  Wir  könnten  sonst  nicht  verstehen, 
warum  er  neben  den  physikalischen  und  che- 
mischen, nicht  auch  die  mathematischen  Kennt- 
nisse seiner  Zeit  nachgeholt  hätte.  Seine  mathe- 
matische Unbildung  machte  ihn  freier  von  der 
Tradition,  als  alle  anderen  Fachgenossen,  denn  sie 
machte  es  ihm  unmöglich,  die  abstrakten  Fern- 
kräfte der  Newtonianer  zu  erfassen. 

Da  er  aus  Unkenntnis  der  Mathematik  seine 
Gedanken  nicht  in  abstrakte  Formen  zu  kleiden 
vermochte,  war  er  gezwungen,  sich  von  diesen 
Gedanken  eine  anschauliche  Vorstellung  zu  bilden. 
Fernkräfte  waren  nicht  vorstellbar,  die  An- 
schauung konnte  sich  nur  eine  Wirkung  von 
Teilchen  zu  Teilchen  denken.  —  Durch  diese  Ab- 
lehnung der  Newton'schen  Fernwirkung  war  es 
Faraday  natürlich  leichter  als  allen  anderen 
Physikern  seiner  Zeit,  auch  die  Vorstellung  un- 
abhängiger Huida  über  Bord  zu  werfen  und  den 
in  der  Zeit  schlummernden  Gedanken  der  Kräfte- 
verwandlung klar  zu  erfassen.  Abgesehen  von 
seinen  ersten  chemischen  Arbeiten,  stand  seine 
ganze  Forschung  unter  dem  Einfluß  dieses  Grund- 
gedankens der  Kräfteverwandlung,  welcher  sich 
aufs  beste  mit  der  Vorstellung  der  Nahkräfte 
verband.  Sein  intuitiver  Geist  hatte  ihn  zu  diesen 
Gedanken  geführt,  und  sie  stellten  ihm  nun  die 
Probleme.  Es  ist  wunderbar  zu  sehen,  wie  trotz 
aller  Phantasie  Faraday  in  der  experimentellen 
Ausführung  strenger  war,  als  jeder  Physiker  der 
Zeit.  —  Ein  intuitiver  Forscher  wird  gerade  durch 
diese  Veranlagung  seines  Geistes  verleitet,  über 
seine  Wissenschaft  hinaus  ins  Metaphysische  zu 
geraten.  Faraday  hatte  eine  solche  Grenz- 
überschreitung nicht  nötig.  Sein  metaphysisches 
Bedürfnis  wurde  in  der  Religion  vollkommen  be- 
friedigt. Der  hochberühmte  Forscher  war  bis  zu 
seinem  Ende  ein  treuer  und  überzeugter  Anhänger 


einer  fast  armseligen  Sekte.  In  ihm  trennte  sich 
Wissenschaft  und  Religion  in  ganz  seltener  Weise, 
aber  auch  nur  so  ist  es  einigermaßen  verständlich, 
daß  sein  phantasievoller  Geist  sich  so  streng  an 
die  Tatsachen  hielt. 

Anderersehs  haben  die  rehgiösen  Ansichten 
seiner  Gemeinde,  verbunden  mit  einer  idealen 
Auffassung  der  Wissenschaft,  Faraday  dahin 
gebracht,  daß  er  aus  eigenem  Antrieb  auf  gewinn- 
bringende Gutachten,  gut  bezahlte  Analysen  ver- 
zichtete und  freiwillig  ein  armer  Forscher  blieb. 
Ein  derartiger,  fast  mönchischer  Verzicht  auf  die 
Annehmlichkeiten  des  Lebens,  wie  ihn  Faraday 
der  Wissenschaft  zu  Liebe  leistete,  mußte  seinen 
Lohn  in  einem  ohne  gleichen  dastehenden  Lebens- 
werk finden. 

Die  Fülle  der  in  diesem  Lebenswerk  nieder- 
gelegten Forschungsergebnisse  zwingt  uns  Ein- 
schränkungen zu  machen,  nur  das  zu  behandeln, 
was  für  die  Nachwelt  von  großer  Wichtigkeit 
wurde.  Von  einem  solchen  Gesichtspunkt  aus 
genügt  es,  die  Arbeiten  herauszugreiien,  welche 
in  den  „Experimentaluntersuchungen  über  Elektri- 
zität" niedergelegt  sind.  ^) 

II.  Faraday's  Forschungen. 
a)  Der  Gedanke  der  Kräfteverwandlung. 

Das  Lebenswerk  Faraday's,  die  Ex-peri- 
mentaluntersuchungen  über  Elektrizität  können 
wir,  allerdings  nicht  immer  ganz  ohne  Zwang, 
in  zwei  Hauptteile  zerlegen,  je  nachdem  der 
eine  oder  der  andere  seiner  Grundgedanken,  die 
Kräfteverwandlung  oder  der  Begriff  der  Nah- 
wirkung, besonders  hervortritt.  Mit  der  ersten 
Gruppe  wollen  wir  anfangen  —  uns  aber  dabei 
immer  vor  Augen  halten ,  daß  die  Trennung 
einerseits  keine  chronologische  ist,  und  anderer- 
seits in  ein  und  derselben  Arbeit  oft  beide  Grund- 
gedanken stark  vertreten  sind. 

Faraday's  Forschung  beginnt  mit  einem 
großartigen  Auftakt,  mit  der  Entdeckung  der 
Induktion. 

Selten  ist  wohl  eine  Entdeckung  so  wenig 
zufällig  gewesen  wie  diese.  Das  Problem  lag  in 
der  Luft,  es  war  in  dem  Gedanken  der  Kräfte- 
verwandlung mit  enthalten.  Oersted's  Experi- 
mente hatten  Magnetismus  durch  Elektrizität  er- 
zeugt. Da  war  es  naheliegend,  nach  der  umge- 
kehrten Erscheinung  zu  suchen,  Elektrizität  durch 
Magnetismus  hervorzubringen.  Der  Gedanke 
mußte  sich  den  Forschern  der  Zeit  um  so  mehr 
aufdrängen,  als  durch  Amperes  Vorstellungen 
der  Magnetismus  durch  einen  elektrischen  Strom 
ersetzt  worden  war  — ,  von  einem  Strom  also  analoge 
Wirkungen  auf  einen  anderen  Leiter  erwartet 
werden  konnten,  wie  von  einem  Magnet  auf  ein 
Stück    Eisen.      Gleichzeitig    erwiesen    sich    diese 


')  Ab  1831  in  den  Phil.  Trans,  übers,  in  Pogg.  Ann., 
neu  herausgegeb.  in  Oslwald's  Klassikern  der  exakten  Wissen- 
schaften.     Engelmann,   Leipzig. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


467 


Vorstellungen  aber  auch  als  ein  Hemmschuh, 
denn  sie  betonten  allzusehr  die  magnetische 
Influenz,  die  Wirkung  ruhender  Magnete.  So 
wurde  bei  dem  Suchen  nach  Induktionserschei- 
nungen nur  mit  ruhenden  Strömen  und  Magneten 
gearbeitet,  ein  Weg,  auf  dem  man,  wie  man  jetzt 
weiß,  erfolglos  bleiben  mußte.  Die  Physiker 
gaben  die  Sache  schließlich  auf  und  kamen  zu 
dem  Schluß,  daß  es  eine  Induktion  nicht  gäbe. 

Da  mußte  erst  ein  Mann  kommen,  bei  dem 
der  in  der  Zeit  liegende  Gedanke  einer  Kräfte- 
verwandlung, oder,  wie  wir  heute  besser  sagen, 
Energieverwandlung,  so  fest  saß,  daß  kein  Miß- 
erfolg ihn  am  Weiterforschen  hindern  konnte. 
Der  Mann  war  Faraday.  Schon  im  Jahre  1822 
sah  er  das  Ziel  klar  vor  Augen  und  schrieb  ins 
Notizbuch:*)  „Verwandle  Magnetismus  in  Elektri- 
zität!" Da  ihm  die  Aufgabe  von  der  Zeit  gestellt 
worden  war,  konnte  er  sich  aber  auch  von  den 
falschen  Vorstellungen  der  Fachgenossen  nicht 
völlig  befreien  und  suchte  wie  sie  mit  ruhenden 
Strömen  und  Magneten  Induktionswirkungen  zu 
finden.  Acht  bis  neun  Jahre  hat  Faraday  so 
experimentiert  und  immer  wieder  in  sein  Notiz- 
buch das  traurige  „erfolglos"  geschrieben.  Jeden 
anderen  hätte  das  entmutigt,  er  jedoch  war  von 
dem  schließlichen  Gelingen  so  überzeugt,  daß  er 
sich  ein  Modell  für  die  Westentasche  anfertigte, 
eine  Drahtspirale  mit  einem  Eisenkern,  um  stets 
an  sein  Vorhaben  erinnert  zu  werden.  1831  be- 
gann er  eine  neue  Versuchsreihe  und  sah  sein 
Ziel  wiederum  so  klar  vor  Augen,  daß  er  schon 
vorher  als  Überschrift  den  Titel  wählte:  „Experi- 
mente über  die  Erzeugung  von  Elektrizität  durch 
Magnetismus." 

Nach  jahrelangem  Bemühen  wurde  ihm  nun 
der  Lohn  in  der  großartigen,  erfolgreichen 
Arbeit  von  10  Tagen.  Er  hatte  auf  einen 
Eisenring  zwei  Kupferspiralen  A  und  B  ge- 
wickelt. In  dem  Augenblick,  wo  er  die  Spirale  A 
mit  einer  Batterie  verband,  floß  durch  B  ein 
kurzer,  kräftiger  Strom.  Solange  der  Strom  durch 
A  andauerte,  war  dagegen  keine  Wirkung  be- 
merkbar, und  erst  als  derselbe  unterbrochen  wurde, 
trat  in  B  ein  neuer  Strom  auf,  jedoch  diesmal 
von  der  entgegengesetzten  Richtung  wie  früher. 
Die  Induktion  war  entdeckt.  Sie  machte  sich 
nur  im  Augenblick  des  Üffnens  und  Schließens 
bemerkbar,  und  darum  waren  alle  bisherigen 
Versuche  vergeblich  gewesen.  Rasch  und  be- 
geistert ging  die  F"orschung  nun  weiter.  Während 
der  wenigen  Arbeitstage  des  Winters  1831  hat 
er  alle  Induktionserscheinungen  in  so  muster- 
gültiger Weise  durchforscht,  daß  sein  systematisch 
geordneter  Bericht,  in  der  i.  Reihe  der  Experi- 
mentaluntersuchungen  '■')  noch  heute  als  ein  Lehr- 
buch der  Grundlagen  dieses  Gebiets  benutzt 
werden  könnte. 

Seinem  scharfen  Auge  entging  die  ungeheure 


Tragweite  der  Entdeckung  in  theoretischer  und 
praktischer  Hinsicht  keineswegs.  Er  sah  die 
Möglichkeit  voraus,  durch  Magnetismus  einen 
dauernden  Strom  zu  erzeugen  und  gab  selbst  die 
erste  „Magnetische  Elektrisiermaschine"  an.  Wenn 
man  eine  Kupferscheibe  zwischen  den  Polen 
eines  starken  Magneten  drehte,  wurden  in  der- 
selben Ströme  hervorgerufen,  welche  man  mit 
einer  geeigneten  Schleifvorrichtung  abnehmen 
konnte.  So  wird  der  unbeholfene  Apparat  zum 
Urbild  all  der  großartigen  Dynamomaschinen, 
welche  heute  spielend  Ströme  von  ungeheurer 
Stärke  durch  unsere  Leitungen  jagen. 

Faraday's  Geist  war  jedoch  der  reinen, 
idealen  Wissenschaft  zu  sehr  ergeben,  um  technisch 
praktische  Fragen  weiter  zu  verfolgen.  In  der 
zweiten  Reihe  der  Experimentaluntersuchungen 
heißt  es  im  159.  Abschnitt  :*)  „Ich  habe  indessen 
immer  mehr  gewünscht,  neue  Tatsachen  und  Be- 
ziehungen zu  entdecken,  die  von  der  magnetisch- 
elektrischen Induktion  abhängen,  als  die  Kraft 
der  schon  gefundenen  zu  erhöhen ;  denn  ich  bin 
fest  überzeugt,  daß  deren  volle  Entwicklung  sich 
später  finden  würde."  —  Dann  wendete  er  sich 
in  der  zweiten  Reihe  -)  der  elektrischen  Arbeiten 
den  Induktionswirkungen  zu,  welche  die  Erde  als 
ein  großer  Magnet  hervorbringen  mußte  und 
kehrte  1834  von  neuem  zu  dem  alten  Induktions- 
problem zurück.^) 

Jenkin^)  hatte  gezeigt,  daß  der  Funke  beim 
Öffnen  eines  Stromkreises  stärker  wurde,  wenn 
der  Draht  spiralig  um  einen  Eisenkern  gewickelt 
war.  Faraday  vermutete  hier  einen  Zusammen- 
hang mit  einer  Erscheinung,  die  er  schon  in  der 
ersten  Abhandlung  als  notwendige  Folge  seiner 
Entdeckung  angedeutet  hatte.  Wenn  ein  Draht 
auf  einen  daneben  liegenden  Induktionswirkungen 
ausübte,  so  mußten  doch  auch  die  einzelnen 
Teile  einer  Spirale  auf  die  benachbarten  Teile 
derselben  von  Einfluß  sein,  mußten  in  ihnen  auch 
Ströme  induzieren.  Diese  Ströme  konnten  das 
Auftreten  eines  stärkeren  „ÖfTnungsfunken"  er- 
klären und  wurden  von  Faraday  in  der  Tat 
gefunden,  als  er  durch  Jenkin's  Experimente 
angeregt,  die  Untersuchungen  in  dieser  Richtung 
wieder  aufnahm.  Er  nannte  den  Vorgang  „Extra- 
strom", fand  neben  dem  Öffnungsstrom,  welcher 
den  Funken  hervorrief,  auch  einen  entgegengesetzt 
gerichteten  Schließungsstrom,  und  gab  die  Mög- 
lichkeit einer  induktionsfreien  Spule  mit  bifilarer 
Wicklung  an. 

Damit  hatte  Faraday  die  Induktionserschei- 
nungen nach  allen  Seiten  so  giündlich  behandelt, 
daß  anderen  nicht  viel  zu  tun  übrig  geblieben 
wäre,  wenn  er  seinen  Nachfolgern  nicht  vollbewußt 
die  praktische  Ausnutzung  überlassen  hätte. 
Welche  ungeheure  Entwicklung  dieselbe  ge- 
nommen   hat,    namentlich    durch    die   Verdienste 


')  Thompson, 
«)  E.  U.   I.   1832 


a.  O.  S.  82  u.  f. 


1)  Thompson,  a.  a.  O.  S.  98. 
-)   E.  U.  II.    1832  Ostw.  Kl.  Nr.  81. 
^)  E.  U.  IX.  1835  Ostw.  Kl.  Nr.  126. 
*)  a.  a.   O.  S.   3. 


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von  Gramme,  Hefner- Alteneck  und  Siemens 
um  die  Konstruktion  der  Dynamomaschine,  ist 
allbekannt  und  gehört  der  Ruhmesgeschichte  der 
Elektrotechnik  an. 

Durch  die  Entdeckung  der  Induktion  hatte 
bei  den  Zeitgenossen  und  namentlich  bei  Faraday 
selbst  der  Begriff  der  „Kräfteverwandlung",  der 
Energieverwandlung  eine  große  Stütze  gefunden. 
Unter  dem  Eindruck  dieses  Gedankens  wandte 
er  sich  nun  den  Beziehungen  zwischen  chemischen 
und  elektrischen  Kräften  zu,  einem  Gebiet,  mit 
dem  sein  Name  auf  immer  verbunden  sein  wird, 
und  für  das  er  sich  nach  Art  seines  Geistes  ganz 
besonders  eignete.  Die  Geschichte  der  Elektro- 
chemie beginnt  mit  dem  Jahre  1800,  in  welchem 
es  Carl i sie')  gelang,  Wasser  durch  den  elek- 
trischen Strom  zu  zersetzen.  Dieser  wunderbaren 
Tatsache  folgte  eine  wahre  Hochflut  von  Ver- 
suchen, unter  welchen  namentlich  Ritt  er 's  und 
Davy's  Experimente  bedeutungsvoll  sind.  Die 
verwirrende  Fülle  neuer  Erscheinungen  löste 
natürlich  auch  eine  große  Zahl  oft  sehr  wilder 
Spekulationen  aus,  von  denen  die  des  Physikers 
G  r  o  t  h  u  ß  -)  am  wichtigsten  waren,  da  ihr  Einfluß 
die  Forschung  der  folgenden  Jahrzehnte  beherrschte 
und  selbst  in  den  heutigen  Vorstellungen  über 
Elektrolyse  nachzuweisen  ist.  Allerdings  stand 
Grothuß  noch  unter  dem  Bann  New  ton 'scher 
Fernkräfte  und  dachte  sich  eine  Anziehungswirkung 
von  den  Elektroden  ausgehend,  welche  die  Wasser- 
moleküle so  richtete,  daß  der  Sauerstoff  zum 
positiven  und  der  Wasserstoff  zum  negativen  Fol 
hinzeigte.  An  der  positiven  Elektrode  wurde  das 
Sauerstoffatom  vom  Wasserstoff  losgerissen,  das 
freie  Wasserstoffatom  holte  sich  den  nächsten 
Sauerstoff,  das  auf  diese  Weise  frei  gewordene 
Wasserstoffatom  wiederum  das  nächste  Sauerstoff- 
atom usw.,  bis  endlich  an  der  negativen  Seite 
ein  Wasserstoffteilchen  übrig  blieb  und  frei  wurde. 
Daß  elektrische  Kräfte  fähig  waren,  den  Molekular- 
verband in  der  Nähe  der  Elektroden  zu  zerreißen, 
konnte  am  ungezwungensten  dadurch  erklärt 
werden,  daß  man  elektrische  und  chemische 
Kräfte  identisch  setzte. 

Ein  derartiger  Kräftezusammenhang  war  ein 
Problem,  welches  Faraday  interessieren  mußte, 
und  auf  das  er  auch  als  Schüler  des  großen 
Elektrochemikers  Davy  ganz  besonders  hinge- 
wiesen wurde.  Darum  widmete  er  ihm  im  folgenden 
eine  große  Anzahl  seiner  Versuche.  —  Wenn  er 
sich  zunächst  in  den  vorhandenen  Theorien  über 
Elektrolyse  umsah,  so  mußte  es,  nach  dem  was 
wir  in  der  Einleitung  ausführten,  seinem  Geiste 
sehr  unangenehm  sein,  auch  hier,  durch  Grothuß 
eingeführt,  Fernkräfte  zu  finden.  Daran  konnte 
Faraday  nicht  glauben,  aber  er  war  keiner  von 
denen,  die  nur  verneinen;  wenn  er  ablehnte, 
brachte  er  auch  etwas  Neues.  Für  ihn  war  der 
elektrische  Strom,    der  von  Pol  zu  Pol    floß,   „die 


Achse  einer  Kraft,  die  nach  entgegengesetzten 
Richtungen  genau  gleich  starke,  aber  entgegen- 
gesetzte Wirkungen  ausübt."  ')  Diese  Kraftachse 
war  nichts  Unwirkliches,  sondern  wurde  von  den 
Teilchen  getragen,  welche  einen  gewissen  Zustand 
annahmen  und  an  die  nächsten  weiter  gaben. 
Die  Fernwirkung  schien  also  in  der  Tat  durch 
eine  Nahwirkung  ersetzt,  durch  eine  Erscheinung, 
welche  später  in  F"araday's  Kraftlinienbegriff 
so  reiche  Flüchte  tragen  sollte.  Darum  gehört 
sie  eigentlich  in  den  2.  Teil  unserer  Betrachtungen, 
muß  aber  doch  wegen  ihrer  innigen  Verknüpfung 
mit  der  weiteren,  elektrolytischen  P^orschung  schon 
hier  behandelt  werden.  —  Die  in  der  „Achse"  der 
Stromkraft  liegenden  Teilchen  wurden  in  gewisser 
Weise  modifiziert,  so  daß  ihre  chemische  Ver- 
wandtschaftskraft nach  der  einen  Seite  hin  stärker 
war,  als  nach  der  anderen.  Dadurch  vertauschten 
die  benachbarten  Moleküle  ihre  Atome,  wie  bei 
Grothuß'  Hypothese,  wenn  auch  die  Fern- 
wirkung dieses  Forschers  durch  eine  Nahwirkung 
ersetzt  war. 

Nach  einigen  vorbereitenden  Arbeiten  -)  nahm 
P'araday  im  Jahre  1834  in  der  7.  Reihe  der 
Experimentaluntersuchungen  ■')  die  Versuche  über 
elektrolytische  Vorgänge  nach  der  quantitativen 
Seite  hin  auf  und  begann  die  Gesetze  der  Elektro- 
lyse, die  er  schon  früher  vermutet  hatte,  genau  zu 
beweisen.  Dem  ersten  Gesetz,  welches  besagt, 
daß  die  ausgeschiedenen  Substanzmengen  propor- 
tional der  durchgegangen  Elektrizitätsmenge  sind, 
begegnen  wir  schon  in  der  3.  Experimentalunter- 
suchung,  wo  es  Abschnitt  329  heißt  :^)  „Es  liegt 
sehr  nahe  zu  glauben,  daß  die  Menge  des  bei 
elektrochemischer  Zersetzung  zerlegten  Stoffes 
proportional  sei,  nicht  der  Intensität,  sondern  der 
Quantität  der  durchgegangenen  Elektrizität."  Diese 
Vermutung  wurde  noch  am  Ende  derselben  Unter- 
suchung für  Jodkali  als  richtig  bewiesen.  —  Das 
andere  Gesetz,  welches  die  vom  selben  Strom  aus- 
geschiedenen Mengen  verschiedener  Substanzen 
vergleicht,  schwebte  ihm  bereits  in  der  5.  Serie 
vor  Augen,  wo  er  sagt:*)  „Ich  habe  Grund  zu 
glauben,  daß  dieser  Satz  sich  noch  mehr  verall- 
gemeinern und  folgender  Gestalt  ausdrücken  lasse: 
Bei  konstanter  Quantität  von  Elektrizität  ist  für 
jeden  zersetzt  werdenden  Leiter  .  .  .  auch  der 
Betrag  der  elektrochemischen  Aktion  eine  kon- 
stante Größe,  d.  h.  äquivalent  einem  normalen, 
auf  der  gewöhnlichen  Affinität  beruhenden  chemi- 
schen Effekt."  —  Um  diese  beiden,  intuitiv  geahnten 
Sätze  zu  beweisen,  mußte  Faraday  erst  ein 
Mittel  finden,  die  „Quantität  der  Elektrizität",  die 
Elektrizitätsmenge  zu  messen.  Er  zeigte  darum 
in  außerordentlich  peinlichen  Versuchen,  daß  das 
zersetzte  Wasservolumen  jener  Elektrizitätsmenge 


')  Gilb.  Ann.  VI.  S.  346. 

')  Ann.  de  Chim.  et  de  phys.  l.VIII.    iSob. 


')  E.  U.  V.   1833  Ostw.   Kl.  Nr.  86  S.  Sl. 
=)  E.  U.  III.  IV.  V.   1833   Ostw.   Kl.  Nr.  86. 
»)   E.  U.  Vll.   1834  Ostw.  Kl.  Nr,  87. 
*)  a.  a.  O.  S.  22. 
»)  a.  a.  O.  S.   77. 


N.  F.  XVI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


469 


immer  proportional  war,  wie  auch  die  Verhältnisse 
gewählt  wurden.  Der  Wasserzersetzungsapparat  er- 
wies sich  also  als  ein  einfaches  Hilfsmittel,  um  die 
durchgegangene  Elektrizitätsmenge  zu  bestimmen 
und  wurde  demgemäß  von  F  a  r  a  d  a  y  zu  einem  Meß- 
apparat, zum  Voltameter  (Abb.  i  u.  2)*)  umgebaut, 


welches  wir  noch  heute  in  ähnlicher  Form  be- 
nutzen. —  Nun  schaltete  er  das  Voltameter  mit 
anderen  Zersetzungszellen  hintereinander  und 
konnte  nachweisen,  daß  beliebige 
Körper  dasselbe  gesetzmäßige  Ver- 
halten wie  Wasser  zeigten.  Weiter 
ergab  sich,  daß  die  vom  selben  Strom, 
in  gleicher  Zeit,  zersetzten  Mengen 
verschiedener  Substanzen  sich  wie 
ihre  chemischen  Äquivalente  ver- 
hielten. Diese  beiden  wichtigen  Ge- 
setze, welche  wir  noch  heute  die 
Faraday 'sehen  nennen,  deuteten 
einen  schon  lange  vermuteten,  innigen 
Zusammenhang  zwischen  elektrischer 
und  chemischer  Kraft  an,  einen  Zu- 
sammenhang, welcher  auf  die  folgen- 
Abb.  2.  ^^"  Vorstellungen  von  großem  Ein- 
fluß werden  sollte. 
Durch  seine  elektrochemischen  Untersuchungen 
mußte  Faraday  notwendigerweise  auch  in  den 
damals  brennenden  Streit  über  die  Theorie  der  Volta- 
säule  hineingezogen  werden.  In  vier  Reihen  seiner 
Untersuchungen  ^)  bekämpfte  er  die  sogenannte 
„Kontakttheorie".  Diese  wollte  die  elektromoto- 
rische Kraft  nur  durch  die  einfache  Berührung 
verschiedener  Metalle  zustande  kommen  lassen, 
während  die  von  Faraday  verteidigte  chemische 
Theorie  im  chemischen  Prozeß  die  Ursache  des 
Vorgangs  sah.  Der  interessanteste  Punkt  der 
Untersuchung  ist  Faraday's  Meinung,  daß  die 
Kontakttheorie  fortwährend  elektrische  Kraft  aus 
dem  Nichts  entstehen  lasse.  Hierin  spricht  sich 
eine  Ahnung  vom  Gesetz  der  Energieerhaltung 
aus,  welcher  wir  noch  öfter  begegnen  werden. 

Alles  in  allem  waren  aber  Faraday's  elektro- 
chemische Arbeiten  sowohl  in  praktischer,  als  auch 
in  theoretischer  Hinsicht  nicht  so  die  Grundvvurzel 
der  folgenden  Entwicklung,  wie  seine  Entdeckung 
der  Induktion.  Er  war  hier  weniger  der  Schöpfer 
eines  neuen  Wissenszweiges,  als  der  mächtige 
Förderer  eines  schon  vorhandenen.  Darum  knüpften 
auch   seine    theoretischen  Vorstellungen,    wie    wir 


')  a.  a.  O.  S.  50  Abb.  7  u.  9.  Dem  Verlag  von  Ostw. 
Kl.,  W.  Engelmann  in  Leipzig  sei  für  die  freundl.  Überlassung 
der  Bilder  hier  bestens  gedankt. 

■')  E.  U.  Vlll.  1834  O.  K.  87,  X.  1835  O.  K.  126,  XVI, 
XVll.      1840  O.   K.   134. 


gesehen  haben,  an  die  älteren  von  Grothuß  an. 
Das  Falsche  derselben  ließ  Faraday  fallen,  die 
Wechselwirkung  der  Moleküle  behielt  er  bei  und 
betonte  ganz  besonders  den  innigen  Zusammen- 
hang zwischen  Zersetzung  und  Leitung.  —  Mit 
den  von  ihm  gefundenen  Tatsachen  und  nament- 
lich mit  seinen  quantitativen  Gesetzen  mußte  jeder 
folgende  Theoretiker,  wie  Hittorf,  Clausius, 
Helm  hol  tz  und  Svante  Arrhenius,  rechnen. 
Sie  gingen  in  ihren  theoretischen  Vorstellungen  alle 
mehr  oder  weniger  auf  G  ro  t  h  u  ß  zurück,  nur  daß 
seit  Clausius*)  die  Moleküle  schon  von  vorn- 
herein als  in  Ionen  zerspalten  angenommen  wurden, 
so  daß  die  elektrische  Spannung  nur  mehr  noch 
für  die  Bewegung  derselben  zu  sorgen  hatte.  — 
Das  zweite  Fa  raday 'sehe  Gesetz  mußte  in  Ver- 
bindung mit  der  „Dissoziationstheorie"  von  Svante 
Arrhenius''^)  zu  der  Vorstellung  führen,  daß 
jedes  Ion  mit  einer  bestimmten  unteilbaren  Elek- 
trizitätsmenge geladen  sei,  eine  Annahme,  die 
schon  Faraday  1834  mit  folgenden  Worten  ver- 
mutete: „.  .  .  so  haben  die  Atome  von  Körpern, 
welche  einander  äquivalent  in  bezug  auf  ihre  ge- 
wöhnliche chemische  Wirkung  sind,  gleicheMengen 
von  Elektrizität,  die  von  Natur  mit  ihnen  verbunden 
sind."  ^)  In  diesen  Worten  des  alten  Physikers 
liegt  schon  eine  Ahnung  unserer  heutigen  Elek- 
tronentheorie, welche  durch  die  Lehre  von  den 
Gasentladungen  unterstützt,  unsere  Vorstellung 
vom  Wesen  der  Elektrizität  so  machtvoll  fördern 
sollte. 

Die  von  uns  immer  wieder  betonte  und  nach 
Faraday's  Worten  in  der  nun  zu  betrachtenden 
19.  Reihe  ,an  Überzeugung  streifende  Meinung", 
„daß  die  verschiedenen  Formen,  unter  denen  die 
Kräfte  der  Materie  auftreten,  einen  gemeinschaft- 
lichen Ursprung  haben",  ^)  führte  F'araday  schon 
in  früheren  Jahren  dazu,  auch  andere  Energien, 
namentlich  das  Licht  in  den  Kreis  seiner  Betrach- 
tungen zu  ziehen.  Schon  1835  finden  wir  die 
inhahschwere  Notiz  „Untersuche  Induktion  eines 
festen  kristallinischen  Körpers  auf  die  daraus  her- 
vorgehende Wirkung  auf  das  Licht". '')  Bald  nahm 
er  auch  die  Experiinente  auf  und  setzte  unter 
anderm  einen  Glaswürfel  hohen  elektrischen  Span- 
nungen aus,  ohne  aber  eine  Wirkung  auf  hindurch- 
gehendes Licht  bemerken  zu  können.  Nach  längerer 
Pause  führten  ihn  die  bereits  angeführten  elektro- 
chemischen Experimente  auf  ein  Problem,  dessen 
er  schon  1834  erwähnte.^)  Seine  Vorstellung 
über  die  Achse  der  Kraft  im  Elektrolyten,  die 
einem  gewissen  Spannungszustand  entsprach,  brachte 
F"a raday  auf  den  Gedanken,  diesen  Spannungs- 
zustand mit  Hilfe  des  polarisierten  Lichtes  nach- 
zuweisen. Die  Versuche  blieben  erfolglos,  bis  er 
nach    14   Tagen,    am    13.  September    1845,    statt 

')  Pogg-  Ann-  Bd.   loi   S.  33S,   1857. 

2)  Z.  f.  phys.  Chemie  I  S.  631,   1887. 

^)  Thompson,  a.  a.  O.  S.   115. 

■")  E.  U.  XIX.   1846.  Ostw.  Kl.  Nr.   136  S.  25. 

^)  Thomson,  a.   a.   O.  S.   121. 

8)  E.  U.  Vlll.  Ostw.   Kl.  Nr.  S;  S.   135   u.  f. 


470 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  34 


elektrischer  Kräfte,  magnetische  anwandte.  Er 
hatte  ein  Stück  Kristallglas  auf  die  Pole 
eines  kräftigen  Elektromagneten  gelegt  und 
ließ  polarisiertes  Licht  hindurchfallen.  Im 
Augenblick,  in  welchem  er  den  Elektromag- 
neten erregte,  wurde  die  Polarisationsrichtung, 
die  Schwingungsrichtung  des  Lichtes  deutlich  ge- 
dreht. —  Die  Folgen  der  Entdeckung  waren  von 
größter  Bedeutung,  denn  sie  zeigten  zum  ersten 
Mal  den  Zusammenhang  zwischen  magnetischen 
Kräften  und  Licht,  einen  Zusammenhang,  welcher 
eine  der  wesentlichsten  Stützen  für  die  elektro- 
magnetische Lichttheorie  werden  sollte. 

Die  bisher  betrachteten  Arbeiten,  zusammen 
mit  einer  erfolglosen  Untersuchung  über  die  Be- 
ziehung der  Schwerkraft  zur  Elektrizität,  ^)  stehen, 
wie  eingangs  erwähnt,  vor  allem  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Kräfteverwandlung.  Dieser  Gedanke 
hatte  zu  seinen  Experimenten  geführt,  deren  Er- 
gebnis wiederum  seine  Gedanken  stärkte  und 
modifizierte,  so  daß  Faraday  schließlich  an  dem 
Zusammenhang  aller  Kräfte  nicht  mehr  zweifelte 
und  im  Jahre  183S  eine  Vorlesung  über  die  „Ver- 
wandelbarkeit  der  Kräfte"  hielt.  Faraday's 
intuitiver  Geist  ahnte  aber  noch  mehr.  Wir  hatten 
schon  in  seiner  Polemik  gegen  die  Kontaktlheorie 
als  wichtigstes  Argument  den  Einwand  kennen 
gelernt,  daß  eine  solche  Vorstellung  auf  Erschaffung 
von  großen  Wirkungen  aus  dem  Nichts  führen 
würde.  „Allein  in  keinem  F"all  .  .  .  findet  eine 
Erschaffung  oder  Erzeugung  von  Kraft  statt  ohne 
einen  entsprechenden  Verbrauch  von  etwas 
anderem."  ^)  Mit  diesem  Ausspruch  bereitete  sich 
in  Faraday's  Denken  das  Gesetz  von  der  Er- 
haltung der  Energie  vor,  dem  er  1839  in  der 
14.  Reihe  seiner  Untersuchungen  durch  die  Über- 
zeugung noch  näher  gekommen  war,  „daß  wir  in 
Zukunft  mögen  imstande  sein,  Korpuskularkräfte, 
wie  die  der  Schwere,  Kohäsion,  Elektrizität  und 
chemischen  Verwandtschaften,  miteinander  zu  ver- 
gleichen und  auf  diese  oder  andere  Weise  ihre 
relativen  Äquivalente  und  ihre  Effekte  abzuleiten; 
für  jetzt  vermögen  wir  es  nicht."  ^)  —  In  dieser 
Ahnung  liegt  eigentlich  das  Energiegesetz  schon 
vollkommen  enthalten.  Aber  Faraday  hat  seine 
mehr  gefühlsmäßig  erfaßte  Meinung  nicht  weiter 
verfolgt,  er  hat  sie  der  Nachwelt  als  Anregung 
hinterlassen.  Er  hat  es  einem  Robert  Mayer, 
Joule  und  Helmholtz  überlassen,  das  so 
überaus  wichtige  Gesetz  in  exakter  Weise  zu 
begründen. 

b)  Die  Nahkräfte. 

Im  folgenden  wollen  wir  als  eine  zweite  Gruppe 
jene  Arbeiten  herausgreifen,  die  nach  dem  Wesen 


')  E.  U.  XXIV.  Phil.  Trans.    1851,  Pogg.  Ann.  Ergzb.  III. 

2)  E.  U.  XVII.   1S40,    a.  a.   O.    S.  97.     Rosenberger, 
Geschichte  d.  Phys.  III  S.  28S. 

')  E.  U.  XIV.   1839,  a.  a.   O.  S,  8. 


der  ewig  sich  wandelnden  Kraft  fragen,  ohne  daß 
wir  dabei  die  schon  erwähnte  Willkürlichkeit  ver- 
gessen, die  einer  solchen  schematischen  Einteilung 
zugrunde  liegt.  Die  Faraday 'sehe  Kraft- 
auffassung ging,  wie  wir  oben  andeuteten,  von 
seiner  Ablehnung  der  Fernkräfte  aus.  An  ihre 
Stelle  traten  Nahkräfle  und  Kraftlinien,  welchen 
wir  schon  in  der  Abhandlung  über  Induktion  be- 
gegnen, wo  es  unter  Nr.  1 14  heißt: ')  „Magnetische 
Kurven  nenne  ich  die  Linien  von  magnetischen 
Kräften,  welche  mit  Hilfe  von  Eisenfeilspänen  dar- 
gestellt werden  können."  Bald  werden  diese  ma- 
gnetischen Kurven  auch  Kraftlinien  genannt,  was 
allerdings  vorläufig  nur  ein  bequemer  Ausdruck 
war,  um  die  beobachteten  Erscheinungen  klar  zu 
beschreiben.  Die  Induktionsvorgänge  selbst  führte 
Faraday  auf  einen  noch  nicht  klar  erkannten, 
„elektrotonischen  Zustand"  ■)  zurück,  von  dem  nur 
so  viel  gewiß  ist,  daß  er  eine  Art  Spannung  in 
den  Körpern  darstellt.  In  den  elektrolytischen 
Vorstellungen,  welche  wir  kennen  gelernt  haben, 
wurde  der  Begriff  der  Kraftlinien  unter  dem  Namen 
einer  Kraftachse  dem  Geiste  Faraday's  schließ- 
lich schon  so  deutlich ,  daß  er  die  folgenden 
Experimente  ganz  unter  die  Herrschaft  dieser  An- 
schauung stellen  konnte. 

80  Jahre  vorherhatte  Ca  n  ton  die  Erscheinung 
der  Influenz  entdeckt,  d.  h.  die  Eigenschaft  elek- 
trisch geladener  Körper,  in  benachbarten  Gegen- 
ständen ebenfalls  Ladungen  hervorzurufen.  Als 
Faraday  beim  elektrischen  Strom  nach  einer 
Analogie  zu  dieser  Tatsache  suchte,  hatte  er  die 
Induktion  gefunden.  Nun  wandte  er  sich  zu  jener 
älteren  Erscheinung  zurück,  welche  ihm  durchaus 
zuwider  sein  mußte,  da  sie  nur  mit  Hilfe  von 
Fernwirkungen  erklärbar  schien.  Er  glaubte  an 
Fernwirkungen  nicht.  Da  sie  sich  nach  dem 
Newton'  sehen  Gesetz  geradlinig  ausbreiten 
mußten,  bemühte  er  sich  1835,  in  der  11.  Reihe, ^) 
mit  Erfolg  eine  krummlinige  Ausbreitung  der 
Influenzwirkung  um  eine  Metallplatte  herum  nach- 
zuweisen. Die  mit  diesen  Versuchen  sichergestellte 
Nahwirkung  konnte  nur  durch  die  Vermittlung 
des  zwischenliegenden  Mediums  erklärt  werden, 
mußte  also  einen  Einfluß  auf  dieses  haben. 
Faraday  baute  deswegen  einen  Kugelkonden- 
sator, dessen  Hohlraum  mit  verschiedenen  Körpern 
gefüllt  werden  konnte,  und  war  in  der  Tat  im- 
stande zu  zeigen,  daß  die  angenommene  Span- 
nung, bei  gegebener  Elektrizitätsmenge,  d.  h.  die 
Kapazität  von  dem  Füllmittel  abhing.  Außerdem 
nahm  der  eingelegte  Körper  eine  gewisse  Ladung 
an,  welche  nur  langsam  wieder  abgegeben  wurde. 
Faraday  erklärte  die  Ergebnisse  durch  einen 
„Polarisationszustand"  im  Isolator  unter  dem  Ein- 
fluß elektrischer  Kräfte,  durch  einen  Zustand,  in 
welchem  geladene  Teilchen  alle  nach  einer  Rich- 
tung gedreht  wurden,   wie  die  Elementarmagnete 


')  E.  U.  I.  1832,  a.  a.  O.  S.  38. 

=)  a.  a.   O.  S.   19. 

3)  E.  U.  XI.   1S35,  Ostw.  Kl.  Nr.  126. 


N.  F.  XVI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


471 


im  Stahl.  Die  verschiedenen  Körper  setzten  der 
Ausbildung  dieses  Zustandes  einen  verschiedenen 
Widerstand  entgegen,  wodurch  die  Kapazitäts- 
unterschiede, das  „spezifische  Verteilungsvermögen" 
erklärt  wurde.  Andererseits  behielten  aber  die 
Körper  diesen  Polarisationszi'stand  nicht  ewig  bei, 
sondern  verloren  ihn  langsamer  oder  schneller, 
wie  das  allmähliche  Herauskommen  der  Ladung 
aus  dem  Isolator  bewies.  Damit  war  jedoch 
zwischen  Leiter  und  Isolator  nur  mehr  noch  ein 
gradueller  Unterscliied  übrig  geblieben.  Leiter 
waren  einfach  solche  Körper,  in  denen  der  I'olari- 
sationszustand  sofort  wieder  zusammenbrach,  die 
Spannung  ausgeglichen  wurde,  und  Isolatoren 
solche,  bei  denen  der  Zustand  längere  Zeit  anhielt. 
Diese  Erkenntnis  veranlaßte  Faraday  nach  einem 
Übergang  zwischen  Leitern  und  Isolatoren  zu 
suchen,  einen  Übergang,  welchen  er  in  den  elek- 
trischen Entladungserscheinungen  zu  finden  glaubte. 

Für  statische  Elektrizität  war  der  eigentliche 
Vorgang  somit  in  den  Isolator  verlegt,  was  Faraday 
bevvog,  auch  bei  den  magnetischen  und  elektro- 
magnetischen Erscheinungen  demselben  die  wich- 
tigste Rolle  zu  geben.  Die  Experimente,  welche 
er  in  der  14.  Reihe*)  nach  dieser  Richtung  hin 
machte,  blieben  aber  ohne  Erfolg.  In  einer  längeren 
Ruhezeit  bis  1845  verließ  ihn  trotzdem  der  Ge- 
danke nicht,  daß  auch  die  magnetische  Kraft  auf 
Nahvvirkungen  zurückzuführen  und  demgemäß  ihr 
Einfluß  auf  den  Träger  der  Nahwirkung,  auf  das 
umgebende  Medium,  nachzuweisen  sei.  Und  in 
der  Tat  gelang  es  ihm  1845,  in  der  schon  be- 
handelten Drehung  der  Polarisationsebene  in  ma- 
gnetischen Kräften  ausgesetzten  Körpern,  einen 
solchen  Einfluß  zu  zeigen.  Gleich  nachher  ge- 
wannen seine  Anschauungen  eine  weitere  Stütze, 
durch  die  in  der  20.  und  21.-)  Reihe  niedergelegte 
wichtige  Entdeckung  des  Diamagnetismus.  Er 
hatte  gefunden,  daß  nicht  nur  magnetische  Körper, 
wie  Eisen  und  Nickel,  von  einem  Magneten  ange- 
zogen wurden,  sondern,  daß  eine  große  Anzahl 
anderer  Körper,  wenn  keine  Anziehung,  so  doch 
eine  Abstoßung  erlitt.  Die  Tatsache  schien  erst 
unerklärlich,  wurde  aber  durch  Faraday's  Auf- 
fassung, daß  alle  Körper,  auch  der  leere  Raum 
mehr  oder  minder  magnetisch  seien,  dem  Ver- 
ständnis näher  gerückt.  Befand  sich  dann  ein  stark 
magnetischer  Körper  in  einem  schwach  magneti- 
schen, wie  Eisen  in  Luft,  dann  wurde  er  angezogen; 
befand  sich  aber  ein  schwach  magnetischer  in 
einem  stärker  magnetischen,  wie  Wismut  in  Luft, 
dann  wurde  er  abgestoßen,  war  diamagnetisch. 
Die  Auffassung  konnte  Faraday  als  richtig  nach- 
weisen, ^)  in  dem  er  ein  Röhrchen  mit  schwächerer, 
bezüglich  stärkerer  Eisenvitriollösung  in  ein  mittel- 
starkes Bad  desselben  Salzes  brachte  und  im  ersten 
Falle  Abstoßung,  in  zweiten  Anziehung  erhielt. 

Aus    allen   diesen  Arbeiten    schälte   sich  seine 


ursprünglich  nur  dunkel  geahnte  Vorstellung  vom 
Wesen  der  Kraft  immer  deutlicher  heraus  und  fand 
ihren  stärksten  Ausdruck  in  der  28.  —30.  Reihe  *) 
der  Experimentaluntersuchungen  und  anderen 
Arbeiten :  Eine  Kraftwirkung  in  die  Ferne  gibt 
es  nicht,  die  Kräfte  sind  überall  da,  wo  sie  wirken, 
auch  schon  immer  vorhanden,  als  eine  Kraftlinie, 
als  ein  gewisser  Spannungszustand  oder  noch  all- 
gemeiner als  eine  Modifikation  des  Raumes.  Der 
ganze  durch  die  Kräfte  modifizierte  Raum  stellt 
das  Kraftfeld  vor,  ein  Ausdruck,  welcher  in  der 
20.  Reihe  zum  erstenmal  auftrat.  -)  Das  F"eld  läßt 
sich  mit  Hilfe  der  Kraftlinien  am  besten  beschreiben, 
doch  sind  diese  Kraftlinien  jetzt  nicht  mehr  nur 
eine  bequeme  Ausdrucksweise,  sondern  haben  reale 
Existenz.  Durch  diese  Vorstellung  wird  bei  elek- 
trischen Vorgängen  alle  Kraft  Wirkung  in  den  Isolator 
verlegt,  und  die  Erscheinungen  an  den  Leitern  sind 
nichts    anderes   als  Grenzwirkungen    des  Isolators. 

Diese  Kraftlinientheorie  mußte  Faraday  in 
Verbindung  mit  seinen  Gedanken  von  der  Kräfte- 
verwandlung veranlassen,  auch  die  optischen  Er- 
scheinungen von  einem  ähnlichen  Standpunkt  aus 
zu  betrachten.  Er  sagte  es  selbst,  daß  seine  dahin- 
gehenden Vermutungen  nichts  anderes  seien  als 
ein  „Schatten",  als  eine  kühne  Vision,  und  doch 
konnte  er  es  nicht  unterlassen,  die  Ansicht  zu 
vertreten,  Ausstrahlung  sei  „eine  hohe  Art  von 
Schwingung  in  den  Kraftlinien,  die,  wie  man  weiß, 
Atome  und  ebenfallsMassen  miteinander  verbinden".^) 

So  ist  Faraday  am  Ende  seines  Lebens,  das 
mit  einem  großartigen,  experimentellen  Auftakt 
begann,  zu  einer  fast  schwindelnden  spekulativen 
Höhe  gelangt.  Und  doch  fanden  die  Gedanken, 
welche  aller  herkömmlichen  Überlieferung  so  durch- 
aus entgegengesetzt  waren,  langsam  beiden  Physikern 
Aufnahme.  Zunächst  freilich  erschien  Faraday's 
bildhaftes  Denken  als  Hindernis  und  es  war  erst 
ein  Clerk  Maxwell*)  nötig,  um  Faraday's 
Vorstellungen  in  die,  allen  Fachgenossen  verständ- 
liche, Sprache  der  Mathematik  zu  kleiden.  Ja  selbst 
das,  was  Faraday  den  „Schatten  einer  Ver- 
mutung" genannt  hatte,  die  Annahme  der  elektro- 
magnetischen Natur  des  Lichts,  war  der  Analyse 
zugänglich.  Maxwell  berechnete,  daß  die  Ge- 
schwindigkeit, mit  der  sich  eine  elektromagnetische 
Störung  durch  den  leeren  Raum  fortpflanzen  mußte, 
gleich  dem  Verhältnis  der  magnetischen  Einheit 
zur  elektrischen  Einheit  der  Eiektrizitätsmenge 
wäre.  Da  sich  dieses  Verhältnis  nach  sorgfältigen 
Messungen  als  nahezu  gleich  der  Lichtgeschwindig- 
keit erwiesen  hatte,  lag  die  Vermutung  nahe,  das 
Licht  selbst  als  eine  solche  elektromagnetische 
Störung  des  Raumes  aufzufassen.  Durch  Heinrich 
Hertz'  direkte  Darstellung  solcher  elektromagne- 
tischer Wellen  wurde  1888  die  Faraday- 
Maxwell'sche  Lichthypothese    fast    zur  Gewiß- 


')  E.  U.  XIV.   1S38,  Ostw.  Kl.  Nr.  131. 

«)  E.  U.  XX.   1846,  XXI.   1847  O.   Kl.   Nr.   140. 

')  E.  U.  XXI.  a.  a.  O.  S.  35  u.  f. 


')  E.  U.  XXVIII.,  XXIX.   1852,  XXX.   1S55.    Phil.  Trans. 
2)  E.  U.  XX.  a.  a.  O.  S.  6. 
»)  Thompson,  a.  a.  O.  S.   150. 

')  Maxwell,    Dynamische    Theorie    des     elektromagne- 
tischen Feldes    1864. 


472 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


F.  N.  XVI.  Nr.  34 


heit  erhoben,  und  wenn  heute  in  der  drahtlosen 
Telegraphie  elektrische  Wellen  eine  so  bedeutende 
Rolle  spielen,  so  führt  auch  dieser  modernste  Zweig 
der  Elektroteciinik  in  seinen  Grundwurzeln  auf 
P'araday  zurück. 

Das  Ideal  der  Physik  ist  ein  allgemeines  Welt- 
gesetz, welches  alle  speziellen  Erscheinungen  so 
in  sich  enthält,  daß  sie  auf  analytischem  Wege 
daraus  entwickelt  werden  können.  Ein  solches 
Gesetz  kann  natürlich  nur  eine  Utopie  sein,  dem 
sich  die  Wissenschaft  asymptotisch  zu  nähern 
sucht.  Die  Faraday- Max  well 'sehen  Grund- 
gleichungen stellen  eine  der  weitgehendsten  An- 
näherungen an  das  Ideal  dar,  denn  sie  enthalten 
auf  zwei  kurzen  Zeilen  Elektrizitätslehre,  Magnetis- 
mus und  Optik. 

Das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  ist 
aber  ebenfalls  eine  solche  weitgehende  Annäherung, 
denn  aus  ihm  können,  in  Verbindung  mit  dem  so- 


genannten Entropiesatz,  große  Gebiete  der  Wärme- 
lehre abgeleitet  werden.  Die  Faraday- Maxwell- 
schen  Gleichungen  einerseits  und  der  Energiesatz 
andererseits  sind  also  zwei  Gipfelpunkte  der  moder- 
nen Physik,  zwei  Gipfelpunkte,  die  in  ihren  aller- 
ersten Anfängen  auf  den  beiden  F"araday 'sehen 
Vorstellungen  über  Nahkräfte  und  die  Kräfte- 
verwandlung ruhen. 

Überblicken  wir  noch  einmal  den  zurück- 
gelegten Weg,  so  sehen  wir  ein  Idealbild  wissen- 
schaftlicher Forschung  vor  uns.  Faraday  empfing 
seine  ersten  Gedanken  von  der  Zeit  vor  ihm,  er 
modifizierte  sie  nach  den  Ergebnissen  seiner 
Forschung  und  gab  sie  der  Nachwelt  als  ein  reiches 
Erbe  wieder.  Er  war  trotz  seiner  Größe  abhängig 
von  seiner  Zeit,  aber  er  gab  mehr,  als  er  empfing, 
und  das  machte  ihn  zum  Förderer  der  Wissen- 
schaft, machte  ihn  zum  Genie. 


Einzelberichte. 


Geologie.       Über     „das    Landschaftsbild    de 


trockenen  Champagne"  schreibt  Otto  Jessen 
in  den  Mitteilungen  der  Geogr.  Gesellschaft  in 
München  (ii.  Band,  Heft  2).  Das  Pariser  Tertiär- 
becken wird  von  einer  Kreidezone  eingefaßt,  die 
durch  alttertiäre  Ablagerungen  in  die  westlichen 
Kreideablagerungen  der  Picardie,  Normandie  und 
Loire  und  den  Abschnitt  zwischen  Yonne  und 
Oise  zerfällt.  Den  letztgenannten  Abschnitt  stellt 
die  „Champagne"  dar.  Untere  Kreide  baut  den 
östlichen,  obere  Kreide  den  westlichen  Teil  auf. 
Untere  Kreide  wird  von  Tonen  und  Sanden  ge- 
bildet. Zwischen  Aire  und  Oberlauf  der  Aisne 
heißt  der  Teil  Argonnenwald.  Von  ihm  bis  zum 
Tertiär  des  Beckeninnern  reicht  die  sogenannte 
„trockene  Champagne". 

Westlich  begrenzt  sie  der  Inselrand  des  Pariser 
Beckens,  östlich  bildet  die  Erhebung  der  oberen 
Kreide  den  Abschluß.  Süd-  und  Nordgrenze  sind 
nicht  so  deutlich  ausgeprägt. 

Der  Franzose  nennt  dieses  Gebiet  „Champagne 
pouilleue",  unsere  Feldgrauen  „Schlammpansch". 
Alle  Landschaften,  die  sie  umgibt,  zeichnen  sich 
durch  landschaftliche  Reize  vor  der  „trockenen 
Champagne"  aus.  Wie  eine  Wüstenei  liegt  diese 
„Lausechampagne"  in  dem  verhältnismäßig  frucht- 
baren, an  Naturschönheiten  reichen  Nordfrankreich. 

Gegen  Westen  fallen  die  oberen  Kreideschichten 
unter  älterem  Tertiär  ein.  Mancherorts  ist  der 
Kreide  eine  erhöhte  Beimischung  von  Ton  eigen. 
Die  Schreibkreide  ist  wasserdurchlässig,  homogen, 
arm  an  makroskopischen  Versteinerungen,  an 
Feuersteinknollen,  reich  an  Strahlkieskonkretionen. 
Das  Regenwasser  bleibt  zunächst  über  der  Deckton- 
schicht stehen.  Darum  ist  der  Boden  zuerst  sehr 
stark  durchweicht.  Nach  Durchsickerung  dieser 
oberen  Tonschicht,  durchsinkt  es  sehr  schnell  die 


Kreideschichten.  Durch  diese  Eigenschaften  der 
Kreide  wurde  die  Oberfläche  des  Landes,  wie  sie 
jetzt  ist,  gestaltet,  weniger  durch  tektonische 
Einflüsse. 

Oberflächenerosion  kommt  bei  der  Gestaltung 
der  „trockenen  Champagne"  nicht  in  Frage,  da 
Gefälle  sonst  gar  nicht  vorhanden  ist,  die  Kreide 
läßt  das  Wasser  sehr  schnell  versickern  und  der 
oberflächliche  Ton  ist  nicht  mächtig  genug,  das 
Niederschlagswasser  zu  sammeln  und  in  Flüssen 
als  Erosionsmittel  zu  gebrauchen.  Wenn  trotzdem 
das  Gelände  hügelig  ist,  dann  hat  man  der 
chemischen  Abtragung  des  Gesteines  daran  die 
meiste  Schuld  zu  geben.  Stellenweis  ist  der  Boden 
von  keinerlei  Vegetation  bedeckt  und  hier  sorgen 
Sonne  und  Wmd  für  ein  beschleunigtes  Ver- 
schwinden der  Niederschläge.  Mit  dem  Karst 
hat  die  Landschaft  manches  gemein,  nur  geschah 
das  Tieferlegen  von  Landschaftsflächen  nicht  durch 
Dolinenbildung. 

Was  an  fließenden  Gewässern  die  „trockene 
Champagne"  durcheilt,  sind  Flüsse,  die  aus  dem 
Osten  kommen  oder  Bäche,  die  aus  Quellen  ent- 
stehen. Kleinere  versiegen  bald,  größere  (Py, 
Suippes)  kommen  bis  nach  dem  Westen. 

Im  Osten  ragt  der  Höhenrand  der  oberen 
Kreide  60  m  über  das  Aisnetal  bei  St.  Menehould 
bis  Attigny.  Manche  der  Täler  bilden  darin 
wenige  hundert  Meter  lange  mulden-  oder  trog- 
förmige  Täler.  Der  Talboden  reicht  zur  Aisne- 
niederung  herab.  Der  unbedeutende,  gar  nicht 
zur  Breite  des  Tales  im  Verhältnis  stehende  Bach 
beginnt  meist  erst  da,  wo  von  der  Talsohle  der 
Grundwasserspiegel  erreicht  wird.  Darum  hat 
das  zutage  tretende  Grundwasser  den  Haupt- 
anteil an  der  Ausbildung  der  Täler. 

Der  Steilrand  im  Westen  steigt  gegen  100  m 


N.  F.  XVI.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


473 


an  und  ist  zurückgedrängt,    daß    stellenweise   nur 
Hügel  die  Tertiärdecke  verraten. 

So  ist  nun  infolge  der  schlechten  Bewässerung 
das  Land  arm  an  Vegetation.  Nur  im  Tale,  an 
Quellen,  an  Tälern  zur  Aisne  hinab  gibts  spär- 
liche Vegetation.     Das  Klima  ist  milde. 

Hundt,  z.  Zt.  im  Felde. 


Die  Geologie  des  mazedonischen  Kriegs- 
schauplatzes  behandelt  Dr.  Kurt  L  e  u  c  h  s  im 
1 1.  Band  der  Mitteilungen  der  Geographischen 
Gesellschaft  in  München. 

Von  der  Heeresleitung  war  dem  Verfasser  die 
Aufgabe  geworden,  Mazedonien  wissenschaftlich 
zu  bereisen.  In  einer  Arbeit  gibt  er  zuerst  Grund- 
züge des  geologischen  Baues  von  Mazedonien. 

Der  Hauptfiuß  Mazedoniens  ist  der  VVardar. 
Breite  Becken  und  enge  Durchbruchsstrecken  fügen 
das  Tal  zusammen.  Das  große  Becken  von  Üsküb 
füllen  jungtertiäre  und  eiszeitliche  Schichten  aus. 
Die  Ränder  bilden  paläozoische  und  kristalline 
Gesteine. 

Den  südöstlichen  Abschluß  dieses  Beckens 
muß  der  Fluß  durchbrechen  im  enggewundenen 
Tal.  Es  kommen  paläozoische  Gesteine  und  Ser- 
pentinstöcke dadurch  zutage.  Dann  tritt  er  in 
ein  zweites  Tertiärbecken  ein  (das  von  Veles). 
Eine  Talenge  im  Phyllit  mit  Serpentingängen 
leitet  von  diesem  Becken  in  das  von  Tikves. 
Das  Eiserne  Tor  (Demir  Kapu)  schließt  es  nach 
Südosten  hin  ab.  Hier  durchnagte  er  eine  Scholle 
lichtgrauen  Kreidekalkes,  der  auf  kristallinen  Schie- 
fern transgressiv  lagert.  So  eng  ist  das  Durch- 
bruchstal, daß  kein  Platz  für  Eisenbahn  und 
Straße  bleibt,  die  durch  Felssprengungen  und 
Aufmauerungen  am  Flusse  erst  Platz  gewinnen. 
Bei  der  Station  Strumiza  beginnt  das  Becken  von 
Gewgeli,  umgeben  von  nicht  allzu  großen  Höhen, 
die  im  Südosten  vom  Flusse  durchbrochen  werden 
{('ingane  derbend),  der  dann  durch  eine  Ebene 
von  Salonik  zum  Meere  sich  hinwendet. 

Die  Durchbruchstalstrecken  sind  zum  Teil 
durch  Verwerfungen  vorgezeichnet,  zum  Teil  reine 
Erosionstäler.  Im  großen  aber  ist  das  Wardartal 
an  tektonische  Störungszonen  gebunden,  die  im  west- 
lichen Balkan  in  NordwestSüdost-Richtung  strei- 
chen (Küstenverlauf  der  Adria,  die  drei  finger- 
förmigen Landzungen  der  Chalkidike). 

Der  größte  Teil  Mazedoniens  wird  von  der 
alten  Gebirgsmasse  des  Rhodope-Gebirges  ein- 
genommen. Im  Osten  ist  eine  geschlossene  Masse 
alter  kristalliner  Schiefer,  von  Graniten  und  jungen 
vulkanischen  Gesteinen  (Trachytcn)  durchsetzt. 
Nach  Westen  hin  löst  sich  dieses  Gebirge  in  ein- 
zelne Wellen  auf.  Zwischen  den  kristallinen  Ketten 
breiten  sich  Becken  mit  tertiären  Süßwasser- 
ablagerungen aus.  Paläozoische  und  mesozoische 
Sedimente  nehmen  nur  in  untergeordnetem  Maße 
am,  Gebirgsaufbau  teil. 

Südlich  einer  Linie  von  Prizren  am  Ostufer 
des  Prespasees,  von  da  in  Südsüdostrichtung  über 


Kastoria  beginnt  das  „Albanisch-Griechische  meso- 
zoische Faltengebirge",  das  durch  Störungslinie 
vom  kristallinen  Gebirge  getrennt  wird. 

Die  alte  Masse  ist  ebenfalls  von  Störungslinien 
ohne  bestimmte  Richtung  durchzogen.  So  ist 
das  ursprüngliche  Gebirge  zertrümmert  worden. 
An  den  Brüchen  kamen  Quarzporphyre,  Trachyte 
hoch,  die  mit  den  tertiären  und  quartären  Ab- 
lagerungen   den    früheren    Bau    etwas   verdunkeln. 

Die  östliche  Begrenzung  des  Beckens  von 
Gewgeli,  ein  Hügelland,  baut  sich  aus  meist  kri- 
stallinen Gesteinen  auf,  mit  Eruptivgesteinen  (Gra- 
nulit,  aplitischer  Granit,  Serpentin,  Diabas,  Trachyt). 
Nach  Osten  zu  treffen  wir  weiter  grobe  Konglo- 
merate, mit  Glimmer  durchsetzte  weiße  Marmore, 
im  Nordosten  über  Gneißen  transgressiv  zunächst 
grobe  Grandkonglomerate,  rote,  grüne,  graue  Sand- 
steine mit  eingelagerten  grauen  und  roten  Kalk- 
bänken. 

Durch  starke  Insolation,  große  Temperatur- 
unterschiede sind  die  Gesteine  tiefgründig  gelockert, 
es  haben  sich  bedeutende  Schutt-  und  Sandbil- 
dungen ausgeprägt,  die  Wassermassen  leicht  an 
andere  Stellen  verfrachten.  Erdige  und  tonige 
Bestandteile  können  diese  Schuttmassen  verfestigen. 
In  engen  4 — 6  m  tiefen  Rissen  und  Schluchten 
durchnagt  das  fließende  Wasser  diese  Bildungen, 
erzeugt  es  Erdpyramiden,  Pfeiler  und  Säulen. 

Die  Profile   solcher  Aufschlüsse    zeigen    schön 
die  lagenweise  Auflagerung  des  Schuttes,    wie  er 
jeweilig  vom  Wasser  niedergeschlagen  wurde. 
{gTc.)  Rudolf  Hundt,  z.  Zt.  im  Felde. 

Heilkunde.  Über  die  Ergebnisse  der  experimen- 
tellen Kropfforschung  'j  hat  W  e  g  e  1  i  n ,  zum  Teil  auf 
eigenen  Untersuchungen  fußend,  soeben  einen 
ausführlichen  Bericht  erstattet.  „Das  Kropfproblem, 
sagt  Wegelin,  hat  der  medizinischen  Forschung 
bisher  mehr  Enttäuschungen  als  erfreuliche  Er- 
rungenschaften gebracht.  Denn  jedesmal,  wenn 
ein  Fortschritt  sich  zu  verwirklichen  schien, 
stellten  sich  neue  Schwierigkeiten  ein."  Bis  vor 
kurzem  schien  es  ganz  sicher  zu  stehen,  daß  der 
Kropf  durch  das  Trinkwasser  erzeugt  wird. 
Namentlich  die  Beobachtungen  von  H.  und 
E.  Bircher  in  Aarau  an  der  Bevölkerung  von 
Rupperswil  sprachen  in  dieser  Richtung.  Als  der 
Kropfort  Rupperswil  eine  Jurawasserversorgung 
bekam  —  der  Jura  ist  kropfarm  — ,  verschwand 
dort  der  Kropf  nach  den  Angaben  von  H.  Bircher 
fast  vollständig.  Für  die  Annahme,  daß  das 
Wasser  am  Kropf  schuld  sei,  sprachen  auch  Be- 
obachtungen, die  eine  Reihe  von  Autoren  an 
P'orellen  gemacht  haben,  und  aus  denen  sich  er- 
gab, daß  Fische  ausgesprochene  Schilddrüsen- 
geschwülste aufweisen  können.  Wegelin  hat 
daraufhin  mit  seiner  Schülerin  Reicher  Forellen 
aus    einer    Gegend    untersucht,    in    welcher    der 

')  Wegelin,  Die  experimentelle  Kropfforschung.  Mit- 
teilungen der  Naturforschenden  üesellschaft  in  Bern  aus  dem 
Jahre    191 7. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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menschliche  Kropf  sehr  verbreitet  ist.  Aus- 
gesprochener Kropf  konnte  bei  diesen  Forellen 
jedoch  nicht  nachgewiesen  werden,  wenn  auch 
eine  leichte  Schilddrüsenvergrößerung  vorhanden 
war. 

Man  mußte  sich  nun  fragen,  wodurch  das 
Wasser  zu  einem  Kropfwasser  werde.  Eine  Reihe 
Schweizer  Kropfforscher  haben  sich  mit  dieser 
Frage  in  Tränkungsversuchen  mit  der  weißen 
Ratte  beschäftigt.  Wilms  glaubt  gefunden  zu 
haben,  daß  im  Kropfwasser  giftige  organische 
Stoffe  enthalten  seien,  die  beim  Erhitzen  des 
Wassers  auf  80"  zerstört  werden.  E.  B  i  r  c  h  e  r 
bezeichnet  die  wirksame  Substanz  als  einen 
kolloidalen  Stoft',  der  bei  der  Dialyse  zurück- 
gehalten wird.  Er  wird  nach  E.  Bircher  durch 
Kochen,  längeresStehenlassen, starkes  Schütteln  usw. 
zerstört.  E.  Bircher  glaubt  durch  Tränkungs- 
versuche mit  Ratten  nachgewiesen  zu  haben,  daß 
das  Kropfwasser  bei  längerem  Kontakt  mit  Jura- 
kalk seine  giftigen  Eigenschaften  einbüße. 
Messerli  wieder,  der  Tränkungsversuche  mit 
Wasser  aus  verschiedenen  Quellen  im  Waadtland 
ausgeführt  hat,  glaubt  nachgewiesen  zu  haben, 
daß  das  Kropfwasser  durch  seinen  großen  Gehalt 
an  Darmbakterien  gekennzeichnet  ist.  Auch 
andere  Forscher,  wie  Sasaki  und  MacCarrison, 
fanden,  daß  Ratten  Kropf  bekommen,  wenn  man 
sie  mit  Fäkalien  von  Ratten  oder  kropfigen 
Menschen  füttert.  Diese  Forscher  versuchten  auch, 
den  Kropf  beim  Menschen  durch  eine  Desinfektion 
des  Darmes  zu  bekämpfen.  Sie  geben  an,  daß 
bei  ihren  Patienten  eine  erhebliche  Besserung 
oder  sogar  Heilung  des  Kropfes  erzielt  wurde. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Befunden,  die  das 
Wasser  in  den  Mittelpunkt  stellen,  stehen  die 
neueren  Untersuchungen  von  Hirsch feld  und 
Klinger  vom  Hygienischen  Institut  in  Zürich. 
Hirschfeld  und  Klinger  tränkten  Ratten  in 
einer  Kropfgegend  (Ringwil  im  Zürcher  Oberland) 
ausschließlich  mit  destilliertem  oder  gekochtem 
Wasser,  das  eigens  aus  dem  kropffreien  Zürich  herge- 
holt wurde.  Diese  Tiere  erkrankten  trotzdem  an 
Kropf.  Tränkten  sie  dagegen  Tiere  in  einer 
kropffreien  Gegend  (Bozen  im  Fricktal)  mit  Wasser 
aus  einer  Kropfgegend  (aus  Ringwil),  so  blieben 
die  Tiere  gesund.  Aus  den  Versuchen  von 
Hirschfeld  und  Klinger  kann  geschlossen 
werden,  daß  das  kropferzeugende  Moment  nicht 
allein  im  Wasser,  vielleicht  überhaupt  nicht  im 
Wasser  enthalten  sei.  Es  ist  möglich,  daß  die 
allgemeinen  hygienischen  Verhältnisse, 
eventuell  sogar  ohne  Dazwischentreten  von  Bak- 
terien, am  Kropf  schuld  sind.  Ähnliche  Versuche  wie 
Hirschfeld  und  Klinger  sind  noch  von  anderen 
Forschern,  auch  in  Österreich,  ausgeführt  worden. 
Das  Ergebnis  dieser  Versuche  war  denjenigen 
von  Hirschfeld  und  Klinger  gleich.  So 
sprechen  heute  zahlreiche  Versuche  dafür,  daß  der 
Kropf  ganz  unabhängig  vom  Trinkwasser  ent- 
stehen kann.  Zurzeit  haben  wir  keinen  Beweis 
dafür,  daß  es  „Kropfwasser"  gibt. 


Umfangreiche  Untersuchungen  über  die  Ent- 
stehung des  Kropfes  wurden  in  den  Jahren  191 1 
bis  191 3  von  der  Schweizerischen  Kropf kommission 
ausgeführt,  an  denen  sich  auch  Wegelin  be- 
teiligt hat.  Weiße  Ratten  wurden  im  Verlaufe 
von  Monaten  in  verschiedenen  Ortschaften  der 
Schweiz  gehalten  und  dort  mit  bestimmten  Wässern 
getränkt.  Auf  Grund  einer  pathologisch-anato- 
mischen und  mikroskopischen  Untersuchung  der 
Schilddrüsen  von  150  Ratten  ist  Wegelin  dahin 
gelangt,  daß  die  örtlichen  Verhältnisse  von  größerer 
Bedeutung  zu  sein  scheinen  als  die  Art  des  Trink- 
wassers. Der  Rattenkropf  stimmt  histologisch 
mit  dem  endemischen  Kropf  des  Menschen  über- 
ein. Dabei  ist  von  großem  Interesse,  daß  die 
pathologischen  Schilddrüsenveränderungen  in  den 
einzelnen  Gegenden  der  Schweiz  verschieden  sind 
und  charakteristische  Eigentümlichkeiten  zeigen. 
Auch  das  spricht  nicht  für  die  Trinkwassertheorie. 
Auch  das  Ergebnis  einer  anderen  Reihe  von 
Ursachen  spricht  in  derselben  Richtung:  „Die 
Versuche  mit  Kochen,  Dialysieren  und  Stehen- 
lassen des  Trinkwassers  ergaben  bei  den  be- 
treffenden Tieren  keine  Vergrößerungen  der 
Schilddrüse  und  scheinen  also  auf  den  ersten  Blick 
mit  der  Trinkwassertheorie  in  Einklang  zu  stehen. 
Bei  Berücksichtigung  der  histologischen  Struktur 
ergibt  sich  jedoch,  daß  einige  dieser  Drüsen  auch 
eine  deutliche  Epithelwucherung  oder  degenerative 
Veränderungen  zeigen.  Hier  ist  also  bei  einzelnen 
Drüsen  unzweifelhaft  ein  Anfang  der  Kropfbildung 
vorhanden."  Auf  Grund  aller  dieser  Versuche 
kommt  Wegelin  zum  Schluß,  „daß  sich  die 
Kropfbildung  nicht  allein  aus  der  Be- 
schaffenheit des  Trinkwassers  erklären 
läßt...  Immerhin  wäre  es  möglich,  daß  das 
Trinkwasser  wenigstens  zum  Teil  als  Träger  der 
kropferzeugenden  Schädlichkeit  in  Betracht  käme 
und  daß  sich  durch  Kochen,  Dialysieren  usw. 
des  Trinkwassers  wenigstens  eine  unter  mehreren 
Bedingungen  für  die  Kropfentstehung  ausschalten 
oder  wenigstens  abschwächen  ließe"  .  .  . 

Wegelin  bemerkt  mit  Recht,  daß  jedoch 
auch  mit  den  neuesten  großen  Kropfuntersuchungen 
noch  nicht  das  letzte  Wort  über  die  Trinkwasser- 
theorie des  menschlichen  Kropfes  gesprochen  ist. 
„Genaue  ärztliche  Beobachtungen  über  die  Mög- 
lichkeit einer  Verhütung  des  Kropfes  durch 
Kochen  des  Trinkwassers  wären  jedenfalls  dringend 
erwünscht."  Vor  allem  aber  wird  es  nach 
Wegelin  jetzt  nötig  sein,  zu  erforschen,  „ob  der 
Kropf  mit  einer  bestimmten  Darmbakterienflora 
zusammenhängt,  welche  ihrerseits  wieder  durch 
Eigenschaften  der  Nahrung  oder  eventuell  des 
Trinkwassers  bedingt  sein  könnte".  Dabei  müßte 
man  annehmen,  daß  der  vermeintliche  Erreger 
des  Kropfes  stets  erneut  von  außen  in  den  Körper 
eingeführt  wird.  Denn  bei  kropfigen  Ratten  und 
Menschen,  die  aus  einer  Kropfgegend  in  eine 
kropffreie  Gegend  kommen,  tritt  nach  einiger 
Zeit  eine  Verkleinerung  der  Schilddrüse  ein. 

Manche  Erfahrungen  sprechen  dafür,  daß  auch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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eine  sehr  eiweißreiche  Nahrung  eine  Vergrößerung 
der  Schilddrüse  hervorrufen  kann. 

Als    prophylaktisches  Mittel   gegen  den  Kropf 
sollte    nach  W egelin    eine   geeignete    Jodzufuhr 
in  sehr  kleinen,  nicht  gesundheitsschädlichen  Dosen 
im  Kindesalter  in  Erwägung  gezogen  werden. 
Lipschütz. 


Zoologie.  Die  Nack^chneckenplage  im  Sommer 
1916.     Der  nasse^ommer  des  vergangenen  Jahres 
begünstigte  die  Entwicklung  der  Nacktschnecken 
sehr  und  so  war  es  nicht  verwunderlich,  daß  sich 
aus  allen  Teilen  des  Reiches  die  Klagen  mehrten 
über  den  Schaden,  den  die  Nacktschnecken  m  den 
Gemüsegärten  anrichteten.    Nach  Prof.  Dr.  L.  Reh 
(Hamburg)  (Zeitschr.  f.  Pflanzenkrankheiten,  27.  Bd., 
Jahrg.   1917,  Heft  2/3)  litten  in  seinem  Garten  be- 
sonders die  Bohnenpflanzungen,  welche  trotz  mehr- 
facher   Bestellung    nicht    mehr    hochzubekommen 
waren.  Ihre  Blätter  fielen  immer  wieder  den  Nackt- 
schnecken zum  Opfer.    Auch  den  Kartoffeln  stelUen 
die  Schnecken  sehr  nach,  sie  fraßen  das  Kartoffel- 
kraut ständig  ab  und  verhinderten  so  die  Knollen- 
bildung.    Von    den    Kohlarten    war    es  besonders 
der   Kopfkohl,    den    die    Schnecken    heimsuchten, 
während  der  Blattkohl  von  ihnen  viel  weniger  an- 
gegangen wurde;    auch  die  Salatpflanzen    wurden 
merkwürdigerweise   von    den  Schnecken  nicht  er- 
heblich beschädigt.     Dagegen  wurden    von  ihnen 
im  Herbst  faule  bzw.  moniliakranke  Fallapfel  sehr 
gerne  aufgesucht,  allerdings  weniger,  um  sich  von 
ihrem  Fruchtfleisch  zu  nähren,  als  um  von  ihnen 
die  Moniliapilze  abzuweiden.     Mit  Ausnahme  der 
Bohnenblätter,    von  denen  die  Schnecken  nur  die 
Skeletteile   übrigließen,    wurden    die  anderen  von 
ihnen  befallenen  Blätter  nur  vom  Rande  oder  durch 
Löcher  in  der  Spreite  angefressen;  auch  Stiele  und 
Stengel    wurden    von   ihnen    benagt.     Bisher  war 
man  immer  der  Ansicht  gewesen,  daß  die  Schnecken 
unterirdische  Pflanzenteile  nicht  angriffen,  die  Er- 
fahrungen  des  letzten  Jahres  aber    haben  gelehrt, 
daß  diese  Ansicht  eine  irrige  war.     Ob  freilich  die 
Schnecken    dabei    selbst    neue    Wunden   schlagen 
oder  vielleicht  nur  die  Fraßbeschädigungen  anderer 
Tiere  (Drahtwürmer,    Erdraupen  usw.)   fortsetzen 
darüber  kann  man  sich  heute  noch  kein  Endurtcil 
bilden.     Jedenfalls  konnte    im  letzten  Jahre  beob- 
achtet   werden,    daß  die  Nacktschnecken  „an  den 
dicht  unter  der  Erdoberfläche  befindlichen,  durch 
die    Bewegung    der    Pflanze    von    der  beiseite  ge- 
drückten   Erde    befreiten    Stengelteilen     fressen". 
Auch  über  die  Artenzahl  der  als  Gartenschädlinge 
erkannten    Nacktschnecken    waren    die   bisherigen 
Kenntnisse  einer  Revision  zu  unterwerfen  :  während 
man  früher  nur  die  Ackerschnecke  [Agnoluiiax 
ao-restis    L.)    und    die     große    Wegschnecke 
(Arion   empiricorum   Fer.)   als   für   Gemüsebeete 
schädlich  bezeichnete,    erwiesen  sich    im  Sommer 
1916    den  Feststellungen  Prof.    Reh's    und    zahl- 
reicher anderer  Gartenbesitzer  zufolge  auch  noch  2 
andere  Arten  als  zumindest  ebenso  schädlich:  vor- 


nehmlich die  Gartenwegschnecke  {Arton 
Jiorfcnsis  F  e  r.)  und  dann  auch  An'ou  circinuscriphis 
Johnst.  Mit  den  eingeleiteten  Bekämpfungs- 
maßnahmen (Streuen  von  Eisenvitriol,  Kalk  und 
Asche)  hatte  der  Verfasser  wenig  Erfolg.  Vor- 
züglich ist  zweifelsohne  das  Fangen  in  Biertellern, 
aber  bei  dem  ständigen  Regen  war  im  vorigen 
Jahr  auch  damit  wenig  auszurichten.  Ebenso  ent- 
täuschten Igel,  Kröte  und  Amsel  die  in  sie  als 
Schneckenfeinde  gesetzten  Hoffnungen.  So  blieb 
als  iiUiiniim  rcfugium  nur  das  allabendliche  Ein- 
sammeln mit  der  Hand  und  die  Hoffnung  auf  die 
dezimierende  Wirkung  des  Winters". 

H.  W.  Frickhinger. 


Die  Bekämpfung  der_Reblaus^  d^rch_Um- 
änder^ii^g~der^^be7ikdtur.  Beobachtungen  an 
iibll^iifes^^  Weinstöcken  in  Bulgarien  veranlassen 
Popoff  und  Joakimoffi),  Vorschläge  zu  einer 
Umänderung  der  Rebenkultur  zu  machen,  durch 
die  den  Reben  allgemein  eine  starke  Widerstands- 
fähigkeit gegen  Reblausinfektionen  veriiehen  werden 
soll  In  Anbetracht  des  großen  Schadens,  den  der 
Weinbau  jähriich  durch  die  Reblaus  erleidet,  ver- 
dienen diese  Vorschläge  alle  Beachtung. 

Die  Reblaus,    Phylloxera    vastatrix,    wurde    zu 
Anfang  der  sechziger  Jahre  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts von  Amerika   nach  Europa    verschleppt. 
Während  die   amerikanischen  Reben    nahezu    un- 
empfindlich   gegen    die  Reblaus   sind,    erwies   sie 
sich    für    die    europäischen    Weinstöcke    als    ein 
außerordentlich    gefährlicher    Parasit.      Mit    einer 
geradezu  unheimlichen  Geschwindigkeit  verbreitete 
sie  sich  in  allen  rebenzüchtenden  Ländern  Europas, 
überall      furchtbare     Verwüstungen      in     ehedem 
blühenden    Weinbergen    anrichtend.      So    betragt 
der    Schaden,    den    die    Reblaus    in    Frankreich 
verursacht    hat,    nach    annähernden   Schätzungen 
ca.    9    Milliarden    Franks,    in    Osterreich  -  Ungarn 
ca   ■;  Milliarden,  in  Bulgarien  seit  dem  Jahre  ib«4 
bis  heute  weit  über  1  Milliarde.     Daß  man  unter 
diesen  Umständen  eifrig  nach  Mitteln   sucht    um 
die  Reblaus  zu  bekämpfen,    ist  selbstverständlich. 
So    «roß     indessen    auch    die    Zahl    der     bisher 
empfohlenen  Mittel    ist,    so    vermag  doch   keines 
vollständig    zu    befriedigen.      Entweder    ist    ihre 
Wirksamkeit  überhaupt  sehr  gering,  oder  es  stehen 
ihrer    praktischen    Anwendung    große    Scliwierig- 
keiten    entgegen.      Das    gilt    z.    B     für    das    vor- 
nehmlich in  Deutschland  angewandte  Mittel:    die 
Behandlung  der  infizierten  Weinberge  mit  Schwefe  - 
kohlenstoff.     Durch  die  Einführung  von  Schwetel- 
kohlenstoffgasen    in    den    Boden    der    verseuchten 
Weinberge  werden  die  auf  den  Wurzeln  der  Reben 
lebenden    Läuse    abgetötet.     Wird    das  Verfahren 
planmäßig    durchgeführt,    so    vermag    man    ganze 
Gegenden    reblausfrei   zu    machen,    aber   bei   der 
ungeheuren  Vermehrungsfähigkeit  und  der  großen 

iTTc^ff  M.  und  Joakimoff,  D.,  Die  Bekämpfung 
der  Reblaurdu;ch  Umänderung  der  Rebenkultur.  Ze.tschr, 
f.  angew.  Entomologie,  Bd.  3,   1916. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Ausbreitungsmöglichkeit  der  Reblaus  hat  das 
Verfahren,  das  überdies  sehr  kostspielig  ist, 
dauernd  nur  Erfolg,  wenn  der  Staat  seine  all- 
gemeine Anwendung  durchsetzt.  Deutschland  hat 
auf  diese  Weise  fast  97  %  seiner  Weinberge 
reblausfrei  erhalten  können.  In  allen  anderen 
Ländern  fehlt  indessen  eine  ähnlich  wirksame 
staatliche  Reblausbekämpfung.  Das  in  manchen 
Gegenden  Frankreichs  beliebte  „Inundationsver- 
fahren"  —  zeitweises  Unter- Wasser-Setzen  der  in 
den  Flußniederungen  angelegten  Weinberge  — , 
durch  das  die  Wurzelläuse  ertränkt  werden,  bietet 
natürlich  nur  beschränkte  Anwendungsmöglichkeit. 
Auch  Kreuzungen  reblausfester  amerikanischer 
Rebensorten  mit  europäischen  Reben  hatten  nicht 
den  gewünschten  Erfolg.  Der  direkten  Über- 
tragung reblausfester  Weinstöcke  nach  Europa 
steht  die  Minderwertigkeit  der  amerikanischen 
Reben  im  Wege.  Man  hat  schließlich  versucht, 
die  amerikanischen  Reben  durch  gute  europäische 
Sorten  zu  veredeln.  Nach  langem  Hin-  und  Her- 
experimentieren ist  man  auch  zu  einigermaßen 
befriedigenden  Resultaten  gekommen,  und  heute 
sind  bereits  große  Ländereien  in  Europa  — 
speziell  in  Frankreich  —  mit  amerikanischen 
Reben  bepflanzt.  Trotzdem  bleibt  die  Veredelung 
der  amerikanischen  Reben  immer,  nur  ein  Not- 
behelf im  Kampfe  gegen  die  Reblaus.  Die  ver- 
edelten Reben  sind  sehr  empfindlich  gegen  die 
klimatischen  Bedingungen  und  die  Bodenbe- 
schaffenheit, gegen  verschiedene  Pilz-  und  kon- 
stitutionelle Krankheiten.  Daß  man  unter  diesen 
Umständen  auch  weiterhin  nach  Mitteln  sucht, 
um  die  Reblaus  wirksam  zu  bekämpfen  und  da- 
durch eine  Neuanpflanzung  der  alten  europäischen 
Rebensorten  zu  ermöglichen,  ist  verständlich. 

Popoff  und  Joakimoff  glauben  nun  ge- 
funden zu  haben,  daß  die  europäischen  Reben 
durch  eine  Umänderung  ihrer  Kultur  widerstands- 
fähig gegen  die  Reblaus  gemacht  werden  können. 
In  den  Weingegenden  Bulgariens,  in  denen  vor 
10 — 20  Jahren  die  Weinberge  durch  die  Reblaus 
vollständig  vernichtet  worden  sind,  machten  sie 
die  Beobachtung,  daß  die  wildwachsenden 
Reben  noch  üppig  weitergedeihen.  Die  gleiche 
Widerstandsfähigkeit  gegen  die  Reblaus  besitzen 
alle  baumartig  hochgezogenen  Wein- 
stöcke,  eine  in  Bulgarien  sehr  verbreitete  Art 
der  Rebenzucht.  Diese  Weinlauben  sind  dort 
unter  dem  Namen  „Asma"  bekannt.  Man  läßt 
die  Reben  an  andere  Bäume  angelehnt  wachsen 
oder  auf  besonderen  Gestellen  sich  reich  ver- 
zweigen. Die  einzelnen  Stöcke  werden  in  Ab- 
ständen von  4—5  m  voneinander  gepflanzt,  der 
Boden  wird  niemals  bearbeitet.  Häufig  werden 
die  Asmas  entlang  der  Straßenfront  der  Häuser 
gezogen,  die  Weinstöcke  werden  dann  zu  großen, 
kletternden,  lianenartigen  Bäumen  mit  einem 
Durchmesser  von  oft  15 — 20  cm,  die  ein  Alter 
von  über  100  Jahren  erreichen  können;  ihre 
Wurzeln  breiten  sich  unter  dem  Straßenpflaster 
aus.     In  allen  Ortschaften  und  Städten  Bulgariens 


und  Mazedoniens,  die  früher  durch  ihre  vorzüg- 
lichen Weinberge  berühmt  waren,  diese  Berühmt- 
heit aber  durch  die  Reblaus  eingebüßt  haben, 
sind  die  Asmas  erhalten  geblieben  und  gedeihen 
vortrefflich.  Auf  Grund  ihrer  Beobachtungen 
sowie  eigens  angestellter  Experimente  kommen 
Popoff  und  Joakimoff  zu  dem  Resultat,  daß 
die  Widerstandsfähigkeit  der  baumartig  gezogenen 
Reben  gegen  die  Reblaus  nur  auf  die  Art  der 
Kultivierung  zurückgeführt  werden  kann. 
Durch  die  Zucht  der  Reben  als  Stöcke  werden 
der  Reblaus  die  günstigsten  Bedingungen  für  ihre 
Entwicklung  geboten.  Die  ständige  Auflockerung 
des  Bodens  ermöglicht  es  dem  Insekt,  ohne  große 
Mühe  bis  zu  den  feinsten  Wurzelverzweigungen 
zu  gelangen.  Kommt  die  Zeit  der  geschlechtlichen 
Fortpflanzung,  so  vermögen  die  Wurzelläuse  leicht 
an  die  Oberfläche  zu  steigen,  eine  Wanderung, 
die  zur  Weiterführung  des  Entwicklungszyklus 
der  Reblaus  notwendig  erfolgen  muß.  Läßt  man 
die  Reben  sich  aber  ganz  normal  entfalten,  so 
entwickeln  sie  nicht  nur  eine  reiche  Krone, 
sondern  auch  ein  kräftiges  Wurzelwerk,  das  tief 
in  den  Boden  geht  und  dadurch  die  Bearbeitung 
des  Bodens  überflüssig  macht,  der  Boden  bleibt 
fest  und  bereitet  den  Wurzelläusen  große 
Schwierigkeiten,  ihre  Wanderungen  auszuführen. 
Daß  die  laubenartig  gezogenen  Weinberge  in 
Tirol  und  Italien  nicht  reblausfest  sind,  hat  seine 
Ursache  darin,  daß  dort  die  einzelnen  Stöcke  zu 
dicht  beisammen  gepflanzt  werden;  die  Wurzeln 
können  sich  infolgedessen  nicht  ihrer  Natur  ent- 
sprechend entwickeln,  sie  bleiben  klein  und 
schwächlich ,  und  dadurch  wird  eine  zeitweise 
Bearbeitung  des  Bodens  notwendig,  die  den 
Läusen  das  Eindringen  und  Wandern  gestattet. 
Die  Asmas  stehen  nach  Popoff  und  Joaki- 
moff den  in  der  P~orm  von  Stöcken  gezogenen 
Reben  hinsichtlich  ihrer  Güte  und  Fruchtbarkeit 
nicht  nach ,  ja  es  sollen  gerade  die  köstlichsten 
und  delikatesten  Sorten  von  Tafeltrauben  in 
Bulgarien  auf  diese  Weise  gewonnen  werden. 
Da,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  alle  Rebensorten 
laubenartig  kultiviert  werden  können,  läßt  sich 
das  in  Bulgarien  übliche  Kultivierungsverfahren 
auch  in  anderen  Ländern  erproben.  Ob  auch  in 
anderen  Klimaten  die  laubenartig  gezogenen 
Reben  die  gleiche  Widerstandsfähigkeit  gegen  die 
Reblaus  erreichen,  ^)  ob  vor  allem  die  Trauben 
der  normal  gewachsenen  Reben  das  gleiche  Aroma 
—  und  auf  dieses  legt  der  Weinbauer  ja  be- 
sonderen Wert  —  entwickeln  wie  die  dauernd 
beschnittenen  Weinstöcke,  müssen  die  Versuche 
lehren.  Bei  der  großen  volkswirtschaftlichen  Be- 
deutung des  Weinbaues  erscheint  jedenfalls  eine 
sorgfältige  Prüfung  der  Vorschläge  von  Popoff 
und  Joakimoff  wünschenswert.     (G.C.) 

Nachtsheim. 


')  Auch  in  Deutschland  sieht  man  in  manchen  Gegenden 
—  z.  B.  im  Rheinland  —  hier  und  da  baumartig  gezogene 
Reben.  Ob  Beobachtungen  über  die  Widerstandsfähigkeit 
solcher  Reben  gegen  die  Reblaus  vorliegen,  ist  mir  nicht  bekannt. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zur  Biologie  der  Bärenspinner.  Während  in 
Südeuropa,  so  z.  B.  in  Südfrankreich,  der  bekann- 
teste Vertreter  der  Bärenspinner  {^irctüdae),  der 
sogenannte  Braune  Bär  {Arctia  caja\^}j,  dessen 
dichtbehaarte  schwarze  Raupen  bei  uns  vom  August 
an  häufig  anzutreffen  sind,  zu  einem  argen  Schäd- 
ling der  Rebenkulturen  werden  kann,  sind  die 
Bärenspinner  bei  uns  vollkommen  harmlose  Tiere, 
die  nur  eine  Reihe  von  wildwachsenden  Kräutern 
und  Sträuchern  befallen,  dagegen  keine  der  Kultur- 
pflanzen beschädigen.  Von  einem  einheimischen 
Bärenspinner,  von.  Ircfia  hebe  berichtet  O.  H  o  1  i  k  in 
der  „Internationalen  Entomologischen  Zeitschrift" 
(ll.  Jahrg.  1917/18  Nr.  i),  daß  er  in  der  Prager 
Gegend  am  liebsten  Möhre  und  Löwenzahn  an- 
geht, aber  im  großen  und  ganzen  in  Bezug  auf 
seine  Fultergewächse  gar  nicht  wählerisch  ist  und 
in  der  Gefangenschaft  auch  mit  allerlei  anderen 
Pflanzen  vorlieb  nimmt.  So  hat  der  Verfasser  in 
seinen  Zuchten  die^i. //«i^c-Raupen  stets  mit  bestem 
Erfolg  mit  ßlumenkohlblättern  gefüttert.  Die 
Raupen  verspinnen  sich  am  Boden  und  nehmen 
auch  dabei  ganz  wahllos  alle  möglichen  Objekte 
als  Deckung:  an  Steinen,  zwischen  Erdschollen, 
unter  abgefallenem  Laub,  ja  selbst  an  Eisenbahn- 
schienen fand  der  Verfasser  ihre  Gespinste.  Auch 
bei  der  Häutung  spinnen  sich  die  Raupen  in  ein 
„seidiges  Schutzdach"  ein,  doch  scheint  dieses  für 
die  Häutung  nicht  unerläßlich  nötig  zu  sein;  denn 
gefangenen  Raupen  schadete  die  Zerstörung  dieses 
Gespinstes  nichts.  Die  Raupen,  wie  die  Puppen 
sind  äußerst  sonnenliebend,  gegen  Kälte  und  starke 
Feuchtigkeit  sind  sie  überaus  empfindlich.  Die 
jungen  A.  //f/;c- Raupen  erweisen  sich  häufig  als 
von  Schmarotzerinsekten  befallen.  Die  Larven 
dieser  Raupenfliegen  [Tacliiiien)  verlassen  aber 
ihre  Wirte  noch,  bevor  diese  ausgewachsen  sind. 
Deshalb  sind  ältere  Raupen  nur  selten  mit  Parasiten 
besetzt.  Auch  eine  Wanzenart  scheint  nach 
den  Beobachtungen  Holik's  den  .i. //(V^t-Raupen 
nachzustellen  :  H  o  1  i  k  traf  die  Wanzen  mehrmals 
dabei  an,  wie  sie  die  Raupen  aussaugten. 

H.  W.  Frickhinger. 

Zeitgemäße  Bienenzucht.  Die  deutsche  Gesell- 
schaft für  angewandte  Entomologie  hat  sich 
zur  Aufgabe  gestellt,  die  deutsche  Bienenzucht 
dadurch  zu  fördern,  daß  sie  aus  der  Feder  einer 
so  anerkannten  Autorität  auf  dem  Gebiete  wie  Prof. 
Dr.  Zander- Erlangen  eine  Anzahl  Flugschriften 
herausgibt.  Der  ersten  Schrift  aus  dem  Jahre  1916, 
„Die  Zukunft  der  deutschen  Bienenzucht"  (be- 
sprochen in  Nr.  24  dieser  Zeitschrift)  sind  nun- 
mehr zwei  weitere  Hefte  gefolgt:  Prof.  Dr.  Zander, 
Zeitgemäße  Bienenzucht.  HeftI:  Bienen- 
wohnung und  Bienenpflege.  28  Text- 
abbildungen und  Heft  II:  Zucht  und 
Pflege  der  Königin.  29.  Textabbildungen. 
Berlin  1917.  Verlag  Paul  Parey.  (Preis 
1,80  M.) 

Die    Schriften    verfolgen    den    Zweck    ein    ge- 


treues Bild  der  ungeheuer  großen,  aber  bisher  in 
weiteren  Kreisen  wenig  verstandenen  volkswirt- 
schaftlichen Bedeutung  der  deutschen  Bienenzucht 
zu  geben  und  die  Bedingungen  festzulegen,  von 
denen  ihr  zukünftiges  Gedeihen  abhängt.  Durch 
zahlreiche  Beobachtungen  und  zeitraubende  Ver- 
suche war  Zander  jahrelang  bemüht,  die  bisher 
übliche  Betriebsweise  gründlich  zu  prüfen,  ver- 
altete Methoden  und  Einrichtungen  rücksichtslos 
auszumerzen  und  die  ganze  Zucht  auf  eine  mo- 
derne, wissenschaftlich  begründete  Grundlage  zu 
stellen.  Da  diese  Arbeiten  nunmehr  nach  seiner 
eigenen  Angabe  zu  einem  gewissen  Abschlüsse 
gekommen  sind,  so  haben  wir  in  den  genannten 
Schriften  eine  kurz  umrissene  Darstellung  ihrer 
Ergebnisse  zu  sehen.  Diese  Tatsache  gibt  dem 
Studium  dieser  Arbeiten  einen  besonderen  Reiz, 
besonders  für  den,  der  das  oft  sehr  niedrige 
wissenschaftliche  Niveau  eines  großen  Teiles  der 
überaus  reichen  bienenwirtschaftlichen  Literatur 
und  Zeitschriften  kennt.  Vor  allem  wichtig  er- 
schien Zander  zunächst  die  Beschaffung  einer 
wirklich  praktischen  Bienenwohnung,  nachdem 
sich  herausgestellt  hatte,  daß  die  bisher  üblichen, 
in  zahlreichen  F"ormen  vorliegenden  Beuten  nicht 
oder  nur  unvollkommen  den  zu  stellenden  An- 
forderungen genügen.  Dabei  leitete  ihn  der 
Gesichtspunkt,  daß  wirklich  lohnende  Bienenzucht 
nach  neuen  und  verbesserten  Methoden  nur  be- 
trieben werden  könne,  wenn  der  Imker  ohne 
große  Störung  des  Volkes,  ohne  viel  Zeitverlust 
und  ohne  der  Natur  zu  viel  Gewalt  anzutun, 
jederzeit  in  der  Lage  sei  die  Vorgänge  im  Stocke 
selbst  genau  zu  überblicken  und  zu  regeln.  In 
Heft  I  beschreibt  nun  Zander  die  von  ihm  ge- 
baute und  durch  langjährigen  Gebrauch  und  weile 
Verbreitung  gut  erprobte  sog.  „Zanderbeute".  Mit 
in  die  Beschreibung  von  Bau  und  Handhabung 
wird  noch  manches  eingeflochten,  was  für  den 
Imker  von  heute  zum  eisernen  Bestände  seiner 
Kenntnisse  zu  gehören  hat.  Behandelt  wird  unter 
anderem  die  Frühjahrsnachschau ,  die  Förderung 
der  Volksentwicklung,  die  Seh  warmpflege,  die 
Honigerntc,  das  für  die  Ausnutzung  der  mehr  und 
mehr  verarmenden  Honigweide  so  wichtig  ge- 
wordene Wandern,  die  Einwinterung  u.  a. 

Ein  besonderes  Kapitel  moderner  Imkerei 
bildet  die  zielbewußte  Zucht  und  Auslese  der 
Bienenkönigin.  Sie  ist  geradezu  die  Grundlage 
jeder  einträglichen  Bienenzucht,  so  daß  ohne  sie 
alle  anderen  Maßregeln  ohne  bleibenden  Wert 
sind.  Ist  es  doch  Zander,  der  seit  1910  plan- 
mäßig züchtet,  gelungen  durch  sorgfältige  und 
rücksichtslose  Auslese  nach  Leistungen  die  Ertrag- 
fähigkeit der  Imkerei  bedeutend  zu  steigern,  die 
Durchschnittsleistung  der  Völker  zu  verdoppeln. 
Mit  der  Königinnenzucht  befaßt  sich  daher  das 
II.  Heft.  Sein  Studium  kann  ganz  besonders 
auch  deshalb  jedem  Nichtimker  empfohlen 
werden,  weil  die  Biene  dank  ihrer  eigentüm- 
lichen Fortpflanzungsverhältnisse  mehr  und  mehr 
zu  einem  Versuchstier  für  vererbungstheoretische 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Beobachtungen  geworden  ist.  Schon  Gregor 
Mendel  ahnte  ihren  Wert.  Um  zu  verstehen 
wie  wertvoll  die  Biene  in  dieser  Beziehung  für  die 
Wissenschaft  werden  kann,  braucht  nur  darauf  hin- 
gewiesen zu  werden,  daß  die  Königin  nur  einmal 
im  Leben  befruchtet  wird,  daß  also  ihre  gesamte 
Nachkommenschaft,  die  sich  auf  zwei,  drei  oder 
mehr  Jahre  verteilen  kann,  einen  Wurf  dar»tellt, 
bestehend  aus  vielen  Tausenden  von  Arbeitsbienen 
mit  väterlichem  und  mütterlichem  Einschlag,  dazu 
Hunderte  von  Drohnen,  die  bekanntlich  nur  aus 
unbefruchteten  Eiern  hervorgehen,  mit  nur  mütter- 
lichem Vererbungsgut.  Die  Kreuzung  verschiedener 
Rassen  gibt  also  die  beste  und  schönste  Gelegen- 
heit zu  Studien  der  Merkmalsverhältnisse.  Eine 
Schwierigkeit  besteht  allerdings  noch.  Die  geradezu 
unsinnige  Einfuhr  buntfarbiger  norischer,  italieni- 
scher, cyprischer  u.  a.  Rassen,  von  denen  man  sich 
in  Deutschland  —  wie  sich  gezeigt  hat  mit  Unrecht 
—  Großes  versprach,  hat  bewirkt,  daß  die  heimische 
Biene  derart  verbastadiert  wurde,  daß  sie  zurzeit 
für  Vererbungsstudien  zunächst  garnicht  brauchbar 
ist.  Ehe  das  möglich  ist,  wird  es  nötig  sein,  das 
fremde  Blut  wieder  zu  beseitigen,  um  sich  rein 
vererbende  Linien  zu  schaffen.  An  die  Lösung 
dieser  dankbaren,  aber  höchst  schwierigen  Aufgabe 
ist  Zander  seit  einiger  Zeit  herangegangen  und 
zwar  mit  dem  Erfolge,  daß  ihm  die  Züchtung 
eines  rein  sich  vererbenden  dunklen  Stammes  allem 
Anscheine  nach  bereits  gelungen  ist.  Voraussicht- 
lich wird  daher  die  Biene  in  Zukunft  mehr  als 
bisher  noch  ein  dankbares  Studienobjekt  für  Zwecke 
der  experimentellen  Biologie  werden.  Wer  sich 
daher  mit  dem  Rüstzeug  und  vielfachen  Gerät  und 
den  aus  einer  außerordentlich  sorgfältigen  Beobach- 
tung des  Bienenlebens  hervorgewachsenen  Metho- 
den der  Königinnenzucht  vertraut  machen  will, 
diesem  neuen  Zweige  der  angewandten  Entomo- 
logie, der  lese  die  kleine  Schrift  von  Zander. 
Olufsen. 

Anthropologie.  Über  die  Bewohner  von  Neu- 
kaledonien  und  der  Loyaltyinseln  hat  F.  Sarasin 
neue  und  wichtige  Mitteilungen  gemacht  („Etüde 
anthropologique  sur  les  Neo-Caledoniens  et  les 
Loyaltiens".  Archives  suisses  d'Anthrop.  gener. 
Tome  II  1916  — 17,  S.  83;  ferner:  „Streiflichter 
aus  der  Ergologie  der  Neukaledonier  und  Loyalty- 
insulaner  auf  die  europäische  Prähistorie".  Ver- 
handl.  d.  Naturf  Ges.  in  Basel  Bd.  XXVIII  2.  Teil 
1916)  Das  große  Werk  des  Verfassers,  das  sämt- 
liche Ergebnisse  seiner  in  den  Jahren  191 1  und 
191 2  unternommenen  Forschungsreise  bringen 
wird,  hat  infolge  der  kriegerischen  Ereignisse  noch 
nicht  fertiggestellt  werden  können. 

Die  anthropologischen  Verhältnisse  beider  Insel- 
gruppen waren  bis  dahin  wenig  bekannt.  Sarasin 
ist  es  gelungen,  mehr  als  350  Individuen  zu  unter- 
suchen und  ungefähr  200  Schädel  und  viele  Ske- 
lette zu  sammein.  Die  eingeborene  Bevölkerung 
von  Neukaledonien  zählte  im  Jahre  191 1  nur  noch 
16902  Individuen,    darunter  9554    männliche  und 


734S  weibliche,  gegenüber  25975  Seelen  im  Jahre 
1885;  sie  ist  also  innerhalb  der  letzten  26  Jahre 
um  ^3  zurückgegangen.  Sie  besteht  aus  mehreren 
Stämmen,  die  eigene  Sprachen  sprechen  und  ver- 
teilt sich  auf  283  Dörfer,  von  denen  die  meisten 
aber  nicht  mehr  als  50  Individuen  umfassen.  Die 
Dichtigkeit  beträgt  nur  i  Eingeborener  auf  den 
Quadratkilometer.  Günstiger  liegen  die  Verhält- 
nisse auf  den  Loyaltyinseln,  wo  seit  der  Besitz- 
ergreifung durch  die  Franzosen  im  Jahre  1864 
die  europäische  Ansiedlung  verboten  ist. 

Was  die  somatischen  Eigenschaften  der  Ein- 
geborenen anlangt,  so  fand  Sarasin  in  fast  allen 
wichtigen  Körpermerkmalen  regionale  Differenzen. 
So  beträgt  die  mittlere  Körpergröße  von  ganz 
Neukaledonien  für  die  Männer  166,4  cm,  für  die 
Frauen  i  56,6  cm,  aber  die  Leute  des  Innenlandes 
sind  kleiner  als  diejenigen  der  Küste,  und  geht 
man  die  letztere  entlang  gegen  Süden,  so  kon- 
statiert man  eine  beständige  Zunahme  der  Statur. 
So  stehen  sich  inännliche  Gruppenmittel  von 
162  cm  (Stamm  der  Bonde)  und  von  171,4cm 
(Dorf  Bako  bei  Konej  gegenüber.  Die  ganze 
Körperentwicklung  der  Neukaledonier  ist  eine 
robuste,  die  Muskulatur  stark  entwickelt;  obere 
und  untere  Extremität  sind  im  Verhältnis  zur 
Statur  lang,  und  der  Fuß  überragt  durch  seinen 
kräftigen  breiten  Bau. 

Ähnliche  Unterschiede,  wie  bei  der  Körper- 
größe, bestehen  auch  hinsichtlich  der  allgemeinen 
Kopfform.  Der  mittere  Längenbreitenindex  des 
Kopfes  beträgt  für  Männer  76,5,  für  hVauen  76,7, 
derjenige  des  Schädels  allerdings  nur  71,8  und 
71,2,  wieder  ein  Beweis  dafür,  daß  die  beiden 
Indizes  nie  vermengt  werden  dürfen,  weil  die 
Durchmesser  am  Kopfe  durch  die  Auflagerung 
der  Weichteile  bedeutend  und  in  verschiedenem 
Maße  modifiziert  werden.  Die  homogenste  do- 
lichokephale  Gruppe  (Index  =  72,1  und  73,1)  sitzt 
in  dem  westlichen  Teil  der  Insel,  während  an 
der  Südküste  der  mittlere  Kopfindex  bis  auf  80,1 
resp.  79,4  steigt,  also  bereits  an  Brachykephalie 
streift,  die  sich  auch  ausgesprochen  bei  einzelnen 
Individuen  findet.  Auf  künstliche  Eingriffe  können 
diese  Unterschiede  nicht  zurückgeführt  werden. 
Der  Neukaledonier  hat  zwar  die  Gewohnheit,  den 
Kopf  des  Neugeborenen  leicht  zu  massieren,  aber 
dauernde  Veränderungen  der  Kopfform  können 
durch  so  einfache  und  kurzdauernde  Manipula- 
tionen nicht  hervorgerufen  werden.  Die  Kopf- 
form der  Loyaltyinsulaner  ist  homogener  und 
deutlicher  dolichokephal  (L.-B.  Index  =  72,5  und 
tu):,  kein  einziger  Kurzkopf  fand  sich  unter 
ihnen.  Charakteristisch  für  beide  Gruppen  ist  die 
starke  Entwicklung  der  Glabella  und  der  Augen- 
brauenregion, unter  der  die  Nasenwurzel  und  die 
Augen  wie  von  einem  Schutzdach  überschattet 
liegen. 

Von  den  verschiedenen  Bildungen  des  Gesichtes 
sei  nur  auf  die  sehr  breite  und  niedere  Entwick- 
lung der  Nase  hingewiesen.  Die  absolute  Breite 
an    den  Nasenflügeln    beläuft    sich    im   Mittel    auf 


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47  mm,  steigt  individuell  aber  auf  6omm,  so  daß 
der  mittlere  Nasenindex  99,3  für  die  Männer  und 
98,1  für  die  Frauen,  in  einem  Fall  sogar  133,3, 
beträgt.  Das  besagt,  daß  als  Regel  die  Nase 
ebenso  breit  wie  hoch  ist.  Allerdings  im  Osten 
der  Insel  nimmt  vom  Norden  nach  dem  Süden 
der  Nasenindex  ab,  während,  wie  schon  erwähnt, 
Körpergröße  und  Längenbreitenindex  des  Kopfes 
steigen.  Stark  vorstehende  Kiefer  in  Verbindung 
mit  einer  langen  Mundspalte  gehören  mit  zur 
neukaledonischen  Physiognomie. 

Die  Hautfarbe  zeigt  im  allgemeinen  mäßig 
dunkelbraune  und  rötlich  braune  Töne,  nur  an 
der  vorderen  Bauchwand  kommen  schwarzbraune 
Nuancen  vor.  Die  Hautfarbe  der  Frauen  und 
Kinder  ist  wesentlich  heller;  diejenige  der  letz- 
teren erreicht  erst  gegen  das  5. — 7.  Lebensjahr 
die  Tönung  der  Erwachsenen,  während  bei  den 
Negern  Afrikas  dieser  Prozeß  viel  rascher  verläuft. 
In  merkwürdigem  Kontrast  zur  Hautfarbe  steht 
die  Irisfarbe,  die  im  Kindesalter  dunkler  ist,  als 
bei  den  Erwachsenen;  während  die  Hautpigmcn- 
tation  also  zunimmt,  muß  diese  während  des 
Wachstums  abnehmen. 

Besonderes  Interesse  verdienen  die  Unter- 
suchungen Sarasin's  über  das  Haar.  Die 
schwarze  Haarfarbe,  die  von  Natur  nur  einen 
leichten  bräunlichen  Schimmer  zeigt,  ist  durch 
die  Behandlung  mit  Kalk  vielfach  alteriert.  Ebenso 
wird  der  ursprünglich  krause  oder  spiralgerollte 
Charakter  des  Haares  durch  das  künstliche  Auf- 
lösen und  Verfilzen  der  Spiralen  stark  verändert. 
Der  Durchmesser  der  letzteren  ist  übrigens  von 
Natur  sehr  verschieden,  er  schwankt  zwischen 
2,5  mm  und  20  mm.  Im  höheren  Alter  nimmt 
die  Spiralität  des  Haares  bei  beiden  Geschlechtern 
ab.  Der  Querschnitt  des  einzelnen  Haares  ist 
groß  und  abgeplattet  (täniomorph),  wie  es  bei 
spiralgerollten  Haaren  die  Regel  ist.  Diese  Eigen- 
schaften scheinen  sich  aber  erst  während  des 
Wachstums  herauszubilden.  Bei  Kindern  im  Alter 
von  I  — 1^2  Jahren  sind  die  Haare  noch  fast 
schlicht  oder  leicht  wellig  und  lockig,  von  ge- 
ringem Querschnitt  und  von  einer  hellbraunen 
bis  blonden  Färbung.  Bis  zum  8.  Lebensjahr 
findet  dann  die  Umwandlung  in  die  spiralgerollte 
Form  statt,  während  die  Steigerung  der  Farb- 
intensität bis  zur  definitiven  Haarfarbe  noch  länger 
dauert.  Sarasin  vermutet  auf  Grund  dieses  sich 
ontogenetisch  vollziehenden  Prozesses,  daß  die 
Neukaledonier  von  einer  wellighaarigen  (kymato- 
trichen)  Rasse  abstammen.  Man  mag  diese  Hypo- 
these für  genügend  begründet  halten  oder  nicht, 
jedenfalls  verliert  der  bisher  geltende  Satz,  daß 
der  definitive  Rassecharakter  der  Haarform  schon 
bei  der  Geburt  besteht,  seine  Allgemeingültigkeit. 
Zur  Entscheidung  dieser  sehr  wichtigen  F"rage 
muß  allerdings  noch  festgestellt  werden,  wie  sich 
bei  dieser  Änderung  des  Haarcharakters  der  Haar- 
follikel verhält,  ob  es  sich  um  einen  vollständigen 
Haarersatz  handelt  usw.  Wichtig  ist,  daß  auch 
Körper  und  Gesicht  an  einigen  Stellen  im  frühen 


Kindesalter  von  ganz  feinen  Haaren  bedeckt  sind, 
die  an  ein  primäres  Haarkleid  erinnern.  Für  die 
Erwachsenen  ist  eine  starke  sekundäre  Körper- 
behaarung mit  deutlich  spiralgerolltem  Charakter, 
die  besonders  Brust,  Rücken,  Schenkel  und  Vorder- 
arme bedeckt,  die  Regel. 

Unter  den  ergologischen  Momenten,  die  Sa- 
rasin auf  Neukaledonien  feststellen  konnte,  finden 
sich  solche,  die  interessante  Analogien  zur  euro- 
päischen Urgeschichte  ergeben.  Dazu  gehört  die 
Verwendung  roher,  in  ßachbetten  aufgelesener 
schwerer  Rollsteine  als  Hämmer,  einfacher  Korallen- 
zweige oder  Rollsteine  als  Bohrer,  die  Benutzung 
von  Quarzsplittern  ohne  jede  weitere  Zubereitung 
zu  Aderlaßzwecken  oder  zum  Glätten  hölzerner 
Keulen.  F"rüher  war,  wie  die  Untersuchungen  älterer 
Ansiedlungen  ergaben,  das  Steingeräteinventar 
viel  reicher  z.  T.  von  paläolithischem  Typus  neben 
ausgesprochen  neolithischen  Formen.  Dieses  Per- 
sistieren paläolithischer  Tradition  in  der  neolithi- 
schen Periode  ist  auch  für  Europa  nachgewiesen. 

Die  perforierten  oder  z.T.  abgenutzten  Muschel- 
und  Schneckenschalen  aus  europäischen  prähistori- 
schen Stationen  wurden  meist  als  Schmucksachen 
angesprochen.  Das  ist  wohl  nicht  immer  richtig. 
Für  den  primitiven  Menschen  ist  die  Muschel- 
schale ein  wahres  Universalinstrument,  wie  die 
Ergologie  der  Neukaledonier  beweist.  Die  Durch- 
bohrung dient  in  vielen  Phallen  zur  Befestigung, 
während  der  scharfe  Rand  als  Hobel  zum  Glätten 
von  Holz  oder  zum  Abschaben  von  Wurzelfrüchten 
benutzt  wird. 

Auf  Neukaledonien  finden  sich  ferner  auch 
Steinreihen  von  einer  Länge  von  220  m,  die,  wie 
aus  übereinstimmenden  Angaben  hervorgeht,  Sieges- 
denkmäler darstellen,  bei  denen  jeder  Stein  einen 
gefallenen  oder  verspeisten  Feind  bedeutet.  Als 
Analogie  kann  hier  an  die  besonders  in  der  Bre- 
tagne auftretenden  „Alignements"  erinnert  werden, 
und  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  auch  diese 
Monumente  einen  ähnlichen  Ursprung  haben.  Die 
Steine,  die  so  manchen  Begräbnistumulus  im  Kreise 
umgeben,  sind  vielleicht  ebenfalls  als  Menschen- 
opfer, die  den  Toten  dargebracht  wurden,  zu 
deuten,  oder  sollen  wenigstens  Menschen  symbo- 
lisieren. Auch  die  fremdartig  geformten  und  ge- 
färbten Steine,  die  man  bei  uns  vornehmlich  in 
den  Stationen  des  Magdalenien  trifft,  finden  durch 
Analogie  mit  Neukaledonien  ihre  Erklärung,  denn 
hier  gelten  alle  solche  Steine,  die  annähernd  die 
Form  irgendeines  Gegenstandes  besitzen ,  als 
Zaubersteine,  denen  man  bestimmte  Kräfte  zu- 
schreibt und  die  man  dementsprechend  behandelt. 
Daß  für  die  Bestattung  der  Leichen  in  Hocker- 
stellung unumwunden  die  Furcht  vor  der  Wieder- 
kehr des  Toten  angegeben  wird,  ist  eine  neue 
Bestätigung  der  schon  von  R.  Andree  einge- 
führten und  wohl  auch  für  Europa  gültigen  Theorie. 
Das  Aufstellen  von  Schädeln  in  geschützten  Fels- 
spalten und  Grotten  wirft  Licht  auf  ähnliche 
Schädelanhäufungen,  wie  sie  z.  B.  R.  R.  Schmidt 
in    der   großen  Ofnethöhle    gefunden.     Der  Rück- 


48o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  34 


Schluß  ist  jedenfalls  gestattet,  daß  es  sich  auch 
in  dem  letzteren  Fall  um  eine  Art  von  Schädel- 
altar, d.  h.  um  eine  Stätte  handelt,  die  dem 
Ahnenkultus  geweiht  war.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,    daß    diese    und    andere    bei   rezenten 


Naturvölkern  gemachten  Beobachtungen  geeignet 
sind,  viel  zur  Aufhellung  der  europäischen  Prä- 
historie beizutragen  und  die  Deutung  der  Funde 
aufden  richtigen,  dem  europäischen  Denken  vielleicht 
ganz  fremden  Weg  zu  leiten.  R.  Martin. 


Bücherbesprechuugen. 


P.    Adloff,    Die    Entwicklung    des    Zahn- 
systems   der    Säugetiere    und    des 
Menschen.     Eine  Kritik  der  Dimertheorie  von 
Bolk.      HO    S.    mit    83    Abb.       Berlin     1916, 
H.  Meusser.  —  Brosch.  s  M. 
Wie  der  Untertitel  sagt,  eine  Streitschrift,  die 
die  Einwände    zusammenfaßt,  welche  Verf.  schon 
in   mehreren    Arbeiten    gegen    die    Gültigkeit    der 
Bolk' sehen    Theorie    von    der   Entwicklung    des 
Säugetiergebisses  erhoben  hat.    Bei  dieser  Gelegen- 
heit wird  natürlich  das  ganze  Problem  der  phylo- 
genetisch-ontogenetischen  Zahnentwicklung    mehr 
oder    weniger   ausführlich   behandelt,    so   daß  die 
kleine    Schrift    einen    guten  Überblick    über    den 
derzeitigen  Stand  aller  einschlägigen  Fragen  gibt. 
Verf.    tritt    für    die    ältere    Konkreszenztheorie 
ein,  hauptsächlich  gestützt  auf  das  Auftreten  labialer 
Fortsätze    der  Schmelzleiste,    die    er  mit  Leche, 
als   „prälakteale    Dentition"    bezeichnet,    während 
Bolk  sie  als  „laterale  Schmelzleiste"  auffaßt.     Es 
handelt   sich    um    die    verschiedene  Deutung  der- 
selben Bildung,    die,  wie  Bolk  einwandfrei  nach- 
gewiesen, ein  normaler  Bestandteil  jeder  Zahnanlage 
zu  sein  scheint.     Die  von  Bolk  „Schmelzseptum" 
und  „Schmelznabel"  genannten  Bildungen  werden 
als  bedeutungslos  abgelehnt,  wodurch  auch  seine 
Auffassung,  daß  jedes  Schmelzorgan  aus  zwei  eng 
aneinander    geschlossenen    Einzelorganen    besteht, 
negiert  wird. 

Hinsichtlich  der  Morphogenie  der  Primaten- 
zähne wird  auf  die  Schwierigkeit  hingewiesen, 
durch  funktionelle  Anpassung  oder  Selektion  die 
allmähliche  Herausbildung  der  komplizierten  Zahn- 
formen restlos  zu  erklären.  Die  Cope-Osborn- 
sche  Theorie  scheint  Verf  immer  noch  der  beste 
Erklärungsversuch.  Im  einzelnen  wendet  er  sich 
dann  gegen  die  Auffassung  Bolk's,  daß  nicht 
nur  die  Molaren,  sondern  alle  Zähne  aus  einer 
Konzentration  zweier  trikonodonter  Reptilienzähne 
hervorgegangen  seien ;  an  der  Tatsache  aber,  daß 
der  trituberkuläre  Zahn  die  Grundform  für  die 
meisten  Säugetierzähne  darstellt,  wird  nicht 
gezweifelt. 

Besonders    eingehend    behandelt  Verf  die  Be- 


deutung der  einzelnen  Höcker  der  Molaren  und 
macht  die  zunehmende  Komplikation  und  den  all- 
mählichen Übergang  einer  Zahnart  in  eine  andere 
durch  gutausgewählle  Beispiele  und  Abbildungen 
deutlich.  Die  beiden  letzten  Abschnitte  sind  der 
Homologie  der  Prämolaren  und  der  ersten  Molaren, 
ferner  der  Dentitionszugehörigkeit  der  Molaren  und 
den  überzähligen  Höckern  und  Zähnchen  in  der 
Mahbahngegend  des  Menschen  gewidmet.  Verf. 
hat  recht,  wenn  er  energisch  die  Gefahren  einer 
falschen  Deutung,  die  Möglichkeit  einer  Verwechs- 
lung von  Konvergenzen  mit  Homologien  besonders 
beim  menschlichen  Gebiß  betont,  weil  hier  zu  den 
normalen  Differenzierungsprozessen  noch  eine  Menge 
von  Anomalien  und  Mißbildungen  kommen,  die 
mit  der  Rückbildung  des  Gebisses  besonders  bei 
allen  Kulturvölkern  im  Zusammenhang  stehen. 
R.  Martin. 


Literatur. 

Tobler,  Prof.  Dr.  Fr.,  Textilersatzstoffe.  Dresden  und 
Leipzig  '17,  „Globus".  1,50  M. 

Häuser,  Dr.  O.,  Der  Mensch  vor  looooo  Jahren.  Mit 
96  Abbildungen  und  3  Karten.  Leipzig  '17,  F.  A.  Brock- 
haus. —  3  M. 

Sachsze,  Prof.  Dr.  R.,  Chemische  Technologie  usw. 
Kurzgefaßtes  Lehrbuch  für  Handels-,  Gewerbe-  und  andere 
Schulen  und  zum  Selbstunterricht.  2.  Aufl.  Mit  96  Text- 
abbildungen.     Leipzig  u.   Berlin   '17,  B.   G.   Teubner. 

Wegner,  Prof.  Dr.  P.,  Lesebuch  der  Geologie  und 
Mineralogie  für  höhere  Schulen.  Große  Ausgabe.  Mit  322 
Abbildungen  und  4  Tafeln.  6.  verbesserte  Aufl.  Ebenda.  — 
3  M. 

Abderhalden,  Prof.  Dr.  E.,  Die  Grundlagen  unserer 
Ernährung  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Jetztzeit. 
Berlin   '17,  J.  Springer.  —  2, So  M. 


Zu  I 
Schrift  N 
sehen  so 


Druckfehlerberichtigung. 

ikel ;  Grundwasser  und  Quellen,  Naturw.  Woche 
iiider  unterlaufene  Ve 
Es  muß  heißen: 


265—275; 
sollen  hier  berichtigt  v 
S.   265,  1.  Sp.  Z.  37:  „in  Form  von  Wasserdampf" 
S.  267,  1.  Sp.  Z.   19:  „Orten" 
S.  268,  r.  Sp.  Z.  8/9:   „das  Grundwasser" 
S.  272,  r.  Sp.  Z.  3;  „Herzogtum  Krain" 
Abb.   15;   „Poik-Schwinde  vor  der  Adelsberger  Grotte" 
K.  Kr. 


Inhalt:  Engelhardt,  Faraday's  Stellung  in  der  Geschichte  der  Physik.  (2  Abb.)  S.  465.  —  Einzelberichte :  Otto  Jessen, 
Das  Landschaflsbild  der  trocknen  Champagne.  S.  472.  Kurt  Leuchs,  Die  Geologie  des  mazedonischen  Kriegsschau- 
platzes. S.  473.  Wegelin,  Die  Ergebnisse  der  experimentellen  Kropfforschung.  S.  474.  L.  Reh,  Die  Nacktschnecken- 
plage  im  Sommer  1 91 6.  S.  475.  Pop  off  und  Joakimoff,  Die  Bekämpfung  der  Reblaus  durch  Umänderung  der  Reben- 
kultur. S.  475.  O.  Holik,  Zur  Biologie  der  Bärenspinner.  S.  477.  Zander,  Zeitgemäße  Bienenzucht.  S.  477.  Sarasin, 
Bewohner  von  Neukaledonien  und  der  Loyaltyinseln.  S.  478.  Bücherbesprechungen:  P.  Adloff,  Die  Entwicklung  des 
Zahnsystems  der  Säugetiere  und  des  Menschen.  S.  480.  —  Literatur:  Liste.  S. 480.  —  Druckfehlerberichtigung.  S.  480. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  luvalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  2.  September  1917. 


Nummer  35. 


Über  die  Bedeutung  der  Größe  für  Organismen. 


(Nachdruck  verboten 

Die    Begriffe 


der  Physik ,  soweit 
Charakter  von  Größen  haben ,  werden  zurück- 
geführt auf  die  drei  F"undamentalgrößen,  Länge  L, 
iVIasse  M  und  Zeit  T.  Die  Zurückführung  ge- 
schieht mit  Hilfe  irgendeiner  auf  Begriffsverbindung 
oder  Erfahrung  beruhenden  „geometrischen,  kine- 
matischen oder  physikahschen  Beziehung".  ^)  Alle 
meßbaren  Größen  werden  dadurch  zu  einem 
„absoluten  Maßsystem"  vereinigt. 

Die  Abhängigkeit  irgendeines  physikalischen 
Begriffes  von  den  F"undamentalgrößen  tritt  am 
deutlichsten  hervor,  wenn  man  nur  ausdrückt, 
welche  Potenzen  von  L,  M  und  T  in  seiner 
Definition  vorkommen.  Die  Kraft  z.  B.  wird  ge- 
messen durch  das  Produkt  aus  Masse  und  Be- 
schleunigung. Wenn  man  die  Beschleunigung 
mit  Hilfe  ihrer  Definition  auf  L  und  T  zurück- 
führt, so  ergibt  sich  für  die  Kraft  das  Produkt 
LMT  -.  Durch  diesen  Ausdruck  ist  die  „Dimen- 
sion" der  Kraft  bestimmt. 

Wenn  man  nur  untersuchen  will,  wie  irgend- 
eine physikalische  Erscheinung  von  der  Größe 
der  beteiligten  Körper  abhängt,  so  genügt  es  an- 
zugeben, welchen  Potenzen  von  L  allein  die 
Ursachen  und  Wirkungen,  die  man  betrachtet, 
proportional  sind.  Dabei  wird  also  die  Zeit  ganz 
außer  acht  gelassen.  Die  Masse  dagegen  ist 
proportional  L''  zu  setzen,  denn  die  Masse  eines 
Körpers  oder  seiner  Teile  ist  gleich  dem  Produkt 
aus  dem  Volumen  und  der  spezifischen  Dichte; 
diese  aber  ist  nur  von  der  Beschaffenheit  der 
Stoffe,  nicht  von  ihrer  Ausdehnung  abhängig. 

Bevor  ich  die  biologischen  Anwendungen  dieses 
Gedankens  gebe,  möge  ein  Beispiel  aus  der  Physik 
betrachtet  werden. 

Man  denke  sich  eine  Dampfmaschine,  die  eine 
Pumpe  treibt,  und  daneben  ein  vollkommen  ge- 
treues Modell,  das  im  Maßstabe  i  :  10  ausgeführt 
ist;  beide  Maschinen  sollen  in  gleichem  Takt 
laufen.  Das  Modell  bietet  dann  dem  Beschauer 
das  Bild  einer  geometrischen  Verkleinerung,  die 
in  jeder  Bezieliung  dem  Original  ähnlich  ist. 
Dennoch  ist  die  Arbeit  des  Modells  von  der  des 
Originals  wesentlich  verschieden. 

Diese  Betrachtung  wird  einleuchtend,  wenn 
man  sich  einige  Grundbegriffe  der  Mechanik  in 
die  Erinnerung  zurückruft. 

Um  einen  ruhenden  Körper  (z.  B.  ein  Geschoß) 
durch  einen  Stoß  in  geradlinige  Bewegung  zu  ver- 
setzen, muß  eine  Kraft  angewendet  werden, 
welche    proportional    ist    dem    Produkt    aus    der 


)n  Prof.  Johannes  Theel. 

Mit   I   Abbildung. 

sie     den     Masse  des  Körpers  und  der  Beschleunigung, 


die  er  bekommt.  Beschleunigung  bedeutet  den 
Zuwachs  an  Geschwindigkeit  für  die  Zeiteinheit 
und  Geschwindigkeit  (v) ,  bedeutet  den  Weg  in 
der  Zeiteinheit.') 

Wenn  dagegen  ein  ruhendes  Schwungrad  durch 
einmaligen  Anstoß  in  Rotation  versetzt  werden 
soll,  so  muß  eine  Kraft  aufgewendet  werden, 
welche  proportional  ist  dem  Produkt  aus  dem 
Trägheitsmoment  des  Rades  und  der 
Winkelbeschleunigung,  die  es  bekommt. 
Winkelbeschleunigung  bedeutet  die  Zunahme  der 
Winkelgeschwindigkeit  für  die  Zeiteinheit  und 
Winkelgeschwindigkeit  (w)  bedeutet  den  Winkel, 
den  irgendein  Punkt  in  der  Zeiteinheit  überstreichen 
würde. 

Hieraus  ergibt  sich:  das  Trägheitsmoment 
spielt  bei  der  Rotation  dieselbe  Rolle  wie  die 
Masse  bei  der  geradlinigen  Bewegung  (Translation). 
Masse  und  Trägheitsmoment  sind  Bezeichnungen 
für  das,  was  der  Beschleunigung  widerstrebt. 

Nun  ist  das  Trägheitsmoment  von  der  Form 
9  =  rmr-  (m  bedeutet  die  einzelnen  Massenteile 
und  r  ihren  Abstand  von  der  Rotationsachse).  Das 
Trägheitsmoment  hängt  also  nicht  nur  von  der 
Masse,  sondern  erst  recht  von  ihrer  Verteilung 
ab  und  wird  um  so  größer,  je  weiter  die  Massen- 
teile von  der  Rotationsachse  entfernt  sind.  Die 
Gleichung  (-)  =  Emr'-  zeigt  außerdem,  daß  &  der 
fünften  Potenz  von  L  proportional  ist,  denn  m 
ist  proportional  L'"*. 

Andererseits  ist  die  kinetische  Energie  eines 
geradlinig  bewegten  Körpers  gleich  ^mv'^  und  die 
eines  rotierenden  gleich  \6io-.  Auch  im  Ausdruck 
der  Energie  erscheint  das  Trägheitsmoment  bei 
der  Rotation  anstelle  der  Masse  bei  der  Trans- 
lation. Für  das  Beispiel  von  der  Dampfmaschine 
und  ihrem  Modell  ergibt  sich  nun  folgendes:  Da 
bei  der  Maschine  alle  Längen  das  lofache  der 
entsprechenden  Längen  des  Modells  betragen,  so 
kann  die  Maschine  in  einer  bestimmten  Zeit 
lO''  =  1000  mal  so  viel  Wasser  heben  wie  das 
Modell  und  kann  dadurch  eine  potentielle  Energie 
anhäufen,  welche  10  •  10^  =  10  000  mal  die  Leistung 
des  Modells  übertrifft.  Dagegen  steckt  im 
Schwungrad  der  Maschine  eine  kinetische  Energie, 
welche  10*  =  looooo  mal  so  groß  ist  wie  bei 
dem  Modell.  In  der  Maschine  herrscht  also  eine 
andere  Verteilung  der  Energien. 

Solange  beide  in  gleichem  Takt  arbeiten,   be- 


')  Kc 


iscb,  Prakt.  Phys.  VUI.  Aufl.  S.  435. 


')  Abkürzungen    sin 
gebraucht  werden  sollen 


hinzugefügt,    wenn    sie    später 


482 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


merkt  man  nichts  von  dieser  inneren  Verschieden- 
heit. Wenn  aber  irgendeine  Störung  eintritt,  so 
wird  die  Maschine  diese  leichter  überwinden,  weil 
in  ihrem  Schwungrad  relativ  mehr  Energie  auf- 
gespeichert ist.  Auch  wenn  man  den  Dampf  ab- 
stellt, wird  das  Modell  viel  schneller  zur  Ruhe 
kommen  als  die  Maschine;  dementsprechend  läuft 
natürlich  die  Maschine  langsamer  an. 

Zusammenfassend  kann  man  sagen:  Die 
Maschine  und  das  Modell  können  in  der  Ruhe 
geometrisch  ähnlich  sein  und  sich  auch  sonst  in 
jeder  Beziehung  gleichen;  sobald  sie  in  Bewegung 
gesetzt  werden,  hört  die  Ähnlichkeit  auf,  denn  sie 
funktionieren  verschieden.  Der  Unterschied,  auf 
den  hier  hingewiesen  wurde  (es  ist  nicht  der 
einzige),  läßt  sich  so  formulieren:  die  wesentliche 
Leistung  des  Schwungrades,  nämlich  der  Maschine 
durch  seinen  Energievorrat  über  kleine  Störungen 
hinwegzuhelfen,  fehlt  dem  Modell  um  so  mehr, 
je  kleiner  es  ist. 

Das  Beispiel  sollte  nur  beweisen,  daß  die 
Funktionen  eines  Mechanismus  von  seiner  Größe 
in  verschiedenem  Maße  abhängen  können. 
Die  Anwendung  ähnlicher  Betrachtungen  auf 
lebende  Körper  wird  nun  zeigen,  wie  weitgehend 
und  fühlbar  der  Einfluß  ist,  den  die  Größe  allein 
auf  manche  Lebenstätigkeiten  der  Organismen 
ausübt.  Kleine  Wesen,  obwohl  denselben  physi- 
kalischen Gesetzen  Untertan,  leben  doch  sozusagen 
in  einer  anderen  Welt  als  wir  und  haben  ihre 
eigene  Physik. 

Einige  Leistungen  der  Lebewesen  sind  von  der 
Art,  daß  sie  von  der  Masse  des  Oiganismus  be- 
günstigt, von  der  Oberfläche  dagegen  beeinträchtigt 
werden.  Für  solche  Leistungen  ist  also  das  Ver- 
hältnis F :  M  der  Oberfläche  zur  Masse  von  Be- 
deutung.    Für  eine  Kugel  vom  Radius  r  und  der 

spezifischen  Dichte  a  ist  F  :  M  =  -. 5 —  ^  —  • 

'^  f7iT^-a        r    ff 

für    einen    Würfel    mit    der    Kante   a   ergibt   sich 

-•-,  für  einen  Tetraeder ,  für  ein  Okta- 


eder 


3r6 


Bei  der  Kugel  hat  das  Verhältnis 


F  :  M  seinen  kleinsten  Wert  und  die  Kugelform 
ist  daher  das  Optimum,  wenn  es  darauf  ankommt, 
viel  Masse  und  wenig  Fläche  zu  haben.  Für 
andere  Körper  ist  F :  M  größer  und  zwar  um  so 
mehr,  je  mehr  einzelne  Teile  vorspringen.  Bei 
allen   möglichen  Gestalten  aber  ist  F :  M  propor- 


allein  schon  durch  ihre  Größe  günstiger  gestellt, 
wenn  es  darauf  ankommt  viel  Masse  mit  wenig 
Oberfläche  zu  vereinen;  im  umgekehrten  Falle 
sind  natürlich  kleinere  Körper  begünstigt. 

Ich  wende  mich  nun  zu  den  konkreten  Fällen. 

Der  Wärme  vor  rat  eines  Organismus,  d.  h. 
die  Anzahl  von  Kalorien,  die  er  abgeben  kann, 
ist  seiner  Masse  proportional;  auch  die  Möglich- 


keit, durch  physiologische  Vorgänge  Wärme  zu 
erzeugen,  hängt  von  der  Masse  ab.  Dagegen  der 
Wärme  Verlust,  den  ein  Körper  (durch  Leitung^ 
Strahlung  oder  Konvektion)  erleidet,  wenn  er  in 
eine  kältere  Umgebung  versetzt  wird,  ist  eine 
Funktion  seiner  Oberfläche  und  nimmt  mit 
dieser  zu  und  ab.  Daraus  folgt,  daß  ein  kleiner 
Körper  sich  rascher  abkühlen  muß  als  ein  großer, 
oder,  genauer  gesprochen,  wenn  2  geometrisch 
ähnliche  Körper  von  gleichem  Material  und 
gleicher  Temperatur  gleichzeitig  in  eine  kältere 
Umgebung  versetzt  werden,  so  nimmt  die  Tempe- 
ratur des  kleineren  rascher  ab.  Da  nun  die  Masse 
durch  L^  und  die  Oberfläche  durch  L'^  gemessen 
wird,  so  ist  die  Möglichkeit,  eine  höhere  Tempe- 
ratur zu  bewahren,  proportional  L. 

Für  die  Lebewelt  folgt  daraus,  daß  warm- 
blütige Tiere  nur  von  einer  gewissen  Körpergröße 
an  aufwärts  lebensfähig  sind.  Die  Warmblüter 
oder  besser  Idiothermen  bedürfen  natürlich  immer 
eines  besonderen  Aufwandes,  um  ihre  höhere 
Temperatur  in  einer  kälteren  Umgebung  zu  be- 
wahren. In  den  meisten  Fällen  genügt  offenbar 
das  Haar-  oder  Federkleid.  Diese  schützende 
Hülle  wirkt  nicht  nur  durch  ihre  eigene  ge- 
ringe Leitfähigkeit,  sondern  wohl  vor  allem 
durch  ihre  Struktur,  indem  die  geringe  Leitfähig- 
keit der  Luft  zuhilfe  genommen  wird.  Andere 
Einrichtungen  zum  Schutze  der  Eigenwärme  seien 
nur  durch  die  folgenden  Stichworte  in  die  Erinne- 
rung zurückgerufen:  Fettschicht,  Schlupfwinkel, 
Winterschlaf 

Alle  diese  Mittel  würden  aber  bei  einem  zu 
kleinen  Tier  nicht  mehr  ausreichen  und  die  Vor- 
stellung eines  Warmblüters  von  der  Größe  eines 
kleinen  Käfers  ist  absurd,  weil  die  geringe  Körper- 
masse nicht  so  viel  Wärme  erzeugen  könnte,  wie 
durch  die  große  Oberfläche  auch  bei  gutem  Wärme- 
schutz verloren  gehen  müßte.  Nur  in  nahezu 
gleich  temperierter  Umgebung  könnte  ein  solches 
Geschöpf  lebensfähig  sein,  aber  dann  verdiene  es 
nicht  mehr  die  Bezeichnung  Idio therm. 

In  der  gegenwärtigen  Tierwelt  sind  die  klein- 
sten Warmblüter  zu  finden  unter  den  Vögeln,  In- 
sektenfressern und  Nagetieren.  Bei  den  Vögeln 
wird  die  Wärmeabgabe  durch  das  Federkleid  sehr 
vermindert  und  die  Leistung  dieses  Wärmeschutzes 
erscheint  noch  bedeutender,  wenn  man  bedenkt, 
wie  schwer  es  gerade  für  einen  kleinen  Körper 
ist,  seine  Wärme  zusammenzuhalten.  Unsere  AUer- 
kleinsten,  Goldhähnchen,  Tannenmeise  und  andere, 
die  im  Winter  bei  uns  aushalten,  werden  wohl 
auch  durch  reichliche  Nahrung  in  ihrem  Kampfe 
gegen  die  Kälte  unterstützt:  Ihren  Kletterkünsten 
und  ihren  spitzen  Schnäbeln  sind  ja  alle  Schlupf- 
winkel der  Insekten  und  ihrer  Brut  zugänglich. 

Wollen  die  Vögel  schlafen,  so  stecken  sie  be- 
kanntlich den  Kopf  unter  einen  Flügel  und  hocken 
nieder,  so  daß  auch  die  F"üße  mit  in  das  Feder- 
kleid eingeschlossen  werden.  Die  ganze  Gestalt 
nähert  sich  dann  der  Kugelform  und  erreicht 
damit   das  Optimum    für  den  Wärmeschutz,    weil 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


483 


jetzt  die  Oberfläche  im  Vergleich  zur  gegebenen 
Masse  so  klein  wie  möglich  ist.  Diese  Steigerung 
des  Wärmeschutzes  ist  nötig,  weil  im  Schlaf  die 
Wärmeproduktion  vermindert  wird.  Das  Bestreben, 
sich  während  des  Schlafes  noch  besonders  gegen 
Wärmeverluste  zu  schützen,  zeigen  alle  Warm- 
blüter, und  gerade  das  Zusammenkauern  des  Kör- 
pers, wodurch  die  Oberfläche  vermindert  wird, 
ist  ein  gewöhnliches  Mittel,  das  ja  auch  der 
Mensch  instinktiv  anwendet,  wenn  ihn  friert. 
Ebenso  ist  das  Aneinanderschmiegen  mehrerer  zu 
verstehen.  Die  Tiere  wollen  sich  nicht  gegen- 
seitig wärmen,  wie  man  wohl  sagt,  denn  sie  sind 
ja  gleich  warm,  sondern  sie  wollen  an  Oberfläche 
sparen. 

Die  Vögel  haben,  so  viel  ich  weiß,  den  klein- 
sten Warmblüter  in  ihren  Reihen,  nämlich  den 
Zwergkolibri  (Trochilus  minimus),  dieser  lebt 
auf  Haiti  und  Jamaika  und  wird  nur  2  g  schwer. 

Die  andere  Gruppe  der  ganz  Kleinen,  die 
Mäuse  und  Spitzmäuse,  wahren  sich  vor  Ab- 
kühlung dadurch,  daß  sie  in  Gängen,  Höhlen  oder 
Nestern  Unterschlupf  suchen,  d.  h.  physikalisch, 
sie  begeben  sich  in  eine  schlecht  leitende  Um- 
gebung von  verhältnismäßig  günstiger  Temperatur. 
Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  nicht  zuerst 
und  in  höherem  Grade  andere  Gründe  diese  Tiere 
bestimmt  haben,  etwa  unterirdische  Gänge  zu 
graben,  aber  jedenfalls  ist  der  Wärmeschutz,  den 
nun  ein  solcher  Gang  gewährt,  von  Bedeutung 
für  ihre  Ökonomie  und  ermöglicht  ihnen  den 
Aufenthalt  in  den  sog.  gemäßigten  Zonen  mit 
ihren  starken  Temperaturextremen. 

Die  bekannten  Nager  im  arktischen  Gebiet 
und  im  Hochgebirge,  Lemming  und  Murmeltier, 
sind  übrigens  recht  große  Vertreter  ihres  Ge- 
schlechtes; trotzdem  müssen  diese  Tiere  erheb- 
lichen Aufwand  machen,  um  im  Winter  nicht  zu 
erfrieren;  auch  in  den  Hochregionen  der  Anden 
sind  die  Nager  durch  große  Typen,  Viscacha 
und  Chinchilla  vertreten.  Überhaupt,  wenn  man 
die  Warmblüter  aus  der  Umgebung  der  Pole  und 
den  höchsten  Gebirgsgegenden  mustert,  so  trifft 
man  lauter  große  Tiere,  und  ich  bin  geneigt, 
hierin  die  Wirkung  einer  Auslese  durch  die  Kälte 
zu  erblicken.  Allerdings  weiß  ich  nicht  sicher, 
ob  da  nicht  auch  kleinere  Warmblüter  leben, 
denn  auf  negative  Fragen  ist  nicht  leicht  eine 
sichere  Antwort  zu  bekommen.  Von  einigen 
Spitzmäusen  wird  angegeben  „bis  zu  2000  m";^) 
aber  da  diese  Tiere  keinen  Winterschlaf  halten, 
so  handelt  es  sich  wohl  nur  um  sommerliche  Ex- 
kursionen. 

Bei  den  peukilotropen  Tieren,  d.  h.  denjenigen, 
deren  Temperatur  sich  nach  der  Umgebung  richtet, 
gibt  es  weder  eine  obere  noch  eine  untere  Grenze 
fiir  die  Größe.  Aber  je  kleiner  diese  Tiere  sind, 
desto  rascher  müssen  sie  die  Temperatur  ihrer 
Umgebung  annehmen  und  desto  vollständiger 
müssen  sie  daher  alle  Schwankungen  mitmachen. 


')  Martin,  Naturgesch.   1,   161 


Ihr  Leben  wird  um  so  intensiver,  je  näher  die 
Temperatur  der  Umgebung  ihrem  eigenen  Opti- 
mum kommt.  Jeder  hat  wohl  schon  beobachtet, 
wie  sehr  das  Leben  in  einem  Ameisenhaufen  von 
der  Sonne  abhängt,  so  sehr,  daß  man  den  ganzen 
Staat  als  eine  kalorische  Maschine  bezeichnet  hat. 
Träge  und  steifbeinig  kriechen  die  Tiere  unter 
den  ersten  Strahlen  der  Morgensonne  einher  und 
in  rasender  Geschäftigkeit  wirbeln  sie  unter  der 
Mittagsglut  durcheinander.  Dazwischen  gibt  es 
alle  Übergänge  und  jede  Wolke,  die  vor  die  Sonne 
zieht,  bewirkt  eine  Dämpfung. 

Diese  strenge  Abhängigkeit  ist  ein  Ausdruck 
dafür,  daß  so  kleine  Körper  wegen  der  Größe 
des  Verhältnisses  F:M  alle  Schwankungen  der 
Außentemperatur  mitmachen  müssen.  Dagegen 
werden  große  Peukilothermen  die  Temperatur 
ihrer  Umgebung  entsprechend  langsamer  an- 
nehmen. Die  größten  F'ormen,  Krokodile,  Riesen- 
schlangen und  die  großen  Schildkröten,  leben 
übrigens  in  Gegenden,  deren  Temperatur  sich 
von  einem  verhältnismäßig  hohen  Stande  weder 
rasch  noch  weit  entfernt. 

Der  Umstand,  daß  F  :  M  proportional  L  '  ist, 
hat  also  zur  Folge,  daß  Tiere  sich  um  so  weniger 
vor  Abkühlung  schützen  können,  je  kleiner  sie 
sind ;  gerade  ebenso  steht  es  mit  dem  Austrocknen. 
Die  folgende  Betrachtung  gilt  aber  auch  für 
Pflanzen. 

Der  Wasser  Vorrat  eines  Organismus  ist  näm- 
lich seinem  Volum  en  proportional,  der  Wasser- 
verlust durch  Verdunstung  dagegen  seiner  O  b  e  r  - 
fläche.  Nun  brauchen  alle  Lebewesen  zu  mani- 
festem Leben  viel  Wasser,  und  wenn  es  ihnen 
daran  fehlt,  gehen  sie  entweder  zugrunde  oder 
treten  in  den  Zustand  des  latenten  Lebens  über, 
aus  dem  sie  durch  Wasserzufuhr  wieder  erweckt 
werden  können.  Kleine  Wesen  sind  also  auf 
dauernde  Versorgung  mit  Wasser  um  so  mehr 
angewiesen,  je  kleiner  sie  sind,  weil  in  demselben 
Maße  F  :  M  zunimmt. 

Daraus  erklärt  sich  die  biologische  Tatsache, 
daß  die  kleinsten  Vertreter  des  Tier-  und  Pflanzen- 
reiches zumeist  im  Wasser  leben,  viele  auch  auf 
feuchten  Substraten  und  manche  in  einer  fast 
immer  gesättigten  Atmosphäre.  Als  Beispiele 
seien  genannt  die  Bakterien,  Diatomeen  und  Pro- 
tozoen oder  die  Tiergesellschaft  in  feuchten 
Moospolstern  und  die  mancherlei  Epiphyllen  tro- 
pischer Laubblätter.  Alle  diese  unzähligen  Wesen 
können  nur  leben,  solange  die  Feuchtigkeit  der 
Umgebung  dazu  ausreicht.  Für  den  Fall  der  Aus- 
trocknung bieten  sich  ihnen  zwei  Möglichkeiten 
zur  Erhaltung.  Entweder  sie  haben  die  Fähig- 
keit, in  ausgetrocknetem  Zustande  ein  latente- 
Leben  zu  führen  oder  sie  gehen  zwar  selbst  zu, 
gründe,  sorgen  aber  vorher  lür  Erhaltung  der  Art 
indem  sie  z.  B.  Sporen  oder  Eier  ausbilden,  welche 
die  Austrocknung  vertragen  können.  Als  Beispiele 
für  den  ersten  Modus  können  die  Protozoen  dienen, 
welche  sich  zwar  encystieren,  aber  wegen  ihrer 
Kleinheit    schließlich    doch    austrocknen    müssen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Für  den  zweiten  Weg  seien  als  Beispiele  genannt 
die  merkwürdigen  Phyllopoden,  welche  zuweilen 
in  Tümpeln  massenhaft  erscheinen,  wieder  ver- 
schwinden und  manchmal  nach  Jahren  aus  Dauer- 
eiern zu  neuem  Leben  erwachen. 

Während  bisher  die  Abhängigkeit  des  Verhält- 
nisses F:M  von  L  für  die  Kleinen  ungünstig  war, 
ist  es  in  den  folgenden  beiden  Fällen  umgekehrt. 

Das  Verhältnis  F  :  M  ist  nämlich  auch  von  ent- 
scheidender Bedeutung  beim  Fliegen  oder,  genauer 
gesagt,  beim  Schweben. 

Alle  Körper  fallen  zwar  gleich  schnell,  aber 
nur  im  leeren  Raum.  In  der  Luft  und  im  Wasser 
wird  die  Geschwindigkeit  des  Falls  durch  den 
Widerstand  dieser  Medien  gehemmt,  und  zwar 
um  so  mehr,  je  größer  die  Oberfläche  des  fallenden 
Körpers  im  Vergleich  zu  seiner  Masse  ist.  Die 
Beschleunigung  durch  die  Erdanziehung  wirkt 
eben  auf  die  Masse,  die  Hemmung  durch  das 
Medium  dagegen  wirkt  auf  die  Oberfläche.  Wenn 
F :  M  sehr  groß  ist,  so  kann  infolgedessen  die 
Fallgeschwindigkeit  unmerklich  klein  werden.  Ein 
solches  Fallen  mit  sehr  verminderter  Geschwindig- 
keit soll  hier  als  Schweben  bezeichnet  werden. 
Zum  Schweben  sind  alle  Körper  befähigt,  auch 
die  von  hohem  spezifischen  Gewicht,  wenn  nur 
bei  ihnen  F :  M  groß  genug  ist.  Beispiele  sind 
allgegenwärtig.  Die  Sonnenstäubchen  in  der  Luft 
sind  ganz  verschiedener  Herkunft,  auch  kleine 
Gesteinssplitter  sind  unter  ihnen.  Deren  spezi- 
fisches Gewicht  ist  ungefähr  2000  mal  so  groß 
wie  das  der  Luft.  Alle  schweben,  nicht  weil  sie 
leicht,  sondern  weil  sie  klein  genug  sind.  Oder, 
wenn  man  Ton  in  Wasser  durch  Umschütteln 
suspendiert  und  dann  das  Wasser  ruhig  stehen 
läßt,  so  sinken  bekanntlich  die  größten  Partikel 
zuerst  zu  Boden  und  die  kleineren  folgen  um  so 
langsamer,  je  kleiner  sie  sind.  Man  erhält  ein 
Sediment,  in  dem  die  Teilchen  der  Größe  nach 
geordnet  sind. 

Etwas  anderes  ist  das  Schweben  eines  Frei- 
ballons in  der  Luft  oder  eines  Fisches  im  Wasser. 
Diese  Körper  sinken  nicht,  solange  ihr  spezifisches 
Gewicht  gleich  dem  ihrer  Umgebung  ist;  sie 
schweben  auf  Grund  des  A  rchimedes'schen 
Prinzips. 

Hier  ist  nur  die  Rede  vom  Schweben  auf 
Grund  der  Oberflächenwirkung.  Natürlich  wird 
dieses  Schweben  im  eigentlichen  Sinne  begünstigt, 
wenn  das  spezifische  Gewicht  über  das  des  Me- 
diums nicht  weit  hinausgeht.  Für  die  Lebewelt 
folgt  daraus,  daß  ein  Organismus  um  so  leichter 
schwebt,  je  kleiner  er  ist.  Bei  den  kleinsten 
Körpern  ist  das  spezifische  Gewicht  nicht  mehr 
entscheidend. 

Durchmustern  wir  nun  von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  die  Flieger  des  Tier-  und  Pflanzen- 
reiches. Für  die  vollkommensten  P^lieger  gelten 
die  Vögel,  weil  bei  ihnen  die  Anpassung  an  das 
Fliegen  den  höchsten  Grad  erreicht  hat.  Die  be- 
sonderen Einrichtungen,  wie  die  Verringerung  des 
spezifischen    Gewichtes,    die    spindelförmige    Ge- 


stalt u.  a.  sind  hier  nicht  zu  besprechen,  sondern 
nur  die  Frage,  wie  das  Flugvermögen  mit  der 
Größe  zusammenhängt.  Auf  den  ersten  Blick 
möchte  man  sagen ,  es  gibt  geschickte  Flieger 
unter  den  großen  und  den  kleinen.  Das  ist 
richtig.  Unter  Fliegen  versteht  man  nämlich  die 
Gesamtheit  der  Leistungen,  welche  zur  Fort- 
bewegung in  der  Luft  dienen,  und  natürlich 
hängen  Schnelligkeit  und  Manövrierfähigkeit  allein 
von  der  Ausbildung  des  Flugapparates  ab.  Da- 
gegen die  Leichtigkeit  des  Fluges,  —  d.  h. 
das  Verhältnis  der  Arbeit,  welche  auf  das  Schweben 
verwandt  werden  muß,  zu  der  Arbeit,  welche  der 
Fortbewegung  dient  —  hängt  ab  von  F :  M  und 
vom  spezifischen  Gewicht.  Die  Verminderung  des 
spezifischen  Gewichtes,  welche  durch  besondere 
Einrichtungen  des  Organismus  erzielt  wird,  ist 
großen  und  kleinen  Vögeln  in  gleichem  Maße 
möglich;  dagegen  die  Begünstigung  durch  den 
Umstand,  daß  F" :  M  mit  abnehmender  Größe  zu- 
nimmt, haben  die  kleinen  vor  den  großen  voraus. 

Bei  genauerem  Hinsehen  ergeben  sich  nun 
auch  schon  bei  den  Vögeln  Tatsachen,  die  be- 
stätigen, daß  die  Größe  des  Quotienten  F  :  M  für 
das  Flugvermögen  von  Bedeutung  ist.  Hier  nur 
ein  Beispiel.  Es  sind  bekanntlich  gerade  die 
größten  Vögel,  welche  das  Fliegen  aufgegeben 
haben.  Bei  ihnen  war  der  größte  Kraftaufwand 
nötig  und  daher  auch  die  Versuchung  zu  ver- 
zichten am  größten.  Solche  Riesengestalten  wie 
.^epyornis,  Strauß,  Kasuar,  Emu,  Nandu  u.  a.  haben 
wohl  nie  fliegen  können,  sondern  Vorfahren  von 
ihnen,  die  kleiner  waren,  haben  unter  günstigen 
Verhältnissen  das  Fliegen  aufgegeben  und  die 
Nachkommen  konnten  dann  zu  solchen  Riesen 
heranwachsen.  Was  für  günstige  Verhältnisse  das 
waren,  läßt  der  Zustand  der  Neuseeländischen 
Tierwelt  erraten,  bevor  der  Mensch  eingegriffen 
hat.  Dort  gab  oder  gibt  es  auch  kleinere  Vögel, 
die  offenbar  schon  lange  nicht  mehr  geflogen 
sind,  denn  ihr  Flugapparat  ist  aufs  äußerste  redu- 
ziert (Stringops,  Kiwi).  Sie  konnten  auf  das 
Fliegen  verzichten,  weil  keine  Raubtiere  da  waren, 
die  ihnen  nachstellten. 

Das  große  Heer  der  Flieger  gehört  dem 
Stamme  der  Insekten  an.  Je  kleiner  die  sind, 
desto  leichter  haben  sie  das  P'liegen.  Die  zier- 
lichen Reigen  der  Mücken  und  die  unermüdlichen 
Tänze  der  Homalomyien  werden  off'enbar  mit 
ganz  geringem  Kraftaufwand  ausgeführt.  Aber 
wie  wenig  Masse  hat  auch  eine  Mücke  und  wie- 
viel Fläche  im  Vergleich  dazu ;  auch  die  kamm- 
artigen Fühler  und  die  6  langen  Beine  helfen  die 
Fläche  vermehren.  Noch  kleinere  Wesen  brauchen 
dann  gar  keine  Flügel  mehr.  Die  Spinnen,  die 
den  Altweibersommer  machen,  fliegen  sozusagen 
allein  mit  Hilfe  der  Oberfläche.  Dabei  muß  ihnen 
freilich  der  Wind  helfen,  aber  nur  zum  Fort- 
kommen, nicht  zum  Schweben.  Vergleicht  man 
nun  die  Extreme  unter  den  guten  Fliegern,  etwa 
eine  Möwe  und  eine  Libelle,  so  wird  man  wohl 
zugeben  können,   daß  der  Flugapparat  der  Möwe 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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auf  einer  höheren  Stufe  steht.  Ja,  man  könnte 
sich  darüber  wundern,  daß  eine  Libelle  über- 
haupt fliegen  kann,  wo  ihr  doch  nur  4  elastische 
Platten  zur  Verfügung  stehen  ohne  alle  die  be- 
wundernswerten technischen  Einrichtungen  des 
Vogelflügels.  Auch  die  Flügel  der  Schmetter- 
linge und  Käfer  erscheinen  unvollkommen  im 
Vergleich  zum  Vogelflügel  und  sie  sind  es  auch 
gewiß,  denn  ein  kleines  Tier  braucht  eben  weniger 
Aufwand  zum  Fliegen  als  ein  großes,  weil  ihm 
seine  größere  Oberfläche  hilft,  und  deswegen  wird 
es  auch  weniger  Aufwand  machen. 

Das  Schweben  im  engeren  Sinne  ist  eine 
Eigentümlichkeit  der  zahlreichen  Lebewesen, 
welche  zusammen  das  Plankton  des  Wassers 
bilden.  Zum  Plankton  gehören  Tiere  und  Pflanzen 
verschiedener  systematischer  Stellung,  aber  nur 
kleine  Organismen.  Als  Beispiel  seien  die  Radio- 
larien  genannt.  Man  weiß,  daß  sie  in  abgestor- 
benem Zustande  auf  den  Meeresboden  hinab- 
sinken und  da  durch  ihre  Menge  gesteinsbildend 
wirken  können.  Sie  sind  also  spezifisch  schwerer 
als  Wasser.  Man  weiß  andererseits,  daß  sie  bei 
gutem  Wetter  an  der  Oberfläche  des  Meeres 
schwimmen  und  bei  stürmischem  Wetter  wieder 
in  größere  Tiefen  hinabgehen.  Sie  müssen  also 
die  Fähigkeit  zum  Steigen  besitzen.  Die  Mittel, 
mit  deren  Hilfe  sie  aufsteigen,  sind  nicht  bekannt, 
dagegen  finden  sich  häufig  und  in  mannigfacher 
Ausbildung  Einrichtungen,  durch  welche  die  Ober- 
fläche des  Körpers  vergrößert  wird.  Die  schönen, 
mit  langen  Strahlen  versehenen  Skelette  mancher 
Radiolarien  sind  ja  oft  abgebildet  worden,  auch  die 
Pseudopodien  helfen  die  Oberfläche  vergrößern. 
Die  zierlichen  Strahlen  der  Skelette  sind  meist  als 
Schwebevorrichtung  gedeutet  worden.  Mit  dem 
Schweben  der  Radiolarien  steht  es  demnach  so: 
das  spezifisch  schwere  Tier  sinkt  sehr  langsam, 
erstens,  weil  es  klein  ist,  und  deshalb  F  :  M  einen 
großen  Wert  hat,  zweitens  weil  die  Skelett- 
strahlen und  Pseudopodien  den  Widerstand  des 
Wassers  noch  vermehren.  Aufsteigen  dagegen 
können  sie  nur  aktiv  mit  Hilfe  noch  unbekannter 
Mittel.  Beim  Aufsteigen  sind  die  Einrichtungen, 
welche  das  Sinken  verlangsamen,  zwar  hinderlich, 
aber  in  geringem  Grade,  da  es  sich  nur  um  ganz 
langsame  Bewegung  handelt. 

Den  höchsten  Grad  der  Ausbildung  erreicht 
die  Oberflächenvergrößerung  bei  pelagischen 
Krebsen.  Eine  Vorstellung  davon  kann  nur  durch 
Anschauung  gewonnen  werden;  ich  nenne  des- 
halb die  Farbentafel  „Pelagische  Ruderkrebse"  bei 
C.  Keller:  Das  Leben  des  Meeres.  Es  ist  kein 
Zweifel,  daß  die  federähnlichen  Anhängsel,  welche 
bei  extremen  F"ormen  die  eigentliche  Körper- 
oberfläche an  Ausdehnung  weit  übertreffen,  zum 
Schweben  dienen. 

Auch  im  Pflanzenreich  ist  das  Fliegen  von 
Bedeutung,  und  zwar  zur  Verbreitung  des  Pollens  bei 
Windblütlern  und  zur  Samenverbreitung.  Der 
Blütenstaub,  der  von  unberechenbar  kleiner  Masse 
ist,    braucht  keine  komplizierte  Organisation  zum 


Fliegen  und  es  ist  schon  ein  extremer  Fall,  daß 
z.  B.  die  Kiefer  Luftsäcke  am  Pollenkorn  hat, 
welche  die  Oberfläche  vergrößern  und  das 
Schweben  begünstigen.  Ebenso  sind  die  Sporen 
vieler  Kryptogamen  staubfein  und  bedürfen  keiner 
besonderen  Schwebeeinrichtung.  In  vielen  Fällen 
sind  sie  kugelförmig  oder  eiförmig  und  können 
sogar  bei  dieser  ungünstigsten  Form  noch  auf 
genügende  Verbreitung  rechnen.  Ebenso  ist  es 
mit  dem  Samen  der  Orchideen,  deren  Gewicht 
z.  B.  für  Stanhopea  oculata  von  Kerner  zu 
0,000003  g  angegeben  wird. 

Schwerere  Samen,  wie  z.  B.  die  des  Löwen- 
zahns und  anderer  Kompositen  haben  schon  be- 
sondere Schwebevorrichtungen,  die  nach  Art  eines 
Fallschirmes  wirken.  Sie  sind  so  konstruiert,  daß 
F :  M  möglichst  groß  ist.  Größere  Samen  sind 
nicht  mit  Schwebeeinrichtungen  versehen  oder 
doch  nur  mit  solchen,  die  bewirken,  daß  sie 
nicht  senkrecht  herabfallen,  denn  da  es  sich  bei 
Samen  nur  um  ein  Schweben  mit  passiver  Fort- 
bewegung handelt,  so  müßte  ein  großer  Same 
eine  sehr  bedeutende  Oberflächenvergrößerung 
vornehmen,  um  schwebfähig  zu  sein,  und  würde 
damit  die  Grenze  einer  technisch  brauchbaren 
Konstruktion  überschreiten.  Die  Natur  hat  andere 
Mittel,  für  die  Verbreitung  größerer  Samen  zu 
sorgen. 

Hierher  gehört  auch  eine  Bemerkung  über  die 
Wirkung  des  Windes  auf  die  Organismen.  Die 
Kraft,  welche  der  Wind  ausüben  kann,  ist  pro- 
portional der  Oberfläche,  die  sich  ihm  darbietet; 
die  Beschleunigung,  die  er  irgendeinem  Körper 
erteilen  kann,  ist  aber  um  so  kleiner,  je  mehr 
Masse  der  Körper  hat.  Die  Wirkung  des  Windes 
ist  also  dem  Verhältnis  zu  F  :  M  proportional. 

Die  Organismen  sind  demnach  gegen  den  Wind 
um  so  hilfloser,  je  größer  bei  ihnen  F :  M  ist. 
Diese  Abhängigkeit  vom  Winde  ist  einerseits  eine 
Gefahr,  andererseit  gibt  sie  die  Möglichkeit  der 
Verbreitung.  Für  beides  sind  zahlreiche  Beispiele 
leicht  aufzufinden. 

Hier  soll  die  Wirkung  des  Windes  nicht  weiter 
besprochen  werden,  weil  dabei  ein  Faktor  ent- 
scheidend ist,  der  nicht  in  der  Organisation  der 
Lebewesen  begründet  und  auch  nicht  rein  physi- 
kalisch ist,  nämlich  die  durchschnittliche  Wind- 
stärke der  einzelnen  Gegenden  und  die  Intensität 
der  Maxima.  Diese  tatsächliche  Windstärke  ist 
entscheidend  dafür,  bis  zu  welcher  Größenstufe 
die  Organismen  dem  Winde  unterworfen  sind. 

Schließlich  ist  hier  noch  eine  ganz  spezielle 
Leistung  mancher  Tiere  zu  besprechen,  die  auch 
vom  Verhältnis  F :  M  abhängt,  nämlich  das  Klettern 
mit  Hilfe  des  Lufdrucks. 

Als  normalen  Luftdruck  in  Meereshöhe  be- 
zeichnet man  den  Druck  einer  760  mm  hohen 
Quecksilbersäule.  Das  bedeutet,  auf  absolutes 
Maß  umgerechnet,  für  jeden  qcm  einen  Druck 
von  etwa  i  kg.  Infolge  der  atmosphärischen  Vor- 
gänge schwankt  dieser  Druck  fortwährend.  Mit 
steigender  Erhebung   über   dem  Meere  nimmt  er 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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jedenfalls  ab.  Denkt  man  sich  nun  an  eine  horizontale 
Fläche  von  unten  eine  hohle  Halbkugel  angelegt, 
und  nimmt  an,  daß  ihr  Inneres  luftleer  gemacht 
wird,  so  wirkt  der  Luftdruck  nur  von  außen  und 
die  einzelnen  Druckkomponenten,  die  überall  senk- 
recht zur  Fläche  gerichtet  sind,  setzen  sich  zu 
einer  Resultante  zusammen  vom  Betrage  F-p, 
wenn  F  die  vom  Rande  der  Halbkugel  um- 
schlossene Fläche  und  p  den  herrschenden  Luft- 
druck bedeutet.  Die  Halbkugel  wird  haften,  selbst 
wenn  sie  mit  Gewichten  beschwert  ist,  solange 
ihr  Gewicht  insgesamt  kleiner  als  F-p  ist  und 
solange  die  Ränder  luftdicht  anschließen.  In  dem 
Maße  wie  etwas  Luft  in  das  Innere  dringt,  wird 
die  Tragfähigkeit  vermindert  und  zwar  um  den 
Druck  der  eingedrungenen  Luft. 

Tiere  können  diese  physikalische  Tatsache 
zum  Klettern  benutzen,  wenn  sie  die  Fähigkeit 
haben ,  unter  ihren  Füßen  einen  luftverdünnten 
Raum  herzustellen  und  eine  Weile  zu  erhalten. 
Es  ist  bekannt,  daß  Fliegen,  Egel  und  Eidechsen 
so  klettern  und  sogar  imstande  sind,  an  horizon- 
talen Flächen  unten  hinzulaufen.  Diese  Fähigkeit 
hat  zwei  praktische  Grenzen. 

I.  Die  Tragfähigkeit  wächst  mit  der  Größe 
der   Berührungsfläche    und    diese    kann    in    erster 


Annäherung  der  Oberfläche  des  Körpers  propor- 
tional gesetzt  werden.  Die  vom  Luftdrucksunter- 
schied zu  tragende  Last  dagegen  wächst  mit  dem 
Gewicht,  d.  h.  proportional  L'\  das  Klettern  mit 
Hilfe  des  Luftdruckes  ist  also  nur  für  kleine 
\\'esen  praktisch  und  in  Wirklichkeit  ja  auch  auf 
diese  beschränkt.  Die  größten  „Luftdruckkletterer" 
sind  die  Geckonen;  die  in  Südeuropa  vorkommende 
Art  (Platydactylus  facetanus  Aldrov.)  erreicht 
l6  cm  Länge. 

2.  Die  Abdichtung  eines  luftverdünnten  Raumes 
ist  immer  schwierig  und  hält  jedenfalls  nicht  lange 
vor.  Die  Möglichkeit,  daß  Luft  eindringt,  wächst 
nun  mit  der  Länge  der  Randlinie,  also  propor- 
tional L,  während  der  äußere  Druck  gleich  F-p, 
d.  h.  proportional  L'-  war.  Die  Sicherheit  des 
Haltens  wird  also  begünstigt  durch  L'-  und  be- 
einträchtigt durch  L,  d.  h.  sie  ist  proportional  L. 
Je  kleiner  also  die  Haftscheibe,  desto  geringer 
wird  ihre  Zuverlässigkeit,  und  so  ergibt  sich  für 
diese  Form  des  Kletterns  aus  der  oberen  auch 
eine  untere  Grenze.  Es  ist  mir  allerdings  nicht 
bekannt,  welches  von  den  Tieren,  die  mit  Hilfe 
des  Luftdrucks  klettern,  am  kleinsten  ist. 
(Schluß  folgt.) 


Abschätzeu  vou  größeren  Eutferiiuugeu  unter  Berücksichtigung  der  Luftperspektive. 

[Nachdruck  verboten.)  Von   Max  Frank. 


Das  richtige  Abschätzen  von  Entfernungen 
spielt  jetzt  im  Kriege  eine  besonders  wichtige 
Rolle,  aber  auch  im  Frieden  hat  der  Soldat,  der 
Jäger,  der  Wanderer  und  manch  anderer  große 
Vorteile,  wenn  er  es  versteht,  sich  über  Ent- 
fernungen ein  durch  Abschätzen  genügend  sicheres 
Urteil  zu  bilden. 

Die  Natur  bietet  uns  nun  dazu  verschiedene 
Hilfsmittel,  die  man  nur  richtig  anwenden  muß. 
Zunächst  erscheint  ein  Gegenstand  in  unserem 
Gesichtsfelde  um  so  kleiner,  je  entfernter  er  ist. 
Kennen  wir  also  die  Größe,  so  haben  wir  damit 
auch  einen  genauen  Anhaltspunkt  für  die  Ent- 
fernung. Auf  dieser  allbekannten  Erscheinung 
beruhen  auch  die  einfacheren  Entfernungsmesser, 
bei  denen  die  scheinbare  Größe  eines  Menschen 
als  Maßstab  benutzt  wird. 

Ist  jedoch  die  Größe  des  geschauten  Gegen- 
standes nicht  bekannt,  so  können  wir  die 
Perspektive,  so  nennen  wir  das  scheinbare 
Kleinerwerden  mit  zunehmender  Entfernung,  nicht 
zum  Abschätzen  des  Abstandes  benutzen.  Bei 
kleineren  Entfernungen  dient  uns  nun  dabei  eine 
andere  Erscheinung,  nämlich  das  stereoskopische, 
körperliche  Sehen.  Jedes  unserer  Augen  erhält 
ein  anderes  Bild,  indem  die  vorderen  Gegenstände 
gegenüber  den  hinteren  eine  etwas  andere  Lage 
im  Gesichtsfelde  einnehmen,  weil  die  beiden 
Augen  etwa  ö'/o  cm  (im  Durchschnitt)  von- 
einander entfernt  sind.  Das  Maß  der  Ver- 
schiedenheit    der     beiden     von     unseren    Augen 


empfangenen  Bilder  gibt  uns,  ohne  daß  man  sich 
im  allgemeinen  dessen  bewußt  ist,  die  Möglich- 
keit, die  Entfernung  der  verschiedenen  Gegen- 
stände abzuschätzen. 

Auch  diese  Erscheinung  wird  zu  mechanischen 
Entfernungsmessern  ausgenützt,  die  im  Kriege 
von  großer  Bedeutung  sind.  Bei  diesen  optischen 
Instrumenten  werden  die  beiden  verschiedenen 
Bilder  durch  eine  geeignete  Einrichtung  einander 
angepaßt,  wobei  sich  dann  ohne  weiteres  die 
jeweilige  Entfernung  ablesen  läßt.  —  Da  der  Ab- 
stand der  Augen  nur  gering  ist,  so  hört  auch  in 
einer  gewissen  Entfernung  die  Verschiedenheit 
der  beiden  erhaltenen  Bilder  auf,  so  daß  das 
stereoskopische  Sehen,  die  „Tiefenwahrnehmung 
im  freien  Sehen",  wie  der  fachmännische  Aus- 
druck lautet,  über  eine  Entfernung  von  400 — 500  m 
hinaus  praktisch  aufhört.  Bei  den  erwähnten 
optischen  Entfernungsmessern  ist  jedoch  der 
Abstand  der  beiden  Bilder,  die  stereoskopische 
Basis,  künstlich  erweitert,  so  daß  sie  auch  für 
größere  Entfernungen  Anwendung  finden  können. 

Für  das  freie  Sehen  kommt  aber  bei  noch 
größerer  Entfernung  als  400 — 500  m  die  sogenannte 
Luftperspektive  als  Hilfsmittel  zum  Abschätzen 
von  Entfernungen  in  Betracht.  Es  ist  dies  eine 
sehr  interessante  Erscheinung,  die  zwar  schon 
jeder  oftmals  gesehen  hat,  deren  Ursachen  jedoch 
den  meisten  unbekannt  sind  und  deren  bewußte 
Nutzanwendung  nur  selten  stattfindet. 

Durchsichtige     Körper     lassen      von     durch- 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


487 


scheinendem  weißem  Licht,  das  aus  einer  Reihe 
farbiger  Lichtstrahlen  zusammengesetzt  ist,  nicht 
immer  alle  seine  Bestandteile  gleichzeitig  durch, 
sondern  verschlucken  (absorbieren)  sie  teilweise. 
Die  Summe  (optische  Addition)  der  restlichen 
Lichtstrahlen  bestimmt  dann  die  P'arbe,  in  der 
uns  die  durchsichtige  Substanz  in  der  Durchsicht 
erscheint.  Vielfach  lassen  solche  durchsichtige 
oder  durchscheinende  Stoffe  einen  Teil  des  sie 
treffenden  Lichtes  gar  nicht  erst  herein,  sondern 
werfen  ihn  bereits  an  der  Oberfläche  zurück, 
reflektieren  ihn.  Wird  von  allen  Bestandteilen 
des  auffallenden  Lichtes  ein  verhältnismäßig 
gleicher  Anteil  reflektiert,  so  hat  das  reflektierte 
Licht  die  gleiche  I-'arbe  wie  das  auffallende,  die 
Substanz  erscheint  in  der  Aufsicht  in  der  Farbe 
des  auffallenden  Lichtes.  Reflektiert  jedoch  der 
betreffende  Stoff  von  den  einzelnen  Teilen  des 
auffallenden  Lichtes  verschieden  viel,  so  weicht 
die  Aufsichtsfarbe  von  der  P^arbe  des  auffallenden 
Lichtes  ab.  Auf  diesen  beiden  Grundzügen  in 
Verbindung  mit  der  Einrichtung  unseres  Auges 
bauen  sich  die  gesamten  Farbenerscheinungen  in 
der  Natur  auf. 

Da  nun  aber  vielfach  ein  und  derselbe  Stoff 
von  dem  durchscheinenden  Licht  einen  anderen 
Teil  hindurch  läßt  als  von  dem  auffallenden  re- 
flektiert, so  braucht  Durchsichtsfarbe  und  Auf- 
sichtsfarbe eines  Stoffes  nicht  die  gleiche  zu  sein. 

Das  ist  unter  anderem  auch  bei  der  mehr 
oder  weniger  stark  mit  Wasser-  und  Staubteilchen 
angefüllten  Atmosphäre  der  Fall.  Diese  läßt 
hauptsächlich  gelbes  und  rotes  Licht  durch,  re- 
flektiert dagegen  vor  allem  blaues  Licht.  Darauf 
beruhen  in  der  Natur  zwei  Erscheinungen.  Von 
dem  weißen  Sonnenlicht  gelangen  in  den  Morgen- 
und  Abendstunden,  bei  Sonnenaufgang  und 
-Untergang  hauptsächlich  nur  die  gelben  und  roten 
Strahlen  zu  uns,  weil  das  Licht  bei  dem  niedrigen 
Sonnenstande  eine  sehr  lange  Strecke  durch  die 
die  Erde  umgebende  Atmosphäre  gehen  muß. 
Auch  bei  höherem  Stande  leuchtet  die  Sonne  in 
gelblicher  Farbe,  wenn  sie  durch  eine  Nebel- 
schicht scheint.  Ähnliche  Beobachtungen  können 
wir  bei  künstlichen  Lichtquellen  machen. 

Sehen  wir  uns  dagegen  eine  Dunst-  oder 
Nebelschicht  an,  auf  welche  die  Sonne  scheint, 
so  werden  wir  deutlich  die  bläuliche  Färbung 
der  Atmosphäre  wahrnehmen.  Ist  die  Dunst- 
oder Nebelschicht  nicht  völlig  undurchlässig, 
sondern  läßt  sie  auch  die  dahinterbefindliche 
Natur  erkennen,  so  werden  deren  Farben  durch 
den  bläulichen  Dunstschleier  gesehen  und  erleiden 
dadurch  in  ihrer  Wirkung  eine  wesentliche  Ver- 
änderung, eine  um  so  stärkere,  je  dunstiger  die 
Luft  und  je  ausgedehnter  die  zwischen  uns  und 
der   geschauten  Natur    befindliche  Luftschicht  ist. 

Diese  Wirkung  der  Farben  setzt  sich  also  aus 
den  Eigenfarben  der  Natur  und  der  Farbe  der 
Luft  zusammen.     Sehen  wir    uns    nun  die  Einzel- 


heiten genau  an,  so  werden  wir  sehr  interessante 
Feststellungen  machen.  Am  besten  wählen  wir 
uns  dazu  an  einem  sonnigen,  nicht  allzu  klaren 
Tage  einen  Platz  aus,  von  dem  wir,  die  Sonne 
im  Rücken,  vor  uns  eine  schöne  Fernsicht  auf 
eine  Reihe  hintereinanderliegender  Bergketten 
haben. 

Den  erwähnten  Luftschleier,  den  bläulichen 
Dunst,  werden  wir  zuerst  bei  den  Schatten  sehen, 
bei  denen  schon  in  verhältnismäßig  geringer  Ent- 
fernung nach  und  nach  alle  Farben  immer  mehr 
einer  gemeinsamen  dunkelblaugrauen  Färbung 
hinneigen.  An  den  besonnten  Teilen  zeigt  sich 
die  Wirkung  erst  in  größerer  Entfernung.  Während 
die  Schatten  schon  keine  Einzelheiten  mehr  in 
den  Farben  erkennen  lassen,  geben  die  besonnten 
Stellen  der  Natur  die  Unterschiede  der  Farben 
noch  deutlich  wieder.  Aber  auch  hier  findet  in 
einer  gewissen  Entfernung  eine  Farbenveränderung 
statt,  indem  alles  immer  mehr  einen  gemeinsamen 
hellgraublauen  Ton  annimmt,  so  daß  wir  schließ- 
lich nur  mehr  dunkelgraublaue  Schatten  und 
hellgraublaue  besonnte  Stellen  ohne  Farben- 
einzelheiten sehen.  Aber  auch  diese  Unterschiede 
hören  allmählich  immer  mehr  auf.  Licht  und 
Schatten  nähern  sich  einem  mittleren  Tone,  der 
bläulichen  Ferne,  die  zuletzt  allmählich  heller 
werdend  auch  mit  der  Färbung  des  Himmels  zu 
eins  verschmilzt. 

Die  reflektierende  Wirkung  der  Atmosphäre 
zeigt  sich  also  in  ihrer  Wirkung  in  den  ver- 
schiedenen Entfernungen  verschieden  stark.  Durch 
diese  Verschiedenheit  können  wir  ganz  deutlich 
zwei  hintereinander  liegende,  durch  ein  Tal  ge- 
trennte Berge  unterscheiden,  können  auch  Schlüsse 
auf  die  ungefähre  Entfernung  der  einzelnen  Berge 
und  auf  die  Breite  der  dazwischenliegenden  Täler 
ziehen,  können  ferner,  weil  wir  eben  die  unge- 
fähre Entfernung  kennen,  uns  ein  Urteil  über  die 
Höhe  und  Größe  der  Berge  usw.  bilden. 

Diese  Luftperspektive  oder  Farbenperspektive 
ist  daher  dem  geübten  Beobachter  ein  richtiges 
Hilfsmittel  zum  Abschätzen  von  Entfernungen, 
auch  bei  ebenem  Gelände.  Da  der  Feuchtigkeits- 
und Staubgehalt  der  Luft  je  nach  der  Whterung 
stark  schwankt,  so  zeigt  sich  zu  den  verschiedenen 
Zeiten  oft  die  Wirkung  der  Luftperspektive  ver- 
schieden. Dadurch  wird  manch  einer,  der  die 
Natur  nur  oberflächlich  kennt,  hinsichtlich  der 
Entfernungen  und  der  Höhe  von  Bergen  usw. 
irregeführt,  nicht  aber  der,  welcher  mit  Bewußt- 
sein die  Luftperspektive  sich  dienstbar  macht, 
denn  dieser  erkennt  schon  an  der  Wirkung  ihm 
bekannter  geringer  Entfernungen,  wie  stark  sich 
gerade  zurzeit  die  Luftperspektive  äußert  und 
paßt  danach  sein   Urteil  an. 

So  hat  denn  auch  hier  der  aufmerksame 
Naturbeobachter  manchen  Nutzen  voraus,  der  oft 
zur  Geltung  kommt.  (GX^) 


488 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Der  Spieg^elfleck  am  Vog^elköpfchen. 
Dr.  Hans  Stübler  in  Bautzen  gelang  eine  zu- 
fällige Beobachtung,  die  er  wahrscheinlich  richtig 
auswertet,  ')  und  der  eine  ziemlich  weitreichende 
Bedeutung  für  die  Erklärung  gewisser  Eigentüm- 
lichkeiten in  der  Gefiederfärbung  der  Vögel,  ins- 
besondere auch  unserer  einheimischen,  zukommen 
dürfte.  An  einem  glatten  VVäschepfahl  kletterte 
eine  Kohlmeise,  die  Zehen  in  einen  Längsriß  ein- 
klemmend, in  dessen  tiefer,  dunkler  Spalte  sie 
offenbar  nach  Nahrung  äugte.  Dabei  war  jede 
Bewegung  des  kleinen  Meisenkopfes  von  der  eines 
etwa  pfenniggroßen,  gleich  dem  Vogel  auf-  und 
niederhuschenden  Lichtfleckes  an  dem  Holz  be- 
gleitet, der  namentlich  dadurch,  daß  sich  der  ganze 
Vorgang  an  der  beschatteten  Seite  des  Pfahles 
abspielte,  gut  sichtbar  wurde:  es  war  der  Wider- 
schein des  weißgefiederten  Fleckes  am  Auge  der 
Kohlmeise.  Damit  wurde  auf  einmal  klar,  was 
dieser  weiße  Fleck  am  Vogelköpfchen  für  eine 
Bedeutung  habe:  er  leistet  bei  der  Nahrungssuche 
den  Dienst  eines  lichlwerfenden  Spiegels.  Auch 
bei  der  Blaumeise  und  anderen  Meisenarten,  bemerkt 
Stübler,  kehrt  dieser  „Spiegelfleck",  wie 
man  ihn  füglich  nennen  kann,  wieder,  weiß  ist 
auch  die  Umgebung  des  Auges  bei  unseren  Bunt- 
spechten und  bei  der  weißen  Bachstelze.  F"erner 
erinnert  Stübler  daran,  daß  das  Köpfchen  des 
Stieglitzes  zur  Hälfte  mit  spiegelndem  Weiß,  zur 
Hälfte  mit  dämpfendemRot  gefärbt  ist.  Dämpfende, 
dunkle  Befiederung  rings  ums  Auge  mag  nament- 
lich solchen  Vögeln  zu  gute  kommen,  die  ihre 
Nahrung  im  grellen  Sonnenlichte  suchen  müssen, 
so  das  Schwarz  am  Köpfchen  unserer  Schwalben, 
des  Wiesenschmätzers,  am  Auge  des  rotrückigen 
und  rotköpfigen  Würgers,  das  Rot  am  Buchfinken- 
kopf. An  einer  ausgestopften  Kohlmeise  gelang 
zwar  nicht  der  Versuch,  jenen  Lichtreflex  hervor- 
zurufen, weil  das  blendende  Weiß  ihres  Spiegel- 
flecks nicht  erhalten  bleibt.  Dagegen  machte  sich 
Stübler  am  eigenen  Auge  einen  „Spiegelfleck" 
aus  Papier,  der  bei  Leseversuchen  in  einem  gegen 
das  helle  Fenster  gehaltenen  Buche  forthalf,  und 
das  sonderbare  eigene  Aussehen  des  Beobachters 
in  solcher  Ausrüstung  brachte  ihn  auf  die  Ver- 
mutung, daß  auch  die  Federkränze  um  das  Eulen- 
auge einen  ähnlichen  Dienst  leisten  mögen.  Man 
wird  gewiß  nicht  fehl  gehen,  wenn  man  auch  in 
anderen  Tierklassen  nach  derartigen  Einrichtungen 
suchen  wird.  Jedenfalls  macht  man  sich  klar,  daß 
auch  nicht  der  kleinste  Zug  in  der  Gefiederfärbung 
eines  Vogels  eines  bestimmten  Zweckes  entbehrt. 
V.  Franz. 

Über  das  Gewicht  lebender  Vogeleier  stellte 
der  als Ornithologe  bekarmte Pfarrer^WTS ch  u  s  t e r 
(Heilbronn)  die  ersten  Untersuchungen  an.  -)    Seine 

')  Ornilhol.  Monatschrift,  Junihcft   1917. 

■')  Zoologischer  Anzeiger,  Bd.  XLVIII,  Nr.  4/5,  S.  138/139. 


Angaben  des  Durchschnitts-,  Mittel-  und  Höchst- 
gewichts beziehen  sich  auf  21  Vogelarten;  aus 
der  Literatur  kommen  6  Angaben  hinzu,  während 
die  allermeisten  Eierkundigen  nur  das  Gewicht 
der  Eischale  festgestellt  haben,  wie  an  ihr,  dem 
ausgeblasenen  Ei,  überhaupt  fast  allein  die  für  die 
Systematik  wichtigen  wissenschaftlichen  Unter- 
suchungen gemacht  werden.  Das  kleinste  und 
bisher  leichteste  Ei,  von  0,4  g  Gewicht,  ist  das  des 
Goldhähnchens  —  die  Spezies  wird  nicht  genauer 
bezeichnet;  auffallend  leicht  im  Verhältnis  zum 
Gesamtgewicht  des  Vogels  ist  ferner  das  Ei  beim 
Kuckuck,  beim  Adler,  auffallend  schwer  dagegen 
bei  den  Wasservögeln.  Frisch  gelegte  Eier  schwim- 
men auf  Wasser,  bebrütete  sinken  unter;  dieser 
Gewichtsunterschied  ist  von  Schuster  ent- 
schieden nicht  genügend  damit  erklärt,  daß  das 
Ei  „infolge  Verdunstens  von  Wasserstoff  (sie)  durch 
die  Eischalenporen  einen  kleinen  Gewichtsverlust 
erlitten  hat".  Beachtenswert  ist  der  Hinweis,  daß 
dieselbe  Art  im  Norden  ein  fast  genau  gleich 
schweres  Ei  legt  wie  im  Süden,  während  doch 
die  Vögel  selber  ebenso  wie  Haartiere  in  käheren 
Regionen  etwas  größer  zu  werden  pflegen  als  in 
wärmeren.  Letzteres  hat  man  als  Anpassung,  als 
Mittel  zur  Verminderung  der  Wärmeausstrahlung, 
erklärt,  und  jenes  Verhalten  der  Eier  scheint  diese 
Erklärung  zu  stützen;  denn  sie  sind  der  Wärme- 
ausstrahlung viel  weniger  ausgesetzt  als  die  Tiere. 
V.  Franz. 

Abnehmen  der  Waldschnepfen.  Seit  Jahren 
wird  in  der  jagdlichen  und  forstlichen  Literatur 
darüber  Klage  geführt,  daß  die  Zahl  der  Wald- 
schnepfen in  ständigem  Abnehmen  begriffen  ist. 
Da  nicht  alle  Beobachter  diese  Anschauung  teilten, 
wurden  vor  einigen  Jahren  auf  Veranlassung  des 
Frei  herrn  von  Berg- Straßburg  an  die  ein- 
zelnen deutschen  bundesstaatlichen  Regierungen 
Fragebogen  hinausgegeben,  auf  denen  erfahrene 
F"orst-  und  Jagdbeamte  sich  über  das  Vorkommen 
der  Waldschnepfen  in  ihren  Amtsbezirken  zu 
äußern  gebeten  •  wurden.  Wie  nun  Freiherr 
V.  Berg,  der  die  Bearbeitung  der  ausgefüllten 
Fragebogen  übernommen  hatte,  im  „Deutschen 
Jäger"  (39.  Jahrg.  191 7,  Nr.  12  u.  13)  mitteilt, 
ergab  sich  dabei,  daß  von  1432  Forst-  und  Jagd- 
verwaltungsbezirken in  533  Bezirken  eine  Ab- 
nahme, in  177  ein  Zuwachs  und  in  713  keine 
Veränderung  beobachtet  wurde.  In  129  Revieren 
beziehen  sich  diese  Angaben  zurücklaufend  nur 
auf  einen  Zeitraum  von  1—5  Jahren;  werden  nur 
die  Angaben  berücksichtigt,  welche  die  VerhäU- 
nisse  des  Schnepfenstandes  mindestens  5— 21  Jahre 
zurückverfolgen,  so  ändert  sich  das  günstige  Bild 
dieser  ersten  Statistik  wesentlich;  dann  stehen 
den  53  Bezirken,  in  denen  eine  Zunahme  der 
Langschnäbel  beobachtet  wurde,  377  Bezirke 
gegenüber,  in  denen  die  Zahl  der  vorkommenden 
Schnepfen  sich  verringert  hat.     Datieren  die  Auf- 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


489 


Zeichnungen  aus  noch  weiter  zurückliegenden 
Jahren,  so  ist  nur  in  einem  einzigen  Falle  eine 
Zunahme  der  Schnepfen  zu  bemerken  gewesen, 
während  ihre  Abnahme  in  84  Fällen  festgestellt 
werden  konnte.  Die  Abnahme  der  Waldschnepfen 
in  einer  großen  Zahl  deutscher  Reviere  muß 
deshalb  wohl  als  eine  feststehende  Tatsache  be- 
trachtet werden  und  es  bliebe  nur  die  Frage 
nach  ihren  Ursachen  zu  erörtern.  Bedeutend 
schuld  daran  sind,  wie  an  allen  Zugvögelabgängen 
selbstverständlich  auch  hier  die  einschneidenden 
Nachstellungen,  welche  die  nordische  Zugvogel- 
welt während  ihres  Winteraufenthaltes  im  Süden, 
im  „gastlichen"  Lande  Italien,  zu  ertragen  hat.*) 
Aber  bei  der  Abnahme  der  Waldschnepfen  ist 
ihnen  allein  nicht  alle  Schuld  aufzubürden:  auch 
unsere  deutsche  Jägerwelt  ist  nach  der  Anklage 
Freiherr  von  Berg's  nicht  frei  von  Fehle.  Die 
Schnepfe  wird  bei  uns  bekanntlich  hauptsächlich 
im  Frühjahr  gejagt  und  es  gibt  vermögliche 
Jagdherren,  die  es  sich  leisten  können,  dabei 
große  Strecken  zu  erzielen.  Dieser  Frühjahrs- 
abschuß der  Schnepfen  wird  nun  häufig  so  weit 
in  den  Frühling  hinein  fortgesetzt,  daß  von  ihm 
nicht  nur  die  durchziehenden,  sondern  vor  allem 
auch  die  heimischen,  bei  uns  brütenden  Vögel 
betroffen  werden.  „Dieser  langandauernde, 
die  Vermehrung  hindernde  Frühjahrs- 
abschuß,  sagt  Freiherr  von  Berg,  muß  des- 
halb als  eine  Hauptursache  angesehen  werden, 
daß  es  mit  den  Schnepfen  immer  mehr  bergab 
geht".  Daneben  werden  natürlich  auch  in  manchen 
Gegenden  die  Urbarmachung  ausgedehnter  Wald- 
gebiete und  die  ständige  Erweiterung  des  Kultur- 
landes, wohl  auch  in  manchen  F"ällen  ungünstige 
Witterungsverhältnisse  auf  den  Zug  und  die  Ver- 
mehrung der  Schnepfen  hemmend  eingewirkt 
haben,  den  Hauptgrund  werden  wir  aber  neben 
der  Verbesserung  der  Schießwaffen,  die  sich 
natürlich  gerade  bei  der  Jagd  auf  ein  solch' 
flüchtiges  Wild  bemerkbar  machen  wird,  immer 
und  immer  wieder  in  der  langen  Ausdehnung 
des  Frühjahrsabschusses  zu  erblicken  haben.  Des- 
halb fordert  der  Verfasser  —  und  darin  schließt 
sich  ihm  seit  Jahren  der  bekannte  österreichische 
Ornithologe  Viktor  Ritter  von  Tschusi 
zu  Schmidhofen  (Tännenhof  bei  Hallein)  voll- 
inhaltlich an  (vgl.  Deutscher  Jäger  191 7,  Nr.  17)  — 
vor  allem  strenge  Schon  Vorschriften  und 
die  Festsetzung  einer  genügend  langen  Schonzeit 
für  diesen  für  jeden  Jagdliebhaber  wie  Naturfreund 
gleich  reizvollen  Vogel :  erst  wenn  der  Frühjahrs- 
abschuß der  Schnepfen  durch  gesetzliche  Regelung 
mit  Ende  März  schließen  muß  und  der  Herbst- 
abschuß (zum  Schutze  der  2.  (Sommer- )Brut)  erst 
mit  Anfang  September  beginnen  darf,  dann  wird 
es  allmählich  möglich  sein,  einer  weiteren  Ab- 
nahme der  Waldschnepfen  wirksam  zu  steuern 
und    damit    einen    Vogel    dem    deutschen    Walde 


')  Vgl.  dazu  meinen  Bericht  „Die  Bedeutung  Italiens  für 
den  Vogelzug"  in  Heft   ig  dieses  Jahrgangs. 


zu  erhalten,    dessen  vollkommene  Ausrottung  ein 
unersetzlicher  Verlust  für  unsere  Forsten  wäre. 
H.  W.  Frickhinger. 

Astronomie.  Bei  der  großen  Bedeutung  der 
Spiralnebel  für  die  Kosmogonie  ist  die  Frage  nach 
der  inneren  Bewegung  oder  Umdrehung 
dieser  Nebel  von  der  größten  Wichtigkeit.  In 
den  letzten  Jahren  ist  in  mehreren  Fällen  davon 
die  Rede  gewesen,  daß  man  solche  nachgewiesen 
habe.  Vor  allem  der  große  Spiralnebel  Messier  lOl, 
der  senkrecht  zur  Gesichtslinie  liegt,  muß  sich 
dazu  besonders  gut  eignen,  eine  Umdrehung  nach- 
zuweisen, wenn  eine  solche  vorhanden  ist. 
Van  Maanen  hat  (Astroph  Journ  44,  Nr.  4) 
vier  Aufnahmen  von  der  Licksternwarte  und  dem 
Mt.  Wilson  aus  den  Jahren  1899  bis  191 5  im 
Stereokomparator  miteinander  verglichen  und  gibt 
hier  seine  Resultate  wieder.  32  Sterne  auf  den 
Aufnahmen ,  die  wohl  zum  Teil  dem  Nebel  an- 
gehören mögen,  dienten  als  Anhaltsterne  der 
Messung.  87  Punkte  im  Nebel,  die  sich  deutlich 
genug  abhoben,  wurden  zum  Messen  ausgesucht, 
und  an  die  Sterne  angeschlossen.  Aus  den 
Messungen  ergibt  sich  zuerst  eine  sehr  kleine 
Eigenbewegung  des  Nebels,  nach  deren  Berück- 
sichtigung die  Drehbewegung  erscheint.  Diese 
scheint  sich  entlang  den  Armen  von  innen  nach 
außen  zu  betätigen,  ist  jedoch  überaus  klein, 
etwa  0,02"  im  Jahre,  was  einer  Umdrehung  des 
ganzen  Systems  in  etwa  59  000  000  Jahren  ent- 
spricht. Der  Verfasser  erinnert  an  die  Chamberlin- 
Moultonsche  Hypothese  der  Entstehung  solcher 
Nebel  durch  das  aneinander  Vorbeilaufen  zweier 
Sonnen,  die  wechselseitig  einen  Flutberg  erzeugen, 
der  zur  Ausströmung  von  Materie  in  Spiralarmen 
führen  soll.  Es  ist  aber  die  Frage,  ob  in  diesem 
Falle  nicht  sehr  viel  größere  Geschwindigkeiten 
erzeugt  werden  müssen,  als  die  hier  durch  die 
Messungen  sich  scheinbar  ergebende.  Und  es  ist 
überhaupt  fraglich,  ob  eine  so  langsame  Um- 
drehung irgendwelche  kosmogonischen  Wirkungen 
haben  kann,  und  ob  sie  nicht  viel  eher  das  Ende 
eines  solchen  Prozesses  bedeutet,  der  an  irgend- 
einem widerstehenden  Mittel  zum  Stillstand  ge- 
kommen ist.  Riem. 

Die  photometrische  Bestimmungjler  Helligkeit 
so  sehr  heller  Körper,  wie  Sonne  und  Mond 
ist  auch  trotz  unserer  gegenwärtigen  feinen  Hilfs- 
inittel  noch  immer  recht  schwierig,  und  nicht 
völlig  befriedigend,  so  daß  immer  neue  Be- 
obachtungsreihen unternommen  werden.  Die 
erste  Schwierigkeit  liegt  darin,  daß  das  Licht  des 
hellen  Körpers  so  lange  abgeschwächt  werden 
muß,  bis  es  im  Meßapparate  dem  des  schwächeren 
gleich  ist.  Aber  den  Grad  der  Abschwächung 
genau  zu  messen  ist  eben  die  Schwierigkeit.  Dann 
kommen  Farbenunterschiede  hinzu,  die  sehr  störend 
wirken,  und  zuletzt  ist  die  sehr  erhebliche  VVirkung 
der  Extinktion  zu  berücksichtigen,  das  ist  der 
Betrag  an  Helligkeit,  den  das  Sternenlicht  in  einer 


490 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


bestimmten  Höhe  über  dem  Horizont  hat  im 
Vergleich  zu  seiner  Stellung  im  Zenit.  Diese 
beträgt  im  Horizont  etwa  drei  Größenklassen 
weniger  als  im  Zenit.  Als  Normalstern  kann  der 
Polarstern  angesehen  werden,  der  immer  gleich- 
mäßig hoch  steht,  und  als  der  zweiten  Größe 
angegeben  wird.  Jede  Größe  ist  2^3  mal  heller 
als  die  nächste,  oder  nach  bequemerer  Angabe, 
der  Logarithmus  des  Helligkeitsunterschiedes 
ist  =  0,400.  Damit  läßt  sich  sehr  leicht  anzugeben, 
um  wieviel  ein  Stern  heller  ist,  als  der  andere. 
Ein  Stern  9.  Gr.  ist  um  7  Größen  schwächer  als 
Polaris ,  7  mal  0,400  ist  =  2,800.  Dazu  gehört 
der  Numerus  630,  um  soviel  mal  ist  der  erste 
Stern  heller  als  der  andere.  Nun  hat  D  u  g  a  n 
sich  im  Märzheft  1916  des  Astroph  Journal  mit 
den  Gliedern  unseres  Systems  befaßt,  und  ist  zu 
folgenden  Ergebnissen  gekommen.  Für  Sterne, 
die  heller  sind  als  i.  Gr.  muß  man  folgerichtig 
negative  Größen  einführen,  es  folgt  also  auf  Gr.  i 
die  Gr.  o,  dann  — i,  — 2  usw.  So  findet  sich  aus 
gut  zusammenstimmenden  Messungen  von  der 
Sonne  im  Anschluß  an  Capeila,  Arkturus,  Wega 
und  Sirius  die  Helligkeit  — 26,72  Größen.  Das 
ist  also  um  27,72  Größen  heller  als  ein  Stern  i.  Gr. 
und  wir  berechnen:  27,72  mal  0,400  ist  =  11,088. 
Diese  Zahl  ist  der  Logarithmus  zu  122000000000, 
welche  Zahl  angibt,  wieviel  mal  heller  die  Sonne 
ist  als  ein  Stern  erster  Größe.  Der  an  sich  sehr 
geringe  Fehler  von  0,04  Größen,  der  dem  Er- 
gebnis anhaftet,  macht  bei  diesen  riesigen  Zahlen 
schon  soviel  aus,  daß  wir  anstatt  122  zu  setzen 
haben  127  oder  117,  als  Grenzen.  P"ür  die  Planeten 
findet  sich  Merkur  — 0,97,  Venus  — 4,71,  sie  ist 
der  bei  weitem  hellste  Stern  des  Himmels,  192  mal 
so  hell,  wie  ein  Stern  i.  Gr.,  und  kann  ja  auch 
bei  Tage  gesehen  werden,  wenn  man  ihren  Ort 
kennt,  vor  allem  auf  höheren  Bergen.  Sie  wirft 
auchSchatten.  Mars  ist  dann — 1,79,  Jupiter — 2,29, 
Saturn  -(-0189.  Uranus  -f-S.74.  Neptun  +7,65. 
Interessant  sind  die  Messungen  am  Mond,  setzt 
man  seine  Helligkeit  bei  Vollmond  =  looo,  wo 
also  Sonne,  Erde,  Mond  eine  Gerade  bilden,  so 
ist  bei  einer  Abweichung  davon,  dem  Phasen- 
winkel, von  10"  die  Helligkeit  noch  816,  bei 
60"  =  283,  bei  120"  =31,  und  bei  150"  nur  noch 
=  4.  Verglichen  mit  den  Sternen  hat  der  Mond 
die  Helligkeit  —12,55  Größen,  er  ist  also  um 
14,17  Größen  schwächer  als  die  Sonne,  die  ihn 
um  das  466  000  fache  an  Helligkeit  übertrifft, 
eine  Zahl,  die  um  etwa  ein  Zehntel  unsicher  sein 
wird.  Riem. 

Physik.  P'ür  feste  Stoffe  ist  die  Löslichkeit 
von  der  Kerngröße  abhängig,  wenn  diese  geringer 
ist  a.\s2  ju{i  fi=  Vi 000  mrn).  und  zwar  sind  kleinere 
Körner  leichter  löslich  als  größere.  W.  Herr 
untersucht  die  Frage,  ob  bei  Flüssigkeiten,  bei 
denen  von  einer  Kerngröße  natürlich  keine  Rede 
sein  kann,  ein  Einfluß  der  Größe  der  Moleküle 
auf  die  Löslichkeit  besteht.    (Zeitschr.   f.    Elektro- 


chemie XXIII,  S.  23  (1917)).  Im  allgemeinen  ist  die 
Löslichkeit  von  Flüssigkeiten  (in  Wasser)  um  so 
größer,  je  kleiner  ihr  Molekulardurchmesser  2  r 
ist,  z.  B. : 

2  r 
Methylacetat         0,49-10-8     25  g    |  lösen  sich  in 
Methylpropionat  1,04-10-8       jg    j  100 g  Wasser 
Methylbutyrat       i,i6-iO~^       i>7g)      von  22". 

Da  die  Größe  der  Molekeln  von  der  Bindung 
abhängt,  haben  die  Molekeln  isomerer  Verbin- 
dungen verschiedenen  Durchmesser;  bei  nahe  ver- 
wandten Isomeren  ist  er  nahezu  gleich,  diese 
haben  auch  angenähert  die  gleiche  Löslichkeit, 
z.  B.  vom  Butylalkohol  (2  r  =  0,74- lO"')  lösen 
sich  12  g,  vom  Isobut)'lalkohol  (2  r  =  0,75  •  lO"*) 
10,5  g  in  100  g  Wasser.  Dagegen  zeigen  Isomeren 
von  verschiedenem  Molekeldurchmesser  auch  ver- 
schiedene Löslichkeit.  Seh. 

Die  gebräuchlichen  Röntgenröhren  leiden  unter 
dem  Mangel,  daß  Härte  und  Intensität  der  Strahlen 
voneinander  abhängig  sind.  Die  Lil  ien  feld'sche 
Röhre,  die  von  diesem  Mangel  frei  ist,  ist  vor 
einiger  Zeit  in  derNaturw.  Wochenschr.  beschrieben 
worden.  Jetzt  hat  auch  die  Firma  Siemens  u. 
Halske  eine  Glühkathoden-Röntgenröhre  kon- 
struiert, die  durch  einfache  Handgriffe  gestattet, 
Härte  und  Intensität  der  Strahlung  unabhängig 
voneinander  zu  regulieren.  Sie  wurde  im  Febr. 
1916  der  Berliner  medizinischen  Gesellschaft  vor- 
geführt. Die  Röhre  ist  bis  zum  äußersten  er- 
reichbaren Vakuum  leergepumpt,  so  daß  sie  über- 
haupt keine  Entladung  durchläßt.  Die  Kathode 
besteht  aus  einem  Wolframdraht,  wie  er  sich  in 
jeder  Glühbirne  findet.  Durch  einen  besonderen 
Stromkreis  wird  die  Glühkathode  zum  Leuchten 
gebracht;  dabei  entweichen  aus  ihr  Elektronen, 
die  die  Röhre  leitend  machen.  Durch  das  elek- 
trische Hochspannungsfeld  beschleunigt,  treffen  sie 
die  Wolframantikathode,  werden  hier  gebrennt, 
und  dabei  entstehen  die  Röntgenstrahlen.  Die 
Härte  derselben  ist  von  der  Höhe  der  angelegten 
Betriebsspannung,  ihre  Intensität  von  der  Menge 
der  dem  Glühdraht  entweichenden  Elektronen, 
also  von  der  Heizstromstärke  abhängig.  Der  von 
der  Firma  konstruierte,  in  seiner  Handhabung 
außerordentlich  bequeme  Apparat  gestattet,  beide 
Faktoren  in  einfacher  Weise  zu  regulieren.  Zum 
Betrieb  wird  Wechselstrom  genommen;  eine 
Gleichrichteranlage  ist  nicht  nötig,  da  die  Röhre 
selber  als  Ventil  wirkt  und  nur  dann  Strom  hin- 
durchläßt, wenn  die  Glühkathode  negativer  Pol 
ist,  während  sie  in  entgegengesetzter  Richtung 
undurchlässig  ist.  Der  Wechselstrom  speist 
2  Transformatoren,  den  Heiz-  und  den  Hoch- 
spannungstransformator. Die  Stromstärke  des 
ersteren  wird  durch  einen  vor  seiner  Primärspule 
liegenden  Kurbelwiderstand  reguliert,  und  dadurch 
wird  Temperatur  der  Glühkathode  und  ihre 
Elektronabgabe  bestimmt.  Die  Regulierung  im 
Hochspannungstransformator  erfolgt  dagegen  auf 
andere   Weise,   indem   man   nämlich  das  Über- 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


491 


Setzungsverhältnis,  d.  i.  das  Verhältnis  der 
Anzahl  Primärwindungen  zu  den  sekundären, 
ändert,  und  zwar  indem  man  mittels  Kurbel  einen 
1  Teil  der  Primärwindungen  abschaltet.  Dadurch 
wird  erreicht,  daß  stets  die  gesamte  Netzspannung 
an  der  Primärspule  liegt,  während  bei  Regu- 
lierung durch  Verschaltwiderstand  ein  Teil  der 
Spannung  in  diesem  unnütz  verloren  geht.  An 
der  Sekundärspule  liegt  die  Röhre;  ein  Milli- 
amperemeter mißt  den  sie  durchfließenden  Strom. 
Da  die  beiden  Transformatorkreise  voneinander 
unabhängig  sind,  kann  durch  Betätigung  des  ersten 
die  Intensität,  durch  den  zweiten  die  Härte  der 
Strahlung  vollkommen  unabhängig  voneinander 
reguliert  werden.  Ja  man  kann  eine  Aufnahme 
oder  Bestrahlung  unter  genau  den  gleichen  Ver- 
hältnissen wiederholen,  was  bei  den  bisher  ge- 
bräuchlichen Röhren  wegen  der  Inkonstanz  ihres 
Vakuums  nicht  möglich  war. 

Durch  geeignete  Verbesserung  der  Apparate 
ist  es  gelungen,  ein  Therapierohr  zu  erhalten, 
das  außerordentlich  harte  Strahlen  (15"  nach 
Wehnelt,  mit  älteren  Anordnungen  10 — ll") 
liefert.  Wie  schon  erwähnt,  hängt  die  Härte  der 
Strahlen  von  der  Geschwindigkeit  der  auf  die 
Antikathode  aufschlagenden  Elektronen  und  mithin 
von  der  Höhe  und  Form  der  angelegten 
Spannung  ab.  Bei  dem  gebräuchlichen  Wechsel- 
strom ändert  sich  bekanntlich  während  einer 
Periode  die  Spannung  wie  ein  Sinus,  d.  h.  sie 
steigt  allmählich  von  o  bis  zum  Maximalwert  an, 
lallt  wieder  bis  o,  um  nun  unterhalb  der  x-Achse 
denselben  Verlauf  zu  nehmen.  Durch  einen 
rotierenden  Umschalter  wird  in  dem  vielbenulzten 
Hochspannungsgleichrichter  der  unter  der  Achse 
liegende  Teil  der  Spannungskurve  nach  oben  ge- 
klappt, so  daß  wir  einen  pulsierenden  Gleichstrom 
zum  Betrieb  der  Röhre  benutzen.  Das  ist  aber 
eine  Spannungsform,  die  für  die  Homogenität  und 
Härte  der  Strahlung  nicht  günstig  ist.  Beim  An- 
wachsen der  Spannung  wird  nämlich  schon  ein 
Teil  der  Elektronen  mit  verhältnismäßig  geringer 
Geschwindigkeit  gegen  die  Antikathode  getrieben 
und  erzeugt  hier  weiche  Strahlen;  je  mehr  die 
Spannung  sich  dem  Maximalwert  nähert,  um  so 
härter  wird  die  Strahlung,  um  nach  Überschreiten 
des  Höchstwertes  wieder  weicher  und  weicher  zu 
werden,  so  daß  also  eine  mit  dem  üblichen 
Hochspannungsgleichrichter  betriebene  Röhre  ein 
Gemisch  von  Strahlen  verschiedener  Härte  liefert, 
indem  die  härtesten  und  für  die  Therapie  wert- 
vollsten nicht  sehr  zahlreich  sind.  Günstiger 
liegen  die  Verhältnisse  bei  Benutzung  eines  In- 
duktors, da  hier  die  Spannungskurve  schneller 
ansteigt  und  abfällt.  Das  günstigste  wäre  nach 
dem  Gesagten  ein  Gleichstrom  mit  gleichbleibender 
hoher  Spannung.  Influenzmaschinen  sind  zu  delikat 
in  der  Handhabung  und  nicht  leistungsfähig  genug. 
Das  Ziel  wird  von  der  Firma  Siemens  &  Halske 
mit  ziemlicher  Annäherung  dadurch  erreicht,  daß 
die  negativen  Teile  der  Spannungskurven  eines 
Dreiphasen(Dreh)stromes     nach     oben     geklappt 


werden  und  zwar  werden  dazu  sechs  Ventilröhren 
benutzt,  die  nach  Art  der  neuen  Röntgenröhre 
mit  Glühkathode  ausgerüstet  sind.  Der  Drehsirom 
wird  entweder  dem  Kraftnetz  direkt  oder  einem 
Gleichstrom-  bzw.  Wechselstrom-Drehstromum- 
former entnommen.  Zur  Erzeugung  der  Hoch- 
spannung wird  nicht  ein  Drehstromtransformator, 
sondern  aus  rein  praktischen  Gründen  zwei 
Wechselstromtransformatoren  in  der  sogenannten 
V-Schaltung  benutzt.  Die  Vorrichtung  liefert 
schwach  pulsierenden  hochgespannten  Gleichstrom, 
der  Strahlen  von  beträchtlicher  Härte  in  reich- 
licher Menge  erzeugt.  Durch  iMltration  mittels 
geeigneter  Metallplatten  läßt  sich  ihre  Homogenität 
weiter  steigern.  Bei  der  hohen  Energiezufuhr 
gerät  der  Wolframklotz  der  Antikathode  trotz 
seiner  durch  die  große  Oberfläche  bedingten 
starken  Ausstrahlung  bald  ins  Glühen ,  so  daß 
auch  von  der  Antikathode  Elektronen  ausgehen 
und  die  Röhre  ihre  Wirksamkeit  als  Ventil  ver- 
liert. Das  ist  aber  belanglos,  da  ihr  ja  eine  durch 
die  6  Ventilröhren  erzeugte  Gleichspannung  zu- 
geführt wird. 

Ein  guter  Schritt  ist  durch  den  Bau  der 
Lilienfeld-  und  der  Glühkathodenröhre  — 
welche  von  den  beiden  die  leistungsfähigere  ist, 
wird  die  Praxis  erweisen  —  vorwärts  getan ;  durch 
Ablesung  eines  Voltmeters  (Messung  der  Betriebs- 
spannung) wird  die  Härte,  aus  der  Anzeige  des 
Milliamperemeter  die  Intensität  der  Strahlung  be- 
stimmt. Eine  weitere  Forderung  ist  die,  eine 
wirklich  homogene  Strahlung  zu  haben, 
d.  h.  Strahlen  von  einer  ganz  bestimmten  Wellen- 
länge und  nicht  wie  bisher  ein  Gemisch  einer 
mehr  oder  weniger  großen  Anzahl  verschiedener 
Wellenlängen.  Diese  Aufgabe  wird  auch  durch  die 
neue  Röhre  nicht  vollständig  gelöst.  Einer  der 
Gründe  ist  folgender:  Da  die  Röhre  nicht  ganz 
luftleer,  trefTen  die  Elektronen  auf  ihrem  Weg 
zur  Antikathode  auf  Gasmoleküle.  Ein  Teil  fährt 
durch  dieselben  hindurch,  ein  anderer  macht  bei 
dem  Zusammenprall  Elektronen  aus  dem  Ver- 
bände des  Moleküls  frei.  Diese  werden  durch 
das  Feld  getrieben  nach  der  Antikathode  hin 
beschleunigt  und  prallen  mit  verschiedener  Ge- 
schwindigkeit auf,  je  nachdem  sie  nahe  vor  der 
Antikathode  oder  dicht  hinter  der  Kathode  durch 
lonenstoß  erzeugt  sind.  Sie  lösen  demnach 
Strahlen  von  verschiedener  Härte  aus.  Ferner 
geht  von  dem  Wolfram  der  Antikathode  eine 
Eigenstrahlung  aus,  deren  Wellenlänge  von  der 
Betriebsspannung  ganz  unabhängig  ist. 

K.  Seh. 

Heilkunde.  Schilddrüsenstörungen  und  Meeres- 
höhe. ')  Bei  der  Untersuchung  einer  größeren 
Anzahl  von  Schuldkindern  in  Tirol  hat  der  Ober- 
bezirksarzt   Dr.  Karl  Pfeiffenb erger   in  Imst 


')  Karl  Pfeiffenb  erger,  Scliilddrüsenerkrankungen 
und  Kropf  bei  Schulkindern  im  Bezirke  Imst.  Zeitschr.  f.  öffentl, 
Gesundheitspflege  II.      1914. 


492 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


einen  sehr  interessanten  Befund  über  die  Abhängig- 
keit der  Schilddrüsenerkrankung  von  der  Meeres- 
höhe erhoben.  Pfeiffenberger  hat  insgesamt 
3346  Kinder  untersucht,  von  denen  1632  Knaben 
und  1714  Mädchen  waren.  Die  untersuchten  Ge- 
meinden waren  in  einer  Höhe  von  600 — 1900  m 
gelegen.  Es  verteilen  sich  die  untersuchten  Kinder 
auf  folgende  Gemeinden: 


Höhe 

Gerat 

aber  den 


Mee 


600 — Soo 
800 — 1000 
1000 — 1200 
1200  —  1900 


776 
1594 
512 
464 


Kinder  mit 

Scliilddrüser 

Störungen 


I  Zahl  der  Kinder 
mit  Schilddrüsen- 


■0.95 
10,85 
13.47 
4.74 


Als  Schilddrüsenstörung  wurden  nicht  nur  aus- 
gesprochener Kropf,  sondern  auch  alle  nachweis- 
baren Veränderungen  in  der  Schilddrüse  berück- 
sichtigt. In  der  Mehrzahl  der  Fälle  handelte  es  sich 
um  kleine  cystische  Veränderungen  einzelner  Schild- 
drüsenpartien, in  selteneren  Fällen  um  allge- 
meine Vergrößerungen  des  Organs.  Wie  die 
Tabelle  zeigt,  weisen  die  Ortschaften  mit  einer 
Höhenlage  bis  zu  1200  m  einen  ziemlich  gleich- 
bleibenden Prozentsatz  von  Schilddrüsenerkran- 
kungen auf  In  Höhen  über  1200  m  nimmt 
die  Häufigkeit  der  Schilddrüsenstö- 
rungen plötzlich  ganz  auffallend  ab. 
Dabei  ist  noch  zu  berücksichtigen,  daß  zwischen 
1200  und  1400  m  sich  einige  Schulen  befanden, 
deren  Kinder  teilweise  aus  erheblich  tiefer  ge- 
legenen Ortschaften  stammen.  „Am  auffälligsten 
zeigten  sich  diese  Gegensätze  zwischen  Häufigkeit 
der  Störungen  und  Höhenlage  der  Ortschaften  im 
Oetztale,  wo  die  Talortschaften  reichlich  Schild- 
drüsenveränderungen ,  Kretinismus  u.  a.  boten, 
während  die  bezüglichen  höher  gelegenen  Bergorte 
nahezu  ausnahmslos  frei  davon  sind,  bzw.  die 
vorgefundenen  Fälle  aus  Talorten  stammen.  So 
stammt  beispielsweise  der  einzige  Kropffall  bei 
Schulkindern  in  Niederthei,  einer  1535  m  hoch 
gelegenen  Ortschaft,  aus  einer  726  m  tiefer  ge- 
legenen Talgemeinde  (Sautens)". 


Von  großem  Interesse  ist  auch  der  Befund  von 
Pfeiffenberger,  daß  die  in  die  Schule  neu 
eingetretenen  Kinder  verhältnismäßig  selten  Schild- 
drüsenstörungen aufweisen.  Je  höher  die 
Klasse,  desto  größer  der  Prozentsatz 
der  Kinder  mit  Schilddrüsenstörungen. 
So  fehlten  z.  B.  im  Orte  Imst  bei  den  1 16  Schülern 
der  ersten  zwei  Jahrgänge  Schilddrüsenverände- 
rungen gänzlich.  Im  dritten  Jahrgang  waren  bereits 
10,9  •'/o  Kinder  mit  Schilddrüsenstörungen  behaftet, 
in  den  folgenden  Jahrgängen  sogar  13,6 — iSiS'/o 
der  Kinder.  Dieselben  Verhältnisse  lagen  in 
anderen  Orten  vor. 

Bemerkenswert  ist  auch  die  Beobachtung  von 
Pfeiffenberger,  daß  mehr  als  ein  Drittel  aller 
Kinder  mit  Schilddrüsenstörungen  auch  andere 
Krankheiten  aufwiesen :  von  den  untersuchten  3346 
Kindern  waren  349  mit  Schilddrüsenveränderungen 
behaftet,  und  von  diesen  349  Kindern  hatten  136 
noch  andere  Störungen,  wie  körperliche  Minder- 
wertigkeit, Kretinismus,  Schwerhörigkeit,  Rachitis, 
auffallend  unregelmäßiges  Gebiß  usw.  Mit  diesen 
Störungen  waren  insgesamt  220  Kinder  behaftet, 
von  denen,  wie  gesagt,  136  auch  Schilddrüsen- 
störungen hatten  und  nur  84  Kinder  diese  Störungen 
allein. 

Aus  den  Befunden  von  Pfeiffenberger  geht 
hervor,  daß  Höhenlagen  für  die  Entwicklung  der 
Schilddrüsenerkrankungen  ungünstig  sind,  vielleicht, 
wie  Pfeiffenberger  annimmt,  weil  ein  infek- 
tiöses Agens  „oberhalb  bestimmter  Höhenlagen  in 
der  Entwicklung  gehemmt  ist,  bzw.  dort  die 
nötigen  Entwicklungsbedingungen  nicht  mehr  finden 
kann".  Pfeiffenberger  erörtert  die  Möglich- 
keit, daß  die  von  Klasse  zu  Klasse  zunehmende 
Häufigkeit  der  Schilddrüsenerkrankungen  bei  den 
Schulkindern  dadurch  erklärt  werden  könnte,  daß 
der  dauernde  Kontakt  der  Kinder  miteinander  die 
Wirkung  des  in  Betracht  kommenden  infektiösen 
Agens  begünstige.  Vielleicht  machen  auch  andere 
Erkrankungen  den  Organismus  für  dieses  infek- 
tiöse Agens  aufnahmefähiger,  so  daß  die  Schild- 
drüsencrkrankung  in  einer  großen  Anzahl  von 
Fällen  mit  anderen  Krankheiten  vergesellschaftet 
ist.  Lipschütz. 


Bücherbesprechuugen. 


E.  Werth,    Das    Eiszeitalter.      Zweite,    ver- 
besserte Auflage.    Slg.  Göschen,  Nr.  431.    Berlin- 
Leipzig   191 7. 
Das    bewährte    kleine    Werk,    auf    vielseitiger 
eigener    Beobachtung    und    fleißiger   Verarbeitung 
fußend,  konnte  zum  zweitenmal  aufgelegt  werden 
und    hat    dabei    durch  Anfügung    eines    Registers 
und   wesentliche  Überarbeitung    der  beigehefteten 
Karte    gegenüber    der    ersten    noch    dankenswerte 
Verbesserungen    erfahren.      Die   bei    so    knappem 
Raum  bemerkenswerte  Vollständigkeit  der  Über- 
sicht über  regionale  Verbreitung  der  Erscheinungen, 


P'ormenschatz,  Tier-  und  Pflanzenwelt  (auch  die 
menschliche  Entwicklung  in  Körperbau  und  Kultur 
findet  noch  kurz  Aufnahme)  hat  sich  also  offenbar 
ihren  F"reundeskreis  bereits  erworben  und  wird 
ihn  zweifellos  erfolgreich  erweitern  können. 

Edw.   Hennig. 

Fr.  Machatschek,  Gletscherkunde.  Zweite 
Auflage.  Slg.  Göschen,  Nr.  154.  Berlin-Leipzig 
1917. 

Auch  dies  Büchlein,  mit  dem  vorgenannten  ein- 
ander trefflich  ergänzend,  erlebt  schon  die  zweite 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


493 


Auflage.  Hier  werden  alle  jene  Beobachtungen 
über  Wesen  und  Wirken  des  Gletschereises  und 
seiner  Beziehungen  zum  Klima  (mit  bewußter  Be- 
vorzugung der  bestgekannten,  nämlich  alpinen 
Vergletscherungen)  in  übersichtlicher  und  leicht- 
verständlicher Form  zusammengestellt,  die  uns 
erst  ermöglicht  haben  aus  den  Ablagerungen  und 
Oberflächenformen  rückschließend  die  so  viel  ge- 
waltigeren Inlandeismassen  des  Diluviums  unge- 
zwungen zu  erschauen  und  zu  begreifen.  Die 
geographischen  Grundlagen  aus  der  heutigen  Er- 
scheinungswelt haben  jederzeit  der  Ausgangspunkt 
und  Ankerplatz  aller  Forschungen  in  der  Vorzeit 
zu  bleiben,  wie  sie  ihrerseits  gerade  auch  in  Fragen 
der  Vergletscherungen  nur  aus  der  Vergangenheit 
heraus  recht  verstanden  werden  können.  Diese 
wohltätig  fördernde  Wechselwirkung  kann  aus 
dem  Studium  der  beiden  Göschen  Bändchen  von 
W e  r t h  und  Machatschek  entnommen  werden, 
die  der  rührige  Verlag  mit  Recht  zu  gemeinsamer 
Arbeit  in  die  stets,  auch  mitten  im  heißesten 
Ringen  ums  Leben  aufnahmefreudigen  deutschen 
Leserkreise  hinausgehen  läßt.        Edw.  Hennig. 

A.  Hesse  und  H.  Gro^mann,  Englands  Han.- 
delskrieg  und  die  chemische  Industrie. 
Neue    Folge:     England,    Frankreich,    Amerika. 
344   S.    gr.    8".      Stuttgart    1917.      Verlag   von 
Ferdinand  Enke.  —  Preis:  geh.   11   M. 
V.  Karl   Löfll,    Die    chemische   Industrie 
Frankreichs,      eine     industriewirtschaftliche 
Studie  über  den  Stand  der  chemischen  Wissen- 
schaft   und    Industrie    in    Frankreich.      Sonder- 
abdruck   aus    Bd.  XXIV   der,  Ahrens-Herz- 
schen    „Sammlung    chemischer    und    chemisch- 
technischer Vorträge".     Stuttgart  191 7.    Verlag 
von  Ferdinand  Enke.     Preis:  geh.   10  IM. 
Daß  der  von  England  gegen  die  IVlittelmächte, 
insbesondere  Deutschland  inszenierte  Handelskrieg 
kein  Bluff  ist,  sondern  vor  allem  infolge  der  über 
Erwarten  langen  Dauer  des  Krieges  eine  sehr  große 
Bedeutung  hat,  dürfte  allgemein  bekannt  sein,  und 
ebenso    dürfte    allgemein    bekannt    sein,    daß    der 
Industriezweig,    gegen    den    sich  der  Handelskrieg 
in  erster  Linie  richtet,  die  chemische  Industrie  ist. 
Das  Wort  „ohne  Deutschlands  chemische  Industrie 
kein    Weltkrieg",    ist,    so    zugespitzt    es  im  ersten 
Augenblick    vielleicht    erscheinen    mag,    sicherlich 
nicht    ganz    unberechtigt.       Die    beiden    Berliner 
Professoren    A.    Hesse,    der     Herausgeber     des 
„Chemischen  Zentralbalttes"  und  H.  Groß  mann, 
aus  dessen  Feder  schon  manche  wertvolle  Arbeit 
über  die  chemische  Industrie    hervorgegangen  ist, 
haben    sich    daher    ein    sehr   großes  Verdienst  er- 
worben,    indem    sie    die    wichtigsten    Veröffent- 
lichungen,   die    in   den  Ententeländern    über   den 
Kampf  gegen  die  chemische  Industrie  Deutschlands 
erschienen  sind,  in  deutscher  Übersetzung  zunächst 
als    Sonderbeilage    zu    der    bekannten    Zeitschrift 
„Die  chemische  Industrie"    und  dann  in  Auswahl 
auch    in    vorläufig    zwei  Bänden  (Bd.  I  i.  J.   1915, 
Bd.  II  soeben)  in  Buchform  herausgegeben  haben. 


Das  in  diesen  Veröffentlichungen  enthaltene  Material 
ist  ganz  außerordentlich  interessant.  Mitschonungs- 
loser  Offenheit  werden  besonders  in  England  die 
Gründe  für  die  Rückständigkeit  ihrer  eigenen 
gegenüber  der  deutschen  chemischen  Industrie  und 
die  Wege  erörtert,  die  neben  der  Schädigung  der 
deutschen  die  Hebung  ihrer  eigenen  Industrie  zum 
Ziele  haben,  und  es  hieße  besonders  England  ver- 
kennen, wenn  man  meinen  wollte,  es  bliebe  alles 
nur  bei  Worten  stehen.  Sicherlich  wird  die  deut- 
sche chemische  Industrie  nach  dem  Kriege  einen 
schweren  Stand  haben,  wenn  sie  die  alten,  zum 
großen  Teil  zunächst  verlorenen  Absatzgebiete 
wieder  gewinnen  will,  aber  auch  die  deutsche 
chemische  Industrie  ist  ja  für  die  Zeit  nach  dem 
Kriege  gut  gerüstet,  und  es  ist  zu  hoffen  und  zu 
erwarten,  daß  sie  aus  den  schweren  Kämpfen,  die 
ihr  bevorstehen,  siegreich  hervorgehen  wird.  Vor- 
aussichtlich wird  England  sein  Ziel  auch  hier 
nicht  erreichen. 

Alle  die,  die  für  Englands  Handelskrieg  Inter- 
esse haben,  seien  jedenfalls  mit  besonderem  Nach- 
druck auf  die  H  e  s  s  e- Großmann 'sehen 
Publikationen  hingewiesen. 

Das  Werk  von  Löffl  über  die  chemische 
Industrie  Frankreichs  ist  von  mehr  speziellem 
Charakter,  und  es  genügt  daher,  an  dieser  Stelle 
auf  seine  Existenz  hinzuweisen. 

Werner  Mecklenburg. 

Naef,    Adolf,    Die    individuelle    Entwick- 
lung organischerFormen  alsUrkunde 
ihrer     Stammesgeschichte.        (Kritische 
Betrachtungen    über   das    sogenannte  „biogene- 
tische Grundgesetz").     ']']  S.     Mit  4  Figuren  im 
Text.      Jena    191 7,    Verlag   von    G.  Fischer.  — 
Preis:  geh.  2,40  M. 
„Die  Keimesentwicklung  (Ontogenesis)  ist  eine 
gedrängte     und     abgekürzte     Wiederholung     der 
Stammesentwicklung  (Phylogenesis);  und  zwar  ist 
die  Wiederholung    um    so  vollständiger,  je    mehr 
durch    beständige    Vererbung    die    ursprüngliche 
Auszugsentwickiung      (Palingenesis)      beibehahen 
wird,    um  so    unvollständiger    hingegen,  je    mehr 
durch  verschiedene  Anpassung  die  spätere  Störungs- 
entwicklung   (Cenogenesis)  eingeführt    wird."     So 
definierte  Haeckel    sein  „biogenetisches  Grund- 
gesetz'".  Seither  ist  dieses  Gesetz  von  verschiedenen 
Seiten    und    wiederholt    einer    kritischen    Prüfung 
unterzogen      worden.        Zwar     bestreitet      wohl 
kaum    ein    Naturforscher    die    Richtigkeit    seines 
Leitgedankens,  daß  nämlich  eine  engere  Beziehung 
zwischen    Ontogenie    und    Phylogenie    überhaupt 
besteht,    aber    die    fortschreitende    Kenntnis    vom 
Wesen    des  Entwicklungsprozesses    und  der  Zelle 
hat    zu    einer   anderen  Bewertung    des  „Gesetzes" 
geführt,  das  von  seinem  Begründer    in  seiner  Be- 
deutung  zweifellos    weit   überschätzt    worden    ist. 
Es   handelt   sich    um    kein    biologisches   „Gesetz", 
geschweige    denn    ein     „G  rund  gesetz",    sondern 
lediglich  um  eine  „Regel",  ein  „Prinzip",  von  einem 
„heuristischen    Prinzip"    spricht    Keibel.      Wenn 


494 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naef  in  der  vorliegenden  Studie  die  Haeckel- 
sche  Rekapitulationstheorie  ebenfalls  einer  kritischen 
Betrachtung  unterwirft,  so  erscheint  er  dazu  be- 
sonders berufen,  da  sein  Standpunkt  das  Ergebnis 
langjähriger  Untersuchungen  vergleichend-entwick- 
lungsgeschichtlicher Natur  darstellt.  Gerade  das  ist 
der  Fehler  zahlreicherder  bisherigen  phylogenetisch- 
ontogenetischen  Untersuchungen,  daß  das  durch- 
gearbeitete Material  umgekehrt  proportional  war 
zu  den  phylogenetischen  Spekulationen,  die  darauf 
gegründet  wurden;  je  lückenhafter  das  Material 
war,  desto  lückenloser  waren  häufig  die  „Stamm- 
bäume", die  man  aufstellte.  Naef  hat  zu  seinen 
Untersuchungen  die  Mollusken,  speziell  die  Cepha- 
lopoden,  gewählt,  die  infolge  ihres  großen  Formen- 
reichtums —  sowohl  in  der  Gegenwart  wie  auch 
in  früheren  Erdperioden  —  sich  als  besonders 
geeignet  erweisen.  Zahlreiche  Gattungen  wurden 
z.  T.  in  mehreren  Arten  eingehend  und  in  ihrem 
ganzen  Entwicklungsverlaufe  studiert,  die  übrigen 
Familien  und  Gattungen  wurden  wenigstens  teil- 
weise untersucht  und  auch  die  nächst  verwandten 
Mollusken  zum  Vergleich  herangezogen. 

Von  den  allgemeinen  Anschauungen,  die  sich 
der  Verfasser  auf  Grund  seiner  in  einer  Reihe  von 
Spezialarbeiten  niedergelegten  Resultate  gebildet 
hat,  seien  folgende  hervorgehoben. 

Nach  Fritz  Müller  gibt  es  zwei  Wege,  auf 
denen  die  Nachkommen  zu  einem  neuen  Ziele 
gelangen  können :  Entweder  sie  irren  früher  oder 
später  von  dem  Wege  der  elterlichen  Form  ab, 
oder  sie  durchlaufen  denselben  Weg,  bleiben  aber 
nicht  an  dem  Punkte  stehen,  wo  die  elterliche 
Form  geendet  hat,  sondern  schreiten  weiter. 
Während  die  Annahme  einer  fortschreitenden 
Entwicklung  zur  Basis  des  „biogenetischen  Grund- 
gesetzes" geworden  ist,  hat  man  den  anderen  Weg 
der  Entstehung  neuer  Formen  bisher  vernach- 
lässigt. Jene  Annahme  ist  aber  nach  Naef  irrig, 
nur  die  zweite  der  beiden  Möglichkeiten  ist  ver- 
wirklicht. Die  zyklisch-rhythmische,  un- 
unterbrochene Umbildung  ist  die  Urform 
aller  Entwicklung.  Die  Kontinuität  des  Lebens- 
prozesses wird  dadurch  gewährleistet,  daß  sich  in 
ununterbrochener  und  endloser  Folge  die  Keim- 
bahnzyklen wiederholen.  Von  jedem  Keimbahn- 
zyklus ausgehend  spielen  sich  blind  endigende, 
d.  h.  der  Zerstörung  verfallende  Entwicklungs- 
vorgänge ab,  die  insgesamt  die  „Ontogenese"  des 
Einzelindividuums  ausmachen.  Naef  bezeichnet 
diese  terminalen  Entwicklungsprozesse  als  „Mor- 
phogenesen". „Die  (Ontogenese  der  Vierzelligen 
ist  in  der  Hauptsache  ein  komplexer  Spezialfall 
terminaler  Entwicklung  und  aus  einer  großen  Zahl 
einzelner  Morphogenesen  zusammengesetzt".  Jede 
Ontogenese  rekapituliert  im  allgemeinen  mit  großer 
Treue  die  vorhergehenden.  Die  Möglichkeit  einer 
Abänderung  der  einzelnen  Morphogenesen  muß 
schon  deshalb  äußerst  eingeschränkt  sein,  weil  in 
den  meisten  derartigen  Fällen  eine  Störung  des 
Gesamtorganismus  zu  erwarten  ist ;  denn  die  Ab- 
änderungen   der   Morphogenesen    sind    die    Folge 


von  Abänderungen  der  Erbmasse,  und  diese  sind 
in  ihrem  ersten  Auftreten  rein  zufällig,  absolut 
richtungslos,  die  Existenz  einer  Zielstrebigkeit  im 
Sinne  direkter  Anpassung  lehnt  Naef  ab.  Phylo- 
genetisch müssen  die  einzelnen  Erscheinungen  der 
Formbildung  „um  so  konservativer  sein,  je  mehr 
das  physiologische  und  ökologische  Gleichgewicht 
auf  ihnen  ruht".  Das  ist  aber  der  Fall,  je  weiter 
die  Erscheinung  von  dem  Ende  der  terminalen 
Morphogenese  entfernt  ist.  Die  phylogenetische 
Abänderung  geht  in  so  bestimmten  Bahnen  vor 
sich,  daß  Naef  glaubt,  sie  in  einem  Gesetz  for- 
mulieren zu  können,  dem  „Gesetz  der  termi- 
nalen Abänderung":  „Die  Stadien  einer 
Morphogenese  sind  um  so  konservativer  in  der 
Rekapitulation  der  ursprünglichen  Entwicklung,  je 
näher  sie  dem  Beginn,  um  so  progressiver,  je 
näher  sie  dem  Ende  derselben  stehen."  Dieser 
Satz  führt  dann  weiterhin  zu  dem  Grundsatz,  daß 
ein  ontogenetisch  primäres  Stadium  innerhalb  einer 
Morphogenese  auch  als  phylogenetisch  primär  auf- 
zufassen und  morphologisch  höher  zu  werten  ist 
(„Prinzip  des  morphologischen  Primats 
voraufgehender  Entwicklungszust  ä  nde"). 
Im  allgemeinen  wird  die  Erzeugung  neuer,  ange- 
paßter Formen  sehr  langsam  erfolgen.  Die  Mög- 
lichkeit sprungweiser  Veränderung  ist  nur  dadurch 
gegeben,  daß  die  Ausbildung  der  Endzustände  der 
typischen  Ontogenese  unterbleiben  kann  (Pädo- 
genesis  und  Neotenie),  das  Umgekehrte,  ein  Hin- 
zufügen neuer  Zustände  zur  typischen  Onto- 
genese, erfolgt  niemals.  Eine  Wiederholung  der 
Endstadien  von  Ahnen,  eine  Palingenesis  im 
Sinne  von  F.  Müller,  E.  Haeckel  und 
O.  H  e  r  t  w  i  g,  gibt  es  also  nach  Naef  nicht,  eben- 
sowenig infolgedessen  eine  Cenogenesis. 

Diese  wenigen  Sätze  mögen  genügen,  um  auf 
die  gedankenreiche  Schrift,  an  die  sich  jedenfalls 
noch  manche  Diskussion  anschließen  wird,  hin- 
zuweisen. Nachtsheim. 


Felix M.Exner,  Dynamische  Meteorologie. 

Leipzig  und  Berlin  1917.    B.  G.  Teubner.    310  S. 

Geh.  15  M. 
Seit  dem  Erscheinen  von  S  p  r  u  n  g '  s  Lehrbuch 
wird  hier  zum  erstenmal  wieder  der  Versuch 
unternommen,  den  augenblicklichen  Stand  der  zur- 
zeit in  der  raschesten  Entwicklung  begriffenen 
Erkenntnis  von  der  Dynamik  der  Atmosphäre  in 
einer  umfassenden  Darstellung  festzuhalten,  die 
nicht  nur  für  den  meteorologischen  Forscher  be- 
stimmt ist,  sondern  für  den  weiteren  Kreis  der 
für  die  Physik  unserer  Lufthülle  Interessierten. 
Der  Versuch  muß  als  in  vorbildlicher  Weise  ge- 
lungen bezeichnet  werden.  Der  Verf.  dachte  bei 
der  Herausgabe  des  Werkes  in  erster  Linie  an 
seinen  Gebrauch  durch  Studierende.  Es  werden 
deshalb  die  Grundlagen  der  mathematischen  Physik 
vorausgesetzt.  Die  elementaren  Gesetze  derselben 
werden  zunächst  in  die  für  die  Behandlung  meteoro- 
logischer Probleme  geeignete  F'orm  gebracht  und 
die  für  die  Atmosphäre  geltenden  Grundgesetze  dar- 


N.  F.  XVI.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


495 


aus  entwickeh.  Der  Gipfelpunkt  derselben  ist  die 
von  Margules  aufgestellte  Energiegleichung  der 
abgeschlossenen  Luftmasse.  Mit  deren  Hilfe  lassen 
sich  die  vertikalen  Umlagerungen  von  Luftmassen 
quantitativ  berechnen.  Im  Anschluß  daran  werden 
die  Fälle  behandelt,  in  denen  die  dabei  zugrunde 
gelegten  Verhältnsse,  d.  h.  nebeneinanderliegende 
Luftmassen  von  ungleicher  Temperatur  auftreten. 
So  werden  insbesondere  die  großen  atmosphärischen 
Zirkulationsbewegungen,  sowie  auch  die  Strömun- 
gen in  den  wandernden  Hoch-  und  Tiefdruck- 
gebieten unserer  Breiten  dem  Verständnis  näher 
gebracht.  Es  wirdüberall  versucht, dieErscheinungen 
für  den  stationären  Zustand  festzustellen,  sowie  die 
in  der  Regel  auftretenden  Abweichungen  von 
diesen.  Auch  hierbei  schließt  sich  die  Darstellung 
eng  an  die  Arbeiten  von  Margules  an. 

Die  Darstellung  ist  im  ganzen  Buch  von  großer 


Anschaulichkeit.  Diese  wird  noch  erhöht  durch 
eine  Reihe  von  Zahlenbeispielen,  die  die  Anwen- 
dungsmöglichkeit der  abgeleiteten  Gleichungen 
zeigen,  zugleich  aber  auch  Gelegenheit  bieten, 
gegebenenfalls  auf  die  Schwächen  der  Theorie 
hinzuweisen,  was  mit  großer  Unparteilichkeit  ge- 
schieht. Schwierigere  und  umständliche  mathema- 
tische Ableitungen  sind  vermieden  oder  doch  nur 
kurz  angedeutet.  Das  Buch  wird  jedem  studieren- 
den und  lehrenden  Physiker,  der  sich  über  die 
wichtigsten  Fragen  der  jungen  Wissenschaft  einen 
genaueren  Überblick  verschaffen  will,  F"reude 
machen.  Aber  auch  der  Fachmeteorologe  wird 
es  mit  Gewinn  lesen,  zumal  ihm  die  zahlreichen 
eingestreuten  Literaturnachweise  —  bis  Mitte  191 5 
reichend  —  beim  weiteren  Forschen  gute  Dienste 
leisten  können.  Scholich. 


Anregungen  und  Antworten. 


In  der  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XV  Nr.  52  vom  vorigen 
Jahre  findet  sich  auf  Seite  747  unter  „Wie  unsere  Feinde 
rechnen"  eine  Mitteilung  über  ein  bei  den  Russen  gebräuch- 
Uches  Verfahren  zur  schriftl.  Auflösung  größerer  Multiplikationen. 
„Es  handle  sich  um  die  Vervielfältigung  l2X'li  so  wird  die 
eine  Zahl  fortdauernd  halbiert  und  (unter  Vernachlässigung 
der  Bruchteile  einer  ganzen)  die  Quotienten  nebeneinander  ge- 
schrieben. Die  andere  Zahl  aber  wird  immer  verdoppelt  und 
die  Produkte,  zu  deren  Erzeugung  der  arithmetische  Verstand 
jener  Völkerschaften  ausreicht,  darunter  geschrieben.  Also  im 
vorliegenden  Falle  : 

12         6         3  I 

II         22       44      8S 
Dann   werden  ausschließlich  aus  der  unteren  Reihe  die  Zahlen, 
die  unter  einer  ungeraden  der  oberen  Reihe  stehen,  zusammen- 
gezählt.    444-88^132  ist  das  gesuchte  Produkt."     Oder: 

11  S  2  1 

12  24      48      96 
12  +  24  +  96  =  132. 

Die  allgemeine  Richtigkeit  des  Verfahrens  ergibt  sich  aus  folgen- 
der Betrachtung  :  Jede  ganze  Zahl  Z  läßt  sich  als  Summe  einer 
Potenzreihe  von  2  mit  ganzen  fallenden  Exponenten  darstellen  :  ') 


')  Der  Beweis  für  beliebige  ganze  Z^2n+ 20  '  +  2n-- +  . . . 
+  2'  +  2-  +  2'  + 2"  unter  den  angegebenen  Bedingungen  wird 
sich  so  gestallten: 

Jede  ganze  Zahl  ist  entweder  =  dem  Produkt  einer  anderen 
ganzen  Zahl  mit  der  Zahl  2  oder  :=  einem  solchen  Produkt  +  I. 

So  ist  die  Zahl  7„  =  2.Zi  +(|  ±  |),  wo  d.is  obere  Zeichen 
für  ein  ungerades,  das  untere  für  ein  gerades  Z„  zu  nehmen  wäre. 

Z[   läßt  sich  ebenso  zerlegen ; 

Z,=2.Z,  +  (1±^) 
Z,  =  2.Z3  +  (.±1) 
und  so  fort,  bei  der  nten  Zerlegung  Zn— ,  =  2Zn+  Li  +  ' ),  wo- 
bei das  positive  Zeichen  bei  ungeraden,   das  negative  bei   ge- 
raden Zi.Zj  .  .   .  Zn— ,  zu  verwenden  wäre. 

Ist  die  nie  Zerlegung  die  letzte,    die   eine  ganze  Zahl  er- 
gibt, so  ist  Zn^  I ;  daraus  folgt: 
7.n-.  =  2.I  +  (.±.) 
Z_  =  2.Z„-,  +  (.±.)  =  2.[2.:+(.±.)]  +  (.±.) 

=  2^  +  2.(.±.)  +  20(.±l) 
Z„^,=2Z„_,+(.±.)  =  2.[2^  +  2'(.±.)  +  2^(.±.)]  + 
a±i)=2»+2^(^±^)  +  2'(^±.)+20(.±.) 
schließlich      Z„  =  2n  +  2n->(^±|)  +  2n-'    (^±^)+    .    .    . 
+  2'-(^±^)  +  2«(.±^) 
Je  nachdem  in  den  einzelnen  Summanden  (l  +   • )    oder 


Z  =  2n+2n-i+2n-2  +  ...  +  22+2'  +  2<', 

in  der   jedoch    eine    oder    mehrere    Potenzen    von  2    ausfallen 

können.     Für  unseren  Zweck  möge  folgender  Hinweis  genügen : 

1=2",  2  =  2',  3  =  2'  +  2'',.  ..  7  =  2'  +  2'  +  20..., 

22  =  2*  +  2^  +  2'  .  .  .,    76  =  2''  +  2^+2'-    USW. 

Ob  die  Zahlen  ungerade  oder  gerade  sind,  ersieht  man  aus  dem 

letzten   Glied  der  Summe,    das  bei  ungerader   Zahl  2"=!   ist. 

Seien  nun  2a,  2b,  2c,  2d,  2"  die  nicht  ausfallenden  Potenzen, 

so  wäre  Z  =  2a +  2b +2c  +  2d +2",  also  ungerade. 

Die  erste  Reihe  der  russ.  Rechnungsart  wird  durch  auf- 
einanderfolgende Divisionen  durch  2  unter  Vernachlässigung 
von  Restbruchteilen  gewonnen.  Das  Ergebnis  ist  nur  dann 
eine  ungerade  Zahl,  wenn  der  letzte  Summand  der  neuen,  nach 
der  Division  durch  2  erhaltenen  Summe  2°  ist.  Das  tritt  in 
unserem  Falle  nach  der  dten,  ci<"n,  bten  und  aten  Division 
ein.  Wir  bilden  die  I.  Reihe  unter  Berücksichtigung  nur  der 
ungeraden  Ergebnisse: 

Z 
Z  2d 

2a+2b+2c+2d+2»...  2a-d  +  2b-d  +  2C-d  +  2«  .  .  . 
ungerade  ungerade 

Z  Z  Z 

2C  2b  2a 

2a— c  +  2b-c  4-  2"   .    .    .    2a-b  +  2"   ...    2» 

ungerade  ungerade        ungerade. 

Soll  das  Produkt  Z.N.  gebildet  werden,  so  wird  die 
2.  Reihe  nach  Art  der  Russen  dadurch  gewonnen,  daß  die 
Zahl  N  oder  N.2<'  fortgesetzt  verdoppelt  wird,  und  lautet 
demnach  unter  Berücksichtigung  nur  der  Glieder  die  unter 
ungerade  Zahlen  der   I.  Reihe  zu  stehen  kommen. 

N^"   .   .    .   N.2d    .   .    .   N-2C    .   .   .    N.2b  .   .   .   N.2a. 

Die  Addition  dieser  Glieder  liefert  das  gesuchte  Produkt : 

N    2<'  +  N-2d  +  N.2C+N-2b+N.2a  = 

N.(2«  +  2d.f  2C+2b  +  2a)  =  N-Z. 

Ist  Z  gerade,  fehlt  also  in  der  Summe  das  Glied  2*,  so  lauten 

die  Reihen: 

2    +2b  +  2c+2d  .    .    .    2»- d+ 2b-d  +  2C— d+ 2«   .    .    . 
gerade  ungerade 

N-2'>  N.2d 

2a— c_j_2b-c  +  2''   .    .   .   2a— b+2''  ...        2" 

ungerade  ungerade  ungerade 

N-2C  N-2b  N.2a 


Jen    di( 


fX — t)  zu    nehmen    ist,    bleiben    oder     verschv 
Summanden. 

Zb  ist  demnach  =  der  Summe  einer  Potenzreihe  von  2 
mit  ganzen,  fallenden  Exponenten,  in  der  aber  einzelne  oder 
auch  alle  Summanden  mit  Ausnahme  des  ersten  verschwinden 
können.  Dr.  Schumann. 


496 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


F.  N.  XVI.  Nr.  35 


Die  Addition  der  unter  ungeraden  Zahlen  der  I.  Reilie  stehen- 
den Zahlen  der  2.  Reihe  liefert; 

N.2d4-N.2C-|-N.2b-|-N-2a=N-(2d-)-2c4-2b-|-2a)  =  N.Z. 
Ein  Zahlenbeispiel  105-23  möge  zur  Erläuterung  dienen: 
105  =  2« -[-2''  +  2»  +  2». 

1.  Reihe:    2" ^- 2'^ -\- 2^ -\- 2"         2'^ -\- 2* -{- 2^         2*4-2''  +  2' 

ungerade 

2.  Reihe:  23-2<'  23-2'  23-2- 


23 

46 

92 

2^ +  2-^ +  2» 

2^  +  2' 

2'  +  2" 

2" 

ungerade 

ungerade 

ungeradf 

23.2» 

23    2* 

23-2'> 

23-2" 

1S4  368  736  1472 

23  ■  2'»+  23-2ä+23  •  2-'+  23  •  2'>^23  •  (2»-^ 2'+2*4-2'')=23  -105. 
Die  Addition  der   Werte  ergibt 

23+184  +  736+1472  =  2415  =  23   105. 

Prof.  Heinzerling. 

Über  „Mehlerde"  im  Anhaltischen  1617.  Anna  Hopffe 
brachte  in  NrT^l  (vom  27.  Mai  1917,  S.  286  f.)  dieser 
„Wochenschrift"  einige  Notizen  über  die  Infusorienerde, 
das  sog.  Bergmehl,  als  Sätligungsmittel  für  Menschen  und 
Tiere.  Es  ist  vielleicht  angebracht,  den  Blick  auf  eine  histo- 
rische Miszelle  zu  lenken,  die  sich  in  Karl  von  Weber's 
Werk  ,,Aus  vier  Jahrhunderten"  (Neue  Folge,  I.  Bd.,  Leipzig 
1861,  S,  391  f.)  findet. 

Im  Jahre   16 17,  als  der  Kurfürst  Johann  Georg  I.  sich  zu 


Zabeltitz  aufhielt,    d 


rang 


Kunde 


nderbar 


Naturereignis  zu  seinen  Ohren.  „Es  quelle",  so  hieß  es,  „zu 
Klicken  unter  denen  von  Lattorf,  im  Fürstenthum  Anhalt,  Mehl 
aus  der  Erde  und  daß  man  dasselbe  zum  Backen  gebrauchen 
solle".  Sofort  schickte  der  sächsische  Fürst  einen  Boten  an 
den  Hauptmann  zu  Wittenberg  mit  dem  Befehl  an  jenen  ab ; 
„er  solle  eine  beglaubte  Person  dahin  abordnen,  von  dem 
Mehl  ein  Mühlmaaß  voll  übersenden  und  da  man  auch  Brot 
und  Kuchen  davon  backen  solle,  einen  Kuchen  und  Brot  mit 
überschicken". 

Der  Bote  kam  zwar  ohne  Kuchen,  aber  mit  einem  Stück 
Brot,  einer  gewissen  Menge  des  Bergmehles  und  folgendem 
Bericht  des  Hauptmanns  Daniel  von  Koseritz  vom  23.  Mai 
1617   aus  Wittenberg  zurück: 

„Ew.  Churf.  Gn.  gnädigstem  Befehlich  zu  unterthänigster 
gehorsamer  P'olge,  habe  ich  alsobald  eine  beglaubte  Person, 
so  man  sonsten  allhier  im  Amte  zu  allerhand  Verschickungen 
gebraucht,  an  den  Ort,  da  das  vermeinte  Mehl  zu  befinden,  ab- 
gefertigt und  dessen  etwan  ein  Mühlmaaß  abholen  lassen, 
welches  Ew.  Churf.  Gn.  Zeiger  überantworten  wird.  Verhalte 
Ew.  Churf.  Gn.  daneben  unlerthänigst  nicht,  daß  anfänglich 
zwar  ein  groß  Geschrei  davon  gewesen,  das  Volk 
auch  Haufenweise  von  vielen  Orten  dahingelaufen,  und  weil 
der  Ort,  da  es  vorhanden,  an  einem  hohen  Sandberge,  so  an 
einem  stillen  Wasser  liegt  und  nur  etzliche  Adern  dieses  Mehls 
hineingehn,  haben  sie  denselben  immer  tiefer  nachgefolgt,  daß 
endlich  die  vergangene  Woche  drei  Mägde  und  ein  I-Cnecht 
in  einem  Loch  durch  die  einschießende  Erde  erdrückt  und 
todt  herausgebracht  worden.  Jetzo  aber  befinden  diejenigen, 
so  etwas  geholt,  daß  das  Brot  so  davon  gebacken 
wird,    zu    essen    gar  untauglich,    wenn    sie    es    schon 


mlich  mit  anderm  guten  Mehl  vermengen,  daß  es  also  fast 
hts  mehr  geachtet  wird,  inmaaßen  ich  dann  kein  ganz  Brot, 
von  diesem  Mehle  gebacken,  sondern    nur  etzliche  Stücke, 
dem  Boten  gleichfalls  zugestellt,  bekommen  können". 
Dresden.  Rudolph  Zaunick. 


Goethes     Zikade 


Heuschrecken.  Aus  Goethes 
„Italienischer  Reise"  ist  zu  ersehen,  daß  Goethe  Zikaden 
wenigstens  der  Stimme  nach  gekannt  hat.  Denn  nichts  anderes 
als  Singzikaden  können  die  ,, Heuschrecken ,  die  gleich  bei 
Sonnenuntergang  zu  schrillen  anfangen",  gewesen  sein,  deren 
Töne  Goethe  am  10.  September  1786  in  Trieut  mit  folgenden 
Worten  beschreibt:  ,,Das  Glocken-  und  Schellengeläute  der 
Heuschrecken  ist  allerliebst,  durchdringend  und  nicht  unan- 
genehm. Lustig  klingt  es,  wenn  mutwillige  Buben  mit  einem 
Feld  solcher  Sängerinnen  um  die  Wette  pfeifen,  man  bildet 
sich  ein,  daß  sie  einander  wirklich  steigern."  Goethe  schreibt 
hier  also  statt  Zikade  Heuschrecke,  während  er  statt  Heu- 
schrecke Zikade  setzt  in  den  Worten,  die  Mephistopheles 
spricht,  um  den  Menschen  zu  charakterisieren: 

,,Er  scheint  mir,  mit  Verlaub  von  Ew.  Gnaden, 

Wie  eine  der  langbeinigen  Zikaden, 

Die  immer  fliegt  und   fliegend  springt 

Und  gleich  im  Gras  ihr  altes  Liedlein  singt. 

Und  lag'  er  nur  noch  immer  in  dem  Grase! 

In  jeden  Quark  vergräbt  er  seine  Nase." 
Mir  scheint  diese  Namensverwecbselung  eine  Ungenauig- 
keit,  nicht  gerade  schlimmer,  als  wenn  der  Volksmund  jeden 
Nachtfalter  Motte,  jede  Kerbtierlarve  Wurm  und  jedes  See- 
schneckengehäuse Muschel  nennt,  und  es  fragt  sich,  ob  man 
das  in  einem  dichterischen  Werke  einen  Fehler  nennen  dürfte. 
Bewundern  muß  man  dagegen  den  Sinn  für  echte  Wirk- 
lichkeit und  die  Treffsicherheit,  mit  der  Goethe  in  wenigen 
Versen  das  vielseitige  Gebahren  der  Heuschrecken  einwandfrei 
und  genau  zu  schildern  vermocht  hat.  Hierin  übertrifft  Goethe 
weit  Lafontaine  und  alle  anderen  mir  bekannten  Dichter, 
die  je  das  Heuschreckenleben  besungen  haben.  Diese  Be- 
obachtungsgabe ist's,  was  Goethe  zum  Naturforscher  unter 
den  Dichtern  machte ,  und  dies  ist's  offenbar  auch,  was  ihn 
alle  menschlichen  Verhältnisse  so  echt,  so  wahr  sehen  ließ, 
daß  darum   seine  Werke  ewigen  Wert  haben.     V.  Franz. 


Literatur. 

Kraepelin,  Prof.  Dr.  K.,  E.xkursionsflora  für  Nord- 
und  Mitteleuropa.  8.  verbesserte  Aufl  Mit  625  Holzschnitten 
und  einem  Bildnis  des  Verfassers.  Leipzig  und  Berlin  '17, 
B.  G.  Teubner.  —  4,80  M. 

Neeff,  Dr.  Fr.,  Gesetz  und  Geschichte.  Eine  philo- 
sophische Gabe  aus  dem  Felde.  Tübingen  '17,  C.  J.B.Mohr.  — 
I  M. 

Hettner,  Prof.  Dr.  A.,  Englands  Weltherrschaft  und 
ihre  Krisis.  3.  umgearbeitete  Aufl.  des  Werkes  ,, Englands 
Weltherrschaft  und  der  Krieg".  Leipzig  und  Berlin  '17, 
B.   G.  Teubner.  —  4,80  M. 

D  ann  enbe  rg,  P.,  Zimmer- und  Balkonpflanzen.  3.  Aufl. 
Mit  einem  Titelbild  und  38  Abbildungen.  Leipzig  '17, 
Quelle  &  Meyer.  —   1,80  M. 


Inhalt!  Johannes  Theel,  Über  die  Bedeutung  der  Größe  für  Organismen.  (l  Abb.)  S.  4S1.  Max  Frank,  Abschätzen 
von  größeren  Entfernungen  unter  Berücksichtigung  der  Luftperspektive.  S.  486.  —  Einzelberichte :  Hans  Stübler, 
Der  Spiegelfleck  am  Vogelköpfchen.  S.  4S8.  W.  Schuster,  Über  das  Gewicht  lebender  Vogeleier.  S.  488.  Freiherr 
V.  Berg,  Abnehmen  der  Waldschnepfen.  S.  488.  Van  Maanen,  Spiralnebel.  S.  489.  —  Photometrische  Bestimmung 
der  Helligkeit.  S.  489.  W.  Herr,  Einfluß  der  Größe  der  Moleküle  auf  die  Löslichkeit.  S.  490.  Glühkathoden- 
Röntgenröhre.  S.  490.  Karl  Pieiffenberge  r,  Schilddrüsenstörungen  und  Meereshöhe.  S.  491.  —  Bücherbespre- 
chungen: E.  Werth,  Das  Eiszeitalter.  S.  492.  Fr.  Machatschek,  Gletscherkunde.  S.  492.  A.  Hesse  und 
H.  Großmann,  Englands  Handelskrieg  und  die  chemische  Industrie.  V.  Karl  Löffl,  Die  chemische  Industrie 
Frankreichs.  S.  493.  Adolf  Naef,  Die  individuelle  Entwicklung  organischer  Formen  als  Urkunde  ihrer  Slammes- 
geschichte.  S.  493.  Felix  M.  Exner,  Dynamische  Meteorologie.  S.  494.  —  Anregungen  und  Antworten :  Wie  unsere 
Feinde  rechnen.  S.  495.  Über  ,, Mehlerde"  im  Anhaltischen  1617.  S.  496.  Goethes  Zikaden  und  Heuschrecken.  S.  496. 
—  Literatur:  Liste  S.  496. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  1 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Na 


validenstraße  42,  erbe 
nburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  i6.  Band ; 
der  ganzen  Reihe   32.  Band. 


Sonntag,  den  9.  September  1917. 


Nummer  36. 


Über  Vitamine,  Ergänzungsstoffe,  Amidosäuren,  Eiweißkörper 
und  einige  Stoffwechselkrankheiten. 


[Nachdruck  verboten," 


Dr.  E.  P.  Häußler. 


In  einer  früheren  Abhandlung  in  der  „Naturw. 
Wochenschr."  habe  ich  gezeigt, ')  daß  es  zwischen 
chemisch  ziemlich  verschiedenartigen  Stoffen,  wie 
Aminen  einerseits  und  Proteinen  oder  Eiweiß- 
körpern andererseits,Beziehungen  gibt  und  Zwischen- 
glieder, deren  wichtige  Rolle  in  der  Natur  man 
erst  in  den  letzten  Jahren  erkannt  hat,  und  die 
sehr  wahrscheinlich  mit  verschiedenen  anderen 
Gruppen  chemischer  Verbindungen  verwandt  sind, 
die  man  in  der  physiologischen  und  toxikologischen 
Chemie  nachgewiesen  und  über  deren  chemische 
Gattung  noch  ziemliche  Unklarheit  herrscht.  Es 
sind  dies  die  Ptomaine,  die  Hormone  und  die  Toxine. 

Dasselbe  gilt  für  die  Vitamine,  über  die  ich 
nachfolgend  berichten  möchte.  Ihnen  aber  bereits 
ihren  mutmaßlichen  Plaz  in  der  Reihe  Amine- 
Amidosäuren-Proteine  anzuweisen,  wäre  einerseits 
verfrüht,  andererseits  aus  historischen  Rücksichten 
nicht  zweckmäßig,  weshalb  zuerst  die  Umstände 
und  Beobachtungen  mitgeteilt  werden  mögen,  die 
auf  ihr  Dasein  hinwiesen.  Daß  ich  hierbei  eine 
größere  Anzahl  von  Tatsachen  und  Theorien  der 
reinen  Chemie,  der  Medizin  und  der  dazwischen- 
liegenden Grenzgebiete  heranziehen  muß,  ist  nicht 
zu  vermeiden. 

Justus  V.  Liebig  und  seine  Schüler  haben 
bekanntlich  festgesellt,  daß  neben  Wasser  und 
Mineralstoffen  Kohlehydrate,  Fette  und  Eiweiß- 
stoffe die  notwendigen  Bestandteile  aller  Nahrungs- 
mittel sein  müssen.  Bisch  off  und  Voit,  Mole- 
schott,Pettenkofer  undRubner  haben  das 
Gebiet  der  Ernährungsphysiologie  und  -chemie, 
namentlich  in  bezug  auf  die  Mindestmengen  dieser 
Stoffe,  um  weitere  fundamentale  Gesetze  bereichert. 
Der  Münchner  Physiologe  C.  v.  Voit  hat  das 
Eiweißminimum''*)  zu  lOO  g  pro  Tag  festgesetzt, 
während  ferner  nachgewiesen  wurde,  daß  in  weit- 
gehendem Maße  Fette  durch  Kohlehydrate  und 
umgekehrt  ersetzt  werden  können. 

Nun  enthalten  die  Mehle  unserer  Getreidekörner 
neben  Stärke  und  Mineralstoffen  noch  größere 
oder  kleinere  Mengen  von  Proteinen,  so  daß  sie, 
als  Mehl  oder  Brot,  womöglich  noch  mit  Zusatz 
von  Fett,  verfüttert,  zur  Erhaltung  des  Lebens  und 
der  Gesundheit  genügen  sollten.  Eine  Reihe  von 
diesbezüglichen    Versuchen    ergab    aber,   daß    das 


')  „Über  Amine,  Amidosäuren  und  Eiweißkörper,  Alkaloide, 
Hormone,  proteinogene  Amine  und  Toxine"  (Naturw.  Wochen- 
schr. 31  (N.  F.  15)  1916,  S.  560). 

•')  Von  Chittenden,  Professor  inNewhaven  (Amerika), 
und  Anderen  ist  bekanntlich  das  Minimum  noch  tiefer  gesetzt 
worden. 


nicht  immer  der  Fall  war.  Von  Holst  und 
Fröhlich  ausschließlich  mit  Hafer-,  Roggen-, 
Gerste-  oder  Weizenkörnern  gefütterte  Meer- 
schweinchen starben  nach  25 — 30  Tagen.  Ein 
von  Magendie  nur  mit  Schwarzbrot  ernährter 
Hund  blieb  gesund,  während  sein,  ausschließlich 
mit  Weizenbrot  gefütterter  Leidensgenosse  stark 
abmagerte  und  nach  40  Tagen  an  Schwäche  zu 
Grunde  ging.  Ähnliche  Beobachtungen  an  Mäusen 
wurden  in  Hof  meist  er's  Laboratorium  gemacht. 
Ernährung  mit  Weizen-  oder  Gerstenmehl  hielt  die 
Tiere  2 — 4Wochen,  mit  Hafermehl  5—7  Wochen  am 
Leben,  hingegen  blieb  bei  Fütterung  mit  Roggenmehl 
das  Körpergewicht  gegen  70  Tage  auf  gleicher  Höhe 
und  nahm  sogar  zu  bei  Zusatz  von  Kleie  auf  den 
Speisezettel.  Ebenso  ertrugen  Tauben  Weizenbrot 
nicht,  wohl  aber  Weizenbrot  -f  Kleie.  Ähnliche 
Versuche  ließen  sich  noch  mehr  anführen.  Nun 
war  aber  in  allen  Fällen  genügend  Eiweiß  in  der 
Nahrung,  worauszu schließen  ist,  daß  wohl  chemisch- 
analytisch Eiweiß  gleich  Eiweiß  ist, ')  nicht  aber 
bezüglich  der  Ernährung.  Aber  nicht  nur  auf  einen, 
nach  den  üblichen  Methoden  der  Lebensmittel- 
chemie nicht  mehr  feststellbaren  Unterschied  der 
Eiweißkörper  in  den  verschiedenen  Nahrungsmitteln 
mußte  geschlossen  werden,  es  schien  auch,  daß  in 
der  Kleie  der  Cerealien  sich  Substanzen  befinden, 
die  bei  einseitiger  Mehl-  oder  Brotnahrung  zur 
Erhaltung  des  Lebens  und  der  Gesundheit  not- 
wendig sind.  Und  die  dritte  Beobachtung  war 
die,  daß  verschiedene  der  klinischen  Erscheinungen, 
die  die  erkrankten  Tiere  zeigten,  Ähnlichkeit  hatten 
mit  Krankheitssymptomen,  wie  sie  beim  Skorbut 
der  Menschen  beobachtet  wurden. 

Der  Skorbut  (Scharbock)  ist  eine  Allgemein- 
krankheit, die  sich  hauptsächlich,  teils  durch  Anämie 
und  fortschreitende  Abmagerung,  teils  durch  große 
Neigung  zu  örtlichen  Blutungen  und  hämorrhagi- 
schen Entzündungen,  besonders  des  Zahnfleisches, 
auszeichnet  und  meist  epidemisch  oder  endemisch 
auftritt.  Skorbutepidemien,  zum  Teil  mit  großen 
Sterblichkeitsziffern,  traten  früher  sowohl  auf  dem 
Lande  (unter  kriegführenden  Truppen,  den  Be- 
satzungen belagerter  Städte,  den  Insassen  von 
Gefängnissen,Gefangenenlagern,Findelhäusernusw.) 

')  Die  Bestimmung  des  Eiweißgehaltes  in  Nahrungs-  und 
Futtermitteln  wird  fast  immer  durch  Bestimmung  des  „Gesamt- 
stickstoffes" oder,  genauer,  durch  Bestimmung  des  Stickstoffes 
in  dem  mit  Kupferhydroxyd  fällbaren  Anteile  =  Proteinstick- 
stoff" ausgeführt.  Durch  Multiplikation  der  so  gefundenen 
Prozente  Stickstoff  mit  einem  bestimmten  Faktor,  wie  6,05 ; 
6,25;  6,37,  je  nachdem  es  sich  um  Gemüse,  Fleisch  oder  Milch 
handelt,  erhält  man  den   Eiweißgehalt  in   Prozenten. 


498 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


als  auch  namentlich  unter  Schifisbesatzungen  auf. ') 
Daß  er  in  erster  Linie  durch  mangelhafte  und 
hauptsächlich  einseitige  Ernährung  erworben  wird, 
geht  daraus  hervor,  daß  durch  Änderung  derselben, 
Zufuhr  von  fehlenden  und  frischen  Nahrungsmitteln, 
namentlich  Gemüse,  Fleisch  und  Milch  (Landung 
des  Schiffes,  Aufhebung  der  Belagerung  u.  a.  m.) 
die  Erkrankungen  auffallend  schnell  abnahmen. 
Er  war  namentlich  noch  lange  eine  gefürchtete 
Schiffskrankheit,  die  aber  mit  dem  Aufkommen 
der  Dampfschiffahrt  und  der  damit  verbundenen 
Abkürzung  der  Reisedauer,  wie  auch  durch  rationelle 
Ausrüstung  und  Verproviantierung  der  Schiffe 
immer  mehr  verschwand. 

Anschließend  an  den  Skorbut  und  in  Hinsicht 
auf  die  nachfolgenden  Ausführungen  seien  hier 
noch  zwei  Krankheiten  genannt,  die  ähnlichen  Ur- 
sachen ihre  Entstehung  verdanken.  Die  Pellagra 
(Scorbutus  alpinus,  Raphania  maisitica),  die  zum 
ersten  Male  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
beschrieben  wird,  tritt  hauptsächlich  in  Gegenden 
auf,  wo  die  Bevölkerung  nur  auf  Maisgenuß  an- 
gewiesen ist,  wie  im  nördlichen  Italien,  einigen 
Teilen  Österreichs,  Rußlands  und  der  asiatischen 
Türkei.  Es  ist  eine  chronische  Krankheit,  die  im 
Laufe  des  Sommers,  wenn  die  Bauern  nicht  nur 
auf  Mais  angewiesen  sind,  sondern  auch  Obst  und 
Gemüse  genießen,  wieder  nachläßt.  Neben  Magen- 
und  Darmerscheinungen,  sowie  nervösen  Störungen 
sind  ihre  Hauptmerkmale  besondere  Rötung  und 
schmerzhafte  Empfindsamkeit  der  von  der  Sonne 
bestrahlten  Hautstellen,  Muskelschwäche  und  all- 
mähliche Abmagerung,  zum  Teil  mit  tödlichem 
Ausgang.  Bis  vor  wenigen  Jahren  hielt  man  sie 
für  eine  Intoxikation,  nach  einigen  Forschern  ver- 
ursacht durch  Pilze,  die  sich  am  Maiskorn  entwickeln, 
nach  anderen  (so  nach  Lombroso)  durch  Produkte 
des  Maiskornes,  die  an  sich  unschädlich  sein  sollen. 
Als  Therapie  wurde  und  wird  hauptsächlich  aus- 
reichende und  wechselreiche  nahrhafte  Kost  emp- 
fohlen und  Verwendung  von  gesundem  Mais.  So 
wie  der  Mais  eine  wichtige  Rolle  spielt  bei  der 
Pellagra  steht  der  Reis  in  enger  Beziehung  zu 
einer  anderen  Krankheit,  dem  Beri-Beri. ") 
Dieser,  die  Kak  ke  der  Japaner  (Polyneuritis 
endemica  perniciosa)  ist  bedeutend  weiter  ver- 
breitet, so  an  den  Küsten  von  Vorder-  und  Hinter- 
indien, auf  den  Inseln  des  indischen  Archipels,  den 
Molukken,  der  Ostküste  von  China  und  im  japa- 
nischen Inselreich,  aber  auch  auf  den  Antillen  und 
in  Gebieten  von  Brasilien.  Die  auffallendsten  und 
gefährlichsten  Erscheinungen  zeigen  sich  am  Nerven- 
system und  an  den  Zirkulationsorganen.  Die  Verhee- 
rungen, welche  die  Krankheit  unter  den  betroffenen 
Völkern  anrichtet,  sollen  bedeutend  größer  sein  als 


')  Schwere  Skorbutepidemien  waren  die  im  Kreuzzugs- 
heere Ludwigs  IX.  vor  Kairo,  die  unter  der  Schiffsmannschaft 
Vasco  de  Gamas  auf  seiner  Fahrt  nach  Ostindien  und  die  in 
Ruflland  im  Jahre  18-19.  Dann  wurden  auch  noch  in  neuerer 
Zeit  Polare-xpeditionen  schwer  von  Skorbut  befallen. 

'')  Das  Wort  erscheint  in  der  Literatur  bald  mit  männ- 
lichem, bald  mit  weiblichem  .Artikel. 


bei  der  Pellagra.  Auch  hier  sind  zahlreiche 
Hypothesen  über  ihre  Ursachen  mit  viel  Eifer  und 
großem  Beobachtungsmaterial  gegeneinander  ver- 
fochten worden.  Man  gab  dem  Klima  die  Haupt- 
schuld, den  hohen  Graden  von  Luftfeuchtigkeit 
und  dem  starken  Temperaturwechsel,  hauptsäch- 
lich aber  der  mangelhaften  Ernährung.  Daß  die 
Ernährung  mit  Reis  in  engem  Zusammenhang  mit 
dem  Beri-Beri  stehe,  wurde  ebenfalls  festgestellt. 
„Die  dem  endemischen  Beri-Beri  unterworfenen 
Völker  sind  hauptsächlich  solche,  deren  Haupt- 
nahrung lediglich  aus  Reis  in  großen  Portionen 
besteht.  —  Ai-nos  (die  Ureinwohner  von  Yezo) 
sollen  überhaupt  nur  ausnahmsweise  von  Kak-ke 
befallen  werden,  die  Immunität  von  Amerikanern 
und  Pluropäern  ist  dort  ebenso  ausgesprochen  wie 
auf  den  übrigen  japanischen  Inseln." ')  Durch 
Änderung  der  Kost  und  besonders  auch  durch 
Zusatz  von  Gerstenbrot  ging  sodann  in  HoUändisch- 
Indien  und  auf  den  japanischen  Inseln  die  Zahl 
der  Erkrankungen  stark  zurück;  ohne  daß  man 
sich  eine  sichere  Erklärung  für  diese  schädliche 
Wirkung  des  Reises  geben  konnte. 

Es  war  Eijkman,  der  1889  auf  Java  eine 
Reihe  von  äußerst  wichtigen  Beobachtungen 
machte,  die  bestimmt  waren,  das  Studium  dieser 
Krankheiten  in  neue  Bahnen  zu  leiten  und  von 
anderen  Gesichtspunkten  aus  die  Gesetze  der  Er- 
nährungsphysiologie zu  betrachten.  Erfand:  Hühner, 
die  ausschließlich  mit  Kochreis  (dem  weißglänzen- 
den polierten  Reis)  gefüttert  werden ,  er- 
kranken unter  PIrscheinungen,  die  auffallende 
Ähnlichkeit  mit  Beri-Beri  haben;  —  er  nannte  die 
Krankheit  Polyneuritis  gallinarum,  erfand 
ferner,  daß  die  Hühner  gesund  blieben,  wenn  die 
ganzen  Reiskörner  verfüttert  wurden,  und 
schließlich,  daß  Zusatz  von  Reis  k  1  e  i  e  zum  polierten 
Reis  die  Krankheit,  so  sie  schon  aufgetreten  war, 
zur  Heilung  brachte,  bzw.  vorher  gesunde  Tiere 
auch  ferner  gesund  erhielt. 

Also  nicht  Bakterien,  oder  Schimmelpilze  am 
Reise,  oder  gewisse  Substanzen  in  demselben, 
deren  Genuß  in  großer  Menge  giftig  wirkte,  waren 
schuld  an  der  Beri-Beri-Krankheit,  sondern  die 
Vervollkommnung  der  Maschinen,  die  zum  Polieren 
des  Reises  dienten,  die  ihn  seiner  äußeren,  wie 
man  meinte,  wertlosen  Hülle  nahezu  restlos  be- 
freiten. Damit  erklärte  es  sich  auch,  weshalb  die 
Krankheit  in  früheren  Zeiten,  wo  man  eben  über 
diese  maschinellen  Einrichtungen  noch  nicht  ver- 
fügte, noch  nicht  auftrat  und  weshalb  Völker,  die 
ihren  Reis  noch  nach  alter  Väterweise  mit  Hand- 
mühleji  mahlten,  gesund  blieben. 

Es  mußten  also  in  der  Reiskleie  Stoffe  sein, 
die  —  bei  einseitiger  Ernährung  mit  Reis  —  zur 
Erhaltung  der  Gesundheit  unbedingt  erforderlich 
waren  und  C.  Funk  versuchte  diese  Stoffe,  die 
er  Vitamine^)    nannte,    zu    isolieren.      Er    ging 

')  Zitiert  nach  Wernich  in  „Eulenburgs  Realenzyklo- 
pädie der  gesamten  Heilkunde".  Wien  und  Leipzig  1894. 
Bd.  III,  S.  230  u.  ff. 

^)  =  zum  Leben  erforderliche  Amine. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


499 


dabei  von  riesigen  Mengen  von  Reiskleie  aus  — 
gegen  4  Doppelzentner  — ,  befreite  sie  mit  Äther 
von  Fetten  und  Lipoiden  (Lecithinen  usw.)  und 
extrahierte  sodann  mit  Alkohol  und  erhielt  aus 
dem  Extrakt  durch  eine  Anzahl  weiterer  chemischer 
Prozesse  zurAbscheidung  von  Eiweißspaltprodukten 
aus  380  kg  Reiskleie  2,5  g  einer  kristallinischen 
Substanz,  die  er  weiter  in  3  verschiedene  chemische 
Körper  zerlegte,  von  denen  einer  als  Nikotinsäure  ') 
anzusprechen  war.  Zu  dieser  Verbindung  waren 
u.  a.  auch  japanische  Forscher  gelangt,  die  indessen 
die  Reiskleie  auf  andere  Weise  verarbeitet  hatten 
und  ihr  Endprodukt  „Oryzanin"  nannten,  das  schon 
in  Mengen  von  0,005 — 0.0 1  g  innerlich  oder  unter 
die  Haut  gespritzt  imstande  war,  eine  Taube  zu 
heilen,  die  an  den  geschilderten  Krankheitserschei- 
nungen infolge  einseitiger  Fütterung  mit  poliertem 
Reise  litt.  Bei  Wiederholung  seiner  Versuche 
zeigte  dann  Funk,  daß  der  Nikotinsäure  nur  ge- 
ringe heilende  Wirkung  zukommt,  hingegen  den 
beiden  anderen,  mit  ihr  abgeschiedenen  Stoffen. 
Aus  Hefe,  die  bei  Beri-Beri  verfüttert,  gute  thera- 
peutische Wirkung  zeigte,  gewannen  andere 
Forscher  einen  ähnlich  wirkenden  Körper,  eine 
„antineuritische  Base",  das  „Torulin". 

Nun  wiesen  aber  die  Ergebnisse  aller  dieser 
Untersuchungen  viele  unerklärliche  Widersprüche 
auf  Einmal  war  die  Menge  der  gewonnenen 
Vitamine  gegenüber  dem  Untersuchungsmaterial 
verschwindend  klein,  sodann  war  der  Gang  ihrer 
Abscheidung  recht  verschieden,  bald  wurde  mit 
Säuren  gekocht  (hydrolysiert),  bald  nicht,  und 
schließlich  sollen  nach  Röhmann  die  so  erhal- 
tenen wirksamen  Stoffe  keine  dauernde  Heilung 
hervorbringen,  sondern  lediglich  gewisse  Krank- 
heitssymptome, wie  namentlich  die  Lähmungs- 
erscheinungen vorübergehend  beheben,  eine  Eigen- 
schaft, die  auch  verschiedenen  anderen,  chemisch 
wohlbekannten  Stoffen,  wie  Purinen,  Pyrimidincn 
u.  a.  -)  zukommen.  Es  würde  sich  also  nicht  um  Spezi- 
fika  handeln.wie  man  sich  pharmakologisch  ausdrückt. 

Der  ebengenannte  Physiologe  hat  nun  eine 
neue  Theorie  zur  Erklärung  dieser  Erscheinungen 
aufgestellt,  ^j  die,  da  sie  recht  gut  mit  den  neueren 


und  neuesten  Tatsachen  der  Eiweißchemie  über- 
einstimmt, viel  plausibler  ist.  Wohl  veranlaßt 
durch  die  vorher  mitgeteilten  Fütterungsversuche 
von  Tieren  mit  Mehlen  mit  und  ohne  Kleiezusatz, 
hat  Röhmann  von  der  Chemie  der  Eiweißkörper 
in  unseren  Getreidekörnern  aus  seine  Betrachtungen 
angesetzt.  Das  vom  Keimling  und  der  Kleie 
(Schale  +  Aleuronschicht)  befreite  Getreidekorn, 
der  Mehlkern  enthält  neben  Stärke  (70 — 90  •'/,,) 
und  Spuren  von  Asche,  Rohfaser  und  fettähnlichen 
Substanzen  ein  Gemisch  von  Eiweißstoffen,  den 
Kleber,  ca.  8— is",,.']  Dieser  läßt  sich  durch 
Behandeln  mit  70^/0 'gern  Alkohol  wieder  in 
2  Eiweißarten  trennen,  in  die  im  Trennungsmittel 
unlöslichen  Glutenine  und  in  die  darin  löslichen 
Gliadine.  Beide'-)  sind  nun  sogenannte  „unvoll- 
ständige" Eiweißstoffe,  das  heißt  sie  ent- 
halten von  den  bis  jetzt  bekannten  17  Amido- 
säuren,  die  bei  der  Spaltung  (Hydrolyse  mit  Säuren 
oder  Enzymen)  der  bis  jetzt  untersuchten  Eiweiß- 
körper verschiedenster  Herkunft  gefunden  wurden, 
einige  nicht  und  andere  nur  in  sehr  geringem  Be- 
trage gegenüber  „vollständigen"  Eiweißstoffen,  wie 
z.  B.  dem  Myosin  (aus  Muskelfleisch),  dem  Ov- 
albumin  und  Vitellin  des  Hühnereies  und  anderen 
mehr.     Das  geht    aus  folgender  Tabelle ')  hervor. 

Des  ferneren  sollen  manche  Gliadine  arm  sein 
an  Tryptophan,  während  sie,  auf  Kosten  der  andern 
Amidosäuren,  große  Mengen  von  Glutaminsäure 
enthalten.     (Weizengliadin  fast  50  "z^,.) 

Also  schon  rein  chemisch  betrachtet,  erweisen 
sich  die  Eiweißstoffe  der  Getreidemehle  als  nicht 
gleichwertig  mit  denen  des  F'leisches,  der  Eier 
und  anderer  Nahrungsmittel.  Aber  auch  die  biolo- 
gischen Versuche  führten  zu  diesem  Resultate, 
und  zwar  nach  der  Richtung,  daß  die  Cerealien- 
mehlproteine  gegenüber  den  anderen  minderwertig 
sind.  Osborne  und  Mendel  konnten  junge 
Ratten  mit  Milcheiweiß  aufziehen,  nicht  aber  mit 
Gliadinen,  gemischt  mit  Stärke,  Zucker,  Fett  und 
Salzen.  Entweder  magerten  die  Tiere  allmählich 
ab  oder  der  Tod  erfolgte  nach  plötzlichem  Ge- 
wichtssturz. Aber  nicht  nur  bei  Zusatz  von  Milch 
zu  der  Gliadinnahrung,  auch  bei  Zusatz  von  Lysin 


100  Teile  des  betreffenden  Eiweißes  liefern  bc 


Gliadin 

die  Amidosäuren 

aus  Weizen 

aus  Roggen    j    aus  Gerste 

aus  Mais 

Hisüdin 

1,71 

1,90 

1,76 

0,61 

0,39                    1,28 

0,43 

Arginin 

4.91 

7,45 

4.72 

3.16 

2,22                     2,16 

1,16 

Lysin 

3.76 

4,81 

1,92 

+ 

0,00                    0,00 

0,00 

und  Ammoniak 

1.34 

1,25 

4,02 

5,11 

5-'>         '          4,87 

3,ö3 

N'. 


\ 


•)  =  Spallprodukt  des  Nikotins, 

"^COGH 

2)   =   Spaltprodukte  von  Nukleinen  (ZellkerneiweiBstoffen). 

*)  „Die  Chemie  der  Cerealien  in  Beziehung  zur  Physiologie 
und  Pathologie"  von  Prof.  Dr.  F.  Röhmann.  Stuttgart, 
Verlag  von   Ferdinand    Enko,    19 16. 


')  Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  Weizen-  und  Roggen- 
mehl, wasserfrei,  und  variieren  nach  dem  Grade  der  Aus- 
mahlung. 

^)  Nach  Röhmann  nur  die  Gliadine,  nach  den  Analysen 
aber  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Glutenine. 

ä)  Röhmann,  loc.  cit.  S.  471. 


500 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


erholten  sich  die  Tiere  rasch  wieder  und  nahmen 
an  Gewicht  zu,  und  diese  Amidosäure  ist,  wie 
aus  obiger  Tabelle  hervorgeht,  in  Gliadin  nicht, 
und  in  Glutenin  nur  in  geringem  Maße  vorhanden. 
Ähnliche  Beobachtungen  machten  Osborne  und 
Mendel  bei  Verfütterung  von  Zein,  der  Eiweiß- 
substanz des  Maiskornes.  Hier  konnte  durch  Zu- 
satz der  Amidosäure  Tryptophan  die  Gewichts- 
abnahme aufgehalten,  oder  doch  zum  mindesten 
stark  verzögert  und  durch  Zusatz  von  Lysin, 
sowie  von  Lysin,  Arginin  und  Histidin  eine  Ge- 
wichtszunahme bewirkt  werden. 

Abderhalden  und  seine  Mitarbeiter  haben 
in  einer  großen  Zahl  von  Fütterungsversuchen 
mit  vollständig  hydrolysierten  Eiweißarten,  —  die 
also  nur  noch  aus  den  Bausteinen  des  Eiweißes, 
den  Amidosäuren  —  bestanden,  Tiere  —  sogar 
unter  Gewichtszunahme  —  ernähren  können. 
Sie  verabreichten,  hauptsächlich  Hunden,  zum  Teil 
neben  Fetten  und  Kohlehydraten,  vollkommen 
hydrolysiertes  Pferdefleisch,  ferner  vollkommen 
hydrolysiertes  Kasein  und  erzielten  Gewichts- 
zunahme. ')  Nun  schieden  sie  aus  dem  zu  ver- 
fütternden Amidosäurengemisch  eine  Komponente, 
das  Tryptophan,  vorherabund  prompt  trat  negative 
Stickstoffbilanz  ^)  ein,  die  durch  Zusatz  des  fehlen- 
den Tryptophans  wieder  positiv  wurde.  Eine 
Anzahl  solcher  Versuche  ergab  immer  die  gleichen 
Resultate  und  sie  stehen  vollkommen  in  Überein- 
stimmung mit  denen  von  Mendel  und  Osborne. 

Erinnern  wir  uns  kurz,  daß  die  artfremden  Ei- 
weißstoffe der  Nahrung  im  Magendarmkanal  bis 
in  die  einfachsten  Teilstücke,  die  Amidosäuren 
gespalten  werden,  diese  in  die  Darmwand  eintreten 
und  dort  wieder  zu,  nun  arteigenen,  Eiweißstoffen 
zusammengesetzt  werden,  so  folgt  aus  obigen  Ver- 
suchen, daß  der  Körper  zur  Bildung  seiner  Eiweiß- 
körper notwendig  auch  der  Amidosäure  Tryptophan 
bedarf,  und  diese,  wenn  sie  nicht  in  der  ver- 
fütterten Eiweißart  vorkommt,  nicht  selbst  zu 
bilden  vermag.  Anders  verhält  es  sich  z.  B.  mit 
der  —  chemisch  —  einfachsten  Amidosäure,  dem 
Glykokoll,  das  der  tierische  Organismus  wohl  für 
seine  Eiweißsynthesen  braucht,  das  er  sich  aber,  wie 
aus  Versuchen  von  Abderhalden  hervorgeht, 
selbst  herstellen  kann. 


Werfen  wir    noch    einmal    einen    kurzen  Blick 
auf  die  beiden  anderen  wichtigen  Bestandteile  der 
Nahrungsmittel,    die  Fette    und  die  Kohlehydrate, 
um    die  Wichtigkeit    der    soeben    erörterten    Be- 
obachtungen   richtig    würdigen    zu    können.     Die 
Spaltprodukte  der  Kohlehydrate  (Stärke,  Glykogen, 
Inulin,  Gummiarten,  Milchzucker,  Malzzucker,  Rohr- 
zucker, Fruchtzucker  usw.)  sind  Hexosen  und  Pen- 
tosen, aus  denen  der  Organismus  wieder  alle  die 
obengenannten  Di-  und  Polysaccharide  aufzubauen 
vermag,  oder  die  vollkommen    verbrannt  werden. 
Die  chemische  Struktur    dieser  einfachen  Zucker- 
arten   zeigt    aber    nur    ganz  geringe  Unterschiede. 
CH,,OH  •  CHOH  •  CHOH  •  CHOH  •  CHOH  ■  CO  •  H 
Traubenzucker,  ebenfalls  Galaktose 
CH2OH .  CHOH  •  CHOH  •  CHOH  •  CO  ■  CH2OH 
Fruchtzucker. 

Das   gleiche   gilt  für  die  Fette;    sie    enthalten 
alle  Glyzerin,  verbunden  (verestert)  mit  Fettsäuren, 
die  sich  im  allgemeinen    nur    durch    verschiedene 
Länge  ihrer  —  CHj — ketten,  und  zum  Teil  einige 
Doppelverbindungen  unterscheiden 
CH^OH-CHOH-CRjOH 
Glyzerin. 
CH3(CH2l6CH„— CH2-  (CHjJe— COOH 

=  Palmitinsäure 
CH3(CH2)j^CH2— CH.,-(CH.j),-COOH 

=  Stearinsäure 
CH3(CH2),-CH  =  CH-(CH2),-COOH  =  Ölsäure. 

Durch   sukzessive  Abspaltung   und    Oxydation 

der  langen — CHj — CHj reihen  der  Fettsäuren 

entstehen  niedere  Oxysäuren  mit  wenig  Kohlen- 
stoffatomen, die  sich  auch  bilden  durch  Spaltung 
und  Oxydation  der  Zucker.  Ferner  zeigt  schon 
ein  Blick  auf  die  Formeln  des  Glyzerins  und  des 
Traubenzuckers,  daß  diese  ihrer  Struktur  nach 
viel  Ähnlichkeit  miteinander  haben.  Daß  bei  der 
Ernährung  Kohlehydrate  durch  Fette,  und  um- 
gekehrt Fette  und  Öle  durch  Stärke  und  Zucker 
ersetzt  werden  können,  dürfte  bekannt  sein  und 
wurde  eingangs  schon  erwähnt.  Betrachten  wir 
uns  hingegen  die  verschiedenen  Formeln  der  Eiweiß- 
bausteine, der  Amidosäuren,  so  werden  wir  leicht 
große  Unterschiede  unter  den  einzelnen  Spalt- 
stücken feststellen  können. 


1.  Monoamidosäuren    mit    offener    Kette    (von  C- Atomen) 

(einbasisch) 

z.  B.  Glykokoll     CHjNH^-COOH 

Alanin  CHg— CH^NH,— COOH 

Leucin  CH3-CH— CH^— CH.^NH^-COOH 

CH3 

2.  Monoamidosären  mit  offener  Kette 

(zweibasisch) 

z.B.  Asparaginsäure  COOH— CH.j— CH-NH^— COOH 

Glutaminsäure    COOH— CH^-CHj-CHNHj— COOH. 


1)  „Synthese  der  Zellbausteine  in  Pflanze  und  Tier"  von  Prof. 
Dr.  E.  A  b  d  erhal  d  en.      1912.     Berlin,  Verlag  von  J.  Springer. 

'')  Negative  Stickstoftbilanz  ist  vorhanden,  wenn  mehr 
Stickstoff  (in  Form  von  Harnstoff  usw.)  im  Harn  ansgeschieden 


wird,  als  er  in  Form  von  Eiweiß  in  der  Nahrung  zugeführt 
wurde,  die  Mehrausgabe  erfolgt  durch  Zersetzung,  „Einschmel- 
zung"  von  Körpereiweiß  und  verursacht  Abmagerung,  positive 
N-bilanz  =  Gewichtszunahme. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


3.  Diamidosäuren  mit  offener  Kette. 

wie  Lysin  CH^NHä-CH,— CH,— CH^-CH^NHa— COOH 
und  Arginin  HN=C— NH-CHj-CH.,— CH^— CH^NH^— COOH 

NU, 

Eine  offene  Kette  haben  ferner  Valin,  Serin,  das  den  Zuckern  sehr  nahestehende  Glukosamin 
und  das  schwefelhaltige  Cystin. 

=  CH2NH3-CH2— S— S-CH2-CH2NH2 

I  I 

COOH  COOH 


4.  Vom  Benzolkern  leiten  sich  ab 


yCH-CHx. 

Phenylalanin  CH<f  >CH— CH^-CH.NH^— COOH 

\CH=CH/ 


und  Tyrosin  HOcT         ^-CH.j-CHij— NH^-COOH 

5.  vom  Indolkern       das  Tryptophan  CH 

HC/^C  CH— CH.-CHjjNHa-COOH 

HC\    Jc\     JCH 


C  N 

I 

H 
6.  vom  Pyrrolidinkern    das  Prolin     CH.2 — CHj 

I  I 

CH,     CH-COOH 


NH  und  das  Oxyprolin 

und  7.  vom  Imidazolkern    das  Histidin     CH  =  C— CH.-CHgNHa— COOH 

I         I 
NH    N 


CH 


Es  erscheint  somit  sehr  wahrscheinlich,  daß 
nicht  nur  das  Tryptophan,  sondern  noch  ver- 
schiedene andere  dieser  Verbindungen  vom  Orga- 
nismus nicht  selbst  hergestellt  werden  können. 
Da  er  sie  aber  zur  Bildung  verschiedenster  Arten 
seiner  eigenen,  arteigenen,  Eiweißmoleküle  not- 
wendig braucht,  so  wird  er  sich  wohl  auf  folgende 
Weise  helfen.  Er  wird  zum  Teil  seine  eigenen 
Eiweißmoleküle  wieder  abbauen,  und  zwar  zuerst 
das  Muskeleiweiß,  dann  wird  er  aber  auch  zahl- 
reichen wichtigen  Organen  nicht  mehr  die  nötigen 
Beträge  neuer  Eiweißmoleküle  zuführen  können. 
Die  dadurch  verursachten  Störungen  treten  als 
Krankheitssymptome  zutage,  verursacht  letzten 
Endes  durch  ungenügende  Zufuhr  der  notwendigen, 
volhveriigen  Eiweißstoffe  durch  die  Nahrung. 

Nicht  vollwertige  oder  „unvollständige"  Ei- 
weißstoffe sind  nun  u.  a.  eben  die  Gliadine,  wie 
aus  den  mitgeteilten  physiologischen  Versuchen 
und  chemischen  Betrachtungen  hervorgeht.  „Wenn 
unsere  Vorstellungen  vom  Eiweißabbau  im  Magen- 
darmkanal und  anschließendem  Aufbau  in  der  Darm- 
wand richtig  sind,  dann  muß  man  a  priori  an- 
nehmen,   daß  nicht  jede  Eiweißart   für   den  tieri- 


schen Organismus  gleichwertig  ist.  Wir  müßten 
vielmehr  erwarten,  daß  von  solchen  Proteinen,  die 
bei  der  vollständigen  Spaltung  ein  Gemisch  von 
Aminosäuren  liefern,  das  in  seinen  Mengenverhält- 
nissen an  einzelnen  Bausteinen  am  besten  dem 
Aminosäuregemisch  entspricht,  das  man  bei  der 
Hydrolyse  der  Plasmaeiweißkörper  erhält,  die  ge- 
ringsten Mengen  gebraucht  werden.  Es  müßte 
z.  B.  das  Gliadm,  daß  außerordentlich  viel  Glutamin- 
säure enthält,  gegenüber  einem  Protein,  das  die 
eben  erwähnten  Eigenschaften  besitzt,  entschieden 
minderwertig  sein."  ') 

Wie  die  Versuche  von  Osborne  und  Mendel 
gezeigt  haben,  müssen  bei  Gliadinfütterung  die 
fehlenden  Amidosäuren  zugesetzt  —  „ergänzt"  — 
werden.  „Damit  also  eine  Nahrung  eine  aus- 
reichende ist,  muß  sie  „vollständige"  Eiweißstoffe 
enthalten,  enthält  sie  unvollständige  Eiweißstoffe, 
so  kann  dieser  Mangel  ausgeglichen  werden  durch 
Zufuhr  der  entsprechenden  „Ergänzungs- 
stoffe", ^j 


')  Abderhalden,  p.   Si. 
^j  Röhmann,   p.  474.  loc. 


S02 


Naturwissenschaftliche  Wochenschri: 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


Und  diese  Ergänzungsstoffe  finden  sich  nun 
eben  nach  R  ö  h  m  a  n  n ,  wenn  es  sich  um  Cerealien- 
mehle  handelt,  in  der  Kleie,  die  die  Waben-  oder 
Aleuronschicht  der  Getreidekörner ')  mit  ver- 
hältnismäßig viel  Eiweißstoffen  enthält.  Nicht 
Vitamine  oder  Katalysatoren  (Hopkins)  sind  es, 
die  die  wertvollen  Bestandteile  der  Reiskleie,  der 
Mais-  und  Weizenkleie  bilden,  sondern  die  er- 
gänzenden Amidosäuren.  Fehlen  diese,  so  entsteht 
bei  einseitiger  Ernährung  mit  Reis  Beri-Beri,  mit 
Mais  Pellagra  (Zeismus),  und  Skorbut  bei  aus- 
schließlichem Genuß  von,  von  Kleie  befreitem, 
Schiffszwieback;  wir  haben  es  also  weder  mit 
Intoxikations-  noch  Infektionskrankheiten  zu  tun, 
sondern  mit  Stoffwechselstörungen.  -) 

R  ö  h  m  a  n  n  gibt  selbst  zu  ,  daß  noch  ver- 
schiedene Beobachtungen  bei  Fütterungsversuchen 
mit  seiner  Theorie  nicht  im  Einklang  stehen.  So 
z.  B.  daß  manche  Nahrungsmittel  und  Stoffe,  die 
mit  Erfolg  zur  Verhütung  bzw.  Heilung  von  Beri- 
Beri  und  Polyneuritis  gallinarum  gegeben  werden 
(wie  Hefe,  Leguminosen  usw.),  ihre  günstige  Wir- 
kung bei  längerem  Erhitzen  auf  120"  und  höher 
verlieren  sollen.  Ferner  konnte  G.  Hopkins 
junge  Ratten  mit  einem  Gemisch  aus  Kasein  (also 
doch  ein  vollständiger  Eiweißstoff),  Fett,  Stärke 
und  Salzen  nicht  dauernd  ernähren,  und  erwähnt 
hierbei  auch  den  „Kinderskorbut",  wie  er  von 
Möller  und  Barlow  zuerst  beschrieben  wurde, 
der  dann  eintritt,  wenn  Säuglinge  längere  Zeit 
nur  mit  stark  sterilisierter  Kuhmilch  oder  Nestle's 
Kindermehl  ernährt  werden.  Röhmann  ver- 
mutet, daß  das  feuchte  Kasein  (das  außerdem  die 
Mol isch 'sehe  Eiweißreaktion  nicht  gebe)  beim 
Isolieren  und  Trocknen  derart  verändert  worden 
sei,  daß  es  nicht  mehr  als  vollwertiger  Eiweißstoff 
gelten  könne.  Inwieweit  diese  Beobachtungen 
und  Vermutungen  mit  den  Versuchen  von  Abder- 
halden, der  auch  bei  Fütterung  mit  vollstän- 
dig abgebautem  Kasein  mitunter  schwach 
negative  Stickstoffbilanzen  erhielt,  übereinstimmen, 
ist  noch  durch  weitere  Experimente  zu  entscheiden.^) 
Weiter  gibt  Röhmann  zu,  daß  bis  jetzt  noch 
nicht  nachgewiesen  sei,  daß  die  Eiweißstoffe  des 
Reisendosperms  unvollständig  seien  und  die  der 
Reiskleie  die  Ergänzungsstoffe  enthalten,  wenn- 
gleich infolge  der  botanischen  Verwandtschaft  des 
Reises  zum  Mais  und  unseren  Getreidearten  dies 
sehr  wahrscheinlich  sei. 

Die  Ursachen  des  günstigen  Einflusses  des 
Vollkornbrotes,    sowie  des  Zusatzes  von  Kleie  zu 


')  Bedingung  ist  natürlich,  daß  die  Kleie  auch  derartig 
fein  gemahlen  wird,  daß  die  von  einer  dichten  Zellhaut  um- 
gebenen Aleuronzellen  den  Verdauungssäften  zugänglich  werden. 

'')  So  wird  z.  B.  Beri-Beri  noch  in  neueren  Werken  als 
Infektionskrankheit  angegeben.  Vgl.  ,,Die  experimentelle 
Bakteriologie  und  die  Infektionskrankheiten"  von  W.  Kolle 
und  H.  Hetsch.  Bd.  II.,  8.915  (1911).  Urban  u.  Schwarzen- 
berg,  Berlin  u.  Wien. 

"}  Auch  die  wiederholt  aufgeworfene  Frage,  ob  und  in 
welchem  Maße  bereits  in  den  Nahrungsmitteln  vorhandene 
Fermente  zur  Ernährung  notwendig  sind,  würde  sich  vielleicht 
durch  obige  Befunde  entscheiden. 


den  Futtermischungen  hat  man  schon  früher  ver- 
schiedentlich in  ihrem  hohen  Asche-  und  nament- 
lich Calciumgehalt  sehen  wollen.  Um  aber  darauf- 
hin eine  Theorie  aufzubauen,  müßte  man  die 
chemische  Kontrolle  bei  Stoffwechselversuchen 
anders  gestalten,  statt  Bestimmung  von  Stickstoff 
und  Amidosäuren  im  Harn  quantitative  Ermitt- 
lungen der  Mineralsubstanzen  und  müßten  wir 
ferner  bereits  über  eine  ausreichende  Zahl  von 
genauen  Aschenanalysen  (sowohl  in  qualitativer, 
wie  auch  quantitativer  Beziehung)  unserer  Nahrungs- 
mittel verfügen.  Dies  ist  nun  leider  nicht  der 
Fall,  denn  früher  —  und  aus  dieser  Zeit  stammen 
unsere  diesbezüglichen  Untersuchungen,  die  immer 
wieder  zitiert  werden  —  wurden  die  zu  unter- 
suchenden Lebensmittel  zu  diesem  Zwecke  ver- 
brannt und  in  der  Asche  die  anorganischen  Be- 
standteile bestimmt.  Daß  diese  Methode  sehr  oft 
unzuverlässige  Werte  liefert,  durch  Reduktion  und 
Verflüchtigung  mancher  Metalle  und  Metalloide, 
hat  Ragnar  B  er g  i)  nachgewiesen.  Es  ist  hierzu 
unbedingt  notwendig,  „naß"  zu  veraschen,  d.  h. 
die  organischen  Bestandteile  mit  konzentrierten 
Mineralsäuren  zu  zerstören  und  dann  in  dem  so  erhal- 
tenen Gemisch  organischer  Salze  die  Anionen  und 
Kationen    qualitativ  und  quantitativ  zu  ermitteln : 

Brauchen  wir  einerseits  noch  sehr  viele  und 
zuverlässige  Aschenanalysen  von  Lebensmitteln, 
um  ganz  sicher  festzustellen,  ob  und  wie  weit  der 
Gehalt  an  anorganischen  Bestandteilen  für  die  ge- 
schilderten Stoffwechselkrankheiten  in  PVage  kommt, 
so  benötigen  wir  auch  noch  andererseits  noch  sehr 
viele  Ergebnisse  von  Hydrolysen  der  verschiedenen 
Eiweißarten  unserer  zahlreichen  Nahrungsmittel. 
Sodann  sind  die  Methoden  zur  quantitativen  Tren- 
nung und  Isolierung  der  erhaltenen  Amidosäuren 
noch  sehr  verbesserungsbedüftig,  erhält  man  doch 
günstigenfalls  nur  60 — 70  "/o  an  sicher  charakteri- 
sierten Spaltstücken  (Amidosäuren)  und  bessere 
Ausbeuten  wurden  nur  erhalten  auf  Kosten  der 
Reinheit  der  isolierten  Substanzen.  -) 

So,  wie  eine  genaue  und  in  ökonomischer 
Hinsicht  vorteilhafte  Betriebskontrolle  einer  chemi- 
schen Fabrik  nur  auf  Grund  einwandfreier  Analysen- 
methoden möglich  ist,  so  ist  auch  die  klare  und 
eindeutige  wissenschaftliche  Beantwortung  dieser 
Fragen,  die  die  ganze  Ernährung.'sphysiologie  um- 
fassen, und  tief  in  die  medizinischen  Gebiete  ein- 
greifen, nur  möglich  mit  Hilfe  genauer  chemisch- 
analytischer  Bestimmungsverfahren  und  einergroßen 
Anzahl  zu  verlässigerdiesbezüglicher  Gehaltstabellen, 
und  es  gelten  auch  hier  die  Worte  aus  Faust: 
„Nicht  Kunst  und  Wissenschaft  allein, 
Geduld  will  bei  dem  Werke  sein." 

')  Chemiker-Zeitung  XXXV,   191 1. 

•-')  ,, Allgemeine  Chemie  der  Eiweißstoffe"  von  Dr.  F, 
N.  Schulz.  Stuttgart  191 7.  S.  56,  und  schließlich  sei  noch 
daraufhingewiesen,  daß  auch  die  Abderhalden'  sehe  Theorie 
vom  vollständigen  Abbau  der  Eiweißsioffe  vor  der  Resorption 
von  Siegfried  in  Frage  gestellt  wird;  vgl.  darüber  „Über 
partielle  Einweißhydrolyse",  von  M.  Siegfried,  Berlin  1916  bei 
Gebrüder  Bornträger. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


503 


Über  die  Bedeutung  der  Größe  für  Organismen. 


Von  Prof.  Johannes  Theel. 

[Nachdruck  verboten.]  Mit    I    Abbildung. 

Die  folgenden  Erscheinungen  haben  ihren  Grund      Herabfallen 
in    dem   Teil    der   Physik,    welcher   als   Mechanik 
fester  Körper  bezeichnet  wird. 

Wenn  eine  Masse  m  um  eine  Höhe  h  gehoben 
werden  soll,  so  ist  dazu  eine  Arbeit  A  =  mgh 
nötig;  g  bedeutet  die  Gravitationskonstante  und 
ist  von  der  Beschaffenheit  des  Körpers  ganz  un- 
abhängig; nrig  =  p    ist  das  Gewicht  des  Körpers. 

Nehmen  wir  an,  ein  Tier  vom  spezifischen 
Gewicht  c  ')  wollte  sich  —  kletternd,  springend 
oder  fliegend  —  zu  einer  Höhe  erheben,  die  gleich 
dem  n  fachen  seiner  eigenen  Körperlänge  1  ist. 
Die  dazu  nötige  Arbeit  wäre  A=cP-nl  =  cnl*. 
Diese  Arbeit  ist  also  der  vierten  Potenz  der  Länge 
proportional. 

Ein  größeres  Tier,  welches  dieselbe  Leistung 
vollbringen  und  auch  zum  n- fachen  seiner  eigenen 
Länge  emporgelangen  will,  muß  also  eine  Arbeit 
leisten,  die  mit  zunehmender  Größe  sehr  rasch 
wächst.  Aber  wachsen  nicht  auch  die  Körper- 
kräfte in  demselben  Maße.?  Nein.  Wenn  man 
annimmt,  das  größere  Tier  wäre  dem  kleinen 
geometrisch  ähnlich  und  von  gleichem  inneren 
Bau,  so  wären  seine  Kräfte  nur  im  Verhältnis  der 
3.  Potenz  der  Länge  überlegen;  denn  die  Muskel- 
menge ■-)  wächst  mit  dem  Volumen  also  mit  1  ^ 
Das  bedeutet  nun:  die  Leistung  wird  durch  L* 
gemessen,  die  Leistungsfähigkeit  durch  L^.  Daher 
haben  kleine  Tiere  den  Kampf  mit  der  Schwere 
viel  leichter  als  große  und  je  kleiner  sie  sind, 
desto  leichter  können  sie  Höhen  erreichen,  die 
mit  ihrer  eigenen  Größe  verglichen  bedeutend 
sind. 

Diese  Folgerung  wird  durch  die  Beobachtung 
der  kleinen  Lebewelt  auf  Schritt  und  Tritt  be- 
stätigt. Mit  welcher  beneidenswerten  Leichtigkeit 
klettern  z.  B.  die  Ameisen  an  den  Bäumen  empor; 
man  sieht  gar  nicht,  daß  sie  langsamer  liefen  als 
die  von  oben  herabkommenden ,  und  was  für 
Lasten  schleppen  sie  manchmal  mit  sich!  Was 
für  riesige  Sätze  macht  ein  Heuhüpfer  und  noch 
kleinere  Springer;  die  Sprünge  eines  Löwen  oder 
eines  Riesenkänguruhs  erscheinen  dagegen  ge- 
ringfügig, wenn  man  jedesmal  den  eigenen  Maß- 
stab des  Tieres  anlegt.  Für  die  physikalische  Be- 
wertung kommt  es  übrigens  nur  auf  die  Höhe 
des  Sprunges  an.  Auch  beim  Auffliegen  sind  die 
Kleinen  im  Vorteil.  Man  achte  nur  darauf,  wie 
steil  und  rasch  manche  Fliegen  aufsteigen,  wenn 
sie  verscheucht  werden. 

Ebenso  wie  beim  Emporsteigen  ist  auch  beim 


')  Unter  dem  spezifischen  Gewicht  einer  nicht  homogenen 
Masse  wird  das  Verhältnis  von  Gewicht  p  zu  Volumen  V 
verstanden.  V  ist  proportional  1^;  der  Proportionalitätsfaktor 
wird  hier  zur  Vereinfachung  gleich   I   gesetzt. 

^)  Der  Muslielmenge  wird  hier  der  physikalische  Charakter 
einer  potentiellen  Energie  beigelegt.  Das  ist  natürlich  nur 
in  erster  Annäherung  richtig. 


(Schluß.) 

der  Vorteil  auf  selten  der  Kleinen. 
Die  kinetische  Energie  \  mv",  mit  der  ein  Körper 
unten  anlangt,  nachdem  er  eine  Strecke  h  durch- 
fallen hat,  ist  nämlich  gleich  der  Arbeit  mgh,  die 
erforderlich  war,  ihn  hinaufzuschaft'en.  Also  auch 
die  kinetische  Energie  ist  proportional  L*.  Die 
Wucht  des  Falles  ist  nun  wohl  in  erster  Linie 
der  kinetischen  Energie  des  fallenden  Körpers 
entsprechend  und  somit  steigt  die  Wucht  des  An- 
pralls mit  der  4.  Potenz  der  Größe. 

Hier  kommt  hinzu,  daß  die  Fallgeschwindig- 
keit bei  einem  kleinen  Körper  durch  den  Luft- 
widerstand stärker  vermindert  wird  als  bei  einem 
großen.  P'erner  kann  die  Wirkung  des  Anpralls 
in  erster  Annäherung  der  Oberfläche  umgekehrt 
proportional  gesetzt  werden;  denn  je  größer 
die  auffallende  Fläche  ist,  desto  geringer  wird  der 
Druck  auf  die  F'lächeneinheit.  Das  heißt  bei 
einem  kleinem  Körper  wird  der  Anprall  mehr 
verteilt.  Schließlich  ist  hier  das  elastische  Außen- 
skelett, mit  dem  die  große  Schar  der  Insekten 
bekleidet  ist,  von  Nutzen.  Wieso  diese  Panzerung 
überhaupt  eine  für  kleine  Körper  vorteilhafte 
Konstruktion  bedeutet,  wird  noch  ausgeführt 
werden. 

Man  kann  also  sagen,  beim  Fallen  sind  die 
Kleinen  ganz  besonders  bevorzugt  und  daraus  er- 
klärt sich  auch,  daß  sie  von  der  Ungefährlichkeit 
des  Falles  so  ausgiebig  Gebrauch  machen.  Wer 
Käfer  fangen  will,  die  an  Zweigen  sitzen,  muß 
einen  Schirm  unterhalten ;  denn  sobald  die  Tiere 
Gefahr  merken,  lassen  sie  sich  fallen  und  am 
Boden  sind  sie  dann  verschwunden.  Viele  Käfer 
kombinieren  hierbei  zwei  verschiedene  Tricks.  Sie 
ziehen  die  Beine  ein  und  lassen  sich  dadurch 
fallen ;  in  dieser  Stellung,  mit  eingezogenen  Beinen, 
verharren  sie  dann,  „sie  stellen  sich  tot".  Mecha- 
nisch läßt  sich  beides  ausgezeichnet  vereinigen. 
Die  Möglichkeit,  sich  ohne  Gefahr  fallen  zu  lassen, 
verschafft  den  Kleinen  einen  nicht  unerheblichen 
Vorteil. 

Geringe  Größenunterschiede  können  beim  Fall 
viel  ausmachen.  Man  sagt,  daß  das  Eichhörnchen, 
vom  Marder  verfolgt,  zunächst  in  die  Höhe  strebt 
und  wenn  es  auf  einen  Ast  getrieben  wird,  von, 
dem  es  nicht  zu  einem  anderen  hinüberspringen 
kann,  in  die  Tiefe  hinabspringt  und  sich  dadurch 
rettet.  Der  Marder  kann  ihm  diesen  Sprung  nicht 
nachtun;  denn  da  er  ungefähr  doppelt  so  lang 
ist  wie  das  Eichhörnchen  und  von  ähnlicher  Ge- 
stalt, so  ist  er  etwa  8  mal  so  schwer  und  würde 
mit  mindestens  8  facher  Wucht  aufschlaget!,  denn 
auch  der  Vorteil  der  Dämpfung  ist  für  ihn  ge- 
ringer. 

Ein  augenfälliger  Unterschied  zwischen  großen 
und  kleinen  Tieren  tritt  in  der  Art  des  Laufens 
hervor.  Man  vergegenwärtige  sich  z.  B.  die  schönen 
Kurven,  die  ein  Pferd  beschreibt,  wenn  es  zu  seiner 


S04 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Lust  über  die  Weide  läuft,  oder  das  unruhige  Hin- 
und  Herfahren  eines  Hundes,  das  Huschen  einer 
Maus  und  das  unvermittelte,  ruckweise  Vorstoßen 
der  Laufspinnen.  Wenn  man  recht  viele  Beispiele 
von  laufenden  Tieren  verschiedener  Größe  zu- 
zusammenhält, so  ergeben  sich  folgende  Funda- 
mentalunterschiede: I.  Je  kleiner  die  Tiere  sind, 
desto  größer  ist  die  Geschwindigkeit,  die  sie  er- 
reichen können,  natürlich  gemessen  an  ihrer  eigenen 
Körpergröße.  Die  Geschwindigkeit  eines  Renn- 
pferdes z.  B.  kann  bis  zu  25  m  in  I  Sek.  betragen, 
seine  Länge  ist  ungefähr  gleich  2,5  m,  also  hat 
seine  Geschwindigkeit,  gemessen  durch  die  Körper- 
länge, den  Wert  10.  Beim  Beobachten  von  Wolfs- 
spinnen und  anderen  kleinen  Insekten  kann  man 
leicht  viel  größere  Geschwindigkeit  zu  sehen  be- 
kommen. 2.  Je  kleiner  die  Tiere  sind,  desto 
schneller  erfolgt  der  Übergang  aus  der  Ruhe  in 
die  Bewegung  (und  desto  schneller  kann  die  Be- 
wegung gestoppt  werden). 

Der  Grund  für  diese  Verschiedenartigkeit  des 
Laufens  ist  rein  physikalisch.  Die  Leistung  wird 
hier  gemessen  durch  die  Bewegungsgröße  oder 
das  Produkt  mv.  Nun  ist  die  Masse  m  propor- 
tional der  3.  Potenz  der  Körperlänge  1  und  die 
Geschwindigkeit  v  ist  proportional  1  selber;  denn 
da  die  Körperlänge  als  Einheit  des  Weges  benutzt 

werden  soll,  so  ist  v  =  —  =  1  -.  Die  Bewegungs- 
größe ist  also  proportional  1*,  die  verfügbare 
Energie  dagegen  ist  wieder  proportional  P.  D.  h. 
die  Körperkräfte  der  Tiere  sind  im  Vergleich  zur 
Leistung  des  Anlaufens  um  so  größer,  je  kleiner 
die  Tiere  sind;  daher  können  kleine  Tiere  sich 
schneller  in  Bewegung  setzen  (und  größere  Ge- 
schwindigkeit erreichen). 

Das  Drehungsmoment  R  einer  Last  p  ist  gleich 
pd,  wenn  d  den  Abstand  des  Schwerpunkses  vom 
Drehpunkt  bedeutet.  Durch  diesen  Ausdruck  wird 
der  Aufwand  gemessen,  der  gemacht  werden  muß, 
um  die  Last  in  ihrer  Lage  festzuhalten.  Man  sieht, 
daß  R  proportional  L'^  ist. 

Alle  Körperteile,  die  mehr  oder  weniger  hori- 
zontal vorstehen,  haben  ein  Drehungsmoment  und 
müssen  durch  Stützen  oder  durch  Muskelanspan- 
nung in  ihrer  Lage  gehalten  werden.  Als  Bei- 
spiel kann  die  Antenne  irgendeines  Arthropoden 
dienen.  Denkt  man  sich  das  Tier  geometrisch 
ähnlich  vergrößert,  so  wächst  das  Drehungs- 
moment proportional  L^  die  Muskulatur  aber  nur 
proportional  L".  Die  Antennenkonstruktion  wird 
also  mit  wachsender  Größe  immer  unvorteilhafter. 
Diese  Folgerung  soll  später  noch  erweitert  werden. 

Das  Drehungsmoment  spielt  auch  beim  Klettern 
eine  Rolle.  Wenn  ein  Tier  an  einer  senkrechten 
Wand  emporsteigt,  so  muß  es  nicht  nur  sein  Ge- 
wicht, sondern  auch  dessen  Drehungsmoment 
durch  die  Befestigung  kompensieren.  Daraus  folgt, 
daß  es  für  alle  Tiere  vorteilhaft  ist,  sich  beim 
Klettern  möglichst  dicht  anzuschmiegen,  damit 
d  so  klein  wie  möglich  wird.  Kleine  Tiere 
haben    aber    vor  größeren  jedenfalls  den  Vorteil, 


daß  ihr  Drehungsmoment  stärker  reduziert  ist  als 
ihre  Größe,  weil  eben  das  Drehungsmoment  pro- 
portional L*  ist.  Zum  Teil  hieraus  erklärt  sich, 
daß  die  Kunst,  an  Wänden  emporzulaufen,  auf 
kleine  Tiere  beschränkt  ist.  Als  technisch  am 
wenigsten  vorteilhaftes  Klettern  erscheint  das  Ver- 
fahren der  Schnecke.  Dem  entspricht  es,  daß 
diese  Methode  zuerst  ihre  praktische  Grenze  er- 
reicht. —  Mit  diesen  Andeutungen  ist  nur  auf 
einzelne  Punkte  aus  der  Theorie  des  Kletterns 
hingewiesen. 

Das  Trägheitsmoment  ist,  wie  schon  in  der 
Einleitung  festgestellt  wurde,  proportional  L*  und 
daher  gegen  Größenunterschiede  besonders  emp- 
findlich. Es  spielt  bei  Rotationen  und  Pendel- 
schwingungen dieselbe  Rolle  wie  die  Masse  bei 
geradliniger  Bewegung.  Masse  und  Trägheits- 
moment sind  beide  das  Maß  dessen,  was  der  Be- 
schleunigung widerstrebt. 

Ein  Schwungrad  zur  Energiespeicherung,  wie 
es  in  der  Einleitung  als  Beispiel  benutzt  wurde, 
gibt  es  nun  freilich  im  Tierreich  nicht.  Über- 
haupt kommt  das  Rad  als  Maschinenelement  im 
Tierreich  nicht  vor,  weil  es  mit  seiner  Maschine 
nicht  in  ernährungsphysiologischen  Zusammen- 
hang gebracht  werden  kann.  Das  Rad  ist  eine 
frühe  Erfindung  des  menschlichen  Geistes,  für 
welche  die  Natur  kein  Vorbild  geliefert  hat.  Auch 
Rotationen  ganzer  Organismen,  sog.  Kreisel- 
bewegungen, sind  selten.  Aber  auch  für  pendel- 
artige Bewegungen  irgendwelcher  stabähnlichen 
Gebilde  gilt  der  Satz,  daß  sie  einer  Beschleunigung 
um  so  mehr  widerstreben  je  größer  ihr  Trägheits- 
moment ist.  Aus  pendelartigen  Bewegungen  sind 
nun  alle  die  mannigfaltigen  Bewegungen  tierischer 
Gliedmaßen  zusammengesetzt. 

Ins  Organische  übertragen:  große  Tiere  können 
keine  langen  Gliedmaßen  haben.  Solche  Gestalten 
wie  der  Weberknecht  (Phalangium)  und  die  Kohl- 
schnake (Tipula)  lassen  sich  nicht  vergrößern. 
Macht  man  in  Gedanken  den  Versuch,  so  würde 
dabei  das  Trägheitsmoment  irgend  eines  Gliedes 
mit  L^  und  die  zu  seiner  Bewegung  dienende 
Muskulatur  mit  L''  wachsen.  Die  Kräfte  würden 
also  mit  wachsender  Größe  zur  Bewegung  der 
Gliedmaßen  immer  weniger  ausreichen. 

Die  Art,  wie  Trägheits-  und  Drehungsmoment 
von  L  abhängen,  hat  also  zur  Folge,  daß  die 
Natur  bei  größeren  Gebilden  weniger  Spielraum 
hat  für  ihre  konstruktive  Phantasie  als  bei  kleinen. 
In  demselben  Sinne  beschränkend  wirken  auch 
die  beiden  Tatsachen,  die  jetzt  besprochen  werden 
sollen,  und  deren  physikalische  Begründung  in 
der  Elastizitätslehre  gegeben  wird. 

Es  ist  bekannt,  wie  mannigfachen  Gebrauch 
die  Spinnen  von  ihren  Fäden  machen  können. 
Auch  viele  Raupen  spinnen  Fäden  und  benutzen 
sie  für  ihre  Puppenhülle  oder  um  sich  daran 
herunterzulassen  oder  gelegentlich  an  einer  Fenster- 
scheibe emporzukriechen,  indem  sie  mit  den  Fäden, 
die  von  ihrem  Munde  ausgehen,  eine  Art  Leiter 
bauen,  aul  der  sie  emporklimmen. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


505 


Die  Fähigkeit,  selbsterzeugte  Fäden  zu  mecha- 
nischen Zwecken  zu  benutzen,  ist  auf  kleine  Wesen 
beschränkt.     Der  Grund  dafür  ist  rein  physikalisch. 

Nehmen  wir  den  einfachen  Fall,  daß  eine 
Spinne  einen  Faden  spinnt,  um  sich  an  ihm 
herabzulassen  und  später  mit  seiner  Hilfe  zu 
ihrem  Ausgangspunkt  zurückzukehren.  In  dem 
Augenblick,  wo  das  Tier  am  Faden  hängt,  denke 
man  sich  das  ganze  System  ähnlich  vergrößert, 
—  dann  muß  bei  einer  gewissen  Größe  der 
Faden  reißen.  Denn  die  Beanspruchung  des 
Fadens  durch  das  Gewicht  des  Tieres  wächst 
proportional  L^,  seine  Tragfähigkeit  aber  propor- 
tional seinem  Querschnitt  also  proportional  L'^, 
das  Verhältnis  Tragfähigkeit  zu  Beanspruchung, 
die  „relative  Hahbarkeit",  ist  also  proportional 
L°:L''  =  L^\  d.  h.  die  relative  Haltbarkeit  wird 
mit  wachsender  Größe  geringer.  Um  es  ganz 
konkret  zu  sagen:  Wenn  das  Tier  eine  10 fache 
Linearvergrößerung  erfährt,  so  wird  sein  Gewicht 
1000  mal  so  groß,  der  Faden  aber  wird  100  mal 
so  dick  und  kann  also  durch  lOO  der  ursprüng- 
lichen Fäden  ersetzt  werden.  Jeder  von  den 
Fäden  hat  dann  10  mal  so  viel  zu  tragen  wie  der 
eine  P'aden  zu  Anfang. 

Ein  größeres  Tier  kann  die  relative  Haltbar- 
barkeit  seines  Fadens  auch  nicht  dadurch  steigern, 
daß  es  ihn  verhältnismäßig  dicker  spinnt.  Denn 
dazu  müßte  der  Vorrat  an  Spinnstoff  und  damit 
wieder  das  Gewicht  vergrößert  werden.  Bleibt 
also  noch  der  Ausweg,  den  Faden  kürzer  zu 
machen,  so  daß  er  nicht  mehr  die  Größe  des 
Tieres  um  ein  Vielfaches  übertrifft,  dann  kann  er 
aber  nicht  mehr  den  mannigfaltigen  Zwecken 
dienen,  zu  denen  ihn  Spinnen  und  Raupen  be- 
nutzen, und  das  technische  Problem  ist  überhaupt 
ein  anderes. 

In  der  Tat  ist  der  Gebrauch  von  selbst- 
erzeugten Fäden  auf  kleine  Tiere  beschränkt, 
weil  die  relative  Haltbarkeit  eines  Fladens  eine 
Funktion  der  Größe  ist. 

Von  viel  allgemeinerer  Bedeutung  als  die 
Kunst  des  Spinnens  sind  die  Einrichtungen, 
welche  dem  Organismus  F"esligkeit  verleihen.  Sie 
sind  der  Art  und  dem  Grade  nach  überaus  ver- 
schieden, aber  immer  im  Einklang  mit  den 
Lebensbedingungen. 

Unter  Festigkeit  versteht  man  im  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  den  Widerstand,  den  ein 
„fester  Körper"  einer  Deformation  entgegensetzt. 
Man  kann  Zug-,  Druck-,  Schub-,  Torsions-  und 
Biegungsfestigkeit  unterscheiden.  Hier  soll  nur 
die  Biegungsfestigkeit  besprochen  werden.  PIs 
genügt  dabei,  als  Beispiel  einen  Balken  zu  be- 
nutzen, denn  die  anderen  Fälle  verhalten  sich 
analog. 

Ein  Balken  sei  horizontal  gelagert,  so  daß  er 
für  die  Strecke  1  freiliegt  (s.  Abb.).  Sein  recht- 
eckiger Querschnitt  habe  die  Höhe  h  und  die 
Breite  b.  In  seiner  Mitte  werde  er  durch  ein 
Gewicht  V  belastet.    Die  Durchbiegung,  der  „Pfeil 


1     PP 
der  Biegung",    ist  dann  ^^^  17-^3^;    E   bedeutet 

den  Elastizitätskoeffizienten  des  Materials.  Denkt 
man  sich  nun  die  beschriebene  Anordnung  ähn- 
lich vergrößert,  so  wachsen  alle  linearen  Ab- 
messungen in  gleichem  Maße  und  man  könnte 
meinen,  die  Abbildung  müßte  immer  ein  richtiges 


Bild  geben.  Das  ist  aber  nicht  der  P'all,  sondern 
die  Durchbiegung  wird  verhältnismäßig  immer 
größer,  sie  eilt  den  anderen  Abmessungen  voran. 
Da  nämlich  P  proportional  der  3.  Potenz  der 
Länge  ist,  so  muß  d  proportional  L"  sein.  Das 
Verhältnis  d :  1  soll  hier  als  relative  Durchbiegung 
bezeichnet  werden;  dann  kann  man  sagen,  die 
relative  Durchbiegung  eines  Balkens  nimmt  zu 
proportional  seiner  Länge,  oder  anschaulich:  ein 
Streichholz  ist  fester  als  ein  Balken  von  gleicher 
Gestalt  und  aus  demselben  Holze. ') 

Die  Vorteile,  welche  den  Kleinen  daraus  er- 
wachsen, daß  alle  ihre  Skelettstücke  allein  wegen 
ihrer  Kleinheit  große  Biegungsfestigkeit  haben, 
sind  recht  bedeutend  und  mannigfaltig.  Man 
denke  z.  B.  daran,  welchen  Widerstand  manche 
Insekten  dem  Zerdrücktwerden  entgegensetzen, 
oder  wie  hart  manchmal  ein  Käfer,  wenn  er  sich 
fallen  läßt,  aufschlägt,  ohne  den  geringsten  Schaden 
zu  nehmen.  Will  man  das  Ergebnis  der  physi- 
kalischen Betrachtung  allgemein  ausdrücken,  so 
kann  man  entweder  den  Aufwand  oder  die  Leistung 
in  den  Vordergrund  rücken,  und  gelangt  so  zu 
einem  von  den  beiden  Ausdrücken:  je  kleiner 
ein  Organismus,  desto  geringer  ist  der  Material- 
aufwand, der  für  die  Festigkeit  gemacht  werden 
"muß;  oder  je  kleiner  ein  Organismus,  desto  größer 
ist  eo  ipso  seine  Festigkeit,  und  desto  leichter 
also  für  ihn  alle  auf  P'estigkeit  beruhenden 
Leistungen.  Durch  diese  Tatsache  ist  der  Größe 
des  Tierkörpers  überhaupt  eine  Grenze  gezogen. 
Sie  ist  dann  erreicht,  wenn  die  zur  Festigung 
nötige  Masse  im  Vergleich  zu  der  anderen  Lebens- 
zwecken dienenden  einen  unwirtschaftlichen  Be- 
trag erreicht.  Tiere,  die  in  Wasser  leben,  brauchen 
weniger  Stützen  und  können  daher  bedeutendere 
Größe  erreichen  als  Landtiere. 

Die  Einrichtungen,  welche  im  Tierreich  der 
P'estigung  dienen,  sind  entweder  im  Innern  des 
Körpers  geborgen,  oder  oberflächlich  aufgelagert. 
Man    vergleiche  z.  B.  einen  Vierfüßler    und    einen 

')  Natürlich  muiS  d,  da  es  eine  Strecke  bezeichnet,  die 
Dimension  L  haben.  Das  sagt  auch  die  Formel  aus,  wenn 
man  berücksichtigt,  daß  die  Konstante  E  nach  ihrer  Definition 
von  der  Dimension  M  L  '  T  -  ist.  Da  aber  E  nur  vom 
Material,  und  nicht  von  der  Größe  des  Körpers  abhängt,  so 
bleibt   CS    dabei,    daß  d   der    zweiten  Potenz   irgendeiner   von 


den  linea 


Abn 


rgen  propor 


tional 


So6 


Naturwissenschafliche  Wochenschrift. 


F.  N.  XVI.  Nr.  36 


Käfer.  Die  Muskeln,  welche  die  Glieder  bewegen, 
greifen  beim  Vierfüßler  an  den  Knochen,  beim 
Käfer  an  der  Innenfläche  des  Hautskeletts  an. 
Genügende  Beweglichkeit  der  Teile  kann  so  oder 
so  erreicht  werden.  Nun  ist  aber  das  Hautskelett 
der  Käfer  gleichzeitig  ihr  Panzer;  es  erfüUt  also 
zwei  Aufgaben  zugleich  und  erscheint  darum  als 
die  vorteilhaftere  Konstruktion.  Trotzdem  findet 
man  aber  im  Tierreich  das  äußere  Skelett  auf 
kleinere  Wesen  beschränkt  wie  Gliederfüßler, 
Stachelhäuter  oder  Weichtiere,  während  die  Wirbel- 
tiere, zu  denen  alle  großen  Tiere  gehören,  ein 
inneres  Skelett  haben. 

Es  bleibt  also  noch  die  Frage  zu  beantworten : 
hat  die  Beschränkung  des  so  vorteilhaft  erschei- 
nenden Hautskeletts  auf  kleine  Tiere  einen  physi- 
kalischen Grund  oder  nicht? 

Die  Antwort  liegt  in  folgender  Betrachtung. 
Konstruiert  man  in  Gedanken  zwei  Tiere  von 
gleicher  Größe  und  ähnlichem  Körperbau  jedoch 
das  eine  mit  innerem,  das  andere  mit  Hautskelett, 
so  wird  bei  dem  letzteren  die  auf  das  Skelett  zu 
verwendende  Masse  einen  größeren  Bruchteil  der 
Gesamtmasse  ausmachen  als  bei  dem  mit  innerem 
Skelett.  Denkt  man  weiter  beide  Tiere  in  gleichem 
Maße  vergrößert,  so  daß  jedes  dem  ursprünglichen 
Entwurf  ähnlich  bleibt,-  so  wächst  bei  beiden  der 
zur  Festigung  dienende  Massenaufwand  zunächst 
proportional  L''.  Nach  der  Vergrößerung  haben 
aber  beide  Skelette  an  relativer  Haltbarkeit  ver- 
loren, sie  müssen  also  verstärkt  werden.  Nimmt 
man  an,  daß  dazu  für  beide  Konstruktionen  der- 
selbe Bruchteil  der  ursprünglich  zur  Festigung 
bestimmten  Masse  nötig  ist,  so  muß  die  Grenze 
für  die  Wirtschaftlichkeit  des  Bauplanes  von  dem 
Tier  mit  Hautskelett  früher  erreicht  werden,  weil 
schon  seine  ursprüngliche  Aufwendung  größer  war. 

Wenn  die  Beanspruchung  durch  äußere  Kräfte 
sehr  gering  ist,  so  können  auch  Tiere  mit  Haut- 
skelett abnorme  Größe  erreichen.  Solche  günstigen 
Verhältnisse  liegen  vor  auf  den  tiefsten  Gründen 
des  Meeres,  wo  die  eigentümlich  gestaltete  Tief- 
seefauna lebt.  Wellenschlag,  Strömung,  Strudel 
dringen  nicht  bis  da  hinab.  Und  sehr  schnelle 
Bewegungen,  bei  denen  große  kinetische  Energie 
erzeugt  wird,  kann  man  sich  aus  verschiedenen 
Gründen  auch  nicht  recht  vorstellen.  Die  Bean- 
spruchung des  Skeletts  durch  kinetische  Energie 
fällt  also  in  diesen  Tiefen  weg.  In  der  Tat  er- 
reichen nun  hier  die  Arthropoden,  die  sonst  nicht 

vorkommen.     „Von  Gliedertieren  ist  die  

Kämpfer 'sehe  Seespinne  die  kolossalste  Krabbe, 
Bathynomoseine  ganz  riesenhafte  .^ssel  undColoss- 
endeis  die  größte  Gattung  aller  Pycnogoniden". ') 
Daß  nicht  etwa  Mangel  an  Baumaterial  der  Grund 
zur  Schwächung  des  Skeletts  ist,  geht  aus  der 
Darstellung  bei  Keller  hervor,  der  die  ange- 
führten Tatsachen  entnommen  sind. 

Was    wir    als   Ton    empfinden,    erscheint    der 


')  Das  Leben    des  Meeres   von  Cc 
1895,  S.  233. 


physikalischen  Betrachtung  als  periodische  Schwin- 
gung. Das  Schwingende  ist  meist  ein  elastischer 
fester  Körper,  z.  B.  eine  Saite,  eine  Glocke,  eine 
Stimmgabel.  Auch  eine  Luftsäule  kann  schwingen 
und  verhält  sich  dann  wie  ein  elastischer  fester 
Körper;  die  Lippenpfeifen  sind  analog  den  Stäben, 
welche  in  longitudinale  Schwingungen  versetzt 
werden.  Die  Schwingungen  werden  gewöhnlich 
auf  die  Luft  übertragen  und  durch  diese  unserem 
Ohr  zugeleitet.  Es  ist  aber  auch  möglich,  die 
Luft  unmittelbar,  d.  h.  ohne  Hilfe  eines  elastischen 
Körpers  in  Schwingungen  zu  versetzen  und  da- 
durch Töne  zu  erzeugen;  das  geschieht  bei  der 
sog.  Sirene.  Was  wir  als  Tonhöhe  empfinden, 
erweist  sich  physikalisch  als  Anzahl  der  Schwin- 
gungen in  der  Zeiteinheit. 

Unsere  Musikinstrumente  benutzen  die  Schwin- 
gungen von  elastischen  festen  Körpern  oder  von 
Luftsäulen.  Die  Tonhöhe  dieser  Instrumente  hängt 
in  erster  Linie  ab  von  der  Dimension  des  Schwin- 
genden, und  zwar  kann  ganz  allgemein  gesagt 
werden :  die  Töne  sind  um  so  höher,  je  kleiner 
das  Schwingende  ist. 

Daraus  folgt,  daß  kleine  Lebewesen  überhaupt 
nur  hohe  Töne  hervorbringen  können,  wenn  sie 
auf  gewöhnliche  Art,  nämlich  mit  Hilfe  elastischer 
Schwingungen,  zu  musizieren  versuchen.  In  der 
Tat  bewegt  sich  das  vielstimmige  Konzert  der 
Grillen  und  Cicaden  und  ihrer  Verwandten  in  den 
höchsten  Tönen  und  man  darf  wohl  annehmen, 
daß  es  in  vielen  Fällen  darüber  hinausgeht.  Es 
ist  ja  bekannt,  daß  unsere  Tonwahrnehmung  über 
eine  gewisse  Schwingungszahl  (etwa  24000)  nicht 
hinausreicht  und  daß  diese  obere  Grenze  indivi- 
duell verschieden  ist.  Das  Insektenkonzert  auf 
einer  Wiese  wird  also  nicht  allen  Leuten  dieselbe 
Tonfülle  bieten,  sondern  für  manche  müßten  die 
feinsten  Stimmchen  fehlen,  andererseits  darf  man 
doch  wohl  annehmen,  daß  auch  viele  von  den 
ganz  kleinen  Insekten,  die  für  uns  stumm  sind, 
auf  ihre  Art  Töne  hervorbringen,  die  von  ihres- 
gleichen gehört  werden  und  nur  für  unser  Ohr 
nicht  existieren,  weil  das  Schwingende  zu  klein 
und  der  Ton  infolgedessen  für  uns  zu  hoch  ist. 

Anders  ist  es  mit  den  Schwingungen,  die 
nicht  durch  elastische  Kräfte,  sondern  durch 
rhythmisches  Bewegen  irgendwelcher  Körperteile 
hervorgebracht  werden,  z.  B.  durch  den  Flügel- 
schlag. Die  so  erzeugten  Töne  werden  im  allge- 
meinen tief  sein,  denn  es  gehören  schon  etwa 
16  Schwingungen  in  einer  Sekunde  dazu,  um 
überhaupt  die  Empfindung  eines  Tones  zu  er- 
zeugen. Das  tiefe  Brummen,  das  manche  In- 
sekten beim  Fliegen  hören  lassen,  kommt  offen- 
bar durch  den  Rhythmus  des  Flügelschlages  zu- 
stande und  ist  nur  ein  Nebenprodukt  des  Fluges. 

Die  Sache  steht  also  so,  daß  den  Insekten 
doch  der  ganze  Tonbereich  zugänglich  ist.  Die 
hohen  Töne  bringen  sie  durch  elastische  Schwin- 
gungen hervor,  ebenso  wie  der  Mensch  mit 
seinen  mannigfachen  natürlichen  und  künstlichen 
Musikinstrumenten.     ¥ür   die   tiefen   Töne   haben 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


507 


sie  die  Möglichkeit,  durch  rhythmische  Bewegung, 
etwa  der  Flügel,  die  Luft  periodisch  zu  erschüttern, 
und  dieser  \Veg  ist  wieder  größeren  Wesen  nicht 
zugänglich,  denn  größere  Massen  lassen  sich  wegen 
ihres  viel  größeren  Trägheitsmomentes  nicht  so 
schnell  hin-  und  herbewegen,  wie  hierzu  nötig 
wäre. 

Von  hoher  Bedeutung  für  das  Leben  kleiner 
Tiere,  im  besondern  der  Insekten,  ist  ihr  Ver- 
hältnis zur  Kohäsion  des  Wassers  und  anderer 
Flüssigkeiten,  die  im  Leben  größerer  Tiere  gar 
keine  Wichtigkeit  hat.  Die  Kohäsion  einer  Flüssig- 
keit äußert  sich  als  Oberflächenspannung  und  als 
Viskosität.  Beide  Kräfte  spielen  im  Leben  kleiner 
Wesen  eine  sehr  bedeutende  und  meist  verhängnis- 
volle Rolle. 

Die  freie  Oberfläche  einer  Flüssigkeit,  etwa 
die  Mitte  eines  Wasserspiegels,  verhält  sich  gegen 
einen  unbenetzbaren  Körper  wie  eine  dünne 
elastische  Haut,  die  vor  dem  eindringenden  Körper 
ausweicht  und  durch  die  aus  der  Deformation  ent- 
springende Spannung  dem  weiteren  Eindringen 
widerstrebt.  Ist  der  äußere  Druck  gering,  so 
kann  sich  ein  Gleichgewicht  einstellen  und  der 
Körper  ruht  dann  auf  der  Oberfläche,  wohlver- 
standen keineswegs  wie  ein  Schwimmer  auf  Grund 
des  Archimedes'schen  Prinzips,  sondern  wie 
etwa  ein  Mensch  auf  einer  Sprungfedermatratze. 
Eine  Nähnadel  z.  B.,  die  etwas  eingefettet  ist,  da- 
mit sie  nicht  benetzt  wird,  ruht  auf  einer  Wasser- 
fläche und  geht  nicht  unter,  solange  starke  Be- 
wegung ferngehalten  wird.  Mit  einer  Stopfnadel, 
die  ihr  doch  in  jeder  Beziehung  ähnlich  sein  kann, 
gelingt  das  Experiment  nicht  mehr.  Das  liegt 
natürlich  daran,  daß  der  äußere  Druck  dem  Ge- 
wicht, also  L^  proportional  ist,  während  der 
elastische  Widerstand  proportional  ist  der  Fläche, 
längs  welcher  die  Berührung  stattfindet,  also  L'-. 
Der  Druck  wächst  demnach  stärker  als  der  Wider- 
stand und  daher  durchdringt  ein  größerer  Körper 
die  Oberfläche  und  sinkt  zu  Boden,  —  falls  er 
nicht  etwa  schwimmen  kann,  d.  h.  sein  Gewicht 
durch  Wasserverdrängung  ganz  zu  kompensieren 
vermag. 

Auf  dem  Wasser  zu  wandeln  ist  also  nur 
kleinen  Wesen  möglich;  ob  sie  auch  spezifisch 
leicht  sind,  ist  dabei  von  untergeordneter  Be- 
deutung. Soviel  ich  weiß,  ist  die  Fähigkeit  des 
Wasserlaufens  beschränkt  auf  eine  kleine  Gruppe 
der  Rhynchoten,  deren  größte  einheimische  Art 
noch  nicht  2  cm  erreicht.  Die  langen  Beine 
dieser  Wasserläufer  bewirken,  daß  die  Eindrücke 
der  Füße  auf  dem  Wasserspiegel  in  gehöriger 
Entfernung  bleiben.  Sobald  die  Vertiefungen  ein- 
ander nahe  kommen,  fließen  sie  nämlich  zu- 
sammen und  nehmen  die  Lasten  mit,  so  daß  es 
aussieht,  als  ob  eine  Anziehung  stattfände.  Die 
gestreckte  Körperform  ist  der  Ausdruck  geringen 
absoluten  Gewichtes.  Langbeinigkeit  und  Körper- 
form erscheinen  also  von  physikalischem  Stand- 
punkt als  wertvolle  Hilfen  bei  der  eigentümlichen 
Lebensweise, 


Anders  steht  es,  wenn  ein  Körper  mit  einer 
Flüssigkeit  in  Berührung  kommt,  die  ihn  benetzt. 
An  dem  Berührungspunkte  bleibt  die  Flüssigkeits- 
oberfläche nicht  eben,  wie  unter  dem  Einfluß  der 
Schwere  und  Kohäsion  allein,  sondern  sie  bildet 
eine  geneigte  Fläche  und  steigt  an  dem  Körper 
empor.  Die  Steighöhe  hängt  ab  von  der  Natur 
der  Substanzen  und  von  den  Dimensionen  der 
Kapillaren  und  Winkelräume. 

Wenn  nun  ein  kleiner  Körper  von  beliebiger 
Form  mit  einer  Flüssigkeit  in  Berührung  gebracht 
wird,  die  ihn  benetzt,  so  wird  sie  an  ihm  empor- 
steigen und  seine  Vertiefungen  mehr  oder  weniger 
ausfüllen.  Falls  etwa  die  Abmessungen  des  Körpers 
mit  der  Steighöhe  der  Flüssigkeit  kommensurabel 
sind,  so  kann  die  Flüssigkeit  den  Körper  ganz  ein- 
hüllen. Dabei  bildet  die  Flüssigkeit  immer  eine 
Minimalfläche  und  man  kann  den  Zustand  be- 
schreiben, indem  man  sagt:  Der  Körper  befindet 
sich  unter  einer  elastischen  Decke,  welche  durch 
ihre  Spannung  bestrebt  ist,  ihn  unter  die  ur- 
sprüngliche Oberfläche  zu  drücken.  Ist  der  Körper 
spezifisch  schwerer  als  die  Flüssigkeit,  so  sinkt 
er  zu  Boden,  sobald  er  ganz  benetzt  ist.  Wenn 
der  Körper  dagegen  spezifisch  leichter  ist,  so 
wird  er  zwar  schwimmen,  aber  dabei  tiefer  ein- 
sinken als  seinem  spezifischen  Gewicht  entspricht. 
Ein  kleiner  Körper  schwimmt  also  nicht  auf  Grund 
des  Archimedes'schen  Prinzips,  oder,  genauer 
gesagt,  beim  Schwimmen  kleiner  Körper  (be- 
netzbarer und  auch  unbenetzbarer)  darf  die  Ober- 
flächenspannung nicht  vernachlässigt  werden.  Wenn 
die  Tiefe  der  Flüssigkeit  zum  Schwimmen  nicht 
ausreicht,  so  wird  der  Körper  in  eine  elastische 
Oberflächenhaut  eingeschlossen. 

Daraus  erklärt  sich,  daß  benetzbare  Insekten, 
die  ins  Wasser  gefallen  sind,  tiefer  einsinken 
müssen,  als  ihrem  spezifischen  Gewicht  entspricht. 
Gelingt  es  ihnen,  durch  Kriechen  dem  Bade  zu 
entrinnen,  so  nehmen  sie  eine  Flüssigkeitsmenge 
mit,  welche  sich  über  die  Unebenheiten  ihres 
Körpers  so  verteilt,  daß  eine  Minimalfläche  ent- 
steht. Diese  wirkt  durch  ihre  Oberflächenspannung 
wie  eine  elastische  Hülle,  die  jede  ihrer  Be- 
wegungen hindert.  Man  weiß  ja,  eine  wie  un- 
glückliche Figur  die  behende  Fliege  macht,  wenn 
sie  aus  der  Milchsatte  kriecht.  Die  mitgeschleppte 
Flüssigkeit  können  kleine  Tiere  nicht  abschütteln 
wie  größere,  weil  ihre  Körperkräfte  kleiner  sind 
als  die  Spannung  der  Membran;  sie  müssen 
warten,  bis  sie  durch  Verdunstung  oder  kapillare 
Hilfe  befreit  werden. 

Wenn  nun  die  Flüssigkeit  außerdem  von 
höherer  Viskosität  ist  oder  beim  Verdunsten  zähe 
wird,  so  erschwert  sie  die  Bewegungen  der  Tiere 
innerhalb  der  Hülle  und  die  Befreiung  gelingt 
dann  nicht  mehr.  Dies  ist  der  Hergang,  wenn 
kleine  Tiere  mit  einer  zähen  Flüssigkeit  auch 
nur  in  Berührung  kommen.  Sie  werden  benetzt, 
angeklebt,  in  eine  Minimalfläche  gehüllt  (wozu 
sie  durch  Zappeln  noch  mithelfen),  erschöpfen 
ihre   Kraft   im    Kampf  mit    der   inneren  Reibung 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


und  ersticken  schließlich  unter  der  Hülle.  Dieser 
Vorgang  ist  im  Leben  der  Insekten  sehr  häufig. 
Die  Viskosität  ist  ja  auch  ein  Schutzmittel  der 
Pflanzen  gegen  kleine  tierische  Feinde.  Ein  be- 
kanntes Beispiel  ist  die  Pechnelke.  Auch  Pflanzen, 
die  bei  Verletzung  ihrer  Oberhaut  reichlich  Milch- 
saft abscheiden,  der  an  der  Luft  bald  eintrocknet, 
haben  dadurch  einen  recht  wirksamen  Schutz 
gegen  die  Zerstörung  durch  Ameisen. 

Flüssigkeiten  von  sehr  großer  Viskosität  können 
auch  größeren  Tieren  gefährlich  werden.  Jedoch 
wird  hier  bald  eine  Grenze  erreicht.  Die  Gefahr 
wächst  nämlich  mit  der  Größe  der  benetzten 
Oberfläche  also  proportional  L-,  die  Möglichkeit 
zu  entrinnen  dagegen  wächst  mit  den  Körper- 
kräften, also  in  erster  Annäherung  proportional  L''. 


viskosen  Flüssigkeiten  zugrunde  zu  gehen,  mit 
wachsender  Größe  eo  ipso  geringer.  Größere 
Tiere  kann  man  nicht  an  Leimruten  fangen. 

Diese  Betrachtung  ist  nicht  erschöpfend.  Es 
gibt  noch  mehr  physikalische  Erscheinungen, 
welche  für  große  und  kleine  Lebewesen  von  ver- 
schiedener Bedeutung  sind,  und  auch  die  Zahl 
der  Beispiele  hätte  sich  erheblich  vermehren  lassen. 
Das  vorangehende  wird  aber  genügen,  um  glaub- 
haft  zu    machen,    daß    es    rein    physikalische  Ab- 


hängigkeiten sind,  welche  die  organischen  Formen 
auf  bestimmte  Größen  beschränken,  und  daß  die 
Mannigfaltigkeit  der  Gestalten  auf  die  verschie- 
denen Größenstufen  nicht  zufällig  verteilt  ist,  wie 
der  Zoologe  zunächst  annehmen  muß.  Das  Ver- 
hältnis F  :  M,  die  mechanischen  Begriffe,  die  Festig- 
keit, die  Oberflächenkräfte  hängen  derart  von  der 
Größe  ab,  daß  sie  kleinen  Wesen  Vorteile  bieten, 
die  größeren  eben  wegen  ihrer  Größe  nicht  zu- 
gänglich sind.  Das  Modell  irgendeines  kleinen 
Tieres  läßt  sich  nicht  vergrößern. 

Daher  kommt  es  auch,  daß  beim  Durchmustern 
aller  organischen  Formen,  wenn  man  von  kleinen 
zu  größeren  fortschreitet,  die  Reichhaltigkeit  ab- 
nimmt und  immer  weniger  Typen  übrig  bleiben. 
Die  größten  Tiere  sind  entweder  Vierfüßler  oder 
Vögel  oder  sie  haben  die  Fisch-  oder  Schlangen- 
form. Welche  Fülle  grundverschiedener  Baupläne 
dagegen  bei  den  Kleinen  und  Kleinsten!  Die 
Überlegenheit  ist  noch  viel  größer  als  es  auf  den 
ersten  Blick  erscheint,  denn  die  Ausprägung  der 
Typen  bei  den  großen  Tieren  ist  uns  vertraut 
und  die  Gestalten  der  Vierfüßler  erscheinen  uns 
eben  deswegen  recht  verschieden.  Die  Formen 
der  Kleinen  und  Kleinsten  unter  den  Tieren  sind 
aber  vielen  Leuten  unbekannt  und  den  anderen 
doch  nicht  so  gegenwärtig,  daß  sie  die  ganze 
Fülle  in  der  Vorstellung  zusammenfassen  könnten. 


Einzelberichte. 


Physiologie.  Bei  der  großen  Seltenheit  des 
Vorkommens  von  echtem  Zwittertum  (Herma- 
phroditismus verus)  bei  Wirbeltieren,  verdient 
jeder  einzelne  derartige  Fall  eine  besondere  Er- 
wähnung. Über  echten  Hermaphroditismns  beim 
Kammmolch  berichtet  Jaroslaw  Krizenecky 
(Ein  Fall  von  Hermaphroditismus  bei  Triton  cri- 
status  und  einige  Bemerkungen  zur  Frage  der 
sexuellen  Differenzierung.  Archiv  für  Entwickelungs- 
mechanik  der  Organismen.  42.  Bd.  4.  Heft  1917). 
Es  handelte  sich  um  die  gleichzeitige  Produktion 
der  Keimzellen  beider  Geschlechter  also  von  Makro- 
gameten (Eizellen)  und  von  Mikrogameten  (Samen- 
zellen) in  ein  und  demselben  Individuum.  Dieser 
echte  Hermaphroditismus,  der  wohl  zu  unter- 
scheiden ist  von  dem  Pseudohermaphroditismus, 
bei  welchem  die  somatischen  Eigenschaften  des 
anderen  Geschlechts  an  einem  bezüglich  der  Keim- 
drüsen nur  eingeschlechtlichen  Individuum  auf- 
treten, kann  in  verschiedenen  Formen  vorkommen. 

1.  Beiderlei  Keimdrüsen  können  in  ihrer  ty- 
pischen Ausbildung  zugleich  vorkommen,  auf  einer 
Seite  die  weibliche,  auf  der  anderen  Seite  die 
männliche  (Hermaphroditismus  lateralis). 

2.  An  jeder  Seite  ist  je  eine  männliche  und 
eine  weibliche  Keimdrüse  ausgebildet  (Hermaphro- 
ditismus bilateralis). 

r  In  einer  äußerlich  vollkommen  weiblich  aus- 


gebildeten Gonade  finden  sich  Samenzellen  und 
andererseits  in  einem  Hoden  Eizellen.  Quantitativ 
kommen  natürlich  die  verschiedensten  Übergänge 
vor.  Während  nun  von  Fröschen  bereits  zahl- 
reiche Hermaphroditen  beschrieben  wurden,  ist 
bisher  von  den  geschwänzten  Amphibien  (Tri- 
tonen)  nur  ein  einziger  Fall  bekannt  geworden; 
derselbe  betrifft  den  im  Jahre  1895  von  George 
de  laValette  beschriebenen  seitlichen  Zwitter; 
es  war  ein  äußerlich  männlicher  Wassermolch,  in 
dessen  Hoden  neben  normaler  Spermatogenese 
eine  ganz  normale  Ovogenese  stattfand.  Im 
Herbst  1914  wurden  nun  von  K.  unter  den  im 
Aquarium  gezüchteten  Tritonen  (Triton  cristatus 
Laur.)  einige  Männchen  angetroffen,  welche  bereits 
das  Brunstkleid  trugen.  Während  äußerlich  an 
einem  der  untersuchten  Tiere  nichts  besonderes 
wahrzunehmen  war,  fand  K.  in  Schnittprä- 
paraten beider  Hoden  über  200  Eier.  Die- 
selben befanden  sich,  wie  ihre  geringe  Größe  an- 
zeigte, auf  einer  sehr  niedrigen  Entwicklungsstufe. 
Aus  dem  mikroskopischen  Befund  schließt  K., 
daß  beiderlei  Keimzellen  aus  dem  Keimepithel 
des  Hodens  entstanden  waren,  daß  es  sich  also 
nicht  um  eine  Durcheinandermengung  des  Ovarial- 
und  des  Hodenkeimepithels  handelt. 

Auch  vom  Menschen  wäre  ein  solcher  Fall 
durch  Babor  (1898)  bekannt  geworden,  der  bei 
einem  normalen,  (13  jährigen  kräftigen  Manne,  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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an  beginnender  Prostatahypertrophie  litt,  in  beiden 
Hoden,  außer  hier  und  da  normaler  Spermato- 
genesis  mit  reifen  Spermien  und  verschiedenartiger 
Degeneration  des  Samenkanälchenepithels,  wie 
solche  bei  sehr  alten  Männern  regelmäßig 
vorkommt,  eine  Wucherung  und  Neubildung  des 
indifferenten  Keimepithels  gefunden  hat,  die  an 
geeigneten  Stellen  Bilder  lieferte,  welche  nicht  an 
die  Histogenesis  der  Tubuli  seminiferi,  sondern 
vielmehr  an  die  Pflüger- Valenti'schen  Schläuche 
erinnerten,  Zellstränge  wie  im  fötalen  Ovarium 
aufwies  und  in  der  Tat  auch  hier  und  da  mitunter 
gruppenweise  Primordialeier  mit  Primitivfollikeln 
enthielt." 

In  allen  diesen  Fällen  handelt  es  sich  um  die 
gleiche  Erscheinung  wie  beim  Tritonhermaphro- 
diten, nämlich  um  die  Entstehung  von  Eizellen 
aus  dem  Keimepithel  des  Hodens;  bei  den  Lungen- 
schnecken bildet  es  ja  die  Regel,  daß  beide  Arten 
von  Keimzellen  aus  der  zwitterigen  Keimdrüse 
hervorgehen.  Was  nun  die  Ursache  der  Eiproduk- 
tion  anbelangt,  so  könnte  dieselbe  auf  einem 
Zurückbleiben  embryonalen  Gonadengewebes  im 
Hoden  beruhen.  Eine  derartige  Ursache  des 
Hermaphroditismus  lag  beim  Frosch  vor  (Kuscha- 
kowitsch  1910).  Jedoch  nicht  immer  braucht  es 
sich  um  eine  Erhaltung  des  primären  Zustandes 
der  Keimzellen  zu  handeln.  Die  Eiproduktion  im 
Hoden  kann  vielmehr  auch  sekundär  durch  nach- 
trägliche Metamorphose  veranlaßt  werden,  wie 
dies  zweifellose  Versuche  von  Meyus  (1910  u. 
191 2)  ergaben.  Derselbe  fand  nämlich  in  den 
Transplantaten  der  männlichen  Keimdrüse  von 
Rana  fusca  und  Rana  esculenta  Eier,  die 
in  den  Tubuli  der  transplantierten  Hodenstückchen 
entstanden  waren.  Die  Hodentransplantate  pro- 
duzierten also  nicht  mehr  Spermatozoen,  sondern 
Eier,  auch  das  Umgekehrte,  nämlich,  daß  die 
Transplantate  von  Ovarien  Spermatozoen  produ- 
zieren, kann  eintreten.  So  fand  Braun  (1904) 
bei  einem  Weibchen  des  Wurmes  Ophryotrocha 
puerilis  in  den  Keimdrüsen  des  regenerierten 
Hinterendes  statt  der  Eier,  Spermatozoen.  Eine 
sexuelle  Metamorphose  treffen  wir  regelmäßig  bei 
vielen  Nematoden,  namentlich  bei  dem  Genus 
Rhabditis,  bei  welchem  die  Keimdrüsen  zuerst  als 
Hoden  funktionieren  und  Spermatozoen  hervor- 
bringen, um  sich  dann  in  eierproduzierende  Go- 
naden zu  verwandeln.  Es  lägen  drei  Möglichkeiten 
für  ein  Auftreten  von  Zwittern  vor: 

1.  Die  Entstehung  andersgeschlechtlicher 
Gameten  aus  indifferent  gebliebenen  Zellen,  die 
sich  zwischen  den  in  bestimmter  Richtung  ge- 
schlechtlich differenzierten  Keimzellen  finden. 

2.  Das  Keimepithel  bleibt  indifferent  wie  bei 
den  Lungenschnecken  und 

3.  endlich  das  Keimepithel  differenziert  sich 
zwar  in  einer  bestimmten  Richtung,  behält  aber 
die  Potenz,  sich  auch  in  der  anderen  Richtung  zu 
differenzieren.  Während  nun  die  erste  Erklärung 
abzuweisen  ist,  müssen  die  beiden  letzten  Er- 
klärungsmöglichkeiten zugegeben  werden,    da  das 


Keimepithel  jedenfalls  auf  einem  embryonalen 
Zustand  stehen  bleibt  und  sich  nach  beiden  Rich- 
tungen hin  differenzieren  kann.  Der  vorliegende 
Fall  bietet  die  auffallende  Erscheinung,  daß  die 
sekundären  Geschlechtsmerkmale  rein  männlich 
waren.  Es  dürfte  dies  darauf  zurückzuführen  sein, 
daß  die  Zahl  der  Eier  zu  gering  war,  als  daß  sie 
einen  Einfluß  in  somalischer  Beziehung  äußern 
konnten.  Marshall  fand  dagegen  die  Hoden 
eines  Froschhermaphroditen  auf  der  Oberfläche 
schwarz  pigmentiert  entsprechend  der  dunkleren 
Färbung  der  Eier;  etwas  ähnliches  beobachteten 
Goldschmidt  und  Poppelbaum  (1914)  an 
den  Eier  enthaltenden  Hoden  ihrer  experimentell 
erzeugten  „Weibchenmännchen"  von  Lymantria 
dispar  japonica  =  Bastarden ;  in  vielen  Fällen  waren 
die  Hoden  nicht  glatt  wie  normalerweise,  sondern 
„traubenartig"  ausgestaltet,  was  man  gut  als 
einen  Anlauf  zur  Ovariengeslalt  betrachten  kann. 
Es  erscheint  vielmehr  der  morphologische  Cha- 
rakter der  Gonaden  eine  sekundäre  Anpassung 
an  die  Gameten  selbst  zu  sein,  wie  ja  auch  die 
Art  der  Ausführungsgänge  sekundärer  Natur  war 
und  eine  Anpassung  an  die  Gonaden  darstellte. 
Auch  das  interstitielle  Gewebe  ist  es  nicht,  welches 
in  letzter  Linie  die  sekundären  Geschlechtscharak- 
tere bestimmt,  da  es  ja  selbst  je  nach  der  Art 
der  Gameten  verschieden  gestaltet  ist.  Wolle 
man  also  zwischen  sekundären  und  primären  Ge- 
schlechtsmerkmalen unterscheiden,  so  sind  lediglich 
die  Gonaden  selbst  primär   verschieden. 

Auch  die  Gonadenhormone  scheinen  nicht 
geschlechtlich  differenziert  zu  sein,  da  nach  Ver- 
suchen von  Meisenheimer  (1911)  beim  männ- 
lichen Kastraten  des  P'rosches  die  Daumenschwielen 
nach  Injektion  von  Ovarialsekret  wieder  zur 
Anschwellung  gebracht  wurden.  Es  scheine  sich 
dabei  eben  um  eine  neutrale  Anregung  des  Meta- 
bolismus zu  handeln.  Nach  Brown-Sequard 
und  M.  Nußbaum  (1909)  bleibt  ja  auch  beim 
Hungernlassen  normaler  Männchen  das  Anschwellen 
der  Daumenschwielen  aus.  Daß  aber  bei  den 
Weibchen  selbst,  deren  Ovarialhormone  doch  die 
Daumenschwielen  der  Männchen  anschwellen 
läßt,  die  Daumenanschwellung  fehlt,  scheine  auf 
einer  Verschiedenheit  im  Bau  des  Daumens  beider 
Geschlechter  zu  beruhen.  Nur  in  dem  Vermögen 
der  Daumenschwielen  anzuschwellen,  ist  das  se- 
kundäre Geschlechtsmerkmal  zu  finden,  aber  nicht 
in  der  Anschwellung  selbst;  es  könne  nämlich 
auch  ganz  unabhängig  von  den  Gonaden  durch 
erhöhten  Stoffwechsel,  etwa  durch  reichlichere 
Fütterung  bei  einem  Kastraten  ausgelöst  werden. 
Einmal  stellte  sich  auch  aus  unbekannter  Ursache 
eine  Anschwellung  der  Daumenschwielen  bei 
einem  Kastraten  zur  Brunstzeit  ein.  Es  folge 
daraus,  daß  das  Auftreten  sekundärer  Geschlechts- 
merkmale von  den  Gonaden  selbst  unabhängig 
wäre,  weil  es  auch  durch  heterologe  Hormone 
veranlaßt  würde.  Es  hätte  dann  auch  das  wieder- 
holt beobachtete  Auftreten  von  Daumenschwielen 
bei    hermaphroditen    Fröschen    für   die    Erklärung 


5IO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


keine  Schwierigkeit,  ebensowenig  wie  das  Vor- 
kommen sekundärer  heterologer  Sexusmerkmale 
bei  Gliederfüßlern  (nach  Krohn  bei  der  Spinne 
Phalangium  und  nach  Ishikawa  bei  der  Krabbe 
Gebia).  So  könne  auch  bei  Tritonen  eine  völlige 
Unabhängigkeit  der  sekundären  Geschlechtsmerk- 
male von  den  Gonaden  nicht  weiter  auffallen. 
Die  Brunstmerkmale  wären  Folgen  des  gesteigerten 
Stoffwechsels.  Ähnlich  dürfte  es  sich  beim  Men- 
schen verhalten;  so  in  dem  oben  angeführten 
FallBabor's,  wo  sich  im  Hoden  eines  somatisch 
männlichen  Individuums  Eier  fanden.  Fraenkel 
(1914)  beschrieb  einen  Fall  von  Pseudohermaphro- 
ditismus  femininus  externus.  Trotz  eines  Ovariums 
auf  der  linken  Seite  lagen  äußerlich  vollständig 
männliche  Charaktere  vor.  Der  Kehlkopf,  die 
Behaarung  des  Gesichts,  die  Entwicklung  des 
Skeletts  u.  a.  neigte  nach  der  männlichen  Seite 
hin.  In  Verbindung  mit  eingeschlechtlichen  Keim- 
zellen fanden  sich  also  heterologe  somatische  Ge- 
schlechtsmerkmale. 

Bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  des 
Ovariums  ergab  sich  das  gänzliche  Fehlen  des 
interstitiellen  Gewebes.  Da  dieses  die  Entwick- 
lung der  heterologen  Geschlechtsmerkmale  hemmt, 
konnte  man  auf  sein  Fehlen  ihre  Entfaltung  im 
vorliegenden  Fall  zurückführen.  Dem  widerspricht 
aber  der  Befund  bei  Kastraten,  bei  welchen  eine 
Annäherung  an  das  andere  Geschlecht  nur  inso- 
weit eintritt,  als  es  das  Zurückbleiben  in  der  Aus- 
bildung heterologer  Geschlechtsmerkmale  anbetrifft. 

Nach  K.  ist  der  primäre  Sexualdimorphismus 
auf  die  Gonaden  beschränkt;  denn  was  den  Ma- 
krogameten als  Eizelle  erscheinen  läßt,  Größe, 
Dotterreichtum  usw.  und  andererseits  den  Mikro- 
gameten  als  Samenzelle  (Kleinheit,  Fortbewegungs- 
organe usw.)  sei  nur  sekundärer  Natur. 

Kathariner. 

Paläontologie.  Über  die  ältesten  Versteiner- 
ungen Europas  und  Nordamerikas  bietet  August 
Rothpletz  in  den  Abhandlungen  der  Königlich 
bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften  (XXVIII. 
Band,  Abhdl.  i   und  2)  seine  Forschungen  dar. 

Rothpletz  hat  in  den  oberen  Schichten  der 
Beltformation  eine  Fauna  gesammelt,  die  man  als 
präkambrisch  ansah.  Im  Staate  Montane,  bei  der 
Stadt  Helena  stehen  die  Schichten  an.  Zwischen 
Helenakalkstein  und  Gipfeldolomit  fanden  sich  in 
dunklen  Schiefern  Versteinerungen  an  mehreren 
Orten.  Diese  Schichten  sind  kambrischen  Alters. 
Darunter  liegen  erst  die  Beltschichten,  von  diesen 
durch  undeutliche  Diskordanz  getrennt.  Peale, 
dem  der  Name  Beltformation  zu  danken  ist,  glaubt 
an  eine  Senkung  des  archäischen  Kontinents. 
Darauf  lagerten  sich  die  Absätze  der  Beltformatien. 
Das  Senken  wurde  unterbrochen,  die  Ablagerung 
kam  ins  Stocken  und  erst  als  sie  von  neuem  ein- 
setzte, begann  der  Absatz  des  Kambriums.  Über- 
all ist  diese  Diskordanz  nicht  nachweisbar.  Aus 
den  Kapitolcreekschichten,  das  sind  ungeschichtete 


Schiefer,  die  den  Eindruck  gleichförmig  gewesener 
Tonmassen  machen,  stammen  weiter  unten  an- 
gefühlte Versteinerungen.  Im  Hangenden  liegen 
die  Gipfeldolomite,  im  Liegenden  der  Helenakalk- 
stein.  Der  .Schiefer  ist  kalkfrei.  Die  erhaltenen 
Brachiopoden  und  Crustaceen  finden  sich  immer 
nur  vereinzelt.  Trilobiten  und  Spongien  zeigen 
sich  fast  nur  in  Bruchstücken.  Sehr  wahrscheinlich 
war  das  Meer  der  Kapitolcreekschiefer-Periode  ein 
totes  Meer,  in  das  Strömungen  abgestorbenes 
Leben  aus  Meeren  mit  authigenen  Faunen  hinein- 
führten. So  kann  man  als  Äquivalente  diesen 
Schiefer  mit  der  eingewanderten  oder  verschleppten 
I-'auna  Kalke  ansehen,  die  im  Meere  nieder- 
geschlagen wurden. 

Die  früher  ungeschichteten  Tone  sind  jetzt 
eng  geschiefert  und  zerklüftet,  gepreßt  und  ver- 
zerrt. Darum  sind  auch  die  Versteinerungen  von 
anderer  Form  wie  ursprünglich  vor  der  Einlagerung. 
Mit  dem  einschließenden  Gestein  zusammen  wurden 
die  Versteinerungen  durch  in  der  Nähe  hochge- 
gangene Eruptivgesteine  metamorph  verändert. 
An  Spongien  wies  Rothpletz  nach :  Protospongia 
cf  fenestrata  Salter;  Lithistiden,  an  Brachiopoden : 
Rustella  Edsoni  Walcott,  var.  pentagonalis;  Lingu- 
lella  Helena  Walcott,  Obolella  Billings,  Obolella 
crassa  Hall,  Obolella  ailantica  Walcott,  Acrotreta 
cf  sagittalis  Salt.;  Kurtogina  cf  perrugata  Walcott, 
an  Hyolithen:  Hyolithes  cf  BiUingsi  Walcott, 
an  Crustazeen:  Fordilla  (?)  Walcotti  n.  sp.,  Trilo- 
biten, Phyllocariden.  Das  sind  alles  Vertreter 
des  oberen  Horizonts  des  unteren  Kambriums, 
nicht  des  Präkambriums,  in  das  man  die  Reste 
bis  jetzt  eingegliedert  hat. 

Die  einzigen  Versteinerungen  des  Präkambriums 
wären  die  Cryptozoon.  Von  Saratoga  Springs  im 
Staate  New  Yorks  führt  er  an :  Cryptozoon  proli- 
ferum  Hall,  aus  dem  Greenfielder  Eisenbahnein- 
schnitt: Cryptozoon  Ruedemanni  n.  sp.  Die  aus 
früheren  Veröffentlichungen  als  sicher  präkambrisch 
beschriebenen  Cryptozoon  occidentale  Dawson, 
Cryptozoon  frequenz  Walcott  sind  auch  fraglichen 
Alters. 

Eingehend  hat  sich  Rothpletz  mit  Eozoon 
canadense  befaßt,  diesem  Problematikum,  daß  so 
lange  Zeit  als  das  älteste  versteinerte  Lebewesen 
angesehen  wurde.  Er  besuchte  die  klassischen 
Fundorte  bei  Pepineauville.  An  diesem  dort  ge- 
sammelten Material  konnte  er  feststellen,  daß  alle 
die  Strukturen,  die  das  Gebilde  als  Petrefakt  be- 
schreiben ließen,  einer  zweifachen  Metamorphose 
ihrer  Entstehung  danken.  Eine  Frage  bleibt  noch 
zu  beantworten  offen.  Weil  die  Anordnung  der 
Kontaktmineralien  nur  auf  eine  Schicht  in  der 
Strukturmanier  zu  finden  ist  und  weil  diese  Mine- 
ralien auch  außerhalb  der  Eozoon-Schicht  vor- 
kommen und  dort  keine  Strukturanordnung  zeigen, 
glaubt  Rothpletz  an  eine  Mitwirkung  irgend- 
welcher Organismen  beim  Aufbau  der  Eozoon- 
schicht.  Das  Eozoon  hat  eine  kegelförmige  Gestalt, 
in  der  Foraminiferen-,  Spongien-,  Hydrozoenaufbau 
vereinigt    ist.     2,5  —  15cm    sind   die    Stücke    groß; 


N.  F.  XVI.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


511 


wenn  sie  untereinander  verwachsen  waren,  sogar 
30  cm  breit.  Beim  Verwittern  des  Kalkes  kann 
man  solche  kegelförmige  Bruchstücke  finden.  Da- 
gegen ist  eine  bestimmte,  Eozoon  führende  Schicht 
nicht  nachweisbar  und  darum  sind  auch  räumlich 
getrennt  vorkommende  EozoonSchichten  nicht 
immer  die  gleichen.  Der  Kalk  liegt  in  den  Gren- 
villeschichten,  die  sicher  vorsilurisch  sind,  aber 
überall  zu  Marmor  metamorphlsiertes  Cambrium, 
ja  wohl  auch  Präkambrium  vorsteilen.  IVletamor- 
phosen  hat  auch  Eozoon  zweimal  mitgemacht, 
so  daß  nach  Rothpletz  das  Eozoon  nur  ein 
anorganisches  Gebilde  ist. 

Aus  den  Steeprockschichten,  die  auf  alten 
laurentinischen  Granit  abgelagert  sind  am  Steeprock- 
See  in  Canada,  führt  er  Atikokamia  Lawsoni  Wale, 
Cryptozoon  Walcotti  u.  sp.  an.  Die  lithistide 
Spongie  Aiikokania  erreicht  eine  Größe  bis  7i  ni 
Durchmesser,  bildete  auf  dem  Meeresboden  Rasen. 
Die  Stromatoporide  Cryptozoon  wuchs  in  senk- 
rechten Kegeln,  so  dicht  zusammen,  daß  man 
annimmt,  es  seien  Verwachsungen.  Die  Ver- 
steinerungen haben  ausgesprochenes  kambrisches 
Gepräge,  während  die  herrschenden  stratigraphi- 
schen  Anschauungen  den  Steeprockschichten  eine 
tiefpräkambrische  (Huron)  Stellung  einräumen. 

So  sind  nach  diesen  Untersuchungen  Eozoon 
canadense  keine  Versteinerung  und  die  anderen 
prä-  und  altkambrische  Reste. 

Rudolf  Hundt,  im  Felde. 

Chemie.  Eine  sehr  interessante  Studie  über 
die  Abscheidung  von  Kohlenstoff  in  Form  von 
Diamant  ist  kürzlich  von  Otto  Ruff  veröffentlicht 
worden  (Zeitschrift  f.  anorgan.  u.  allgem.  Chem. 
Bd.  99,  S.  73  —  IC4,  1917)  und  möge  im  folgenden, 
obwohl  die  Ergebnisse  der  Ruff'schen  Arbeit  im 
wesentlichen  negativer  Natur  sind,  doch  ihrer 
grundsätzlichen  Bedeutung  wegen  ganz  kurz  be- 
sprochen werden. 

Der  leitende  Gesichtspunkt  für  die  Ruff'schen 
Versuche  war  weniger  die  sonst  in  der  Regel 
gestellte  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Bildung 
von  Diamant  überhaupt  als  vielmehr  die  Frage 
nach  der  Möglichkeit  seiner  technischen  Ge- 
winnung, und  dementsprechend  wurde  meist  so 
vorgegangen,  daß  versucht  wurde,  kleine  Dia- 
manten durch  Ankristallisation  von  Kohlenstoff"  zu 
vergrößern,    und   nur    wenn  dies  Verfahren    nicht 


anwendbar  war,  war  die  Abscheidung  von  Kohlen- 
stoff als  Diamant  in  Abwesenheit  von  Diamant- 
keimen Ziel  der  Arbeit.  So  wurden  kleine  Dia- 
manten bei  verschiedenen  Temperaturen  und 
Drucken  mehr  oder  minder  lange  Zeit  in  kohlen- 
stoffabscheidenden Gasen,  Dämpfen  oder  Flüssig- 
keiten gehalten  und  ihr  Gewicht  mittels  einer 
besonders  empfindlichen  Wage,  die  die  Tausendstel 
Milligramme  noch  zu  schätzen  gestattete,  vor  und 
nach  dem  Versuch  bestimmt.  In  keinem  Falle 
aber  wurde  auf  diese  Weise  eine  die  Fehlergrenzen 
der  Versuche  überschreitende  Vergrößerung  des 
Diamantgewichtes  beobachtet.  Der  Kohlenstoff 
schied  sich  immer  nur  in  Form  von  amorpher 
Kohle  oder  von  Graphit  ab.  Positive  Ergebnisse*), 
wurden  von  R  u  ff  nur  bei  der  Nachprüfung  der 
bekannten  Verfahren  von  Marsden  und  Moissan 
(Kristallisation  von  Kohlenstoff  aus  geschmolzenen 
Metallen)  erhalten,  indem  auch  Ruff  bei  diesen 
Versuchen  winzige  Kristallchen  erhielt,  die  er 
als  Diamanten  ansprechen  zu  müssen  glaubt, 
eine  technische  Bedeutung  haben  diese  Versuche 
indessen  nicht.  Das  wichtigste  Ergebnis  seiner 
Versuche  sieht  Ruff  in  der  Feststellung,  „daß 
sich  Diamant  bei  allen  bisher  versuchten  Wegen 
bis  zu  etwa  2000  Atmosphären,  wenn  überhaupt, 
so  doch  nur  dann  gebildet  haben  dürfte,  wenn 
flüssiger  bzw.  gelöster  oder  dampfförmiger  Kohlen- 
stoff durch  außerordentlich  rasche  Abkühlung  in 
feste  Form  übergeführt  wurde.  Aber  selbst  dies 
Ergebnis,  so  wahrscheinlich  es  auch  sein  mag,  ist 
nicht  ohne  Vorbehalt  als  Erfolg  zu  buchen;  denn 
wir  erhielten  das  als  Diamant  angesprochene 
Material  neben  amorphem  oder  graphitischem 
Kohlenstoff  unter  diesen  Bedingungen  stets  nur 
in  so  kleiner  Menge  und  so  fein  zerteilt,  daß  eine 
quantitative  Analj-se  in  einwandfreier  Form  nicht 
möglich  war  und  wir  uns  meist  mit  nicht  einmal 
ganz  einwandfreien  qualitativen  Belegen  für  das 
Vorhandensein  von  Diamant  begnügen  mußten." 
Die  tiefste  Temperatur,  bei  der  Ruff  noch 
Diamant  erhalten  zu  haben  glaubt,  ist  1600"  C; 
bei  niedrigeren  Temperaturen  entstand  immer  nur 
amorphe  Kohle  oder  Graphit.  Mg. 


')  Die  von  Kuff  ausdrücklich  als  „aussichtsreich"  be- 
zeichneten V'ersuche  von  A.  Ludwig  (Schmelzen  von  Kohle 
in  einer  Wasserstoflalmosphäre  unter  einem  Druck  von  mehr 
als  1 500  Atmosphären)  sind  bisher  noch  nicht  nachgeprüft 
worden. 


Franz  X.  Schaffer,  Grund  zu  ge   der   Allge- 
meinen   Geologie.     Deuticke,   Leipzig    und 
Wien   1916.  —  Geb.   17  M. 
Neben  den  bereits  bestehenden  ein  neues  Lehr- 
buch leichtfaßlicher  Art  herauszubringen,  noch  dazu 
mitten  im  Weltbrande,  zeugt  von  ungebrochenem 
Unternehmungsgeiste  des  Verfassers  wie  des  Ver- 
legers.   Ein  dringendes  Bedürfnis  danach  wäre  kaum 
zu  erkennen.     Indes  gibt  es  ja  auch  Verkehrsmittel, 


Bücherbesprechungen. 

die  sich  den  Verkehr  erst  schaffen  müssen,  dem 
sie  zu  dienen  bestimmt  sind.  Auch  Bücher  können 
und  dürfen  ihres  Glückes  eigener  Schmied  sein. 
Das  vorliegende  scheint  durchaus  dazu  geeignet. 
Hervorgegangen  aus  einem  Sammlungsführer, 
beschränkt  das  Werk  sich  ganz  auf  die  allgemeine 
Geologie,  d.  h.  auf  die  Darstellung  der  in  und  auf 
der  Erde  bestehenden  Kräfte  und  ihrer  Wirkungen. 
Gerade    Vulkanismus    und   PIrdbeben    unter   ihnen 


512 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


.     N.  F.  XVI.  Nr.  36 


pflegen  auch  sonst  in  unseren  Lehrbüchern  durch- 
aus nicht  zu  kurz  zu  kommen,  was  wenigstens 
die  Erscheinungen  anlangt.  Durch  die  Darlegungen 
über  Gebirgsbildung  werden  sie  aber  hier  ver- 
dientermaßen und  wirksam  getrennt,  und  alle  drei 
finden  in  dem  vorangegangenen  Abschnitt  über 
„die  Erde  und  ihre  Kraftquellen"  den  natürlichsten 
gemeinsamen  Wurzelboden.  Die  Dichte,  Wärme, 
Zusammensetzung  des  Erdganzen,  Magnetismus 
und  Radioaktivität  nebst  den  astronomischen  Ein- 
wirkungen sind  die  Faktoren,  aus  denen  jene 
großartigen  Phänomene  der  Oberfläche  erklärt 
werden  müssen;  sie  sind  dem  Leser  zuvor 
kurz,  vielleicht  allzukurz  vorgeführt  und  erläutert. 
Schwerer  verständlich  ist  die  weite  Trennung  der 
Kapitel  II  und  IV,  da  in  letzterem  wiederum  Ge- 
birgsbildung, Erdbeben  und  Vulkanismus  (in  dieser 
Reihenfolge  jetzt),  freilich  mehr  von  der  theoreti- 
schen Seit-e  aus  behandelt  werden.  Völlig  scharf 
lassen  sich  Erscheinung  und  Erklärung  doch  nicht 
scheiden.  Die  Kärtchen  von  der  Verteilung  der 
Erdbeben  und  Vulkane  und  ihrer  Abhängigkeit 
von  den  allgemeinen  großen  zirkumterrestrischen 
physikalischen  Störungszonen  gehören  durchaus 
zu  den  Erfahrungstatsachen. 

Dagegen  ist  die  Disposition  wieder  sehr  klar 
und  gleichsam  historisch  begründet  im  Abschnitt  III, 
der  von  Verwitterung,  Abtragung,  Bildung  der 
Gesteine  und  dem  Einschluß  der  Fossilien  darin 
als  geeignetster  Mhtel  zur  späteren  Deutung  handelt. 
Vielleicht  wird  auf  letzterem,  mehr  paläontologischen 
Gebiete  die  engste  Begrenzung  des  Themas  ein 
wenig  überschritten,  aber  es  wäre  pedantisch,  nicht 
dafür  dankbar  zu  sein. 

Es  kann  nicht  Aufgabe  öffentlicher  Besprechung 
sein,    kleinliche    Ausstellungen     zu    machen    oder 


winzige  Fehler  (Fig.  434  steht  auf  dem  Kopf;  die 
„tiefgründige  Zersetzung  des  Tropenbodens"  ist 
ein  Dogma,  sofern  sie  auf  das  Klima  statt  auf  das 
Alter  der  betr.  Landoberflächen  zurückgeführt  wird, 
ist  daher  in  den  Dinosaurierschichten  Ostafrikas 
so  wenig  wie  eine  minderwertige  Erhaltung  der 
dortigen  Knochen  [S.  453]  festzustellen  usw.)  über 
Gebühr  hervorzuheben.  Vielmehr  kann  und  muß 
betont  werden,  daß  das  Material  gründlich  ge- 
sammelt, klar  dargeboten  und  durch  vielfach 
ausgezeichnet  wiedergegebene  Abbildungen  aus- 
gezeichnet erläutert  ist.  Den  weitesten  Freundes- 
kreisen der  Geologie  kann  das  gut  ausgestattete 
Buch  zu  Einführung  und  Übersicht  angelegentlich 
empfohlen  werden.  Edw.  Hennig. 

B.  Bavink,  Einführung  in  die  allgemeine 
Chemie.     Aus  Natur  und  Geisteswelt  (Samm- 
lung wissenschaftlich-gemeinverständlicher  Dar- 
stellungen) Bd.  582.     108  S.  kl.  8»  mit  24  Ab- 
bildungen   im    Text.     Leipzig  und  Berlin   191 7. 
Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teubner.  —  Preis: 
geh.  I  M.,  geb.  1,25  M. 
In  kurzer  und  knapper,    aber  recht  leicht  ver- 
ständlicher und  ganz  elementarer  Darstellung  be- 
handelt   der  Verf    des  kleinen  Büchleins,    das   als 
Ergänzung  zu  den  von    demselben  Autor   in  der- 
selben Sammlung  veröffentlichten  Einführungen  in 
die  organische    und    in    die  anorganische  Chemie 
gedacht  ist,  die  wichtigsten  Tatsachen  und  Theorien 
der  allgemeinen  Chemie,  wobei  er  auch  die  neueren 
Erkenntnisse,    wie  z.  B.  die  Untersuchungen  über 
den  Aufbau    der  Kristalle    und   über  die  Struktur 
der  Atome  erörtert. 

Das  Büchlein  kann  empfohlen  werden. 

Werner  Mecklenburg. 


Anregungen  und  Antworten. 


Herrn  F.  B.  in  M.  I.  Von  K.  Fajans  ist  ein  z  u- 
afassendes  Werk  über  Radioelemente  und  periodisclics 
System  meines  Wissens  bisher  nicht  veröffentlicht  worden- 
Vielleicht  gibt  das  —  einer  Rezension ')  von  Fajans  zufolge 
allerdings  nicht  immer  ganz  einwandfreie  —  Werk  von 
C.  S  c  h  m  i  d  t  ,,Das  periodische  System  der  chemischen  Elemente" 
(Leipzig  1917,  Verlag  von  Joh.  Ambr.  Barth,  Preis  geh.  6, 
geb.  7,50  M.)  die  verlangte  Auskunft. 

2.  Ein  recht  gutes  Referat  über  neuerdings  erschienene 
Arbeiten  über  Radioaktivität  hat  Prof.  Dr.  F.  Henrich 
unter  dem  Titel  „Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Radio- 
aktivität in  den  Jahren  1915  und  1916"  in  der  Zeitschr.  f.  angew. 
Chemie  Jahrg.  1917,  Heft  19  (S.  57— 64I,  Heft  21  (S.  65—70) 
und  Heft  23  (S.  78  —  80)    erscheinen    lassen.     Vielleicht  über- 


')  Zeitschr.  f.  Elektroch.   1917,  Heft  9/10  (S.   159)- 


läßt    Ihnen    Herr    Prof.    Henrich    (Erlangen,    Bismarckstr.  9) 
einen  Sonderabdruck. 

3.  \  orschriften  über  die  Herstellung  kolloidaler  Lösungen 
sind  außer  in  der  ziemlich  zerstreuten  Originalliteratur  zu  linden 
in  dem  Buche  von  The  Svedberg  „Die  Methode  zur  Her- 
stellung kolloider  Lösungen  anorganischer  Stoffe"  (Dresden 
1909,  Verlag  von  Theodor  Steinkopff,   Preis  geh.  16,  geb.  18  M.). 

4.  Die  „Naturw.  Wochenschr."  hat  die  neuere  Entwick- 
lung der  Lehre  von  der  Radioaktivität  mehrfach  behandelt. 
Vgl.  z.  B.  K.  Schutt  „Das  periodische  System  und  die  Radio- 
elemente" (Jahrg.  1916,  S.  17 — 23),  ferner  die  von  den  Unter- 
zeichneten verfaßten  Berichte  über  „Die  Anschauungen  über 
den  Zusammenhang  zwischen  den  Atomgewichten  und  den 
chemischen  Eigenschaften  der  Elemente"  (Jahrg.  1915,  S.  107 
bis  III),  „Über  das  Verhalten  der  Radioelemente  bei  Fällungs- 
reaktionen" (Jahrg.  1915,  S.  471 — 472),  „Über  den  Element- 
und  Atombegriff  in  Chemie  und  Radiologie"  (Jahrg.  ig  16, 
S.  505 — 506),  „Zur  Kenntnis  der  isotropon  Elemente"  (Jahrg. 
1917,  S.  68—69).  Mg. 


Inhalt  I  Häufller,  Über  Vitamine,  Ergänzungsstofle,  Amidosäuren,  Eiweißkörper  und  einige  Stoffwechselkrankheiten.  S.  497. 
Johannes  Theel,  Über  die  Bedeutung  der  Größe  für  Organismen,  (i  Abb.)  (Schluß.)  S.  503.  —  Einzelberichte: 
Jaroslaw  Krizenecky,  Über  echten  Hermaphroditismus  beim  Kammmolch.  S.  508.  August  Rothpletz,  Über 
die  ältesten  Versteinerungen  Europas  und  Nordamerikas.  S.  510.  Otto  Ru  ff,  Über  die  Abscheidung  von  Kohlenstoff 
in  Form  von  Diamant.  S.  51 1.  —  Bücherbesprechungen:  Franz  X.  Schaff  er,  Grundzüge  der  Allgemeinen  Geologie. 
S.  511.  B.  Bavink,  Einführung  in  die  allgemeine  Chemie.  S.  512.  —  Anregungen  und  Antworten:  Radioelemente 
und   periodisches  System.   S.   512. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a 


lidenstraße  42,  erbeten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  i6.  September  1917. 


Nummer  WS 


Über  den  Kathodenstrahldurchgang  durch  Materie. 


Von  A.  Becker. 


[Nachdruck  verboten.]  Mit    3  Abbildungei 

Seitdem  wir  in  den  Kathodenstrahlen  die  Ele- 
mentarquanten der  negativen  Elektrizität  erkannt 
und  diese  zusammen  mit  noch  nicht  näher  be- 
kannten elementaren  positiven  Kraftzentren  als  die 
Bausteine  der  Atome  der  Materie  aufzufassen  ge- 
lernt haben,  ist  die  quantitative  Erforschung  der 
Gesetze  des  Kathodenstrahldurchgangs  durch 
die  Materie  für  die  Kenntnis  der  Atomkonstitution 
und  des  im  elektromagnetischen  Felde  des  Atoms 
vor  sich  gehenden  Energieumsatzes  von  höchster 
Bedeutung  geworden. 

Grundlegend  in  dieser  Hinsicht  sind  die  ersten 
Untersuchungen  Lenard's,^)  welche  insbesondere 
die  Erscheinungen  der  Absorption,  der  Diffusion, 
der  Sekundärstrahlbildung  und  der  Auslösung 
chemischer  Prozesse  im  durchstrahlten  Medium  auf- 
gedeckt und  auch  teilweise  weitgehend  quantitativ 
festgelegt  haben,  während  speziell  die  Probleme  des 
Energieumsatzes  durch  die  Entdeckung  Röntgen 's -j 
über  die  Erregung  unperiodischer  Ätherstrahlung 
und  durch  die  von  Lenard^)  an  sehr  langsamen, 
von  Leithäuser*)  an  schnelleren  Kathoden- 
strahlen zuerst  gemachte  Beobachtung  der  Ge- 
schwindigkeitsverringerung der  Strahlung  in  Materie 
eine  wichtige  Erweiterung  erfuhren. 

Den  späteren  Untersuchungen  blieb  hiernach 
als  Hauptaufgabe  die  weitere  Vertiefung  der 
quantitativen  Erkenntnis  des  Erscheinungs- 
komplexes. Bedeutungsvoll  war  für  sie  insbesondere 
noch  die  Entscheidung  der  Frage  nach  der  Ab- 
hängigkeit der  Erscheinungen  von  der  Strahlge- 
schwindigkeit und  der  Natur  der  durchstrahlten  Sub- 
stanz. Wegen  der  genannten  großen  Mannigfaltig- 
keit der  Vorgänge  beschränkte  sich  die  Mehrzahl 
der  bisherigen  Untersuchungen  naturgemäß  auf 
die  Ergründung  der  Einzelerscheinungen.  Für  die 
Bewertung  der  Ergebnisse  und  die  Orientierung 
der  weiteren  Forschung  ist  aber  die  zusammen- 
fassende Betrachtung  unerläßlich  auch  dann, 
wenn  das  durch  sie  gegebene  Bild  noch  verbesse- 
rungsbedürftig sein  würde.  Bei  der  Schwierigkeit, 
welcher  gegenwärtig  noch  der  Versuch  der  rein 
theoretischen  Beschreibung  der  Vorgänge  begegnet, 
werden  hierbei  auch  rein  empirisch  gewonnene 
quantitative  Beziehungen  solange  für  den  Überblick 
von  Bedeutung  sein,  als  sie  die  direkte  Erfahrung 
mit  der  ihr  selbst  zukommenden  Genauigkeit  ein- 


')  P.  Lenard,  Wied.  Ann.  51,  52,  1894;  56,  1895; 
63,    1897;    64,  65,    1898;    Ann.   d.   Phys.  12,    1903;    15,    1904. 

2)  W.  C.   Röntgen,  Wied.  Ann.  64,   1895. 

•')  P.   Lenard,  Ann.  d.  Phys.   12,  p.   727,   1903. 

*)  G.  E.  Leithäuser,  Sitzgsber.  d.  Akad.  d.  Wiss. 
Berlin    1902;  Diss.  Berlin   1903;  Ann.  d.  Phys.  15,   1904. 


I  und   3  Kurven. 

wandfrei  darstellen  und  noch  nicht  durch  eine  voll- 
begründete theoretische  Gleichung  ersetzbar  sind. 
Es  sollen  in  dieser  Richtung  im  folgenden  die 
drei  Erscheinungsgebiete  der  Geschwindigkeits- 
verringerung, der  Absorption  und  der  Sekundär- 
strahlerzeugung, soweit  es  die  gegenwärtige  Kennt- 
nis ermöglicht,  zusammenfassender  Betrachtung 
unterworfen  werden. 

I.  Geschwindigkeitsverlust. 

Von  allenKathodenstrahluntersuchungen  dürften 
die  direkten  Geschwindigkeitsmessungen  am 
wenigsten  durch  schwer  oder  nicht  eliminierbare 
Begleiterscheinungen  beeinflußt  sein  und  daher  am 
ehesten  ein  ungetrübtes  Bild  des  reinen  Einzel- 
vorgangs geben.  Wir  stützen  uns  im  folgenden 
deshalb  vornehmlich  auf  die  Ergebnisse  derjenigen 
Untersuchungen,  welche  den  Geschwindigkeits- 
verlust der  Strahlen  beim  Durchgang  durch  Materie 
direkten    Geschwindigkeitsmessungen    entnehmen. 

Die  Versuchsweise,  die  bisher  überwiegend  auf 
den  Strahldurchgang  durch  Metalle  angewandt 
worden  ist,  besteht  darin,  daß  man  den  Geschwin- 
digkeitsverlust aus  der  Änderung  der  magnetischen 
Ablenkbarkeit  des  durch  scharfe  Blenden  abge- 
grenzten Strahls  bestimmt.  Es  ist  hierzu  entweder 
gleichzeitig  oder  nacheinander  die  Ablenkung  eines 
direkten  und  eines  eine  Metallfolie  bekannter  Dicke 
durchsetzenden  Strahlenbündels  in  einem  konstant 
bleibenden  Magnetfeld  zu  fixieren.  Ist  z,  die 
Seitenablenkung  auf  einer  Wegstrecke  x  =  1  im 
Magnetfeld  ^,  v^  die  ursprüngliche  Strahlenge- 
schwindigkeit und  -  -  das  Verhältnis  von  Ladung 

und  Masse  der  Strahlteilchen  bei  dieser  Geschwin- 
digkeit ,  gemessen  im  elektromagnetischen  Maß, 
so  findet  sich 


1-     /dx    /|)d> 
Zq  m  J         t) 


und  die  Änderung  dieser  Geschwindigkeit  nach 
Durchsetzen  einer  bestimmten  Metalldicke  wird, 
sofern  sie  bei  den  Messungen  sehr  klein  bleibt,  durch 

JVf,  = ^-Vj  gegeben,  wenn  Jz^  die  beobach- 
te 
tete  Änderung  der  Seitenablenkung  ist. 

Der  Veranschaulichung  mögen  einige  Repro- 
duktionen photographischer  Aufnahmen  des  Verfs. 
dienen.  Die  Fig.  i  zeigt  einen  sich  im  kräftefreien 
Raum  geradlinig  fortpflanzenden  Kathodenstrahl, 
dessen  Geschwindigkeit  etwa  1,2X10"  cm/sec 
war.  Die  Fig.  2  zeigt  einen  unbeeinflußten  und 
je  einen  in  einem  Magnetfeld  verschiedener  Rieh- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  37 


tung  abgelenkten  Strahl.  Die  Fig.  3  schließlich 
enthält  zwei  getrfnnte  Darstellungen  eines  vertikal 
zur  Strahlrichtung  aufgenommenen  Bildes.  In 
beiden  Fällen  erfolgte  die  Ablenkung  nach  zwei 
Seiten  in  zwei  verschieden  starken  Magnetfeldern, 
und    gleichzeitig  wurde   auch   die  Projektion   des 


unabgelenkten  Strahls  festgehalten.^  Während  aber 
das  obere  Bild  mit  einem  ursprünglichen  Strahlen- 
bündel erhalten  wurde,  bezieht  sich  das  untere  auf 
denselben  Strahl  nach  Durch- 
setzen einer  Aluminiumfolie 
von  0,00089  cm  Dicke.  Aus 
der  gegenseitigen  Verschie- 
bungder  Seitenstreifen  beider 
Bilder  ist  der  Geschwindig- 
keitsverlust ohne  weiteres 
ersichtlich. 

Außer     durch     optische 
Fixierung  kann  die  Ablenk- 
Abb.  3.  barkeit  der  Strahlen  auf  elek- 

trischem Wege  ermittelt  wer- 
den. Letzteres  ist  insbesondere  dann  erforder- ' 
lieh,  wenn  die  Intensität  der  verfügbaren  Strahlung 
oder  ihre  photographische  Wirksamkeit  aus  anderen 
Gründen  gering  ist. 

Von  besonderem  Interesse  ist  der  Gang  des 
Geschwindigkeitsverlustes  mit  der  Dicke  der  durch- 
strahlten Schicht  und  der  Anfangsgeschwindig- 
keit der  eintretenden  Strahlen.  Direkte  Messungen 
hierüber  liegen  vor  für  das  Geschwindigkeitsbereich 
von  etwa  0,4  bis  2,94X10'"  cm'sec.  Dieselben 
ergeben  übereinstimmend,  daß  der  bei  den  größten 
Strahlgeschwindigkeiten  äußerst  geringe  Geschwin- 
digkeitsverlust mit  abnehmender  Geschwindigkeit 
wächst  und  bei  kleineren  Geschwindigkeiten  sehr 


hohe  Wert  annimmt.  Es  ist  dies  vornehmlich  für 
Aluminium  als  durchstrahlte  Substanz  untersucht 
worden.  Da  die  Beobachtungen  an  anderenMetallen 
andeuten,  daß  die  für  den  gleichen  Geschwindig- 
keitsveriust  maßgebenden  Schichtdicken  bei  ihnen 
etwa  im  umgekehrten  Verhältnis  der  Dichte  stehen, 
daß  also  Schichten  gleicher  Masse  pro  Flächen- 
einheit nahe  gleichen  Geschwindigkeitsverlust  ver- 
ursachen, so  kann  der  bei  Aluminium  beobachtete 
Gang  mit  der  Geschwindigkeit  in  erster  Annäherung 
als  maßgebend  für  alle  Stoffe  angesehen  werden. 

Versucht  man  nun  diesen  Gang  quantitativ  zu 
überblicken,  so  findet  sich,  wie  ich  kürzlich  näher 
gezeigt  habe,  ^)  daß  derselbe  im  ganzen  beobach- 
teten Geschwindigkeitsbereich  durch  die  einfache 
Beziehung 

dv  c  — v 

dx=-^^^ 
mit  derselben  Genauigkeit  darstellbar  ist,  die  der 
Gesamterfahrung  bisher  zukommt.  Danach  ist 
also  der  Geschwindigkeitsverlust  pro  Längeneinheit 
direkt  proportional  dem  Unterschied  des  Absolut- 
werts der  jeweiligen  Geschwindigkeit  gegen  die- 
jenige des  Lichts  (c=3Xio"  cm/sec)  und  um- 
gekehrt proportional  dem  Quadrat  der  jeweiligen 
Geschwindigkeit.  Die  Größe  a  ist  hierbei  eine 
Konstante,  die  für  Aluminium  etwa  den  Zahlen- 
wert 7,5X10^"  hat. 

Nimmt  man  an,  daß  diese  Beziehung,  die  ich 
als  „quadratische  Formel"  bezeichnet  habe, 
für  das  ganze  Geschwindigkeitsbereich  der  Kathoden- 
strahlung —  von  3  X  10^"  cm/sec  bis  zu  kleinen 
Werten  — zutreffe,  so  würde  nach  ihr  der  Gang 
des  auf  0,01  mm  Aluminium  bezogenen  Ge- 
schwindigkeitsverlusts  mit  der  Geschwindigkeit 
der  folgende  sein: 

Tabelle  i. 


cm 
sec 

dv  cm  /  0,01 
dx  sec/  mm 

V      5^" 

dv  cm  /o,oi 
dx   sec  /  mm 

2,94X10'» 

0,00052X10'° 

1,50X10'° 

0,0500X10'» 

2,85 

0,00138 

1.35 

0,0680 

2,70 

0,00308 

1,20 

0,0937 

2,55 

0,0051g 

1,05 

0,1326 

2,40 

0,00781 

0,90 

0,1944 

2,10 

0,0153 

0,60 

0,500 

1,80 

0,027s 

0,45 

0,94 1 

1,65 

0,0372 

0,30 

2,25 

Tritt  ein  Kathodenstrahl  bestimmter  Anfangs- 
geschwindigkeit in  eine  dickere  Schicht  ein,  so 
erfährt  danach  seine  Geschwindigkeit  eine  be- 
schleunigt zunehmende  Verringerung.  Ihr  Gang 
mit  der  Dicke  würde  für  Aluminium  der  in  bei- 
stehender Fig.  4  wiedergegebene  sein,  wenn  wir 
als  Anfangsgeschwindigkeit  v„  das  eine  Mal 
2X10*"  cm/sec,  das  andere  Mal  1,5X10'"  cm/sec 
wählten. 


')  A.  Becker,  Heidelb.  Akad.  d.  Wiss.    7.   Abh.     1917. 


N.  F.  XVI.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


515 


Man  erkennt,  daß  die  am  Anfang  der  Bahn 
nur  allmähliche  Geschwindigkeitsabnahme  mit  zu- 
nehmender Schichtdicke  rasch  anwächst,  und  daß 
die  Geschwindigkeit  bei  einer  bestimmten,  für 
jede  Anfangsgeschwindigkeit  charakteristischen 
Dicke  auf  Null  herabsinkt.  Diese  stellt  im  be- 
treffenden Medium  die  Grenze  dar,  bis  zu  welcher 
ein  Kathodenstrahl  bestimmter  Anfangsgeschwin- 
digkeit höchstenfalls  eindringen  könnte,  sie  kann 
daher  als  „Grenzdicke"  bezeichnet  werden.   Ihr 


020     mm.       025 


Wert     berechnet     sich    nach     der    quadratischen 
Formel  zu 


wenn  ß^  =  "  gesetzt  ist.  Ihr  Gang  mit  der  Aus- 
gangsgeschwindigkeit Vq  ist  danach  für  Aluminium 
der  folgende: 

Tabelle  2. 


^0 

cm 
sec 

.\„,  mm 

3X 

lo'o 

00 

i.SXio'o 

0,082 

2,95 

3,153 

1,2 

0,037 

2,9 

2,361 

1,0 

0,020 

2.7 

1,197 

0,8 

0,0095 

2,5 

0,733 

0,6 

0,0038 

2,3 

0,474 

0,5 

0,002 1 

2,0 

0,252 

0,3 

0,0004 

1,8 

0,1  Ö4 

0,2 

0,0001 

Während  die  schnellsten  Strahlen  relativ  große 
Dicken  zu  durchlaufen  vermögen,  ist  die  Ge- 
schwindigkeitsabnahme  der  langsameren  Strahlen 
so    groß,    daß    ihre    Grenzdicke    außerordentlich 


kleine  Werte  annimmt.  Eine  direkte  experimen- 
telle Ermittlung  dieser  Grenzdicke  ist  allerdings 
ausgeschlossen,  da  die  Kathodenstrahlung  bei 
ihrem  Eindringen  in  Materie  in  viel  höherem  Maße 
der  Absorption  als  der  Geschwindigkeitsverringe- 
rung unterliegt,  und  da  infolgedessen  die  Anzahl 
derjenigen  Elektronen,  die  ohne  vorhergehende 
Absorption  die  Grenzdicke  zu  durchlaufen  ver- 
möchten, praktisch  verschwindend  ist. 

Es  ist  noch  zu  bemerken,  daß  die  den  vor- 
stehenden Berechnungen  zugrunde  gelegten  Ge- 
schwindigkeitsverluste dem  Fall  entsprechen,  daß 
die  .Strahlen  in  die  betreffende  Schicht  normal 
eintreten  und  aus  ihr  in  gleicher  Richtung  aus- 
treten und  daß  diese  Schicht  relativ  dünn  ist.  Es 
wird  hierbei  anzunehmen  sein,  daß  die  durch- 
laufene \\'egstrecke  in  erster  Annäherung  trotz 
der  auftretenden  Strahldiffusion  der  Dicke  der 
Schicht  entspricht.  Nimmt  diese  aber  erheblichere 
Werte  an,  so  wird  insbesondere  bei  langsameren 
Strahlen  mit  dem  überwiegenden  Auftreten  längerer 
Wege  und  infolgendessen  mit  rascherer  Geschwin- 
digkeitsabnahme gerechnet  werden  müssen.  Es 
ist  darnach  anzunehmen,  daß  das  Ergebnis  der 
Integration  der  quadratischen  P~ormel  über  merk- 
liche Schichtdicken  namentlich  bei  den  kleinen 
Strahlgeschwindigkeiten  wohl  zu  geringe  Ge- 
schwindigkeitsabnahme liefern  wird. 

Es  bleibt  jetzt  noch  die  Frage,  wie  weit  auch 
der  Differentialansatz  etwa  in  seiner  Gültigkeit  be- 
schränkt sein  könnte.  Hierzu  kann  nur  vom 
theoretischen  Gesichtspunkt  aus  folgendes  bemerkt 
werden:  Soweit  der  Geschwindigkeitsverlust  der 
Kathodenstrahlen  und  damit  auch  die  Abnahme 
ihrer  Energie  durch  eine  einheitliche  Gesetzmäßig- 
keit darstellbar  ist,  soweit  werden  auch  die  für 
die  Erscheinung  maßgebenden  Atomvorgänge 
qualitativ  gleicher  Art  sein  müssen.  Daß  dies 
tatsächlich  für  das  ganze  Gebiet  von  den  schhnell- 
sten  bis  zu  den  langsamen  Geschwindigkeiten  von 
etwa  0,05  X  10'"  cm  sec  zutreffe,  ist  nach  bisheriger 
Kenntnis  anzunehmen.  Unterhalb  dieser  Geschwin- 
digkeit verliert  das  Elektron  allmählich  seine  Fähig- 
keit, das  Atominnere  zu  durchdringen,  und  der 
Vorgang  des  Energieaustauschs  wird  eine  quali- 
tative Änderung  erfahren  müssen,  so  daß  die  Aus- 
sagen der  quadratischen  Formel  für  die  kleinsten 
Strahlgeschwindigkeiten  nicht  mehr  bindend  sein 
werden.  Wir  kommen  hierauf  im  letzten  Ab- 
schnitt nochmals  zurück.  Die  Angaben  über  die 
Grenzdicken  werden  hierdurch  jedenfalls  praktisch 
nicht  beeinflußt. 

2.  Absorption. 
Durch  die  Untersuchungen  Lenard's  ist  fest- 
gestellt, daß  die  Absorption  der  Kathodenstrahlen 
in  Materie,  die  in  einer  Bindung  eines  Teils  der 
ein  Atom  durchsetzenden  Elektronenzahl  durch 
das  elektromagnetische  Kraftfeld  des  Atoms  be- 
steht, einem  Exponentialgesetz  folgt,  welches  besagt, 
daß  in  jeder  elementaren  Schicht  immer  der  gleiche 
Bruchteil  der  eintretenden  Quantenmenge  festge- 
halten wird.     Bezeichnen  wir  diese,  die  Strahlen- 


516 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  37 


intensität,  mit  i,  die  durchsetzte  Schichtdicke  mit  x, 

so  ist  also 

di 

-,--=  —  «.1, 

dx 

woraus  durch  Integration  sofort  das  Exponential- 
gesetz 

i  =  i(,e-«^ 
folgt,  welches  diejenige  Intensität  angibt,  die  eine 
X  cm  dicke  Schicht  des  Mediums  zu  durchsetzen 
vermag,  wenn  i^  die  Anfangsintensität  und  a  den 
für  die  Substanz  und  die  betreffende  Strahl- 
geschwindigkeit charakteristischen  „Absorptions- 
koeffizienten" bezeichnet. 

Was  die  Abhängigkeit  des  Wertes  a  von  der 
Natur  der  Substanz  betrifft,  so  fand  Lenard  das 
wichtige  Gesetz  der  Massenproportiona- 
lität, nach  dem  der  Absorptionskoeffizient  aller 
Stoffe  in  erster  Annäherung  —  bei  nicht  zu  ge- 
ringen Strahlgeschwindigkeiten  —  der  Masse  der- 
selben proportional  ist.  Sieht  man  von  denjenigen 
Stoffen  ab,  welche  wesentliche  Abweichungen  von 
diesem  Gesetz  zeigen  und  auf  die  hier  nicht  näher 
eingegangen  werden  soll,  so  ist  es  für  die  Betrach- 
tung der  wichtigen  Fragen  nach  der  Abhängigkeit 
der  Absorption  von  der  Strahlgeschwindigkeit  von 
Vorteil,  die  auf  die  Masseneinheit  bezogenen  Ab- 
sorptionskoeffizienten der  Untersuchung  zu  unter- 
werfen. Es  kommen  hierfür  in  der  Literatur  vor- 
zugsweise Beobachtungen  an  Luft  und  Aluminium 
in  Betracht.  Da  in  der  erwähnten  Formel  a  als 
Konstante  betrachtet  wird,  da  ihre  Anwendung 
also  eine  Strahlung  konstanter  Geschwindigkeit 
voraussetzt,  so  sind,  wenn  der  im  vorhergehenden 
Abschnitt  betrachteten  Geschwindigkeitsabnahme 
nicht  besonders  Rechnung  getragen  wird,  nur  die- 
jenigen Messungen  unmittelbar  verwertbar,  welche 
sich  auf  sehr  geringe  Schichtdicken  beziehen.  Daß 
daneben  eine  Reihe  weiterer  Vorsichtsmaßregeln 
zu  beachten  sind,  möge  nur  erwähnt  werden. 

Nachdem  schon  im  Jahre  1903  durch  die 
Lenard 'sehen  Arbeiten  ein  erster  Überblick  über 
den  Gang  der  Kathodenstrahlabsorption  mit  der 
Geschwindigkeit  gegeben  war,  sind  später  zahl- 
reiche weitere  Versuche  bekannt  geworden,  die 
eine  nähere  quantitative  Festlegung  dieses  Ganges 
ermöglichten.  Wie  ich  vor  mehreren  Jahren  ge- 
zeigt habe, ')  findet  sich,  daß  die  Absorption 
innerhalb  des  großen  Gebietes  von  etwa 
I X 10"  cm/sec  bis  zu  den  größten  ge- 
messenen Geschwindigkeiten,  die  der- 
jenigen des  Lichts  sehr  nahe  kommen,  innerhalb 
dessen  die  Absolutwerte  der  Absorption  um  nahe 
das  Tausendfache  voneinander  unterschieden  sein 
können,  mit  befriedigender  Annäherung  propor- 
tional ist  der  6.  Potenz  der  reziproken 
Geschwindigkeit.  Beim  Übergang  zu  kleineren 
Strahlgeschwindigkeiten  nimmt  aber  der  Exponent 
kontinuierlich  ab  derart,  daß  der  Absorptionskoef- 
fizient bis  herab  zu  Geschwindigkeiten  von  etwa 
0,05  X 10"  cm/sec  angenähert  durch  den  Ausdruck 


a^a„  — -1 für  zß^- 1 

dargestellt  werden  kann,  wo  /?=-     und     a     ein 

Zahlenwert  ist,  der  im  Geschwindigkeitsbereich 
von  0,05  bis  etwa  0,5  X  10^"  cm/sec  die  konstante 
Größe  0,30  besitzt,  die  dann  im  Bereich  von  0,5 
bis  I  X  10"  cm/sec  allmählich  auf  Null  herabsinkt. 
Setzt  man  für  den  auf  die  Masseneinheit  be- 
zogenen Absorptionskoeffizienten  der  Strahlen 
v=  1,5X10^"  cm/sec  den  von  mir  früher  ge- 
messenen Wert  =r  =  250  gr-'cm',   so  ergibt  sich 

nach    obigem    der    folgende   Gang    mit   der   Ge- 
schwindigkeit: 

Tabelle  3. 


cm 
sec 

ßgr-'cnr 

V    _ 

l  gt-'cm' 

2,7X'°'° 

7,35 

1,2X10'° 

9,5  X«o^ 

2,4 

14.9 

0,9 

48    X^o' 

2,1 

33 

0,6 

4,2X10' 

1,8 

84 

0.3 

9,0  X'o" 

1.5 

250 

0,15 

3,3  X'o" 

Da  mit  zunehmender  Schichtdicke  die  Kathoden- 
strahlung, wie  gezeigt,  einen  Geschwindigkeits- 
verlust erfährt,  so  muß  der  Absorptionskoeffizient 
mit  wachsender  Dicke  ansteigen,  und  der  Verlauf 
der  Gesamtabsorption  wird  nicht  mehr  dem 
exponentiellen  Gesetz  folgen.  Dies  ist  in  der 
Literatur  vielfach  unberücksichtigt  geblieben,  so  daß 
das  Ergebnis  mancher  Beobachtungen  fälschlicher- 
weise in  dem  Sinne  gedeutet  wurde,  daß  das 
Exponentialgesetz  prinzipiell  nicht  zuträfe.  In  der 
beistehenden  Fig.  5  sind  diese  Verhältnisse  für 
die  Anfangsgeschwindigkeit  1,5X10*"  cm/sec 
dargestellt. 

Die  Kurve  i  zeigt  den  Gang  des  Absorptions- 
koeffizienten mit  der  durchlaufenen  Schichtdicke 
für  eine  Substanz  mit  der  Dichte  i.  Derselbe 
nimmt  zunächst  langsam,  dann  rascher  zu  und 
erreicht  in  tieferen  Schichten  sehr  beträchtliche 
Werte.  Die  Strahlintensität  *)  nimmt  infolgedessen 
wesentlich  stärker  ab  (Kurve  3)  als  im  Falle  konstant 
angenommener  Absorption,  den  die  Kurve  2  dar- 
stellt. Man  erkennt  auch,  daß  im  gleichen  Dicken- 
bereich (0,05  mm),  in  dem  die  Geschwindigkeit 
nur  auf  etwa  77  "/„  des  Anfangswertes  abnimmt, 
die  Strahlintensität  bereits  auf  6  %  reduziert  wird. 

Es  bleibt  zu  bemerken,  daß  auch  bei  der  Ab- 
sorption wegen   der   gleichzeitigen  Strahldiffusion 


»)  A.  Becker,  Heidclb.  Akad,  d.  Wiss.   19.  Abh,  19JO. 


>)  Der  für  die  Strablintensität  sich  für  diesen  Fall  aus 
unseren  Formeln  ergebende  theoretische  Ausdruck  ist  nicht 
ganz  einfacher  Art.  Für  die  angenäherte  Berechnung  bei 
kleineren  und  mittleren  Geschwindigkeiten  genügt  der  Ausdruck 


i  =  j   e  ,  wo  io  die  Anfangsintensität,  «,  der  der 

Anfangsgeschwindigkeit     zukommende     Absorptionskoeftizient, 


N.  F.  XVI.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S17 


im  Durchschnitt  mit  einer  vergrößerten  Wege- 
länge zn  rechnen  ist.  Es  geschieht  dies  im  allge- 
meinen durch  Einführung  eines  „Wegfaktors", 
dessen  Größe  durch  die  Höhe  der  Diffusion  be- 
stimmt wird  und  meist  nicht  allzu  erheblich  von  i 
sich  unterscheidet. 


.1200 

1100 

/ 

/ 

90 

\ 

/ 

i 

eo 

70 
60 

.600|             \-,^ 

/ 

/ 

500 1                     \     ^- 

/ 

1« 

|30 

.oof               J< 

\ 

-->2 
S3 

J- 

r 

.200 

\v       1 

10 

-100 

Schlchldlcke  x  mm. 

\ 

( 

001           0-02 

003 

004 

00 

Energieverlust  der  letzteren  auf  der  Einheit  des 
Weges  der  Anzahl  erzeugter  Sekundärelektronen 
auf  dem  gleichen  Wege  einfach  proportional  sein 
müssen.  Vergleichen  wir  in  dieser  Hinsicht  die 
Aussagen  der  quadratischen  Formel  mit  den  Er- 
gebnissen der  direkten  Untersuchung  des  Gangs 
der  Leitfähigkeit  der  Luft  mit  der  Strahlgeschwin- 
digkeit, wie  sie  von  Bloch')  zusammengestellt 
worden  sind  —  wobei  wir  voraussetzen  müssen, 
daß  der  Geschwindigkeitsverlust  in  Luft  und 
Aluminium  dieselbe  Geschwindigkeitsfunktion  ist 
—  so  ergibt  sich  folgendes: 

Ist  E  die  Energie  eines  Primärelektrons,  so 
läßt  sich  diese  darstellen  durch  die  bekannte 
Gleichung 

E  =  m„c2{(i— /J'^)-'/'— I}. 
Hieraus   ergibt   sich   für  die  Energieänderung  auf 
der  unendlich  kleinen  Längeneinheit  in  Luft 
dE      dE    d/?  T_« 


■''■    'ß    ' 


Abb.   5. 

3.  Sekundärstrahlerzeugung. 

Nach  den  Untersuchungen  Lenard's  aus 
dem  Jahre  1903  löst  ein  Kathodenstrahl  aus 
den  von  ihm  durchquerten  Atomen  sekundäre 
Elektronen  aus,  die  sich  von  ihm  vornehm- 
lich durch  eine  wesentlich  kleinere  Geschwin- 
digkeit unterscheiden.  Dieselbe  beträgt  etwa 
0,0065  X  10'"  cm/sec  (entsprechend  einer  Erzeu- 
gungspannung von  etwa  1 1  Volt)  und  scheint  in 
weitem  Bereich  von  der  Geschwindigkeit  des 
Primärstrahls  unabhängig  zu  sein.  Ihre  Menge 
dagegen  zeigt  einen  sehr  erheblichen  Gang  mit 
der  letzteren.  Während  unter  II  Volt  Primär- 
geschwindigkeit (für  die  meisten  Stoffe)  die  Sekun- 
därstrahlemission Null  ist,  steigt  sie  mit  wachsender 
Primärgeschwindigkeit  rasch  an,  erreicht  in  der 
Nähe  von  200  Volt  ein  Maximum,  um  bei  weiterer 
Steigerung  der  Primärgeschwindigkeit  allmählich 
wieder  abzunehmen  und  offenbar  einem  Grenzwert 
zuzustreben.  Die  Untersuchung  dieses  Gangs  er- 
folgte hauptsächlich  in  Gasen,  vornehmlich  in  Luft, 
deren  Leitfähigkeit  als  unmittelbare  Folge  der 
Sekundärstrahlerregung  ein  direktes  Maß  der 
letzteren  darstellt. 

Die  Quelle  der  Sekundärstrahlenenergie  wird 
man  in  erster  Linie  im  Geschwindigkeitsverlust 
der  Primärstrahlen  zu  suchen  haben.  Würde  die 
Annahme  der  Konstanz  der  Geschwindigkeit  bzw. 
der  Geschwindigkeitsverteilung  der  Sekundär- 
strahlung für  das  ganze  Geschwindigkeitsgebiet 
der  Primärstrahlen    zutreffen,    so  würde    dann  der 

Xm  die  ihr  entsprechende  Grenzdicke  und  x  die  laufende 
Dicke  ist.  Bei  den  größten  Geschwindigkeiten  gibt  er  die 
Intensitälsabnahme  etwas  zu  grofi  an. 


dß    dx 
wenn  die  Längen  in  cm  gemessen  werden. 

Wir  bezeichnen  diesen  Wert  als  „differen- 
tiale  Energieänderung"  und  untersuchen, 
wie  weit  diese  gleichzeitig  als  Maß  für  die  „diffe- 
rentiale  Sekundärstrahlung"  betrachtet 
werden  kann. 

Sehen  wir  zunächst  vom  Absolutwert  ab  und 
wählen  den  Zahlenfaktor  derart,  daß  der  Wert  von 
dE 


dx 


für    die    mittlere    Strahlgeschwindigkeit     von 


1,5  X  lo'"  cm/sec  der  gebildeten  Sekundärquanten- 
zahl gleich  wird,  so  ergibt  sich  das  durch  die 
Fig.  6   dargestellte  Bild.     Die  ausgezogenen  Kur- 


\ 

\ 

25  \ 

\ 

\ 

A 

. 

20     \ 

\ 

15          \ 

\ 

» 

10        "       \ 

^ 

. 

0    \ 

\^^^^ 

55;                  oX 

oAu 

s  ^  berechnet. 

^^^ 

N 

Primärstrahlgeschwindi' 

keit  V. 

cm.^sec.       3-10 

ven  geben,  in  zwei  verschiedenen  Maßstäben,  den 
Gang  der  Sekundärquantenzahl,  die  pro  Elementar- 

■)  S.  Bloch,  Diss.  Heidelberg   19I1;  Ann.   d.  Phys.  38, 


5if 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  37 


quant  des  Primärstrahls  in  Luft  von  Atmosphären- 
druck auf  I  mm  Weg  nach  den  direkten  Be- 
obachtungen ausgelöst  wird,  während  die  Ringe  den 
durch  den  Geschwindigkeitsverlust  nach  der  quadra- 
tischen Formel  angegebenen  Gang  bezeichnen. 

Man  sieht,  daß  im  Bereich  kleiner  und  mitt- 
lerer Geschwindigkeiten  ein  nahe  gleicher  Gang 
beider  Wertgruppen    vorhanden    ist,    während  bei 

dE 
großen  Geschwindigkeiten  die  Werte  von    .—    an 

Stelle  weiteren  Abfalls  einen  erheblichen  Anstieg 
zeigen.  Derselbe  würde  vermieden,  wenn  wir 
annehmen  wollten,  daß  der  Geschwindigkeits- 
verlust in  diesem  Gebiet  geringere  Werte  besäße 
als  die  quadratische  Formel  sie  angibt.  Doch 
entbehrt  eine  solche  Annahme  jeder  anderweitig 
gestützten  Begründung,  und  sie  verbietet  sich 
daher  um  so  mehr,  als  die  quadratische  Formel 
sich  in  diesem  Gebiet  den  sorgfältigen  Meßdaten 
mit  besonderer  Exaktheit  anschließt.  Zur  Be- 
seitigung des  Widerspruchs  bliebe  noch  die  wahr- 
scheinlichere Annahme,  das  die  Energie  der  Se- 
kundärelektronen nicht  im  ganzen  Bereich  der 
Primärstrahlgeschwindigkeiten  unveränderlich  son- 
dern in  geringem  Maße  noch  Funktion  dieser 
Geschwindigkeit  —  und  zwar  mit  dieser  an- 
wachsend —  ist.  Die  bisherige  Erfahrung  ver- 
mag hierüber  noch  nicht  zu  entscheiden. 

Eine  systematische  Abweichung  besteht  auch 
im  Gebiet  der  allerlangsamsten  Primärstrahlen 
(etwa  0,04  cm/sec  abwärts),  in  dem  die  Sekundär- 
strahlung ein  Maximum  zeigt  mit  nachfolgendem 

dE 
raschem  Abfall,  während  die  Werte  von  -;—  dau- 

dx 
ernd  ansteigen.  Daß  in  diesem  Gebiet  die  Vor- 
gänge des  Energieaustauschs  zwischen  Primär- 
elektron und  Atom  anderer  Art  sind,  haben  wir 
bereits  hervorgehoben.  Das  trifft  insbesondere 
bei  Primärgeschwindigkeiten  unterhalb  1 1  Volt 
zu,  bei  denen  Sekundärstrahlung  überhaupt  nicht 
mehr  auftritt.  Dies  schließt  zweifellos  auch  die 
Gültigkeit  der  quadratischen  Formel  für  dieses 
relativ  kleine  Gebiet  aus. 

Von  Interesse  ist  nun  noch  die  Betrachtung 
des  Absolutbetrags  der  Sekundärstrahlung. 
Nimmt  man  an,  daß  die  Anzahl  der  auf  der 
Längeneinheit  des  Strahlwegs  von  jedem  einzelnen 
Primärelektron  erzeugten  Sekundärquanten  durch 
den  Quotienten  aus  der  auf  dem  betreffenden 
Weg  verlorenen  Energie  des  ersteren  und  der 
Gesamtenergie  des  letzteren  (11  Volt  entsprechend 
0,1745X10 — '"  Erg)  gegeben  wird,  so  findet  sich, 
auf  I  mm  Luftweg  berechnet,  der  in  Tabelle  4 
angegebene  Gang  mit  der  Primärgeschwindigkeit. 

Man  erkennt,  daß  die  Übereinstimmung  zwischen 
der  aus  dem  Energieverlust  des  Primärquants  be- 
rechneten und  der  direkt  beobachteten  Sekundär- 
strahlerzeugung in  Luft  im  allgemeinen  eine  ziem- 
lich befriedigende  ist;  bei  den  großen  Primärge- 
schwindigkeiten macht  sich  naturgemäß  auch  in 
den  Absolutwerten  die  bereits  zuvor  erkannte 
Abweichung  geltend.    Es  ist  daraus  zu  entnehmen. 


daß  die  Vorstellung  von  der  Identität  zwischen 
verlorener  Energie  des  Primärquants  und  der  Ge- 
samtenergie der  durch  dasselbe  ausgelösten  Se- 
kundärquanten, d.  h.  die  Vorstellung  eines  voll- 
kommenen, verlustlosen  Austauschs  zwischen 
Primär-  und  Sekundärenergie  mit  derjenigen  An- 
Tabelle 4. 
Absolutwerte  der  differentialen  Sekundärstrahlung. 


ß 

dE 
d^ 

Sekundärquantenzahl 
pro  :  mm  Luft 

pro  I  mm  Luft 

aus  Energieverlust 

beobachtet 

0,2 

i2,78Xio--Erg 

73 

90 

0.3 

8,10 

46 

40 

0,4 

5,8s 

34 

25 

0,5 

4.62 

27 

18 

0,6 

3,91 

22 

13 

0,7 

3,53 

20 

9 

0,8 

3,47 

20 

7 

0,9 

4,02 

23 

5 

0,95 

5,19 

30 

4,5 

näherung  zuzutreffen  scheint,  mit  der  wir  zur 
Zeit  überhaupt  das  Gesamtphänomen  quantitativ 
zu  beschreiben  vermögen.  Wenn  in  dieser  Hin- 
sicht neue  Erkenntnis  insbesondere  von  der  künf- 
tigen eingehenderen  Untersuchung  der  Ge- 
schwindigkeitsverteilung der  Sekundärstrahlung 
zu  erwarten  sein  wird,  so  kann  doch  jetzt  schon 
geschlossen  werden,  daß  kaum  ein  erheblicher 
Teil  der  Energie  der  nicht  absorbierten  Primär- 
elektronen auf  andere  Vorgänge  verwandt  wird.') 

Eine  andere  Verwendung  findet  zweifellos  die- 
jenige kinetische  Energie  des  Primärstrahls,  die 
bei  dessen  Absorption  durch  die  betreffenden 
Atome  der  Substanz  als  solche  verloren  geht. 
Sie  wird  sich  zum  Teil  in  Wärme,  zum  Teil  in 
Energie  neu  auftretender  Ätherstrahlung  umsetzen, 
die  sowohl  Licht-  als  Röntgenstrahlung  sein  kann. 
Die  eingehendere  quantitative  Ergründung  dieser 
Energietransformationen  ist  eine  wichtige  Aufgabe 
der  künftigen  Kathodcnstrahlforschung. 

Für  die  hier  näher  betrachtete  P>age  der  Se- 
kundärstrahlerzeugung hat  die  Ermittlung  der 
„totalen  Sekundärstrahl  u  ng",  d.  h.  der- 
jenigen Sekundärquantenmenge  oder  auch  der- 
jenigen Anzahl  von  Trägerpaaren  in  Gasen,  die 
von  einem  Primärelektron  im  Durchschnitt  auf 
seinem  ganzen  Weg  vor  seiner  Absorption  aus- 
gelöst wird,  unmittelbar  praktisches  Interesse. 
Sie  gibt  in  Gasen  ein  Maß  für  die  totale  Leit- 
fähigkeitserregung, d.  h.  für  die  Größe  des  durch 
das      Gas     vermittelbaren     Elektrizitätstransports 


1)  Daß  ein  gewisser  kleiner  Teil  der  Energie  für  Erregung 
von  Licht,  charakteristischer  Röntgenstrahlung  oder  chemischer 
Prozesse  verwandt  werden  könnte,  ist  nicht  ausgeschlossen. 
Es  könnte  dies  namentlich  bei  sehr  schnellen  Primärstrahlen 
in  Betracht  kommen,  wodurch  die  hervorgehobene  Abweichung 
vun    der   beobachteten  Sekundärstrahlung    verständlich  würde. 


N.  F.  XVI.  Nr.  3; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S19 


beim  Durchgang  eines  Primärelektrons.  Nach 
unserer  Vorstellung  wird  sie  im  wesentlichen  be- 
stimmt durch  diejenige  Energieänderung,  die  ein 
Elektron  durchschnittlich  erfährt,  bevor  es  von 
der  Substanz,  absorbiert  wird.  Sie  ist  also  einer- 
seits durch  die  Größe  der  differentialen  Sekundär- 
strahlung (die  mit  ff  bezeichnet  sei),  andrerseits 
durch  den  Absorptionskoeffizierten  «  der  be- 
treffenden Primärstrahlung  festgelegt. 

Wäre  «  auf  dem  ganzen  Strahlweg  konstant 
und  gleich  «„,  so  ergäbe  sich  die  totale  Sekundär- 
quantenzahl S  einfach  zu 

dE 

~  «0  ~  «0 
Da  aber  a,  wie  früher  gezeigt,  infolge  des  Ge- 
schwindigkeitsverlusts  zunimmt,  bleibt  S  tatsäch- 
lich hinter  dem  so  berechenbaren  Wert  zurück. 
Der  Unterschied  ist  allerdings  im  allgemeinen 
nicht  sehr  erheblich,  da  die  Intensitätsabnahme 
des  Primärstrahls  auf  seinem  Wege  infolge  Ab- 
sorption die  (jeschwindigkeitsverringerung  der 
noch  nicht  absorbierten  Primärquanten  so  stark 
überwiegt,  daß  praktisch  immer  nur  relativ  geringe 
Energieverluste  für  die  Sekundärstrahlerregung 
verfügbar  sind,  während  der  weit  überwiegende 
Teil  der  Primärenergie  der  Absorption  und  damit 
der  Transformation  in  die  anderen  oben  genannten 
Energieformen  unterliegt.  Es  möge  dies  durch 
die  folgende  Tabelle  veranschaulicht  werden.  Die- 
selbe enthält  zunächst  den  Gang  des  Absorptions- 
koeffizienten der  Luft,  auf  i  mm  Strahlweg  be- 
zogen, mit  der  Primärstrahlgeschwindigkeit  /^^ ; 
die  dritte  Kolonne  verzeichnet  die  jeweiligen 
Geschwindigkeitsverluste,  die  überhaupt  nur  für 
die  Sekundärstrahlerregung    praktisch   in  Betracht 

kommen:  die  vierte  Kolonne  gibt  die  nach  S  =  - 

berechneten,  die  5.  Kolonne  schließlich  die  tat- 
sächlich zu  erwartenden  Werte  der  pro  Primär- 
elektron in  Luft  erregbaren  totalen  Sekundär- 
quantenzahl. 


Tabelle  5. 
Absolutwerte  der  totalen  Sekundärstrahlung. 


^ 

«0  für  Luft 
mm—'. 

./■Bereich 

i 

Totale 
Sekundär- 
quantenzahl 

0 

2 

4,632 

0,2  —  0,19 

,s 

'5 

0 

3 

0,498 

0,3-0,275 

92 

90 

0 

4 

0,114 

0,4  —  0,35 

300 

270 

0 

5 

0,03 

0,5  —  0,42 

900 

700 

0 

6 

0,01 

2200 

0 

66 

0,66-0,50 

2900 

0 

7 

0,004 

5000 

0 

8 

0,00  iS 

II  100 

0 

9 

0,000  64 

0,9—0,6 

26  IOC 

17300 

Man  erkennt,  daß  die  Anzahl  der  Sekundärelek- 
tronen, die  ein  primäres  Elektron  vor  seiner  Ab- 
sorption aus  der  durchstrahlten  Materie  auslösen 
kann,  mit  zunehmender  Primärgeschwindigkeit  sehr 
stark  wächst.  Ein  direkter  Vergleich  der  Werte 
mit  der  unmittelbaren  Beobachtung  ist  zurzeit 
noch  nicht  möglich.  Es  wird  in  Übereinstimmung 
mit  den  früheren  Bemerkungen  bezüglich  der 
differentialen  Sekundärstrahlung  anzunehmen  sein, 
daß  die  vorstehend  aus  der  Energiebetrachtung 
hergeleiteten  Werte  auch  der  totalen  Sekundär- 
quantenzahl bei  den  großen  Geschwindigkeiten 
etwa  2  bis  3  mal  zu  groß  sein  dürften,  wie  dies 
aus  Fig.  6  ersichtlich  wird. 

Es  möge  noch  bemerkt  werden,  daß  die  totale 
Sekundärstrahlung  offenbar  von  der  Natur  der 
Substanz  in  erster  Annäherung  unabhängig  ist, 
da  sowohl  Geschwindigkeitsverlust  als  Absorption 
in  Annäherung  dem  Gesetz  der  Massenpropor- 
tionalität folgen. 

(Eingegangen  am  29.  Juni   191 7.) 


Einzelberichte. 


Blausäure  im  Kampf  gegen  die  Mehlmotte. 
In  der  Mehlmotte  {Ephfsfia  Kuc/iiiiclla  Zell.), 
einem  Kleinschmetterling  aus  der  Familie 
der  Zünsler  {Pyralidoi)  haben  wir  den  ärgsten 
Schädling  der  Mühlenindustrie  zu  er- 
blicken. Abgesehen  davon,  daß  die  Larven  der 
Motte  viel  des  in  den  Mühlen  lagernden  Mehles 
wegfressen,  vernichten  sie  auch  dadurch  noch  große 
Mengen,  daß  sie  in  alle  Mehlvorräte  eindringen, 
sie  mit  ihren  Gespinsten  durchsetzen  und  mit  ihrem 
Kot  verunreinigen.  Dadurch  gehen  alljährlich  ganz 
beträchtliche  Mengen  an  gemahlenem  Brotgetreide 
der  menschlichen  Ernährung  verloren.  Weiteren 
Schaden  richten  die  Larven  noch  dadurch  an,  daß 
sie  außer  die  Mehlvorräte  auch  alle  technischen 
der  Mehlbeförderung  dienenden  Einrichtungen  der 
Mühlen  besiedeln  und  so  mit  ihren  Gespinsten  alle 


Mehltransportgänge  verstopfen.  Dank  ihrer  Tätigkeit 
muß  denn  auch  der  Betrieb  in  derMühle  mehrmals  im 
Jahre  für  ein  paar  Tage  vollständig  ruhen,  um  eine 
gründliche  Reinigung  des  ganzen  Mühlengebäudes 
vornehmen  zu  können.  Aber  die  mechanische 
Reinigung,  die  zumeist  mit  einer  Ausräuche- 
rung durch  Schwefeldämpfe  verbunden 
wird,  kann  aus  verschiedenen  Gründen  niemals 
eine  vollkommene  Ausrottung  der  Schädlinge  er- 
wirken, schon  allein  deshalb  nicht,  weil  es  unmög- 
lich ist,  mit  der  Schwefelräucherung  auch  die  Mehl- 
vorräte zu  behandeln:  durch  die  Einwirkung  der 
schwefligen  Säure  tritt  eine  Zersetzung  des  Mehles 
ein.  Die  deutsche  Mühlenindustrie  ist  daher  der 
Mehlmottenplage  bis  heute  rettungslos  ausgeliefert 
gewesen.  Ein  Mittel  freilich  hätte  es  gegeben, 
womit  der  Schädling  restlos  hätte  beseitigt  werden 


520 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  37 


können,  aber  dieses  Mittel,  die  Ausräucherung 
mit  Blausäuredämpfen,  die  in  Amerika  seit 
langen  Jahren  allgemein  in  Anwendung  steht, 
wurde  in  Deutschland  bisher  aus  verschiedenen 
Bedenken,  die  mehr  oder  minder  zu  Unrecht  er- 
hoben wurden  und  im  Grunde  lediglich  einer  über- 
großen Ängstlichkeit  entsprangen,  verschmäht.  Erst 
die  harte  Kriegszeit  hat  hierin  Wandel  geschaffen 
und  der  Blausäure  als  wirksamem  Insektizid  auch 
in  Deutschland  zur  Geltung  verholfen.  Nachdem 
sich  die  Blausäure  zuerst  im  Kampf  gegen  die 
Kleiderlaus  ausgezeichnet  bewährt  hatte,  ging  die 
Deutsche  Gold-  und  Silber-Scheideanstalt,  die  durch 
ihre  Beteiligung  an  den  amerikanischen  Räuche- 
rungen eine  große  Erfahrung  in  der  Anwendungs- 
möglichkeit der  Methode  besitzt,  daran,  sie  auch 
in  den  Dienst  der  Mühlenindustrie  zu  stellen.  Prof. 
Dr.  Richard  Heymons,  derdie  Vorversu  che 
inderKgl.  Versuchsanstalt  für  Getreide- 
verarbeitung in  Berlin  vornahm,')  erprobte 
vor  allem  die  Einwirkung  der  Blausäure- 
dämpfe auf  die  gesamten  Entwicklungs- 
stadien der  Motten  (Eier,  Larven,  Puppen, 
Imagines)  und  dann  auch  auf  das  Mehl  und  die 
Gegenstände  aus  Metall  oder  Leder,  wie 
sie  in  den  Mühlenbetrieben  in  Gebrauch  stehen. 
Das  Ergebnis  war  überall  ein  sehr  gün- 
stiges: die  Eier  wie  die  Larven  und  die  Puppen 
und  die  Falter  wurden  vom  Blaugas  von  i  Volumen- 
Prozent  innerhalb  wenigen  Stunden  prompt  ab- 
getötet; die  chemische  Untersuchung  der  ausge- 
räucherten Mehlproben,  die  im  Tierphysiolo- 
gischen Institut  der  Kgl.  Landwirt- 
schaftlichen Hochschule  in  Berlin  vor- 
genommen wurde,  ergab,  daß  das  Mehl  in  keiner 
Weise  eine  Veränderung  erfahren  hatte;  die  damit 
angestellten  Backversuche  lieferten  ein  Gebäck, 
das  dem  gewöhnlichen  aus  ungeräuchertem  Mehl 
Gefertigten  in  keiner  Weise  nachstand.  Endlich 
litten  auch  weder  die  Leder  noch  die  Metall- 
gegenstände irgendwie  durch  das  Blaugas. 

Nachdem  diese  Versuche  so  befriedigend  ver- 
laufen waren,  ging  die  Deutsche  Gold-  und  Silber- 
Scheideanstalt  daran,  den  ersten  großen  Versuch, 
die  Ausräucherung  eines  ganzen  Mühlen- 
gebäudes, zu  wagen.  Die  Auswahl  eines 
geeigneten  Mühlenobjektes  für  diesen  ersten 
Versuch  mußte  natürlich  mit  allem  Vorbedacht 
getroffen  werden.  Von  meinem  Chef  Herrn 
Professor  K.  Escherich  damit  beauftragt,  eine 
geeignete  Mühle  zu  erkunden,  riet  ich,  nachdem 
ich  zu  diesem  Zwecke  einige  Mühlen  besichtigt 
hatte,  der  Fabrik,  bei  der  Schulz'schen  Kunst- 


mühle in  Heidingsfeld  (Unterfranken)  den 
Versuch  zu  machen.  Mein  Vorschlag  wurde  als- 
bald von  der  Scheideanstalt  angenommen,  da  die 
Mühle  so  ziemlich  in  allen  Punkten  den  Bedingungen 
entsprach,  welche  wir  uns  gesetzt  hatten.  Vor  allem 
muß  jede  Mühle,  die  mit  Blausäure  geräuchert 
werden  soll,  ein  solides  Gebäude  sein,  das  gut 
abzudichten  ist.  Das  Blaugas  ist  so  flüchtig,  daß 
es  selbst  durch  die  geringfügigsten  Ritzen  zu  ent- 
weichen vermag.  Daher  würde  bei  einem  undichten 
Gebäude  ein  übermäßiger  Gasverlust  eintreten. 
Weiterhin  soll  die  Mühle  aus  demselben  Grunde 
auch  mit  keinerlei  bewohnten  Räumen  in  irgend- 
einer baulichen  Verbindung  stehen.  Es  steht  sonst 
zu  befürchten,  daß  die  auch  für  den  Menschen 
höchst  giftigen  Blaugase  in  diese  Wohnräume  ein- 
dringen und  die  dort  weilenden  Personen  ge- 
fährden. Endlich  soll  die  Mühle  in  ihrem  Innern 
möglichst  geräumige  Verbindungswege  zwischen 
den  einzelnen  Stockwerken  (Treppenhaus,  .Schächte 
usw.)  besitzen :  je  rascher  und  ungehinderter  sich 
die  Gase  über  den  ganzen  Bau  verbreiten  können, 
desto  gesicherter  ist  ihre  Wirkung.  Diese  3  Be- 
dingungen waren  bei  der  Heidingsfelder  Mühle  im 
großen  und  ganzen  gegeben.  Ihre  Ausräucherung, 
die  erste  in  Deutschland,  deren  wissenschaftliche 
Nachprüfung  mich  die  Scheideanstalt  zu  über- 
nehmen ersuchte,')  fand  Ende  April  dermaßen  statt, 
daß  in  den  späten  Nachmittagsstunden  die  Gas- 
entwicklung erfolgte,  die  Mühle  über  Nacht  unter 
Gas  gesetzt  blieb  und  nach  einer  etwa  12  stündigen 
Gaseinwirkung  am  anderen  Morgen  die  Öffnung 
erfolgte.  Die  Räucherung  war  ein  ausge- 
sprochener Erfolg:  nicht  nur  daß  die  Larven 
und  Motten,  die  ich  tags  zuvor  in  der  Mühle  ge- 
sammelt und  in  einem  oberen  Stockwerk  der  Mühle 
der  Gaseinwirkung  ausgesetzt  hatte,  alle  tot  waren, 
auch  aus  allen  Mehltransportgängen,  aus  denen  ich 
Gespinstklumpen  der  Motten  entnahm,  fanden  sich 
nur  tote  Larven  und  Falter.  Unter  den  sog. 
„Sackstutzen",  den  runden  Enden  der  Mehlrohre, 
an  welche  die  Säcke  zum  Zwecke  der  Einfüllung 
des  Mehles  angeschlossen  werden,  fielen  uns 
Motten  und  Larven  in  Mengen  tot  entgegen. 

Dieses  glänzende  Ergebnis  der  ersten  deutschen 
Mühlenräucherung  mit  Blausäure  berechtigt  uns 
zu  der  Hoffnung,  daß  ihre  Anwendung,  die  natür- 
lich nur  durch  ein  gut  geschultes  Personal  ge- 
schehen darf,  nun  auch  bei  uns  durch  nichts  mehr 
gehemmt  wird,  so  daß  ihre  Segnungen  in  der 
Jetztzeit,  wo  wir  ihrer  so  dringend  bedürfen,  der 
deutschen  Volksernährung  möglichst  ausgiebig 
zugute  kommen  können.     (G.C) 

H.  W.  Frickhinger. 


')  „Der    Müller",    Zeitschr.    f.     d.    ges.    Mühlenindustrie.  ')    „Zeitschr.     für     angewandte    Entomologie". 

39.  Jahrg.   1917,  Nr.  21.  1917,  Heft   I. 


l:   A.  Becker,  Über  den  Kathodenstrahldurchgang  durch  Materie.  (3  Abb.  u.  3  Kurven.)  S.  513.  —  Einzelberichte: 
Richard   Heymons,  Blausäure  im  Kampf  gegen  die  Meblmotte.  S.   519. 


;  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  23.  September  1917. 


Nummer  38. 


Kristallstruktur  und  Röntgenstrahlen. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Dr.  K.  Schutt,  Hamburg. 
Mit   13  Abbildungen  im  Text. 


Nachdem  Röntgen  im  Jahre  1895  die  nach 
ihm  benannten  Strahlen  entdeckt  und  zugleich 
alle  wesentlichen  Eigenschaften  derselben  gefunden 
hatte,  war  es  von  großem  Interesse  festzustellen, 
welches  die  Natur  der  Strahlen  wäre.  Die  Tat- 
sache, daß  sich  unter  geeigneten  Umständen  eine 
Polarisation  und  Spuren  einer  Beugung  nach- 
weisen ließen,  machten  es  wahrscheinlich,  daß  die 
Strahlen  dem  Licht  wesensverwandt,  also  elektro- 
magnetische Wellen  wären ;  doch  wurde  ein  sicherer 
Nachweis  hierfür  erst  erbracht  durch  die  191 2  auf 
Anregung  Laue 's  angestellten  Beugurigsversuche 
an  Kristallen.  Der  Erfolg,  den  der  Gedanke 
Laue 's,  das  regelmäßige  feine  Gefüge  eines 
Kristalls  als  Gitter  zu  benutzen,  nach  den  ver- 
schiedensten Seiten  gehabt  hat,  ist  ganz  außer- 
ordentlich. Wir  sind  jetzt  nicht  nur  über  den 
transversalen  Wellencharakter  der  Röntgenstrahlen 
genau  orientiert;  wir  sind  auch  imstande,  ihre 
Wellenlänge  (etwa  8  Oktaven  mögen  bekannt  sein) 
zu  messen,  ja  die  Röntgenstrahl-  (Hochfrequenz- j 
Spektren  einer  ganzen  Reihe  von  Elementen,  die 
wir  als  Antikathode  in  einer  Röntgenröhre  an- 
bringen, genau  festzulegen ;  mit  anderen  Worten, 
es  hat  sich  für  die  Röntgenstrahlen  eine  Spektro- 
graphie  und  Spektrometrie,  wie  sie  seit  langer  Zeit 
schon  für  das  sichtbare  Licht  besteht,  entwickelt. 
Ferner  hat  uns  Laue  in  den  Röntgenstrahlen  ein  hin- 
reichend feines  Mittel  kennen  gelehrt,  um  den  Bau 
der  Kristalle  zu  erforschen,  den  Abstand  der 
Atome  in  ihnen  genau  auszumessen  und  ihre 
gegenseitige  Lage  zu  ermitteln.  Im  folgenden  soll 
auf  die  Erforschung  des  Feinbaues  der  Kristalle  *) 
und,  soweit  es  erforderlich  ist,  auf  die  Spektro- 
metrie der    Strahlen    näher   eingegangen    werden. 

I.  Läßt  man  auf  ein  Beugungsgitter  Licht 
fallen,  dann  sieht  man  auf  einem  dahinter  stehen- 
den Schirm  zunächst  das  gerade  hindurchgehende 
Licht  und  zu  beiden  Seiten  die  Beugungsspektren 
I.,  2.,  3.  usw.  Ordnung.  Zur  Erklärung  der  Er- 
scheinung nimmt  man  mit  Huyghens  an,  daß 
von  jedem  Punkt  der  Gitteröffnungen  Elementar- 
wellen ausgehen  und  miteinander  interferieren. 
In  ganz  bestimmten  Richtungen,  in  denen  nämlich 
der  Gangunterschied  eine  Wellenlänge  l  oder  ein 
ganzes  Vielfaches  davon  beträgt,  verstärken  sich 
die  Strahlen,  während  sie  in  allen  übrigen  sich 
gegenseitig  vernichten.  Die  Gitterkonstante  a 
(Abstand  zweier  benachbarter  Gitteröffnungen) 
muß  in  einem  bestimmten  Verhältnis  mit  /.  stehen; 
ist  a   groß   gegen  l,   dann   liegen   die  Beugungs- 


*)  S.   auch   N;aurw.   Wochenschr.  XlII   (I9I4)  S.   70. 


Spektren  so  dicht  neben  dem  gerade  hindurch- 
gehenden Licht,  daß  man  überhaupt  nichts  von 
der  Beugung  bemerkt;  ist  a  gleich  /.,  dann  wird 
schon  das  erste  Beugungsspektrum  um  90"  ab- 
gelenkt und  man  nimmt  wieder  nur  das  direkt 
hindurchgehende  Licht  wahr.  Nimmt  man  statt 
eines  Strichgitters  ein  Kreuzgitter  z.B.  feinen 
Seidenstoff  oder  Müllergaze,  dann  treten  die  Beu- 
gungsspektren nicht  nur  rechts  und  links,  sondern 
auch  oben  und  unten  und  in  den  beiden  diagonalen 
Richtungen  auf.  Stellt  man  eine  Reihe  von  Kreuz- 
gittern in  gleichen  Zwischenräumen  „ausgerichtet" 
hintereinander  und  zieht  noch  ein  drittes  System  von 
Fäden  senkrecht  in  den  beiden  ersten,  dann  er- 
hält man  ein  Raumgitter.  Auch  hier  tritt  in 
ganz  bestimmten  Richtungen  eine  Verstärkung 
des  Lichtes  durch  Interferenz  ein.  Da  indessen 
eine  weitere  einschränkende  Bedingung  durch  die 
räumliche  Anordnung  des  Gitters  hinzukommt, 
so  gibt  es  nicht  mehr  für  jede  Wellenlänge,  son- 
dern nur  für  einige  ausgewählten  solche  Richtungen, 
in  denen  Verstärkungen  stattfinden.  Das  Raum- 
gitter wählt  sich  aus  der  Gesamtheit 
der  auffallenden  Wellenlängen  einzelne 
seinen  Abmessungen  entsprechende  aus 
und  wirft  sie  in  b  estimmten  Richtungen 
in  den  Raum  hinaus. 

Schon  Bravais  hat  1850  die  Vermutung  aus- 
gesprochen, daß  die  Atome  eines  Kristalls  in  einem 
Raumgitter  angeordnet  wären;  sie  bilden  die  Gitter- 
eckpunkte des  eben  geschilderten  Gitters.  Abb.  lA 
zeigt  außerordentlich  vergrößtert  den  Aufbau  eines 
Steinsalzkristalls,  wie  er  unter  Benutzung  der 
Röntgenstrahlen  erforscht  ist  (siehe  unter  4)  und 
als  sichergestellt  angesehen  werden  kann.  Die 
schwarzen  und  weißen  Kreise  geben  die  Lage  der 
Na-  und  Cl-Atome  in  den  Ecken  der  kleinen 
Elementarwürfel  an,  deren  Kante  von  der  Größen- 
ordnung 3  •  io~*  cm  ist.  Fällt  ein  Bündel  Röntgen- 
strahlen (Wellenlänge  io~'*  bis  lo~9  cm)  senkrecht 
zur  Vorderfläche  auf,  so  werden  die  von  den 
Strahlen  getroffenen  Atome  des  Raumgitters  zu 
Schwingungszentren  und  die  von  ihnen  ausgehenden 
Wellen  interferieren  miteinander  und  liefern  auf 
einer  senkreckt  zum  Primärstrahl  aufgestellten 
photographischen  Platte  das  Röntgenogramm 
(s.  Abb.  10  u.  11).  Die  von  Laue')  stammende 
mathematische  Behandlung  dieser  Beugungsvor- 
gänge ist  nicht  ganz  einfach.  Anschaulicher  und 
leichter    verständlich    ist    die    Bragg'sche    Auf- 


')  Jahrb.  d.  Radioaktivität  u.   Klektronilt  XI,  30S  (1914): 
.  Laue,  Die  Interferenzerscheinungen  an  Röntgenstrahlen. 


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fassung.-)  Diese  soll  daher  in  den  folgenden  Aus- 
führungen zugrunde  gelegt  werden.  Doch  sei 
ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  daß  Laue  der 
erste  war,  der  das  Problem  erfolgreich  behandelte, 
und  daß  seine  Auffassung  diejenige  ist,  die  am 
tiefsten  in  das  Wesen  des  Vorganges  eindringt. 
2.  Nach  den  Braggs  (Vater  und  Sohn)  kommt 
man  zu  ganz  denselben  Ergebnissen  wie  Laue, 
wenn  man  annimmt,  daß  die  Strahlen  an  ganz 
bestimmten,  im  Innern  des  Kristalls 
liegenden  Ebenen,  den  Netzebenen, 
reflektiert  werden.  Eine  solche  Netzebene  ist 
z.  B.  in  unserer  Abbildung  i  AEFB,  hfbd,  oder 
EHDA  und  die  dieser  parallelen  Ebenen,  od.  ABCD 
und  die  dazu  gehörigen.     Die  Lage  der  kristallo- 


9  enthalten;  ihre  Netzdichte  ist  also  geringer. 
Dasselbe  gilt  für  eine  Ebene  Eda  vom  Symbol  (112) 
im  Vergleich  mit  (m).  Es  ist  klar,  daß  eine 
Unzahl  von  Netzebenen  in  dem  Kristall  vorhanden 
sind,  die  die  verschiedenste  Netzdichte  aufweisen. 
Die  dichtesten  unter  ihnen  sind  (lOO),  (lio)  und 
(iii),  also  diejenigen,  die  auch  als  äußere  Be- 
grenzungsflächen bevorzugt  sind. 

Zum  Verständnis  der  Vorgänge,  die  bei  der 
Reflexion  der  Strahlen  an  den  Netzebenen  statt- 
finden, diene  Abb.  2.  Die  horizontalen  Geraden 
stellen  eine  Schar  von  Netzebenen  mit  dem  Ab- 
stände d  dar.  Ein  paralleles  Bündel  Röntgen- 
strahlen von  der  Wellenlänge  A  falle  unter  dem 
Glanzwinkel  a  auf.     Jede  Ebene    reflektiert   einen 


".^—S, 

4-V 

TN 

— r 

:^ — M= 

(100) 

B 

Oj 

II 

II 

dm)  =  a 

NaCl  NjCI  NäQ  NiCl 

Abb.    lA  u.   B. 

graphischen  Achsen  in  unserem  Kristall  stimmt 
mit  AB,  AD  und  AE  überein;  eine  der  genannten 
Ebenen  hat  also  das  Symbol  (100);  d.  h.  sie 
schneidet  die  eine  Achse  in  der  Entfernung  i, 
die  beiden  anderen  überhaupt  nicht,  da  sie  ihnen 
parallel  ist.  Eine  weitere  Reihe  von  Netzebenen 
sind  die,  welche  einer  Kante  unseres  Würfels 
parallel  sind  z.  B.  EDCF,  nhfm  und  andere 
mehr;  ihr  Symbol  ist  (iio),  in  sofern  als  sie  zwei 
Achsen  in  gleichem  Abstand  von  A  schneiden 
und  der  dritten  parallel  sind.  Als  dritte  Reihe 
sind  solche  mit  dem  Symbol  (in)  also  Oktaeder- 
flächen zu  nennen ;  zu  ihnen  gehört  z.  B.  EDB, 
Ida  u.  a.  m.  Die  drei  angeführten  Netzebenen 
sind  insofern  wichtig,  als  sie  sich  als  äußere 
Begrenzungsflächen  der  Kristalle  des  regulären 
Systems  häufig  finden.  Betrachten  wir  die  Netz- 
ebene EdbF"  (1,2,0),  so  sieht  man  ohne  weiteres, 
daß  sie  weniger  dicht  mit  Atomen  belegt  ist ,  sie 
enthält  nur  4,  während  die  Ebene  (lOO)  und  (iio) 


^)  W.  H.  u.  VV.  L.  Bragg,  X-rays  a.  crystal  slructure. 
2.  Aufl.  London  1916;  ferner  Jahrb.  d.  Radioaktivität  und 
Elektronik  XI,  346  (1914).  W.  L.  Bragg,  Die  Reflexion 
der  Röntgcnstralilen. 


Teil  nach  dem  Spiegelgesetz  :  Einfallswinkel  gleich 
Reflexionswinkel.  Wir  betrachten  die  Strahlen, 
die  in  Richtung  S.j  zurückgeworfen  werden;  sie 
haben  einen  Gangunterschied,  da  die  Weg- 
längen von  a  bis  Sj  verschieden  sind.  Er  ist  für 
die  Strahlen  i  und  2,  da  nw  senkrecht  auf  vr 
steht  und  vn  =  vr  ist,  gleich  wr  =  2d  sin  «;  der- 
selbe Gangunterschied  besteht  zwischen  2  und  3, 
3  und  4  usw.  Ist  nun  wr  gleich  der  Wellenlänge 
und  einem  ganzen  Vielfachen  derselben,  dann  sind 
alle  von  der  Netzebenenschar  reflektierten  Wellen 
in  gleicher  Phase,  ihre  Amplituden  addieren  sich. 
Unterscheidet  sich  wr  ein  wenig  von  der  Wellen- 
länge X,  etwa  um  ein  Tausendstel,  dann  haben 
die  vielen  tausend  in  Richtung  S.^  reflektierten 
Strahlen  alle  möglichen  Phasen,  und  die  resultierende 
Amplitude  ist  praktisch  O.  Wenn  also  monochroma- 
tisches Röntgenlicht  unter  verschiedenem  Winkel  auf 
einen  Kristall  fällt,  dann  findet  nur  für  ganz  be- 
stimmte Glanzwinkel  eine  Reflexion  statt ;  nämlich 
wenn  ist       1=  2d  sin  «j 

2I  =  2d  sin  ß.2 

3A  =  2d  sin  «3 

nl  =  2d  sin  a,  wo  n  eine  ganze  Zahl 
ist.  Sie  werden  die  Reflexionen  ister,  2ter,  3ter 
Ordnung  genannt.  Fällt  weißes  Licht,  also  solches, 
das  eine  große  Anzahl  von  Wellenlängen  enthält, 
unter  einem  bestimmten  Winkel  «  auf,  dann 
werden  in  Richtung  S.^  nur  Strahlen  von  der 
Wellenlänge  l  reflektiert,  alle  übrigen  Wellen- 
längen werden  ausgelöscht.  Der  Kristall  „erzeugt" 
also  unter  diesen  Umständen  Röntgenlicht  ganz 
bestimmter  Wellenlänge  (Farbe).  Zu  betonen  ist, 
daß  die  Reflexion  keine  solche  an  der  natürlichen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Oberfläche,  sondern  eine  Volumreflexion^jan 
den  inneren  Netzebenen  des  Kristalls  ist.  Eine 
einem  Kristall  künstlich  angeschliffene  Fläche,  die 
nicht  Netzebene  ist,  spiegelt  ebensowenig  wie  die 
eben  geschliffenen  Begrenzungen  amorpher  Körper. 
Auch  hat  es  auf  die  Reflexion  keinen  Einfluß, 
wenn  die  natürliche  Grenzfläche  des  Kristalls  glatt 
oder  aufgerauht  ist.  Lediglich  das  innere  Gefüge 
der  Netzebenen  ist  für  die  Reflexion  maßgebend. 

Die  Röntgeiispektrometrie  der  Braggs. 

3.  Wie  die  Laue 'sehen  Röntgenogramme  mit 
Hilfe  der  Reflexionstheorie  zu  deuten  sind,  darüber 
weiter  unten  (8).>  Zunächst  soll  ein  Verfahren 
geschildert  werden,  das  zur  Erforschung  des  Fein- 
baues der  Kristalle  von  den  beiden  Braggs'-) 
angewendet  wurde;  es  kann  als  Röntgenspek- 
trometrie  bezeichnet  werden.  Der  Bragg'sche 
Apparat  ähnelt  einem  Spektrometer.  Aus  den  von 
der  Antikathode  ausgehenden  Strahlen  wird  durch 
mehrere  Bleiblenden  ein  schmales  Büschel  ausge- 
sondert, dieses  fällt  unter  kleinem  Glanzwinkel  auf 
den  Kristall,  der  auf  dem  Tischchen  des  Spektro- 
meters  steht,  so  daß  seine  jeweilige  Lage  und 
damit  der  Glanzwinkel  gemessen  werden  kann. 
An  die  Stelle  des  Fernrohrs  ist  zur  Messung  der 
Intensität  der  gespiegelten  Strahlen  eine  lonisie- 
rungskammer  angebracht,  ein  Messingzylinder  von 
15  cm  Länge  zu  5  cm  Durchmesser.  Die  Strahlen 
dringen  durch  ein  dünnes  Aluminiumfenster  in 
Richtung  der  Achse  in  die  mit  Schwefeldioxyd 
oder  Methylbromid  (diese  Gase  absorbieren  besser 
als  Luft  und  werden  daher  stärker  ionisiert)  ge- 
füllte Kammer.  Eine  außerhalb  des  Strahlenganges 
in  der  Kammer  angebrachte  Elektrode  ist  mit 
einem  Elektroskop  verbunden.  Die  Messung  er- 
folgt in  der  Weise,  daß  man  für  einige  Sekunden 
die  Röntgenröhre  einschaltet  und  nun  den  Aus- 
schlag des  Elektroskops  mißt,  während  die  (von 
der  Elektrode  isolierte)  Kammer  auf  200  Volt 
geladen  ist.  Der  Ausschlag  ist  ein  Maß  für  die 
Stärke  des  reflektierten  Büschels.  Nun  ändert  man 
durch  Drehen  des  Tischchens  den  Glanzwinkel, 
stellt  die  Ionisationskammer  richtig  ein  und  mißt 
von  neuem.  Auf  diese  Weise  kann  man  die 
Intensität  des  reflektierten  Strahles  für  allmählich 
wachsende  Glanzwinkel  messen.  Das  Ergebnis 
der  Messung  zeigt  Abb.  3.*)  Die  Antikathode 
der  Röntgenröhre  bestand  aus  Rhodium,  die 
Reflexion  fand  an  einer  Würfelebene  (100)  des 
Steinsalzes  statt;  die  Glanzwinkel  sind  als  Abszissen, 
die    Intensitäten    als    Ordinaten    eingetragen.     Bei 


')  Ein  ähnlicher  Vorgang  für  sichtbares  Licht  findet  .lich  in 
einer  Lip  pmann 'sehen  farbigen  Photographie.  Bei  der  Be- 
lichtung entstehen  in  der  photographischen  Platte  durch 
stehende  Lichtwellen  parallele  Silberschichten.  Bei  der  Be- 
trachtung im  reflektierten  Licht  findet  eine  „auswählende 
Reflexion"  statt,  so  dal3  die  Platte  verschiedene  Farben  zeigt 
nach  Maßgabe  des  Winkels,  unter  dem  man  sie  betrachtet. 

')  Vgl.  auch  Naturw.  Wochenschr.  XIII  (1914I  S.  439: 
Das  Spektrum  einer  Platinanlikathode. 


etwa  3"  beginnt  die  Kurve;  nach  der  Gleichung 
1=  2d  sin  «  haben  die  unter  diesem  Winkel  reflek- 
tierten Strahlen  sehr  kurze  Wellenlänge.  Die 
Intensität  steigt  mit  zunehmender  Wellenlänge, 
erreicht  bei  rj  ein  niedriges,  bei  Rj  ein  hohes 
Maximum,  fällt  wieder  ab  und  hinter  10  dieselben 
beiden  Spitzen  (niedriger)  noch  einmal  zu  zeigen. 
Die  Kurve  sagt  uns,  daß  die  auffallenden  Strahlen 
sich  aus  Licht  der  verschiedensten  Wellenlängen 
zusammensetzen;  die  Röntgenröhre  liefert  neben 
„weißem"  Licht  (kontinuierliches  Spektrum)  zwei 
Farben  (r^  Rj,  Linienspektrum)  in  besonderer  Inten- 


ff. 


Lintn/'/'/SH'inh  e/ 


Abb.  3. 


sität.  Das  erstere  ist  die  sogenannte  „Brems- 
strahlung",  sie  entsteht,  wenn  die  auf  die  Anti- 
kathode aufprallenden  Elektronen  gebremst  werden. 
Durch  den  Stoß  der  Elektronen  entstehen  ferner 
Schwingungen  innerhalb  der  Atome  des  Anti- 
kathodenmetalls, diese  geben  Veranlassung  zur 
Entstehung  der  Eigenstrahlung,  ^)  die  für  das 
betreffende  Metall  charakteristisch  ist,  wie  optisch 
das  Linienspektrum  für  ein  leuchtendes  Gas. 
Akustisch  entspricht  dem  ersten  ein  Knall,  dem 
zweiten  ein  (oder  mehrere)  Töne.  Rhodium-  und 
Palladiumstrahlen  zeichnen  sich  dadurch  aus,  daß 
die  weiße  Strahlung  verhältnismäßig  schwach  ist. 
Antikathoden  aus  diesem  Metall  strahlen  im  wesent- 
lichen monochromatisches  Licht  (R,)  aus,  und  des- 
halb werden  sie  von  B  r  a  g  g  zu  Kristall- 
untersuchungen verwendet.  Die  Wellenlänge  der 
intensiven  Linie  beträgt  für  Rhodium  0,607-  lO~*cm, 
für  Palladium  0,576- lO"^*  cm. 

4.  Die  Bragg'sche  spektrometrische  Unter- 
suchung verläuft  folgendermaßen:  Annähernd 
monochromatisches  Licht  fällt  auf 
kristallographisch  wichtige  Flächen  des 
Kristalls,  es  wird  an  den  Netzebenen 
reflektiert.  Mittels  der  Ionisations- 
kammer wird  der  Reflexionswinkel  « 
in  der  isten,2ten  und  3ten  Ordnung  und 
die  Intensität  gemessen.  Mittels  der 
Gleichung  nA=2d  sin  «  läßt  sich  aus  « 
undÄ  der  Abstand  d  messen;  dadurch 
ist  die  Lage  der  Netzebenen  bestimmt. 
Wie  dieselben  mit  Atomen  besetzt  sind, 
ergibt     sich     aus     der     Verteilung     der 


")  Daß  die  Eigenstrahlung  für  das  Metall  der  Antikathode 
charakteristisch  ist,  wird  dadurch  gezeigt,  daß  man  das  Licht 
einer  Rhodium-Antikathode  durch  Reflexion  an  den  Flächen 
verschiedener  Kristalle  untersucht;  man  findet  dann  stets  die 
beiden  Maxima.  Der  Abstand  derselben  (Winkel  «)  ist  ver- 
schieden, da  er  ja  durch  den  Abstand  d  der  Netzebene  des 
jeweilig  verwendeten  Kristalls  bestimmt  wird. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Intensität  auf  die  verschiedenen  Ord- 
nungen der  reflektierten  Farbe.  An 
einem  Beispiel  möge  das  erläutert  werden.  Abb.  4 
zeigt  die  Ergebnisse  der  Untersuchung  an  Stein- 
salz. Auf  der  horizontalen  Achse  ist  der  Winkel, 
den  die  Ionisationskammer  mit  den  einfallenden 
Strahlen  bildet,  also  2a  abgetragen,  senkrecht  dazu 
die  an  den  Flächen  (lOO),  (lio)  und  (iii)  reflek- 
tierte Rhodiumlinie  der  isten,  2ten  und  3ten  Ord- 
nung; die  weiße  Strahlung  ist  fortgelassen.  Die 
Abstände  der  reflektierenden  Netzebenen  seien 
'^loo'  '^Jio  ^^'^  "^iii-  dann  gelten  die  Gleichungen 


:2d, 


A  =  2d. 


„•sm 


Daraus  folgt : 
sin  5,850:sin8,50:sin5,i»=-^:--!-:-i-. 

Aus  Abb.  I,    die   das   Raumgitter    des   Koch- 
salzes zeigt,    ergibt    sich,    daß  d,„(,  =  Ad,  d,„o  als 


von  Cl-  zu  Q-Ebene;  beide  sind  gleich  djo(,-3-|  3 
im  d.  Der  zugehörige  Reflexionswinkel  ist  durch  die 
Gleichung  A  =  2d,j,-sin«  gegeben.  Aber  auf  der 
Mitte  zwischen  den  Ebenen  mit  Na-Belegung  findet 
sich  immer  eine  mit  Cl-Belegung.  Diese  reflektieren 
Wellen,  die  für  die  erste  Ordnung  in  entgegen- 
gesetzter Phase  mit  den  von  den  Na- Ebenen  reflek- 
tierten sind.  Die  beiden  Wellenzüge  schwächen  sich 
daher  und  zwar  gilt  das  nicht  nur  für  die  erste, 
sondern  für  jede  Reflexion  ungerader  Ordnung. 
Die  Reflexionen  gerader  Ordnung  werden  da- 
gegen verstärkt.  Nunistdie  reflektierende 
Kraft  eines  Atoms  proportional  seinem 
Atomgewicht.  Da  dieses  für  Natrium  23  und 
für  Chlor  35,4  ist,  haben  die  beiden  interferierenden 
Wellenzüge  keine  gleiche  Amplitude.  Die  Folge 
ist,  daß  die  Reflexionen  ungerader  Ordnung  (i  1 1) 
nicht  vollständig  fehlen,  sondern  mit  stark  ge- 
schwächter Intensität  vorhanden  sind,  wie 
Abb.  4  zeigt.  Die  Reflexion  2ter  Ordnung  ist 
dagegen  verglichen  mit  der  gleichen  Ordnung  an 
(110)  und  (100)  besonders  intensiv. 

5.  Es  fragt  sich  nun,  wie  man  die  wahre  Größe 
der  verschiedenen  Netzebenen-Abstände  d  bestim- 


. 

IWOJ 

K 

fl 

A 

imi 

K 

-^ 

m 

V 

V 

' 

■>'         1 

0'           1 

i'           z 

c 

S°            j 

0' 

5'            i 

d"           i 

5°           SO 

Höhe  im  gleichschenkligen  rechtwinkligen  Drei- 
eck Adl  gleich  d,oo-i]2  und  dj,i  als  Höhe  der 
Pyramide  ALPQ  mit  der  Spitze  A  gleich  dmof-yS 
ist.  Setzen  wir  diese  Werte  auf  der  rechten  Seite 
der  Gleichung  ein,  dann  ergibt  sich 

—     1/7 
•  sin  S,85":sin  8,5'':sin5,i*'=i  :y2  :  ^. 

I  :     1,44    :     0,88  =  1:1,41:0,87. 

Es  läßt  sich  nun  zeigen,  daß  für  kein  anderes 
Raumgitter  die  obige  Bedingung  erfüllt,  mithin 
stellt  Abb.  1 A  dasjenige  des  Steinsalzes  dar.  Fig.  B 
in  Abb.  i  zeigt  wie  die  Ebenen  mit  Atomen  be- 
legt sind.  Besonders  einfach  ist  die  Belegung  der 
Ebenen  (100)  und  (i  10),  in  ihnen  liegen  abwechselnd 
Na-  und  ClAtome  (dargestellt  durch  schwarze 
bzw.  weiße  Kreise)  nebeneinander.  Verwickelter 
ist  die  Struktur  des  Kristalls  parallel  zur  Fläche  ( 1 1 1 ) ; 
hier  enthalten  die  Ebenen  abwechselnd  nur  Na- 
Atome  (EDB)  und  Cl- Atome  (hec).  Wenn  die 
Strahlen  von  (11  i)-Ebenen  reflektiert  werden,  dann 
ist  der  wahre  Abstand  d  derjenige  zweier  gleich- 
wertiger Ebenen,  also  von  Na-  zu  Na-Ebene  oder 


men    kann.      Unsere    Gleichung   liefert    den  Wert 


Wir    kennen    also    lediglich    das  Verhältnis    . 

und  müssen  eine  der  beiden  Größen  bestimmen, 
um  zu  einem  absoluten  Wert  der  anderen  zu  kom- 
men. Folgende  Überlegung  führt  zum  Ziel.  Be- 
trachtet man  in  Abb.  i  den  Würfel  EeRhePcL, 
also  den  achten  Teil  des  großen  Würfels,  so  stellt 
er  den  kleinsten  Teil  des  Steinsalzkristalls  dar,  an 
dem  das  Raumgitter  zu  erkennen  ist.  Aus  zahl- 
losen solcher  kleinen  Würfel  baut  sich  ein  Stein- 
salzkristall auf;  er  wird  daher  Elementarkörper 
genannt.  Jedes  Atom  des  Elementarwürfels,  der 
4  Na-  und  4  Cl-Atome  also  4  NaCl  Moleküle  ent- 
hält, ist,  wenn  es  im  Innern  des  Kristalls  sitzt, 
an  dem  Aufbau  von  acht  Nachbarwürfeln  be- 
teiligt; mithin  enthält  der  Elementarwürfel  im 
Mittel  ein  halbes  Molekül  NaCl  vom  Molekular- 
gewicht M.  Dieses  wiegt  i-(23-f35,5)-m,  wo 
m  =  i,64-io~^t  g    das    Gewicht     eines    Wasser- 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


52s 


Stoffatoms  ist.  Andererseits  ist  der  Inhalt  des 
Elementarwürfels  djof,"  und  die  Dichte  des  Stein- 
salzes (1  =  2,17,  also  ein  Gewicht  dip„^-p.  Wir 
erhalten  mithin   die  Gleichung 

^M.m  =  e.di„o^ 

.Aus  dieser  ergibt  sich  d,  g„  =  ]/'  ~ —  =  2,80  •  i  O^'  cm, 

und  daraus  mit  Hilfe  der  Gleichung  A=  0,576-  lO'^'cm. 
Führt  man  dieselbe  Rechnung  an  einem  anderen 
Kristall  derselben  Bauart  (KCl,  KBr)  durch,  dann 
findet  man  für  l  denselben  Wert. 

Untersucht  man  Sylvin  (KCl),  so  sind  die 
Spektren  dem  des  Steinsalzes  ganz  ähnlich.  Die 
Reflexionswinkel  der  Maxima  sind  rund  um   10% 

(JKCl 

kleiner.    Daraus  folgt  -; =1,10.    Für  das  Ver- 

dNaCI 

hältnis  der  Molekularvolumina  ergibt  sich 
Mol.  Vol.  KC^_  74,5.  58,5^ 
Mol.  VoLNaCl^  1,99 '  2,17"'  ''^^' 

Die  Kante   des  Elementarwürfels  muß  danach  für 

KCl  y  1,39=1,11  mal  so  groß  sein  als  für  NaCl, 
was  gut  mit  der  obigen  aus  der  Lage  der  Re- 
flexionsnjaxima  berechneten  Zahl  übereinstimmt. 
Das  erste  von  der  Fläche  (m)  kommende  Spek- 
trum, das  beim  NaCl  schwach  vorhanden  ist,  fehlt 
beim  KCl  vollständig.  Das  erklärt  sich  daraus, 
daß  das  Reflexionsvermögen  der  in  der  Mitte 
zwischen  den  K-Ebenen  liegenden  Cl-Ebenen 
wegen  des  fast  übereinstimmenden  Atomgewichts 
von  K  und  Cl  gleich  ist  und  daß  sich  daher  die 
Reflexionen  ungerader  Ordnung  auslöschen. 

6.  Durch  ähnliche  Betrachtungen,  bei  denen 
sowohl  die  Lage  als  auch  die  Intensität  der 
Reflexionsmaxima  in 
Betracht  zu  ziehen 
ist,  hat  man  für  eine 
Reihe  von  Kristallen 
den  architektonischen 
Charakter  zu  bestim- 
menvermocht. Abb.  5 
zeigt  das  Schema  des 
Zinkblendekristalls. 
Die  durchKreise  ange- 
deuteten Zinkatome 
bilden  einen  flächen- 
zentrierten Würfel. 
Von  den  acht  Ele- 
mentarwürfeln sind  nur  vier  abwechselnd  in  ihrer 
Mitte  mit  einem  Schwefelatom  besetzt.  Man 
kann  sich  dieses  Schema  aus  dem  von  NaCI 
(Abb.  i)  dadurch  entstanden  denken,  daß  man 
das  Gitter  der  Na-Atome  als  Ganzes  derart  ver- 
schiebt, daß  dieselben  die  Raumdiagonale  des 
großen  Würfels  vierteln  und  nun  an  die  Stelle  von 
Cl  und  Na  Zn-  bzw.  S-Atome  bringt.  Das  Gitter 
von  NaCl  und  ZnS  besteht  aus  zwei  auf  ver- 
schiedene Weise  ineinandergestellten 
flächenzentrierten  Würfeln.  Durchlaufen 
wir  die  Raumdiagonale  von  links  oben  hinten 
nach    rechts    unten    vorn,    dann    treffen  wir  eine 


^^ 


^^ 


.\bb. 


verschiedene  Anordnung  der  Zn-  und  S-Atome 
auf  ihr  an,  je  nachdem  wir  in  der  einen  Richtung 
oder  in  der  anderen  gehen.  Das  eine  Mal  folgt 
S  auf  Zn  in  kurzen,  das  andere  Mal  in  weiten 
Abständen.  Die  beiden  Seiten  dieser  Achse  sind 
also  physikalisch  nicht  gleichwertig,  die  Achse  ist 
polar.  Dieses  macht  sich  am  Kristall  dadurch 
bemerkbar,  daß  unter  dem  Einfluß  von  Druck 
oder  Erwärmung  ungleichnamige  Elektrizitäten  an 
den  Enden  dieser  Achse  auftreten.  Zinkblende 
zeigt  also  die  Erscheinungen  der  P\to-  und 
Piezoelektrizität. 

Ersetzt  man  sämtliche  Zn-  und  S-Atome  durch 
C,  dann  erhalten  wir  das  Schema  als  Diamanten. 
Interessant  und  beachtenswert  ist  es,  daß  jedes 
C-Atom  im  Mittelpunkt  eines  Tetraeders  sitzt, 
das  aus  den  4  Atomen  in  den  Ecken  eines  Ele- 
mentarwürfels gebildet  wird.  Unser  Raumgitter 
führt  uns  also  auf  dieselben  Anschauungen,  die 
sich  die  Chemie  von  der  Verteilung  der  chemischen 
Kräfte  (Valenzen)  auf  der  Oberfläche  eines  Kohlen- 
stoftatoms  macht.  Die  Erscheinung  der  Piezo- 
und  P_\roelektrizität  muß  beim  Diamanten  fehlen, 
was  die  Erfahrung  bestätigt.  Sind  die  Mitten  aller 
8  Elementarwürfel  in  Abb.  5  mit  Fluoratomen 
besetzt  und  bedeuten  die  Kreise  Ca-Atome,  dann 
haben  wir  einen  Fluorkalzium-Kristall  vor  uns; 
fehlen  dagegen  die  Atome  im  Innern  der  Ele 
mentarwürfeln,  einen  Kupferkristall.  Auch  die 
Bauart  der  Kalkspats  CaCO^j  läßt  sich  aus  Abb.  I 
ableiten,  wie  Abb.  6  zeigt.  Hier  bedeuten  die 
Kreise  Ca-,  die  Punkte  C-Atome.    Die  Gruppierung 


O 

.\bb.  6a.  .Abb.  6b. 

der  O3,  die  in  Fig.  a  fortgelassen  sind,  um  ein  C- 
Atom  zeigt  Abb.  6  b.  Wenn  es  auch  noch  nicht 
gelungen  ist,  den  Feinbau  sämtlicher  Kristalle  zu 
ermitteln,  so  steht  es  doch  für  eine  Reihe  ganz 
fest  (Bragg  führt  in  seinem  oben  erwähnten  Buche 
18  an);  von  einer  weiteren  Gruppe  (9)  kennt  man 
ziemlich  gut  die  Gruppierung  der  Atome.  Doch 
ist  auf  jeden  Fall  die  Möglichkeit  vorhanden,  die 
innere  Architektur  zu  erforschen,  wenn  auch  die 
Überlegungen,  die  zum  Ziel  führen,  für  viele  Kri- 
stalle recht  komplizierter  Natur  sind. 

7.  Einige  Fragen,    die    vielleicht  Bedenken   er- 
regen   könnten,     mögen     noch    erledigt    werden. 


526 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Wenn  man  durch  einen  Kristall  irgendeine 
beliebige  Ebene  legt,  dann  wird  sie  sicher  eine 
Anzahl  von  Atomen  enthalten.  Finden  an  ihr 
Reflexionen  statt  oder  nicht?  Das  Reflexions- 
vermögen einer  Netzebene  hängt  von  ihrer  Netz- 
dichte ab  und  zwar  ist  es,  wie  Laue^)  gezeigt 
hat,  proportional  dem  Quadrat  ihrer  Belegungs- 
dichte. Nun  wird  die  Dichte  auf  einer  beliebig 
orientierten  Ebene  im  allgemeinen  gering  sein, 
so  daß  eine  merkliche  Reflexion  an  ihr  nicht 
stattfinden  wird.  Denkt  man  sich  z.  B.  in  Abb.  i 
die  Ebenen  (iio),  (120),  (140)  usw.  hineingelegt, 
so  sieht  man,  daß  ihre  Belegungsdichte  (d.  i.  An- 
zahl der  Atome  auf  der  Flächeneinheit)  schnell 
abnimmt. 

Eine  weitere  wichtige  Frage  ist  die  nach  der 
Raumeinheit  der  Stoffe.*)  Bei  den  Gasen 
sind  als  solche  die  Molekeln  anzusehen,  die  durch 
große  Zwischenräume  voneinander  getrennt  „no- 
madisierend" sich  bewegen.  Bei  den  Flüssigkeiten 
schlingen  sie  sich  von  einer  Molekel  zu  den  benach- 
barten Kraftlinien,  ohne  daß  dadurch  die  freie 
Beweglichkeit  stark  beeinträchtigt  wird.  Bei  der 
kristallinen  Materie  hat  es,  wie  unsere  Raumgitter- 
bilder zeigen,  keinen  Sinn  von  Molekeln  zu  sprechen, 
da  es  ja  vollkommen  willkürlich  wäre,  z.  B.  im 
Raumgitter  des  Steinsalzes  zwei  benachbarte  Atome 
zu  einem  Molekül  zusammenzufassen.  Man  hat 
gesagt,  der  ganze  Kristall  wäre  ein  einziges  rie- 
siges Molekül.  Doch  trift't  man  damit  nicht  in 
allen  Fällen  den  wirklichen  Sachverhalt.  Wie  z.  B. 
das  Gebäude  des  Kalkspats  (Abb.  6)  zeigt,  heben 
sich  gelegentlich  elementare  Baugruppen  (CO^) 
charakteristisch  heraus.  Rinne  kommt  zu  folgen- 
dem geometrischen  Bild:  „Ein  Kristall  kann  aus 
gleichförmig  periodisch  geordneten  Atomgruppen 
bestehen;  in  anderen  Fällen  heben  sich  aus  ihnen 
periodisch  Knäuel  heraus;  schließlich  kann  es  zu 
einer  Aufteilung  der  ganzen  Kristallmasse  in  solche 
chemisch  molekelartige  kristallographische  Atom- 
komplexe kommen"  (z.  B.  bei  Al,,Og). 

Stellt  man  sich  den  oben  geschilderten  Fluß- 
spatwürfel (seine  Kantenlänge  ist  5,44- io~8  cm) 
vor,  so  findet  man  leicht,  daß  er  14  Ca-  und  nur 
8  F-Atome  enthält,  während  die  chemische 
Formel  CaFj  auf  14  Ca  28  F,  also  das  Ver- 
hältnis 1 : 2  fordert.  In  einem  Würfel  von  der 
Kante  5,44-  iO-7cm  ist  dieses  Verhältnis  36,51 :  63,49; 
bei  weiterer  Vergrößerung  des  Kristalls  nähert 
es  sich  mehr  und  mehr  dem  idealen  Verhältnis 
1:2.  Diese  Abhängigkeit  der  Zusammensetzung 
von  Größe  erklärt  sich  nach  Rinne  durch  die 
Annahme,  daß  die  Grenzfläche  des  Kristalls 
in  atomistischen  Dimensionen  den  Raum- 
gitterforderungen nicht  genügt.  Von 
außen  nach  innen  fortschreitend  gelangt  man  in 
kontinuierlichem  Übergang  von  ungeordneten  zu 
mehr    und    mehr    geordneten    Schichten.      Diese 

')  Neues  Jahrb.  f.  Mineralogie  II,  S.  47  {1916):  F.  Rinne, 
Beiträge  zur  Kenntnis  des  Feinbaues  der  Kristalle. 

")  Naturwissenschaften  V,  S.  49  (1917):  F.  Rinne,  Zur 
Leptonenkunde  als  Feinbaulehre  des  Stoffes. 


Eigenart  der  Oberfläche  ist  zugleich  die  Trieb- 
feder für  das  Wachstum  der  Kristalle. 
An  ihr  ragt  ein  Teil  der  Valenzen  frei  in  den 
Raum  hinein,  und  durch  Ablagerung  neuer  Sub- 
stanz auf  der  alten  erneuert  sich  die  Oberflächen- 
schicht in  ihrer  Besonderheit  stets  wieder.  — 
Das  Raumgitterprinzip  wird  erst  dann  wirksam, 
wenn  die  Molekelabstände  die  Größenordnungen 
der  Atomdistanzen  erreichen,  so  daß  sich  Kraft- 
linien von  Molekel  zu  Molekel  herüberschlingen 
können,  dadurch  verliert  die  Molekel  als  solche 
mehr  oder  weniger  ihre  Bedeutung  als  Raumein- 
heit. Das  findet  statt  im  festen  kristallinen  Zu- 
stande der  Materie;  doch  ist  in  den  flüssigen 
Kristallen  ein  stetiger  Übergang  vom  flüssigen 
zum  kristallinen  Zustand  gegeben. 

Die  Laue'sche  Röiitgeuogrammetrie. 

8.  Läßt  man  ein  durch  Blenden  ausgesondertes 
Büschel  S,Sj  weißen  Röntgenlichts  (Abb.  7)  senk- 
recht auf  den  Kristall  K  fallen,  dann  bildet  sich 
auf  der  photographischen  Platte  PP  das  Laue- 
Diagramm  ab  (siehe  Abb.  9).  Eine  geeignete 
Apparatur  für  solche  Aufnahmen  ist  von  Rinne') 


angegeben.  Als  Strahlenquelle  wird  eine  Lilien- 
feld-Röhre benutzt,  die  den  Vorzug  hat,  daß 
Härte  und  Intensität  der  Strahlung  durch  wenige 
Handgriffe  unabhängig  voneinander  reguliert 
werden  können.  Ihre  Antikathode  steht  oben,  die 
Lichtkegelachse  ist  vertikal  nach  unten  gerichtet. 
Durch  Bleiblenden  wird  ein  schräg  nach  unten 
verlaufendes  Strahlenbündel  isoliert,  dieses  durch- 
setzt den  Kristall  und  trifft  dann  die  photogra- 
phische Platte.  Da  auf  derselben  ein  Gehler- 
Verstärkungsschirm  liegt,  genügt  eine  Belichtung 
von  25 — 30  Minuten.  Um  die  Röhre  herum  sind 
im  ganzen  drei  Aufnahmestellen  angebracht.  Ein 
amorpher  Körper  liefert  auf  der  Platte  um  den 
Einstich  des  primären  Strahles  herum  diffuse 
Lichtverteilung,  ein  Kristall  zeigt  außerdem  die 
Einstiche  bestimmter  Sekundärstrahlen. 

Zur  Erklärung  der  Entstehung  der  Diagramme 
verwendet  man  zweckmäßig  nicht  die  oben  (unter  i ) 
angedeutete    Laue'sche     Aufi'assung    (Beugung), 


')  Berichte  der  sächsisch.  Ges.  d.  Wissenschaften  LXVII, 
S.  303(1915).  F.  Rinne:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Kristall- 
Röntgcnogramme, 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


527 


sondern  einfacher  die  Bragg'sche  der  Reflexion. 
In  Abb.  8  stellt  S^Sj  den  Primärstrahl  dar,  der 
den  Kristall  K  durchsetzt.  Kz  stellt  eine  zur 
Zeichenebene  senkrechte  Netzebene  dar,  sie  reflek- 
tiert den  Primärstrahl  unter  dem  Winkel  u  in  Rich- 
tung S.,,  so  daß  er  die  Platte  PP  in  Sj  trifft.  Gibt 
man  nun  der  betrachteten  Netzebene  dadurch 
andere  Lagen,  daß  man  sie  um  Zz  als  Zonen- 
achse  dreht,  dann  beschreibt  der  reflektierte 
Strahl  den  Mantel  eines  Kegels  vom  halben 
Öffnungswinkel  a.  PP  schneidet  ihn  in  der  durch 
SjS.,  gehenden  Ellipse  (Zonenlinie).  Läßt  man  « 
größer  werden,  betrachtet  man  also  eine  Netzebene, 
die  gegen  den  einfallenden  Strahl  stärker  geneigt 
ist,  dann  liegt  s.,  weiter  nach  rechts  und  auf  PP 
entsteht    eine    größere,     aber    ebenfalls    durch  s, 


ist  das  natürlich  so  zu  verstehen,  daß  diese 
Reflexion  nicht  an  einer  Ebene,  sondern  an  einer 
Schar  paralleler  Ebenen  erfolgt  und  daß  die 
reflektierten  Strahlen,  wie  es  unter  2  auseinander- 
gesetzt ist,  miteinander  interferieren.  In  den 
meisten  Fällen  vernichten  sich  die  verschiedenen 
Wellenzüge,  sie  verstärken  sich,  wenn  n  •  Z  =  2d  •  sin  « 
ist.  Wenn  also  dieReflexionsebene  bei  ihrer  Drehung 
um  die  Zonenachse  Kz  eine  bestimmte  Lage  hat, 
dann  findet  die  Reflexion  an  der  zu  ihr  parallelen 
Schar  von  Netzebenen  statt.  Die  Folge  ist,  daß 
aus  der  Fülle  der  Wellenlängen  des  weißen  Röntgen- 


Abb.  8. 


gehende  Ellipse;  bei  kleinerem  u  liegt  die  Ellipse 
innerhalb  der  in  der  Abbildung  gezeichneten.  Wird 
a  =  45",  dann  steht  S.,  senkrecht  zum  Primärstrahl 
SjSj  und  verläuft  (als  Seitenlinie  des  Kegels) 
parallel  zu  PP.  Die  Ellipse  öffnet  sich  mithin 
zur  Parabel.  Ist  u  größer  als  45",  dann  sind  die 
Schnittfiguren  Hyperbeln  und  werden  für  «=90" 
zur  Geraden.  Je  weiter  von  Sj  entfernt  also  eine 
Zonenachse  auf  PP  einsticht,  um  so  weiter  greift 
die  entsprechende  Zonenlinie  aus,  doch  gehen  sie 
alle  durch  Sj.  Die  Zonenlinie  ist  der  geometrische 
Ort  der  Einstiche  aller  Strahlen,  die  bei  der 
Drehung  der  Netzebenen  um  die  Zonenachse 
reflektiert  werden.  Dabei  ist  zu  beachten,  daß 
bei  der  Drehung  der  Ebene  um  Kz  die  Netzdichte 
nicht  immer  so  groß  ist,  daß  eine  Reflexion  von 
merklicher  Stärke  stattfindet;  vielmehr  wird  das 
nur  für  besondere  Lagen  der  Fall  sein.  Es  wird 
demnach  auf  der  Zonenlinie  nicht  Einstich  un- 
mittelbar neben  Einstich  liegen,  sondern  es  werden 
sich  den  dichtbelegten  Ebenen  entsprechende, 
diskrete,  ihrer  Intensität  nach  verschiedene  Ein- 
stichpunkte auf  ihr  finden,  wie  das  Diagramm  des 
Anhydrits  in  Abb.  9  zeigt.  (Die  verschiedene 
Intensität  der  Einstiche  ist  hier  allerdings  nicht 
gekennzeichnet.)  Sämtliche  Zonenlinien,  die  als 
Ellipsen,  Parabel,  Hyperbeln  und  gerade  Linien 
deutlich  in  dem  Röntgenogramm  zu  erkennen 
sind,  gehen  durch  den  Einstichpunkt  des  Primär- 
strahles in  der  Mitte.  Wenn  oben  gesagt  ist,  daß 
eine  Reflexion  an  den  Netzebenen  stattfindet,  dann 


Abb.  9. 

lichtes  eine  einzige,  nämlich  die,  deren  X  der  Glei- 
chung A  =  2d-sina  (d^  Abstand  der  Netzebenen) 
genügt,  reflektiert  („erzeugt")  wird,  während  alle 
anderen  sich  durch  Interferenz  auslöschen.  Denkt 
man  die  Reflexionsebene  weiter  um  Kz  gedreht, 
dann  ändert  sich  der  Abstand  d,  mithin  wird  in 
der  neuen  Lage  eine  andere  Wellenlänge  aus  dem 
weißen  Licht  ausgesondert,  reflektiert  und  erzeugt 
den  benachbarten  Einstich,  dessen  Intensität  von 
der  Belegungsdichte  der  ihn  erzeugenden  Struktur- 
fläche abhängt.  Jeder  Einstich  entsteht  demnach  als 
Wirkung  von  Wellen  von  verschiedenerWellenlänge; 
d  und  /.  ändert  sich  von  Fleck  zu  Fleck.  Daraus 
wird  man  entnehmen,  daß  es  schwieriger  sein  wird, 
aus  dem  Laue- Diagramm  den  Feinbau  des 
Kristalls  zu  ergründen,  als  aus  dem  Spektrum 
Bragg's,  der  mit  monochromatischem  Licht  jede 
Ebene  für  sich  untersucht.  Einige  Gesetzmäßig- 
keiten lassen  sich  indessen  ohne  weiteres  aus  dem 
Diagramme  ablesen.  So  drückt  sich  der  kristallo- 
graphische  Rhythmus  in  einfacher  Weise  in  den 
Symmetrieverhältnissen  des  Röntgenogramms  aus. 
Abb.  10  zeigt  das  Beugungsbild  eines  Zink- 
blendekristalls'^  (reguläres  System).  Es  ist  eines 
der  ersten,  die  auf  Veranlassung  Laue's 
von  Friedrich  und  Knipping  hergestellt 
wurden  (Expositionszeit  12  Stunden).     In  Abb.   10 


528 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


tritt  der  Primärstrahl  seiikreckt  zur  einen  VVürfel- 
fläche  (100),  also  in  Richtung  einer  vierzähligen  Achse 
ein.  Man  findet  in  dem  Diagramm  ohne  weiteres  die 
Symmetrieverhältnisse  wieder.  Eine  sehr  große 
Anzahl  von  Flächen  sind  an  der  Entstehung  eines 


Diagramms  beteiligt,  im  Diagramm  des  Anhydrits 
(Abb.  9)  sind  es  nicht  weniger  als  424.  Aber 
ihre  Zahl  ist  immerhin  beschränkt,  nicht  jede  durch 
den  Kristall  gelegte  wirkt  reflektierend,  da  nur  bei 
einer  beschränkten  Anzahl  die  Netzdichte  hin- 
reichend groß  ist.  Außerdem  liegen  punktarme 
Ebenen  dicht  zusammen;  nach  unserer  Grund- 
gleichung darf  aber  d  unter  ein  gewisses  Maß 
nicht  heruntergehen. 

9.  Wie  man  aus  der  Lage  der  Einstiche  die 
Indices  der  reflektierenden  Strukturebenen  und 
damit  den  Aufbau  des  Kristalls  ermittelt,  soll  nur 
angedeutet    werden.      In    Abb.    1 1    stellt    K   den 


dar.  Es  zeigt  sich  nun,  daß  bei  Anwendung  dieser 
Projektion  die  Projektionspunkte  eines  Zonenver- 
bandes auf  einer  Geraden  liegen,  so  daß  jeder 
Zoneiikurve  der  Reflexprojektion  eine  Gerade  der 
Normalprojektion  entspricht.  Die  den  Kurven  zu- 
geordneten Geraden  lassen  sich  konstruieren,  ebenso 
die  konjugierten  Projektionspunkte.  Nun  kann 
man  nach  Annahme  einer  (11 1)  Fläche  die  Indices 
aller  durch  den  Laue- Effekt  symbolisierten 
Flächen  direkt  ablesen.  —  Auf  diese  Weise  ge- 
lingt es,  die  Struktur  der  einfachsten  Kristalle 
abzuleiten. 

10.  Eine  Frage  von  Interesse  ist,  welchen  Ein- 
fluß die  Temperatur  auf  die  Diagramme 
haben.  Die  Theorie  ist  von  P.  Debye^)  ent- 
wickelt worden.  Er  kommt  unter  anderem  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  Wärmebewegung  nicht  die  Lage 
und  Schärfe,  wohl  aber  die  Intensität  der  Inter- 
ferenzpunkte beeinflußt.  Dieses  Resultat,  das  durch 
den  Versuch  bestätigt  wird,  ist  ohne  weiteres 
plausibel,  wenn  man  bedenkt,  daß  durch  die 
Schwingungen,  die  die  Atome  im  heißen  Kristall 
ausführen,  die  (momentane)  Belegungsdichte  der 
Strukturebenen  vermindert  wird. 


Die    Röntgeiispektrogramiiietrie    von    Debje 
und  Scherrer. 

II.  Die  zu  untersuchende  Substanz  wird  in 
Pulverform  zu  einem  kleinen  Stäbchen  KP 
(Abb.  12)  von  10  mm  Länge  und  2  mm  Durch- 
messer geformt.  Dieses  wird  in  die  Mitte  einer  zylin- 
drischen Metallkamera  gebracht,  in  welche  senkrecht 
zur  Achse  das  monochromatische  Röntgen- 
strahlenbündel  SjSj  eindringt.  Alle  Teilchen  und 
ihre  Netzebenen  liegen  in  dem  Pulver  wirr  durch- 
einander. Eine  Netzebene  wird  nur  reflektieren, 
wenn  sie  so  orientiert  ist,  daß  der  Winkel  zwischen 
ihr  und  S,Si  den  Wert  «  (A  =  2d-sinß)  hat.  Da 
es  auf  die  absolute  Orientierung  im  Räume  nicht 


Kristall,  SjS,  den  Primärstrahl  und  PP  die  Pro- 
jektionsebene (photographische  Platte)  dar.  Das 
Laue-Diagramm  stellt  eine  neue  Projektionsart 
dar,  die  Reflexprojektion:  jede  Fläche  Kz 
wird  durch  den  Einstich  s.,  ihres  Reflexstrahls  S., 
auf  PP  dargestellt ;  eine  Drehung  der  reflektierenden 
Ebene  um  die  Zonenachse  Zz  liefert  einen  Kegel- 
schnitt auf  PP.  Die  in  der  Kristallographie  übliche 
gnomonische  Normalprojektion  stellt  die  Fläche  Kz 
durch    den    Einstich  g    ihrer    Normalen  n    auf  PP 


ankommt,  liegt  die  Gesamtheit  dieser  Ebene  auf 
einem  Kreiskegel  vom  Offnungswinkel  2«  und  dem 
Primärstrahl  als  Achse.  Die  von  ihnen  reflektierten 
Strahlen  liegen  auf  Kreiskegeln,  deren  Spitze  im 
Stäbchen  liegt,  mit  den  Öffnungswinkeln  4«,  siehe 
Abb.  12.  Auf  einer  senkrecht  zu  S^s.,  gestellten 
Platte  würden  sich  konzentrische  Kreise  abbilden. 


")  Verhandl. 
(1913)- 


d.    Deutsch.   Physika!.  Ges.  15,  67S  u.  738 


N.  F.  XVI.  Nr.    38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


529 


Debye  und  Sc  herrer")  legen  statt  dessen 
in  die  Kamera  einen  zylindrisch  gebogenen 
Film,  auf  diesem  bilden  sich  als  Durchschnitts- 
linien der  Kegel  mit  dem  Zylinder  die  in 
Abb.  13a  u.  h  wiedergegebenen  Diagramme  ab, 
die  mittels  fein  gepulvertem  Lithiumfluorid  und 
einer  Kupferantikathode  erhalten  wurden.  Bei 
Verwendung    einer    Platinantikathodc    sieht    ent- 


sprechend der  anderen  Wellenlängen  der  Platin- 
strahlung das  Diagramm  wesentlich  anders  aus. 
Durch  Ausmessung  der  Einzellinien  lassen  sich  die 
Öffnungswinkel  der  verschiedenen  Kegel  bestim- 
men; hieraus  und  aus  dem  Fehlen  gewisser  Linien 
kann  man  in  einer  der  Bragg 'sehen  analogen 
Schlußweise  auf  die  Lage  der  Strukturfläche  und 

')  Physikal.  Zeitschr.  XVII  S.  277  (1916):  P.  Debyc  und 
P.  Scherrer,  Interferenzen  an  regellos  orientierten  Teilchen 
im  Röntgenliclit. 


damit  auf  das  dem  Kristall  zugrunde  liegende 
Gitter  schließen.  Wegen  der  Einzelheiten  sei  auf 
die  Originalarbeit  verwiesen. 

Es  wurde  auf  diese  Weise  festgestellt,  daß  LiF 
dasselbe  Gitter  wie  NaCl  und  KCl,  sogenanntes 
amorphes  Silicium  dasselbe  wie  der  Diamant  hat. 
Die  Länge  der  Kante  des  Elementarwürfels  für 
Si  ist  5,46-10-8  cm,  der  kürzeste  Abstand  zweier 
Si- Atome  2,33-10-'*  cm.  Graphit  kristallisiert 
trigonal,  12  Kohlenstoffatome  liegen  in  seinem 
rhomboedrischen  Elementarbereich,  dessen  Kante 
4,69- IQ-*  cm  lang  ist. 

Das  Verfahren  liefert  ein  einfaches  Mittel,  das 
mit  absoluter  Sicherheit  zu  entscheiden  gestattet, 
ob  der  Zustand  einer  Substanz  mikrokristallinisch 
oder  amorph  ist,  da  nur  im  ersteren  Fall  die  Kegel 
maximaler  Intensität  auftreten.  Mit  einer  einzigen 
Photograpiiie  gelingt  es,  die  gegenseitige  Lage 
und  die  Abstände  der  Atome  im  Kristall  zu  be- 
stimmen. Man  hat  zu  dem  Zweck  nicht  einmal 
einen  ganzen  Kristall  nötig;  es  gelingt  vielmehr 
besser  mit  seinem  Pulver.  Hat  man  die  Atom- 
anordnung für  irgendeine  Substanz  ermitteh,  dann 
kann  man  diese  umgekehrt  als  Gitter  zur  Anal)'se 
der  auffallenden  Strahlung  und  zur  Messung  der 
Wellenlängen,  die  sie  enthält,  benutzen.  Wir 
haben  ein  Röntgenspektroskop  denkbar  ein- 
fachster Art. 

Weiterer  Literaturhinweis : 
Naturwissenschaften  IV  S.    13  u.  25  (1916)  A.  Sommer- 
feld: Neues  zur  Physik  der  Röntgenstrahlen. 


Mineralogische  Beobachtungen  während  einer 
FerienTeise  ins  Wallis  im  Juli  1917.  Nicht  ganz 
neun  Tage  war  mein  Aufenthalt  in  diesem  herr- 
lichen, von  hohen  Bergen,  tiefen  Tälern  und  wild 
daher  brausenden  Gebirgswassern  durchzogenen 
Kanton  der  Schweiz  bemessen.  In  einer  solch 
kurzen  Spanne  Zeit  kann  man  natürlich  die  natur- 
historischen Verhältnisse  eines  Gebietes  nicht 
völlig  ergründen,  das  haben  schon  andere  von 
berufenerer  Feder  vor  mir  besorgt  und  mag  daher 
von  neuem  überflüssig  erscheinen.  Aber  immer- 
hin werden  die  Beobachtungen  des  einzelnen,  der 
wenn  auch  nur  im  Fluge  sich  über  die  minera- 
logischen Verhältnisse  zu  orientieren  vermochte, 
für  denjenigen,  welcher  später  dieselben  Gegenden 
bereisen  sollte,  von  Interesse  sein  und  sie  mögen 
daher  an  dieser  Stelle  aufgezeichnet  werden. 

Der  Mineralreichtum  des  Wallis,  welcher 
vielleicht  nur  von  demjenigen  des  St.  Gotthard- 
Gebietes  übertroffen  wird,  ist  schon  seit  altersher 
bekannt,  sogar  der  alte  Scheuchzer  gedenkt  des- 
selben. In  engster  Beziehung  stehen  damit  die 
mineralhaltigen  und  daher  heilkräftigen  Quellen, 
ich  erinnere  nur  an  diejenige  des  Bades  Leuk. 
Die  Bahn  nach  diesem  weltberühmten  Orte  führt 


Kleinere  Mitteilungen. 

von  dem  östlichen  Ende  des  Genfer  Sees,  Ville- 
neuve  aus,  an  dem  salzreichen  Bex  vorbei  über 
Martigny,  dem  alten  römischen  Octodorum,  an 
der  Dranse  gelegen  und  von  der  Ruine  „la  Bathia" 
gekrönt. 

Unfern  von  Martigny  befindet  sich  das  Val  de 
Bagnes.  Wie  in  alten  Zeiten  wird  noch  heutigen 
Tages  hier  der  Topfstein,  ein  dem  Speckstein  ver- 
wandtes Magnesium-Silikat  gebrochen.  Es  ist 
dies  der  „Giltstein"  der  Deutschen,  der  „pierre 
ollaire"  der  PVanzosen,  ein  dunkelgrünes,  von 
gelben  Adern  durchzogenes  Gestein,  welches  fettig 
anzufühlen  ist,  ferner  seiner  großen  Weichheit 
halber  sich  leicht  schneiden  und  schleifen  läßt. 
Namentlich  wird  es  zu  Ofenplatten  verarbeitet 
und  es  mutet  einen  heimlich  an,  in  den  Bauern- 
häusern des  WalHs  teils  jahrhundertalte,  aus  diesem 
schönen  Materiale  verfertigte  Öfen,  welche  von 
vergangenen  Geschlechtern  und  Zeiten  erzählen, 
vielfach  anzutreffen ! 

Von  Martigny  gelangt  man  über  Sitten  nach 
Visp.  Von  letzteren  Orte  führt  eine  Zweigbahn 
durch  das  Saas-Tal  nach  dem  1620  Meter  über 
Meer  gelegenen  Zermatt.  Das  größte  Dorf,  welches 
man  auf  dieser  Bahnstrecke  berührt,  ist  St.  Nicolas, 


530 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


bemerkenswert  durch  die  dort  vorkommenden 
Bergkristalle.  Einige  derselben  zeichnen  sich  durch 
beträchtliche  Größe  aus,  andere  kleinere  wiederum 
bilden  unregelmäßig  gestellte  Gruppen,  welche  in 
ihrem  Aussehen  an  die  französischen  Vorkommnisse 
von    Bourg    d'Oisans    in    der    Dauphine    erinnern. 

Die  Gebirgsformationen  der  näheren  und 
weiteren  Umgebung  von  Zermatt  bestehen  im 
wesentlichen  aus  altkristallinen  Gesteinen,  nament- 
lich Gneißen  und  Glimmerschiefern  begegnet  man 
auf  Schritt  und  Tritt.  Für  den  Paläontologen 
ist  daher  hier  auch  nichts  zu  suchen,  der  Minera- 
loge wird  aber  sicherlich  auf  seine  Rechnung 
kommen. 

Es  finden  sich  bei  Zermatt  Mineralien  vor, 
welche  geradezu  für  die  Gegend  charakteristisch 
sind.  Wenn  man  nicht  Gelegenheit  findet,  die- 
selben auf  teils  gefährlichen  Gebirgsstellen  selbst 
aufzusuchen,  so  kann  man  solche  bei  den  so- 
genannten „Strahlern",  welche  nebenbei  meist  dem 
Berufe  als  Bergführer  obliegen,  zu  sehr  billigem 
Preise  kaufen.  Von  den  gewöhnlicheren  Arten 
will  ich  nur  anführen: 

1.  Serpentin,    am   Gorner-Grate    anstehend. 

2.  Diopsid,  vom  Theodulpaß,  in  stenglichen 
Aggregaten. 

3.  Asbest,  vom  Rympfischwängi,  teils  in 
zartfaseriger  Ausbildung,  teils  in  die  dichtere  Va- 
rietät, das  sogenannte  „Bergleder"  übergehend. 

4.  Schweizerit,  vom  Rympfischwängi,  nur 
als  eine  helle,  sehr  splitterige  Serpentin-Varietät 
anzusehen. 

5.  L  a  z  u  1  i  t  h  oder  B 1  a  u  s  p  a  t ,  vom  Stockhorn, 
dort  meist  als  tJberzug  auf  Quarz  anzutreffen. 
Im  allgemeinen  ein  ziemlich  seltenes  Mineral. 

6.  Pennin,  vom  Rympfischgrat,  eine  dunkel- 
grüne Chlorit-Varietät,  rhomboedrisch  kristalli- 
sierend und  in  schönen  Säulen  auftretend. 

7.  Grossular,  vom  Rympfischhorn,  ein  grüner 
Kalkton-Granat,  als  kleine  Rhombendodekaeder 
in  Bergleder  eingewachsen. 

8.  RoterGranat,  sogenannter  „Kaneelstein", 
vom  Breithorn,  mit  Diopsid  zusammen,  identisch 
mit   dem    Vorkommen    der   Mussa-Alp,    Piemont. 

9.  Vesuvian,  vom  Findelengletscher,  selten 
in  größeren,  gut  ausgebildeten  Kristallen,  welche 
an    diejenigen    des  Vesuv  erinnern,  vorkommend. 

10.  Pyrit,  vom  Theodulpaß. 

11.  Fuchsit,  vom  Matterhorn,  ein  durch 
Chrom-Oxyd  gefärbter  grüner  Kali-Glimmer,  schöne 
Überzüge  auf  Ouarz  bildend. 

Von  dem  altertümlichen  Brieg  aus  führt  die 
Furka-Bahn  nach  Lax.  Dort  steigt  man  aus 
und  nimmt  den  Weg  über  Aernes  teils  auf  beträcht- 
licher Steigung  nach  Binn.  liier  sind  wir  zu 
einem  wahren  Eldorado  der  Mineraliensammler 
angelangt,  denn  das  freundliche,  meist  aus  Holz- 
hütten bestehende  Pfarrdorf  wird  alljährlich  von 
solchen  aufgesucht.  In  unmittelbarer  Nähe  des- 
selben, besonders  bei  dem  benachbarten  Imfeid 
findet    sich    am    Lengenbach    der    von    dem    be- 


rühmten Schweizer  Geologen  Bernhard  Studer 
beschriebene  „zuckerartige  Dolomit"  vor.  In 
der  Tat  verdient  er  diese  Bezeichnung,  er  tritt 
nämlich  als  weiße,  kristallinisch -körnige  Gesteins- 
art auf,  welcher  zahlreiche,  zum  Teil  sehr  seltene 
und  oft  nur  mittels  der  Analyse  bestimmbare 
Mineralarten  birgt.  In  gleicher  Beschaffenheit 
tritt  er  zu  Campo-Longo  im  Tessin  auf.  Von 
den  gewöhnlichen  Dolomit-Mineralien  des  Binn- 
Tales  seien  hier  nur  Korund,  Turmalin,  Pyrit, 
Arsenkies,  Realgar,  Auripigment  und  Zinkblende 
als  die  vorzüglichsten  genannt,  welche  meist  in 
ausgezeichneten  Kristallen  vorkommen  und  von 
den  zahlreichen  Strahlern  in  Binn  für  weniges 
Geld  zu  erwerben  sind.  Wer  sich  für  die  weiteren 
Mineralvorkommnisse  im  Binner  Dolomit  inter- 
essiert, vergleiche  die  Dissertation  von  Theodor 
Engelmann  „Über  den  Dolomit  des  Binnentales", 
welche   1877  zu  Bern  erschien. 

Aber  auch  andere  Mineralien  kommen  in  ty- 
pischer Ausbildung  bei  Binn,  meist  in  kristal- 
linischen Schiefern  vor.  Da  sind  vor  allem  zu  er- 
wähnen die  herrlichen  Magnetit- Oktaeder  des  Ritter- 
passes; der  dunkelgrüne,  monokline  Diopsid  von 
Cherbadung;  ausnehmend  große  tetragonale  Kristalle 
von  Anatas  und  Rutil,  letztere  Modifikation  des 
Titan-Oxydes  besonders  schön  von  Schmidtsbach 
bei  Binn,  woselbst  auch  prachtvolle  gelbe  Calcite 
in  hexagonalen  Säulen  mit  rhomboedrischen  End- 
flächen auftreten.  Besondere  Erwähnung  verdienen 
aber  die  grünen  monoklinen  Titanit-Kristalle  der 
Kriegsalp  bei  Binn,  in  einer  derartigen  Größe 
und  prächtigen  Erhaltung  dürften  dieselben  kaum 
nirgends  sonst  in  der  Welt  anzutreften  sein.  Berg- 
kristalle und  Rauchquarze  treten  mannigfach  aus- 
gebildet und  teils  von  bedeutender  Größe  eben- 
falls im  Binntal  auf.  — 

Noch  sei  des  schönen  oktaedrischen  Fluorites 
des  Gieblisbaches  bei  Viesch  gedacht  und  mit  der 
Erwerbung  dieses  Minerales  War  mein  interessanter, 
wenn  auch  nur  kurzer  mineralogischer  Streifzug 
durch  das  Wallis  beendet. 

Leopold  H.  Epstein. 

Nesselfasergewinnung.  Im  „Tropenpflanzer", 
Zeitschrift  für  tropische  Landwirtschaft  1917, 
Heft  1—3  finden  sich  einige  Mitteilungen  über 
unsere  neuzeitliche  Nesselfasergewinnung.  Die 
Nesselernte  in  Deutschland  war  1916  schon  ver- 
hältnismäßig befriedigend.  Der  erst  im  Juli  gegrün- 
deten Nesselfaserverwertungsgesellschaft  m.  b.  H., 
Berlin,  wurden  nämlich  1650  Tonnen  trockener 
Nesselstengel  angeliefert,  außerdem  befanden  sich 
noch  größere  Mengen  in  Händen  von  Vertrauens- 
männern. Die  Gemeinde  Zehlendorf  bei  Berlin  hatte 
eine  9V2  Morgen  große  Nesselpflanzung  angelegt; 
die  Ernte  betrug  zwei  Waggonladungen  trockener 
Stengel,  die  800  Mark  brachten.  Der  gute  Erfolg 
ist  auf  den  dortigen  stickstoffreichen  Bagger- 
schlamm zurückzuführen,  wie  überhaupt  die  allein 
in  Frage    kommende  Nessel,    Urtica  urens,   außer 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


531 


Feuchtigkeit  und  Schatten  hohen  Nitratgehalt  des 
Bodens  verlangt. 

Der  Wiener  Pflanzenphysiologe  Richter  hat 
vielversprechende  Ergebnisse  seiner  Kulturversuche 
an  zahlreichen  Uferstrecken  der  Donau  gewonnen. 
Das  Gelände  ist  sehr  geeignet,  künstliche  Düngung 
nicht  erforderlich;  es  stehen  nach  Marchet 
4  Millionen  Hektar  solchen,  nur  alle  30  Jahre  zum 
Schlagen  von  Brennholz  verwendeten  Bodens  zur 
Verfügung,  eine  Fläche,  von  der  die  Hälfte  bereits 
genügen  würde,  um  Ersatz  für  die  gesamte 
Baumwolleinfuhr  Deutschlands  und  Österreich- 
Ungarns  zu  liefern.  Die  Technik  der  Faserver- 
arbeitung ist  in  vielfacher  Hinsicht  verbessert 
worden.  Mancherlei  Verwendung  können  auch 
die  verschiedenen  Nebenprodukte  finden. 

Nach  diesen  Anzeichen  scheint  es,  als  ob,  wenn 
der  Krieg  noch  lange  dauert,  die  Nesselfaser  für 
uns  eine  hohe  Bedeutung  erlangen  kann  und,  im 
Grunde  genommen,  sehr  leicht  die  nur  irgend 
erforderlichen  Mengen  zu  beschaffen  sein  werden. 
Es  ist  ja  bekannt,  daß  zu  diesem  Zwecke  auch 
wildwachsende  Nesseln  im  vorigen  Herbst  schon 
vielfach  von  Dorfbewohnern  sowie  im  Felde  von 
Soldaten  geerntet  wurden.  Ob  auch  nach  dem 
Kriege  das  Nesselsammeln  der  ärmeren  Land- 
bevölkerung einen  Nebenverdienst  abwerfen  wird, 
hängt  ganz  von  der  Preisgestaltung  ab,  die  man 
noch  nicht  übersehen  kann.  Jedenfalls  werden 
wir  auch  für  den  Fall  eines  schweren  Wirtschafts- 
krieges in  dieser  Hinsicht,  wie  in  jeder  anderen, 
gerüstet  sein.  V.  Franz. 

Samenverschleppung  durch  die  Feuerwanze 
(Pyrrhocoris  apterus  L.).  Obwohl  die  F"euerwanze 
in  unseren  Gegenden  ein  so  überaus  häufiges 
Tier  vorstellt,  ist  die  Biologie  desselben  noch 
keineswegs  erschöpfend  behandelt  worden.  Auf 
die  Tatsache,  daß  Pyrrhocoris  Samen  verschleppt, 
ist  bisher  nicht  geachtet  worden,  wenigstens  finden 
sich  über  diese  Tätigkeit  in  der  Literatur  kaum 
Angaben.  Sehr  häufig  kann  man  auf  Wegen 
Exemplare  beobachten,  welche  sich  an  den  Früch- 
ten der  Linden,  die  in  hiesiger  Gegend  Judennüsse 
genannt  werden,  zu  schaffen  machen.  Bei  ge- 
nauerem Zusehen  erkennt  man,  daß  die  Tiere  die 
Stechborsten  ihres  Saugrüssels  tief  in  die  Früchte 
eingebohrt  haben,  so  daß  es  ihnen  oftmals  nur 
schwer  gelingt,  sie  wieder  herauszuziehen,  um 
sich  in  Sicherheit  zu  bringen.  Häufig  sind  mehrere 
Stücke  mit  einer  Nuß  beschäftigt.  Reiber- 
Puton  bemerken  (Cat.  Hem.  Alsace-Lorraine 
1876),  daß  sie  einmal  5  Exemplare  an  einer 
solchen  P'rucht  haben  saugen  sehen.  Diese  Be- 
obachtung kann  man  überall  machen.  Die  Tiere 
zerren  die  Früchte  hin  und  her  und  verschleppen 
sie  oft  auf  große  Entfernungen.  In  Höhlungen 
der  Lindenbäume  kann  man  gelegentlich  diese 
Samen  zu  hunderten  angesammelt  finden.  In 
ähnlicher  Weise  verschleppt  Pyrr/iocoris  auch'  die 
Samen  von  Robiiiia  pscitdacacia.    Beachtung  ver- 


dient die  Tatsache,  daß  es  ihnen  gelingt,  ihre 
Stechborsten  selbst  in  steinharte  Samen  dieses 
Baumes  einzuführen.  Da  die  Wanzen  nur  flüssige 
Nahrung  aufnehmen  können,  so  bleibt  nur  die 
Möglichkeit,  daß  die  Nahrungsaufnahme  durch 
ein  lösendes  Enzym  im  Speichel  vermittelt  wird. 
In  Wildpark  bei  Potsdam  bemerkte  ich  kürzlich 
12  Larven  von  Pyrrhocoris  an  einem  Rohinia- 
Samen.  Wiederholt  habe  ich  auch  das  Transpor- 
tieren und  Verschleppen  von  Samen  bei  Malva 
iicgkc/a  bemerkt  und  in  Rüdersdorf  das  gleiche 
bei  den  Früchten  von  Poteriinii  saiigiiisorba  (S. 
minor').  Der  Samentransport  durch  Ameisen  ist 
ja  eine  bekannte  Erscheinung(Myrmecochorie  Ser- 
n  a  n  d  e  rs).  Daß  aber  auch  die  Feuerwanze  Samen 
verschleppt,  dürfte  immerhin  beachtenswert  sein. 
Ohne  F"rage  spielt  Pyrrhocoris  bei  der  Pflanzen- 
verbreitung eine  gewisse  Rolle,  doch  wird  bei 
längerem  Saugen  die  Keimfähigkeit  der  Samen 
herabgesetzt  oder  ganz  unterdrückt,  im  Gegensatz 
zu  den  Ameisen,  die  an  den  Früchten  von  Viola 
oder  Üuiidoiiimii  einen  fleischigen  Anhang  vor- 
finden, den  sie  abfressen,  ohne  daß  dadurch  die 
Keimfähigkeit  beeinträchtigt  wird. 

F.  Schumacher,  Charlottenburg. 


Wandernde  Libellen.  Das  Wandern  von  Libeilen 
ingroßenSchwärmen,sowieauchin  kleinen  Gruppen 
ist  eine  schon  lange  bekannte  Erscheinung.  Beide 
Arten  des  Wanderns  konnten  vom  30.  Juni  bis 
3.  Juli  im  Saaletale  vielfach  beobachtet  werden. 
Als  nach  ^^  wöchiger  Trockenheit  am  30.  Juni  nach 
4  Uhr  nachmittags  Gewitter  aufzogen,  traten  große 
Schwärme  von  O.  nach  W.  ziehend  im  Saaletale 
bei  Halle  auf  und  wurden  vielfach  bemerkt.  Meist 
dachten  die  Leute  beim  Anblick  der  Insektenmengen 
an  Wanderheuschrecken.  Auch  an  anderen  Orten 
des  Saaletales  wurden  zur  selben  Zeit  Libellen- 
schwärme  beobachtet,  so  war  z.  B.  die  Stadt 
Merseburg  vor  dem  Aufkommen  des  Gewitters 
erfüllt  von  Libellen,  die  sich  vielfach  auf  die  Drähte 
der  elektrischen  Leitungen  setzten.  Ob  die  Libellen 
durch  den  Gewittersturm  an  den  geschützten  Stellen 
(Tal  der  Saale,  Stadt  Merseburg)  erst  zusammen- 
getrieben wurden  oder  schon  in  großen  Schwärmen 
ankamen,  läßt  sich  nicht  mehr  einwandfrei  fest- 
stellen. Ich  vermute  das  letztere ;  denn  noch  während 
der  nächsten  Tage  war  ein  fast  ununterbrochener, 
auf  breiter  Front  verlaufender  Zug  von  Libellen 
in  der  Richtung  von  O.  nach  W.  zu  beobachten. 
So  stellte  ich  am  Dienstag,  den  2.  Juli,  nach- 
mittags gegen  5  Uhr  vom  Dachgarten  aus  fest, 
daß  auf  einem  etwa  10  m  breiten  Beobachtungs- 
stücke in  25  Minuten  etwas  mehr  als  250  Libellen 
vorüberflogen.  Wie  auf  der  Schnur  gezogen  kamen 
die  Tiere  alle  aus  genau  derselben  Richtung  und 
flogen  kaum  haushoch  und  niedriger.  Nach  einer 
Stunde  war  der  Zug  noch  ebenso  lebhaft  wie  vor- 
her. Die  Tiere  kamen  einzeln  hintereinander  und 
in  kleinen  Gruppen  bis  5  Stück  auf  einmal.  Wie 
weit  verbreitet  und  langandauernd  der  Zug  gewesen 


532 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


sein  muß,  geht  aus  Zeitungsnachrichten  hervor,  nach 
denen  kleinere  Libellenschwärme  noch  am  3.  Juli 
zwischen  Weißenfels  und  Zeitz  beobachtet  worden 
sind.  Nach  alledem  muß  es  sich  dieses  Mal  um 
ganz  außerordentlich  große  Mengen  von  Libellen 
gehandelt  haben,  die  an  der  Wanderung  beteiligt 
waren. 

Die  Frage  nach  den  die  Wanderungen  verur- 
sachenden Gründen  ist  noch  ungelöst.  Nahrungs- 
mangel —  wie  bei  den  pflanzenfressenden  Heu- 
schrecken —  kann  wohl  kaum  in  Betracht  kommen. 
Für  unseren  eben  geschilderten  Zug  liegt  die  Ur- 
sache    vielleicht    in    den    anormalen    Witterungs- 


verhältnissen dieses  Jahres.  Seit  Mai  lag  ein 
Hochdruckgebiet  im  Osten,  das  mit  seinen  Aus- 
läufern bis  über  die  Saale  nach  Westen  sich  erstreckt. 
Infolge  der  langen  Trockenheit  mögen  im  Osten 
viele  Wassertümpel,  in  denen  in  erster  Linie  die 
Larvenentwicklung  der  Libellen  erfolgt,  ausgetrock- 
net sein.  Möglich  und  wahrscheinlich  wäre  nun, 
daß  die  Libellen  den  trockenen  Osten  massenhaft 
verließen  und  nach  dem  in  diesem  Jahre  so  auf- 
fällig durch  Niederschläge  im  Juni  bevorzugten 
Westen  zogen.  Dafür  spricht  die  auf  der  ganzen 
Front  im  Saaletal  beobachtete  Zugrichtung. 

Prof.  Dr.  Rabes. 


Einzelberichte. 


Geographie.  Der  Landzuwachs  an  den  Küsten 
Schleswig-Holsteins.  Unserdeutsches Vaterland  ver- 
ändert seine  Grenzen  auch  mitten  im  tiefsten  Frieden. 
Ohne  Schwertstreich  und  ohne  diplomatische 
Künste  verlieren  wir  und  gewinnen  wir  Land 
nicht  im  Kampf  gegen  Menschen,  sondern  gegen 
die  Natur.  Sehen  wir  gänzlich  von  den  Ver- 
änderungen unserer  Küsten  in  der  Zeitperiode 
des  Diluviums  ab,  die  der  gegenwärtigen  Ge- 
schichtsepoche vorausging  und  halten  wir  uns 
lediglich  an  die  letztere  allein,  so  ist  doch  ihr 
Umfang  weit  größer  als  man  im  allgemeinen  denkt. 
Soweit  sie  sich  auf  die  ehemaligen  Eibherzogtümer 
Schleswig  und  Holstein  beziehen,  sind  sie  jüngst 
in  einer  ausgezeichneten  Doktordissertation  von 
John  Breckwoldt^),  einem  in  Göttingen  durch 
H.  Wagner  trefflich  geschulten  Sohne  seiner 
meerumschlungenen  Heimat  zusammengestellt 
worden,  deren  Ergebnis  wir  in  dieser  Zusammen- 
stellung vorwiegend  folgen. 

Was  zunächst  die  Veränderungen  der  Nord- 
seeküste  in  Holstein  angeht,  so  kann  man  im 
allgemeinen  annehmen,  daß  die  Bewohner  der 
Marschlande  im  Laufe  des  ersten  Jahrtausends 
unserer  Zeitrechnung  durch  Anlage  von  Deichen 
das  schon  vorhandene  Schwemmland,  das  anfangs 
ausschließlich  als  Weideland  benutzt  werden  mußte, 
gegen  die  Übergriffe  des  Meeres  notdürftig  sichern 
und  damit  auch  als  Ackerland  benutzen  konnten. 
Etwa  um  das  Jahr  1200  mögen  die  vorhandenen 
Deiche  in  Dithmarschen  ein  Marschgebiet 
einschließlich  der  Wasserflächen  von  etwa  290  qkm 
umschlossen  haben,  wovon  auf  Süderdithmarschen 
175,    auf  Norderdithmarschen    115  qkm    entfallen. 

In  den  nächsten  Jahrhunderten  erlitt  der  Nord- 
teil dieser  Küste  fortwährend  Verluste,  deren 
Größe  auf  mindestens  13  qkm  geschätzt  werden, 
dafür  heimste  aber  die  Küste  südlich  der  Insel 
Büsum  bis  zum  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  nach 
und  nach  mindestens   16  qkm  ein. 


')  Breckwoldt.  Die  hydrographischen  Veränderungen 
in  Schleswig-Holstein.  .Abgedruckt  in  den  Schriften  des  Natur- 
wissenschaftlichen Vereins  für  Schleswig-Holstein.  Bd.  XVI. 
Heft   I.     Kiel   1914. 


Über  die  Größe  des  Vorlandes  in  Süderdith- 
marschen und  die  dort  allmählich  fortschreitende 
Neulandsbildung  sind  wir  besonders  genau  unter- 
richtet, weil  der  Staat  Besitzer  des  Vorlandes  ist 
und  durch  das  Kgl.  Rentamt  in  Marne  über  die 
Landgewinnungsarbeiten  genau  buchführt,  die  in 
ihrer  Großzügigkeit  und  Zielbewußtheit  ein  Kuhur- 
teil ersten  Ranges  darstellen.  Im  ganzen  sind 
von  1847  bis  1901  in  Süderdithmarschen  12,3  qkm, 
in  Norderdithmarschen  6  qkm  neu  gewonnen 
worden. 

Allein  von  187S — 191 1  sind  in  Süderdith- 
marschen 1127  ha  Neuland  gewonnen,  im  Durch- 
schnitt also  jährlich  37  ha,  in  den  letzten  5  Jahren 
allein  gerechnet  jährlich  53  ha.  In  derselben  Zeit 
betrug  der  Landzuwachs  in  Norderdithmarschen 
nur  176  ha,  weil  es  in  den  einzelnen  Gemeinden, 
die  die  Besitzer  des  Vorlandes  sind,  zumeist  an 
Mitteln  und  an  sachkundiger  Leitung  fehlt. 

Im  15.  Jahrh.  wurde  in  Süderdithmarschen 
2  Köge  mit  379  ha,  im  16.  Jahrh.  wieder 
2  Köge  mit  2839  ha,  im  17.  Jahrh.  wieder  2  Köge 
mit  894  ha,  im  18.  Jahrh.  3  Köge  mit  3715  ha, 
im  19.  Jahrh.  4  Köge  mit  4556  ha,  im  ganzen 
seit  etwa  400  Jahren  13  Köge  mit  rund  124  qkm. 
In  Süderdithmarschen  in  der  gleichen  Zeit  15 
Köge  mit  nur  83  qkm  gewonnen. 

Der  Gesamtgewinn  an  der  Holsteinschen  Nord- 
seeküste beträgt  mithin  207  qkm,  dem  ein 
nachweisbarer  Verlust  von  nur  24  qkm  gegen- 
übersteht. Der  faktische  Landgewinn  beträgt 
demnach  183  qkm,  demnach  24  qkm  mehr  als  das 
Fürstentum  Lichtenstein  einnimmt. 

Die  Veränderungen  der  Schleswigschen  Nordsee- 
küste sind  im  allgemeinen  größer  gewesen  ;  der  Gang 
der  Entwicklung  läßt  sich  weniger  gut  verfolgen,  weil 
bei  den  großen  Landverlusten,  welche  noch  in 
historischer  Zeit  dies  Gebiet  betroffen  haben,  de 
ahen  Deiche,  die  sonst  gute  Anhaltspunkte  ge- 
währen könnten,  zerstört  worden  sind.  Die  Haupt- 
verluste scheinen  um  die  Mitte  des  14.  Jahr- 
hunderts gefallen  zu  sein  und  einen  Umfang  von 
etwa  660  qkm  umfaßt  zu  haben.  Diesem  Verluste 
standen  bis  Anfang  der  70er  Jahre  in  der  Halb- 
insel Eiderstedt    und    auf  dem  Festland    zwischen 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


533 


Husum  und  Hoyer  85  Neubedeichungen  mit 
einem  Areal  von  544  i|km  gegenüber,  wozu  noch 
auf  den  ehemaligen  Inseln  Wiedingharde,  Dage- 
büll,  Fahreloft  und  Ockholm  ein  Landgewinn  von 
20  qkm  kam,  so  daß  seit  dem  13.  Jahrhundert 
564  qkm  gewonnen  wurden.  Bis  zum  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  sind  aber  noch  108  qkm 
hinzugekommen,  so  daß  der  nachweisbare  Ge- 
winn den  wahrscheinlichen  Verlust  noch  um 
12  ([km  übersteigt.  Seit  Beginn  des  20.  Jahr- 
hunderts hat  man  damit  begonnen,  die  Inseln  Föhr 
und  Sylt  zu  Halbinseln  zu  machen,  ein  Plan, 
welcher  für  Sylt  bereits  zur  Vollendung  gediehen 
ist,  wodurch  wieder  große  Landstrecken  eingedeicht 
werden  können  bzw.  sollen,  die  nach  dem  Urteil 
von  Kennern  an  Güte  den  besten  Kogsländereien 
an  die  Seite  gestellt  werden  können.  Lassen  wir 
diese  noch  in  der  Entstehung  begriffenen  Land- 
massen einstweilen  beiseite,  so  verteilt  sich  der 
Gewinn  in  Schleswig  auf  die  einzelnen  Kreise 
Eiderstedt,  Husum  und  Tondern  mit  je  128,  223 
und  321  Quadratkilometern.  In  den  einzelnen 
Jahrhunderten,  in  denen  diese  Landvermehrung 
erfolgte,  gebührt  der  Löwenanteil  dem  16.  mit 
203  qkm,  dem  sich  das  15.  mit  180  (jkm  Land- 
gewimn  anschließt,  während  im  14.  Jahrhundert 
nachweisbar  nur  12  qkm  neu  gewonnen  wurden. 
Für  die  ganze  schleswig-holsteinsche  Nordsee- 
küste ergibt  sich  in  geschichtlicher  Zeit  ein  nach- 
weisbarer Landverlust  von  684  qkm,  das  ist  etwas 
mehr  als  das  Gebiet  der  freien  Städte  Bremen 
und  Hamburg  zusammengenommen;  24  (]km  ent- 
fallen dann  auf  Holstein,  660  auf  Schleswig.  Diesem 
Verlust  steht  aber  ein  Landgewinn  von  rund 
880  qkm,  das  ist  mehr  als  das  Fürstentum 
Schwarzburg- Sondershausen  (862),  weniger  als  das 
Fürstentum  Schwarzburg-Rudolstadt  (940),  gegen- 
über '). 

Sehr  viel  geringer  sind  die  Veränderungen 
an  der  schleswig-holsteinschen  Ostseeküste,;  ein- 
schließlich des  Fürstentums  Lübeck  waren  bis 
1879  etwa  162  qkm  im  ganzen  durch  Verlandung 
entstanden.  In  der  Gegenwart  und  in  den  letzten 
Jahrhunderten  haben  sich  natürliche  Anlandung 
und  Abbruch  so  ziemlich  die  Wage  gehalten, 
während  in  früheren  Zeiten  wahrscheinlich  der 
Landverlust  überwogen  hat.  Im  ganzen  schließt 
Breckwoldt,  daß  seit  der  Litorinazeit  die  Ostseeküste, 
was  das  Areal  anlangt,  weder  eine  Verringerung 
noch  eine  Bereicherung  erfahren  hat,  nur  sei  zu 
beachten,  daß  das  verlorene  Land  meist  sehr 
fruchtbar  war,  während  das  neu  entstandene  Un- 
land oder  Weiden  niedrigster  Güte  sei. 

Wirkliche  Gewinne  können  an  der  Ostseeküste 


')  Bei  Breckwoldt  befindet  sich  ein  Rechenfehler,  in- 
sofern für  Schleswig  nur  564  qkm  gerechnet  werden.  Die 
Zusammeniechnung  aber  in  der  chronologischen  Übersicht 
S.  92  ft"  ergibt  für  Schleswig  672  qkm.  Übrigens  hatte  sich 
nach  Wege  mann  „Die  Veränderung  der  Größe  Schleßwig- 
Holsteins  seit  1230"  (Zeilschr.  Ges.  Schlesw.-Holst.  Gesch.  1915) 
die  Fläche  der  Eibherzogtümer  seit  diesen  Zeitpunkt  bis  1905 
um  604  qkm  vergrößert.  Das  wäre  erheblich  mehr  als  Breck- 
woldt errechnet  hat  I 


nach  der  Meinung  des  Verfassers  nur  dann  erzielt 
werden,  wenn,  wie  an  der  Schleswigschen  Nordsee- 
küste und  in  Norderdithmarschen  der  Staat  hilf- 
reich eingreift  und  seine  weitaus  größeren  Mittel 
zur  Verfügung  stellt,  da  die  Gemeinden  bei  der 
Kostspieligkeit  der  Schutzbauten,  wenn  sie  wirk- 
lich von  Erfolg  sein  sollen,  kein  Interesse  daran 
hätten,  Neuland  zu  erhalten,  sondern  sich  damit 
begnügten,  das  jetzige  Ufer  nach  Möglichkeit  zu 
halten. 

Bei  dem  heutigen  Stand  der  Dinge  ist  aber 
nicht  daran  zu  denken,  daß  der  Staat  auf  absehbare 
Zeit  die  Mittel  zur  Vergrößerung  der  schleswig- 
holsteinischen Ostseeküste  hergeben  kann  und 
man  darf  vollkommen  mit  der  friedlichen  Ver- 
größerung des  deutschen  Vaterlandes  an  der  Nord- 
seeküste zufrieden  sein. 

Prof.  W.  Halbfaß-Jena. 

Botanik.  Über  das  Treiben  von  Wurzeln.  Die 
vielen  erfolgreichen  Versuche,  die  man  in  neuerer 
Zeit  ausgeführt  hat,  um  Pflanzen  zu  vorzeitigem 
Austreiben  zu  veranlassen,  haben  sich  ausschließ- 
lich auf  das  Treiben  der  Blatt-  und  Blütenknospen 
bezogen,  während  die  Wurzeln  dabei  noch  nicht 
in  Betracht  gezogen  wurden.  H.  Molisch  weist 
darauf  hin,  daß  die  Periodizität  der  Wurzelbildung 
noch  wenig  erforscht  sei;  namentlich  wissen  wir 
nicht,  obdie  Wurzeln  wie  die  ruhenden  Knospen  der 
Bäume  eine  durch  innere  Ursachen  bedingte  (frei- 
willige) Ruhe  durchmachen,  oder  ob  sie  im  Winter 
nur  deshalb  nicht  wachsen,  weil  sie  dann  ungün- 
stigen Wachstumsbedingungen  ausgesetzt  sind. 
Würde  sich  z.  B.  herausstellen,  daß  Zweige,  die 
leicht  Adventivwurzeln  bilden,  im  Herbst  oder 
Winter  diese  Neigung  trotz  günstiger  Wachstums- 
bedingungen nicht  bekunden,  wohl  aber,  wenn  sie 
dem  Warmbad  oder  dem  Rauch  (vgl.  Naturw. 
Wochenschr.  191 6,  S.  507)  ausgesetzt  worden  sind, 
so  würde  dies  entschieden  für  eine  freiwillige  Ruhe 
sprechen.  Solche  Versuche  hat  nun  Molisch 
im  Herbst  und  Winter  1916/17  mit  verschiedenen 
Pflanzen  (Weiden  und  Pappeln,  Philadelphus  coro- 
narius,  Viburnum  opulus,  P'orsythia  suspensa) 
durchgeführt.  Zum  Treiben  wurde  teils  warmes 
Wasser,  teils  Rauch  von  Papier  oder  Tabak  ver- 
wendet. Die  Behandlung  mit  Rauch  dauerte 
meist  24  Stunden,  das  Warmbad  12  Stunden. 
Nachher  wurden  die  Zweige  in  Wasser  gestellt 
und  im  Warmhause  weiter  kultiviert.  An  so  be- 
handelten Zweigen  entstanden  in  der  Tat  die 
Adventivwurzeln  bedeutend  früher  als  an  unbe- 
handelten Kontrollzweigen.  Vielfach  konnte  etwa 
14  Tage  nach  dem  Beginn  des  Versuchs  reichliche 
Wurzelbildung  beobachtet  werden;  während  die 
Kontrollzweige  damit  noch  weit  im  Rückstande 
waren.  Bei  manchen  Holzgewächsen,  wie  bei  den 
Weiden,  sind  die  Wurzelanlagen  vor  dem  Aus- 
treiben in  der  Rinde  deutlich  ausgebildet,  in  anderen 
(Viburnum)  konnte  Moli  seh  sie  nicht  auffinden; 
wahrscheinlich  bestehen  sie  nur  aus  einigen  wenigen 


534 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Zellen.  Jedenfalls  ist  anzunehmen,  daß  die  Treib- 
stoffe auf  die  Wurzelanlagen,  ob  deutlich  oder  un- 
deutlich ausgebildet,  in  ähnlicher  Weise  wirken 
wie  auf  ruhenden  Knospen.  Wie  bei  diesen  ist 
nach  dem  Ergebnis  der  besprochenen  Versuche  die 
Ruhe  wenigstens  in  vielen  Fällen  eine  freiwillige. 
(Sitzungsberichte  der  kaiserl.  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Wien.  Math.naturw.  Kl.  Abt.  I,  Bd.  126, 
1917,  S.  12.)  F.  Moewes. 


Die  Pilzsymbiose  der  Bärlapp-Vorkeime.  „Das 
saprophytische  Prothallium  von  LycopodiumSelago 
nimmt  nach  den  bekannten  Untersuchungen 
Bruchmann's  zuerst  eine  birnförmige  Gestalt 
an  und  ist  radiär  gebaut,  ringsum  mit  Rhizoiden 
versehen.  Bei  seinem  weiteren  Wachstum  wird 
es  dorsiventral,  indem  auf  der  einen  Seite  die 
Geschlechtsorgane,  auf  der  anderen  die  Rhizoiden 
auftreten.  Wie  bei  den  übrigen  Lycopodium-Arten 
hängt  die  Entwicklung  des  Prothalliums  von  einem 
Fadenpilze  ab,  der  schon  frühzeitig  in  dieses  ein- 
wandert und  in  einer  Anzahl  von  Zellen  filzige 
Mycelmassen  bildet,  während  er  in  anderen  zahl- 
reicheren Zellen  jene  bläschenförmigen  Anschwel- 
lungen hervorbringt,  die  als  „Sporangiolen"  oder 
„Vesikel"  bezeichnet  werden.  Eine  Verdauung 
des  Pilzes,  wie  bei  den  Orchideen,  findet  nicht 
statt,  so  daß  die  ernährungsphysiologische  Be- 
deutung des  Pilzes  für  das  Prothallium  noch  un- 
gewiß ist.  Da  aber  zahlreiche  Hyphen  wieder 
auswandern  und  die  Rhizoiden  umspinnen,  so  dürfte 
er  wohl  die  Absorptionsfunktion  dieser  wesentlich 
unterstützen.  Jedenfalls  ist  der  Pilz  für  das  Wachs- 
tum und  das  Gedeihen  des  Prothalliums  unent- 
behrlich, da  dieses,  wie  Bruch  mann  gezeigt  hat, 
ohne  den  Pilzsymbionten  über  das  Fünfzellen- 
stadium nicht  hinauskommt." 

Mit  dieser  orientierenden  Darstellung  leitet 
G.  Haberlandt  einen  Bericht  über  bemerkens- 
werte Beobachtungen  ein,  die  er  an  Bruch  man  n- 
schen  Präparaten  ausgeführt  hat.  (Beiträge  zur 
Allgemeinen  Botanik  I,  1917,  S.  293— 300.)  Dieser 
Forscher  hatte  bereits  gezeigt,  daß  die  Auswande- 
rung des  Pilzes  nur  an  bestimmten  Zellen,  nämlich 
den  Fußzellen  der  Rhizoiden  vor  sich  geht.  Die 
Fußzelle  ist  die  Schwesterzelle  der  zum  Rhizoid  aus- 
wachsenden Zelle;  die  Mutterzelle  beider  teilt  sich 
durch  eine  schräge  Wand  derartig,  daß  die  dem 
Scheuel  des  Prothalliums  zugekehrte  Tochterzelle 
zum  Rhizoid,  die  der  Prothalliumbasis  zugekehrte  zur 
Fußzelle  oder  (wie  Haberlandt  sie  der  erwähnten 
Aufgabe  wegen  nennt)  zur  „Pilzdurchlaßzelle"  wird. 
Die  Außenwand  der  Pilzdurchlaßzelle  verdickt  sich 
um  so  stärker,  je  mehr  sie  sich  dem  Rhizoid  nähert, 
und  bildet  in  dessen  unmittelbarer  Nähe  ein  un- 
gefähr halbkugelig  vorspringendes  Membranpolster, 
durch  das  später  die  Pilzhyphen  austreten.  Eine 
eigentliche  Kutikula  ist  nicht  vorhanden;  nur  die 
oberste  Lamelle  der  Außenwand  zeigt  durch  schwach 
gelbliche  Färbung  mit  Chlorzinkjod  eine  geringe 
Kutinisierung  an,  am  schwächsten  über  dem  halb- 


kugeligen Membranpolster.  Sehr  merkwürdig  ist 
ferner,  daß  auch  der  protoplasmatische  Wandbelag 
der  Zelle  an  dem  Punkte,  wo  später  die  Pilzhyphen 
in  die  Membran  eintreten,  eine  ihrer  Natur  und 
Aufgabe  nach  noch  rätselhafte  linsenförmige,  stark 
lichtbrechende  Verdickung  aufweist.  Die  Pilzhyphen 
durchbohren  von  einer  subepidermalen  Zelle  aus 
die  Innenwand  der  Durchlaßzelle  und  dringen  in 
die  den  Zellenraum  durchsetzenden  Plasmafäden 
ein;  sie  sind  stets  von  einer  Plasmascheide  um- 
geben, wie  dies  auch  bei  verschiedenen  Schmarotzer- 
pilzen beobachtet  worden  ist.  Die  Pilyhyphen  ver- 
zweigen sich  und  bilden  ein  den  Zellkern  umspin- 
nendes oder  in  seiner  Nähe  gelegenes  Flechtwerk, 
von  dem  aus  sich  einzelne  Hyphen  gegen  die 
verdickte  Außenwand  der  Zelle  erstrecken.  Sie 
durchbohren  sie  nicht  unmittelbar  unter  der  dicksten 
Stelle,  dem  halbkugeligen  Membranpolster,  sondern 
seitwärts  davon  und  dringen  in  schrägem  Verlauf 
innerhalb  der  Wandung  gegen  das  Membranpolster 
vor.  In  diesem  geht  nun,  offenbar  durch  den  Pilz 
angeregt,  ein  Erweichungs-  oder  Verschleimungs- 
prozeß  vor  sich,  die  zarte  kutikulare  Grenzlamelle 
wird  aufgelöst,  und  es  entsteht  ein  trichterförmiger 
Hohlraum,  in  den  die  Pilzhyphen  hineinwachsen 
und  von  dem  aus  sie  ins  Freie  gelangen.  Nach 
Bruchmann  verzweigen  sich  die  ausgetretenen 
Pilzhyphen  vielfach  filzig  und  umspinnen  das  junge 
Rhizoid.  Es  ist  möglich,  daß  der  Pilz  dann  ähn- 
lich wie  bei  den  ektotrophen  Mykorrhizen  für  die 
Nahrungsaufnahme  der  Rhizoiden  von  Bedeutung 
ist.  Vielleicht  aber  „wandert  der  Pilz  nur  zu  Ver- 
breitungs-  und  Fortpflanzungszwecken  aus,  oder  weil 
er  sonst  ein  bestimmtes  Entwicklungsstadium  im 
Erdreich  durchmachen  muß.  Daß  das  Prothallium, 
ohne  selbst  einen  ernährungsphysiologischen  Vor- 
teil davon  zu  haben,  eigene  Durchlaßzellen  mit  prä- 
formierten Austrittsstellen  bildet,  würde  nicht  ohne 
Analogon  dastehen."  Haberlandt  verweist  hierfür 
auf  die  birnförmig  angeschwollenen  Epidermiszellen 
von  Erodium  cicutarium,  die  die  Dauersporangien 
des  Schmarotzerpiizes  Synchytrium  papillatum 
führen  und  mit  dünnwandigen  Papillen  besetzt  sind, 
aus  denen  vermutlich  die  Zoosporen  ausschwärmen; 
diese  Epidermiszellen  haben  außerdem  am  Grunde 
eine  dünnwandige  Zone,  so  daß  sie  leicht  abbrechen 
und  zu  Boden  fallen,  was  für  die  Verbreitung  des 
Pilzes  von  Bedeutung  ist,  da  Erodium  cicutarium 
die  Blätter  nicht  abwirft. 

Unter  den  symbiontischen  Anpassungserschei- 
nungen ist  jedenfalls  der  Bau  der  Pilzdurchlaß- 
zellen des  Prothalliums  von  Lycopodium  Selago 
eine  der  merkwürdigsten.  F.  Moewes. 

Zoologie.  Spermatozoendimorphismus.  (Mit 
I  Textfigur.)  Seit  H  e  n  k  i  n  g  bei  der  Feuerwanze  die 
Bildung  zweier  Sorten  von  Spermatiden  entdeckte 
(i  891),  die  sich  durch  die  Zahl  ihrer  Chromosomen 
unterscheiden  —  die  eine  Sorte  besitzt  ein  Chromo- 
som weniger  als  die  andere  — ,  haben  sich  unsere 
Kenntnisse    über    die     sogenannten    Geschlechts- 


N.  F.  XVI.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


535 


Chromosomen  beträchtlich  erweitert.  Nicht  nur 
bei  zahlreichen  Insekten,  sondern  auch  bei  Würmern, 
Schnecken,  Krebsen,  Tausendfüßlern,  Spinnen, 
Vögeln,  Säugetieren  und  anderen  hat  man  Chro- 
mosomen gefunden,  die  sich  von  den  übrigen, 
den  Autosomen,  abweichend  verhalten  und  zu 
der  Geschlechtsbestimmung  in  irgendeiner  Be- 
ziehung stehen.  Im  Laufe  der  Untersuchungen 
hat  man  eine  Reihe  von  Typen  von  Geschlechts- 
chromosomen —  sie  werden  auch  als  Hetero- 
oder  X-Chromosomen  bezeichnet  —  festgestellt, 
und  zwar  ist  den  meisten  Typen  gemeinsam, 
daß  das  männliche  Geschlecht  ein  Minus  an 
Chromatinsubstanz  gegenüber  dem  weiblichen 
aufweist.  Während  beim  Weibchen  in  der  Regel 
zwei  Geschlechtschromosomen  vorhanden  sind, 
die  keine  morphologischen  Unterschiede  erkennen 
lassen,  finden  wir  beim  Männchen  häufig  nur 
ein  Geschlechtschromosom,  es  fehlt  diesem  der 
Partner,  oder  aber  es  sind  zwar  zwei  vorhanden, 
das  eine  ist  indessen  kleiner  als  das  andere. 
Dieser  ungleiche  Chromosomenbestand  hat  zur 
Folge,  daß  bei  der  Samenreifung,  wenn  die  homo- 
logen Chromosomen  getrennt  werden,  zwei 
Sorten  von  Geschlechtszellen  entstehen,  Sperma- 
tozoen  mit  dem  -  Geschlechtschromosom  und 
solche  ohne  dieses,  oder,  falls  das  Männchen  ein 
ungleiches  Paar  besitzt,  Spermatozoen  mit  einem 
großen  und  solche  mit  einem  kleinen  Ge- 
schlechtschromosom. Die  Weibchen  bilden  nur 
eine  Sorte  von  Geschlechtszellen,  alle  Eier  er- 
halten ein  Geschlechtschromosom.  Wird  ein  Ei 
von  einem  Spermium  mit  Geschlechtschromosom 
befruchtet,  so  erhalten  wir  wieder  die  für  das 
weibliche  Geschlecht  charakteristische  Chromo- 
somengarnitur, es  entsteht  ein  Weibchen ;  dringt 
ein  Samenfaden  ohne  Geschlechtschromosom 
oder  mit  einem  kleinen  in  das  Ei  ein,  so  re- 
sultiert die  männliche  Garnitur,  es  entsteht  ein 
Männchen,  und  da  beide  Sorten  von  Spermatozoen 
in  gleicher  Zahl  vorhanden  sind,  so  werden  im 
allgemeinen  Weibchen  und  Männchen  in  gleicher 
Zahl  aus  den  Eiern  hervorgehen. 

Die  Existenz  zweier  Sorten  von  Spermatozoen 
stellt  man  in  der  Regel  durch  Untersuchung  der 
Samenreifung  fest.  Sobald  die  beiden  Reifungs- 
teilungen abgelaufen  sind,  ballen  sich  die  Chro- 
mosomen zusammen,  und  als  stark  verdichtete 
Masse  geht  das  gesamte  Chromatin  in  den  Kopf 
des  funktionsfähigen  Samenfadens  über.  Nur  in 
ganz  wenigen  Fällen  läßt  sich  auch  im  reifen 
Samenfaden  die  Chromosomenzahl  noch  fest- 
stellen, so  bei  dem  in  der  Forelle  lebenden  Ne- 
matoden Ancyracanthus  cystidicola,  der  wohl  das 
schönste  Objekt  der  Heterochromosomenforschung 
darstellt,  da  man  bei  ihm  die  ganze  Chromosomen- 


geschichte vollständig  einwandfrei  und  ohne  allzu 
große  Schwierigkeiten  verfolgen  kann. 

Zeleny,  Faust  und  Senay^)  haben  nun 
geprüft,  ob  sich  nicht  auch  bei  den  Formen  mit 
normalen,  d.  h.  fadenförmigen  Spermien  ein 
Dimorphismus  nachweisen  läßt.  Bei  den  Samen- 
fäden, die  ein  Minus  an  Chromatinsubstanz  ent- 
halten, ist,  so  durfte  man  von  vornherein  an- 
nehmen, der  Kopf  wahrscheinlich  kleiner  als  bei 
den  anderen.  Da  aber  der  Ouantitätsunterschied 
häufig  minimal  ist,  so  stehen,  wie  ebenfalls  vor- 
auszusehen war,  dem  mikroskopischen  Nachweis 
des  Dimorphismus  große  Schwierigkeiten  ent- 
gegen, zumal  da  bei  derartigen  mikroskopischen 
Messungen  noch  zahlreiche  Fehlerquellen  zu  be- 
rücksichtigen sind.  Bei  möglichster  Vermeidung 
dieser  Fehlerquellen  gelang  es  indessen  den  Ge- 
nannten doch,  zu  positiven  Resultaten  zu  kommen. 
Sie  untersuchten  die  Spermien  von  22  Spezies, 
hauptsächlich  Insekten,  außerdem  aber  auch  von 
mehreren  Wirbeltieren,  insgesamt  wurden  nahezu 
22000  Samenfäden  gemessen.  Zur  Untersuchung 
wurden  fast  ausschließlich  Formen  gewählt,  deren 
Samenreifung  bereits  bekannt  ist.  Formen,  bei 
denen  man  aus  der  Samenreifung  die  Existenz 
Weibchen-  und  männchenbestimmender  Sperma- 
tozoen erschlossen  hat.  Gemessen  wurde  die 
Länge  des  Kopfes  der  Samenfäden.  Bei  fast  allen 
untersuchten  Spezies  ließen  sich  auf  diese  Weise 
zwei  Gruppen  von  Spermien  feststellen.  Zwar 
wird  offenbar  die  Länge  des  Kopfes  nicht  aus- 
schließlich durch  das  in  ihm  lokalisierte  Chromatin- 
quantum  bestimmt  —  irgendwelche  äußere  Fak- 
toren beeinflussen  die  Länge  ebenfalls  in  geringem 
Maße  — ,  aber  daß  tatsächlich  zwei  Sorten  von 
Spermatozoen  vorhanden  sind,  von  denen  jede 
eine  gewisse  Variationsbreite  zeigt,  dafür  ist  das 
Bild  der  Variationskurve  ein  genügender  Beweis: 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  ist  die  Variationskurve 
deutlich  zweigipfelig,  gibt  also  eine  Population 
wieder,  die  sich  aus  zwei  Genotypen  zusammen- 
setzt. Eine  Variationskurve,  die  sich  durch  be- 
sondere   Regelmäßigkeit    auszeichnet,    ist    neben- 


')  Zeleny,  Ch.  and  Faust,  E.  C,  Size  dimorphism 
in  the  spermatozoa  from  Single  lestes.  Journ.  of  exper.  Zoöl., 
Vol.   18,   1915. 

Zeleny,  Ch.  and  Senay,  C.  T.,  Variation  in  head 
Icngth  of  spermatozoa  in  seven  additional  species  of  insects. 
Journ.   of  exper.  Zoöl,  Vol.   19,   1915. 


Stehend  abgebildet.  Sie  wurde  gewonnen  durch 
Messung  von  500  Spermatozoenköpfen  von  Corizus 
lateralus,  einer  Wanze,  die  nach  den  Untersuchungen 
Montgomery's  Spermatiden  mit  7  und  Sperma- 
tiden mit  6  Chromosomen  bildet.  Die  Länge  der 
Spermatozoenköpfe  variiert  bei  dieser  Art  zwischen 
23,0  und  32,6  ((,  jedoch  sind  zwei  Maxima  nach- 
weisbar, eines  bei  27,1  ,(/,  das  zweite  bei  29,5  /(. 
Beide  Maxima    sind    ungefähr    gleich    stark;   dem 


536 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr;  38 


einen  gehören  54,  dem  anderen  45  Samenfäden 
an.  Die  dem  ersten  Maximum  zugehörigen 
Spermien  besitzen  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  6, 
die  dem  zweiten  zugehörigen  7  Chromosomen. 
Da  die  Variationskurven  der  beiden  Sorten  sich 
schneiden,  so  läßt  sich  für  die  Spermatozoen 
mittlerer  Größe  nicht  entscheiden,  welcher  Gruppe 
sie  angehören;  die  kleinsten  Samenfäden  der 
chromatinreicheren  Sorte  können  ebenso  groß 
sein  wie  die  größten  Samenfäden  der  chromatin- 
ärmeren  Sorte.  Immerhin  eröffnet  die  Feststellung 
des  Spermatozoendimorphismus  die  Möglichkeit, 
bei  besonders  günstigen  Objekten  eine  Selektion 
der  extremsten  Varianten  vorzunehmen,  vielleicht 
auch,  eine  der  beiden  Sorten  in  bestimmter  Weise 
zu  beeinflussen,  um  das  Geschlecht  der  Nach- 
kommen nach  Belieben  zu  bestimmen. 

Das  Experimentum  crucis  zu  diesen  Unter- 
suchungen ließe  sich  leicht  dadurch  machen,  daß 
man  die  Spermatozoen  bei  einer  .Spezies  unter- 
sucht, von  der  wir  wissen,  daß  sie  nicht  zwei 
Sorten  von  Samenfäden,  sondern  zwei  Sorten  von 


tiern  bildet.  Dieser  Modus  der  Geschlcchtsbc- 
stimmung  scheint  zwar  relativ  selten  vorzukommen, 
jedoch  sind  uns  bereits  mehrere  Beispiele  dafür 
bekannt  (z.  B.  die  Schmetterlinge).  Ist  die  aus 
den  oben  besprochenen  Ergebnissen  gezogene 
h'olgerung  richtig,  so  muß  bei  einer  Art  mit  zwei 
Sorten  von  Eiern  die  Variationskurve  der  Sperma- 
tozoenköpfe  eingipfelig  sein.  Nachtsheim. 

Variationskurve  der  Kopflängen  von  500  Spermatozoen 

von  Corizus  lateralus. 

(Nacli  Zeleny  und  Senay.) 

Längein/» 23,0  23,3  23,7  24,0  24,4  24,7  25,0 

Häufigkeit 4  6  7  7  5  7  II 

Länge  in /( 25,4  25,7  26,1  26,4  2f),7  27,1  27,4 

Häufigkeit II  11  13  20  27  54  32 

Längein// 27,8  28,1  28,4  28,8  29,1  29,5  29,8 

Häufigkeit 20  21  17  19  28  45  30 

Längein»..       ..30,1  30,  ■;  30,9  31,2  31,6  31,9  32,3 

Häufigkeit  ....  15  12  10  7  S  4  5 
Länge  in  "  ....  32,0 

Häufigkeit 5 


Anregungen  und  Antworten. 


Herrn  Dr.  R. :  Gibt  es  ein  Werk  —  wenn  möglich  mit 
Abbildungen  —  um  die  Blattminierer  .in  der  Hand  der  Figuren 
der  Fraßgänge  zu  bestimmen? 

Es  gibt  2  brauchbare  Bestimmungsbüchcr  über  Blatt- 
minierer, soweit  diese  bisher  aus  den  Minen  gezüchtet 
worden  sind : 

1.  C.  G.  A.  Brischke,  Die  Blattminierer  in  Danzigs 
Umgebung.  In:  Schriften  der  Naturforschenden  Gesellschaft 
in  Danzig.     Neue  Folge.   V.  Bd.   1./2.  H.   l88l.    (ohne  Abb.). 

2.  Linnaniemi,  Zur  Kenntnis  der  Blattminierer  Finn- 
lands. In;  Acta  Societatis  Fauna  et  Flora  Fennica.  Bd.  37 
Nr.  4.     Helsingfors   1913. 

Außerdem  finden  sich  noch  einige  gute  .\bbildungen  über 
Blattminierer  in:  Arnold  Spuler,  Die  Schmetterlinge 
Europas.     I.  Bd.     Stuttgart   1908.         H.  W.  Frickhinger. 

Herrn  J.  K.  in  Lemberg.  Zwergwuchs  bei  Pflanzen  kann 
zweierlei  grundsätzlich  verschiedene  Ursachen  haben.  Man 
kann  nämlich  einmal  erblichen  Zwergwuchs  unterscheiden,  der 
auf  inneren,  durch  äußere  Einwirkungen  nicht  weiter  zu  ver- 
ändernden Ursachen  beruht.  Solche  Zwergsippen,  wie  sie 
bei  vielen  Ptlanzenarten  beobachtet  werden,  entstehen  nicht 
infolge  ungünstiger  Wachstumsbedingungen,  können  demgemäß 
auch  nicht  durch  eine  bestimmte  Zuchtmethode  hervorgerufen 
werden,  ebensowenig  wie  es  gelingt,  sie  etwa  durch  besonders 
günstige  Kultur  zu  höherem  Wüchse  zu  veranlassen.  Sie 
bleiben  klein,  ebenso  wie  auch  ein  menschlicher  Zwerg  klein 
bleibt  trotz  bester  Pflege.  Auf  ganz  andere  Art  entstehen  die 
Kümmerformen,  wie  man  diese  Art  von  Zwergen  nennen 
könnte.  Sie  bleiben  klein  und  kümmerlich  infolge  ungünstiger 
Wachstumsbedingungen,  also  infolge  mangelnder  Feuchtigkeit, 
unzureichender  Nahrung,  sclilcchter  Behandlung  wie  meinet- 
wegen   dauernd    wiederholten    Wildverbisses    oder    Erfrierens, 


würden  aber  in  gute  W^achstumsverhältnisse  zurückversetzt, 
bald  zu  normalem  Gedeihen  zurückkehren.  Auch  würden 
ihre  Samen,  wenn  sie  bei  sorgsamer  Pflege  zur  Entwicklung 
gebracht  werden,  wieder  Pflanzen  ganz  normaler  (iröße  geben. 
Zu  dieser  letzteren  Art  von  Zwergen  gehören  nun  auch 
nach  den  Nachrichten,  die  wir  darüber  besitzen,  die  merk- 
würdigen Zwergkoniferen,  die  die  Japaner  züchten.  In  kleinen 
Blumentöpfen  ziehen  sie  Kirsch-,  .\horn-,  Pflaumenbäume  und 
namentlich  Koniferen,  die  trotz  geringer,  meist  kaum  einen 
Meter  erreichender  Höhe  uralt  sind.  Ganze  Generationen  von 
Gärtnern  sind  tälig  gewesen,  etwa  um  die  100 — 300  Jahre 
alten  Koniferenbäumchen  heranzuziehen,  die  wir  hier  und  da 
auch  bei  uns  bewundern  können.  Sie  wählen  möglichst  kleine 
Samen  aus,  pflanzen  diese  in  möglichst  kleine  Töpfe  mit  ma- 
gerer* festgestampfter  Erde,  begießen  sie  so  selten  wie  möglich, 
kurz  halten  die  Pflanzen  gerade  auf  der  Grenze  zwischen 
Leben  und  Sterben.  Außerdem  werden  die  Zweige  häufig 
zurückgeschnitlen,  auch  wohl  gewaltsam  gebogen,  gedreht, 
geringelt,  die  Hauptachse  wird  entfernt,  so  daß  sich  nur 
Seitenzweige  entwiclseln  können  :  auch  die  Hauptwurzel  wird 
abgeschnitten,  oder  es  wird  das  Wurzelsystem  von  Erde  ent- 
blößt und  so  gewissermaßen  zu  einem  Teil  des  Stammes  ge- 
macht. Ganz  grotesk  werden  vollends  solche  Zwerge,  wenn 
sie  noch  durch  künstliches  Verbiegen  der  Zweige  in  ganz  be- 
stimmte Formen  gepreßt  werden.  So  sah  Molisch,  in  dessen 
Buche  ,,Pflanztnphysiologie  als  Theorie  der  Gärtnerei"  (Jena, 
G.  Fischer,  Preis  10  M.)  Sie  manche  weitere  Belehrung  finden, 
in  Yokohama  Pflanzen,  die  die  Gestalt  eines  Storches,  einer 
Ente,  eines  Hasen,  einer  Schildkröte,  ja  eines  Radfahrers  hatten. 
Falls  Sie  selber  sich  auf  die  Zucht  von  Zwergkoniferen  legen 
wollen,  müssen  Sie  mit  der  entsagungsvollen  Aussicht  rechnen, 
die  Früchte  ihrer  Züchtertätigkeit  selber  nicht  mehr  zu  erleben. 

Miehe. 


Inhaltl  K.  Schutt,  Kiistallstruktur  und  Röntgenstrahlen.  (13  Abb.)  S.  521.  —  Kleinere  Mitteilungen:  II.  Epstein, 
Mineralogische  Beobachtungen  während  einer  Ferienreise  ins  Wallis  im  Juli  1917-  S.  529.  Franz,  Nesselfasergewin- 
nung. S.  530.  Schumacher,  Samenverschleppung  durch  die  Feuerwanze  (Pyrrhocoris  apterus  L.).  S.  531.  Rabes, 
Wandernde  Libellen.  S.  531.  —  Einzelberichte:  W.  Halbfaß,  Der  Landzuwachs  an  den  Küsten-Schleswig-Holsteins. 
S.  532.  Molisch,  Über'das  Treiben  von  Wurzeln.  S.  533.  Haberland t.  Die  Pilzsymbiose  der  Bärlapp-Vorkeime. 
S.  534.  Zeleny,  Faust  und  Senay,  Spermatozoendimorphismus.  (1  Abb.)  S.  534.  —  Anregungen  und  Antworten: 
Blattminierer.  S.  53Ö.     Zwergwuchs  bei  Pflanzen.  S.  536. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  30.  September  1917. 


Nummer  39. 


Untersuchungen  mit  der  Wünschelrute. 


[Nachdruck  verboten.] 


Prof.   Dr.  E.  Hennig. 
Mit  I   Abbildung. 


Die  segensreiche  Wirkung  dieses  Volkskrieges, 
alle  Bevölkerungsschichichten  und  Berufsklassen 
miteinander  in  Berührung  gebracht  zu  haben, 
wird  vielleicht  erst  in  der  Zukunft  voll  zu- 
tage treten.  Auch  das  Wünschelrutenproblem 
darf  eine  Förderung  dadurch  erwarten.  Es  ist  ja 
erstaunlich;  Seit  Jahrhunderten  ist  das  geheimnis- 
volle Werkzeug  in  Gebrauch ;  seit  Jahrzehnten 
schwillt  —  zeitweise  fast  bedrohlich  —  die  Flut 
der  Literatur  über  diese  Frage;  Zeitschriften  und 
Vereine  sind  ihr  allein  gewidmet.  Wer  aber  jetzt 
Gelegenheit  hatte,  zu  beobachten,  hat  feststellen 
können,  daß  ein  ganz  verschwindend  kleiner  TeiJ 
der  Bevölkerung  aus  eigener  Anschauung  seine 
Vorstellungen  von  der  Wünschelrute  bisher  ge- 
bildet hatte. 

Daß  aber,  wenn  wir  das  wundersame  Geheim- 
nis lüften  wollen,  einzig  Beobachtungstatsachen 
vorerst  uns  nottun,  legte  ich  in  Nr.  19  laufenden 
Jahrgangs  dieser  Zeitschrift  ')  bereits  dar  und 
kündigte  dort  auch  meinen  bescheidenen  Beitrag 
zu  dieser  Materialsammlung  an.  Ich  darf  sagen, 
daß  ich  mit  genügender  Skepsis  nicht  nur  an  das 
Problem  herangegangen  bin,  sondern  ihm  noch 
jetzt  gegenüberstehe.  Manches  aber,  was  ich  für 
Skepsis  hielt,  habe  ich  ehrlicherweise  als  Vor- 
urteil erkennen  und  fallen  lassen  müssen.  Mir 
scheint,  als  sei  neuerdings  auch  anderwärts  manch 
trennende  Schranke  gefallen,  die  der  Wissenschaft 
den  Zutritt  zu  einer  Erkenntnis  verwehrte.  Das 
Problem  ist  da!  Es  heißt  sich  mit  ihm  auseinander- 
setzen. Meine  hier  zur  Kenntnis  des  weitesten 
Interessenkreises  gestellten  Untersuchungen  habe 
ich  zum  allergrößten  Teile  angestellt  mit  dem  be- 
rufsmäßigen Rutengänger  und  „Quellensucher" 
Herrn  Matthias  Leisen  aus  Dasburg,  Kreis 
Prüm.  Vorweg  zur  Ausschaltung  einiger  noch 
bestehender  irreführender  Mißverständnisse: 

I.  „Die  Wünschelrute",  worunter  meist  ein 
Gabelzweig  der  Weide,  Erle  oder  Haselnuß  ver- 
standen wird,  zeigt  nicht  Wasser,  Kohle,  Petroleum, 
Erze  usw.  an,  also  lauter  Stoffe,  deren  einzige 
gemeinsame  Eigenschaft  in  ihrem  zufälligem  Werte 
für  den  Menschen  besteht.  Das  wäre  physikalisch 
von  vornherein  in  allerhöchstem  Maße  verdächtig 
und  würde  ihr  selbst,  wie  Salomon'')  wirklich 
meinte,  jeden  Wert  nehmen,  da  man  ja  nie  mit 
Sicherheit  wüßte,  welcher  Stoff  im  Einzelfalle  nun 
die  Ursache  des  Ausschlags  wäre.     Vielmehr  kennt 

')  E.  Hennig,  „Zum  Problem  der  Wünschelrute"  S.  251. 

'^)  VV.  S  a  1  o  m  o  n ,  „Über  einige  im  Kriege  wichtige  Wasser- 
verhällnisse  des  Bodens  und  der  Gesteine".  Oldenbourg, 
München-Berlin    1916,   S.   ^8. 


der  berufsmäßige  Rutengänger  seit  längerer  Zeit 
sehr  verschiedenartige  „Ruten"  oder  „Gabeln"  aus 
allerhand  Metallen  und  mit  mancherlei  unterein- 
ander deutlichst  abweichenden  Reaktionen.  Die 
verschiedenen  Stoffe  und  Vorkomm- 
nisse ergaben  also  auch  wirklich  ver- 
schiedene Wirkungen. 

2.  Der  menschliche  Körper  ist  bei 
dem  üblichem  Vorgang  lediglich  das 
Medium,  das  die  Übertragung  dieser 
Wirkungen  auf  das  Werkzeug  vermit- 
telt; will  sagen:  er  erzeugt  nicht  bewußt  oder 
unbewußt,  willkürlich  oder  unwillkürlich  mittels 
der  Muskeln')  eine  Eigenwirkung,  er  übersetzt 
nicht  eine  fremde  Einwirkung  in  eine  neue  eigene, 
sondern  leitet  nur. 

3.  Der  Ausschlag  der  Wünschelrute 
ist  nicht  ein  einfaches  Sich-Senken, 
sondern  besteht  in  einer  Drehung,  die 
abwärts  oder  aufwärts  in  äußerst  verschiedenem 
Maße,  bis  zu  mehreren  Kreisbewegungen,  vor  sich 
gehen  und  von  bedeutender  Heftigkeit  sein  kann. 

4.  Es  ist  nicht  einfach  das  Grund- 
wasser als  solches,  das  einen  Ausschlag 
bedingt,  sondern  offenbar  Strömungen 
innerhalb  desselben.  Solche  —  mehr  vom 
geologischen  Gesichtspunkte  interessanten  als 
brunnenbautechnisch  wichtigen  —  Strömungs- 
linien sind  unter  den  „Wasseradern"  der 
Wünschelrutengänger  zu  verstehen  in  Gebieten, 
wo  ausgedehnte  Grundwasserspiegel  nach  Maß- 
gabe der  geologischen  Verhältnisse  allein  in  Frage 
kommen. 

Mit  letzterer  Feststellung  hatte  ich  in  einem 
„Nachtrag"  in  meinem  oben  erwähnten  ersten  Hin- 
weise in  dieser  Zeitschrift  geschlossen.  Ich  knüpfe 
dort  wieder  an. 

Schon  V.  Linstow  hatte  an  dieser  Stelle-) 
in  einem  früheren  Jahrgange  einen  darauf  hin- 
deutenden Beitrag  geliefert:  In  diluvialem  Boden 
waren  von  verschiedenen  Rutengängern  unabhängig 
voneinander  gleiche  Linien  angegeben  worden, 
an  die  allein  das  Grundwasser  selbstverständlich 
nicht  geknüpft  sein  konnte,  die  aber  doch  irgend- 
eine physikalische  Bedeutung  haben  mußten.    Ich 

'jSalomon  I.e.  S.  36/37  und  Generalarzt  Dr.  Meisner: 
„Zur  Krage  der  Wünschelrute"  in  „Der  Tag"  vom  11.  Mai  1907. 

■^)  V.  Linstow;  Ergebnisse  von  Grundwasserfestslellungen 
mittels  der  Wünschelrute.  Diese  Zeitschr.  1916,  S.  161  —  164. 
Dieser  Beitrag  ist  in  wenig  schöner  Weise  von  einem  Ver- 
fechter der  Wünschelrute  durch  einseitig  entstellende  Wieder- 
gabe, Beiblatt  „Die  Wünschelrute"  der  Zeitschr.  „Das  Wasser" 
1916,  ausgenutzt  worden.  Es  ist  kein  Wunder,  wenn  solche 
„Freunde"   der  Sache  nur  schaden,  der  sie  zu  dienen  meinen. 


§38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


stellte  nun  an  weitentfernten  Orten  im  nord- 
europäischen Diluvium  folgendes  fest :  In  oberem 
Geschiebemergel  hatte  man  innerhalb  eines  Ge- 
bäudes, um  Wasser  zu  erschließen,  einen  Schacht 
etwa  17  m  tief  getrieben.  Das  war  unzweckmäßig, 
einmal  weil  der  Lehmboden  natürlich  kein  Wasser 
hergab,  sondern  weil  unter  ihm  artesisch  gespanntes 
Wasser  lag,  das  beim  Anschneiden  die  in  der  1  iefe 
Arbeitenden  hätte  gefährden  können.  Ein  Wünschel- 
rutengänger bezeichnete  die  Stelle  als  nahezu  aus- 
sichtslos, weil  die  Gabel  dort  keinen  Ausschlag 
gab.  Wohl  aber  zog  eine  jener  im  Diluvium  durch- 
aus häufigen  sog.  „Adern"  in  etwa  6  m  Entfernung 
durch  das  gleiche  Gebäude.  Unter  normalen 
Verhältnissen  hätte  man  dort  einen  Brunnen  nieder- 
stoßen lassen  können.  Die  Überzeugung,  es  mit 
einem  ganzen  Grundwasserhorizont  zutun  zuhaben, 
der  auch  an  anderer  Stelle  anzutreffen  sein  mußte, 
hätte  natürlich  keinen  stichhaltigen  Gegengrund 
abgegeben.  Hier  aber  war  Zeit  und  Arbeit  zu 
sparen,  wenn  am  Grunde  des  schon  fertigen  Schachts 
weiter  gebohrt  würde.  Tatsächlich  wurde  dann 
hier  auch  der  Wasserbedarf  nach  wenigen  Metern 
völlig  gedeckt.  Nunmehr  setzte  ich  den  Ruten- 
gänger ein  zweites  IVIal  an.  Wie  sich  durch  deut- 
lichste Ausschläge  einwandfrei  herausstellte,  hatte 
die  vorher  einigermaßen  gradlinige  „Ader"  jetzt 
eine  scharfwinklige  Ablenkung  zu  dem  Brunnen 
hin  erfahren  und  ging  von  dort  weiter  unterhalb 
wieder  in  ihren  alten  Lauf  zurück.  Durch  die 
Wasserentnahme  und  Spiegelsenkung 
war  eine  durch  and  ere  Verhält  nisse  be- 
dingte Strömungslinie  innerhalb  des 
Grundwassers  abgelenkt  worden.  So 
stehen  alle  Brunnen,  wenn  man  sie  daraufhin 
untersucht,  auf  „Wasseradern";  fast  regelmäßig 
aber  haben  sie  sie  selbst  nicht  geschaffen  oder 
wenigstens  an  sich  gezogen.  Für  den  praktischen 
Wert  der  Wünschelrute  ist  daraus  also  gewiß  zu- 
nächst noch  wenig  zu  entnehmen.  Die  vermeint- 
lichen „.'\dern"  bestehen  in  lockeren  Erdarten 
nicht,  wenigstens  nicht  so,  wie  man  sie  sich  in 
geologisch  nicht  geschulten  Kreisen  vorzustellen 
pflegt.  Andererseits  besteht  natürlich  kein  Be- 
denken, einen  Brunnen  gerade  innerhalb  der  mittels 
Rute  aufgesuchten  Strömungslinie  zu  errichten; 
unter  Umständen  wird  dort  das  Wasser  sogar 
etwas  reichlicher  und  von  besserer  Qualität  sein. 
Ich  stelle  dieses  Beispiel  voran,  um  zu  zeigen, 
in  welcher  Weise  Geologie  und  Wünschelrute 
einander  in  friedlichem  Zusammenarbeiten  ergänzen 
können,  statt  einander  in  fruchtloser  Fehde  gegen- 
überzustehen. Ausführungen,  wie  sie  O.  Edler 
von  Graeve  noch  in  allerjüngster  Zeit ')  wieder 
beliebt,  können  durch  ihren  unerquicklichem  Ton 
die  Sache  nicht  fördern.  Die  törichten  IMethoden 
und  das  widerlich  feuchte  Niveau  innerpolitischer 
Partei-Diskussionen    oder    Zeitungsartikel    mögen 


»)  ü.  Edler  von  Graev  e -Gernrode  (Ostharz):  „Wün 
schelrute  und  Geologie".  Beiblatt  „Die  Wünschelrute-'  vor 
5.  Mai   1917,  Nr.   13  in  „Das  Wasser"  Leipzig. 


einem  Phänomen  erspart  bleiben,  das  uns  tief  in 
die  Wunder  der  Natur  hineinzuführen  geeignet  ist 
und  streng  wissenschaftlichen  Eifer  in  höchstem 
Maße  verdient.  Gefehlt  worden  ist  gewiß  auf  beiden 
Seiten.  Mir  liegt  in  Ergänzung  des  vorigen  Bei- 
trags daher  auch  zunächst  der  Nachweis  ob,  daß 
das  Phänomen  überhaupt  außerhalb  der  Einbildung 
oder  des  Aberglaubens  besteht,  daß  es  nicht  mehr 
einfach  abzuleugnen  oder  leichthin  als  unbedeutend 
zu  bezeichnen  ist.  Beobachten  wir  den  genannten 
Leisen  bei  einer  Untersuchung: 

Wird  in  einem  angegebenen  Stück  Erde 
Wasser  gewünscht,  so  überschreitet  er  es  in 
verschiedenen  Richtungen  mehrmals  bedächtig, 
die  Naturgabel,  wie  im  vorigen  Bericht  beschrieben, 
wagerecht  vor  sich  in  Händen  haltend.  Hier  und 
dort  ergeben  sich  mehr  oder  minder  heftige  Aus- 
schläge nach  unten.  Es  sind  die  Stellen,  an  denen 
jene  Linien  überschritten  werden.  Welch  Punkte 
zu  ein  und  derselben  Linie  gehören,  läßt  sich  bald 
durch  Abschreiten  feststellen.  Denn  jedes  Ab- 
weichen von  der  Linie  macht  sich  durch  Be- 
ruhigung der  Gabel  schnell  kenntlich.  Zugleich 
ist  dabei  die  Strömungsrichtung  zu  erkennen: 
gegen  den  Strom  ist  die  Wirkung  ein  gut  Teil 
stärker  als  abwärts.  Schon  das  kann  für  den 
Geologen  gelegentlich  neu  und  von  Bedeutung 
sein.  Leisen,  der  die  geologischen  Gesichts- 
punkte nach  Möglichkeit  nicht  außer  Acht  läßt, 
verfolgt  die  Strömung  nach  ihrer  Herkunft,  um 
auf  diese  Weise  sicher  zu  gehen,  daß  das  Wasser 
nicht  oberhalb  durch  Aborte,  Jauchengruben  u.  dgl. 
verunreinigt  ist,   ehe  er  einen  Brunnen  empfiehlt. 

Nunmehr  greift  er  —  es  kann  auch  unmittel- 
bar damit  begonnen  werden  —  zu  einer  magne- 
tisierten  Stahlgabel  (diese  künstlichen  „Gabeln" 
haben  etwa  Lyra-Form).  Je  nachdem  er  die  beiden 
Enden  auf  die  linke  und  rechte  Hand  verteilt, 
zeigt  diese  auf  Wasser  nach  unten,  auf  Metalle 
nach  oben  bzw.  umgekehrt.  Bei  anderen  Medien, 
die  ich  sah,  hatte  dasselbe  Instrument  nicht  das 
gleiche  Unterscheidungsvermögen.  Eine  Messing- 
gabel reagiert  bei  Leisen  meist  auf  Metall,  nicht 
auf  Wasser  und  zwar  durch  Ausschlag  nach  oben. 
Sie  kann  vermöge  ihrer  dieser  Eigenschaften  dazu 
benutzt  werden,  um  stärkere  Eisenhaltigkeit  des 
Wassers  anzugeben.  Bei  den  Metallgabeln  ist 
übrigens  die  Wirkung  wesentlich  gesteigert  und 
äußert  sich  durch  mehrmalige  Kreisbewegungen, 
falls  kein  Widerstand  seitens  des  Trägers  erfolgt. 
Da  aber  für  den  Körper  des  Trägers  offenbar 
unangenehme  Empfindungen  damit  verbunden  sind, 
die  mit  dauernder  Übung  sich  vermutlich  wie  auch 
die  canze  Leitfähigkeit  steigern,  ist  Leisen  unter 
lebhaft  er  Erregungdes  ganzen  Körpers')  fortwährend 
bestrebt,  die  Gabel  in  die  ursprüngliche  Bewegung 
zurück  zu  zwingen.     Längere  Versuche  erschöpfen 

')  Anfangs  glaubt  der  Zuschauer  wohl  an  absichtlich 
übertriebenes  Spiel,  doch  kann  ich  nach  Vergleich  verschiedener 
Medien  und  Aussagen  auch  der  kritischsten  und  selbst  noch 
zweifelnden  nur  bestätigen,  daß  diese  sichtbare  Wirkung  durch- 
aus ungewollt  ist. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S39 


dann  auch    den  Betreffenden    ganz  zweifellos  und 
erregen  die  Nerven  in  hohem  Maße. 

Zur  Ermittelung  der  Tiefe  bedient  er  sich  einer 
Kupfergabel.  Sie  hat  das  seltsame  Vermögen, 
schon  wesentlich  früher  zwei  deutliche  Ausschläge 
zugeben.  Diese  entsprechen  der  unteren  und  oberen 
Grenze  der  Wasserschicht,  deren  Mächtigkeit  damit 
zugleich  ermittelt  wird.  Das  Verfahren  ist  nicht  neu: 
b — c  sei  die  Breite  der  Wasserströmung,  a  ihr 
Mittelpunkt.  So  schlägt  die  Gabel  in  dieser  ganzen 
Strecke  aus,  über  a  aber  im  Maximum.  Nähert 
sich  nun  der  ganze  Träger  der  Kupfergabel  von 
ferne,  so  zeigt  sie  im  Gegensatz  zu  anderen  be- 
reits eine  starke  Einwirkung  bei  d  bzw.  d'  und  e 
bzw.  e'.  Nach  allgemeiner  Angabe  wäre  nun 
da  =  ^ga  und  ea  =  J-fa,  wobei  f  die  obere,  g  die 
untere  Grenze  des  Wasserhorizontes  darstellt,  also 
zugleich  auch  de  gleich  der  halben  Mächtigkeit 
des  Grundwassers.      Man    sieht,    daß    hier   bereits 


wieder  neue  Kräfte  die  Hand  im  Spiel  hahen. 
Ich  enthalte  mich  aber  auch  dabei  zunächst  aller 
unbewiesenen  Annahmen  über  Oberflächenspan- 
nung und  was  dergleichen  mehr  sein  mag.  Um 
so  wichtiger  scheint  mir  die  Tatsache,  daß  die 
Ausschläge  bei  d  und  e  bzw.  d'  und  e'  ausschließ- 
lich erfolgen,  wenn  der  Rutengänger  senkrecht 
auf  die  Stromrichtung  zugeht!  Dreht  er 
sich  auf  diesen  Stellen  im  Kreise,  so  verschwindet 
die  Einwirkung  augenblicklich.  Damit  ist  ihnen 
auch  die  Zugehörigkeit  der  jeweiligen  „Ader"  ge- 
geben, die  bei  dichterem  Lager  derselben  fraglich 
bliebe.  Ich  will  nicht  verschweigen,  daß  ich  be- 
züglich der  Tiefenangaben  noch  keine  hinreichen- 
den Nachprüfungen  habe  anstellen  können  und 
zunächst  höchstens  an  Annäherungswerte  glauben 
möchte,  die  ja  unter  Umständen  aber  schon  ge- 
nügen dürften  und  wichtig  sein  könnten.  In  einem 
Falle,  wo  nach  geologischer  Beurteilung  Wasser 
in  2— 4  m  Tiefe  zu  erwarten  war,  wurden  8 — 14  m 
durch  die  Rute  ermittelt.  Eine  Grenze  der  Tiefen- 
ermittlung mittels  Wünschelrute  ist  mir  bisher 
nicht  bekannt  geworden. 

Das  alles  sind  dem  Wünschelrutengängern 
längst  geläufige  Tatsachen  und  Methoden  (s.  d. 
Abweichung  in  der  Tiefenermittelung  in  meinem 
vorigen    Bericht).     Durch    Ableugnen    schafft   sie 


niemand  aus  der  Welt.  Ich  bin  oft  genug  Zeuge 
gewesen,  um  mit  einem  vorhandenen,  im  höchsten 
Maße  fesselnden  Phänomen  zu  rechnen,  daß  seiner 
Erklärung  noch  vollständig  harrt.  Das  die  Mus- 
kulatur nicht  im  Spiele  ist,  haben  Arzte  dabei 
festgestellt;  es  ergibt  sich  aber  mit  aller  Sicherheit 
vor  allem  daraus,  daß  die  Holzgabel  sich  zwischen 
den  Händen  vollständig  durchdrehen  und  dabei 
neben  der  festhaltenden  Hand  brechen  kann.  Eine 
bloße  Senkung  der  Spitze  nach  unten  oder  ein 
leichtes  Aufrichten  kann  natürlich  durch  einen 
leichten  Druck  oder  durch  bloßes  Ermüden  der 
Hand  ebenfalls  bewirkt  werden.  Es  ist  klar,  daß 
auf  Ausschaltung  solcher  Fehlerquellen  volle  Auf- 
merksamkeit gerichtet  wurde.  Seltsam  bleibt,  daß 
die  Einwirkung  auf  die  Gabel  im  allgemeinen 
nur  in  senkrechter  Richtung  über  dem  Gegenstand 
erfolgt.  Wenn  sie  bis  zu  20,  30  und  mehr  m 
möglich  ist,  sollte  man  sie  allgemein  auf  der 
Oberfläche  über  einem  derartigen  Strom  auch  in 
etwas  größerer  Entfernung  erwarten.  Tatsächlich 
kann  die  Reaktion  auch  allmählich  während  der 
Annäherung  erfolgen.  Dennoch  wird  der  Ruten- 
gänger über  die  eigentliche  Breite  des  Haupt- 
wirkungsfeldes und  damit  der  Strömung  kaum  in 
Zweifel  geraten.  Individuell  sind  die  Erscheinungen 
und  demgemäß  das  Ermittlungsverfahren  recht 
verschieden. 

Das  trifft  nun  vor  allem  beim  Aufsuchen  anderer 
Körper  als  Wasser  zu.  Mit  aller  wünschenswerten 
und  bei  den  ersten  Versuchen  geradezu  verblüffen- 
den Sicherheit  fand  Leisen  unter  Holz,  in  Koffern 
und  Taschen,  in  der  Gartenerde  versteckte  und 
vergrabene  schwerere  Metallteile,  z.  B. 
auch  Blindgänger.  Bekanntlich  ist  nämlich 
gerade  die  letztere  Fähigkeit  von  Rutengängern 
seitens  des  Militärs  praktisch  verwendet  worden. 
Leisen  erhielt  indessen  einen  entsprechenden 
Ausschlag  auch  bei  Findlingsblöcken,  die  nur  Spuren 
oder  überhaupt  keine  metallischen  Beimischungen 
enthielten.  Der  Verdacht,  daß  sich  schon  Dichtig- 
keitsunterschiede  bemerkbar  machen  könnten, 
scheint  in  den  auch  von  Salomon  zitierten 
B e h re nd 'sehen  Versuchen  seine  Bestätigung  zu 
finden.  Demgemäß  wäre  auch  hierbei  eine  prak- 
tische Anwendung  beim  Muten  auf  Erze  vorder- 
hand wohl  nur  im  Beisein  des  Geologen  möglich, 
der  seinerseits  wieder  eine  wirksame  Unterstützung 
erführe. 

Nur  bezüglich  eines  Edelmetalls  habe  ich 
Experimenten  bislang  beiwohnen  können  :  zunächst 
scheinen  sie  wieder  ans  Fabelhafte  zu  grenzen. 
Es  wohnt  ihnen  aber,  will  mir  scheinen,  eine  nicht 
unbeträchtliche  praktische  Bedeutung  bei.  Die 
Wünschelrute  vermag  nämlich  den  größeren  oder 
geringeren  Goldgehalt  von  Schmuck- 
stücken,Ringen  usw.durch  entsprechend  starken 
oder  geringen  Ausschlag  festzustellen !  Ich  habe 
mehrfach  dem  Vorgange  beigewohnt:  Leisen 
dreht  sich  vorsichtig,  das  Ende  seiner  Kupfergabel 
dicht  aber  ohne  Berührung  über  dem  zu  unter- 
suchenden  Gegenstande   haltend,    um    demselben 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


herum,  nachdem  vorher  festgestellt  ist,  daß  nicht 
irgendwelche  andere  Einwirkungen  an  dem  Orte 
haften.  Sobald  die  Gabel  dabei  in  die  N-S-Rich- 
tung  kommt,  erfolgt  je  nach  der  Menge  des  Gold- 
gehalts der  Ausschlag  nach  unten,  und  zwar  von 
N  her  merklich  stärker  als  von  Sl  Auch  hier 
also  wie  bei  Ermittlung  der  Wassertiefe  (und  an- 
geblich auch  beim  Aufsuchen  von  Petroleum) 
Gebundensein  der  Wirkung  an  eine  bestimmte 
Richtung,  die  in  diesem  Falle  aber  konstant  ist 
und  ofienbar  mit  der  magnetischen  Polarität  des 
Erdkörpers  in  Verbindung  zu  stehen  scheint. 
Wieder  aber  enthalte  ich  mich  alier  Zusätze.  Die 
wundersame  Erscheinung  sei  anderwärts  erst  nach- 
geprüft und  wird  hoffentlich  ihre  Deutung  im  Zu- 
sammenhang des  Ganzen  dereinst  erfahren  können. 
Bezüglich  Kohlen,  Petroleum,  Kali  usw. 
enthalte  ich  mich  jeder  Meinungsäußerung,  solange 
mir  nicht  eigene  Beobachtungen  zur  Verfügung 
stehen.  Daß  aber  nach  den  Berichten  weiteren 
Möglichkeiten  Tür  und  Tor  geöffnet  sind,  wird 
nicht  von  der  Hand  zu   weisen  sein. 

Dagegen  habe  ich  ncch  eins  zu  erwähnen. 
Die  Wünschelrute  gibt  uns  da  vielleicht  die  härteste 
Nuß  zu  knacken.  Ich  würde  verstehen,  wenn 
Leser,  die  den  Vorgang  noch  nicht  gesehen  haben, 
sich  ungläubig  von  meinem  Bericht  abwenden 
würden.  Die  Wünschelrute  gibt  in  Leise n's 
Hand  und  vermutlich  auch  bei  anderen  Medien 
mit  staunenswertem  Maße  von  Genauigkeit  selbst 
am  menschlichen  Körper  Stellen  von 
anormaler  Beschaffenheit  an.  Rheumatische 
oder  gichtische  Schmerzherde,  Brüche,  Gewebe- 
störungen, Herz-  Lungenfehler  u.  dgl.,  Verwun- 
dungen usw.  (auch  dann,  wenn  kein  Geschoßteil 
im  Körper  steckt)  errät  sie  durch  die  volle 
Kleidung,  Gipsverband,  Decken  u.  dgl.  hindurch. 
Sie  vermag  so  genau  zu  lokalisieren,  daß  ich  mir 
von  diesem  Zweige  ihrer  noch  geheimnisvollen 
Fähigkeiten  vielleicht  den  meisten  Nutzen  ver- 
sprechen möchte  und  die  Ärztewelt  bereits  auf- 
merksam gemacht  habe.  In  gewissen  engen 
Grenzen  könnte  sie  die  Röntgenphotographie  zu 
ersetzen  imstande  sein.  Die  Diagnose  hat  selbst- 
verständlich die  Aufgabe  des  Arztes  zu  bleiben, 
damit  sich  hier  nicht  ein  Kurpfuschertum  ent- 
wickelt und  Nutzbringendes  zum  Verderben  ge- 
staltet. Ich  habe  so  zahlreiche  Fälle  gesehen,  daß 
auch  hier  für  mich  nur  die  Erklärung,  nicht  das 
Bestehen  des  Phänomens  noch  eine  offene  Frage 
ist,  freilich  eine  solche  von  allerhöchstem  Inter- 
esse. Indem  das  Gabelende  in  geringer  Entfernung 
über  den  menschlichen  Körper  hingeführt  wird, 
erfolgt  senkrecht  über  der  schadhaften  Stelle  ein 
Ausschlag  von  zuweilen  außerordentlicher  Stärke. 
Der  Rutengänger  wird  davon  nicht  weniger  an- 
gegriffen als  vom  Aufsuchen  des  Wassers  oder 
Erzes.  Mir  will  sogar  scheinen,  als  ob  das  Instru- 
ment hierfür  allzu  feinfühlig  wäre.  Jahrelang 
zurückliegende  Störungen  und  sehr  unwesentliche 
Dinge  geben  zuweilen  starke  Ausschläge. 

Die  Rute  ist  in  allen  P'ällen    nicht    unbedingt 


erforderlich,  sondern  übersetzt  lediglich. die 
Einwirkung  ins  Sichtbare  (wie  gesagt,  nicht 
etwa  auf  dem  Umwege  über  die  IVIuskulaturI). 
Soweit  das  Wasser  in  Frage  kommt,  ist  eine 
Empfindung  dafür  empfänglicher  Personen  be- 
sonders an  P'üßen  und  Händen  bereits  oft  erwähnt. ') 
Mir  erzählte  ein  Hauptmann,  er  habe  sich  ein 
Häuschen  gebaut,  konnte  keinen  Schlaf  finden, 
stellte  mittels  der  Rute  eine  Wasserader  unter 
dem  Hause  fest,  verlegte  es  danach  seitlich  und 
schlief  seitdem  wieder  normal!  Am  menschlichen 
Körper  habe  ich  den  Erfolg  wieder  selbst  be- 
obachtenkönnen: Leisen  fährt  mit  ausgestrecktem 
Arm  und  Fingern  ebenfalls  in  geringer  Entfernung 
an  seinem  Gegenüber  hin  und  gibt  nach  einem 
gewissen  Gefühl  in  den  Fingerspitzen  richtig  die 
Stellen,  an,  in  denen  sich  Schädigungen  finden. 
Aber  auch  der  , .Patient"  selber  kann  unter  Um- 
Umständen  im  gleichen  Augenblick  eine  ihn  über- 
raschende Empfindung  verspüren.  Autosuggestion 
kann  das  nicht  allein  erklären,  wie  ich  an  folgendem 
Fall  ersah;  Leisen  stand  hinter  einem  Herrn 
und  fuhr  in  angegebener  Weise  längs  dessen 
Rücken  hin.  Der  Betreffende,  der  nichts  von  den 
Bewegungen  sehen  konnte,  zuckte  zusammen,  als 
Leisen  immer  in  der  Entfernung  einiger  Zenti- 
meter an  die  rechte  Schulter  kam,  in  der  der 
Herr  eine  Verwundung  hatte. 

Wieder  enthalte  ich  mich  jeder  Erklärung. 
Die  Frage  ist  dafür  noch  nicht  reif.  Mit  Phrasen 
wie  Nervenfluidum,  Strahlung,  tierischer  Magnetis- 
mus, und  dergleichen  ist  das  Rätsel  höchstens 
mehr  oder  minder  zweckmäßig  getauft,  ohne  seiner 
Auflösung  ein  Deut  näher  gerückt  zu  sein.  Ob 
Elektrizität  oder  Magnetismus  in  der  uns  be- 
kannten Form  eine  Rolle  spielen,  lasse  ich  dahin- 
gestellt, obwohl  ich  von  zwei  Medien  an  je  einer 
Hand  gefaßt  und  die  Gabel  haltend  einen  feinen 
elektrischen  Strom  durch  die  Hand  zu  verspüren 
glaubte.  Die  Kreisbewegung  der  Rute  fällt  m. 
E.  völlig  aus  dem  Rahmen  dessen  heraus,  was 
wir  unter  den  Wirkungen  jener  beiden  Kräfte 
kennen.  Ob  eine  oder  mehrere  noch  unbekannte 
Kräfte  mit  jenem  verwandt  oder  nicht  im  Spiele 
sind,  das  sind  Fragen  an  künftige  Forschungen. 
Eine  gewisse  magnetische  Veranlagung  der  Medien 
scheint  bereits  durch  verschiedenes  Verhalten  rechts 
und  links  festgestellt  zu  sein.  Was  ich  von  Leisen's 
magnetischer  Gabel  berichtete,  gehört  wohl  auch 
dahin.  Doch  ermangle  ich  in  dieser  Frage  wieder 
ausreichenden  Beobachtungsmaterials. 

Nur  erinnert  sei  in  diesem  Zusammenhange 
nochmal  an  die  eigenartige  Rolle  der  N-S  Richtung 
bei  den  Untersuchungen  auf  Goldgehalt. 


')  Vgl.  hierzu  die  mir  zurzeit  noch  Dicht  bekannte 
Studie  von  Joh.  Schreiber:  „Altes  und  neues  von  der 
Wünschelrute".      Körner'sche    Buchhandlung,    Erfurt.     30  Pf. 

Gänzlich'  verkehrt  ist  die  Bezeichnung  dieser  Fähigkeit 
als  „Hellsehen",  so  z.  B.  in  „Die  Wünschelrute"  Nr.  10,  5.  IV.  17 
und  anscheinend  in  dem  dort  besprochenen  mir  nicht  zugäng- 
lichen Buche  „Das  Empfindungsvermögen  der  Materie"  von 
K.  Huter  (Arminius-Verlag,  Leipzig  1909J. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


541 


Die  mediumistische  Leitfähigkeit  für  alle  die 
ottensichtlich  wirkenden,  wenn  auch  selbst  vorerst 
noch  verborgen  bleibenden  Kräfte  ist  nach  meinen 
Beobachtungen  recht  selten.  Die  übliche  Angabe 
von  io"/(|  der  Menschen  will  mir  reichlich  hoch 
erscheinen.  Der  Grad  ist  natürlich  schwankend. 
Höchst  selten  dürfte  die  Veranlagung  derartig 
ausgeprägt  sein  wie  bei  Leisen.  Zu  rechnen 
ist  wohl  damit,  daß  die  Empfindlichkeit  sich  mit 
der  Zeit  steigert.  Nicht  nur  bei  mir  selbst,  auch 
bei  zahlreichen  andern  Personen  war  völliger 
Mangel  eigener  Leitfähigkeit  festzustellen.  Um 
so  verblüffender  wirkte  dann  jedesmal  der  kräftige, 
mit  Muskelgewalt  nicht  zu  bändigende  Ausschlag, 
wenn  unsereiner  die  eine  Hand  lockerte  und 
Leisen  nur  lose  mit  zwei  Fingern  das  frei- 
werdende  Gabelende  berührte.  Auch  da  war  jede 
unwillkürliche  oder  gar  geheim-bewußte  Drehung 
mittels  der  Muskeln  völlig  ausgeschlossen.  Das 
Abbrechen  der  Holzgabel  oder  das  Verbiegen  einer 
metallenen  neben  der  Hand  des  Rutengängers, 
wovon  schon  die  Rede  war,  beweist  das  ja  am 
schlagendsten. 


Es  sind  noch  zuviel  Unbekannte  in  der  Glei- 
chung, um  jetzt  durch  planloses  Überlegen  schon 
die  Lösung  herbeiführen  zu  wollen.  Am  sichersten 
dürften  wir  dem  Ziele  näherkommen  durch  Ver- 
gleich der  oft  außerordentlich  verschiedengearteten 
Erscheinungen  und  Methoden  mehrerer  guter 
Medien.  Nur  so,  glaube  ich,  werden  sich  die 
Unbekannten  ausschalten  lassen,  nur  so  der  Kreis 
der  Erklärungsmöglichkeiten  sich  so  weit  ver- 
ringern, daß  der  Kern  des  Problems  zu  erfassen 
wäre.  Die  Phänomene  sind  von  fesselndstem  In- 
teresse für  Jeden,  der  unvoreingenommen  den 
Wundern  der  Natur  nachspürt,  und  ihre  Deutung 
erscheint  des  Schweißes  der  Edelsten  wert.  Zu 
intensiver  Materialsammlung  und  methodischer 
Beobachtung  sei  hiermit  ein  Scherflein  beigetragen. 
Es  gilt  dem  Problem  in  seinem  ganzen  Umfange 
zugleich  zu  Leibe  zu  rücken.  Eine  Diskussion 
mit  „prinzipiellen"  Gegnern  ohne  eigene  anschau- 
liche Erfahrung  müßte  ich  ablehnen,  wogegen 
jeder  Nachweis  von  Fehlerquellen  selbstverständlich 
dankbarst  begrüßt  würde. 


Die  deutschen  Seideiibaubestrebiiugeii  und 

(Nachdruck  T.rboten]  Von  Dr.  Hans  Walter 

Die  mancherlei  Schwierigkeiten,  welche  der 
Zucht  des  Maulbeerbaumes  in  unserem  deutschen 
Klima  entgegenstehen,  sollten  bekanntlich  dadurch 
ein  für  allemal  behoben  werden,  daß  die  im 
Sommer  1915  unter  dem  Ehrenvorsitz  von  Prof. 
Udo  Dammer  gegründete  ,, Deutsche  Seiden- 
baugesell schaff  empfahl,  an  Stelle  des  Maul- 
beerlaubes bei  den  deutschen  Seidenzuchten  eine 
Ersatz futterpflanze,  die  Schwarzwurzel 
[Scorconrra  Iiispauica  L.)  zu  verwenden. 

Die  Schwarzwurzel  gilt  schon  lange  als  brauch- 
bare Seidenraupenfutterpflanze.  Prof  Dr.  C.  O. 
Harz,  Professor  an  der  kgl.  Tierarzneischule 
inMünchen,  hatte  in  den  Jahren  1884  85  mit  einer 
Reihe  von  Pflanzen  Versuche  darüber  angestellt,  ob 
sie  an  die  Seidenraupen  verfüttert  werden  könnten. 
Die  meisten  dieser  Pflanzen,  wie  der  Huflattich 
{T/issilagu  Far/ara],  die  Ulme  {L'luiiis  cavipcstris), 
die  Brennessel  (  Urtica  dioicd),  der  Hopfen  [Humiilus 
Liipnlits),  der  Sauerampfer  [Rii»iex\  die  Wegwarte 
{Cichorium  infybiis),  der  Rotklee  [Tri/olinin  pra- 
tense)  u.  v.  a.  wurden  von  den  Seidenraupen  durch- 
aus verschmäht,  nur  wenige  Versuchspflanzen,  wie 
der  Löwenzahn  (Taraxacum  officinalc),  sowie 
einige  Arten  der  (ji'kn?.^^\s,Xz\{Sonchusoleraceus, 
S.  asper  und  S.  arvciisis)  von  ihnen  angenommen. 
Die  besten  Erfolge  hatte  Prof.  Harz  mit  der 
Schwarzwurzel  erzielt.  In  den  ersten  Gene- 
rationen zwar  war  es  nicht  möglich,  die  Seiden- 
raupen bis  zu  ihrer  Einspinnung  mit  Schwarzwurzel- 
blättern zu  ernähren,  es  mußte  in  der  letzten  Zeit 
noch  mit  Maulbeerlaub  nachgeholfen  werden,  um 
das  Eingehen  der  Raupen  zu  vermeiden.  Aber 
schon  die  zweite  Generation  im  Jahre  1885  zeigte 


das  rroblem  der  Schwarzwurzelfutterung. 

Frickhinger,  München. 

nach  den  Aussagen  des  Forschers  eine  bestimmte 
Anpassung  an  das  Schwarzwurzelfutter,  so  daß 
dieses  während  der  ganzen  Zeit  ausschließlich  ver- 
füttert werden  konnte.  Die  Ausbeute  an  Kokons 
war  anfänglich  eine  äußerst  geringe,  sie  betrug 
im  Jahre  1886  nur  i,i  "/o.  erhob  sich  aber  schon 
in  dem  darauffolgenden  Jahre  auf  7,5  */o ;  für  das 
Jahr  1888  gibt  sie  Prof  Harz  in  seinen  Tabellen 
bereits  mit  29,6%  und  im  Jahre  1889  mit  34,38  "/o 
an.  Die  Qualität  der  Seide  dieser  letzten  Kokons- 
ausbeuten war  keine  schlechte,  der  Seidenfaden 
erreichte  eine  Länge  von  fast  300  m,  der  Quer- 
durchmesser stimmte  mit  dem  des  Mailänder 
Originalfadens  vollkommen  überein,  dem  auch  der 
Glanz  der  Seidenfaser  und  ihre  Bruchfestigkeit  in 
nichts  nachgab.  Die  biologischen  F"ähigkeiten  der 
Raupen  dagegen  schienen  merklich  herabgesetzt, 
die  Raupen  waren  vornehmlich  viel  kleiner  von 
Gestalt,  das  Raupenstadium  war  mit  seiner  Dauer 
von  50 — 64  Tagen  fast  um  das  doppelte  ver- 
längert gegenüber  den  29 — 33  Tagen,  welche  die 
mit  Maulbeerlaub  aufgezogenen  Raupen  für  ihre  Nah- 
rungsaufnahme bis  zu  ihrer  Einspinnung  gewöhn- 
lich gebrauchen.  Bei  der  im  Jahre  1890  geführten 
5.  Schwarzwurzelzucht  waren  diese  Nachteile  etwas 
geringer  geworden:  das  Raupenstadium  hatte  sich 
auf  57 — 58  Tage  verkürzt,  die  Größe  und  das 
Gewicht  der  Raupen  hatte  sich  erhöht. 

Die  Ergebnisse  seiner  Zuchten  wurden  von 
Prof  Harz  sehr  hoffnungsfreudig  beurteilt:  an  das 
Ansteigen  der  Kokonsernte  knüpfte  er  die  Erwar- 
tung, „daß  schon  in  den  nächstfolgenden  Zucht- 
jahren 80  -  90  "/o  Kokons  und  darüber  als  Ernte 
resultieren    werden".      Und    auch    die    schlechten 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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biologischen  Fähigkeiten  der  Raupen,  ihre  lange 
Entwicklungsdauer,  ihr  körperliches  Zurückbleiben 
hinter  ihren  mit  Maulbeerlaub  aufgezogenen  Art- 
genossen, hofifte  er  in  absehbarer  Zeit  verbessern 
zu  können ;  denn  auch  der  Maulbeerspinner  habe 
in  Zentraleuropa,  wie  aus  zahlreichen  alten  Ur- 
kunden und  Akten  hervorgeht,  noch  im  1 8.  Jahr- 
hundert 40 — 50  Tage  lang  im  Raupenstadium  zu- 
gebracht und  sich  erst  allmählich  eine  schnellere 
Entwicklung  gleichsam  „erworben".  „In  derselben 
Weise  wird  auch  die  Raupendauer  des  Schwarz- 
wurzelspinners mit  der  Zeit  sich  bedeutend  ab- 
kürzen und  schließlich  sich  auf  30—33  Tage 
reduzieren." 

Prof  Harz  trug  sich  also  mit  dem  Gedanken, 
im  Laufe  der  Jahre  eine  Seidenraupenrasse 
heranzuziehen,  die  sich  ganz  an  das 
neue  Futter  gewöhnt  habe.  Aber  schon 
bald  wurden  die  Befunde  des  Forschers  bezweifelt 
und  bei  genauerer  Nachprüfung,  bzw.  bei  Erprobung 
in  der  Praxis,  erwiesen  sie  sich  auch  als  stark 
optimistisch  gefärbt.  So  berichtet  Hofrat  Joh. 
Bolle,  der  langjährige  Direktor  der  k.  k. 
Seidenbauversuchsstation  in  Görz,  von 
Versuchen  eines  seiner  Schüler,  A.  Mullon,  auf 
den  Gütern  eines  Herrn  Ladigenski  in  Zavivalovka 
(Gouvernement  Pensa  in  Westrußland)  Schwarz- 
wurzelzuchten durchzuführen.  Trotzdem  die 
Schwarzwurzelanlagen  prächtig  gediehen,  wollte 
die  Aufzucht  der  Seidenraupen  nicht  recht  vor- 
wärts und  die  Gelbsucht  oder  Polyederkrankheit 
stellte  sich  bald  ein  und  wütete  im  Verlaufe  der 
Aufzucht  derartig,  daß  keine  Ernte  erzielt  werden 
konnte.  Ein  zweiter  Versuch  im  darauffolgenden 
Jahre  endete  mit  einem  ebenso  kläglichen  Resultat, 
worauf  Herr  Ladigenski  von  weiteren  Versuchen 
Abstand  nahm. 

Günstiger  beurteilte  die  Aussichtsmöglichkeiten 
der  Schwarzwurzelzuchten  Prof.  Dr.  Udo  Damm  er, 
Kustos  am  kgl.  Botanischen  Garten  zu  Berlin- 
Dahlem,  der  schon  in  den  90er  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts  bei  Werderewski  in  St.  Petersburg 
die  Aufzucht  der  Seidenraupen  mit  Schwarzwurzel- 
blättern studiert  und  sich  dann  selbst  „durch  im 
großen  durchgeführte  Versuche  in  der  Weber- 
schule in  Nowawes  überzeugte,  daß  auf  dieser 
Grundlage  der  Seidenbau  bei  uns  sehr  gut  durch- 
führbar ist".  Prof.  Dammer  gibt  in  seiner  Ab- 
handlung, aus  der  ich  die  obigen  Worte  entnahm, 
dann  eine  Reihe  von  Anweisungen  und  praktischen 
Winken,  durch  welche  er  es  für  möglich  hält,  daß 
die  Schwarzwurzelzuchten  erfolgreich  bei  uns  durch- 
geführt werden  können.  Daß  sich  die  Schwarz- 
wurzelfütterung bis  heute  bei  uns  nicht  einbürgern 
konnte,  führt  Prof.  Dammer  darauf  zurück,  daß 
man  die  Seidenraupenzuchten  immer  in  zu  kühlen 
Räumen  vorgenommen  hat.  Gerade  die  Schwarz- 
wurzelzuchten erfordern  aber  eine  höhere  Tem- 
peratur; darüber  gibt  Prof  Damm  er  folgende 
Vorschriften:  „vom  I.— 5.  Tage  aller  Aufzuchten 
ist  die  Temperatur  auf  20  "  R  zu  halten,  nach  der 
I,  bis  zur  2.  Häutung,  also  vom  6.  bis  zum  10.  Tage 


sollte  der  Zuchtraum  auf  19"  R  erwärmt  werden, 
vom  II.  bis  einschließlich  zum  30.  Tage  genügen 
18"  R,  vom  31.  Tage  bis  zur  Verpuppung  der 
letzten  Raupe  muß  die  Zimmertemperatur  wieder 
auf  20"  R  erhöht  werden.  Auch  die  F"utterzu- 
bereitung  ist  mit  aller  Peinlichkeit  vorzunehmen. 
Die  Schwarzwurzelblätter  werden  regelmäßig  des 
Abends  geschnitten  und  erst  am  nächsten  Tage 
verfüttert.  Dies  geschieht  deshalb,  weil  sie  wäh- 
rend der  Nacht  im  Zuchtraum  die  Temperatur 
desselben  annehmen  müssen  und  weil  die  Raupen 
leicht  krank  werden,  wenn  das  P^utter  kälter  ist 
als  der  Zuchtraum.  Tritt  Regenwetter  ein,  so 
deckt  man  über  so  viele  Pflanzen,  wie  man  zum 
Füttern  braucht,  leichte  mit  geöltem  Papier  be- 
spannte Rahmen,  damit  die  Blätter  dieser  Pflanzen 
trocken  bleiben;  denn  nasse  Blätter  führen  stets 
zu  schweren  Erkrankungen  der  Raupen.  Man 
schneidet  die  Blätter  6 — 7  cm  über  dem  Boden 
ab,  damit  die  Herzblätter  womöglich  unversehrt 
bleiben.  .  .  .  Die  abgeschnittenen  Blätter  werden 
gleich  auf  ein  Stück  Zeug,  nicht  auf  die  Erde, 
gelegt,  damit  sie  nicht  schmutzig  werden.  Hat 
man  die  nötigen  Blätter  abgeschnitten,  so  bringt 
man  sie  in  die  Wohnung,  wo  sie  sofort  mit  einem 
reinen  Lappen  einzeln,  Blatt  für  Blatt,  auf  beiden 
Seiten  vorsichtig  abgewischt  werden.  Es  darf 
durchaus  keine  Erde,  kein  Staub,  aber  auch  kein 
Wasser  an  denselben  sitzen  bleiben.  Sind  alle 
Blätter  gesäubert,  so  schlägt  man  sie  lose  in  ein 
leinenes  Tuch  ein  und  bringt  das  Bündel  in  den 
Zuchtraum,  wo  man  sie  bis  zum  nächsten  Morgen 
liegen  läßt.  Ist  die  Witterung  im  Freien  kühl  und 
naß,  so  mache  man  mehrere  "kleine  Bündel,  damit 
dieselben  während  der  Nacht  besser  durchwärmen". 
Werden  diese  genauen  Vorschriften  bei  der  Futter- 
bereitung und  bei  der  Temperaturhaltung  befolgt, 
so  ist  nach  der  Ansicht  Prof  Da  mm  er 's  der 
Erfolg  der  Schwarzwurzelzuchten  gewährleistet. 

Der  letzte  Forscher,  der  sich  mit  dem  Problem 
der  Schwarzwurzelfütterung  beschäftigte,  war  der 
Münchener  Zoologe  Prof  Dr.  Otto  Maas.  Als 
Prof.  Maas  im  Jahre  1910  die  Harz'schen  Ver- 
suche wieder  aufnahm,  gelang  es  ihm  nirgends, 
noch  aus  den  alten  Harz'schen  Zuchten  stam- 
mende Seidenraupen,  die  an  Scur::onera  gewöhnt 
waren,  aufzutreiben.  Er  sah  sich  also  vor  die  Not- 
wendigkeit gestellt,  die  Fütterungsversuche  von 
Grund  aus  neu  zu  beginnen.  Er  wählte  als  Ver- 
suchsmaterial dreierlei  Rassen  der  Seidenraupe: 
Er  züchtete  einmal  Japaner,  dann  Japaner  mit 
Einschlag  der  wilden  Form  (Thcopliila  maiidariiia 
Johns.)  und  schließlich  Kreuzungen  zwischen 
italienischen  und  tessinischen  Rassen.  Prof  Maas 
kam  es  vor  allem  darauf  an,  eigene  Erfahrungen 
darüber  zu  erlangen,  ob  es  überhaupt  möglich  sei, 
Seidenraupen  bis  zu  ihrer  Einspinnung  mit  Schwarz- 
wurzelblättern durchzufüttern.  War  dies  möglich, 
so  hatte  sich  der  Forscher  das  weitere  Ziel  ge- 
steckt, in  mehreren  in  aufeinanderfolgenden  Jahren 
durchzuführenden  Zuchten  darüber  Klarheit  zu 
erstreben,  ob  auf  diese  Weise  eine  Seidenraupen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


543 


rasse  herangezüchtet  werden  könnte,  weiche  sich 
volll<ommen  an  dieSchwarzwurzelfütteruno;  gewöhnt 
habe.  Seine  Fütterungsversuche  stellte  Prof.  Maas 
so  an,  daß  er  gewisse  Abstufungen  einhielt:  Neben 
reiner  Schwarzwurzelkost  (S)  wurde  anderen  Zuch- 
ten gemischte  Kost  (S  bis  zur  4.  Häutung,  dann 
Maulbeerblätter)  geboten  und  weitere  Zuchten  mit 
reiner  A/on/skost  (M)  —  zum  Vergleiche  —  durch- 
geführt. Um  ja  persönliche  Fehlschlüsse  des  ein- 
zelnen Züchters  zu  vermeiden,  wurden  die  gleichen 
Versuche  mit  ähnlichen  Raupenmaterial  an  ver- 
schiedenen Orten  ausgeführt.  Die  Schlußfolge- 
rungen richteten  sich  nach  den  Eintragungen  in 
die  Statistiken,  welche  über  alle  Zuchten  „über 
die  Zahl  der  ausschlüpfenden,  fortkommenden  und 
sich  einspinnenden  Raupen,  ferner  über  die  ver- 
schiedenen Zeiten,  zu  denen  die  Häutung  und  das 
Einspinnen  erfolgte,  dann  über  die  Güte  und  F"aden- 
stärke  des  Kokons  und  endlich  darüber  geführt 
wurden,  wann  die  Falter  ihre  Kopulationsfähigkeit 
erlangten,  ob  die  Gelege  ausgiebig  waren  und  wie 
viele  der  Eier  von  der  gesammten  Eizahl  sich  als 
entwicklungsfähig  erwiesen." 

Die  Maas'schen  Versuche  wurden 
also,  das  geht  aus  den  wenigen  hier  zitierten 
Worten  zur  Genüge  hervor,  auf  sehr  breiter 
Basis  unternommen  und  hatten  sehr 
weit  gesteckte  Ziele.  Wollen  wir  nun  die 
Ergebnisse  der  einzelnen  Zuchtkampagnes  nach 
den  Angaben  des  Verfassers  verfolgen : 

Die  Zuchtsaison  1912,  die  erste,  über  die  Prof. 
Maas  berichtet,  ergab, daßdie Seh  warz  würz el- 
blätter  bei  sorgfältiger  Auswahl  und 
Zurichtung  gut  vertragen  wurden.  Vor 
allem  traten  Krankheiten,  die  auf  den 
Kostwechsel  hätten  zurückgeführt  wer- 
den müssen,  nicht  auf,  nur  war  die  Ent- 
wicklungshemmung der  mit  S  gefütter- 
ten Raupen  unverkennbar,  statt  der  normalen 
Dauer  von  5 — 6  Wochen  mußten  die  Zuchten 
7  und  8  Wochen  lang  durchgeführt  werden,  da 
die  Raupen  erst  nach  Verlauf  dieser  Zeit  ihren 
Kokon  spannen.  Die  Kokons  waren  fast  gleich 
gut  wie  die  normalen.  Die  besten  Resultate  er- 
zielte der  Forscher  mit  Zuchten,  welche  nur  bis 
zur  „Fresse"  mit  S,  dann  aber  mit  M  gefüttert 
wurden.  Die  P'ähigkeiten  dieser  Generation  unter- 
schieden sich  nicht  oder  nur  kaum  von  durchwegs 
mit  M  gefütterten  Zuchten.  Im  Gegensatz  dazu 
lieferte  eine  Kreuzung  wilder  Japaner  mit  ///o/-/' 
die  schönsten  Ergebnisse.  Die  biologischen 
Fähigkeiten  der  reinen  S-F'resser  waren 
durchwegs  schlechter  als  die  der  M- 
Fresser  oder  der  mit  gemischter 
Kost  Aufgezogenen:  die  S  Raupen  waren 
weniger  kopulationslustig,  S- gefütterte  Weibchen 
zeigten  viel  kleinere  Gelege  und  auch  die  Zahl  der 
angehenden  und  schlüpfenden  Eier  war  propor- 
tional eine  viel  geringere. 

Im  Jahre  1913  kamen  folgende  Kreuzungs- 
varietäten von  mit  S  und  M  gefütterten  Eltern- 
tieren zur  Prüfung:    S  u.  S,  S  u.  ^2  SM;  S  X  M; 


V2  SM  X  V2  SM;  V2  SM  X  M;  M  X  M.  Bei 
den  Kreuzungen  war  es  gleichgültig,  ob  Vater- 
oder Muttertier  Sbelastet  war,  eine  Verschieden- 
heit bei  den  Züchtungsergebnissen  war  daraufhin 
nicht  zn  bemerken.  „Zwischen  den  6  erwähnten 
Stufen,  sagt  Prof.  Maas,  bestand  eine  proportionale 
Verschiedenheit  im  Durchhalten  auch  außer  der 
schon  erwähnten  geringeren  Ergiebigkeit  der  S- 
Eltern.  Am  schlechtesten  ließen  sichdie 
SXS-Zuchten  mit  S  weiter  füttern,  am 
besten  die  MXM-Ko  pul  at  i  o  nen.  Die  da- 
zwischen liegenden  Abstufungen  entsprachen  ziem- 
lich genau  der  S-Belastung."  .'auffällig  war  bei 
diesen  Resultaten,  daß  in  den  Kreuzungen  SXM 
oder  MXS  ein  Teil  der  .A.ufzucht  sich  besonders 
günstig  verhielt,  sogar  noch  günstiger  wie  der 
Durchschnitt  der  in  der  Stufenreihe  folgenden 
V'.2  S  X  M-Zucht.  Ob  dieser  Teil  zahlenmäßig  auf 
die  M  e  n  d  e  r  sehen  Regeln  zurückgeführt  werden 
kann,  hält  Prof.  Maas,  wenn  auch  noch  nicht 
für  gänzlich  sicher,  so  doch  für  recht  wahrscheinlich. 
Auch  die  Kokons  erwiesen  sich  nach  Stärke  und 
Anzahl  in  ähnlicher  Stufenreihe  der  elterlichen 
S-Belastung  entsprechend,  ebenso  wie  sich  auch 
die  Kopulationslust  und  die  Befruchtungsfähigkeit 
der  P'alter  diesem  System  einordnen  ließ. 

Bei  den  Kopulationen  des  Zuchtabschlusses  191 3 
wurde  der  Versuch  gemacht,  die  S-Belastung  bei 
der  Kreuzung  möglichst  zu  variieren.  DerVariaiions- 
möglichkeiten  ergaben  sich  da  natürlich  eine  ganze 
Menge.  Infolgedessen  war  die  Sichtung  der 
Zuchten  1914  eine  beträchtlich  schwierigere;  hieß 
es  doch  eine  große  Anzahl  neuer  Komplikations- 
erscheinungen zu  berücksichtigen.  Auch  diesesmal 
ergab  sich  eine  ähnliche  Abstufung  wie  im  vorigen 
Jahre;  diese  Abstufung  war  eine  sehr  deutliche, 
sie  folgte  sogar  den  feineren  Unterschieden  in  der 
ganzen  elterlichen  Belastung.  Auch  in  dieser 
Zuchtkampagne  zeigte  sich  wieder,  daß  die  S-  und 
M-Kreuzungen  in  einem  Teil  der  Zucht  auffällig 
bessere  Ergebnisse  nach  jeder  Richtung  hin  liefern. 
Weiterhin  ist  unverkennbar,  daß  die  Zuchten 
mit  S-  und  M-Großeltern  auf  der  einen 
und  S-  und  M-Großeltern  auf  der  anderen 
Seite  merkwürdig  besser  sind  als  die, 
bei  welchen  auf  der  einen  Seite  beide 
Großeltern  SXS-,  auf  der  andern  Seite 
beide  Großeltern  MXM-Fresser  waren. 
Darausgeht  hervor,  daß  die  Kreuzung  offen- 
bar die  Gewöhnung  vorbereitet. 

Ob  eine  Änderung  der  Fütterungs- 
instinkte stattfand,  war  schwer  festzustellen. 
Auch  im  zweiten  Jahre  gingen  die  Raupen  aus 
Eiern  von  SXS-  oder  SXM  Eltern  nur  sehr 
ungern  auf  die  dargebotenen  S-Blätter,  wenn  auch 
die  Zahlenverhältnisse  immer  etwas  günstiger  waren, 
als  bei  Zuchten  aus  MXM-Eltern.  Es  war 
eigentlich  auch  von  vorneherein  nicht  damit  zu 
rechnen,  daß  in  der  kurzen  Spanne  Zeit  von  2  bis 
3  Generationen  in  dieser  Beziehung  irgendwelche 
tiefergehenden  Abänderungen  sich  zeigen  konnten. 
Jedenfalls    erscheinen    die  Angaben  des  Forschers 


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bemerkenswert ,  daß  bei  der  Futterdarreichung 
nach  der  4.  Häutung  in  der  sog.  „Fresse"  ein  ge- 
wisser quantitativer  deutlicher  Unterschied  zu 
konstatieren  war,  je  nachdem  die  Zuchten  aus 
S-Eltern  und  S-  bzw.  SX  SM  Großeltern  oder  aus 
M-Eltern  und  M-Großeltern  bestanden.  Wurde 
in  beiden  Fällen  bis  zur  4.  Häutung  S  gefüttert 
und  erst  von  da  ab  außer  S  noch  M  gegeben,  so 
wurde  bei  den  ersteren  Kategorien  beides  anstands- 
los und  vollständig  aufgezehrt,  während  bei  den 
letzteren  Sorten,  also  den  Zuchten  mit  reinen  M- 
Vorfahren,  das  bisher  angenommene  S  gänzlich 
verschmäht  und  nur  mehr  M  angenommen  wurde. 

Die  Ergebnisse,  welche  Prof.  Maas  im 
Laufe  dieser  seiner  3  ersten  Zuchtperioden  erzielen 
konnte,  waren  also  sicher  keine  hoffnungs- 
losen. Trotzdem  aber  hielt  der  Forscher  die 
Frage  des  Ersatzes  der  Maulbeerfütterung  durch 
die  Schwarzwurzelfütterung  für  heute  durchaus 
noch  nicht  spruchreif  Als  er  deshalb  von  der 
„Deutschen  Gesellschaft  für  angewandte 
Entomologie"  aufgefordert  wurde,  seine  Ansicht 
über  das  deutsche  Seidenbauproblem  niederzulegen, 
zog  er  aus  seinen  zu  streng  wissenschaftlicher  Er- 
kundung angestellten  Versuchsreihen  die  Nutzan- 
wendung für  die  Praxis  und  kam  dabei  zu  dem 
Schlüsse,  daß  es  uns  bisher  vollkommen 
an  Seidenraupenrassen  fehle,  welche 
an  die  Seh  warzwurzelfütteru  ng  gewöhnt 
seien  und  daß  daher  dieSchwarzwurzel- 
fütterung  der  Maulbeerblatt  fütteru  ng 
gegenüber  heute  noch  durchaus  un- 
gleichwertig sei:  „bei  keiner  Rasse,  auch 
nicht  bei  der  anspruchlosesten,  ist  trotz  aller 
Sorgfalt,  trotz  Heizung,  trotz  ausgelesener  und 
gereinigter  und  getrockneter  Blätter  auch  nur  ein 
annähernd  gleiches  Ergebnis  zu  erzielen  wie  mit 
Maulbeerlaub;  wenn  manchmal  die  Kokons  geraten, 
so  ist  stets  doch  der  Zeitaufwand  merklich  größer 
und  die  Anzahl  der  durchgekommenen  Raupen 
wesentlich  geringer.  Aber  auch  die  Harz 'sehe 
Ansicht  von  der  verbessernden  Wirkung  der  Zucht- 
wahl im  Laufe  der  Generationen  erweist  sich  als 
unzutreffend;  im  Gegenteil  sind  gewöhnlich  die 
Nachkommen  der  von  beiden  elterlichen  Seiten  mit 
Schwarzwurzel  Gefütterten  bedeutend  schwieriger 
aufzuziehen,  als  diejenigen,  welche  nur  von  einer 
Seite  Schwarzwurzelahnen  haben,  und  diese  in 
manchen  Punkten  schwieriger,  als  solche,  die 
überhaupt  nicht  in  der  nächsten  Vorfahrenschaft 
„schwarzwurzelbelastet"  sind.  Dies  zeigte  sich 
nicht  nur  im  Fressen,  Durchhalten  und  Spinnen, 
sondern  besonders  in  der  Kopulation,  F"ruchtbar- 
keit  und  der  Ergiebigkeit  der  neuen  Gelege." 

Die  oben  schon  eingehender  dargelegte  Ab- 
stufung in  der  Ergebnisreihe  der  Versuchszuchten 
lassen  einige  Rückschlüsse  über  Aufzucht-  und 
Kreuzungsmöglichkeiten  zu,  die  vielleicht  für  die 
Praxis  bedeutsam  werden  können.  „Bei  Kreuzungen 
von  S-Gefütterten  mit  M  Gefütterten  bestimmter 
Rassen  erwies  sich  ein  Bruchteil  bei  der  Wieder- 
fütterung der  Nachzucht  mit  S,  auffallend  günstig. 


Wurde  nun  die  aus  solcher  großelterlichen  Kreu- 
zung gewonnene  Zucht  des  2.  Jahres  wieder  ge- 
kreuzt mit  einer  ebenso  ausgelesenen  und  behan- 
delten Zucht,  so  war  im  3.  Jahre  eine  merkliche 
Besserung  in  einem  viel  größeren  Bruchteil  zu 
ersehen  und  zwar  in  allen  biologischen  Eigen- 
schaften, vom  Angehen  des  neuen  Futters  bis  zum 
Kopulieren,  wenn  auch  bei  letzterem  nicht  so 
günstig  wie  bei  ersterem."  Das  würde  mit  anderen 
Worten  heißen,  daß  eine  Kreuzung,  die 
schon  in  der  großelterlichen  Genera- 
tion durchgeführt  ist,  bei  gleicher  Be- 
lastung günstiger  ist  als  eine  solche, 
die  erst  in  der  elterlichen  Generation 
geschieht,  wenn  auch  in  beiden  Fällen  die 
elterliche  und  die  großelterliche  Belastung  der 
Summe  nach  gleich  ist.  Es  fragt  sich  nur,  „ob 
der  Vorteil  durch  die  bereits  großelterliche  Kreuzung 
ein  dauernder  ist,  oder  ob  eine  solche  2  jährige 
Vorbereitung  seitens  wissenschaftlicher  Züchter 
immer  wieder  neu  zu  erfolgen  hat,  um  dem  Prak- 
tiker ein  brauchbares  Material  an  die  Hand  zu 
geben.  .  .  .  Ferner,  ob  der  in  zwei  Generationen 
erreichte  Vorteil  größer  ist  als  der  durch  Neu- 
kreuzung mit  vollkommen  unbelastetem  Material". 

Diese  Frage  glaubt  der  Forscher  bejahen  zu 
dürfen,  da  die  jungen  Räupchen  der  Zuchtsorte 
nach  seinen  Erfahrungen  mit  viel  größerer  Leich- 
tigkeit das  Schwarzwurzelfutter  angehen,  ein  Vor- 
teil, der  für  die  Praxis  ausschlaggebend  werden 
kann.  Eine  Erschwerung  der  Schwarzwurzel- 
zuchten wäre  damit  behoben,  die  Verbringung 
der  jungen  Räupchen  auf  die  fremde,  ihnen  un- 
gewohnte Nahrung. 

Der  Schwierigkeiten,  welche  heute  noch  die 
ScoirsoNirdiülterung  bietet,  gibt  es  deshalb,  wie 
Prof.  Maas  ausführt,  immer  noch  eine  große  Reihe; 
das  liegt  zum  großen  Teile  in  der  Natur  der 
Futterpflanze  selbst.  Bei  Regen  werden  die  Blätter 
in  den  Schwarzwurzelpflanzungen  nicht  nur  feucht, 
sondern  auch  leicht  schmutzig  und  wir  haben  oben 
bei  der  Schilderung  der  Zuchtanweisungen  von 
Prof  Dammer  gesehen,  wie  gefährlich  dies  für 
die  Raupen  werden  kann.  Deshalb  müssen  die 
Blätter  nach  Regenfälien  erst  getrocknet  und  ge- 
reinigt werden,  ein  Umstand,  der  die  Arbeit  be- 
trächtlich erhöht.  Weiterhin  sind  die  Zuchten, 
auch  dies  ging  aus  dem  oben  Gesagten  schon 
hervor,  „entschieden  empfindlicher  gegen  Tempe- 
raturwechsel und  Feuchtigkeit  als  gewöhnliche". 
Endlich  erfordert  die  Behandlung  der  Hürden  bei 
der  Häutung  eine  viel  größere  Sorgfalt:  „Die  S- 
Blätter  werden  nie  so  ausgenützt,  wie  die  Maul- 
beerblätter  und  bilden  darum  eine  Unterlage,  die 
zwar  bei  einigem  Geschick  und  bei  Trockenheit 
ein  gutes  Bett  für  die  Raupen  abgibt  aber  auch, 
namentlich  bei  Nässe  und  bei  nicht  kundigen  Züch- 
tern zu  einerGefahr  wegen  Krankheit  werden  kann." 

Deshalb  kommt  Prof.  Maas  zu  dem  Schluß, 
daß  „ungeübte  Züchter  in  der  Schwarz- 
wurzelfütterung nur  schlecht  zurecht 
kommen  werden".     Prof.  Maas  gründet  diese 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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seine  Ansicht  auch  noch  auf  die  Erfahrungen,  die 
er  mit  seinen  einzelnen  Mitarbeitern  machte:  ver- 
teilte er  das  gleiche  Material  an  in  der  Zucht 
kundige  Lehrer,  an  Gärtner  und  an  neu  anzu- 
lernende Private,  so  ging  bei  den  Anfängern  unter 
den  Züchtern  das  an  die  Schwarzwurzelfütterung 
ungewöhnte  Raupenmaterial  meist  bald  ein,  wäh- 
rend das  gewöhnte  beträchtlich  länger  aushielt, 
ohne  daß  allerdings  auch  hierbei  nennenswerte 
Kokonserträge  erzielt  werden  konnten.  Den  ge- 
übten Züchtern  gelang  es  meistens,  mit  gewöhntem 
Material  bis  zur  Einspinnung  zu  kommen.  Aber 
hierbei  ergaben  sich  noch  zahlreiche  Schwierig- 
keiten, die  weil  sie  biologisch  begründet  sind,  nur 
schwer  überwunden  werden  können.  So  brauchen 
die  Raupen  „offenbar  einen  Auslauf,  wie  ihn  die 
Stenglein  und  Zweiglein  des  Maulbeerbaumes 
bieten;  das  bietet  ihnen  das  einfach  hingelegte 
Sa>rM//i7-trh\3.tt  nicht  und  dieser  Auslauf  ist  be- 
sonders vor  Häutungen  und  vor  dem  Einspinnen 
wichtig".  Auch  rein  praktisch  ergeben  sich  Hinder- 
nisse, die  oft  von  Anfang  an  nicht  nach  Würdig- 
keit eingeschätzt  werden.  So  ist  der  Blätterertrag 
bei  Scurzoiicra  nur  in  der  Fläche  ausnützbar, 
während  der  Blätterertrag  des  Maulbeerstrauches 
oder  -Baumes  im  Räume  vor  sich  geht.  Deshalb 
bedarf  es,  um  sich  eine  genügende  Schwarzwurzel- 
menge zu  sichern,  einer  größeren  Anbaufläche,  als 
der  Züchter  oft  anfänglich  glauben  möchte.  End- 
lich ist  die  Frage  nach  der  vorteilhaftesten  Art 
der  Düngung  der  Schwarzwurzelanlage  für  das 
Gedeihen  der  Seidenraupe  durchaus  nicht  gleich- 
gültig. 

Aus  allen  diesen  Angaben,  die  sich  aus  den 
Erfahrungen  von  Prof  Maas  noch  beliebig  ergänzen 
ließen,  erhellt  deutlich,  daß  das  Problem  der 
„neuen"  Fütterung  mit  Schwarzwurzel- 
blättern heute  noch  nicht  so  einfach 
zustimmend  oder  ablehnend  beant- 
wortet werden  kann.  Bevor  sich  Klarheit 
über  die  Tauglichkeit  der  Schwarzwurzelfütterung 
wird  gewinnen  lassen,  wird  es  nötig  sein,  daß  die 
Maas 'sehen  Versuche  in  ihrer  ganzen  wissen- 
schaftlichen Gründlichkeit  fortgeführt  werden.  Der 
Forscher  selbst  wird  diese  Aufgabe,  der  heute  so 
große  praktische  Bedeutung  zukäme,  leider  nicht 
mehr  erfüllen  können;   denn    ihn  entriß    der  Tod 


im  Frühjahr  19 16  jäh  aus  seinem  Schaffen.  Aber 
seine  Arbeit  wird  nicht  umsonst  geschehen  sein; 
denn  seine  Untersuchungen  werden,  wie  ich  höre, 
unter Leitungvon Prof. Dr.  Ad.  Seitz  im  Insekten- 
hause des  Frankfurter  Zoologischen  Gartens,  fort- 
geführt werden.  Man  wird  mit  Spannung  ihren 
Ergebnissen  entgegensehen  dürfen,  ob  es  ihnen 
gelingen  wird,  was  Prof  Maas  vergebens  anstrebte, 
eine  Seidenraupenrasse  heranzuzuchten,  welche 
sich  an  die  Schwarzwurzelkost  vollkommen  gewöhnt 
hat,  so  daß  ihre  biologischen  F"ähigkeiten  sowohl 
wie  die  Güte  ihrer  Kokons  in  nichts  dem  Maulbeer- 
spinner nachgeben.  Heute  sind  wir  freilich  von 
diesem  Ziele  noch  weit  entfernt  1 

Literatur- Verzeichnis. 

1.  Johann  Bolle,  k  k.  Hofrat,  Wien,  Die  Bedingungen 
für  das  Gedeihen  der  Seidenzucht  und  deren  volkswirtschaft- 
liche Bedeutung.  Mit  33  Textabbildungen.  Paul  Parey,  Berlin. 
4  Flugschrift  der  „Deutschen  Gesellschaft  für  angewandte 
Entomologie".     igi6. 

2.  Udo  Dammer,  Prof.  Dr.,  Berlin-Dahlem,  Über  die 
Aufzucht  der  Raupe  des  Seidenspinners  mit  den  Blättern  der 
Schwarzwurzel.  Ein  Beitrag  zur  Lösung  der  Seidenbaufrage  in 
Mittel-  und  Nordeuropa.  2.  Aufl.  1915.  Trowitzsch  u.  Sohn, 
Frankfurt  a.  O. 

3.  C.  O.  Harz,  Prof.  Dr.,  Eine  neue  Züchtungsmethode  des 
Maulbeerspinners  Bombyx  mori  L.  mit  einer  krautartigen 
Pflanze.     Ferdinand  Enke,  Stuttgart.      1890. 

4.  Derselbe,  Über  die  Zucht  des  Schwarzwurzel-Seiden- 
spinners im  Jahre  1890.  In:  Zeitschrift  des  Landwirtschaft- 
lichen Vereins  in  Bayern.     Aprilheft   1891. 

5.  H.  W.  Frickhinger,  Dr.,  München,  Zum  Kapitel 
Seidenbau  in  Deutschland  {Über  die  Organisation  der  Seiden- 
baubewegung). In:  Zeitschrift  für  angewandte  Entomologie. 
3.  Bd.   1916,  Heft  2,  p.   300 — 302. 

6.  Derselbe,  Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Seidenbau- 
bewegung in  Deutschland.  Sammelreferat.  In:  Die  Natur- 
wissenschaften. 4.  Jahrg.  1916,  Heft  51  S.  832—35  und 
Heft  52  S.  841—44. 

7".  Derselbe,  Die  Seidenraupe  und  ihre  Zucht.  Mit  18  Abb. 
In  :  Monatshefte  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  aller 
Schulgattungen.     191 7.     10.  Bd.  Heft  2  S.  49— 59  und  Heft  3/4 

8.  Otto  Maas,  Prof.  Dr.,  München,  Versuche  über  Um- 
gewöhnung und  Vererbung  beim  Seidenspinner.  In:  Archivfür 
Entwicklungsmechanik.     41.  Bd.   191 5.     4.  Heft  S.  672—727. 

9.  Derselbe,  Bemerkungen  zur  Einführung  der  Seidenzucht 
in  Deutschland  nach  eigenen  Erfahrungen  über  die  Biologie 
des  Seidenspinners.  In:  Zeitschrift  für  angewandte  Entomologie. 
3.  Bd.  Heft   I   S.    180—194- 

10.  Adalbert  Seitz,  Prof.  Dr.,  Darmstadt,  DerSeiden- 
bau  und  die  Maas'scben  Versuche.  In;  Entomologische  Rund- 
schau.    33.  Jahrg.  Nr.  8  S.  39—40. 


Einzelberichte. 


Geologie.  Über  die  geologischen  Ursachen  der 
Zerstörung  von  Talsperren  berichtet  H.  Stremme 
in  der  Zeitschrift  f.  praktische  Geologie  191 7,  H.  2. 

Zerstörungen  von  Talsperren  sind  nicht  selten, 
allerdings  hat  auch  der  Bau  derselben  in  den 
letzten  Jahrzehnten  stark  zugenommen.  \'on  großer 
Bedeutung  für  die  Verhütung  der  Unfälle  ist  die 
Beschaffenheit  des  Untergrundes,  da  dieser  die 
Last  der  Mauer  oder  des  Dammes  ohne  nennens- 
werte Veränderungen   oder  Verschiebungen  seiner 


Teile  dauernd  tragen  muß.  Nur  so  wird  der  un- 
veränderte Bestand  der  Talsperre  gewährleistet. 
Bei  der  Auswahl  des  Baugrundes  lautet  das  erste 
Prinzip:  Der  Baugrund  muß  Ruhe  haben.  Bei 
allen  Talsperreneinstürzen  war  der  wagrechte 
Schub  und  die  mangelhafte  Widerstandsfähigkeit 
der  Gründungsfläche  oft  erst  nach  Jahren  und 
Jahrzehnten  die  einleitende  Ursache  der  Zer- 
störungen, welche  sich  in  einem  schwachen  Punkte 
der  Sperrmauer  fortsetzten.  Die  Vorprüfungen  des 
Baugrundes  haben  auch  den  späteren  hohen  Mauer- 


546 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


und  Wasserdruck  zu  berücksichtigen.  Nach  Leppia 
sind  die  meisten  Gesteine  auch  im  nassen  Zu- 
stande diesem  gewachsen,  soweit  es  sich  nicht 
um  lockere  unverkittete  Sande,  Kiese,  Tone  und 
Mergel  handelt.  Nasse  Schiefertone  und  Mergel- 
schiefer können  unter  Umständen  eine  gewisse 
Nachgiebigkeit  zeigen.  Man  wird  sie  deshalb  von 
der  Belastung  durch  eine  starke  Mauer  ausschließen, 
indessen  als  Unterlage  eines  Erddammes  hinreichend 
fest  finden  dürfen.  Es  ist  selbst  für  den  begut- 
achtenden Geologen  schwer,  immer  die  nötigen 
Garantien  für  die  Stabilität  des  Untergrundes  zu 
übernehmen.  Das  dauernd  unter  hohem  Druck 
aufgestaute  Wasser  kann  selbst  einen  guten  Bau- 
grund veränderlich  machen,  indem  manche  Be- 
standteile der  Gesteine  zermürbt,  aufgeweicht  oder 
sogar  aufgelöst  werden.  Ja  es  können  gewisse 
Substanzen  zum  Schmiermittel  bei  einem  Einsturz 
werden. 

Eine  Zusammenstellung  der  Einstürze  gab 
P.  Ziegler  in  der  Zeitschrift  für  Bauwesen  1916, 
wobei  er  die  Zerstörungen  in  3  nicht  scharf  ge- 
trennte Gruppen  sondert: 

1.  Der  Staudruck  drückt  den  allmählich  auf- 
geweichten Untergrund  unter  der  Mauer  hindurch. 

2.  Der  Staudruck  schiebt  die  ganze  infolge 
wagrechter  und  senkrechter  Durchbiegung  in 
Stücke  zerbrochene  Mauer  vor  sich  her. 

3.  Der  Staudruck  veranlaßt  nur  eine  geringe 
wagrechte  Bewegung  oder  Ausbuchtung,  die  zur 
Zerstörung  führt.     (OC.)  V.  Hohenstein. 

Beiträge  zur  Geologie  der  Kolonie  Neupommern 
liefert  Johanna  Offermann  in  einer  Disser- 
tation. Die  Insel  Neupommern  erstreckt  sich  von 
Westen  nach  Osten  in  einem  nach  Nordwesten 
geöffneten  Bogen.  Erforscht  ist  nur  die  im  Norden 
liegende  Gazella-Halbinsel.  Eine  Landenge  ver- 
bindet sie  mit  der  Insel.  Im  Südosten  liegen  die 
Bainingberge  mit  1500  m  Höhe.  Die  Vorberge 
bestehen  aus  Kalk,  während  die  steilen  Höhen 
aus  Eruptiven  sich  zusammensetzen.  Im  Norden 
der  Gazella-Halbinsel  liegen  die  Inseln  Uwewa  und 
Watom,  ein  300  m  hoher  Vulkan,  von  denen 
150  m  Korallenkalk,  die  Spitze  Andesitlava  sind. 
Im  Nordosten  der  Halbinsel  liegt  die  kleine  Krater- 
halbinsel mit  nördlichstem  Vulkan  „Nordtochter" 
(545  m  und  erloschen),  die  „Mutter"  (erloschen 
630  m),  dann  folgt  ein  eingestürzter  Doppelkrater 
und  die  „Südtochter"  (536  m  und  erloschen). 
Westlich  davon  ragt  der  einzige  noch  tätige  Vulkan 
hoch,  dessen  letzter  Ausbruch  1878  erfolgte,  bei 
dem  die  Baluanlnsel  entstand,  der  ,,Ghaia".  Süd- 
lich davon  liegt  ein  weiterer  eingestürzter  Doppel- 
krater. Andesite  und  BimsteingeröU  sind  die  Ge- 
steine der  Mutter  und  der  Ghaia.  An  der  Ost- 
küste liegt  die  Blanche-Bucht,  deren  Wände  zur 
Bucht  hin  steil,  zur  Halbinsel  hin  sanft  abfallen, 
so  daß  geschlossen  worden  ist.  daß  in  der  Bucht 
ein  alter  Krater  enthalten  ist.  Die  Schwefelquellen 
bei  Schwefelhuk  und  die  heißen  Quellen  am  Ghaia 


weisen  ebenfalls  darauf  hin.  Im  Innern  der  Gazella- 
Halbinsel  treffen  wir  ein  großes  Bimsteinplateau 
an,  an  dessen  Rande  der  Varzin  aus  l.ava  erbaut  ist. 
Aus  dem  Vulkangebiet  der  Mutter  im  Süd- 
osten des  Baininggebirges  stammen  Diorit  und 
Gabbro,  wahrscheinlich  auch  ein  Dioritporphyrit 
und  neue  diabasische  Porphyrite,  ein  Augitandesit. 
An  Ergußgesteinen  wurden  an  der  Mutter  und  am 
Ghaia  und  der  Vulkaninsel  in  der  Blanchebucht 
nachgewiesen:  Ouarzporphyr,  Liparit,  Andesit, 
Trachyandesit,  Bimstein  und  Obsidian,  Diabas- 
mandelstein von  der  Mutter  und  andesitische  Tuffe 
aus  dem  Baining  Gebirge  sind  ebenfalls  erwiesen. 
R.  Hundt,  im  Felde. 

Anthropologie.  Die  Kreolen.  Die  Bevölkerung 
der  mittel-  und  südamerikanischen  Staaten  und 
Kolonien  ist  aus  Angehörigen  verschiedener  Rassen 
und  deren  Mischlingen  zusammengesetzt.  Die  ab- 
gelegenen und  von  der  europäischen  Kultur  wenig 
berührten  Gebiete  sind  fast  ausschließlich  von 
reinrassigen  Indianern  bewohnt,  die  küstennahen 
und  die  an  den  Verkehrswegen  liegenden  Gebiete 
dagegen  von  Mischlingsbevölkerungen, 
die  aus  der  Kreuzung  von  eingeborenen 
Indianern  mit  Europäern  und  Negern  hervorgingen. 
Negermischlinge  sind  namentlich  in  Nord-  und 
Mittelbrasilien  sowie  in  Guyana  stark  vertreten, 
in  den  Staaten  an  der  Küste  des  Stillen  Ozeans 
aber  selten.  Sozial  gehören  sie  überall  zu  den 
untersten  Klassen.  Die  europäisch  -  indianische 
Mischlingsbevölkerung  ist  überall,  mit  Ausnahme 
gewisser  Teile  Brasiliens,  zahlreicher  als  die  Neger- 
mischlinge, doch  ist  ihr  Anteil  an  der  Gesamt- 
bevölkerung regional  sehr  ungleich.  Reinrassige 
Europäer  bilden  lediglich  in  Südbrasilien,  Uruguay 
und  Argentinien  einen  erheblichen  Teil  aller 
Einwohner.  Wie  sich  das  Verhältnis  der  ver- 
schiedenen Bevölkerungselemente  in  den  einzelnen 
Staaten  zahlenmäßig  gestaltet,  ist  nicht  be- 
kannt, da  diesbezügliche  Statistiken  nicht  existieren 
und  die  Schätzungen  meist  auf  unsicheren  Grund- 
lagen beruhen.  Die  Zahl  der  Weißen  einwandfrei 
festzustellen  ist  deshalb  besonders  schwer,  weil 
alle  in  Amerika  geborenen  Nachkommen  spanischer 
und  portugiesischer  Ansiedler,  bei  denen  nicht  In- 
dianer- oder  Negerblut  überwiegt,  gerne  als  Weiße 
gelten  wollen  und  nur  ungern  farbige  Ahnenschaft 
zugeben.  Sie  bilden  die  soziale  Oberschicht  der 
Bevölkerung  und  sind  als  Kreolen  bekannt. 
Doch  wäre  es  falsch,  diese  Kreolen,  wie  es  oft 
geschieht,  in  ihrer  Gesamtheit  als  „Weiße"  auf- 
zufassen. In  Wirklichkeit  ist  nur  eine  Minderheit 
von  ihnen  reinrassig. 

Die  Körperbeschaffenheit  der  Kreolen  läßt 
ohne  weiteres  erkennen,  daß  sie  nicht  „Weiße" 
sind;  denn  ihre  Hautfarbe  spielt  mehr  oder  weniger 
ins  Gelbhche,  die  Lippen  sind  dicker  als  beim 
Europäer  und  häufig  aufgeworfen,  die  Gestalt  ist 
klein,  der  Gesichtsschnitt  stumpfer  als  beim  Euro- 
päer;   das  Haar   ist   zwar   (mindestens    bei  vielen 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


547 


Personen)  lockig,  aber  es  fühlt  sich  rauher  an  als 
beim  Europäer.  Der  Bartwuchs  ist  gewöhnlich 
spärlich.  Überdies  sprechen  auch  geschichtliche 
Gründe  gegen  die  Annahme  einer  rein  europäischen 
Abkunft  der  Kreolen. 

Diesbezüglich  sagt  ein  guter  Kenner  Süd- 
amerikas, Dr.  O.  Greulich  1),  es  steht  fest,  daß 
die  spanischen  und  portugiesischen  Eroberer,  wie 
die  meisten  Neusiedler,  zunächst  ohne  Familien 
übers  Meer  gelangten.  Die  IVIitnahme  von  Weib 
und  Kind  verboten  die  gefährdete  Lage  der  Ko- 
lonisten und  ihre  unstete  Lebensweise,  die  ja 
hauptsächlich  in  Streifzügen  nach  Gold  und 
Sklaven  bestand.  Inzwischen  behalfen  sie  sich 
mit  Indianermädchen,  am  häufigsten  in  wilder 
Ehe;  doch  gab  es  auch  von  Anfang  an  legitime 
Heiraten.  Den  Nachkommen  vornehmer  Eltern 
konnte  man  trotz  ihrem  Halbblut  gesellschaftlichen 
Rang  nicht  versagen,  und  sobald  hiermit  die 
Schranke  gebrochen  war,  ließ  sich  eine  strenge 
Grenzlinie  gegen  die  „Mestizos"  (Kinder  von 
Weissen  und  Indianerinnen)  im  allgemeinen  kaum 
noch  aufrechterhalten.  Sobald  Ruhe  und  Ord- 
nung im  neuen  Kolonialreich  hinreichend  ent- 
wickelt waren,  folgte  wohl  manche  Spanierin 
einem  Gatten  oder  Bruder  in  seinen  fernen  Wir- 
kungskreis; aber  groß  kann  ihre  Zahl  auch  in 
der  Folge  nicht  gewesen  sein,  denn  die  Geschichts- 
schreiber verfehlen  nie,  den  Wagemut  dieser  Damen 
gebührend  hervorzuheben;  ferner  ist  zu  beachten, 
daß  auch  heute  noch  die  europäische  PVau  unter 
der  Ungunst  des  Klimas  und  der  abweichenden 
Ernährung  in  weit  höherem  Maße  leidet  als  der 
Mann,  was  eine  weibliche  Zuwanderung  großen 
Stils  abschrecken  mußte. 

Die  anthropologische  Abgrenzung  der  Kreolen 
gegen  die  Indianer  wird  dadurch  erschwert,  daß 
auch  die  in  den  kultivierten  Landstrichen  hausenden 
„Indianer"  in  Wirklichkeit  keine  solchen,  sondern 
ebenfalls  Mischlinge  sind,  wenn  auch  mit  stärkerem 
Zusatz  indianischen  Blutes.  Nur  eine  genaue  Unter- 
suchung möglichst  vieler  Einzelstammbäume  könnte 
völlige  Klarheit  in  das  Problem  der  Herkunft  der 
Kreolen  bringen.  Man  hat  sich  auch  in  dieser 
Hinsicht  bemüht,  und  es  wurden  amtliche  Er- 
fahrungen über  die  Rassenzugehörigkeit  vorge- 
nommen. Aber  nach  welchen  Grundsätzen  wird 
dabei  vorgegangen,  z.  B.  bei  den  Schülerlisten? 
Der  Sohn  eines  Advokaten,  Arztes  oder  Groß- 
grundbesitzers bekommt  ohne  weiteres  das  Prä- 
dikat „Blanco";  der  Sprößling  eines  kleinen  Be- 
amten, Krämers  oder  Kleinbauern  figuriert  als 
„Mestizo",  und  der  arme  Taglöhnersbub  wird  er- 
barmungslos zum  „Indio"  gestempelt. 

Hieraus  ergibt  sich,  daß  der  Rassenunterschied 
zwischen  den  Kreolen  und  ihren  „roten"  Unter- 
tanen nicht  wesentlich,  sondern  nur  relativ  ist, 
indem  sich  jene  bloß  einer  näheren  Verwandt- 
schaft zur  weißen  Rasse  rühmen  dürfen,  und  daß 


')  Greulich,  Dr,  Kreole.    Eine  ethnographische  Studie. 
Neue  Zur.  Zeitung   1917,  Nr.   709. 


die  kreolische  „Aristokratie"  vor  allem  sozialen 
Charakter  trägt.  Daß  gleichwohl  eine  so  auf- 
fallende Kluft  zwischen  der  obern  und  der  untern 
Schicht  der  südamerikanischen  Bevölkerung  be- 
steht, ist  wohl  hauptsächlich  der  Selbstsucht  und 
der  Eitelkeit  der  Emporkömmlinge  zuzuschreiben. 
Denn  wenn  auch  eine  stete  Auffrischung  des 
Herrenstandes  durch  empordringende  tüchtige  In- 
dividuen der  unteren  Klasse  stattfindet,  so  fühlen 
sich  die  also  Begünstigten  keineswegs  als  Binde- 
glied, sondern  scheinen  vielmehr  bestrebt,  ihre 
niedere  Herkunft  in  Vergessenheit  zu  bringen. 

Im  Kreolen  tritt  uns  ein  durchaus  eigenartiger 
Typus  entgegen,  an  dessen  Entstehung  jahrhundert- 
lang die  verschiedensten  Faktoren  gearbeitet  haben : 
außer  der  fortgesetzten  Kreuzung  beider  Rassen 
in  allen  erdenklichen  Schattierungen  auch  klima- 
tologische,  geographische  und  geschichtliche  Ein- 
flüsse —  ein  eigenartiger  Typus,  der  sich  nicht 
bloß  vom  Europäer,  sondern  namentlich  auch 
vom  Nordamerikaner  aufs  schärfste  unterscheidet. 
H.  Fehlinger. 

Medizin.  In  der  Münch.  med.  Wochenschrift 
(64.  Jahrg.  Nr.  17,  19 17)  machten  Regimentsarzt 
Franz  Bardach zi  und  Oberarzt  Dr.  Zoltan 
Barabas  Mitteilungen  über  das  auffallend  häufige 
Vorkommen  der  Fadenwürmer  (Nematoden)  als 
Darmschmarotzer  des  Menschen  im  Osten,  besonders 
in  Woihynien.  i5ie  Zahl  der  sie  beherbergenden 
Leute  war  größer  als  die  der  wurmfreien.  Wie 
man  bei  Sektionen  erkannte,  waren  die  Krank- 
heitserscheinungen vielfach  durch  die  Würmer 
verursacht  worden.  Die  Verff.  hielten  es  für  an- 
gezeigt, Kotproben  von  jedem  Patienten  auf  ihren 
Reichtum  an  Wurmeiern  zu  untersuchen.  Die 
Soldaten  gehörten  den  verschiedensten  Nationali- 
täten an  und  befanden  sich  teilweise  nur  zur 
Quarantäne  im  Lager;  außerdem  wurden  123  Zivil- 
personen untersucht,  und  zwar  beruhen  die  An- 
gaben auf  einer  nur  einmaligen  Stuhluntersuchung, 
welche  nach  dem  Verfahren' von  Tele  man  vor- 
genommen wurde.  Dabei  wurde  eine  erbsengroße 
Stuhlprobe  mit  Salzsäure  und  Äther  zu  gleichen 
Teilen  bis  zum  Verfall  geschüttelt  und  durch  ein 
Organtinsieb  passiert.  Das  durch  Zentrifugieren 
gewonnene  Sediment  wurde  mikroskopisch  unter- 
sucht. Die  Zahlen  für  die  Spulwurmeier  waren 
nicht  nur  bei  den  Feldsoldaten,  sondern  auch  bei 
der  Zivilbevölkerung  außerordentlich  hoch.  Be- 
sonders häufig  waren  der  gewöhnliche  Spulwurm 
(Ascaris  lumbricoides)  und  der  Peitschenwurm 
(Trichocephalus  dispar),  welche  in  über  60%  der 
Patienten  gefunden  wurden.  Die  Verff.  erblicken 
den  Grund  für  das  häufige  Vorkommen  in  dem 
hygienischen  und  kulturellen  Tiefstand  der  Bevöl- 
kerung im  Südosten  Europas.  Wiederholt  traten 
auch  schwere  Darmstenosen  auf,  offenbar  verur- 
sacht durch  ein  bis  hühnereigroßes  Knäuel  von 
Spulwürmern.  Die  dadurch  hervorgerufenen  Er- 
scheinungen, welche  in  erster  Linie  auf  eine  Ver- 


548 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


stopfung  des  Darmkimens  zurückzuführen  waren, 
verschwanden  sofort,  wenn  durch  Abführungs-  und 
Wurmmittel  (Santonin)  die  Ascaridenkonvolute 
beseitigt  worden  waren.  Sehr  verbreitet  war  eine 
durch  den  ständigen  Blutverlust  verursachte 
Anämie.  Kathariner. 

Physik.  Um  das  Hochfrequenzspektrum  eines 
Metalls  zu  ermitteln,  untersucht  man  mittels  eines 
Röntgenstrahlenspektrographen  die  Strahlung,  die 
von  einer  Röhre  ausgeht,  in  der  das  betreffende 
Metall  die  Antikathode  bildet.  Beim  Aufprall  der 
von  der  Kathode  ausgehenden  Elektronen  geht 
von  der  Antikathode  eine  doppelte  Strahlung  aus, 
die  „Bremsstrahlung",  die  bei  Verzögerung  der 
Elektronen  entsteht  und  die  aus  allen  möglichen 
Wellenlängen  besteht,  und  die  „Eigenstrahlung", 
die  dadurch  zustandekommt,  daß  die  Elektronen, 
die  im  Atom  des  Antikathodenmaterials  enthalten 
sind,  mit  der  ihnen  charakteristischen  Frequenz 
zu  schwingen  anfangen.  Die  auf  diese  Weise  ent- 
stehende Eigenstrahlung  nennt  man  das  Hoch- 
frequenzspektrum im  Gegensatz  zu  dem  sichtbaren 
Spektrum,  das  der  Dampf  des  Metalls  unter  ge- 
eigneten Bedingungen  aussendet  und  dessen 
Schwingungen  erheblich  langsamer  erfolgen. 
Eine  Röntgenröhre,  die  auf  verhältnismäßig  ein- 
fache Weise  gestattet  nacheinander  die  Röntgen- 
spektren verschiedener  Metalle  zu  untersuchen, 
beschreibt  H.Rausch  v.  Traubenbergin  der 
Physikal.  Zeitschr.  XVIII  S.  24  (1917).  Sie  setzt 
sich  zusammen  aus  einem  kugelförmigen  Glas- 
gefäß, das  die  Kathode  enthält.  Dasselbe  hat 
oben  eine  Öffnung,  auf  diese  wird  mittels  Siegel- 
lack ein  Messingrohr  aufgekittet.  Mittels  Schliff 
wird  in  dieses  die  Antikathode  eingesetzt  und  mit 
Pizein  verkittet.  Damit  die  Kittungen  bei  der  Er- 
wärmung, die  bei  der  Entladung  namentlich  an 
der  Antikathode  auftreten,  nicht  schmelzen  und 
undicht  werden,  werden  sie  und  die  Antikathode 
selber  durch  strömendes  Wasser  gekühlt.  Von 
der  im  Mittelpunkt  des  kugelförmigen  Glasgefäßes 
angebrachten  Kathode  dringen  die  Elektronen 
radial  in  das  aufgekittete  Rohr.  Die  Antikathode, 
an  deren  Oberfläche  verschiedene  Metalle  an- 
gebracht und  ausgewechselt  werden  können,  liegt 
schräg  zur  Richtung  der  Achse,  so  daß  die  Elek- 
tronen sie  unter  einem  Winkel  von  45"  treffen. 
Die  entstehenden  Röntgenstrahlen  verlassen  die 
Röhre  aus  einem  seitlich  angebrachten  Fenster, 
das  mit  dünner  Aluminiumfolie  verschlossen  ist. 
Das    Evakuieren    geschieht    mittels  Gaede-Pumpe. 

Seh. 

Astronomie.  Den  sehr  seltenen  Vorübergang 
des  Saturnringes  vor  einem  Stern  hat  Ainslie 
beobachtet  und  (Monthly  Not.  März  191 7)  be- 
schrieben. Der  Stern,  7  Gr.  und  von  goldgelber 
F'arbe,  erschien  durch  den  Ring  gesehen  stark  ge- 
schwächt, auf  etwa  '1^  seiner  Helligkeit  und  von 
etwas  verwaschenem  Aussehen.   Durch  die  Cassini- 


sche  Teilung  gesehen  erschien  er  wesentlich 
heller,  um  dann  hinter  den  äußeren  Ring  zu 
wandern.  Dieser  Ring  ist  durchsichtiger  als  der 
zweite,  auch  gleichmäßiger  im  Gefüge,  da  die 
Helligkeit  des  Sternes  hier  nicht  schwankte.  Erst 
kurz  vor  dem  äußeren  Rande  trat  eine  Verände- 
rung der  Helligkeit  für  ein  paar  Sekunden  ein, 
beim  Austritt  selber  ließ  sich  durch  etwa  10 — 15 
Sekunden  eine  langsame  Zunahme  der  Helligkeit 
bis  zum  früheren  Glänze  des  Sternes  beobachten. 
Aus  diesen  Beobachtungen  läßt  sich  entnehmen, 
daß  die  allgemein  gültige  Annahme,  die  Ringe 
seien  nichts  anderes  als  geschlossen  um  den  Saturn 
kreisende  kosmische  Wolken,  Meteormassen,  richtig 
ist.  Zwischen  den  einzelnen  Körperchen  kann 
immer  noch  etwas  Licht  hindurch,  ferner  müssen 
die  Körperchen  nicht  sehr  nahe  aneinander  sein, 
da  diese  Durchlässigkeit  trotz  der  Dicke  des  Ringes 
von  ein  paar  lOO  km  möglich  ist.  Der  äußere 
Ring  ist  weniger  dicht  wie  der  zweite,  und  die 
dazwischen  liegende  Trennung,  die  Cassini'sche 
Teilung,  ist  nicht  ganz  leer,  sondern  nur  sehr  dünn 
mit  Meteoren  belegt.  Es  paßt  dies  auch  gut  zu- 
sammen mit  der  aus  den  Messungen  sich  ergeben- 
den Tatsache,  daß  die  Teilungen  nicht  immer  an 
derselben  Stelle  stehen,  sondern  ihren  Ort  ändern, 
wohl  infolge  der  störenden  Einflüsse  der  großen 
Monde  auf  die  Meteorschwärme,  ähnlich  wie  sich 
im  System  der  kleinen  Planeten  Lücken  zeigen, 
die  der  Wirkung  des  Jupiter  entsprechen. 

Riem. 

Ein  neues  Ergebnis  über  den  Bau  des  Universums 
hat  S.  Oppenheim  (in  den  astronom.  Nach- 
richten Nr.  4896)  abgeleitet,  das  in  mancher  Hin- 
sicht bemerkenswert  ist.  Nachdem  er  schon  früher 
die  Eigenbewegungen  der  Sterne  mit  den  auf  einen 
bestimmten  Moment  bezogenen  Eigenbewegungen 
der  kleinen  Planeten  verglichen  hatte,  und  gezeigt 
hatte,  daß  man  rein  rechnerisch  aus  diesen  die  Lage 
der  Ekliptik  erhalten  kann,  und  ebenso  die  Rich- 
tung Erde— Sonne  für  denselben  Zeitpunkt,  ermit- 
telte er  aus  den  Eigenbewegungen  der  Sterne  eines 
bestimmten  Typus  in  Länge  und  Radius  die  Rich- 
tung des  idealen  Zentralpunktes  des  Sternsystems 
und  den  Apex  der  Sonnenbewegung.  Die  weiteren 
Arbeiten  ergeben  nun,  daß  es  unter  den  Sternen 
mehrere  Schwärme  gibt,  deren  Ebenen  alle  parallel 
der  Milchstraße  verlaufen,  und  deren  zentrale 
Hauptebene  mit  der  Milchstraße  ungefähr  zusam- 
menfällt und  den  Sonnenort  enthält.  Es  gibt  da- 
her nicht,  wie  bei  den  Planeten,  ein  einziges  Zentrum, 
der  Sonne  vergleichbar,  sondern  nur  eine  Zentral- 
achse, die  die  Zentra  der  einzelnen  Schwärme 
enthält,  und  die  auf  der  Ebene  der  Milchstraße 
senkrecht  steht.  Offenbar  ist  damit  die  Annahme 
sehr  nahegelegt,  daß  wir  hier  eine  allgemeine 
Rotation  des  gesamten  Himmels  um  diese  Achse 
angedeutet  sehen.  Damit  wäre  also  ein  neuer 
Beweis  für  die  Einheitlichkeit  des  Universums  er- 
bracht. Ob  freilich  dies  in  der  Tat  sich  so  ver- 
hält   oder   ob    nicht  vielleicht  das  Universum  ein 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


549 


mechanisches  System  von  Körpern  ist,  das  durch 
gewisse  innere  Kräfte  zusammengehalten  wird,  das 
ist  nach  Oppenheim  eine  zurzeit  nicht  ent- 
schiedene Frage,  zu  deren  Beantwortung  auch 
andere  Methoden    herangezogen    werden    müssen. 

Riem. 


Hygiene.  Professor  Dr.  K.  Escherich 
Professor  der  angewandten  Zoologie  in  München 
hatte  auf  seiner  Studienreise  durch  die  Vereinigten 
Staaten  (191 1)  erfahren,  daß  man  dort  mit  bestem 
Erfolg  zur  Vertilgung  der  schädlichen  Insekten 
Blausäuredämpfe  als  wirksames  Bekämpfungsmittel 
anwendet.  Es  war  naheliegend,  aus  den  guten  Er- 
fahrungen, die  man  bei  der  Vertilgung  der  Schäd- 
linge in  Amerika  macht,  auch  bei  der  Bekämpfung 
der  Läuseplage  im  gegenwärtigen  Weltkrieg 
Nutzen  zugehen.  Der  Obengenannte  widmet 
der  F"rage  eine  Abhandlung:  „Blausäure  als  Ent- 
lausungsmittel" in  der  von  ihm  herausgegebenen 
Zeitschrift  für  angewandte  PLntomologie  (Bd.  III, 
Heft  3,  1916)  und  empfiehlt  das  Verfahren  für 
die  Reinigung  geschlossener  Räumlichkeiten,  etwa 
von  Lazarettzügen;  das  Verfahren  sei  äußerst 
einfach  auszuführen,  billig  und  sehr  wirksam.  Ein 
besonderer  Vorzug  liege  darin,  daß  keine  nicht 
gewollten  Nebenwirkungen,  wie  etwa  die  Oxyda- 
tion von  Metallteilen  an  Instrumenten,  Waffen  etc. 
zu  befürchten  seien.  In  Deutschland  befasse  sich 
mit  dem  Verfahren  erfolgreich  die  Gold-  und 
Silberscheideanstalt  in  Frankfurt  a.  Main.  Man 
verfahre  folgendermaßen :  Zunächst  wird  der 
Wagen  gründlich  abgedichtet,  eventuell  indem 
man  die  Türspalten  mit  Papierstreifen  überklebt. 
„In  eine  auf  den  Boden  des  Wagens  gestellte, 
nicht  zu  flache  Porzellanschale  oder  in  einen  Ton- 
krug wird  zuerst  das  Wasser  eingegossen  und 
hierauf  Schwefelsäure  langsam  zugegeben.  Ein 
zu  schnelles  Einschütten  hätte  zu  starke  Erwärmung 
zur  Folge  und  könnte  das  Zerspringen  des  Gefäßes 
verursachen.  Ist  auf  diese  Weise  eine  verdünnte 
Säure  hergestellt,  so  wird  möglichst  rasch,  solange 
die  Lösung  noch  heiß  ist,  Cyannatrium  eingetragen, 
worauf  die  Blausäureentwicklung  beginnt.  Es  ist 
deswegen  nach  Zugabe  des  Salzes  der  Wagen 
sofort  zu  verlassen.  Die  Reihenfolge,  in  welcher 
die  Chemikalien  unbedingt  gemischt  werden 
müssen,  ist  also;  Wasser,  Schwefelsäure,  Cyan- 
natrium. Nach  einer  Räucherungsdauer  von  "  ^ 
bis  I  Stunde  werden  die  Türen  der  Wagen  wieder 
geöffnet.  Das  darin  befindliche  Gas  verflüchtigt 
sich  so  schnell,  daß  schon  nach  einer  halben 
Stunde  der  Wagen  betreten  und  wieder  in  Ge- 
brauch genommen  werden  kann.  Die  Rückstände 
in  den  Schalen  und  Tonkrügen  sind  ebenfalls  giftig 
und  werden  am  besten  in  einer  Grube  mit  Erde 
bedeckt."  Wenn  man  die  Anwendung  der  Me- 
thode wegen  der  großen  Giftigkeit  der  Blausäure 
scheue,  so  weise  er  darauf  hin,  daß  in  Nordamerika 
trotz  des  großen  Umfanges  der  Anwendung  von 
Blausäureräucherungen    im    Laufe    von    mehreren 


Dezennien  kein  einziges  Menschenleben  an  dadurch 
verursachter  Blausäure  Vergiftung  verloren  ging; 
allerdings  würde  das  Verfahren  dort  von  völlig 
damit  vertrauten  Leuten  ausgeführt.  Die  Kosten 
sind  verhältnismäßig  gering.  Der  Preis  für  100  kg 
Cyannatrium  stellt  sich  auf  220  M.  (bei  größerer 
Menge  noch  billiger);  und  für  einen  Kubikmeter 
Rauminhalt  werden  nur  10  g  benötigt  (außer 
15  ccm  Schwefelsäure  und  20  ccm  Wasser). 
Kathariner. 

Paläontologie.  Die  Lichadiden  des  Eifler 
Devons.  Unter  den  4  Lichasarten'j,  die  aus  dem 
Eüler  Devon  durch  die  schönen  Untersuchungen 
von  Rud.  und  E.  Richter  bekannt  geworden 
sind  (Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie 
und  Paläontologie  1917,  i.  Bd.  2.  Heft),  verdient 
LichasarmatusGoldf,  jener  seltsame  Trilobit 
mit  seiner  abenteuerlichen  Gestalt,  unser  ganz 
besonderes  Inteiesse.  Die  Art  wurde  von  Goldfuß 
auf  Grund  von  spärlichen  Bruchstücken  rekon- 
struiert und  später  durch  Beyrich  und  Barrande 
etwas  berichtigt.  Die  erste  gute  Abbildung  gab 
Broili  in  Zittel,  Grundzüge  der  Paläontologie  1915 
F.  1359  S.  622,  indessen  sind  die  charakteristischen 
Leuchtturmaugen,  welche  nach  Ansicht  der  Ver- 
fasser in  dieser  Figur  den  Eindruck  von  ge- 
bogenen Panzerhörnern  machen  und  darum  auf 
Augenlosigkeit  schließen  lassen,  auf  Grund  der 
neueren  Untersuchungen  von  Richter  nicht 
richtig  wiedergegeben.  Heute  liegen  durch  die 
meisterhaften  und  sehr  geschickten  Präparations- 
und Gewinnungsmethoden  der  Herren  Dohm 
und  Drehling  in  Gerolstein  wahre  Prachtpanzer, 
ja  die  vollkommensten  Trllobitenpräparate  der 
Welt  vor.  Sie  entstammen  den  GeeserTrilobiten- 
feldern ,  wo  ungemein  günstige  Ablagerungsbe- 
dingungen selbst  die  empfindlichsten  Zierate  unver- 
sehrt erhalten  haben.  Das  Sediment  ist  von 
außerordentlicher  I'^einheit  und  ruhig  abgesetzt 
worden,  so  daß  die  Trilobitenpanzer  häufig 
in  ungestörtem  Zusammenhange  sich  finden.  Ein 
ganzer  Lichas  armatus  mit  all  seinen  sperrigen 
Hörnern  ist  anderswo  überhaupt  noch  nicht  be- 
kannt geworden. 

Was  die  Deutung  der  überreichen  Hörner- 
bildung auf  dem  Kopf-  und  .Schwanzschild  an- 
belangt, so  kann  die  biologische  Wirkung  dieser 
langen  von  der  Panzeroberseite  nach  allen  Rich- 
tungen des  Raumes  ausstrahlenden  Stacheln  ent- 
weder in  einer  Verteidigungsbewaffnung  oder  in 
einer  Bewegungserleichterung  oder  in  beidem  zu- 
sammen gesucht  werden.  Im  Verteidigungszustande 
konnten  die  Schwebestachehi  durch  Vermehrung 
des  Sinkwiderstandes  die  Ruderarbeit  der  Beine 
beim  Schwimmen  entlasten. 

Lichas  armatus   kommt  im  Eifler  Mitteldevon 


>)  Die  Galtung  Lichas  enlhält  nach  B  ro  ili-Zittel,  Grund- 
züge der  Paläontologie  S.  622  in  Lichas  Kibeiroi  Delg.  aus 
dem  unteren  Silur  von  Portugal  und  Frankreich  den  größten 
bekannten  Trilobiten. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


von    der  Cultrijugatusstufe    bis    in    das    Hangende 
der  Calceolastufe,  außerdem  noch  in  Belgien  vor. 
V.  Hohenstein. 

Forstwirtschaft.  Wildschaden  durch  Fasanen. 
Nicht  nur  das  jagdbare  Haarwild  verursacht  in 
WaldundFeldmancherleiSchaden,')auchdasVVirken 
des  jagdbaren  Federwildes  ist  häufig  be- 
sonders auf  den  dem  Walde  benachbarten  Feldern 
zum  Nachteil  des  Landwirtes  zu  verspüren.  Hier 
sind  es  vor  allem  die  Fasanen,  welche  durch 
das  Abpicken  der  Blattspitzen  vom  jungen  Getreide, 
vom  Klee  oder  Kohl  oder  durch  das  Aufscharren 
des  eben  besäten  Ackerbodens  Grund  zu  Klagen 
bieten.  Kein  einsichtsvoller  Jagdbesitzer  wird  be- 
streiten, daß  dadurch  von  den  Fasanen  manches 
Unheil  gestiftet  wird.  Aber  in  vieler  Beziehung 
sind  die  Fasanen  doch  besser  als  ihr  Ruf.  Wenn  näm- 
lich behauptet  wird,  daß  sie  sich  im  Sommer 
größtenteils  durch  das  Abäsen  von  Körnerfrüchten 
nähren,  so  schießt  diese  Anklage  weit  über  das 
Ziel  hinaus.  Um  einen  einwandfreien  Nachweis 
über  die  Nahrung  der  F"asanen  zu  erbringen,  wurden 
auf  Veranlassung  eines  höheren  Forstbeamten  in 
einem  bayrischen  Revier,  in  dem  einer  Gemeinde- 
verwaltung auf  ihre  Beschwerde  wegen  schwerer 
Schädigungen  durch  Fasanen  der  Abschuß  von 
lOO  Vögeln  genehmigt  worden  war,  von  dem  k. 
Förster  Ennerst  in  .A.  in  der  Zeit  vom  i.  August 
bis  12.  September  des  vergangenen  Jahres  93  Fasanen 
auf  ihren  Kropfinhalt  untersucht  (Deutscher 
Jäger,  39.  Jahrg.  1917,  Nr.  18).  Die  Unter- 
suchungen ergaben,  daß  von  den  93  Fasanen,  die 
alle  in  der  unmittelbaren  Umgebung  der  angeblich 
so  schwer  beschädigten  Feldfluren  erlegt  worden 
waren,  nur  43  Stück  —  das  sind  46  "/o  —  über- 
haupt Getreidekörner  im  Kropf  hatten;  bei  der 
Mehrzahl  davon  waren  nur  einige  wenige  Körner 
zu  entdecken,  im  höchsten  Falle  betrug  die  Ge- 
treidekörnermenge 73  des  gesamten  Kropfinhaltes. 
Dabei  ist  weiterhin  zu  bedenken,  daß  es  sich  bei 
dieser  geringen  Körnermenge  voraussichtlich 
nur  um  Getreidekörner  handelt,  die  bei  der 
Nahrungssuche  mit  vom  Boden  aufgepickt 
wurden,  also  um  ausgefallenes  Getreide,  das  für 
den  Landwirt  sowieso  verloren  gewesen  wäre. 
Diese  Annahme  gewinnt  dadurch  an  Wahrschein- 
lichkeit, daß  die  im  Kropf  der  Fasanen  festgestellten 
Getreidekörner  hauptsächlich  solchen  Getreidearten 
angehörten,  welche  an  der  Fundstelle  schon  abgemäht 
waren.  Auf  den  Stoppelfeldern  hatten  dann  die 
Fasanen  Nachlese  gehalten.  Neben  diesen  geringen 
Körnermengen  fanden  sich  als  überwiegender  Kropf- 
inhalt viel  Unkrautsamen  —  die Carexarten,  Hirse- 
gräser, Knöterich  und  Wachtelweizenarten  gelten 
als  beliebte  Nahrungspflanzen  der  Fasanen  —  ver- 
schiedene  Insekten  (besonders  viele  Heu- 
schrecken), Schnecken,    denen    die  Fasanen  ja 

')  Vgl.  hierzu  meinen  Bericlit  „Verhinderung  von  Wild- 
schäden im  Walde"  in  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  15.  Bd. 
S.  704. 


bekanntlich  eifrig  nachstellen,  und  verschiedene 
Wild-  vor  allem  Himbeeren.  Die  Vertilgung 
vieler  Schadinsekten  und  Schnecken  mildert  gewiß 
in  mancher  Hinsicht  den  Schaden,  den  die  Fasanen 
zugestandenermaßen  verschulden.  Immerhin  wäre 
es  wünschenswert,  wenn  derartige  Kropfunter- 
suchungen künftig  immer  und  immer  wieder 
angestellt  würden,  damit  es  allmählich  gelänge, 
die  Legende  von  der  übermäßigen  Schädlichkeit 
der  Fasanen  der  Übertreibung  zu  überführen. 
H.  W.  Frickhinger. 

Die  Schädlichkeit  der  Amsel.  Noch  vor  wenigen 
Jahrzehnten  war  die  Amsel  ein  reiner  Waldvogel, 
der  sich  nur  ungern  in  die  Nähe  menschlicher 
Behausungen  wagte.  \)  Erst  durch  die  allmählich 
immer  gründlicher  werdende  Durchforstung  unserer 
Wälder,  die  das  den  Amseln  vornehmlich  als 
Brutgelegenheit  dienende  Gesträuch  nicht  mehr 
dulden  wölke,  wurde  die  Amsel  stetig  mehr  in 
die  Nähe  städtischer  Parks  und  Anlagen  gedrängt. 
Gerade  dort  fand  sie  ja,  was  ihr  im  Walde  immer 
mehr  zu  fehlen  begann,  dichte  Hecken  und 
Sträuchergruppen,  in  denen  sie  nisten  konnte. 
Daß  vielleicht  auch  für  manche  Gegenden,  wie 
es  Liebe  (Ornithologische  Schriften  S.  314/15) 
für  Thüringen  angibt,  die  immer  weitere  Ver- 
breitung der  Anpflanzung  von  wildem  Wein  und 
Schneebeerensträuchern,  deren  Früchte  die  Amsel 
sehr  bevorzugt,  mitgewirkt  haben  mag,  die  Amsel 
in  der  Nähe  der  Menschen  festzuhalten,  mag  wohl 
zutreffen,  verallgemeinern  werden  sich  diese  Be- 
obachtungen aber  sicher  nicht  lassen.  So  weist 
sie  W.  Hennemann  (Ornithologische  Monats- 
schrift 42.  Jahrg.  1917  Nr.  6)  für  das  Sauerland 
ausdrücklich  zurück.  Wie  dem  aber  auch  sei,  die 
Tatsache  jedenfalls  steht  fest,  daß  die  Amsel  stetig 
mehr  aus  dem  Walde  ab  und  in  die  Nähe  der 
menschlichen  Wohnorte  zieht.  Je  mehr  nun 
diese  Wandlung  sich  vollzog,  desto  lauter  ertönten 
die  Klagen  über  den  Schaden,  den  die  Vögel  in 
den  Obstgärten  einmal  durch  die  Vertilgung  von 
Beeren-  und  feinerem,  saftigem  Baumobst  und  von 
Gemüse  und  dann  auch  durch  die  Vernichtung 
kleinerer  nützlicher  Singvögel,  wie  Rotkehlchen, 
Rotschwänzchen  und  Grasmücken  verursachen. 
Diese  Klagen  zahlreicher  Obstgartenbesitzer  sind 
von  anderen,  allerdings  zumeist  unbeteiligten  Be- 
obachtern nicht  unwidersprochen  geblieben,  so 
daß  es  sich  lohnt  von  einem  Überblick  Kenntnis 
zu  nehmen,  den  Prof  Dr.  L.  Reh  im  „Praktischen 
Ratgeber  für  Obst-  und  Gartenbau"  (32.  Jahrg. 
1917  Nr.  8)  über  die  „Amselfrage"  gibt:  im  Walde 
ist  die  Amsel  ohne  Frage  ein  nützlicher  Vogel; 
nährt  sie  sich  doch  zumeist  von  Insekten,  von 
Schnecken  und  Würmern.  Die  Wildbeeren,  die  sie 
daneben  noch  verzehrt,  fallen  ihrer  animalischen 
Nahrung  gegenüber  kaum  ins  Gewicht.  Auch  die 
Amsel,  die  sich  öffentliche  Anlagen  und  Ziergärten 

')  Vgl.    dazu    meinen     Bericht    „Krammelsvogelfang     im 
Dohnenstieg"    im    heurigen    Jahrg.  dieser  Zeitschrift   (S.  318). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


551 


zu  ihrem  ständigen  Aufenthalt  erkoren  hat,  stiftet 
primär,  d.  h.  so  lange  an  ihrer  ursprünglichen 
Nahrung  kein  Mangel  besteht,  keinen  merkbaren 
Schaden.  Erst  wenn  die  Zahl  der  Vögel  sich 
stark  erhöht  und  ihre  Nahrungsquellen  dadurch 
knapper  werden,  können  die  Amseln  zu  ausge- 
sprochenen Schädlingen  werden;  sie  spüren  dann' 
den  Nestern  kleinerer  Singvögel  nach,  aus  denen 
sie  die  Eier  sowohl  wie  die  Jungen  rauben.  Die 
Amsel  endlich,  die  in  den  Nuizgärtnn  mit  Edel- 
obst oder  gar  in  Weinbergen  sich  einnistet,  wird 
in  den  allermeisten  Fällen  ziemlich  bald  durch 
ihre  verheerende  Tätigkeit  in  den  Obstkulturen 
(Erdbeeren,  Johannis-  und  Stachelbeeren,  Kirschen, 
Pflaumen,  Birnen  usw.)  und  an  den  Rebenpflanzen 
auffallen  und  sich  immer  mehr  zu  einer  lästigen 
Plage  entwickeln.  Dabei  ist  allerdings  darauf  hin- 
zuweisen, daß  dieser  Schaden  durch  den  Nutzen, 
den  die  Amseln  durch  die  Vernichtung  zahlreicher 
Schadinsekten  (Schnaken-  und  HaarmückenJarven, 
Drahtwürmer    usw.)    stiftet,    wieder   einigermaßen 


verringert  wird.  Immerhin,  die  Tatsache  ist  nicht 
zu  leugnen:  in  Nutzgärten  undWeinbergen 
kann  dieAmsel  zu  einem  großenSchäd- 
ling  werden,  deren  Beseitigung  —  im  Winter 
durch  Abschuß,  im  Sommer  durch  Vernichtung 
der  Brut  —  für  den  Obstgartenbesitzer  geradezu  zu 
einer  Notwendigkeit  werden  kann,  wenn  er  seine 
Kulturen  vor  der  Vernichtung  bewahren  will.  Mir 
haben  Münchener  Nutzgartenbesitzer  geklagt,  daß 
sie  in  ihren  Gärten  bestimmte  Kulturen,  vor  allem 
Erdbeerpflanzungen,  einfach  aufgeben  mußten,  weil 
es  ihnen  nicht  gelang,  der  Amsel  Herr  zu  werden. 
Da  es  nun  eben  ein  wirksames  Mittel,  die  Amsel 
an  der  Vernichtung  gewisser  Edelobslkulturen  zu 
verhindern,  nicht  gibt,  wird  man  es  den  von  ihr 
heimgesuchten  Gartenbesitzern  nicht  verübeln 
dürfen,  wenn  sie  diesen  vom  Standpunkt  des 
Naturfreundes  aus  ja  sehr  reizvollen  Vogel  im 
Bereich  ihres  Besitzes  unter  keinen  Umständen  zu 
dulden  gewillt  sind.  H.  W.  Frickhinger. 


Anregungen  und  Antworten. 


„Kant  und  Herder  als  Vorläufer  Weismann  s." 
Zu  den  unter  obigem  Titel  in  Nr.  16  der  Naturw.  Wochenschr. 
abgedruckten  Ausführungen  W.  May 's  gestatte  ich  mir  darauf 
hinzuweisen,  daß  lange  vor  den  Tagen  Kan  t  's  und  H  er  d  er 's 
schon  ein  Naturforscher,  und  zwar  kein  geringerer  als 
Aristoteles,  die  Weism  an  n 'sehen  Forschungsergebnisse 
intuitiv  vorausgeahnt  hat.  Auf  der  im  Juli  1916  zu  Christiania 
abgehaltenen  Naturforschcrversammlung  zeigte  einer  der  be- 
deutendsten nordischen  Gelehrten,  Prof.  W.  Johannsen  aus 
Kopenhagen ,  zum  ersten  Male  diese  Tatsache  der  Über- 
einstimmung zwischen  den  Ideen  Aristoteles'  und  Weis- 
mann's  in  bezug  auf  die  Vererbungslehre  auf,  indem  er 
darauf  aufmerksam  machte,  daß  bereits  Aristoteles  die 
Anschauung  vertreten  habe,  der  menschliche  Körper  baue 
sich  aus  Samenzellen  auf,  lasse  aber  bei  dieser  Arbeit  stets 
einen  Teil  unverbraucht  (ind  somit  zur  Vererbung  für  die 
nächste  Generation  frei. 

Bei  Aristoteles,  dem  ebenso  scharfen  Naturbeobachter 
wie  Denker,  stehen  zu  Anfang  noch  mehrere  Auffassungen 
der  Vererbung  nebeneinander.  Auf  drei  Punkte  stützte  er 
sich  bei  Aufstellung  seiner  Vererbungstheorie:  einerseits  wies 
er  auf  den  unüberwindlichen  Unterschied  zwischen  den  ein- 
zelnen Menschen  hin,  andererseits  hatte  er  beobachtet,  daß 
„dennoch  die  Erziehung  es  vermag,  die  Natur  zu  ändern", 
und  drittens,  daß  man  vermittels  Kreuzung  die  verschiedenen 
Eigenschaften  modifizieren  kann. 

Die  ältere  griechische  Auffassung  ging  dahin,  daß  der 
Vater  der  einzige  Erblasser  im  biologischen  Sinne  sei; 
Hippokratcs  v/ar  es ,  der  die  Theorie  aufgestellt  hatte.,  die 
Vererbung  beruhe  darauf,  daß  von  allen  Teilen  des  männ- 
lichen Körpers  der  Same  sich  die  Eigenschaften  sozusagen 
zusammenhole,  so  daß  kleine  Abbilder  der  Körperteile  in 
ihm  vertreten  seien.  Der  Anteil  der  Mutter  bestehe  lediglich 
darin,  die  Frucht  in  sich  aufzunehmen  und  ihr  zum  Wachstum 
zu  verhelfen.  Aristoteles  hingegen  verfocht  die  Ansicht, 
die  in  unseren  Tagen  Weismann  mit  Hilfe  des  modernen 
wissenschaftlichen  Rüstzeugs  ausgebaut  hat,  und  die  in  dem 
geflügelten  Wort  von  der  Unsterblichkeit  der  Einzeller  und 
dem  ewigen  Leben  der  Keimzellen  —  sowohl  der  Samen- 
körperchen  wie  der  Eier  —  ihren  Ausdruck  gefunden  hat. 
Die  Keimzellen  sterben,  nach  Weis  mann,  nicht,  sondern 
vermehren  sich  durch  Spaltung,  und  aus  ihrer  ewig  sich  er- 
neuernden Kette  schießen  die  Menschen  auf  wie  rasch  ver- 
welkende Schößlinge  aus  einem  immer  lebenden  Wurzelstock. 
Die  Anschauung,  daß  nicht  nur  der  Vater,  sondern  auch  die 
Mutler  Anteil  habe  an  der  Zusammensetzung  des  werdenden 
Wesens,    vertritt    auch    schon  Aristoteles.      Wenn  er  auch 


nach  wie  vor  den  Anteil  des  Mannes  für  den  eigentlich 
schöpferischen,  lebengebenden  hielt,  während  er  das  Weib 
mehr  als  diejenige  ansah,  die  in  ziemlich  passiver  Weise 
Material  für  das  Wachsen  der  Frucht  abzugeben  hat,  so 
finden  wir  hier  doch  den  ersten,  lange  vor  Entdeckung  der 
Samenkörper  im  Mikroskop  gemachten  Anlauf  zu  der  modernen 
Auffassung. 

Von  dieser  Vorstellung  ausgehend,  kommt  Aristoteles 
zu  einer  Kritik  der  Hippokratischen  Auffassung  und  erörtert 
mit  großem  Scharfsinn  die  Frage,  inwieweit  die  Erblichkeits- 
einheiten, wie  wir  sie  nennen  würden,  aus  den  verschiedenen 
Teilen  des  Körpers  in  den  Samen  zusammenströmen,  und  in 
einer  späteren  Schrilt  nimmt  er  ausgesprochen  Stellung  für 
eine  vollständige  Kontinuität  der  Keimzellen.  Hier  treffen 
seine  Anschauungen  wiederum  mit  denen  Weismann' s  zu- 
sammen, der  ja  bekanntlich  in  dieser  Kontinuität  einen  der 
wichtigsten  Faktoren  der  modernen  Vererbungslehre  aufgestellt 
hat.  Nach  Weismann 's  Theorie  bilden  nur  die  in  den 
Geschlechtsdrüsen  zurückgebliebenen  .Anlagen  den  Ausgangs- 
punkt und  Bestand  für  die  Eigenschaften  des  nächsten  Ab- 
kömmlings. Diejenigen  Anlagen  hingegen,  die  sich  von  den 
Keimzellen  abspalten  und  in  den  (Jrganismus  übergehen, 
verschwinden  mit  dem  Individuum;  die  Eigenschaften,  die  das 
Individuum  während  seiner  Entwicklung  erwirbt,  können 
ebensowenig  vererbt  werden.  —  Prof.  Johannsen  hat,  wie 
erwähnt,  die  Übereinstimmung  zwischen  den  Lehren  des 
Aristoteles  und  Weismann's  zum  ersten  Male  aufge- 
deckt. Wohl  waren  im  Verlauf  des  vorigen  Jahrhunderts  die 
gleichen  Ideen  noch  einmal  aufgetaucht  —  bei  Golds  on — , 
von  einer  Beeinflussung  beider  Forscher  durch  Aristoteles' 
Hypothesen  ist  jedoch  nichts  bekannt  geworden.     M.  K. 


Zwei  Erdbebenursachen  von  anscheinend  noch  unbeach- 
teter Möglichkeit.  Gelegentlich  einer  Mitteilung  über  elek- 
trische Erscheinungen  bei  Erdbeben  (S.  736  d.  vor.  Jahrg.  d. 
Ztschr.)  wies  ich  auf  die  Möglichkeit  hin,  daß  in  der  Erd- 
kruste eingeschlossene  umfangreichere  Luftmengen,  in  sogenann- 
ten Hohlräumen,  Gewitterbildung  zulassen  so  oft  sich  hin- 
reichende elektrische  Potentiale  angesammelt  haben,  wozu  dort 
keine  ungünstigeren  Bedingungen,  als  in  Luflmeere  außerhalb 
der  Erdkruste,  gegeben  sein  mögen,  —  im  Gegenteil,  manch- 
mal sogar  günstigere,  die  entsprechend  heftigere  Gewitter 
auslösen,  verbunden  mitErschütterungen  der  umliegenden  festeren 
Erdkrustenteile,  bis  zur  äußeren  Erdoberfläche,  wo  sie  sodann 
als  Erdbeben  empfunden  werden. 

Das    Vorkommen    von  Massendefekten    in    der    Erdkruste 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  39 


gestattet  nun  aber  noch 
eine  weitere  Möglichkeit, 
auf  die  hier  meines 
Wissens  ebenfalls  zum 
ersten  Male,  als  versuchs- 
weise denkbare  Ursache 
von  Krdbeben,  hinge- 
wiesen sei :  Wir  kennen 
Gegenden  der  Erdober- 
fläche ,  wo  vulkanische 
Ausbrüche,  einst  nichts 
Seltenes,  seit  vielen  Jahr- 
tausenden nicht  mehr  zu- 
tage traten,  die  aber  heute 
Erdbebenzentren  sind. 
Gemeldete  Beobachtun- 
gen aus  solchen  Gegen- 
den scheinen  mir  nun  die 
Frage  zu  gestatten ,  ob 
dort  immerhin  auch  heute 
noch  vulkanische  Wir- 
kungen fortdauern,  deren 
Ausbrüche  nur  nicht  nach 
außen,  sondern  nach 
innen,  in  die  Massen- 
defekte der  Erde  hinein, 
gerichtet  sind,  so,  bei- 
spielsweise, in  lufi-  oder 
wassergefüllte  Kavernen, 
unter,  neben  oder  über 
dem  Vulkanherd,  ein- 
dringend. Namentlich  die 
reichliche  Wasserüber- 
deckung der  Ausbruchs- 
stelle in  der  Kaverne 
könnte,  will  mir  scheinen, 
sehr  wohl  in  Betracht 
kommen  als  wirksame 
Vorbedingung  für  eine 
merkliche  Erschütterung 
der  Erdkruste,  bis  zur 
äußeren  Erdoberfläche, 
wo  sodann  auch  der 
endovulkanische  Aus- 
bruch sich  als  Erdbeben 
bemerkbar  macht. 

Ganz  besonders 
könnte  dabei  gefragt 
werden,  ob  nicht  in  sol- 
chen Kavernen  die  sehr 
bedeutende  Masse  der 
überlagernden  Schichten 
den  Abfall  des  Gravita- 
tionspotentials weniger 
steil  macht,  als  er  bloß 
unter  Atmosphärendecke 
ist,  so  daß  in  den  Ka- 
vernen größere  Massen 
durch  geringere  Kräfte 
bewegt  werden,  als  an 
unserer  Erdoberfläche, 
—  wo  demgemäß  bei- 
spielsweise die  Gezeiten- 
erscheinung sich  auf- 
fassen ließe,  als  ermög- 
licht durch  vorüber- 
gehende partielle  Paraly- 
sirung  der  irdischen 
Schwerkraft  seitens  der 
Lunargravitation  und  da- 
raufhin verursacht 
durch  eine  intermittirend 
frei  werdende  Kompo- 
nente der  ,, Schleuder- 
kraft" in  den  plastischen 
Schichten  des  rotirenden 
Erdkörpers. 

J.  J.  Taudin  Chabot. 


Sie 

mm 

is^etftnttiiditt  itw^ 


dmudunXanM 


Literatur. 

Dem  oll,  Prof.  Dr. 
R.,  Die  Sinnesorgane  der 
Arthropoden,  ihr  Bau  und 
ihre  P'unktion.  Braun- 
schweig '17,  Fr.  Vieweg 
&  Sohn.  —   10  M. 

Schuster,  PastorW., 
Die  Tierwelt  im  Welt- 
kriege. Heilbronn,  A.O. 
Müller.   —    1,25   M. 

Inhalt:   E.  Hennig, 

Untersuchungen  mit  der 
Wünschelrute.!  I  Abb.) 
S.537.  — H.W.Frick- 
hinger.  Die  deut- 
schen Seidenbaubestre- 
bungen und  das  Pro- 
blem der  Schwarzwur- 
zelfütterung.      S.    541. 

—  Einzelberichte : 
Stremmc,  Über  die 
geologischen  Ursachen 
der  Zerstörung  von  Tal- 
sperren. S.  545.  J. 
O  f  fe  r mann, Beiträge 
zur  Geologie  der  Ko- 
lonie Neupommern. 
S.546.  O.Greulich, 
Die  Kreolen.  S.  546. 
Bardachzi  u.  Zol- 
ta  n  ,  Mitteilungen  über 
das  auffallend  häufige 
V'orkommen  der  Faden- 
würmer (Nematoden) 
als  Darmschmarotzer 
des  Menschen  im  Osten, 
besonders  in  Wol- 
hynicn.  S.  547.  H. 
Rausch  V.  Trau- 
be nberg,  Röntgen- 
röhre, die  auf  ver- 
hältnismäßig einfache 
Weise  gestattet  nach- 
einander die  Röntgen- 
spektren verschiedener 
Metalle  zu  untersuchen. 
S.548.  A  ins  He,  Vor- 
übergang des  Saturn- 
ringes. S.  548.  S. 
Oppenheim,  Bau 
des  Universums.  S.  548. 
K.  Escherich,  Be- 
kämpfung der  Läuse- 
plage. S.  549.  R.  u. 
E.  Richter,  Die 
Lichadiden  des  Eifler 
Devons.  S.  549.  En- 
nerst,  Wildschaden 
durch  Fasanen.  S.  550. 
L.Reh,  Die  Schädlich- 
keit der  Amseln.  S.  550. 

—  Anregungen  und 
Antworten:  Kant  und 
Herder  als  Vorläufer 
Weismann's.  S.  55 1. 
ZweiErdbebenursachen 
von  anscheinend  noch 
unbeachteter  Möglich- 
keit. S.  551. 

IWAni.sk-, pie  und  Zu- 
schriften werden  an  Prof. 
Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin 
N  4,  Invalidenstraße  42, 
erbeten. 

Verlag  von 
Gustav    Fischer   in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen 
Buchdr.    Lippert    &    Co. 

G.  ra.  b.  H., 
Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  16.  B 
:r  ganzen  Reihe   32 


Sonntag,  den  7.  Oktober  1917. 


Nummer  40. 


Gehört  die  Psychologie  zu  den  Naturwissenschaften 


Von  Dr.  Aloys  Müller. 


Die  Frage,  ob  die  Psychologie  zu  den  Natur- 
wissenschaften gehört,  hat  man  vielfach  von  einem 
prinzipiellen  Standpunkte  aus  zu  beantworten 
gesucht.  Im  allgemeinen  sind  dabei  zwei  gegen- 
sätzliche Auffassungen  hervorgetreten.  Die  eine 
betrachtet  die  Psychologie  von  vorneherein  als 
philosophische  Disziplin.  Anstatt  den  Tatbestand 
der  Erfahrung  unbefangen  hinzunehmen  und  zu 
durchforschen,  läßt  sie  sich  von  populären  Ge- 
danken oder  von  erkenntnistheoretischen  Sonder- 
interessen zu  einer  Konstruktion  der  Psychologie 
verleiten,  die  mit  Metaphysik  anfängt  und  endigt. 
Sie  legt  natürlich  Sternenweite  Unterschiede  zwi- 
schen Psychologie  und  Naturwissenschaft.  Die 
zweite  Auffassung  erklärt  alles  Psychische  physio- 
logisch. Psychisch  ist  ihr  nur  ein  Wort,  ein  Name, 
den  man  im  populären  Sprachgebrauch  dulden 
kann.  Sie ;  muß  ebenso  selbstverständlich  die 
Psychologie  zur  Naturwissenschaft  schlagen. 

Beide  Standpunkte  sind  heute  in  der  wissen- 
schaftlichen Psychologie  durchschnittlich  über- 
wunden. Heute  will  man  wissen,  wie  das  psychische 
Leben  in  Wirklichkeit  aussieht,  und  hat  jedenfalls 
soviel  erkannt,  daß  es,  rein  phänomenologisch  be- 
trachtet, ein  Geschehen  sui  generis  und  mit  dem 
physischen  Geschehen  unvergleichbar  ist.  Die 
heutige  psychologische  Wissenschaft  hat  den  prin- 
zipiellen, konstruierenden  Standpunkt  verlassen. 
Es  fragt  sich  nun,  ob  in  ihren  Augen  die  Psycho- 
liogie  zur  Naturwissenschaft  zu  rechnen  ist  oder 
nicht.  Die  folgenden  Ausführungen  wollen  die 
Antwort  geben. 

I. 

Die  Geschichte  zeigt  einen  bestimmenden 
Einfluß  der  Naturwissenschaft  auf  die  heutige 
Psychologie. 

Es  ist  vielleicht  ein  Irrtum,  die  Entstehung  der 
Psychologie  ganz  auf  die  Einwirkung  der  Natur- 
wissenschaft zurückzuführen.  Bei  der  Geburt  einer 
Wissenschaft  wirken  so  viele  Motive,  oft  dem 
äußeren  Blick  verborgen,  zusammen,  daß  man 
selten  eines  allein  verantwortlich  machen  kann. 
So  mag  die  Voraussetzung  für  die  Möglichkeit 
einer  wissenschafdichen  psychologischen  Arbeit  in 
dem  langsamen  Wandel  und  der  Konzentration 
des  Denkens  gelegen  sein,  die  sich,  u.  a.  von 
Kant  und  dem  deutschen  Idealismus  genährt,  im 
Anfange  des  19.  Jahrhunderts  vollzogen.  Ein 
eigenartiges  Spiel  von  Motiven  begann  damals. 
Indem  die  genannten  Einflüsse,  vor  allem  durch 
die  gründliche  (wenn  auch  einseitige)  Überwindung 
der  Lehre  vom  inneren  und  äußeren  Sinn  und 
durch    die  Heraushebung    des  Subjektiven    in  der 


Erfahrung,  den  Sinn  vom  Äußeren  aufs  Innerliche, 
Geistige  wandten,  riefen  sie  das  Interesse  an  der 
P.sychologie  wach  und  schufen  auch  die  Voraus- 
setzung für  ein  besseres  Verständnis  des  Charakters 
des  Psychischen.  Dieselbe  Philosophie  aber,  aus 
der  ein  Teil  dieser  Wirkungen  hervorging,  weckte 
als  Gegensatz  zu  ihrer  willkürlichen  Phantasie- 
konstruktion der  Wirklichkeit  den  naturwissen- 
schaftlichen Tatsacheninstinkt,  der  die  Natur- 
wissenschaft gegen  Ende  der  ersten  Hälftes  des 
genannten  Jahrhunderts  zu  einer  gewaltigen  Höhe 
zu  erheben  begann.  Sobald  aber  dieser  Tatsachen- 
sinn wieder  zum  Bewußtsein  erwacht  und  erstarkt 
war  und  sich  auszuwachsen  begann,  wirkte  er 
seinerseits  bestimmend  auf  das  gerade  aus  dem 
Schlummer  sich  erhebende  Interesse  für  psycho- 
logische Dinge  ein,  das  teilweise  von  denselben 
Motiven  positiv  ausgelöst  worden  war,  die  ihn 
selber  negativ  ausgelöst  hatten. 

In  dreifacher  Hinsicht  ist  der  Einfluß  der 
Naturwissenschaft  erwähnenswert.  Einmal  wurde 
der  Geist  jetzt  entschieden  auf  die  Tatsachen,  auf 
Erfassung  der  Wirklichkeit,  auf  Empirie  gerichtet. 
Die  Wirklichkeil  ist  da  und  muß  erforscht  werden ; 
sie  wird  nicht  a  priori  konstruiert.  F'ürs  zweite 
wurden  die  Forschungsmethoden  und  ihre  Hilfs- 
mittel aufs  Feinste  ausgebildet.  Fürs  dritte  end- 
lich hat  einer  der  größten  naturwissenschaftlichen 
Gedanken,  der  damals  bewußt  formuliert  wurde, 
tief  eingewirkt:  ich  meine  das  Energieprinzip. 
Und  zwar  mittelbar  und  unmittelbar:  mittelbar, 
indem  es  die  biologischen  und  physiologischen 
F"orschungen  förderte,  unmittelbar,  indem  es  eine 
umfassende  gesetzmäßige  Natureinheit  zu  verbürgen 
schien.  Man  wird  heute  das  letztere  vielleicht 
nicht  ganz  verstehen,  wie  es  ja  überhaupt  schwer 
ist,  bei  veränderten  Lagen  die  Wirksamkeit  histo- 
rischer Motive  zu  würdigen.  Aber  man  braucht 
nur  den  V.Abschnitt  in  F"echn  er's  „Elementen 
der  Psychophysik",  einem  der  ersten  wissenschaft- 
lichen Werke  der  I^sychologie,  einzusehen,  um  den 
gewaltigen  Einfluß  zu  fühlen,  den  das  Energie- 
prinzip auf  die  Konzeption  der  Psychophysik  aus- 
geübt hat.  Gewiß  spielen  auch  hier  wieder  Ge- 
danken allgemeinerer,  philosophischer  Art  hinein. 
Aber  es  ist  bei  der  Entwicklung  der  Naturwissen- 
schaft nicht  anders  gegangen. 

Von  ganz  besonderem  Einfluß  war  unter  den 
Naturwissenschaften  die  Physiologie,  und  deshalb 
muß  ihr  ein  eigenes  Wort  gewidmet  sein.  Sie 
machte  auf  die  umfassende  Bedingtheit  des  Psy- 
chischen durch  das  Physiologische  aufmerksam. 
Durch  sie  wurde  eine  Menge  von  neuen  Tatsachen 
und  Zusammenhängen  entdeckt  und  von  bekannten 


S54 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


verständUch.  Ihre  Methoden  wurden  direkte  Vor- 
bilder für  die  psychologische  Forschung.  Der 
Name  von  Helmholtz  allein  mag  an  die  Be- 
deutsamkeit der  Berührung  von  Physiologie  und 
Psychologie  erinnern.  Helmholtz  war  dabei 
außerordentlich  behutsam.  Er  sagte  sogar  einmal, 
er  wolle  die  Erscheinungen  des  Sehens  lieber  auf 
die  tatsächlich  vorhandenen,  wenn  auch  noch  un- 
erklärten einfachen  psychischen  Tätigkeiten  auf- 
bauen als  auf  Hypothesen  über  die  Einrichtung 
des  Nervensystems  und  die  Eigenschaften  der 
Nervensubstanz.  So  dachte  man  nicht  immer.  Der 
Einfluß  der  Physiologie  war  so  mächtig,  daß  das 
berechtigte  Suchen  nach  der  Gebundenheit  der 
Seele  an  das  Gehirn,  wie  in  den  einleitenden 
Worten  schon  angedeutet,  in  den  prinzipiellen 
Standpunkt  einer  dogmatischen  physiologischen 
Metaphysik  umschlug,  die  zwar  heute  im 
wesentlichen  überwunden  ist,  deren  Nachwir- 
kung aber  auf  einzelnen  Gebieten  immer  noch 
verspürt  werden  kann.  Erst  die  letzten  Jahre 
haben  die  Einführung  psychologischer  Gesichts- 
punkte in  Forschungsbezirke  gebracht,  wo  bis 
dahin  unbestritten  die  Physiologie  die  Herrschaft 
hatte;  so  haben  wir  noch  nicht  lange  erst  eine 
Psychologie  der  Raumwahrnehmung  des  Auges, 
den  Versuch  einer  psychologischen  Gedächtnis- 
hypothese u.  a. 

Schließlich  ist  noch  ein  naturwissenschaftlicher 
Gedanke  von  großer  Bedeutung  für  das  Wachs- 
tum der  Psychologie  geworden,  nämlich  der  erst 
von  Darwin  im  vollsten  Umfang  in  die  Wissen- 
schaft eingeführte  Entwicklungsgedanke.  Unter 
seinem  Einfluß  entstanden  Kinder-  und  Tierpsy- 
chologie, und  zur  Entwicklung  der  Völkerpsychologie 
hat  er  Großes  beigetragen. 

II. 

Unter  diesem  Einfluß  mußte  die  Psychologie 
werden,  was  sie  geworden  ist,  eine  Tatsachen  - 
wissenschaft. Damit  nahm  sie  auch  dieselbe 
Stellung  zur  Erkenntnistheorie  ein,  die  die  Natur- 
wissenschaft sich  errungen  hatte:  sie  wurde  er- 
kenntnistheoretisch neutral. 

Es  ist  richtig,  daß  die  Philosophie  an  der  Ent- 
stehung und  Entwicklung  von  Naturwissenschaft 
und  Psychologie  beteiligt  gewesen  ist.  Es  ist 
richtig,  daß  gewisse  philosophische  Anschauungen 
für  ein  naives  Denken  in  Naturwissenschaft  und 
Psychologie  naheliegen  und  auch  oft  als  nahezu 
selbstverständlich  betrachtet  wurden.  Es  ist  richtig, 
daß  wohl  schwerlich  ein  Naturwissenschaftler  und 
Psycholog  ohne  eine  bestimmte  philosophische 
Auffassung  der  Dinge  der  Welt  gelebt  hat.  Aber 
ebenso  richtig  ist  es,  daß  die  Wissenschaft 
der  Natur  und  des  Psychischen  von  allen  philo- 
sophischen Weltanschauungen  unabhängig  ist. 
Phänomenologisch  ist  uns  Psychisches  und  Physi- 
sches, jedes  in  seiner  Eigenart,  gegeben.  Die 
Erlebniswirklichkeit  zeigt  uns  physische  Dinge 
und  Vorgänge  und  psychisches  Geschehen.    Aller- 


dings faßt  sie  der  naive,  nicht  kritische  Mensch 
gewöhnlich  realistisch.  Aber  von  solchen  Deutungen 
des  Gegebenen  müssen  wir  hier  absehen.  Der 
Erlebniswirklichkeit  unterliegt  jeder  Erkenntnis- 
theoretiker seine  Auffassung.  Sie  ist  also  mit 
keinem  dieser  hunderterlei  Standpunkte  in  der 
Weise  notwendig  verbunden,  daß  von  ihr  ein 
Weg  zu  einem  von  ihnen  hinführte.  Sie  ist  Aus- 
gangspunkt und  Endpunkt  für  alle  Formen  des 
kritischen  Denkens. 

Ein  Beispiel  mag  meine  Meinung  über  diese 
Dinge  ganz  deutlich  machen.  Als  einst  Galilei 
den  Kampf  um  das  kopernikanische  System  kämpfte, 
wurde  von  seinen  Gegnern  immer  wieder  der  Auf- 
und  Untergang  der  Sonne  als  ein  Moment  für 
Ptolemäus  ins  Feld  geführt.  Galilei  erwiderte 
darauf  im  Saggiatore  mit  der  folgenden  klugen, 
aber  von  seinen  Gegnern  nie  verstandenen  Über- 
legung: Wenn  Kop  er  n  i  ku  s  Recht  hat,  wie  muß 
dann  der  scheinbare  Sonnenlauf  aussehen?  —  Ge- 
nau so,  wie  er  in  Wirklichkeit  aussieht.  Wenn 
Ptolemäus  Recht  hat,  wie  muß  er  sich  dann 
darstellen?  —  Gleichfalls  genau  so,  wie  er  sich 
in  Wirklichkeit  uns  darstellt.  Also  muß  zwar 
jedes  Weltsystem  die  Wirklichkeit,  die  wir  sehen, 
ableiten  können,  aber  diese  Wirklichkeit  spricht 
weder  für  noch  gegen  Kopernikus  oder 
Ptolomäus. 

Genau  so  ist  es  in  unserem  Falle.  Die  Er- 
lebniswirklichkeit beweist  nichts  für  irgendeine 
Erkenntnistheorie.  Sie  ist  das  Rohmaterial,  bei 
dem  alles  Forschen  einsetzt.  Sie  genügt  auch 
der  Naturwissenschaft  und  der  Psychologie.  Die 
erkenntnistheoretische  Neutralität  dieser  Wissen- 
schaften ist  ein  strenger  und  scharfer  Ausdruck 
für  ihren  Erfahrungscharakter  oder,  wenn  man 
will,  seine  notwendige  Grundlage.  Diese  Wissen- 
schaften fragen  sich  nicht,  was  das  „Wesen"  des 
Physischen  und  Psychischen  sei,  ob  es  „im  tiefsten 
Grunde"  wirklich  Verschiedenes  oder  doch  Eines 
sei  und  in  welchem  Sinne  Eines;  das  metaphysische 
„Wesen"  eines  Dinges  ist  nichts,  das  zur  Kenntnis 
seiner  Wirksamkeit  innerhalb  des  Gegebenen  auch 
nur  ein  Jota  beitragen  könnte.  Diese  Auffassung 
hat  in  der  Naturwissenschaft  weit  mehr  ihre  Heimat 
gefunden  als  in  der  Psychologie.  Wenn  ein  Lehr- 
buch der  Physik  es  versuchen  würde,  den  Idealis- 
mus zu  verteidigen,  oder  zu  zeigen,  daß  der  Stoff 
aus  materia  prima  und  forma  substantialis  bestehe 
oder  im  Grunde  etwas  Psychisches  sei,  so  würde 
der  gesunde  Instinkt  der  Physiker  sich  dagegen 
auflehnen,  auch  wenn  sie  die  wissenschaftstheore- 
tische Unterlagen  für  ihre  richtige  Empfindung 
nicht  geben  konnten.  Seltsamerweise  läßt  man 
so  etwas  in  der  Psychologie  noch  immer  durch- 
gehen; es  gibt  wenige  Lehrbücher,  die  sich  davon 
frei  halten.  Aber  für  uns  kommt  es  ja  auch  nicht 
darauf  an,  wie  die  einzelnen  Gelehrten  darüber 
denken,  die  sich  meistens  nicht  einmal  Rechen- 
schaft über  solche  Dinge  geben.  Sondern  wir 
suchen  das  Ideal  einer  Wissenschaft  zu  zeichnen, 
wie  es  sich  dem  heutigen  kritischen  Denken  dar- 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


555 


stellt.  Und  die  Wissenschaft  ist  ja  mehr  als  die 
Summe  der  Gedanken  ihrer  Vertreter. 

Eine  Grundlage  der  Naturwissenschaft  und 
Psychologie,  die  der  vorstehenden  auf  den  ersten 
Blick  ähnelt,  ist  von  Mach  und  neuerdings  von 
Ziehen  (Die  Grundlagen  der  Psychologie.  2  Bde. 
191 5)  zu  geben  versucht  worden.  In  Wahrheit 
ist  sie  wesentlich  von  der  unseren  verschieden. 
Ziehen  geht  vom  Gegebenen  aus  und  versteht 
darunter  alles,  was  wir  erleben,  und  so,  wie  wir 
es  erleben.  Das  ist  scheinbar  unser  Ausgangs- 
punkt. Dadurch,  daß  Ziehen  aber  das  Gegebene 
in  die  zwei  Klassen  der  Empfindungen  und  Vor- 
stellungen einteilt,  zeigt  er,  wie  wesentlich  anders 
er  es  auffaßt.  IVIir  scheint  seine  Auffassung  schon 
eine  Deutung  des  Gegebenen  einzuschließen.  Denn 
niemand  erlebt  in  seiner  Wirklichkeit  nur  Kom- 
plexe von  Empfindungen  und  Vorstellungen;  das 
sagt  ihm  erst  die  kritische  wissenschaftliche  Analyse. 
Von  dieser  Deutung  schreitet  nun  aber  Ziehen, 
ähnlich  wie  IVlach,  sofort  zur  Metaphysik.  Denn 
er  behauptet  (I,  7),  es  folge  aus  dem  Begriffe  des 
Gegebenen,  daß  die  Bildung  einer  Vorstellung  von 
etwas,  das  von  dem  Gegebenen  absolut  wesens- 
verschieden wäre,  unmöglich  sei.  Das  heißt  mit 
anderen  Worten,  daß  das  Gegebene  —  Empfin- 
dungen und  Vorstellungen  —  die  Wesensbestand- 
teile der  Welt  darstellt,  —  und  das  ist,  man  mag 
es  drehen  und  wenden  wie  man  will,  Metaphysik. 
Als  Beispiel,  wie  man  es  nicht  machen  soll,  mag 
dieser  Ansatz  Ziehen 's  hier  stehen  bleiben. 

Man  darf  nun  zweierlei  an  unserer  Auffassung 
nicht  mißverstehen.  Erstens  ist  durch  sie  die 
Theorie  der  in  Betracht  stehenden  Gebiete  gar  nicht 
ausgeschlossen.  Der  Physiker  entwirft  Weltbildermit 
Molekeln,  Atomen,  Ionen,  Elektronen,  Magnetonen 
usw.,  ohne  aufzuhören,  erkenntnistheoretisch  neu- 
tral zu  sein.  Es  war  ein  Irrtum  Mach 's  und 
ein  Zeugnis  für  seine  heimliche  Metaphysik,  wenn 
er  zufolge  seines  „nichtmetaphysischen"  Stand- 
punktes die  Atome  usw.  verwerfen  zu  müssen 
glaubte;  man  darf  sie  natürlich  ablehnen,  aber  die 
Ablehnung  kann  niemals  in  dem  nichtmetaphysisciien 
Charakter  der  Stellungnahme  ihren  Grund  finden. 
Der  Psycholog  kann  sich  beliebige  Bilder  von  den 
psychischen  Elementen,  ihrem  Charakter,  ihrer 
Zahl,  ihren  Verbindungen  und  ihrer  Entwicklung 
machen,  ohne  die  erkenntnistheoretische  Neutralität 
seiner  Wissenschaft  zu  verletzen.  Ja  er  braucht 
sie  sogar  nicht  zu  verletzen,  wenn  er  sich  des 
psychologischen  Parallelismus  und  der  Wechsel- 
wirkungstheorie als  psychologischer  Deutungs- 
prinzipien bedient.  Sobald  ein  Forscher  einen 
metaphysischen  Standpunkt  einnehmen  will,  formen 
sich  seine  phänomenologischen  Theorien  nach 
diesem  Standpunkte  um. 

Zweitens  leugnet  unsere  Auffassung  nicht,  daß 
Naturwissenschaft  und  Psychologie  zu  philosophi- 
schen Problemen  führen  können  und  sogar  führen 
müssen.  Man  hat  in  leicht  verständlichem  Miß- 
trauen auf  der  naturwissenschaftlichen  Seite  die 
Philosophie  lange  Zeit  schief  angesehen ;  der  Nach- 


geschmack der  S  c  h  e  1 1  i  n  g '  sehen  Naturphilosophie 
war  noch  zu  stark.  Erst  in  den  letzten  Jahrzehnten 
hat  sich  die  Anschauung  gewandelt.  Heute  haben, 
ohne  daß  es  irgendwie  auffällt,  Werke,  wie  die 
„Enzyklopädie  der  mathematischen  Wissenschaften", 
die  „Kultur  der  Gegenwart"  in  dem  Teil,  der  die 
Mathematik,  Naturwissenschaften  und  Medizin  um- 
faßt, die  Behandlung  philosophischer  Fragen  vor- 
gesehen und  zum  Teil  schon  durchgeführt.  Ähn- 
lich sehen  auch  zahlreiche  Psychologen  die  Philo- 
sophie als  ein  Gebiet  an,  wo  die  docta  ignorantia 
Herrscherin  ist.  Auch  das  ist  nach  Lage  der  Dinge 
unschwer  verständlich,  geht  aber  theoretisch  ent- 
schieden zu  weit,  wie  man  auch  heute  einzusehen 
beginnt.  Payot,  ein  Ribot -Schüler,  bemerkt 
einmal  treffend:  die  heutige  Auffassung  schließt 
nicht  die  Psychologie  von  der  Metaphysik,  sondern 
die  Metaphysik  von  der  Psychologie  aus. 

III. 

Eine  Folge  des  empirischen  Charakters  der 
Psychologie  ist  das  Eindringen  psycholo- 
gischer Betrachtungen  in  dieTier-  und 
Pflanzenkunde. 

Tierpsychologie  ist  zwar  seit  dem  Altertum 
betrieben  worden,  bestand  aber  größtenteils  in 
oberflächlicher  Anlehnung  an  die  menschliche 
Psychologie  oder  in  metaphysischen  Konstruk- 
tionen. Die  Tierkunde  hatte  Recht,  wenn  sie  sich 
gegen  solche  unwissenschaftlichen  Versuche  wehrte. 
Sie  hatte  allerdings  Unrecht,  wenn  sie  in  den  ent- 
gegengesetzten Fehler  verfiel  und  kein  Psychisches 
anerkennen  wollte.  Das  alles  ist  in  neuerer  Zeit 
anders  geworden.  Die  Tierpsychologie  hat  sich, 
wie  die  Psychologie  des  Menschen,  zu  einer  Er- 
fahrungswissenschaft entwickelt,  und  nun  verschließt 
sich  die  Naturwissenschaft  ihr  auch  nicht  länger. 
In  naturwissenschaftlichen  Jahrbüchern  pflegen  Be- 
richte über  tierpsychologische  Arbeiten  wieder- 
zukehren, naturwissenschaftliche  Sammelwerke 
scheuen  sich  nicht,  solche  aufzunehmen,  und  in 
Lehrbüchfern  der  Biologie  der  Tiere  findet  man 
häufig  genug  psychologische  Ausführungen.  Man 
hat  das  richtige  Bewußtsein,  daß  zu  den  Lebens- 
äußerungen der  Tiere  auch  die  psychischen  gehören. 

Nicht  so  günstig  steht  die  Sache  in  der 
Pflanzenkunde.  Seit  Lamarck  hat  man  immer 
wieder  psychische  Faktoren  hinter  Äußerungen 
des  pflanzlichen  Lebens  finden  wollen;  nicht  immer 
mit  der  nötigen  Vorsicht.  Erst  in  der  neuesten 
Zeit  haben  diese  Versuche  einen  wirklich  wissen- 
schaftlichen Charakter  angenommen.  Trotzdem 
die  Entwicklungslehre,  wie  es  scheint,  zur  Aner- 
kennung wenigstens  des  Daseins  solcher  Faktoren 
zwingt,  haben  sie  bei  den  Botanikern  noch  lange 
nicht  dieselbe  Liebe  gefunden  wie  bei  den  Zoologen. 

Jedenfalls  stellen  die  besprochenen  Verhältnisse 
den  Anfang  eines  Ineinanderdringens  zweier  Wissen- 
schaften dar,  die  bisher  weit  geschieden  waren. 
Sie  beruhen  auf  dem  Gefühl  eines  gewissen  Zu- 
sammengehörens,    einer  Art    von  Verwandtschaft, 


556 


Maturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


sind  aber   noch    nicht  der  Ausdruck    einer    klaren 
methodischen  Einsicht. 

IV. 

Hat  die  tatsächliche  Entwicklung  der  Psycho- 
logie ihren  Charakter  als  Erfahrungswissenschaft 
ganz  außer  Zweifel  gestellt,  so  ist  dieser  Charakter 
wissenschaftstheoretisch  aber  erst  dadurch 
begründet  worden,  daß  man  die  Struktur  der 
Psychologie  hauptsächlich  im  Gegensatz  zur  Logik 
—  im  allgemeinen  zu  jeder  Wissenschaft,  die  sich 
mit  Werten  beschäftigt  —  erfassen  gelernt  hat. 
Weil  dieser  Punkt  grundlegend,  aber  auch  schwierig 
ist,    müssen    wir   bei  ihm  etwas  länger  verweilen. 

Eingesetzt  hat  diese  Aufklärung  nicht  bei  der 
Psychologie,  sondern  bei  der  Logik.  Befaßt  die 
Logik  sich  mit  dem  „Denken",  so  gehört  sie  eigent- 
lich zur  Psychologie;  denn  das  Denken  geht  doch 
in  unserer  Seele  vor  sich.  Andererseits  sind  die 
Verschiedenheiten  der  beiden  Gebiete  so  augen- 
fällig, daß  man  das  eine  nicht  als  einen  Teil  des 
anderen  ansehen  kann ;  um  sie  zu  scheiden,  waren 
deshalb  gezwungene  Konstruktionen  nötig.  Wenn 
man  Heidegger  (Die  Kategorien-  und  Bedeu- 
tungslehre des  Duns  Scotus.  1916)  glauben  darf, 
dann  hat  Scotus  —  und  vielleicht  auch  ein 
großer  Teil  der  Scholastik  —  den  Sinn  der  Logik 
schon  klar  erfaßt.  Jedenfalls  ist  aber  diese  Er- 
rungenschaft, wenn  sie  bestand,  vollständig  ver- 
loren gegangen ;  die  Überreste  der  Scholastik,  die 
sich  in  die  heutige  Zeit  hinübergerettet  haben, 
weisen  keine  Spur  eines  solchen  Verständnisses  mehr 
auf.  Die  wissenschaftstheoretische  Grundlage  der 
Logik  hat  erst  das  vorige  Jahrhundert  geschaffen. 
Mit  Bolzano  (Wissenschaftslehre  1834  ff.)  und 
mit  Lotze  (Logik  1874)  traten  die  Ansätze  zur 
richtigen  Bestimmung  des  Gegenstandes  der  Logik 
auf,  der  dann  von  Husserl,  besonders  aber  von 
Rickert  in  seiner  ganzen  Klarheit  erfaßt  wurde. 
Auf  der  psychologischer^Seite  ging  die  Scheidung 
der  psychologischen  und  der  logischen  Frage- 
stellung erst  im  Beginn  dieses  Jahrhunderts  haupt- 
sächlich von  K  ü  1  p  e  und  seinen  Schülern  aus. 
Heute  ist  durch  dieses  Ineinanderarbeilen  von  zwei 
Seiten  die  allgemeine  Frage  nach  dem  Charakter 
des  „Denkens"  völlig  geklärt,  wenn  auch  die  nähere 
Erforschung  beiderseits  erst  in  den  Anfängen  steckt. 

Das  „Denken"  kann  etwas  Psychisches  und 
etwas  Logisches  bedeuten.  Um  das  aufzuzeigen, 
gehen  wir  von  dem  Element  alles  Denkens,  dem 
Urteil,  aus.  Wenn  ich  bei  Betrachtung  von  Natur- 
schauspielen oder  Kunstwerken  oder  beim  Lesen 
von  Büchern  in  einer  Auseinandersetzung  über 
ästhetische  Dinge  oder  in  der  plötzlichen  Erregung 
des  Erlebnisses  das  Urteil  spreche :  „Das  ist  schön", 
so  ist  in  all  diesen  Fällen  das,  was  psychisch  in 
mir  verläuft,  denkbar  verschieden.  Aber  „in"  dieser 
Verschiedenheit,  „in"  dem  ständigen  Wechsel  und 
Ablauf  finden  wir  etwas  Identisches,  Beharrendes: 
den  „Sinn"  des  Urteils.  Er  ist  in  allen  Fällen 
derselbe;  er  ist  also  nichts  Psychisches.  Er  besitzt 
eine  eigene  Wirklichkeitsform,  für  die  Lotze  den 


treffenden  Ausdruck  eingeführt  hat:  er  „ist" 
nicht  zeitlich  wie  das  Physische  und  Psychische, 
sondern  er  „gilt".  Dieses  Gelten  ist  zeitlos;  was 
einmal  gilt,  gilt  ewig,  und  wäre  es  auch  nur  der 
Sinn  eines  so  gleichgültigen  Urteils  wie  dieses: 
Augenblicklich  regnet  es.  Mit  diesem  Sinn  der 
Urteile  befaßt  sich  die  Logik;  er  ist  ihr  eigent- 
licher Gegenstand,  und  da  wir  alles,  was  gilt, 
einen  Wert  nennen,  so  ist  die  Logik  eine  Wert- 
wissenschaft. Für  uns  ist  nun  aber  wichtiger,  daß 
wir  jetzt  imstande  sind,  den  Begriff  des  Psychischen 
zwar  nicht  zu  definieren  —  denn  solche  elemen- 
taren Erlebnisgegenstände  lassensichnicht  definieren 
— ,  aber  eindeutig  zu  umschreiben:  Psychisch 
nennen  wir  alles,  was  neben  dem  Phy- 
sischen und  Physiologischen  in 
lebenden  Wesen  zeitlich  abläuft.  Als 
Charakteristikum  des  Psychischen  gibt  man  oft 
auch  die  Bewußtseinswirklichkeit  an.  Das  paßt 
vielfach,  aber  nicht  immer,  vielleicht  nicht  einmal 
meistens.  Will  man  Physisches  und  Psychisches 
im  Gegensatz  zum  Logischen,  überhaupt  zu  jedem 
Geltungsbehafteten  charakterisieren,  so  muß  man 
als  die  Wirklichkeitsform  beider  Gegenstände  das 
zeitliche  Sein  hinstellen. 

Da  für  jeden,  der  sie  zum  erstenmal  kennen 
lernt,  diese  Aufklärung  nicht  leicht  verständlich 
ist,  so  sei  sie  noch  an  zwei  Analogien  verdeutlicht. 
Das  erste  Bild  werden  nur  physikalisch  gut  Gebil- 
dete ganz  verstehen.  Logischer  Sinn  und  psychi- 
scher Vorgang  verhalten  sich  in  manchen  Punkten 
ähnlich  wie  Entropie  und  Energie.  Energie  und 
Entropie  sind  zwei  völlig  verschiedene  Gegen- 
stände: Energie  ist  eine  physikalische  Größe, 
Entropie  eine  mathematische  Funktion.  Das 
Psychische  ist  ein  zeitliches  Geschehen,  das  Logi- 
sche ein  zeitloses  Gelten.  Die  Entropie  ist  eine 
Funktion  eines  Teiles  der  Energie  eines  Systems; 
das  Logische  ist  eine  Funktion  eines  Teiles  der 
psychischen  Vorgänge  eines  Individuums.  Entropie 
ist  Energie,  aber  gemessen  in  einem  besonderen 
Maße,  dem  Wertmaße;  Logisches  ist  Psychisches, 
aber  gemessen  mit  dem  Wertmaßstab.  In  einem 
geschlossenen  System  ist  die  Energie  konstant, 
ändert  sich  aber  die  Entropie;  nach  dem  von 
Planck  modifizierten  N  ernst 'sehen  Theorem 
hat  die  Entropie,  falls  das  System  ein  chemisch- 
homogener Körper  ist,  beim  absoluten  Nullpunkt 
den  Wert  Null.  Ahnlich  kann  beim  kleinen  Kinde 
(und  beim  Tiere)  das  Psychische  in  nuce  identisch 
sein  mit  dem  Psychischen  des  Erwachsenen,  das 
Logische  ist  nicht  vorhanden;  wandeln  sich  dann 
im  Laufe  der  (ontogenetischen  oder  phylogene- 
tischen) Entwicklung  psychische  Elemente  um  in 
andere  oder  treten  neue  Beziehungen  zwischen 
ihnen  auf,  so  beginnt  bei  einer  gewissen  Stufe  des 
Werdens  das  Logische  zu  wachsen.  Man  sieht : 
Logisches  und  Psychisches  sind  aufs  engste  mit- 
einander verbunden.  Sie  sind  nicht  zwei  Arten 
des  Geschehens,  die  einander  parallel  laufen,  auch 
nicht  zwei  Teile  eines  Geschehens;  das  ist  beides 
schon  durch  den  Charakter  des  Logischen  ausge- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schlössen.  Man  kann  sie  nicht  einmal  als  zwei 
Seiten  eines  Geschehensansehen.  Sie  sind  viel- 
mehr derselbe  Gegenstand,  von  zwei  verschiedenen 
Standpunkten  aus  betrachtet,  die  aber  toto  coelo 
auseinanderliegen  und  die  man  etwa  als  den 
Ouantitäts-  und  den  Wertstandpunkt  bezeichnen 
könnte.  —  Das  zweite  Bild  ist  dem  praktischen 
Leben  entnommen:  Der  Hundertmarkschein.  Das 
Papier  des  Scheins  mit  seinen  physikalisch-chemi- 
schen Eigenschaften  entspricht  dem  Psychischen, 
sein  Wert  innerhalb  des  sozialen  Lebens  dem 
Logischen.  Auch  hier  zeigt  sich,  wie  das  eine 
(das  Papier)  identisch  dasselbe  bleiben  kann, 
während  sein  Wert  (z.  B.  durch  Ungültigkeits- 
erklärung) gleich  Null  wird. 

Ich  möchte  noch  bemerken,  daß  hauptsächlich 
nur  der  Unterschied  der  Gegenstände  der  Logik 
und  der  Psychologie  durch  diese  beiden  Bilder 
veranschaulicht,  nicht  aber  die  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis des  Logischen  und  Psychischen  gelöst  werden 
soll.  Dieses  letztere  Pro.blemgehörtzudenschvvierig- 
sten  der  Forschung,  vor  allem  insofern  wir  wissen, 
daß  das  Logische  auf  das  Psychische  wirken  muß, 
ohne  daß  wir  uns  bis  heute  wegen  der  Verschieden- 
heit dieser  Gegenstände  auch  nur  durch  ein  Bild 
verständlich  machen  können,  wie  das  möglich  ist.  — 

Von  hier  aus  nun  wird  der  Vergleich  der 
Psychologie  mit  den  Naturwissenschaften  ganz  klar. 
Früher  zählte  man  die  Psychologie  zu  den  Geistes- 
wissenschaften, die  sich  mit  allem  beschäftigen 
sollen,  das  irgendwie  psychische  Eigenschaften  und 
Vorgänge  voraussetzt,  während  alles,  was  ohne 
Rücksicht  auf  solche  Vorgänge  untersucht  werden 
kann,  den  Naturwissenschaften  zufiel.  Wir  haben 
aber  gesehen,  daß  der  Schnitt  anders  gemacht 
werden  muß.  Die  Gegenstände  der  Naturwissen- 
schaften und  der  Psychologie  sind  durch  die  gleiche 
Wirklichkeitsform  des  zeitlichen  Seins  charakteri- 
siert. Ferner  läßt  sich,  was  wir  hier  nicht  näher 
ausführen  können,  die  Beziehung  zum  Wert,  den 
wir  auf  einem  bestimmten  Gebiet  als  Gegen- 
stand der  Logik  festsetzten,  bei  allen  Geistes- 
wissenschaften mit  Ausnahme  der  Psychologie 
in  irgendeiner  Form  wiederzufinden.  Die  Psy- 
chologie teilt  also  mit  den  Naturwissenschaften 
dieselbe  Stellung  zum  Werte  und  ist  dadurch  von 
allen  anderen  Wissenschaften  aufs  schärfste  ge- 
schieden. Die  wissenschaftslheoretische  Grundlage 
der  Naturwissenschaften  und  der  Psychologie  ist 
die  nämliche. 


Gegen  diese  Zusammenfassung  von  Psychologie 
und  Naturwissenschaft  sind  manche  Einwen- 
dungen erhoben  worden.  Ich  lasse  die  älteren 
(z.  B.  von  Münsterberg,  Natorp)  unberück- 
sichtigt, weil  sie  sich  nicht  auf  die  Erfassung  der 
logischen  Struktur  aus  dem  Eigenleben  der  Wissen- 
schaften gründen,  sondern  aus  allgemeinen  philo- 
sophischen    Ansichten    fließen.       Nur     die     zwei 


neuesten  bespreche  ich,  von  denen  die  eine  manche 
kritiklose  Zustimmung  erfahren  hat,  während  die 
andere  die  Notwendigkeit  des  Eingehens  auf  einen 
gewissen  Punkt  vor  Augen  stellen  kann,  der  uns 
später  beschäftigen  wird. 

I.  F.  Krüger  (Über  Entwicklungspsychologie 
1915)  meint,  die  heutige  Psychologie  sei  von  dem 
Gedanken  einer  atomistischen  Mechanik  ergriffen, 
sie  wolle  allgemeine  Gesetze  finden,  woraus  das 
psychische  Leben  ableitbar  sei,  wie  in  der  Physik 
die  tatsächlichen  Bewegungserscheinungen  aus  den 
allgemeinen  Prinzipien  der  Mechanik.  Das  sei 
unmöglich.  Die  Psychologie  verkenne,  daß  es  sich 
um  psychisches  Leben  handele,  das  sich  ent- 
wickele, und  zwar  nicht  nur  im  einzelnen 
Individuum,  sondern  vor  allem  auch  in  großen 
kulturellen,  überhaupt  sozialen  Verbänden.  Die 
Psychologie  gehöre  deshalb  nicht  zu  den  Natur- 
wissenschaften, sondern  den  speziellen  Geistes- 
wissenschaften. 

In  diesen  Gedanken  Krüger 's  treffen  wir 
zum  erstenmal  auf  eine  irrige  Verallgemeinerung 
die  uns  noch  mehrmals  begegnen  wird:  Weil  die 
Psychologie  nicht  ist  wie  die  Physik,  gehört  sie 
nicht  zu  den  Naturwissenschaften.  Die  Physik 
wird  also  als  Repräsentant,  als  Typus  der  Natur- 
wissenschaft angesehen.  Nun  wird  aber  kein  ver- 
nünftiger Psycholog  seine  Wissenschaft  nach  Ana- 
logie der  Physik  oder  sogar  der  Mechanik  auf- 
fassen, soweit  die  Ableitbarkeit  des  tatsächlichen 
Geschehens  in  Frage  steht.  Aber  wenn  sie  selbst 
in  betreff  dieser  Dinge  vom  Typus  der  anorgani- 
schen Naturwissenschaften  wäre,  so  würden  Ent- 
wicklungsfragen zu  ihr  in  demselben  Verhältnis 
stehen,  wie  sie  zu  diesen  stehen:  so  wenig  Chemie, 
Physik,  Geophysik,  Astronomie  usw.  dadurch,  daß 
es  eine  Entwicklungsgeschichte  der  Elemente,  der 
Erde,  des  Weltalls  gibt,  aus  der  Reihe  der  Natur- 
wissenschaften gestrichen  werden  müssen,  so  wenig 
gehört  die  Psychologie  infolge  der  Tatsache,  daß 
das  Individuum  und  die  Gattung  ihre  Entwicklung 
haben,  zu  den  Geisteswissenschaften.  Wir  werden 
aber  noch  sehen,  daß  die  Psychologie  im  allge- 
meinen dem  Typus  der  biologischen  Wissenschaften 
näher  kommt,  in  denen  der  Entwicklungsgedanke 
noch  viel  mehr  bedeutet,  ohne  daß  sie  dadurch 
aufhörten,  Naturwissenschaften  zu  sein.  Das  einzige, 
was  an  den  mitgeteilten  Gedanken  Krüge r's 
richtig  erscheint,  ist  dieses,  daß  die  Entwicklungs- 
geschichte unter  Umständen  eine  Wertbeziehung 
einschließen  kann  und  daß  sie,  insofern  sie  das 
tut,  wissenschaftstheoretisch  ein  Zwischengebiet 
zwischen  den  beiden  von  uns  unterschiedenen 
großen  Wissenschaftsgruppen  einnimmt. 

Aber  Krüger  will  die  Verbindung  zwischen 
Psychologie  und  Entwicklungsgedanken  weit  inniger 
machen,  als  wir  sie  bei  dieser  Kritik  vorausgesetzt 
haben  und  als  die  Naturwissenschaft  sie  auf  ihrem 
Gebiete  kennt;  er  behauptet,  das  psychische  Leben 
sei  ohne  Entwicklungstheorie  schlechterdings  un- 
verständlich.    Darin  steckt  indes  eine  große  Über- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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treibung,  die  allein  schon  durch  die  Tatsachen  der 
psychologischen  Forschung  als  solche  gekenn- 
zeichnet ist.  Die  Analogie  mit  den  Naturwissen- 
schaften läßt  sich  nicht  wegleugnen.  Je  kom- 
plexer oder  je  vereinzelter  eine  Erscheinung  ist, 
desto  mehr  nimmt  im  allgemeinen  ihre  kausale 
Erklärung  den  Charakter  einer  entwicklungs- 
geschichtlichen an;  je  elementarer  und  verbreiteter 
eine  Erscheinung  ist,  desto  mehr  ist  ihre  Erklärung 
einfach  kausal.  Diese  Regel  ist  in  ihrem  Grunde 
unschwer  begreiflich.  Zwischen  kausaler  und  ent- 
wicklungsgeschicklicher  Erklärung  besteht  kein 
scharfer  Schnitt;  die  letztere  ist  ebenfalls  kausal, 
nur  daß  sie  sich  auf  ein  Geschehen  bezieht,  das 
einen  längeren  Zeitraum  umfaßt  und  in  dem  ge- 
wöhnlich eine  Reihe  von  Ursachen  zusammen- 
wirkt. Infolgedessen  gibt  es  Erklärungen,  bei 
denen  man  im  Zweifel  ist,  wie  man  sie  bezeichnen 
soll;  würde  man  zum  Beispiel  die  Erklärung,  der 
Ton  entstehe  dadurch,  daß  die  Feldspäte  ihre 
alkalischen  Bestandteile  bei  der  Verwitterung  ver- 
lieren,entwicklungsgeschichtlich  oder  kausal  nennen? 
Es  bestehen  notwendig  Übergänge  zwischen  den 
beiden  im  Wesen  gleichen  Erklärungsarten.  Nie- 
mals kann  deshalb  eine  von  ihnen  ein  Kriterium 
für  die  prinzipielle  Scheidung  von  Wissen- 
schaften darstellen.  Im  übrigen  verteilen  sich  die 
beiden  Erklärungsarten  auf  die  Psychologie  nicht 
wesentlich  anders  als  auf  die  Naturwissenschaften. 
Genau  so  wie  in  der  Chemie  die  Verbindungs- 
gesetze der  Elemente,  in  der  Biologie  das  Leben 
der  Zelle  ohne  entwicklungsgeschichtliche  Betrach- 
tung erforschbar  und  verständlich  sind,  so  in  der 
Psychologie  der  Verlauf  der  psychischen  Vorgänge, 
der  bei  allen  Menschen  wesentlich  derselbe  ist. 
Sobald  es  sich  aber  um  die  Bildung  von  Gebirgen, 
um  Anpassungserscheinungen,  um  Sprache,  Kunst, 
Mythus  handelt,  muß  die  Erklärung  entwicklungs- 
theoretisch werden.  Nicht  als  ob  die  Entwick- 
lungsgeschichte nicht  auch  schon  elementare  Vor- 
gänge beleuchten  könnte;  es  kommt  hier  darauf 
an,  daß  der  tatsächliche  und  gesetzmäßige  Bestand 
erst  festgestellt  sein  muß,  ehe  er  als  Unter- 
lage für  entwicklungstheoretische  Überlegungen 
dienen  kann,  tihe  man  erforschen  kann,  wie  etwas 
geworden  ist,  muß  man  wissen,  wie  es  ist.  Eine 
Wissenschaft  wird  also  um  so  mehr  Anknüpfungs- 
punkte für  solche  Darlegungen  bieten,  je  weiter 
sie  fortschreitet.  Man  muß  aber  beachten,  daß 
das  im  allgemeinen  nur  dann  gilt,  wenn  man  den 
Werdegang  nicht  unmittelbar  sich  vollziehen  sieht, 
ihn  also  nicht  direkt  erforschen  kann;  es  paßt  z.  B. 
nicht  mehr  ganz  auf  die  ontogenetische  Entwick- 
lung des  Menschen.  —  Das  Beigebrachte  wird 
genügen,  um  zu  zeigen,  wie  wenig  Krüger  be- 
rechtigt ist,  einen  prinzipiellen  Unterschied  der 
Psychologie  von  den  Naturwissenschaften  auf  den 
Entwicklungsgedanken  zu  bauen. 

2.  Für  W.  Strich  (Prinzipien  der  psycholo- 
gischen Erkenntnis  1914)  ist  die  Zusammen- 
gehörigkeit von  Psychologie  und  Geisteswissen  sogar 
„selbstverständlich"   (S.  V).      Die  Psychologie    sei 


von  der  Naturwissenschaft  grundsätzlich  verschieden. 
Denn  die  Zeit  habe  für  die  Naturwissenschaft  keine 
Bedeutung.  Die  Naturwissenschaft  beschäftige  sich 
mit  den  historischen  Tatsachen  als  zeitlosen,  der 
Sinn  ihrer  Gesetze  sei  die  Zeitlosigkeit,  d.  h. 
die  (endgültigen,  absoluten)  Gesetze  gelten  zeitlos. 
Dagegen  habe  die  Zeit  für  die  Psychologie  grund- 
legende Bedeutung.  Die  Psychologie  beschreibe 
historisches  Geschehen.  Sie  kenne  keine  Gesetze 
und  keine  Erklärungen  (als  Fallen  eines  einzelnen 
unter  ein  Gesetz),  sie  sei  eine  Sammlung  von 
Wahrnehmungsurteilen.  Sie  sei  Geschichte,  und 
Geschichte  sei  psychologische  Erkenntnis. 

In  dieser  Auffassung  stecken  seltsame  Mißver- 
ständnisse. Wir  wollen  nicht  annehmen,  daß  das 
zeitlose  Gelten  des  Sinnes  der  Gesetze  als  Urteile 
mit  dem  ewigen  Bestehen  der  Gesetze  verwechselt 
ist,  trotzdem  die  Verkennung  des  Wertbegriffes 
darauf  hinzuweisen  scheint.  Die  Naturwissenschaft 
ist  nun  durchaus  nicht  gezwungen,  alle  Gesetze  als 
ewig  bestehend  anzusehen.  So  ist  es  beispiels- 
weise möglich,  daß  das  Gesetz  des  Wachstums 
der  Entropie  im  geschlossenen  System  nur  für 
die  heutige  Weltperiode  gilt.  Das  ist  lediglich 
eine  Tatsachenfrage,  die  sich  aus  dem  Begriff  des 
Gesetzes  heraus  nicht  entscheiden  läßt.  Selbst 
wenn  aber  Strich  das  Ideal  des  naturwissen- 
schaftlichen Gesetzes  richtig  zeichnet,  dann  folgt 
daraus  nicht,  daß  die  Zeit  für  die  Naturwissenschaft 
keine  Bedeutung  habe.  Die  Naturwissenschaft  hat 
nicht  nur  Gesetze  aufzustellen,  sondern  diese  Ge- 
setze sind  ihr  ein  Mittel  zum  Zweck,  nämlich  zum 
Bestimmen  der  Veränderungen  in  der  Zeit.  Man 
muß  eine  hundertfache  Binde  vor  Augen  haben, 
um  nicht  zusehen,  wie  sich  die  Relativitätsüber- 
legungen der  heutigen  Physik  um  die  Bestimmung 
des  Zeitbegriffes  drehen.  Von  den  vielen  unbe- 
greiflichen Charakterisierungen  der  Naturwissen- 
schaft, denen  man  begegnet,  ist  dies  sicherlich 
eine  der  unbegreiflichsten,  daß  ihr  die  Zeit  gleich- 
gültig sei.  Nehmen  wir  aber  selbst  diese  Charak- 
terisierung als  richtig  an,  so  würde  sie  die  Psycho- 
logie nur  dann  in  eine  andere  Wissenschaftsgruppe 
verweisen,  wenn  die  Psychologie  keine  Gesetze 
kennte;  denn  kennte  sie  welche,  dann  wären  sie 
notwendig  „zeitlos"  wie  die  naturwissenschaftlichen. 
Diese  Voraussetzung  hat  Strich  aber  durchaus 
nicht  bewiesen,  ja  nicht  einmal  zu  beweisen  ver- 
sucht, sondern  immer  nur  behauptet.  Wir  werden 
uns  mit  ihr  noch  genauer  in  dem  übernächsten 
Abschnitt  zu  beschäftigen  haben.  Hier  sei  nur 
dies  betont.  Das  Geschehen,  mit  dem  sich  die 
Naturwissenschaft  befaßt,  verläuft  genau  so  zeit- 
lich, wie  das  Geschehen,  das  Gegenstand  der 
Psychologie  ist.  Beschreibt  also  die  Psychologie 
historisches  Geschehen,  dann  die  Naturwissenschaft 
gleichfalls.  Kennt  die  Naturwissenschaft  Gesetze, 
dann  kann  die  Psychologie  an  und  für  sich  auch 
welche  kennen.  Ist  die  Psychologie  in  demselben 
Sinne  eine  Tatsachenwissenschaft,  wie  die  Natur- 
wissenschaft —  und  wir  hörten,  daß  das  der  Fall 
ist  — ,  dann  muß  sie  sogar  welche  haben. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


559 


VI. 

Wo  wir  jetzt  stehen,  bedarf  es  nur  noch  einer 
passenden  Bestimmung  des  Begriffes  „Natur", 
um  die  Psychologie  auch  formell  unter  die  Natur- 
wissenschaften aufzunehmen. 

Man  pflegt  „Natur"  und  „Geist"  als  Gegensätze 
hinzustellen  und  darauf,  wie  schon  erwähnt,  den 
einen  Hauptunterschied  der  Wissenschaften  zu 
gründen.  Aber  in  dem  Worte  „Geist"  liegt  wieder 
die  Zweideutigkeit,  die  wir  im  vorletzten  Abschnitt 
klar  zu  machen  versucht  haben.  Gemeint  sind  da- 
mit die  Bereiche  der  logischen,  ästhetischen,  reli- 
giösen usw.  Werte.  Nicht  hinein  fallen  aber  die 
psychischen  Vorgänge.  Hier  haben  wir  also  eine 
Handhabe  für  die  rechte  Scheidung.  Die  Gegen- 
stände der  Naturwissenschaften  und  der  Psychologie 
besitzen  dieselbe  Wirklichkeitsform  des  zeitlichen 
Seins.  Es  gibt  keine  Gegenstände  einer  anderen 
Wissenschaft,  die  ausschließlich  diese  Wirklichkeits- 
formhaben. Verstehen wiralsounter  Natur  alles 
zeitliche  Geschehen,  soweit  es  wert- 
fremd ist,  so  gehört  die  Psychologie  zu  den 
Naturwissenschaften. 

Innerhalb  der  Naturwissenschaften,  zu  denen 
die  Psychologie  wegen  der  allgemeinsten  Charak- 
terisierung ihres  Gegenstandes  zählt,  kann  sie 
natürlich  alle  gebührende  Rücksicht  auf  die  spezi- 
fische Natur  dieses  Gegenstandes  verlangen.  Hier 
muß  und  kann  die  Scheidung  zwischen  den 
physischen  und  psychischen  Vorgängen  in  ihrer 
vollen  Schärfe  beibehalten  werden.  Vor  allem 
werden  die  psychischen  Vorgänge  dabei  das  Merk- 
mal der  Bewußtseinswirklichkeit  zur  Geltung 
bringen.  Nimmt  man  überhaupt  einmal  unbe- 
wußte psychische  Prozesse  an,  dann  ist  es  zwar 
durchaus  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  größere 
Teil  unbewußt  verläuft.  Aber  man  könnte  (viel- 
leicht) immerhin  jenes  Charakteristikum  dahin  er- 
weitern, daß  es  keinen,  von  den  bekannten  psy- 
chischen Vorgängen  der  Art  nach  verschiedenen 
unbewußten  gebe.  Die  sonstigen  Unterscheidungs- 
merkmale des  Psychischen  vom  Physischen  auf- 
zustellen, ist  eine  Angelegenheit,  die  die  Psycho- 
logie besorgen  muß  und  in  der  Hauptsache  besorgt 
hat,  die  uns  also  hier  nicht  weiter  zu  beschäftigen 
braucht. 

VII. 

Es  bleibt  uns  noch  übrig,  zwei  Begriffe  der 
Psychologie  mit  den  entsprechenden  der  Natur- 
wissenscliaft  zu  vergleichen,  weil  beide  in  dem 
Streit  um  die  Stellung  der  Psychologie  die  ver- 
schiedensten Rollen  gespielt  haben.  Es  handelt 
sich  um  die  Begriffe  „E x  p  e  r  i  m  e  n  t"  und  „G  e  s  e  t  z". 
Sie  sind  bald  für,  bald  gegen  den  naturwissen- 
schaftlichen Charakter  der  Psychologie  ins  Feld 
geführt  worden.  Unsere  Aufgabe  ist  also,  zu 
zeigen,  daß  die  psychologischen  Experimente  und 
Gesetze  die  Psychologie  nicht  außerhalb  der 
Naturwissensschaften  stellen. 

I.  Die  Experimente    der  Psychologie    zer- 


fallen in  2  Klassen,  in  solche  ohne  quantitative 
Bestimmungen  und  in  Messungen.  Die  ersteren 
hat  man  wohl  überhaupt  nicht  als  Experimente 
einer  Erfahrungswissenschaft  gelten  lassen  wollen; 
bei  den  zweiten  bezweifelte  man  die  prinzipielle 
Möglichkeit. 

a)  Vielfach  ist  die  Meinung  verbreitet,  zum 
Experiment  gehöre  notwendig  die  quantitative 
Bestimmung.  Darin  liegt  aber  eine  unberechtigte 
Verallgemeinerung  des  Begriffes  des  physikalischen 
Experimentes.  Daß  andere  als  qualitative 
Experimente  auch  in  einer  Naturwissenschaft 
mitunter  ohne  Sinn  sind,  kann  die  Biologie  zeigen. 
Ich  erinnere  an  die  Transplantationsversuche,  an 
die  Experimente  über  Anpassungserscheinungen, 
an  ökologische  Versuche.  Die  einzige  quantitative 
Angabe  bei  derartigen  Versuchen  bezieht  sich  oft 
nur  auf  die  Zeit.  Die  Zeit  ist  aber  im  allgemeinen 
auch  bei  allen  psychologischen  Versuchen  meßbar; 
ihre  Messung  allein  macht  übrigens  auch  eine  Be- 
obachtung nicht  zum  Experiment.  Das  Wesen 
des  Experimentes  besteht  in  dem  vom  Zwecke 
der  Analyse  bestimmten  willkürlichen  Eingreifen 
in  das  Geschehen.  Dieser  Definition  genügen  die 
qualitati\'en  psj'chologischen  Experimente.  Der 
Umstand,  daß  bei  ihnen  kein  Apparat  gebraucht 
wird  oder  gebraucht  werden  muß  (Chronometer 
können  immer  benutzt  werden,  machen  aber  allein 
dasExperiment  nicht  zu  einem  quantitativen),  nimmt 
ihnen  den  Charakter  als  Experiment  nicht.  Denn 
während  das  willkürliche  Eingreifen  in  das  physi- 
sche Geschehen  im  allgemeinen  nur  durch  Instru- 
mente möglich  ist,  kann  die  Psychologie  willkür- 
liche Änderungen  im  psychischen  Verlauf  durch 
Worte  erreichen;  die  VVorte  ersetzen  hier  das 
Instrument. 

b)  Messen  setzt  Größen  voraus.  Größe  im 
gewöhnlichen  Sinne  schreiben  wir  allem  zu,  das 
wir  uns  aus  gleichartigen  Teilen  zusammengesetzt 
oder  in  solche  zerlegt  denken  können. 

Psychische  Größen  dieser  Art  gibt  es  nicht. 
Man  denke  z.  B.  an  die  Knallempfindung  beim 
Abschuß  eines  Gewehres.  Man  kann  von  dieser 
Empfindung  nicht  einen  Teil  wegnehmen  oder 
weggenommen  denken,  der  eine  kleinere  Knall- 
empfindung für  sich  wäre.  Die  psychischen  Größen 
sind  unteilbare  Qualitäten. 

.Aber  die  obige  Definition  paßt  auch  nicht  auf 
alle  pysikalischen  Größen,  z.  B.  nicht  auf  die 
Temperatur,  die  Dichte.  Auch  diese  Größen  haben 
insofern  keinen  Quantitätscharakter,  als  sie  nicht 
aus  gleichartigen  Teilen  zusammengesetzt  oder 
zusammensetzbar  sind.  Sie  haben  Qualitätscharakter. 
Da  sie  aber  ohne  jeden  Zweifel  auch  Größen  sind, 
muß  unsere  Definition  erweitert  werden.  Wir  be- 
zeichnen deshalb  als  Größe  das,  was  auf  irgend- 
eine Weise  Grade  oder  Abstufungen  zeigt.  Jetzt 
lassen  sich  psychische  Größen  finden,  die  darunter 
fallen,  z.  B.  die  Intensität,  der  Qualitätsgrad. 

In  der  Naturwissenschaft  unterscheidet  man 
zunächst  zwei  Arten  des  Messens,  das  direkte  und 
das    indirekte.      Direkt    können    nur    Raum-    und 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


F.  N.  XVI.  Nr.  40 


Zeitgrößen  gemessen  werden.  Beim  indirekten 
Messen  werden  für  die  zu  messende  Größe  Raum- 
größen vermöge  ihres  funktionalen  Zusammen- 
hanges substituiert,  z.  B.  der  Winkelausschlag  des 
Zeigers  beim  Voltmeter  für  die  Spannung.  Man 
hat  nun  vielfach  das  Messen  psychischer  Größen 
als  ein  solches  indirektes  Messen  angesehen.  Darin 
liegt  ein  großer  Irrtum.  Das  direkte  und  indirekte 
Messen  der  Naturwissenschaft  setzt  Größen  im 
Sinne  unserer  ersten  Definition  voraus,  die  es  aber 
im  Bereiche  des  Psychischen  nicht  gibt. 

Nun  kennen  wir  aber  in  der  Naturwissenschaft 
noch  einen  Typus  des  Messens,  der  sich  gerade 
auf  die  Größen  bezieht,  die  uns  zur  Erweiterung 
der  Definition  gezwungen  haben,  also  auf  die 
Qualitätsgrößen,  wenn  man  sie  so  nennen  darf. 
Die  Messung  geht  hier  so  vor  sich,  daß  man  will- 
kürlich gewisse  fixe  Fundamentalpunkte  festlegt  und 
mit  ihrer  Hilfe  Unterschiede  einer  solchen  Größe 
mißt.  Diese  Differenzen,  die  durch  Zahlen  charak- 
terisiert werden,  find  dann  physikalische  Größen 
im  ersteren  Sinne,  die  also  durch  gleichartige 
Differenzen  vermehrt  oder  vermindert  und  vermöge 
ihres  funktionalen  Zusammenhanges  mit  Raum- 
größen indirekt  gemessen  werden  können.  Dieser 
dritte  Typus  des  Messens  kann  nun  auch  bei  den 
psychischen  Größen  Anwendung  finden.  Von  zwei 
psychischen  Größen,  z.  B.  den  Intensitäten  zweier 
Lichtempfindungen,  läßt  sich  zwar  sagen,  daß  die 
eine  größer  oder  kleiner  ist  als  die  andere  (das  kann 
man  auch  z.  B.  bei  der  Temperatur  sagen).  Aber 
weil  eine  Intensität  eine  unteilbare  Größe  darstellt, 
kann  man  nicht  eine  Intensität  als  Maßstab  für 
eine  andere  brauchen,  kann  auch  nicht  das  Ver- 
hältnis zweier  Intensitäten  durch  eine  Zahl  aus- 
drücken. Nur  Intervalle  psj-chischer  Größen  sind 
als  Maßeinheiten  brauchbar.  Die  vorhin  ausge- 
sprochene Folgerung  für  die  physikalischen  Größen 
vom  dritten  Messungstypus,  daß  ihre  Intervalle 
indirekt  durch  Raumgrößen  gemessen  werden 
können,  trifft  aber  für  die  psychischen  Größen  im 
allgemeinen  nicht  zu;  denn  die  Reize,  die  die 
psychischen  Vorgänge  hervorrufen  und  mit  ihnen 
funktional  zusammenhängen,  sind  wegen  der  großen 
Verschiedenheit  physichischer  und  psyscher  Größen 
als  substituierte  Maßstäbe  unbrauchbar. 

Daß  übrigens  den  physikalischen  Größen  vom 
dritten  Typus  und  den  psychischen  Größen  streng- 
genommen keine  Maßzahlen,  sondern  nur  Ordnungs- 
zahlen zukommen,  folgt  aus  ihrer  Charakterisierung. 
Die  kleineren  Unterschiede,  die  die  psychischen 
Messungen  noch  von  den  physikalischen  zeigen 
und  die  auf  der  Eigenart  des  Psychischen  beruhen, 
brauchen  hier  nicht  weiter  erwähnt  zu  werden. 
Es  genügt  uns,  gezeigt  zu  haben,  daß  die  psychi- 
sche Messung  in  der  Grundlage  mit  dem  dritten 
Typus  der  physikalischen  Messung  übereinstimmt. 

2.  Man  hat  der  Psychologie  vorgeworfen,  sie 
kenne  keine  eigentlichen  Gesetze;  denn  sie 
könne  nichts  Zukünftiges  voraussagen.  Das  i.st 
sogar  zu  der  Charakteristik  erweitert  worden,  sie 
sei   überhaupt  keine  Gesetzeswissenschaft.     Diese 


Auffassung  will  ihr  nicht  den  Charakter  einer 
Tatsachenwissenschaft  rauben,  sondern  behauptet 
bloß,  sie  käme  über  das  Beschreiben  nicht  hinaus. 

Wir  setzen  also  voraus  und  glauben  es  auch 
genügend  begründet  zu  haben,  daß  die  Psychologie 
als  Tatsachenwissenschaft  gefaßt  wird.  Dann  wäre 
aber  zunächst  zu  fragen,  was  denn  die  Erforschung 
von  tatsächlichem  Geschehen  für  einen  Sinn  hat, 
wenn  sie  nur  beschreiben  will.  Sie  könnte  nur 
darin  bestehen,  festzusetzen:  Zur  Zeit  tj  geschah 
dieses,  zur  Zeit  t^  jenes  usw.  Daneben  dürfte  sie 
noch  klassifizieren.  Sobald  sie  aber  sagen  würde : 
So  oft  dieses  geschieht,  tritt  auch  jenes  ein,  — 
ginge  sie  über  das  Beschreiben  hinaus.  Solche 
Zusammenhänge  zu  finden,  ist  aber  gerade  der 
Sinn  einer  Tatsachenforschung.  Will  also  die 
Psychologie  überhaupt  Wissenschaft  sein,  dann 
muß  sie  gesetzmäßige  Zusammenhänge  im  psy- 
chischen Geschehen  voraussetzen. 

Daß  man  nun  derertige  Befunde  der  Psycho- 
logie nicht  als  Gesetze  ansieht,  liegt  wiederum  an 
der  einseitigen  Beurteilung  vom  physikalischen 
Standpunkte  aus.  Wir  wollen,  um  ganz  klar  zu 
sehen,  von  dem  Vergleich  der  psychologischen 
Resultate  mit  den  physikalischen  Gesetzen  ausgehen. 

Bezeichnen  wir  mit  f  eine  bekannte,  mit  ip 
eine  unbekannte  Funktion,  so  lassen  sich  die  Ge- 
setze der  Physik  in  zwei  Klassen  scheiden,  die 
wir  durch  die  Formeln  a^f(b)  und  a  =  f/' (b) 
symbolisieren  können.  Die  erstere  kann  man 
quantitative,  die  letztere  qualitative  Gesetze  nennen. 
Qualitative  Gesetze  der  Physik  haben  stets  das 
Bestreben,  in  quantitative  überzugehen.  In  der 
Psychologie  gibt  es  nun  sehr  wenige  quantitative 
Gesetze.  Das  Web  er 'sehe  Gesetz  ist  das  be- 
kannteste dieser  Klasse.  Innerhalb  der  ersten  Klasse 
kann  man  in  der  Physik  verschiedene  Typen  von 
Gesetzen  auseinander  halten  :  a)  endgültige  Gesetze, 

b)  ideale  Gesetze,  die  nur  für  ideale  Körper  gelten, 

c)  Gesetze,  die  nur  innerhalb  eines  bestimmten 
Bereiches  Geltung  haben,  oberhalb  und  unterhalb 
dieses  Bereiches  nicht  mehr.  Die  quantitativen 
Gesetze  der  Psychologie  nähern  sich  wohl  alle 
dem  dritten  Typus.  Ob  allerdings  ihr  logischer 
Charakter  derselbe  ist,  wie  beim  physikalischen 
Typus,  ist  fraglich.  In  der  Physik  handelt  es  sich 
nämlich  dabei  nur  um  vorläufige  Ausdrücke  für 
Zusammenhänge;  in  der  Psychologie  können  die 
formell  gleichen  Verhältnisse  zu  noch  zu  besprechen- 
den Umständen  in  Beziehung  stehen. 

Die  weitaus  meisten  Gesetze  der  Psychologie 
sind  qualitativ.  Auch  ihr  logischer  Charakter  ist 
verschieden  von  dem  der  qualitativen  Gesetze 
der  Physik.  Alle  Gesetze  quantitativ  zu  fassen, 
ist  der  Physik  letzthin  möglich,  weil  sich  sämt- 
liche physikalische  Parameter  quantitativ  ausdrücken 
lassen.  Dagegen  sind  die  qualitativen  Gesetze  der 
Psychologie  im  Durchschnitt  endgültige  Gesetze, 
die  niemals  cjuantitativ  werden  können.  Der  Grund 
liegt  fürs  erste  darin,  daß  die  Größenmessung  der 
Psychologie  nur  einige  Seiten  der  Bewußtseins- 
inhalte fassen  kann,  eben  die,  die  einer  Abstufung 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S6i 


zugänglich  sind,  während  Gegenstände  der  Physik 
nur  meßbare  Größen  sind.  Den  zweiten  Grund 
muß  man  in  der  Eigenart  der  ungeheuer  kom- 
plizierten Struktur  des  Psychischen  sehen.  Die 
Bedingungen  eines  psychischen  Vorganges  sämt- 
lich zu  finden,  sie  willkürlich  zu  variieren  und  zu 
isolieren,  um  jede  in  ihrer  Wirksamkeit  kennen  zu 
lernen,  unter  Umständen  von  ihnen  zu  abstrahieren 
—  alles  Dinge,  die  wir  in  der  Physik  regelmäßig 
ausführen  können  — ,  ist  in  der  psychologischen 
Forschung  einfach  unmöglich.  Wir  kennen  die 
Bedingungen  meist  nur  zum  kleinsten  Teil  und 
auch  diese  nicht  bestimmt  genug.  Daher  kommt 
es  auch,  daß  die  qualitativen  Gesetze  der  Psycho- 
logie oft  an  großer  Unbestimmtheit  leiden. 

Beachten  wir  endlich  noch,  daß  die  Psychologie 
erst  am  Anfang  der  Forschung  steht.  Wir  können 
das  ganze  Gebiet  des  zu  Erforschenden  nicht 
übersehen;  wir  können  sicher  sagen,  daß  wir  noch 
nicht  einmal  alle  Erscheinungen  kennen.  Zweifel- 
los werden  sich  deshalb  im  Laufe  der  Zeit  noch 
viele  qualitative  und  quantitative  Gesetze  der 
Psychologie  ergeben,  andere  werden  bestimmter 
werden.  Aber  über  die  Schranken,  die  in  den 
vorstehenden  Ausführungen  kurz  gezeichnet  sind, 
werden  wir  wohl  im  wesentlichen  nicht  hinaus- 
kommen; denn  sie  liegen  in  der  Eigennatur  des 
Psychischen  begründet. 

Man  sieht,  daß  selbst  am  Maßstab  der  Physik 
gemessen,  die  Psychologie  als  Gesetzeswissenschaft 
bestehen  kann.  Sicherlich  aber  erträgt  sie  den 
Vergleich  mit  den  biologischen  Wissenschaften, 
wo  die  Verhältnisse  ganz  ähnlich  Hegen.  Auch 
hier  muß  man  sich  vielfach,  wie  z.  B.  die  Ökologie 
zeigt,  mit  der  Festsetzung  qualitativer  Gesetzmäßig- 


keit begnügen,  und  zwar  aus  entsprechend  den- 
selben Gründen,  die  vorhin  bei  der  Psychologie 
angeführt  wurden.  Gewiß  ergeben  sich  in  den 
biologischen  Wissenschaften  mehr  quantitative 
Gesetze  als  in  der  Psychologie;  das  liegt  zum  Teil 
an  ihrer  engen  Beziehung  zu  Physik  und  Chemie. 
Aber  sie  können  doch  zeigen,  daß  ein  weiter  Be- 
reich qualitativer  Gesetzmäßigkeit  einer  Wissen- 
schaft nicht  den  Charakter  einer  Naturwissenschaft 
zu  nehmen  imstande  ist. 

VIII. 

So,  wie  sie  im  Vorstehenden  entwickelt  wurde, 
hat  die  Wissenschaftstheorie  der  Psychologie  noch 
nicht  aligemein  Anerkennung  gewonnen.  Wohl 
liegen  die  Motive  und  Mittel,  die  zu  ihr  führen, 
im  heutigen  wissenschaftlichen  Denken  bereit.  Ich 
habe  versucht,  sie  zu  einem  Bilde  zusammen- 
zufassen. Wir  können  deshalb  jetzt  so  formulieren : 
Die  Psychologie  ist  augenblicklich  in 
dem  Prozeß  derLoslösungvon  der  Philo- 
sophie begriffen,  den  die  Naturwissen- 
schaften mit  Galilei  begonnen  und  in 
der  Mitte  des  vergangenen  Jahrhunderts 
beendet  haben.  Daß  ihr  Prozeß  schneller  ver- 
laufen wird,  verbürgt  der  ausgebildete  erkenntnis- 
kritische Sinn  der  Gegenwart.  Faßt  man 
„Natur"  als  zeitliches  Geschehen,  so- 
weit es  wertfremd  ist,  dann  kann  die 
Psychologie  einen  Platz  innerhalb  der 
Naturwissenschaften  beanspruchen, 
ohne  daß  sie  das  Geringste  von  dem 
Sondercharakter  ihres  Gegenstandes 
preiszugeben  braucht. 


Einzelberichte. 


Physiologie.  Über  Immunisierungsversuche 
gegen  das  Bienengift  berichtet  H.  Dold.')  Die 
Wirkung  des  Bienengiftes  auf  Imker  ist  eine  sehr 
verschiedene.  Nach  Langer  (in  Faust,  Die  tier- 
ischen Gifte,  Braunschweig  1906)  waren  von  153 
anfänglich  giftempfiiidlichen  Imkern  nach  mehr- 
jähriger Praxis  126  weniger  empfindlich  geworden, 
14  sogar  giftfest;  unter  164  Imkern  gaben  11  an, 
über  eine  naturgegebene  Immunität  zu  verfügen, 
und  27,  keine  Verminderung  ihrer  Giftempfindlich- 
keit konstatieren  zu  können.  P'erner  lauten  die 
Angaben  der  Bienenzüchter  vielfach  dahin,  daß  die 
Reaktion  im  Frühjahr  jeden  Jahres  auf  die  ersten 
Stiche  eine  größere  sei  und  daß  diese  im  Laufe 
des  Jahres  abnehme.  Von  einer  möglichen  „ab- 
soluten" Immunität  gegen  Bienengift  kann  dem- 
nach keine  Rede  sein.- 

Die  frisch  entleerten,  infolge  Anwesenheit  von 
Ameisensäure  deutlich  sauer  reagierenden  und 
charakteristisch    aromatisch    riechenden    Gifttröpf- 


')  Zeitschr.  f.  Immunitätsforsch,  u.  cxper.  Therapie  Bd.  26, 
Heft  3,   1917. 


chen  der  Honigbiene  wiegen  0,2—0,3  mg  ""d 
haben  ein  spezifisches  Gewicht  von  1,1313.  Beim 
Eintrocknen  bei  Zimmertemperatur  verbleibt  ein 
Rückstand  von  nahezu  30''/o,  der  sich  leicht  in 
Wasser,  nicht  aber  in  96  "/o  Alkohol  löst.  Die 
wirksame  Substanz  ist  nicht  eiweißartiger  Natur, 
sondern,  da  .'\lkaloidreagentien  Fällungen  geben, 
eine  organische  Base  (Langer),  die  sehr  hitze- 
beständig ist.  Sie  verträgt  ein  2  stündiges  Erhitzen 
von   100". 

Dold  drückte  frisch  entnommene  Giftdrüsen 
auf  Filterpapier  aus,  das  er  sich  in  Quadrate  ein- 
geteilt hatte.  Eingetrocknet  und  im  Dunkeln  auf- 
bewahrt, ließ  sich  die  Substanz  monatelang  un- 
versehrt erhalten  und  zur  gegebenen  Zeit  mittels 
physiologischer  Kochsalzlösung  einfach  extrahieren. 

Als  Versuchsobjekte  dienten  Kaninchen,  da 
Langer  bei  ihnen  eine  starke  und  charakteri- 
stische Empfindlichkeit  der  Schleimhäute  von  Nase 
und  Augen  festgestellt  hatte;  0,04  mg  nativen 
Giftes  auf  die  Konjunktiva  übertragen,  erzeugten 
Hyperämie,  Chemosis  und  eitrige  bis  kupröse 
Konjunktivitis.     In  Zwischenräumen   von   je  5—6 


562 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Tagen  injizierte  Dold  je  2  Tropfen  9 mal  nach- 
einander in  das  linke  Auge.  Das  Ergebnis  war: 
Es  zeigte  sich  keine  Änderung  der  Giftwirkung 
im  Laufe  der  Behandlung,  und  nach  Abbrechung 
der  Versuche  reagierten  die  Konjunktiven  beider 
Augen  auf  die  Giftmengen  gleichstark.  Dold 
konstatierte  nur  eine  im  allgemeinen  geringere  Gif- 
tigkeit der  „chinesischen  Biene"  —  er  hatte  mit 
0,2 — 0,3  mg  einen  geringeren  Effekt  als  Langer 
mit  0,04  mg  —  weshalb  er  dieselbe  für  giftärmer 
und  „gutmütiger"  hält. 

Das  Blutserum  der  vorbehandelten  Kaninchen 
bildet  auch  kein  Antitoxin  auf  das  Bienengift. 
Native  Giftlösung  mit  normalem  Serum  oder  mit 
Serum  behandelter  Tiere  gemischt,  reizt  die  Kon- 
junktiva  in  gleicher  Art  und  Weise. 

Von  Interesse  ist  die  Beobachtung  von  Dold 
inbezug  auf  das  schwächere  reaktive  Verhalten 
von  schwarzen  (pigmentreichen)  und  weißen  (pig- 
mentarmen, albinotischen)  Kaninchen.  Weitere 
Untersuchungen  stützten  diese  Merkwürdigkeit.  Da 
die  Giftwirkung  am  Kaninchenauge  eine  Gefäß- 
reaktion darstellt,  erklärt  Dold  die  Erscheinung 
mit  der  größeren  Resorptionsfähigkeit  der  für  Al- 
binos charakteristischen  zarten  Haut  oder  Schleim- 
haut für  das  Bienengift  oder  einer  damit  verbun- 
denen größeren  vasomotorischen  Empfindlichkeit. 
Dold  regt  auf  Grund  seiner  Beobachtung  eine 
erneute  Umfrage  unter  den  Imkern  an  in  der 
Hoffnung,  daß  sich  für  pigmentärmere  Personen 
eine  größere  Empfindlichkeit  feststellen  und  über- 
haupt die  eingangs  erwähnten  verschiedenartigen 
Wirkungsweisen  unter  diesem  einheitlichen  neuen 
Gesichtspunkt  vereinigen  und  erklären  läßt. 

In  theoretisch  serologischer  Hinsicht  sind  die 
Ergebnisse  von  Dold  auch  deshalb  von  Interesse, 
als  durch  sie  ein  weiterer  Beweis  für  die  Ansicht 
erbracht  wurde,  daß  auf  gewöhnliche  chemische 
Gifte  im  Tierkörper  keine  Gegenkörper  gebildet 
werden  können,  daß  also  die  Immunisierung  und 
insbesondere  die  Antikörper-  oder  -toxinbildung 
nur  an  Eiweiße  oder  eiweißartige  Substanzen  ge- 
bunden erscheint.  Thiem. 

Botanik.  Neue  teratologische  Beobachtungen. 
Auf  dem  Gebiete  der  Pflanzenpathologie  und  Tera- 
tologie sind  wir  noch  weit  von  abgeschlossenen 
Kenntnissen  entfernt,  und  immer  wieder  gelingt 
es  sorgfältiger  Betrachtung,  bisher  nicht  bekannte 
Anomalien  nachzuweisen.  Zahlreiche  neue  Beobach- 
tungen auf  diesem  Gebiete  verdanken  wir  L  i  n  g  e  1  s  - 
heim.  In  den  Berichten  der  Deutschen  Botanischen 
Gesellschaft  (Band  34,  Heft  6,  1916)  beschreibt  er 
einige  höchst  merkwürdige  Ascidienbildun- 
gen  der  Blätter  von  Magnolia.  Wenn  auch 
vorher  bereits  solche  Tutenbildungen  an  einigen 
Arten  vereinzelt  beobachtet  werden  konnten,  traten 
sie  doch  nie  in  so  reicher  Entwicklung  auf,  wie 
es  Lingelsheim  bei  Magnolia  acuminata 
L.  an  einem  etwa  3  m  hohen  Baumstrauch  des 
Botanischen  Gartens  in  Breslau  beobachten  konnte. 


Er  ist  geneigt,  in  diesem  Falle  geradezu  von 
„Ascidicnsucht"  zu  sprechen,  deren  innere  Ur- 
sachen allerdings  noch  völlig  dunkel  sind,  wie  sie 
aber  schon  vor  ihm  Lenecek  für  eine  ähnhch 
deformierte  Linde  und  Ulme  vermutet.  Zwei  an 
völlig  ausgewachsenen  normalen  Blättern  aus  dem 
Mittelnerv  dorsal  entspringende  Ascidien  werden 
genauer  beschrieben.  Es  handelt  sich  um  trichter- 
förmige, mehrere  Zentimeter  große  Schlauchblätter, 
die  im  Bau  den  normalen  Blättern  entsprechen 
und  als  sekundäre  Anhang>gebilde  des  sie  tragen- 
den Mutterblattes,  morphologisch  als  Doppel- 
spreiten zu  deuten  sind.  Da  auch  andere  Arten 
der  Gattung  ähnliche  Bildungen  zeigten,  schließt 
Lingelsheim  auf  eine  relative  Häufigkeit 
der  Fälle  bei  Magnolia,  wofür  er  die  eingerollte 
Knospenlage  und  späte  Entfaltung  der  Laubblätter 
verantwortlich  macht.  Zum  Schluß  weist  er  auf 
den  ganz  besonders  merkwürdigen  Fall  einer 
Doppelascidie  bei  Magnolia  conspicua  Salisb. 
hin,  wo  an  dem  Hauptnerven  der  Rückenseite  einer 
Ascidie  wiederum  eine  kleinere  entspringt. 

Zum  ersten  Male  beobachtete  Lingelsheim 
Verwachsungserscheinungen  der  Blatt- 
ränder bei  Arten  der  Gattu  n  g  Sy  r  inga 
(Beihefte  zum  botanischen  Zentralblatt,  33,  Abt. 
I.  1916).  Sie  traten  im  vorigen  Frühjahr  massen- 
haft fast  an  allen  Sträuchern  von  Syringa  vul- 
garis L.  des  Breslauer  botanischen  Gartens  auf, 
bei  anderen  Arten  waren  sie  seltener,  einer  An- 
zahl fehlten  sie  auch  ganz.  Meist  in  der  Mitte 
des  Randes  zweier  benachbarter  Blätter  desselben, 
seltener  übereinanderstehender  Quirle  befindet  sich 
die  wenige  Millimeter  große  Verwachsungsstelle, 
an  der  die  Blätter  oft  förmlich  ineinander  einge- 
falzt erscheinen.  Die  beiden  Spreiten  sind  in  der 
Weise  aneinander  befestigt,  daß  die  Unterseite  des 
einen  Blattes  mit  der  Oberseite  des  anderen  in 
gleicher  Ebene  liegt.  Das  Mesophyll  beider 
Blätter  bildet  ohne  jede  Spur  einer  trennenden 
Epidermis  ein  einheitliches  Gewebe,  wobei  die 
verschmolzenen  Blattpartien  ihre  Elemente  in  um- 
gekehrter Lagerung  darbieten.  Die  Ursache  dieser 
noch  niemals  beobachteten  Erscheinung,  die  ge- 
rade 1916  massenhaft,  auch  außerhalb  Breslaus, 
an  zahlreichen  Fliederbüschen  auftrat,  sieht 
Lingelsheim  in  Witterungseinflüssen.  Nach 
einer  sehr  warmen  Periode  einsetzende,  lang 
herrschende  kalte  Nordwestwinde  wirkten  aus- 
trocknend auch  auf  die  Fliederknospen,  wobei  die 
jungen  Triebe  durch  die  Reste  abgestorbener 
älterer  Blätter  an  der  Entfaltung  gehindert  wurden. 
Der  Druck  dieser  Umhüllung  steigerte  die  Be- 
rührung der  Blattränder  bis  zur  Verwachsung. 
Daher  kommt  er  zu  dem  Schluß,  daß  es  auch 
durch  künstliche  Hemmung  der  Knospenentfaltung 
gelingen  dürfte,  ähnliche  Verwachsungen  experi- 
mentell hervorzurufen.  Nach  mündlicher  Mit- 
teilung hat  Lingelsheim  die  auffallende  Bil- 
dung auch  in  diesem  Sommer  beobachten  können, 
wenn  auch  bei  weitem  seltener  als  im  Vorjahre. 
Es   ist    daher   die  Vermutung    gerechtfertigt,    daß 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S63 


neben  den  genannten  Witterungseinflüssen  auch 
andere  Faktoren  als  Ursache  der  eigenartigen  Ver- 
wachsung angesehen  werden  müssen. 

Eine  sehr  schöne,  typische  Doppelspreiten- 
anlage  fand  Lingelsheim  an  einer  Staude 
von  Aruncus  Silvester  L.  (Zentralblatt  für 
Bakteriologie  usw.  45,  2.  Abt.  Nr.  6/12.  1916). 
Die  jungen,  anormal  gekrausten  Blätter  der 
Pflanze  trugen  fadenförmige,  bis  2  mm  lange 
Emergenzen  von  keulen-  oder  hornförmiger  Ge- 
stalt, die  aus  einem  vielzelligen  Gewebe  bestanden. 
Ähnliche,  nur  größere  Gewebewucherungen  fanden 
sich  auf  der  Unterseite  älterer  Spreiten.  Zwischen 
den  Seitennerven  ziehen  diese  Mißbildungen  von 
der  Mittelrippe  bis  zum  Blattrande,  von  einer  ab- 
norm starken  Behaarung  namentlich  der  Nerven 
begleitet.  Schon  mit  freiem  Auge  bemerkt  man 
an  diesen  Wucherungen  Zähnelung  und  feine 
Nervatur.  Dies  sowie  die  deutliche  Scheidung  in 
eine  dunklere  Oberseite  und  eine  bleichgrüne 
Unterseite  charakterisiert  sie  als  Spreitenbildungen. 
Noch  klarer  trat  dies  bei  mikroskopischer  Be- 
trachtung zutage.  Gleich  dem  Mutterblatte  sind 
sie  bifazial  gebaut  und  stimmen  im  anatomischen 
Bau  ganz  mit  ihm  überein,  so  daß  hier  die  Be- 
zeichnung „Doppelspreitenbildung"  wohl  am  Platze 
ist.  Das  Auftreten  dieser  nach  Küster  ziemlich 
seltenen  Krankheitsform  bei  Aruncus  Sil- 
vester ist  in  diesem  Falle  von  besonderem  In- 
teresse, weil  zum  ersten  Male  auch  ihre 
Ursache  erkennbar  ist.  Wahrscheinlich  han- 
delt es  sich  um  eine  Milbengalle,  wie  denn  auch 
Lingelsheim  auf  zahlreichen  Proben  lebende 
winzige  Milben  in  großer  Zahl  nachweisen  konnte. 

Schließlich  sei  noch  auf  eine  eigenartige  Pilz- 
form hingewiesen,  die  er  in  den  Beiheften  zum 
botanischen  Zentralblatt  beschreibt  (Band  34 
Abt.  II  1916).  In  einem  Keller  entwickelten  sich 
gänzlich  abnorme  Fruchtkörper  von  Len- 
tinus  squamosus  (Schaeff.)  Schrot.  (Aga- 
ricus  lepideus  I*"r.),  eines  Hutpilzes.  Schon 
früher  beobachtete  Lingelsheim  eigenartige 
Formen  dieses  Pilzes.  Sie  waren  in  einem  Wein- 
keller gewachsen  und  bei  normalem  morpholo- 
gischem Aufbau  von  ganz  abnormer  Längenent- 
wicklung. Der  Stiel  war  über  75  cm  lang,  der 
Hut,  dem  die  charakteristische  Zeichnung  des 
normalen  wilden  Pilzes  gänzlich  fehlte,  etwa 
10  cm  breit  und  von  gelblich  weißer,  glatter  Ober- 
fläche. Noch  eigenartiger  waren  die  Wachstums- 
verhältnisse im  zweiten  Falle.  Auch  hier  stammen 
die  Pilze  aus  einem  Keller.  Aus  einer  Gruppe 
von  elf  auffallend  kleinen,  im  Höchstfalle  10  cm 
hohen  Fruchtkörpern,  die  oben  bräunlich  gefärbte 
bis  zu  I  cm  Durchmesser  besitzende  Hüte  von 
sehr  fester  Beschaffenheit  tragen,  entspringen  zwei 
Riesenexemplare  von  über  30cm  Höhe,  deren 
weiße,  faserige,  mehrere  Zentimeter  im  Umfang 
messende  Stiele  an  zwei  Stellen  miteinander  ver- 
wachsen sind  und  apophysenartig  in  den  über 
15  cm  breiten  Hut  übergehen.  Dieser  ist  weiß- 
lich   gefärbt.     Die    Unterseite  trägt   die   übHchen 


Lamellen,  während  oben  an  Stelle  der  für  den  Pilz 
normalerweise  typischen  zentralen  Vertiefung  ein 
etwa  2  cm  hoher,  5  cm  breiter  Buckel  erscheint. 
Er  ist  mit  einer  großen  Anzahl  warzenähnlicher 
Körper  bedeckt,  in  die  fast  stets  eine  Öffnung  zu 
einer  inneren  Höhlung  hineinführt.  Da  sich  in 
ihnen  deutliche  Faltenanlagen  vorfinden,  müssen 
sie  als  winzige  unentwickelte  Hüte  angesehen 
werden.  Die  Anordnung  dieser  kleinen  Bildungen 
wurde  offenbar  durch  äußere  Einflüsse  wie  Licht 
oder  Schwerkraftreize  bedingt,  deren  Richtung 
allerdings  nicht  mehr  erkennbar  ist.  Am  Grunde 
wird  diese  Protuberanz  von  einem  Ringe  kleiner, 
nicht  über  i  cm  breiter  Hüte  umgeben.  Sie  sind 
teils  isoliert,  teils  miteinander  verschmolzen,  nach 
außen  offen  und  sitzen  dem  Mutterindividuum 
breit  auf,  im  Bau  entsprechen  sie  ganz  den  ge- 
nannten zwerghaften  Exemplaren.  Man  war  bis- 
her der  Ansicht,  daß  derartige  teralologische  Bil- 
dungen nur  bei  einem  Zusammenhang  mit  dem 
alten  Hymenium  möglich  seien,  wovon  in  diesem 
Falle  aber  sicher  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Lingelsheim  hält  daher  eine  Revision  dieser 
Meinung  für  geboten.  Kr. 

Geologie.  R.  A.  Daly's  Theorie  der  Korallen- 
inseln. ')  Felsige  Korallenbauten  begleiten  viele 
Küsten  und  krönen  viele  Inseln  der  tropischen  Meere. 
Als  Saumriffe  sind  sie  unmittelbar  den  Küsten  ange- 
schmiegt; als  Wall-  oder  Barriereriffe  folgen  sie 
den  Küstenlinien  in  Abständen  bis  zu  lookm; 
und  als  Lagunenriffe  oder  Atolls  ragen  sie  in  Ge- 
stalt ringförmiger  Inseln  oder  Inselgruppen  über 
die  Meeresoberfläche.  Die  Erklärung  dieser  sonder- 
baren Ringgestalten  ist  innig  verknüpft  mit  geolo- 
gischen Fragen  von  allgemeiner  Bedeutung.  Vielen 
Forschern  gelten  sie  als  sichere  Anzeichen  einer 
andauernden  gleichmäßigen  Senkung  großer 
Flächen  des  Meeresgrundes  im  Ausmaße  von  hun- 
dertcn  oder  tauscnden  Metern,  als  Belege  für 
dessen  „säkulare  Senkungen"  nach  dem  älteren 
Ausdrucke ;  für  „e  p  e  i  r  o  g  e  n  e  t  i  s  c  h  e  Bewegung" 
ausgedehnter  Krustenteile  der  Erde  nach  neuerer 
Auffassung.  Mit  diesem  zuerst  von  Gilbert  ver- 
wendeten Ausdrucke  werden  heute  breite  Auf- 
wölbungen oder  Absenkungen  großer  Gebiete 
unterschieden  von  den  auf  schmälere  Zonen  be- 
schränkten orogenetischen  Bewegungen,  durch 
welche  die  Faltengebirge  emporgestaut  werden. 

Die  rififbildenden  Korallen  gedeihen  nur  im 
bewegten  Wasser  von  hoher  Temperatur  (über 
20  "C)  und  sind  deshalb  nur  in  geringen  Meeres- 
tiefen, bis  50  Meter  lebensfähig.  Auf  diese 
Eigenheit  gründet  sich  die  noch  heute  ziemlich 
allgemein  anerkannte  Erklärung  der  Atolle  von 
Darwin    und    Dana.      Eine    Korallenansiedlung 

')  R.  A.  Daly,  Pleistocene  Glaciation  and  the  Coral 
Reef  Problem.  Amer.  Journ.  of  Science.  New  Haven. 
4.  ser.  Vol.  30.   1910.  p.  297—308. 

—  Problems  of  the  pacific  Islands.  Das.  Vol.  41.  1916. 
p.   153—168 


564 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


wird  über  einer  sinkenden  Unterlage  durch  stetes 
Wachstum  nach  oben  die  Nähe  der  Meeresober- 
fläche festzuhalten  suchen.  Indem  sie  dem  Nah- 
rung spendenden  bewegten  Wasser  zustrebt, 
wandert  sie  nach  außen,  gegen  das  offene  Meer 
und  rückt  immer  mehr  ab  von  der  Küste.  So 
wird  bei  steigendem  Meeresspiegel  das  Saumriff 
zum  Wallriff;  über  einer  einzeln  stehenden  .'\uf- 
ragung  im  Meere  aber  wachsen  kronenförmige 
Kappen  von  Korallenkalk  empor,  ihr  äußerer 
lebender  Saum  wird  zum  ringförmigen  Atoll. 

Die  Ergebnisse  zweier  Bohrungen  (187879  und 
1904)  auf  Funafuti,  einem  Korallenatoll,  der  Ellice- 
gruppe, welches  5400  m  hoch  und  steil  vom 
Grunde  des  Stillen  Ozeans  emporsteigt,  gelten 
heute  als  die  wichtigste  Stütze  der  Theorie  von 
Darwin  und  Dana.  Dort  war  noch  in  einer  Tiefe 
von  mehr  als  400  m  Korallenkalk  mit  denselben 
Arten  angetroffen  worden,  welche  gegenwärtig  an 
der  Oberfläche  leben.  Die  wesentlichste  Voraus- 
setzung der  Theorie  von  Darwin  und  Dana,  daß 
der  Unterbau  der  Koralleninseln  bis  in  Tiefen  weit 
unter  der  Lebenszone  der  Korallentiere  aus 
Korallenkalk  aufgebaut  sind,  schien  durch  diese 
Bohrergebnisse  erwiesen.  Die  Senkung  muß  lang- 
sam und  gleichmäßig,  nicht  sprungweise  erfolgt 
sein;  denn  eine  Loslösung  des  langsam  nach- 
wachsenden Korallenstockes  von  der  Meeresober- 
fläche hätte  ihn  zum  Absterben  gebracht. 

Der  Amerikaner  R.  Daly,  dem  wir  schon 
so  manche  geistreiche  und  anregende  Hypothese 
aus  dem  Gebiete  des  Vulkanismus  der  Tiefen  und 
der  Oberfläche,  über  die  Sedimentbildung  u.  a. 
verdanken,  hat  auch  diese  Frage  in  ein  neues 
Licht  gerückt.  So  wie  nach  der  Theorie  von 
Darwin,  wird  auch  von  Daly  die  Gestalt  der  Bar- 
riereriffe und  Atolle  durch  eine  Verschiebung  des 
Wasserspiegels  erklärt.  Nach  seiner  Auffassung 
wurde  aber  nicht  der  Meeresboden  gesenkt,  sondern 
der  Wasserspiegel  gehoben.  Ein  allgemeines  und 
gleichmäßiges  Ansteigen  der  Meere  in  junger  Zeit 
bedingt  ihre  heutige  Gestalt.  Die  Verschiebung 
erreichte  aber  nicht  die  von  den  Anhängern  der 
Darwin'schen  Theorie  angenommenen  Ausmaße. 
Sie  steht  mit  dem  Schwinden  der  Eiszeit  in  Zu- 
sammenhang und  wird  als  die  Rückkehr  der 
durch  das  Aufschmelzen  der  kontinentalen  Eis- 
decken frei  gewordenen  Wassermassen  zum  Ozean 
gedeutet. 

Folgende  Gedankengänge  enthalten  die  wesent- 
lichste Begründung  der  Hypothese: 

Die  Bildung  der  Atollringe  von  größerem 
Durchmesser  setzt  nach  Darwin's  Theorie  Sen- 
kungen bis  zu  mehreren  lausenden  Fuß  voraus. 
Zur  Auffüllung  der  seichten  Lagunen  wären 
enorme  Schuttmengen  erforderlich,  und  es  wäre 
zu  erwarten,  daß  die  Auffüllung  nicht  überall  gleich 
weit  vorgeschritten  sei,  daß  die  inneren  Lagunen 
verschiedenen  Atolls  in  ungleiche  Tiefe  hinab- 
reichen. Man  gewahrt  aber,  daß  die  Lagunen  nur 
ausnahmsweise  tiefer  sind  als  300'.  Fast  immer 
bleibt  ihre  Tiefe  innerhalb  150—250'.     In  ihrer  Ge- 


samtgestalt erweisen  sich  die  Barriereriffe  und 
Atolls  als  recht  schmale,  mauerartige  Bauten  von 
200—300'  Höhe,  aufgesetzt  auf  seichten  unter- 
meerischen  Ebenen,  deren  Breite  von  einigen 
wenigen  bis  zu  mehreren  hundert  Meilen  wechseln 
kann. 

In  der  vielbesprochenen  Bohrung  auf  Funafuti 
endigte  das  autochthone  Riff  in  150'  Tiefe;  dar- 
unter wurde  Trümmerwerk  und  Riffschutt  mit 
Conchylienschalen  durchfahren,  nicht  mehr  an- 
anstehendes Riff.  Daly  erklärt  die  Lagerungs- 
verhältnisse durch  folgende  Überlegung:  In  dem 
Maße  als  die  lebende  Riffkrone  emporwuchs  und 
im  Übergange  vom  Saumriff  zum  Atoll  nach 
außen  geschoben  wurde,  hat  sich  auch  in  der  Tiefe 
der  Schuttkegel  über  den  geneigten  Abhängen 
immer  weiter  nach  außen  vorgebaut.  Der  Fuß 
des  Schuttkegels  rückte  dabei  auf  dem  steilen 
untermeerischen  Gehänge  immer  mehr  in  die 
Tiefe,  weit  hinab  unter  die  Zone  des  bewegten 
Wassers  und  des  lebensfähigen  Riffes.  In  der 
Nähe  der  Oberfläche  aber  hat  sich  das  lebende 
Riff  über  den  Schuttmantel  gesimseartig  vorge- 
schoben. Die  Bohrung  von  Funafuti  stand  am 
äußeren  Atollrande  und  hat  den  tief  hinabreichen- 
den Schuttmantel  unter  dem  übergreifenden  Rande 
der  lebenden  Riffkrone  angetroffen.  Sie  kann 
nicht  als  Beleg  gelten  für  ein  Emporrücken  des 
gesamten  Riffbaues  aus  Tiefen  von  mehr  als 
300'.  Nur  Bohrungen  im  Inneren  des  Atollringes, 
näher  seiner  Mitte,  wären  im  Stande  Beweisgründe 
für  oder  wider  die  Theorie  Darwin's  zu  liefern. 

Die  Korallenzonen  der  Sandwichinseln  Oahu 
und  Hawaii  sind,  wie  Daly  wahrnahm,  auffallend 
schmal.  Hier  kann  die  Besiedelung  erst  vor 
kurzer  Zeit  stattgefunden  haben.  Einen  Hinweis 
auf  die  Ursache  dieser  Jugend  findet  Daly  in  der 
Entdeckung  von  Gletscherspuren  an  den  Gehängen 
des  Mauna  Kea,  die  bis  1200'  hinabreichen  und 
an  Frische  und  Deutlichkeit  nicht  hinter  euro- 
päischen und  amerikanischen  Eiszeitmarken  zurück- 
stehen. Es  ist  zu  schließen,  daß  hier,  noch  vor  weni- 
gen Jahrlausenden,  die  Wassertemperatur  zu  gering 
war  für  das  Korallenwachstum.  Erst  in  postgla- 
zialer Zeit  konnten  die  Korallenansiedelungen  in 
genügender  Kraft  gedeihen,  um  den  Kampf  mit 
der  Brandung  zu  bestehen;  denn  die  heutige  Mini- 
mumtemperatur dieser  Küstenwässer  beträgt 
23"  C  und  übersteigt  nur  um  3"  die  für  das 
Fortkommen  der  Korallen  erforderliche  Minimum- 
temperatur. 

Nur  wenige  Forscher  bezweifeln  heute  noch, 
daß  sich  die  eiszeitliche  Abkühlung  über  die  ganze 
Erde  erstreckt  hat.  Der  Charakter  der  Floren 
und  andere  Anhaltspunkte  wurden  verschiedenen 
Schälzungen  der  eiszeitlichen  Temperatur  zu- 
grunde gelegt.  Die  einstige  Verminderung  der 
Temperatur  gegenüber  dem  heutigen  Klima  be- 
trug nach  solchen  Schätzungen  5  — 10"  C,  oder 
noch  mehr.  Eine  Abkühlung  der  Ozeane  um 
einen  solchen  Betrag  bedingt,  wenn  auch  nicht 
eine    gänzliche   Vernichtung,    so    doch    eine    Ein- 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


56s 


schränkung  der  lebenden  Korallenwelt  auf  spärliche 
Reste  in  den  allerheißesten  Zonen. 

Ein  weitere  Reihe  von  Schlußfolgerungen  führt 
zu  der  Annahme,  daß  zur  Eiszeit  der  Spiegel  der 
tropischen  Meere  tiefer  gelegen  war  als  heute, 
und  zwar  wurde  eine  allgemein^  Senkung  des 
Meeres  bewirkt  durch  den  Entzug  der  Wassermassen, 
die  in  den  polaren  Eiskalotten  angesammelt  waren. 
In  den  tropischen  Meeren  wurde  der  Retrag  der 
Senkung  noch  dadurch  vermehrt,  daß  ein  Teil  des 
Meerwassers  durch  die  Attraktion  der  mächtigen 
Eiskappen  nach  den  polaren  Meeren  abgezogen 
wurde.  Verschiedene  Autoren  schätzen  den  Be- 
trag der  Spiegelsenkung  in  den  Tropen  auf  ca. 
180'  (nach  Penck  70  m). 

Gewiß  zählt  die  Dauer  der  gesamten  Glazial- 
epoche mit  ihren  Interglazialzeiten  nach  Hundert- 
tausenden von  Jahren.  Eine  wohl  begründete 
Schätzung  von  Chamberlin  und  Salisbury  gibt  ihr 
eine  Million  Jahre.  Während  dieses  langen  Zeit- 
raumes waren  die  tropischen  Küsten  des  Schutzes 
durch  die  Korallenrift'e  beraubt. 

Die  nagende  Brandungswelle  vermag  in  weichen 
Gesteinen  alljährlich  3 — 30  Fuß  landeinwärts  vor- 
zudringen. Die  Gesamtdauer  der  wiederholten 
Eiszeiten  hat  gewiß  hingereicht  zur  Schaffung 
mariner  Abrasionsebenen  bis  zu  20  Meilen  Breite. 
Manche  kleinere  Inseln  wurden  vollkommen  ab- 
gestumpft und  ausgeglättet.  An  härteren  Ge- 
steinen, wie  an  vielen  jungvulkanischen  Inseln 
konnte  im  gleichen  Zeitraum  entsprechend  ge- 
ringere Wirkung  erzielt  werden. 

Die  Wirkung  der  Brandungswellen  reicht  nach 
allgemeiner  Erfahrung  bis  30—90  Fuß  Tiefe  unter 
den  mittleren  Wasserstand.  So  tief  unter  dem 
glazialen  Meeresspiegel  dürfte  die  neugebildcte 
Abrasionsfläche  gelegen  sein.  Wenn  der  er- 
wähnten Annahme  gemäß  derWasserspiegel  mit  dem 
Schwinden  des  Eises  um  180'  gestiegen  ist,  so 
entspricht  der  heutige  Schelf,  welcher  in  200  —  300' 
Tiefe  unter  dem  Spiegel  der  tropischen  Meere 
als  gleichmäßige  Abstufung  die  Kontinente  um- 
gibt, der  glazialen  Abrasionsfläche. 

Auf  dieser  jüngstgeschafTenen  Plattform  haben 
sich  die  Korallen  bei  Wiederkehr  der  höheren 
Temperatur  riffbauend  angesiedelt;  sie  sind  jünger 
als  der  Schelf  und  in  Form  und  Anlage  von  ihm 
abhängig.  In  dem  Zeitraum  von  20000  bis  25  000 
Jahren,  der  seit  der  Eiszeit  vergangen  sein  mag, 
konnten  die  Korallenbauten  eine  gewisse  Aus- 
dehnung erreichen;  sie  ist  aber  gering  im  Ver- 
gleich zur  Breite  der  Lagunen. 

Die  Plattform  des  Schelfes  ist  die  unabhängig 
vorgebildete  Unterlage  der  Korallenbauten.  Ihre 
allgemeine  Tiefe  entspricht  der  Tiefe  der  Atoll- 
lagunen. Unverändert  setzt  sie  sich  weithin  fort 
außerhalb  des  Gebietes  der  Korallenriffe.  Dies 
zeigt  ein  Blick  auf  die  Admiralitätskarte.  So  hat 
das  große  australische  Wallriff,  wenn  auch  2000 
Meilen  lang,  nur  den  wärmeren  Teil  des  austra- 
lischen Kontinentalschelfes,  nördlich  vom  24.",  als 
schmalen  Überzug  besiedelt  (Andrews).    Auch  die 


Ringformen  der  Keyinseln  bei  Horida  sind  deut- 
lich einer  ebenen  und  seichten  Plattform  aufgesetzt.' 
Es  sind  keine  Inselkronen. 

Auf  der  Annahme,  daß  der  Kontinentalschelf 
durch  die  Wellen  des  gesenkten  Ouatärmeeres 
ausgenagt  worden  sei,  beruht  vor  allem  Daly's 
sinnreich  erdachte  Hypothese.  Wenn  es  gelingt, 
diese  Annahme  beweiskräftig  zu  belegen,  so  kann 
die  Gestaltung  der  dem  Schelf  aufgesetzten  Ko- 
rallenbauten durch  den  Einfluß  der  postglazialen 
Hebung  des  Meeresspiegels  sehr  gut  verstanden 
werden. 

Die  Entstehung  des  Schelfes  durch  marine 
Abrasion  ist  bereits  früher  wiederholt  angenommen 
worden.  Hier  mag  nur  auf  eine  Studie  von 
Ziemendorf)  hingewiesen  werden,  welche  zeigte, 
daß  die  Schelffläche  des  Nordatlantischen  Ozeans 
den  verschiedenartigen  Gebirgsstrukturen  an  den 
europäischen  und  amerikanischen  Küsten  als  ein- 
heitliches Gebilde  vorgelagert  ist.  Ihr  felsiger 
Aufbau  ist  an  mehreren  Stellen  erwiesen. 
Nicht  durch  Anhäufung  von  Sedimenten,  sondern 
nur  durch  marine  Abrasion  könnt  sie  entstanden 
sein.  Da  die  heutigen  Meereswogen  nicht  bis  in 
Tiefen  von  200—300  m  wirken  können,  folgerte 
schon  Ziemendorf  eine  allgemeine  Senkung  des 
Meeresspiegels  bei  gleichbleibendem  Stand  der 
Kontinente.  Auf  ungleiches  Ansteigen  des  Meeres 
deuten  Abstufungen  des  Schelfes,  die  besonders 
deutlich  sind  an  den  Küsten  Schottlands  und 
Nordamerikas.  Die  wechselnde  Breite  des  Schelfes 
an  verschiedenen  Küslenstrecken  wird  durch  ver- 
schiedene Gesteinbeschaffenheit,  verschiedeneVVind- 
wirkung  und  sonstige  meteorologische  Verhält- 
nisse erklärt. 

Auch  Anzeichen  jungen  Meeresanstieges  sind 
auf  der  Erde  sehr  verbreitet.  Genaue  zeitliche 
Feststellung  solcher  Bewegungen  wird  für  die  vor- 
liegenden Fragen    von    höchster  Wichtigkeit  sein. 

Um  ein  Beispiel  anzuführen,  mag  hier  daran 
erinnert  sein,  daß  A.  Grund  eine  quartäre  Sen- 
kung des  Spiegels  der  Adria  um  ca.  90  m  aus  der 
Gestaltung  der  Narentamündung  und  anderer  Fluß- 
täler Dalmatiens,  und  ferner  aus  vielen  Bohr- 
ergebnissen an  der  istrischen  und  der  venetia- 
nischen  Küste  erwiesen  hat.  Die  Knochenreste 
auf  dalmatinischen  Riftcn,  Zeugen  einer  quartären 
Landverbindung,  sind  nicht  durch  jungen  Ein- 
bruch, sondern  durch  quartäre  Trockenlegung  des 
Meeresbodens  zu  erklären. '•^j  Grund  erwog  wohl 
die  Möglichkeit  einer  Oszillation  des  Meeresspiegels 
durch  wechselnde  polare  Eisanhäufung,  hielt  sie 
aber  nicht  für  wahrscheinlich,  da  der  Tiefstand 
anscheinend  mit  einer  Interglazialzeit,  dem  Gschnitz- 
Dauninterstadiale  zusammenfiel.  Er  betrachtete 
die  versenkten  Täler  der  adriatischen  Ostküste  als 
„ein  Glied   in    einem  Kreise    versenkter  Flußtäler, 

1)  G.  Ziemen  dorf,  Das  Kontinentalschelf  des  Nord- 
atlantischen Ozeans.  Beiträge  z.  Geophysik.  Leipzig.  Bd.  X. 
1910.  S.  268. 

'')  A.Grund,  Entstehung  und  Geschichte  des  adriatischen 
Meeres.     Geograph.  Jahresber.  aus  Österreich  VI. 


566 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  40 


der  von  der  Riasküste  Galiziens,  über  die  Fluß- 
täler der  Gascogne  und  der  Riviera  zu  den 
Limanen  Südrußlands,  das  Gebiet  der  postglazialen 
Hebung  im  Zentrum  der  Vereisung  umgibt.  Ähn- 
lich entspricht  an  der  Ostküste  Nordamerikas  den 
postglazialen  Hebungen  am  St.  Lorenzo  im  Süden 
das  Gebiet  der  ertrunkenen  Flußtäler.  Die 
eigentliche  Ausbildung  der  Täler  des  dinarischen 
Gebirges  fällt  jedoch,  wie  Grund  ausdrücklich  be- 
tont, ins  Pliozän.  (Dies  war  nach  vielen  An- 
zeichen eine  Zeit  des  Tiefstandes  großer  Teile, 
vielleicht  der  gesamten  Wasserbedeckung  der 
Erde.) 

Mit  der  Bestätigung  von  Daly's  Theorie  ent- 
fallen alle  aus  den  Korallenbauten  abgeleiteten 
Schlüsse  auf  ausgedehnte  epeirogenetische  Sen- 
kungen des  Ozeanuntergrundes.  Schon  jetzt  kann 
man  sagen:  daß,  nachdem  die  Deutung  der  Boh- 
rung auf  Funafuti  unsicher  bleibt,  ein  leichtes 
Anschwellen  der  Meere  in  postglazialer  Zeit  viel 
wahrscheinlicher  ist,  als  so  weitgehende  gleich- 
mäßige Senkung  ausgedehnter  Ozeangebiete,  wie 
sie  von  den  Anliängern  der  Darwinschen  Theorie 
im  älteren  Sinne  angenommen  wird,  die  aber  in 
der  Tektonik  der  betroffenen  Gebiete  in  keiner 
Weise  begründet  ist. 

Unabhängig  von  dem  Aufbau  unter  dem  Ein- 
flüsse der  allgemeinen  positiven  Bewegungen  des 
Postglazial,  können  natürlich  auch  Korallenbauten 
durch  junge  orogenetische  Bewegungen  gehoben 
oder    gesenkt    worden    sein.      Der    Meeresanstieg 


beeinflußt  das  Bild  im  großen;  örtliche  Senkungen 
werden  durch  ihn  verschleiert  sein.  Örtliche 
Zonen  mit  gehobenen  Riffen  treten  dafür  um  so 
auffallender  hervor.  Nur  in  wenigen  Fällen  sind 
sie  genauer  studiert.  Manche  von  ihnen  sind 
sicher,  andere,  wahrscheinlich  tertiären  Alters. 
Andere,  namentlich  solche  denen  der  Schelf  fehlt, 
wurden  erst  postglazial  gehoben;  oft  haben  sie 
dabei  ein  leichte  Neigung  erfahren.  Christmas 
Island  und  Rodriguez  im  Indischen  Ozean,  Vavau 
in  der  Tongagruppe,  Uvea  in  der  Loyaltygruppe 
werden  als  Beispiele  geneigter  Riffe  angeführt  und 
die  Lagerungsverhältnisse  der  Korallenbänke  auf 
Timor  sind  nach  Wanner  und  Welter  derselben 
Art.  In  solchen  flachen  Aufwölbungen  und  Schollen- 
verschiebungen äußern  sich  in  der  Nähe  der  Ober- 
fläche dieselben  orogenetischen  Vorgänge,  welche 
in  der  Tiefe  zur  P'altung  führen.  Auch  sie  bieten 
keinen  Hinweis  auf  epeirogenetische  Bewegungen 
von  kontinentaler  Ausdehnung.       F.  E.  Suess. 


')  Nach  seiner  bekannteu  deduktiven  Methode  behandelte 
neuerdings  auch  W.  M.  Davis  das  Problem  der  Korallen- 
riffe (Home  Study  of  Coral  Reefs.  Bull.  Americ.  Geograph. 
See.  New  York.  1914-  Nr.  9  und  .\meric.  Journ.  of  Sc.  4.  ter. 
Vol.  40.  1915.  p.  223^271).  Biologische  Beziehungen 
zwischen  benachbarten  Koralleninseln  und  die  Gestaltung  der 
Küstenlinien  scheinen  ihm  nur  durch  Hinabtauchen  größerer 
Inselgruppen  im  Sinne  der  Dar  wiu  '  sehen  Theorie  erklärbar. 
Daly's  Theorie  anerkennt  er  als  mögliche,  aber  unwesent- 
liche Ergänzung  der  D  arwin' sehen  Theorie.  Auf  seine  Ein- 
wendungen, die  dem  Referenten  nicht  stichhaltig  erscheinen, 
kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 


Bücherbesprechungen. 


O.  Abel,  Allgemeine  Paläontologie.  SIg. 
Göschen  (Nr.  95).  Berlin-Leipzig  1917. 
Vom  Verf  schon  mehrfach  an  anderen  Stellen 
(so  z.  B.  „Aus  Natur  und  Geisteswelt"  1914)  be- 
handelte allgemeinere  Themata  der  paläontolo- 
gischen Forschung,  ihres  Materials  und  ihrer 
Methoden  werden  unter  obigem  Titel  zusammen- 
hängend zur  Darstellung  gebracht.  Das  Gebiet 
einer  Allgemeinen  Paläontologie  ist  damit  aber 
wohl  noch  nicht  erschöpft.  Dem  Verf  ist  es  darum 
zu  tun,  die  fossilen  Dokumente  der  Erdgeschichte 
in  ihrem  rein  paläozoologischen  Werte  für  ent- 
wicklungsgeschichtliche, vergleichend  anatomische 
und  biologische  Probleme  zu  beleuchten  und  streng 
methodisch- wissenschaftliche  Behandlung  dieser 
Schätze  in  Bergung,  Rekonstruktion,  Beurteilung 
und  Auswertung  zu  fordern  gegenüber  manchen 
allzu  oberflächlichen  Popularisierungsversuchen.  ^) 
In  dem  Bestreben  die  Grenze  gegen  die  Geologie 
streng  zu  ziehen,  der  Paläozoologie  ihre  Selb- 
ständigkeit zu  wahren,  neigt  m.  E.  Verf  zu  etwas 

')  Eine  fast  unglaublich  leichtfertige  Irreführung  solcher 
Art  aus  jüngster  Zeit  wird  auf  S.  89  auch  bildlich  vorgeführt. 
Sie  betrifft  Rhamphorhynchus.  Das  dem  Verf.  nicht  bekannte 
Modell  dürfte  meiner  Erinnerung  nach  eine  sehr  schlechte 
zeichnerische  Darstellung  von  Kritsch  sein,  was  mir  im 
Augenblick  (im  Felde)  nachzuprüfen  leider  versagt  ist. 


allzu  radikaler  Scheidung  beider  Disziplinen  und 
Unterschätzung  der  vermittelnden  Stratigraphie. 
Auch  gebietet  die  Gerechtigkeit,  ihm  gegenüber 
immer  wieder  zu  betonen,  daß  auch  vor  Darwin 
und  Kowalewsky  schon  durchaus  zoologisch-osteo- 
logisch  orientierte  eifrige  Gelehrtenarbeit  an  fossilen 
Wirbeltierresten  geleistet  worden  ist.  Der  in  der 
Paläobotanik  übliche  Fehler  der  stratigraphisch 
arbeitenden  Geologen,  einen  Wissenszweig  völlig 
an  eine  Nachbardisziplin  abzutreten,  braucht  in 
der  Paläozoologie  nicht  wiederholt  zu  werden. 
Deshalb  kann  die  nämliche  Grenzführung  ruhig 
bestehen  bleiben  und  weiter  ausgebaut  werden. 
Mit  einer  kurzgefaßten  Darlegung  wichtigerer 
Aufgaben  und  Ziele  der  Paläontologie  schließt  das 
Bändchen  ab.  Edw.  Hennig. 


H.  Wolf.    Karte    und  Kroki.     Math.Phys.  Bi- 
bliothek   Bd.  27.      Leipzig     und    Berlin     1917. 
B.  G.  Teubner. 
In  kurzen  knappen  Sätzen  führt  das  vorliegende 
Bändchen   in  die  Grundlagen  und  die  Entstehung 
unserer  wichtigsten  Kartenwerke  ein.    Der  Begriff 
Karte    und  Maßstab    wird    zunächst   an   einfachen 
Bei.spielen    erläutert.      Es    folgt    dann    eine    etwas 
eingehendere  Darstellung  der  Triangulation,  wobei 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S67 


mannigfache  historische  Hinweise  und  Beschrei- 
bungen der  Instrumente  die  Darstellung  wertvoll 
ergänzen.  Die  der  Triangulation  folgende  topo- 
graphische Arbeit  wird  auch  ziemlich  eingehend, 
aber  für  diese  vielseitige  Tätigkeit  immer  noch 
zu  kurz,  erläutert,  so  daß  wesentliche  Arbeit  an 
manchen  Stellen  kaum  gestreift  wird.  Eine  Dar- 
stellung der  kartographischen  Arbeit  und  des 
Krokierens  schließt  das  Bändchen. 

Vom  Standpunkt  des  wissenschaftlich  interessier- 
ten Laien,  für  den  die  Bändchen  doch  in  erster 
Linie  bestimmt  sind,  gibt  es  vor  allen  Dingen  wohl 
ein  Bedenken.  Die  Darstellung  ist  an  manchen 
Stellen  wirklich  zu  knapp.  Was  wird  wohl  der 
genannte  Leser,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen, 
mit  einem  Satz  anfangen,  wie  folgt:  (S.  9)  „wird 
der  Kreis  um  180"/ Anzahl  der  Sätze  verstellt". 
Auch  im  topographischen  Teil  findet  sich  manches 
derartige  Beispiel.  Trotzdem  ist  dem  Bändchen 
weiteste  Verbreitung  zu  wünschen,  denn  es  wird 
mit  dazu  beitragen,  das  Verständnis  für  Vermes- 
sungsarbeit und  Karte  zu  wecken  und  zu  fördern. 
Und  das  ist  notwendig;  denn,  wie  man  nament- 
lich als  Vermessungsbeamter  im  Felde  immer 
wieder  erfahren  muß,  ist  dieses  Verständnis  meist 
recht  gering.  Maisch. 

W.  Soergel,  Das  Problem  der  Permanenz, 
derOzeane  undKontinente (Habilitations- 
vortrag,   durch    Zusätze    und  Anmerkungen  er- 
erweitert).    SchweizerbartStuttgart   1917. 
Die  bekannte    alte  Atlantis-Sage,    in    so  geist- 
voller Weise    später  zu    einer  ernsthaften  wissen- 
schaftlichen Hypothese  erhoben,  ist  nur  der  Vor- 
läufer der  Konstruktionen  von  Brückenkontinenten, 
zu  denen  Paläontologie,  Geologie,  Tier-  und  Pflan- 
zengeographie   des    öfteren    gegriffen    haben,    um 
auffällige  und  schwer  verständliche  Beobachtungs- 
tatsachen auf  verhältnismäßig    einfache  Weise  zu 
erklären.     Kein  Ozean    ist   schließlich    davon   frei 
geblieben.     Überall  glaubte    man   für    vergangene 
Zeiten  versunkene  Kontinente  an  Stelle  der  Meeres- 
becken im  heutigen  Erdoberflächenbilde  einsetzen 
zu  müssen.     Soergel  behandelt  nun  diese  wich- 
tige Frage  als  Gesamtheit. 

Indem  er  alle  Indizien  für  und  gegen  eine 
derartige  einstige  Besiedelung  der  heutigen  Ozeane 
durch  große  verbindende  Festländer  (bzw.  auch 
eine  Verschiebung  der  Kontinentalblöcke  an  andere 
Stellen  nach  Maßgabe  der  äußerst  kühnenWegener- 
sehen  Hypothese)  sorgfältig  zusammenstellt,  ent- 
scheidet er  sich,  wohl  im  Gegensatz  zur  augen- 
blicklich vorherrschenden  Lehrmeinung  gegen  jene 
Voraussetzungen    und    für    eine     Permanenz 


der  Kontinente.  Ref  möchte  ihm  darin  voll 
beistimmen. ')  Die  Unterscheidung  der  Begriffe 
Kontinent  (einschl.  der  untermeerischen  Kontinental- 
sockel) und  Festland  (also  der  bei  flachen  Teil- 
überflutungen des  Kontinentes  trocken  bleibenden 
Teile  in  jeder  noch  so  veränderlichen  Form)  ist 
dabei  wohl  im  Auge  zu  behalten. 

Nicht  überzeugt  erklären  kann  ich  mich  dagegen 
von  den  Behauptungen,  einmal:  im  Verlaufe  der 
Erdentwicklung  hätte  trotz  der  Permanenz  im 
großen  das  Meer  dauernd  auf  Kosten  der  P"est- 
länder  an  räumlicher  Ausdehnung  gewonnen;  so- 
dann: zwischen  der  randlichen  Kontinentalüber- 
flutung und  dem  eigentlichen  Tiefmeer  müßten 
in  früherer  Zeit  in  weit  größerem  Umfange  all- 
mählich überleitende  Meeresteile  bestanden  und 
einen  regeren  Faunenaustausch  als  heutzutage 
ermöglicht  haben.  Doch  sei  die  Diskussionsfähig- 
keit und  der  ernsthafte  Begründungsversuch  dieser 
Thesen  voll  und  ganz  anerkannt.  Einzelne  der 
erläuternden  Schlußbemerkungen  gehen  noch  ein- 
gehender auf  die  hiermit  zusammenhängenden 
Fragen,  wie  z.  B.  den  Grad  der  Lückenhaftigkeit 
des  fossilen  Inverlebratenmaterials  ein.  Auch  die 
Tetraedertheorie  wird  hier  mehrfach  gestreift.  Der 
Verf.  steht  ihr  sichtlich  sympathisch  gegenüber. 
Edw.  Hennig. 

Literatur. 

Siemens,  H.  Vf.,  Die  biologischen  Grundlagen  der 
Rassenhygiene  und  der  Bevölkerungspolitik.  Für  Gebildete 
aller  Berufe.  Mit  S  Abbildungen.  München  '17,  J.  F.  Leh- 
mann. —  2  M. 

Siebert.  Dr.  Fr.,  Der  völkische  Gehalt  der  Rassen- 
hygienc.     Ebenda.  —  3  M. 

Schmidt,  Dr.  E.  W.,  Bau  und  Funktion  der  Siebröhre 
der  Angiospermen.  Mit  I  färb.  Tafel  und  42  Texlabbildungen. 
Jena  '17,  G.  Fischer.  —  5,60  M. 

Büsgen,  Prof.  Dr.  M.,  Bau  und  Leben  unserer  Wald- 
bäume. Mit  129  Textabbildungen.  Jena  '17.  G.  Fischer.  — 
9  M. 

Pirquet,  Prof.  Dr.  Freiherr  v.,  System  der  Ernährung. 
I.  Teil.  Mit  3  Tafeln  und  17  Abbildungen.  Berlin  '17 
J.  Springer.  —  8  M. 

Lange,  Dr.  W.,  Über  funktionelle  Anpassung,  ihre 
Grenzen,  ihre  Geseue  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Heilkunde. 
Berlin   '17,  J.  Springer. 

Roth,  Prof.  Dr.  M.,  Bodenschätze  als  biologische  und 
politische  Fakioren.     Berlin  '17,  J.  Springer.  —   I   M. 

Junge,  Prof.  Dr.  G.,  Unsere  Ernährung.  Nahrungsmittel- 
lehre für  die  Kriegszeit.     Berlin  '17,  O.  Salle.  —  1,50  M. 

Bauer,  H.,  Physik  der  Röntgenologie.  Berlin  '17,  H. 
Meußer.  —  3  M. 

R  e  V  e  s  z ,  Dr.  B  e  1  a ,  Geschichte  des  Seelenbegriffes  und 
der  Seelenlokalisation.     Stuttgart  '17,  F.  Enke.  —  8  M. 

')  Fürdas  afrikanische  Festland  habeich  in  Petermann's 
Mitteilungen  1917  (März-April)eine  recht  weitgehende  Beständig- 
keit erneut  nachzuweisen   versucht. 


Inhaltl  Aloys  Müller,  Gehört  die  Psychologie  zu  den  Naturwissenschaften?  S.  553.  —  Einzelberichte:  H.  Dold,  Über 
Immunisierungsversuche  gegen  das  Bienengift.  S.  561.  Lingelsheim,  Neue  teratologische  Beobachtungen.  S.  562. 
R.A.Daly,  Theorie  der  Koralleninseln.  S.  563.  —  Bücherbesprechungen:  O.Abel,  Allgemeine  Paläontologie.  S.  566. 
H.  Wolf,  Karte  und  Kroki.  S.  566.  W.  Soergel,  Das  Problem  der  Permanenz  derOzeane  und  Kontinente.  S.  567. 
—  Literatur:  Liste.  S.  567. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  ra.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  14.  Oktober  1917. 


Nummer  41. 


Keimdrüsen  und  Kastration  der  männlichen  Vögel. 


[Nachdruck  verboten.! 


Von  Privatdozent  Dr.  Ludwig  Freund  (Prag). 
Mit  I   Abbildung. 


Die  Testikel  der  Vögel  finden  sich  in  der 
Hauchhöhle  beiderseits  der  Aorta  bauchwärts  den 
vorderen  Nierenlappen  angelagert,  aufgehängt  an 
einem  kurzen  Gekröse,  Alesorchium,  das  sich 
zwischen  Aorta  und  Niere  an  der  Körperwand  an- 
setzt. Sie  überragen  kopfwärts  den  vorderen 
Nierenpol,  seitlich  unter  Umständen  den  Seitenrand 
des  Ileums,  dort  wo  dieses  von  dem  letzten  oder 
den  beiden  letzten  Rippenpaaren  gedeckt 
wird.  Die  Form  ist  bohnenförmig  bis  rundlich, 
ihre  Farbe  gelblich  bis  weiß. 

Die  beiden  Hoden  sind  untereinander  nicht 
gleichgroß.  Häufig  ist  der  linke  größer  als  der 
rechte,  entsprechend  den  Verhältnissen  im  weib- 
lichen Geschlecht,  wo  der  linke  Eierstock  allein 
zur  Entwicklung  gelangt.  Gelegentlich  ist  nur 
ein  Hoden  entwickelt,  Monorchie,  wie  dies  bei 
dem  indischen  Spornkuckuck,  Centropus,  konstant 
vorkommt,  freilich  merkwürdigerweise  auf  der 
rechten  Seite  (Marshall).  Einmal  (191 2)  be- 
obachtete ich  bei  einem  jungen  Haushahn  eine 
Teilung  des  rechten  Hodens  in  zwei  kleinere 
bohnenförmige  Körper,  so  daß  drei  Hoden  vor- 
handen waren.  Nach  Marshall  steht  auch  die 
Hodengröße  in  keinem  direkten  Verhältnis  zur 
Körpergröße, eher  zur  Menge  der  Nachkommenschaft. 

Am  bedeutendsten  sind  aber  die  Schwankungen 
nach  der  Jahreszeit,  die  Größenzunahme  zur  Zeit 
der  Geschlechtstätigkeit.  Es  ist  dies  seit  langem 
bekannt  und  wir  wissen,  daß  im  Winter  die  Vogel- 
hoden am  kleinsten  sind,  um  dann  gegen  das 
I'Vühjahr  kolossal  an  Umfang  zuzunehmen.  Diese 
allgemeine  Angabe  findet  sich  seit  Aristoteles  in 
allen  Lehrbüchern,  genauere  Daten  aber  sind  auf- 
fallend spärlich.  Am  bekanntesten  ist  das  Beispiel, 
das  Owen  bringt.  Es  betrifft  den  Haussperlings- 
hoden, von  dem  er  eine  Reihe  abbildet,  Steck- 
nadelkopf- bis  kirschkerngroß  vom  Januar  bis 
April.  Leuckart  wies  für  dieselbe  Zeit  und 
denselben  Hoden  eine  Vervielfachung  des  Gewichtes 
auf  das  I92fache  nach.  Sonst  finden  wir  noch 
bei  Martin  die  besondere  Angabe,  daß  der  Vogel- 
hoden auf  das  öfache ,  bei  F"  r  a  n  c  k  -  M  a  r  t  i  n  , 
daß  er  auf  das  Doppelte  und  darüber  anwachsen 
könne.  Während  Gadow  in  Bronn  bloß  Owens 
Spezialangabe  zitieren  kann,  hat  um  dieselbe  Zeit 
Etzold  die  Hodenentwicklung  von  Fringilla 
domestica  eingehend  untersucht  mit  dem  Ergebnis, 
daß  das  Gewicht  des  funktionierenden  Hodens  das 
des  ruhenden  zirka  300  mal  übertrifft.  Was  die 
Größe  anlangt,  konstatierte  er  als  Durchmesser 
des  ruhenden  Hodenso,/— 0,8  mm,  die  Dimensionen 
des  funktionierenden  sind:  10:8:7  mm.    Dissel- 


horst  verdanken  wir  dann  eine  ganz  genaue  Fest- 
stellung für  den  Enterichhoden,  dessen  Dimensionen 
betragen  :  8  cm  Länge,  4,5  cm  Breite,  4  cm  Dicke, 
damit  die  erste  Angabe  für  unser  Hausgeflügel 
liefernd.  Freilich  hätte  man  schon  aus  einer  aus- 
gezeichneten Abbildung  bei  Tannenberg  (die 
von  M  a  r  s  h  a  1 1  dankenswert  wiedergebracht  wurde) 
die  wahre  Größe  eines  funktionierenden  Haushahn- 
hodens ersehen  können.  Außerdem  sagt  Hoff- 
mann, daß  er  je  nach  Größe  und  Alter  des 
Hähnchens  bohnen-  bis  taubeneigroß  sein  kann. 
Immerhin  ist  es  leider  Mencl  passiert,  daß  er 
beim  Enterich  einen  funktionierenden  Hoden  für 
einen  Fall  von  hochgradiger  Hyperplasie  gedeutet 
hat,  da  er  rechts  87:58:39  mm,  links  86:55:47  mm 
aufwies.  Disselhorst  hat  ihn  dann  unter  Be- 
rufung auf  seinen  eigenen  normalen,  fast  identischen 
Befund  aufgeklärt.  Kroutil  lieferte  uns  Maße 
von  der  Schnepfe.  Am  26.  März  betrug  die  Länge 
16  mm.  Breite  4  mm,  am  7.  April  26  mm  Länge, 
4  mm  Breite,  von  da  an  über  24  mm  Länge. 
Ich  habe  dann  die  Maße  von  einem  geschlechts- 
reifen,  ziemlich  jungen  Haushahn  bringen  können. 
Es  betrug  rechts  die  Länge  47  mm.  Breite  27, 
Dicke  25  mm;  links:  48:25:22  mm,  bei  einer 
Rumpflänge  von  25,5  cm  zur  Breite  von  8,5  cm. 
Neuestens  konnte  ich  Maße  von  der  Lachmöwe, 
Larus  ridibundus,  aus  dem  Monat  Juni  1917  (ver- 
spätete Brutzeit  I)  gewinnen.  Sie  sind  folgend  zu- 
sammengestellt: I.  Körpergewicht:  265  g,  links: 
(Länge: Breite: Dicke)  11:5:3  mm;  rechts:  6:3:2; 

2.  245    g;     links:    13,5:10:8;     rechts:    15:10:6; 

3.  230g;  links:  14:6:4;  rechts:  11:5:5;  4.  300g; 
links:  10:5:4;  rechts  etwas  kleiner.  Weiter  prä- 
parierte ich  am  6.  Juni  einen  Perlhahn  von  40  cm 
(Kopf — Steiß)  Gesamtlänge.  Hoden  links :  25 : 1 5 :  14; 
rechts;  22:12:11.  Am  11.  Juni  fand  ich  bei  einem 
Kanarienvogel:  Hoden  links:  7,5:6,5:3,5  mm, 
rechts:  6:5,5:3  mm.  Am  selben  Tag  bei  einem 
Gimpel:  Hoden  links:  6:5:3,  rechts:  5:5:3mm. 
Wie  man  sieht,  ist  das  Zahlenmaterial,  das  uns  auf 
diesem  Gebiete  zur  Verfügung  steht,  noch  sehr 
bescheiden  und  bedarf  der  Vervollständigung,  da- 
mit wir  wenigstens  von  unseren  Haus-  und  ein- 
heimischen Vögeln  wissen,  wie  groß  ihre  Hoden 
werden  können. 

Auch  beim  Vogel  (in  Betracht  kommen  fast 
nur  Haushähne,  sehr  selten  Enteriche  oder  Gänse- 
riche) führt  die  Entfernung  der  Keimdrüsen,  die 
Kastration,  hier  das  Kapaunen  genannt  (da  der 
kastrierte  Hahn  Kapaun  oder  Kapphahn  heißt), 
eine  Verbesserung  der  Fleischqualitäten  zu  Genuß- 
zwecken herbei    und  wird    daher  schon  seit  jeher 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


an  jungen  Hähnen  ausgefülirt.  Nach  der  Beschrei- 
bung Hoffmann's  erfolgt  die  Operation  derart, 
daß  die  Rauchwand  etwas  links  der  Mittellinie 
zwischen  Brustbein  und  After  auf  2  cm  Länge 
eröffnet,  der  Bauchinhalt  beiseite  geschoben  wird, 
worauf  mit  dem  eingeführten  Finger  die  beiden 
Hoden  abgedrückt  werden.  Man  kann  sie  heraus- 
nehmen oder  in  der  Bauchhöhle  lassen,  wo  sie 
resorbiert    werden.      Die    Bauchwand    wird    dann 


les  Haushah  a. 
Nach  einem  in  situ  mit  Formol  gehärteten  Präparat. 
'/•,  nat.   Gr.     Gez.  L.  Freund. 

geschlossen.  Merkwürdigerweise  ist  man  erst  in 
neuester  Zeit  darauf  gekommen,  diese  Methode 
durch  eine  bessere  zu  ersetzen,  wenngleich  dies, 
wie  unsere  Figur  erkennen  läßt,  durch  die  Lage 
der  Hoden  von  vornherein  nahe  liegen  mußte. 
Pilling  empfiehlt  die  Entfernung  von  der  Hanke 
her  unter  Verwendung  eines  feinen  Ekraseurs 
zur  Abschnürung  der  Hoden.  Wisinger  und 
Schantyr  heben  die  Vorzüge  dieser  Art  gegen- 
über der  trüberen  besonders  hervor,  weil  die  Sterb- 
lichkeit viel  geringer  ist  und  daher  für  größere 
Vögel,  wie  Truthühner,  Enten,  Gänse  aus  peku- 
niären   Gründen   zu    empfehlen    sei.      Freilich  hat 


G  i  1 1  e  t  bald  feststellen  können,  daß  diese  angeb- 
lich neue  Methode  schon  lange  von  den  Chinesen 
ausgeübt  wird,  er  selbst  konnte  sie  auf  dem  Ge- 
flügelmarkte einer  chinesischen  Stadt  mit  dem  pri- 
mitiven chinesischen  Instrumentar  von  den  äußerst 
geschickten  Händen  eines  Geflügelhändlers  aus- 
geführt sehen. 

Von  Bedeutung  ist  die  Frage,  in  welchem 
Alter  die  Hähne  zu  kastrieren  sind.  Deffke 
verweist  darauf,  daß  man  gewöhnlich  das  Alter 
von  4  Monaten  wähle,  es  ist  aber  die  Spät-  oder 
F"rühreife  der  betreffenden  Rasse  in  Betracht  zu 
ziehen,  da  der  Hoden  eine  gewisse  Größe  erreicht 
haben  muß.  Ein  wertvolles  Kennzeichen  hierfür 
bietet  jedoch  die  Größe  und  die  Höhe  des  Kammes, 
die  mit  der  des  Hodens  übereinstimmen.  Man 
nimmt  nämlich  zum  Kapaunen  nur  Hähne  mit 
einfachen  Kämmen,  da  sich  Hähne  mit  „Rosen- 
kämmen" angeblich  überhaupt  nicht  zum  Kapaunen 
eignen.  Ist  nun  der  Kamm  3 — 4  cm  hoch,  so 
sind  die  Hoden  2 — 2,5  cm  lang.  Noch  besser  ist 
es,  wenn  der  Kamm  4 — 5  cm  hoch  ist.  Bei  einem 
Alter  von  '/o — i  Jahr  ist  er  noch  höher,  doch  ist 
dann  die  Kastration  weniger  ratsam,  da  die  Tiere 
den  Eingriff  schlechter  vertragen  und  die  Blutung 
auch  stärker  ist.  Er  hat  da  wohl  die  alte  rohe 
Kastrationstechnik  im  Auge.  Ebenso  ist  auch 
seine  Warnung  zu  verstehen,  sicher  den  ganzen 
Hoden  zu  entfernen,  da  sonst  vom  übrig  gebliebenen 
Rest  bei  der  hohen  Regeneralionsfähigkeit  des 
Hahnhodens  bald  Ersatzwucherung  erfolgt  und  der 
Hahn  seine  Geschlechtsfunktion  und  sein  normales 
Gebaren  behält.  So  waren  nach  Deffke  kaum 
erbsengroße  Reste  nach  -'/^  —  i  Jahr  zu  gut  hasel- 
nußgroßen Testikeln  regeneriert.  Kehllappen  und 
Kämme,  welche  handelsüblich  bei  der  Kastration 
abgeschnitten  werden  und  einen  besonderen 
Handelsartikel  bilden  (manchmal  werden  sie  be- 
trügerisch ohne  Hodenentfernung  abgeschnitten  I) 
wuchern  ebenfalls  und  werden  dicke  hochrote 
Wülste.  Der  falsche  Kapaun  heißt  dann  im  Volks- 
munde „Spießhahn". 

Bemerkenswert  ist  auch  die  bei  der  Kastration 
übliche  Transplantation  des  oder  der  am  Unter- 
ende des  Tarsus  sitzenden  Sporen  an  die  Stelle  des 
abgeschnittenen  Kammes.  Deffke  schildert  ge- 
nau die  Methoden,  welche  die  Einheilung  sicher 
gewährleisten,  sei  es  daß  man  sie  flach  oder  keil- 
förmig zugeschärft  auf  oder  zwischen  die  Kamm- 
reste chirurgisch  befestigt.  Wenn  man  beide 
Sporen  einsetzt,  so  richtet  man  den  einen  nach 
vorn,  den  andern  nach  rückwärts,  damit  die  „gleich- 
sam aus  einem  Stamm  hervorsprießenden  Hörner"  (I) 
symmetrisch  auseinandergehen. 

Über  die  körperlichen  Veränderungen  des 
Kapauners  machte  dann  Seilheim  besondere 
Angaben  auf  Grund  experimenteller  Studien  an 
Haushähnen.  Während  Kämme,  Bartlappen  und 
Ohrenscheiben  schrumpfen  („Blaßgesichter"),  wird 
das  Federkleid  lebhaft,  die  Sporen,  wenn  erhalten, 
bleiben  gleich,  so  daß  also  die  sekundären  Ge- 
schlechtscharaktere regressiv  aber  auch  progressiv 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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beeinflußt  werden.  Auch  in  den  übrigen  Organ- 
systemen zeigen  sich  Veränderungen,  so  im  Skelett, 
dem  Kehlkopf  und  Larynx  inferior.  Besonders 
auffallend  ist  die  Fettentwicklung  (Kapaunerfett), 
welches  subkutan,  subserös,  im  Mesenterium,  Netz, 
Ilerz  einen  großen  Umfang  annimmt.  Herz  und 
Gehirn  sind  kleiner.  Herz  vom  Hahn:  3,45  g, 
Kastrat  3, 3g;  GehirnHahn:   18,7  g,  Kastrat  16,65  g. 

In  neuerer  Zeit  hat  aber  das  Kapaunen  sehr 
nachgelassen.  Man  nimmt  lieber  später  geschlechts- 
reif werdende,  schwere  Fleischrassen,  mästet  sie 
in  kurzer  Zeit  und  erreicht  so  vor  der  Geschlechts- 
reife das  gewünschte  Schlachtgewicht,  was  sich 
besser  lohnt  als  das  wirkliche  Kapaunen,  wenn 
auch  die  gemästeten  Hähne  oft  unter  diesen  Namen 
in  den  Handel  kommen. 

Anhangsweise  sei  erwähnt,  daß  auch  beim 
Strauß,  wie  diesElley  beschreibt,  die  Kastration 
üblich  ist.  Sie  erfolgt  von  der  rechten  Flanke, 
in  Chloroformnarkose,  unter  aseptischen  Kautelen, 
nach  Niederlegung  des  Tieres  auf  die  linke  Seite. 
Die  Operation  hat  den  Zweck,  das  Federgewicht 
zu  vermehren  und  diese  sauber  zu  erhalten,  was 
bei  nichtkastrierten  wegen  der  Geschlechtsfunk- 
tionen nicht  möglich  ist.  Außerdem  sollen  sich 
die  Tiere  in  Jahren  knapper  Fütterung  besser 
halten  und    auch    das  Fleisch    schmackhafter  sein. 

Literatur. 

Keimdrüsen:  Disselhorst,  R.,  Über  Asymmetrieen 
und   Gewichtsunterschiede  der  Geschlechtsorgane.     Arch.  wiss. 


Tierhkde.  24.  1S98.  —  Ders.,  Gewichts-  und  Volumszunahme 
der  männlichen  Keimdrüsen  bei  Vögeln  und  Säugetieren  in  der 
Paarungszeit;  Unabhängigkeit  des  Wachstums.  Anat.  Anz.  32 
1908,  p.  113— 117.  —  Etzold,  Die  Entwicklung  der  Testikei 
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Kastration:  Deffke,  Beiträge  zur  Kastration  der 
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tiere. Tiermed.  Vortr.  Schneidemühl,  2.  1892,  H.  I2,  p.  38 
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Über    die    Castration    der    Hähne.      AUatorvosi  Lapok,    1909, 


Kleinere  Mitteilungen. 


Druckstöcke  ans  Hefe  Auf  dem  Gebiet  der 
Hefeverwertung  ist  wiederum  ein  bedeutender 
Fortschritt  zu  verzeichnen,  der  auf  der  vor  etwa 
Jahresfrist  von  H.  Blücher  und  R.  Krause 
gemachten  Entdeckung  beruht,  daß  sich  aus  Hefe 
als  Hörn-  und  Hartgummiersatz  benutzbare  plas- 
tische .Massen  herstellen  lassen.  Eine  der  kenn- 
zeichnendsten Eigenschaften  dieser  als  Ernolith 
bezeichneten  Massen  besteht  darin,  daß  sie,  in  be- 
liebige Formen  eingepreßt,  deren  feinste  Einzel- 
heiten nach  dem  Erkalten  und  Erhärten  haarscharf 
wiedergeben.  Diese  Beobachtung  ist  von  den 
Erfindern  weiter  ausgebaut  worden  und  hat  dabei 
u.  a.  zu  einem  Verfahren  zur  Herstellung  von 
Druckstöcken  aus  Ernolith  geführt,  dem  in  der 
gegenwärtigen  Zeit  mit  ihrer  großen  Knappheit 
an  den  von  den  graphischen  Gewerben  benötigten 
Metallen  (Kupfer,  Zink  und  Blei)  besondere  VVich- 
tigkeit   zukommt. 

Im  Rohzustand  stellt  das  Ernolith  ein  staub- 
feines, trockenes  Pulver  dar,  das  durch  Heißver- 
pressung weiter  verarbeitet  wird.  I'^ührt  man 
diese  Heißverpressung  über  einer  metallischen 
Matrize  aus,  wie  sie  zur  Herstellung  von  Klischees 
oder  Druckstöcken  dient,  so  erhält  man  ein  stein- 
hartes Ernolithklischee,  das  die  betreftende  Fläche 
mit  höchster  Schärfe    und    in    feinster  Relifierung 


wiedergibt.  Man  kann  aber,  wie  H.  Blücher 
in  der  „Chemiker-Ztg."  ')  mitteilt,  auch  die  Matrize 
selbst  aus  Ernolith  herstellen  und  dann  darin 
Ernolithpositive  pressen.  Dieses  Verfahren,  das 
ebenso  wie  das  erste  unter  Patentschutz  steht,  ist 
das  für  die  Praxis  aussichtsreichste,  weil  es  sich 
nicht  auf  graphische  Zwecke  beschränkt,  sondern 
allgemeiner  Anwendung  fähig  ist. 

Die  Vorteile  des  Verfahrens  bestehen  einesteils 
in  der  Metallersparnis,  die  nicht  nur  für  die  Gegen- 
wart, sondern  auch  für  die  Zukunft  wichtig  ist,  — 
im  Hinblick  auf  den  steigenden  Metallbedarf  der 
Industrie  und  die  steigenden  Metallpreise  ist  es 
eine  volkswirtschaftliche  Pflicht ,  Metalle  nur  da 
zu  verwenden,  wo  sie  ganz  unentbehrlich  sind,  im 
übrigen  aber  die  Ersatzstoft'wirtschaft  beizubehalten 
und  auszubauen  — ,  andernteils  darin,  daß  die 
Herstellung  der  Druckstöcke  sehr  vereinfacht  wird, 
so  daß  sie  weniger  Zeit  erfordert  und  weit  ge- 
ringere Kosten  verursacht. 

Zur  Erläuterung  dieses  Punktes  ein  paar  Worte 
über  die  Anfertigung  der  heute  gebräuchlichen 
Metalldruckstöcke.  Wir  wählen  dazu  aus  der  Viel- 
heit der  Illustrationsverfahren  die  Autotypie  oder 
Rasterätzung,  mit  der  die  Mehrzahl  der  unsere  Zeit- 

')  1917,  H.  71/72,  S.  489. 


572 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Schriften  und  Bücher  schmückenden  Bilder  wieder- 
gegeben werden.  Ausgangspunkt  ist  entweder  eine 
getönte  Zeichnung  oder  eine  Photographie.  DieAuf- 
gabe  ist,  die  Vorlage  so  auf  eine  Metallschicht  zu  über- 
tragen, daß  man  von  der  Reproduktion  drucken 
kann.  Dazu  muß  die  glatte  ( )berfläche  des  Bildes 
in  Erhöhungen  und  Vertiefungen  zerlegt  werden, 
so  daß  man  ein  ähnliches  Gebilde  erhält,  wie  es 
der  aus  Typen  zusammengesetzte  Drucksatz  selbst 
darstellt.  Diese  Aufgabe  wird  auf  photomecha- 
nischem Wege  gelöst.  Man  photographiert  das 
betr.  Bild  durch  einen  sog.  Raster,  zwei  mit  ein- 
gravierten schwarzen  parallelen  Linien  versehene 
Spiegelscheiben,  die  so  zusammengekittet  sind,  daß 
die  Linien  der  einen  Platte  die  der  anderen  recht- 
winklig kreuzen.  Dadurch  entstehen  lauter  kleine 
durchsichtige  Quadrate,  deren  Größe  von  der 
Feinheit  des  Rasters  abhängt,  d.  h.  davon,  wie 
dicht  die  schwarzen  Linien  beieinanderstehen. ') 
Dieses  Rasternetz  haben  die  Lichtstrahlen  bei  der 
Aufnahme  zuerst  zu  durchdringen,  ehe  sie  die 
Platte  belichten  können.  Infolgedessen  zeigt  das 
Negativ  nach  dem  Entwickeln  keine  geschlossene 
Fläche,  sondern  ein  in  unzählige  schwarze  Punkte 
mit  weißen  Zwischenräumen  zerlegtes  Bild.  Das 
Rasternegativ  wird  weiter  auf  eine  blank  polierte, 
mit  einer  lichtempfindlichen  Schicht  versehene 
Metallplatte  kopiert,  die  die  Stelle  des  sonst  ver- 
wendeten Kopierpapiers  vertritt.  Entwickelt  man 
die  belichtete  Platte  in  geeigneter  Weise,  so  lösen 
sich  alle  Stellen  der  lichtempfindlichen  Schicht, 
die  unter  den  schwarzen  Punkten  gelegen  haben 
und  daher  nicht  belichtet  worden  sind,  auf,  und 
nur  die  belichteten  Teile  bleiben  stehen.  Um  das 
so  erhaltene  Positiv  druckfähig  zu  machen,  müssen 
die  nicht  belichteten  Stellen  vertieft  werden.  Dazu 
wird  die  Platte  mit  einer  säurefesten  Schutzschicht 
bedeckt,  die  aber  nur  die  belichteten  Stellen  über- 
zieht. Bringt  man  die  Platte  dann  in  ein  geeignetes 
Säurebad,  so  werden  an  den  nichtbelichteten  und 
ungeschützten  Stellen  die  Metallteilchen  weg- 
gefressen, so  daß  die  belichteten  Stellen  in  Form 
kleiner  Stäbchen  und  größerer  oder  kleinerer  zu- 
sammenhängender F"lächen  reliefartig  aus  dem  ver- 
tieften Untergrund  herausstehen.  Damit  ist  der 
Druckstock  fertig.  Wird  er  zum  Druck  eingefärbt, 
so  bedecken  sich  nur  die  erhabenen  Stellen  mit 
Farbe,  während  die  vertieften  farblos  bleiben.  Dem- 
entsprechend können  auch  nur  die  erhabenen 
Stellen  drucken,  und  es  entsteht  ein  schwarzweißes 
Bild,  das  in  seiner  Zusammensetzung  die  Tonwerte 
des  Originals  getreu  wiedergibt. 

Diese  Beschreibung  zeigt,  daß  sich  der  Werde- 
gang der  Halbtonätzung  zum  größten  Teil  mecha- 
nisch vollzieht;  die  Handarbeit  ist  fast  vollkom- 


')  Für  Autotypien,  die  mit  Rotationsmascliinen  auf  Zeitungs- 
papier gedruckt  werden  sollen,  benutzt  man  Raster  mit  20 — 30 
Linien  auf  i  cm  Breite,  während  für  auf  satiniertem  oder  Kunst- 
druckpapier wiederzugebende  Autotypien  Raster  mit  45 — 60 
Linien  auf  I  cm  Breite  zur  Verwendung  kommen.  Für  Sonder- 
zwecke werden  noch  feinere  Raster  benutzt,  bis  80  Linien  auf 
den  Zentimeter  und  mehr. 


men  ausgeschaltet.  In  der  Praxis  kompliziert  sich 
die  Sache  indessen  dadurch,  daß  nur  in  seltenen 
Fällen  unmittelbar  von  den  so  entstandenen  Druck- 
stöcken gedruckt  werden  kann.  Um  eine  große 
Auflage  rasch  herzustellen,  ist  es  vielfach  nötig, 
die  betr.  Druckschrift  in  mehreren  Maschinen 
gleichzeitig  zu  drucken.  Das  bedingt  das  Vorhanden- 
sein mehrerer  Exemplare  jedes  Druckstocks.  Weiter 
nutzen  sich  die  Druckstöcke  beim  Drucken  sehr 
schnell  ab  und  wenn  man  das  Original  benutzen 
würde,  so  wäre  es  nach  der  Abnutzung  oder  auch 
bei  einer  Verletzung  nicht  möglich,  dasselbe  Bild 
weiterzudrucken.  Deshalb  wird  heute  der  Original- 
druckstock fast  durchweg  zunächst  vervielfältigt; 
es  werden  Abklasche  oder  Klischees  davon  her- 
gestellt, Dazu  bedient  man  sich  allgemein  der 
Galvanoplastik  und  zwar  verfährt  man  entweder 
so,  daß  man  von  dem  Original  ein  Negativ  in 
Guttapercha  oder  Wachs  erzeugt  oder  das  Original 
in  Weichblei  abpreßt.  Die  Wachs-  oder  Gutta- 
perchanegative werden  mit  Graphit  leitend  gemacht, 
in  ein  galvanisches  Kupferbad  eingehängt  und  hier 
so  lange  hängen  gelassen,  bis  sie  sich  mit  einer 
genügend  starken  Kupferhaut  bedeckt  haben  (dauert 
6 — 24  Stunden).  Diese  Kupferhaut,  das  „Galvano", 
wird  dann  von  dem  Negativ  getrennt,  gerade  ge- 
richtet, zur  Verstärkung  mit  Blei  hintergossen, 
nochmals  gerichtet  und  auf  einer  Holzunterlage 
befestigt  (aufgeklotzt).  Alle  diese  Arbeiten  voll- 
ziehen sich  von  Hand  und  erfordern  geübte  Kräfte. 
Das  Arbeiten  mit  Weichbleinegativen  hat  den  Vor- 
teil, daß  man  das  Graphitieren  sparen  kann,  da 
die  Bleimatritze  selbst  leitend  ist.  Im  übrigen  voll- 
zieht sich  die  Herstellung  der  Galvanos  in  gleicher 
Weise,  doch  erfordert  die  Trennung  der  nieder- 
geschlagenen Kupferhaut  von  der  Bleiform  noch 
größere  Sorgfalt  als  die  Ablösung  von  einer 
Wachs-  oder  Guttaperchamatrize.  Beschädigungen 
des  Galvanos  sind  in  beiden  Fällen  leicht  möglich 
und  kommen  ziemlich  oft  vor.  Der  so  entstandene 
„Ausschuß"  ist  natürlich  unbrauchbar  und  muß 
wieder  eingeschmolzen  werden. 

Das  Ernolithverfahren  ist  bedeutend  ein- 
facher und  schaltet  jede  Fehlerquelle  aus.  Zunächst 
kann  man  von  Bleimatrizen  ausgehen,  die  man 
mit  Ernolithpulver  überschichtet,  um  dann  das 
Pulver  durch  Heißverpressung  zu  einem  zusam- 
menhängenden Druckstock  zu  verdichten.  Zweck- 
mäßiger aber  benutzt  man  das  zweite  Verfahren 
der  Pressung  in  Ernolithformen,  da  dadurch  nicht 
nur  weiteres  Metall  erspart,  sondern  auch  die  Schärfe 
der  Klischees  erhöht  wird.  So  weich  nämlich  die 
Bleimatrizen  auch  sind  und  so  vorzügliche  Er- 
gebnisse besonders  spezielle  Verfahren  wie  die 
von  Dr.  Albert  und  Fischer  liefern,  so  ent- 
steht doch  beim  Abpressen  immer  eine  gewisse, 
wenn  auch  vielfach  sehr  geringfügige  Abschwächung 
im  Schärfegrad  gegenüber  dem  Original,  die  ihre 
Ursache  darin  hat,  daß  die  Bleiplatte  einen  zu- 
sammenhängenden Körper  darstellt,  der  sich  nur 
widerstrebend  in  das  Relief  der  Form  zwingen  läßt. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  diese  Schwierigkeit  in 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


573 


Wegfall  kommt,  wenn  wie  beim  Ernolithverfahren 
staubfeines  Pulver  unter  langsam  zunehmendem 
Druck  in  das  Original  hineingepreßt  wird,  wobei 
die  Tiefen  vollständig  ausgefüllt  und  dann  durch 
das  ausfüllende,  zu  einer  festen  Masse  verdichtete 
Pulver  in  allen  Einzelheiten  erhalten  werden.  In 
dieser  P^orm  sintert  beim  Eintreten  der  P'ertig- 
rcaktion  die  verdichtete  Masse  zu  einer  einheitlichen 
Platte,  dem  Negativ,  zusammen,  von  dem  in  genau 
derselben  Weise  hernach  das  eigentliche  Klischee 
aus  Ernolithpulver  gepreßt  wird.  ^) 

Die  unvergleichlich  scharfe  Wiedergabe  aller 
Feinheiten,  durch  die  sich  nach  Blücher's  An- 
gabe die  Ernolithdruckstöcke  auszeichnen,  ist 
von  besonderer  Bedeutung  tür  die  Wiedergabe  von 
Halbtonbildern  (Autotypien).  Die  Punktsysteme 
kommen  selbst  bei  den  feinsten  Rasternummern 
in  voller  Schärfe  zum  Ausdruck,  so  daß  Unter- 
schiede zwischen  dem  Originaldruckstock  und  dem 
zum  Druck  benutzten  Klischee  auch  bei  kritischster 
Betrachtung    nicht    aufgefunden    werden    können. 

Wie  schon  gesagt,  bedarf  man  zur  Herstellung 
von  Kupfergalvanos  geübter  Arbeitskräfte,  da 
einerseits  das  Ablösen  der  Kupferschicht,  anderer- 
seits das  Ausrichten,  das  Hintergießen  mit  Blei 
und  das  Aufklotzen  Arbeiten  sind,  die  sehr  sorg- 
sam ausgeführt  werden  müssen,  wenn  man  brauch- 
bare Druckstöcke  erzielen  will.  Im  Gegensatz 
dazu  vollzieht  sich  die  Erzeugung  von  Ernolith- 
klischees  fast  ganz  mechanisch,  so  daß  es  geübter 
Arbeitskräfte  nicht  bedarf.  Gleichzeitig  ist  damit 
eine  bedeutende  Verkürzung  der  Herstellungsdauer 
verbunden,  die  sich,  wenn  es  sich  darum  handelt, 
eine  größere  Anzahl  von  Ernolithklischees  gleich- 

')  DaU  sich  Ernolithobjekte  in  Ernolithformen  verpressen 
lassen,  ist  eine  vom  teciinischen  Standpunkt  aus  äußerst  inter- 
essante Tatsache.  Blücher  teilt  mit,  dafl  die  Erreichung 
dieses  Zieles  große  Mühe  gemacht  habe.  Das  Zusammen- 
backen von  Matrize  und  Positiv,  bzw.  von  Form  und  Inhalt, 
und  überhaupt  das  Wiedererweichen  der  Form  wird  dadurch 
verhindert,  daß  die  Temperatur-  oder  Druckverhältnisse  bei 
der  2.  Pressung  gegenüber  der  1.  etwas  verringert  werden, 
oder  daß  man  für  die  2.  Pressung  ein  etwas  anders  zusammen- 
gesetztes Pulver  benutzt. 


zeitig  herzustellen,  durch  geeignete  hydraulische 
Pressen  noch  weiter  herabmindern  läßt.  Bezüglich 
der  Härte  der  gesinterten  Ernolithmasse  gibt 
unsere  Quelle  an,  daß  sie  außerordentlich  groß 
ist,  so  groß,  daß  die  mechanische  Nachbearbeitung 
der  Klischeeränder  und  das  Aufklotzen  eigentlich 
die  einzigen  Schwierigkeiten  bieten,  weil  die 
Werkzeuge  schnell  abstumpfen,  wenn  andere  als 
die  durch  Versuche  als  zweckmäßig  gefundenen 
L'mdrehungszahlen  zur  Anwendung  gelangen. 
Das  bei  solcher  Härte  der  Druckflächen  beim 
Druck  nur  eine  sehr  geringe  Abnutzung  auftritt, 
ist  selbstversändlich;  auch  darin  liegt  ein  wesent- 
licher Vorzug  dieser  Klischees. 

Zur  Zeit  sind  die  Erfinder  damit  beschäftigt, 
die  Ernolithklischees  einerseits  für  den  Rotations- 
druck, andererseits  für  den  Tiefdruck  verwendbar 
zu  machen.  In  bezug  auf  den  Rotationsdruck 
soll    ein    voller  Erfolg    in    naher   Aussicht   stehen. 

Erwähnt  sei  zum  Schluß,  daß  die  Blücher'sche 
Arbeit,  auf  die  sich  unsere  Angaben  stützen,  zu- 
gleich die  Mitteilung  bringt,  daß  es  gelungen  ist, 
außer  der  Hefe  noch  einen  anderen  Abfallstoff 
der  Brauindustrie,  den  sogenannten  Kühlschiffirub, 
zur  Ernolitherzeugung  nutzbar  zu  machen.  Als 
Trüb  oder  Kühlgeläger  bezeichnet  man  die  in 
der  Würze  schwimmenden  Hefe-  und  Eiweißteil- 
chen, die  sich  im  Kühlschiff  abscheiden  und  sich 
zusammen  mit  den  beim  Abkühlen  der  Würze 
ausfallenden  Eiweißstofifen  in  einer  dicken  Schicht 
am  Boden  des  Kühlschiffs  ablagern.  Verwendet 
wurde  der  Trüb  b  sher  nur  in  geringfügigem 
Maße  und  zwar  entweder  als  P"uttermittel  oder 
zur  Spiritusfabrikation.  Zu  einem  großen  Teile 
mußte  er  weggeworfen  werden.  Pls  ist  mehrfach 
versucht  worden,  eine  bessere  Verwertung  zu 
erreichen,  doch  haben  diese  Bestrebungen  bisher 
keinen  Erfolg  gehabt.  Durch  die  Verwendung 
zur  Herstellung  von  Ernolith  eröffnet  sich  jetzt 
ein  neues  aussichtsreiches  Absatzgebiet,  ein  Um- 
stand, der  um  so  wervoller  ist,  als  die  Hefe  selbst 
in  steigendem  Maße  auf  Nähr-  und  Futtermittel 
verarbeitet  wird.    (G.C.)  H.  G. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Über  Krieg  und  Vogelzug  berichtet 
Prof  Dr.  J.  T  h  i  e  n  e  m  a  n  n  ^)  in  Rossitten  und 
erwähnt,  daß  beim  Frühjahrs-  und  Herbstzug 
191 5   folgende  Abweichungen  festgestellt  wurden: 

1.  Im  Herbst  1915  sind  bedeutend  weniger 
Krähen  von  Norden  nach  Süden  gewandert  wie 
sonst. 

2.  Bei  den  Kleinvögeln  (Finken,  Schwalben  u.  a.) 
bot  sich  im  Herbst  191 5  oft  die  auffallende  Er- 
scheinung, daß  sie  nach  Norden  zurückzogen, 
anstatt  nach  Süden  abzuwandern. 


')  Schriften  der  Physik. -Ökonom.  Gesellschaft  zu  Königs- 
berg i.  Pr.     LVII.  Jahrg.   1916. 


3.  Im  Oktober  191 5  waren  fast  gar  keine 
Drosseln  in  der  Luft  ziehend  zu  beobachten. 

4.  Das  Fehlen  von  nordischen  Wintergästen 
(z.  B.  Seidenschwänzen)  im  Oktober   1915. 

5.  Unter  den  Raubvögelzügen  im  Herbst  191 5 
auffallend  viel  Hühnerhabichte. 

Als  durch  den  Krieg  veranlaßt  betrachtet  der 
Verfasser  nur  die  unter  Ziffer  i  erwähnte  Er- 
scheinung, indem  die  Krähen  im  östlichen  Kampf- 
gebiet reichlich  Nahrung  fanden  und  sich  daher 
nicht  auf  den  Zug  begaben. 

Der  Verfasser  glaubt  nicht,  daß  die  Kämpfe 
auf  die  ziehenden  Vögel  von  Einwirkung  sein 
können.      Die    Schlachtfronten    haben    höchstens 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


20  km  Tiefe,  eine  Entfernung,  welche  durch  die 
Vögel  in  kürzester  Zeit  überflogen  werden  kann. 
Eine  gemachte  Umfrage  hatte  zum  Ergebnis, 
daß  beim  weißen  Storch  keine  auffällige  Ab- 
weichung von  seinen  Zugszeiten  usw.  wahrzunehmen 
gewesen  sei.  Dagegen  wurden  zwei  Feststellungen 
gemacht : 

1.  Daß  diese  Vogelart  eine  bemerkenswerte 
große  Anhänglichkeit  an  die  gewohnten  Nistorte 
zeigt.  Sie  siedelte  sich  in  den  zerstörten  Gebieten 
Ostpreußens  auf  stellengebliebenen  Schornsteinen, 
Giebelmauern  oder  benachbarten  Bäumen  an, 
wenn  die  Gebäude  nicht  mehr  bestanden. 

2.  Daß  in  den  neu  gebauten  Nestern,  die  die 
Störche  gezwungenermaßen  anlegen  mußten,  es 
sehr  oft  nicht  zur  vollständigen  Zeitigung  der 
Brut  gekommen  ist. 

Der  Verfasser  folgert  aus  dieser  Erscheinung, 
daß  es  den  Anschein  habe,  als  ob  viele  alten 
Störche,  die  in  jedem  Jahre  ihren  alten  Horst 
wieder  vorfanden ,  sich  den  Neubaus  entwöhnt 
haben  und  durch  die  ungewohnte  Arbeit  der 
Neuanlage  des  Nestes  abgehalten  wurden,  das 
Brutgeschäft  bis  zu  Ende  durchzuführen.  Infolge- 
dessen war  die  Vermehrung  der  Störche  eine 
geringere  und  im  Herbst  191  5  sind  aus  Ostpreußen 
ihrer  wenigere  nach  dem  Süden  abgewandert. 
Alb.  Heß. 

Die  Höhe  des  Vogelzuges.')  Trotz  der  Arbeit 
der  Vogelwarten  gibt  uns  der  Vogelzug  noch  manche 
Rätsel  auf,  die  der  Lösung  harren.  Wie  finden 
die  Vögel  ihren  Weg?  Bei  denen,  die  in  Scharen 
wandern,  könnte  man  annehmen,  daß  die  Alten, 
die  den  Weg  schon  zurückgelegt  haben,  die  Führer- 
rolle übernehmen,  trotzdem  es  hierauch  vorkommt, 
daß  die  Jungen  vorausgeschickt  werden.  Wie  steht 
es  aber  mit  denen,  die  einzeln  ziehen,  wie  Kuckuck, 
Wiedehopf,  Nachtigall  und  vielen  Raubvögeln? 
Wer  sagt  ihnen  ferner,  daß  und  wann  sie  ziehen 
sollen?  Sie  haben  doch  vielfach  noch  keinen 
Winter  erlebt,  kennen  also  auch  seine  Gefahren 
noch  nicht,  wissen  auch  nicht,  daß  im  Süden  der 
Tisch  für  sie  gedeckt  ist.  Daß  die  Ursache  des 
Wanderzuges  nicht  in  der  Erfahrung  zu  suchen 
ist,  zeigt  das  Verhalten  der  Stubenvögel,  die  zu 
Beginn  der  Wanderung  unruhig  werden,  gegen 
die  Käfigwände  flattern  usw.  Sie  müßten  doch 
wissen,  daß  sie  es  im  Käfig  besser  haben  als  auf 
der  beschwerlichen  Reise.  Oft  fällt  der  Anfang 
der  Reise  in  die  Zeit  der  Nahrungsfülle  und  des 
schönsten  Wetters,  so  daß  man  also  ihre  Ursache 
in  einem  rein  reflektorischen  Triebe  wird  suchen 
müssen.  Wie  weit  etwa  äußere  Einflüsse  den 
Beginn  oder  die  Richtung  der  Reise  beeinflussen, 
hat  sich  bisher  nicht  mit  Sicherheit  feststellen 
lassen.  Regen,  Nebel  und  starker  Wind  haben 
Unterbrechung  des  Zuges  zur  Folge.  Auch  die 
Annahme,  der  Vogel  fliege  auf  seiner  Wanderung 


')  F- 


in    den    ,, Naturwissenschaften" 


der  Wärme  entgegen,  läßt  sich  nicht  rechtfertigen, 
da  die  Wärmeverhältnisse  unterwegs  sehr  ver- 
schieden sind.  Lucanus  sieht  in  dem  Wander- 
triebe wie  im  Finden  derRichtung  eine  ,,angeborene, 
rein  mechanische  Seelenfunktion,  die  zwar  durch 
äußere  Reize  vorübergehend  beeinflußt  werden  kann, 
im  wesentlichen    sich  aber  gesetzmäßig    vollzieht. 

Eine  andere  viel  umstrittene  Frage  ist  die  nach 
der  Höhe  des  Vogelzuges.  Nach  Gätke  vollzieht 
er  sich  in  solchen  Höhen,  daß  die  Vögel  dem 
menschlichen  Auge  oft  nicht  mehr  wahrnehmbar 
sind.  Er  spricht  von  5000 — 12000  m.  Zu  diesen 
Zahlen  gelangte  er  durch  Schätzung  der  Höhen, 
in  denen  die  Vögel  eben  noch  als  Punkte  erkennbar 
sind.  So  nennt  er  für  den  Bussard  3000 — 4000  m, 
den  Kranich  5— 6000  m,  für  Krähen  3 — 5000  m. 
Zur  Nachprüfung  dieser  Zahlen  wandte  sich  L  u  - 
canus  an  eine  Reihe  von  Lufischiffern.  Das  Er- 
gebnis dieser  Umfrage  war  ein  für  Gätke  un- 
günstiges. Danach  kann  als  äußerste  Höhe  etwa 
400  m  angenommen  werden.  Darüber  hinaus  sind 
nur  selten  Vögel  angetroffen  worden,  die  aber 
nicht  auf  dem  Zuge  waren.  Dabei  ist  nicht  etwa 
anzunehmen,  daß  die  Vögel  den  F"ahrzeugen  aus- 
weichen und  deshalb  nicht  zu  beobachten  sind. 
Sie  lassen  sich  vielmehr  weder  durch  das  Erscheinen 
des  Flugzeuges,  noch  durch  das  Geräusch  der  Pro- 
peller auf  ihrem  Zuge  stören.  Nach  diesen  Beobach- 
tungen fliegen  die  Vögel  immer  so,  daß  sie  die  Erde 
in  Sicht  behalten.  Über  den  Wolken  sind  selten 
welche  angetrofi'en  worden.  Bei  Nebel  findet  die  Reise 
in  geringer  Höhe  (gegen  100  m)  statt  oder  wird, 
falls  er  zu  dicht  wird,  ganz  unterbrochen. 

Gegen  die  Zahlen  von  Gätke  spricht  auch  die 
Temperatur  in  den  von  ihm  genannten  1  löhen. 
Bei  5000  m  herrschen  etwa  — 20"  C,  bei  7000  m 
—  33"  C.  Bei  12000  m  I  [öhe  müßte  also  das  Leben 
wohl  sofort  erstarren.  Zudem  beträgt  der  Luft- 
druck in  5000  m  Höhe  nur  298  mm.  Gegen  Schwan- 
kungen des  Luftdrucks  sind  aber  die  Vögel  be- 
sonders empfindlich. 

Als  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  großen 
Flughöhe  werden  Beobachtungen  von  Astronomen 
angeführt,  die  im  Fernrohr  Vögel  vorüberziehen 
sahen,  deren  Entfernung  sie  auf  viele  Tausende 
von  Metern  schätzten.  Dem  ist  entgegenzuhalten, 
daß  sich  in  den  wenigen  Augenblicken,  die  die 
Vögel  im  Fernrohr  sichtbar  sind,  ihre  scheinbare 
Größe  sowie  ihre  Art  (zur  Bestimmung  der  wirk- 
lichen Größe)  nur  schwer  feststellen  lassen;  beides 
ist  aber  zur  Berechnung  der  Entfernungen  not- 
wendig. 

Beobachtungen  auf  der  Vogelwarte  Rositten 
haben  ergeben,  daß  der  Zug  der  meisten  Vögel 
in  etwa  80—100  m  Höhe  stattfindet.  Nur  an  sehr 
klaren  windstillen  Tagen  erhebt  er  sich  höher, 
doch  bleiben  größere  Vögel  dem  unbewaffneten 
Auge  immer  noch  zu  erkennen.  Unsere  Singvögel, 
wie  Rotkehlchen,  Ammern,  Finken  und  Meisen 
ziehen  in  30  -  80  m  Höhe,  oft  sogar  noch  niedriger. 

L  u  c  a  n  u  s  selbst  hat  die  Zahlen  G  ä  t  k  e  s  prak- 
tisch nachgeprüft,  indem  er  ausgestopfte  Vögel  in 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


575 


fliegender  Stelking  mit  einem  Fesselballon  aufsteigen 
ließ  und  nun  die  Höhe  feststellte,  in  der  sie  eben  noch 
als  Punkte  zu  erkennen  waren  bzw.  dem  Auge  ent- 
schwanden. Es  ergaben  sich :  für  den  Sperber 
eine  Sichtbarkeitsgrenze  von  850  m  (nach  Gätke 
3000  m),  die  Saatkrähe  1000  m  (n.  G.  3  —  5000), 
den  Bussard  1500  m  (3000  m).  Der  Bartgeier  würde 
nach  der  Berechnung  von  Lucanus  in  2000m 
Höhe  dem  Auge  entschwinden,  während  Gätke 
den  etwa  gleich  großen  Kranich  noch  bei  6000  m 
erkennen  wollte.  Zu  diesen  Zahlen  bemerkt  Lu- 
canus ausdrücklich,  daß  seine  Sehschärfe  eine 
doppelte  ist;  um  die  Vögel  in  der  von  Gätke 
angegebenen  1  lohe  erkennen  zu  können,  würde 
eine  sechsfache  Sehschärfe  nötig  sein. 

Als  Ergebnis  seiner  Untersuchungen  hebt  Lu- 
canus hervor,  daß  der  Vogel  ebenso  wie  jedes 
andere  Lebewesen  an  den  Erdboden  gebunden 
ist.  Je  nach  der  Windstärke,  Windrichtung  und 
Bewölkung  ändert  sich  die  Flughöhe,  doch  hält 
er  sich  immer  so,  daß  ihm  die  Erde  sichtbar 
bleibt.  Heycke. 

Urdarmhöhle  und  Cölom.  Der  Wunsch,  die 
verschiedenen  Bildungsweisen  des  Mesoderms  auf 
einen  Typus  zurückzuführen,  hat  zur  Aufstellung 
von  mancherlei  vergleichend-anatomischen  Theorien 
geführt,  unter  denen  die  Cölomtheorie  der  Ge- 
brüder Hertwig  aus  dem  Jahre  1882  die  älteste 
und  heute  noch  diejenige  ist,  die  die  meiste  An- 
erkennung in  der  F~orschung  und  Lehre  findet. 
Ihr  Schulbeispiel  ist  die  Entwicklung  der  Pfeil- 
würmer oder  Chätognathen ;  an  der  Larve  von 
Sagitta  sieht  man,  wie  derUrdarm,  die  Einstülpung, 
durch  die  das  rein  hohlkugelige  Blastulastadium 
zum  Gastrulastadium  wurde,  zwei  sekundäre 
Einstülpungen  bildet,  und  diese  zwei  „Ur- 
darmdivertikel"  schnüren  sich  hernach  vom 
Urdarm  ab  und  werden  dadurch  zur  Wandung 
der  von  ihnen  umschlossenen  paarigen  sekundären 
Leibeshöhle,  des  Cöloms.  Ähnliche  Urdarmdiver- 
tikel  treten  bei  vielen  anderen  Tieren  in  der  Ent- 
wicklung auf,  weshalb  diese  ßildungsweise  des 
Mesoderms  die  allgemeinste  und  ursprüng- 
lichste erscheint  und  seine  in  anderen  F'ällen 
zu  beobachtende  Entstehung  als  ursprünglich 
kompakte  IVIasse  am  Entodcrm  oder  Urdarm,  in  der 
erst  später  die  Cölomhöhle  auftritt,  als  die  weniger 
ursprüngliche  Art  und  Weise  betrachtet  wird. 
H.  E.  Ziegler')  hat  im  Laufe  der  Zeit  eher 
die  gegenteilige  Auffassung  über  diesen  Punkt 
gewonnen.  Die  Vergleichung  der  Urdarmdivertikel 
mit  den  Magentaschen  von  Cölenteraten  —  da 
diese  Tiere  dauernd  kein  eigentliches  Mesoderm 
und  keine  Leibeshöhle  besitzen,  höchstens  ein 
massives,  zellenreiches  „Mesenchym"  —  habe  keinen 
stammesgeschichtiichen  Wert.  Bei  den  Ringel- 
würmern und  Mollusken  entstehe  das  Cölom  nicht 


1)  H.    E.    Ziegler,    Über    die    Enterocöllheorie.      Zool. 
Anzeiger.  Bd.  XLIV,  Nr.  3,   1914,  S.   136 — 141. 


aus  Darmdivertikeln.     Bei    den  Chätognathen 
seien  zwar  die  Urdarmdivertikel  festgestellt,    aber 
nur  bei  den  noch  durchsichtigen  peiagischen  Larven. 
Von  diesen  Stadien  bis  zum  Bau  des  fertigen  Tieres 
klaffe    eine    große  Lücke  in  unseren  Kenntnissen, 
und  es  ist,    meint  Ziegler,  nicht  erwiesen,  daß 
aus  den  Urdarmdivertikeln  ein  Cölom  hervorgeht, 
ja    das   Bestehen  eines  Cöloms   am    fertigen    Tier 
könne  überhaupt  bezweifelt  werden,  wie  ein  solches 
ja  vielen  Würmern  und    allen  Plattwürmern  fehlt. 
Wolle    man    dennoch    bei    den  Chätognathen    die 
Mesodermbildung    in    der    gewöhnlich    für    diese 
Würmer    dargestellten    Weise    annehmen    und  da- 
mit die  Pfeilwürmer  als  nächstverwandte  der  Ringel- 
würmer betrachten,  so  könne  man  als  den  ursprüng- 
licheren Zustand    mit  Korscheit    und  Heider 
nur  den  der  Ringehvürmer  betrachten.    Es  ist  ferner 
bei  Brachiopoden  die  Cölombildung  aus  Urdarm- 
diverkeln  festgestellt.    Die  Brachiopoden  aber  seien 
ein    einseitig    ausgebildeter    Zweig    des    Würmer- 
stammes, gerade  bei  ihnen  könne  man  nicht  einen 
ursprünglichen    Entwicklungsgang    erwarten.     Bei 
Echinodermen    und     Enteropneusten    ist    sowohl 
Divertikelbildung  am  Urdarm  als  auch  —  bei  anderen 
Arten    —   die    Herauswucherung    des    Mesoderms 
aus  solider  Anlage  am  Urdarm    beobachtet;    also 
auch    hier   lasse    sich    nicht    entscheiden,    welche 
Bildungsweise    die    ursprünglichere    wäre.      Sucht 
man    den  Anschluß  dieser  Tiere  bei    den  Ringel- 
würmern, so  wirke  die  .'\uffassung  von  der  Leibes- 
höhle der  Ringelwürmer  auch  auf  die  von  der  jener 
übrigen  ein.     Die  Wirbeltiere  endlich  lassen  durch- 
gehends    keine  Urdarmdivertikel   erkennen,    außer 
bei  Amphioxus  und  bei  .Amphibien.     Diesen  Fällen 
sei  keine  so  hohe  phylogenetische  Bedeutung  bei- 
zumessen,   denn    was    bei  Amphioxus  beobachtet, 
kehre    schon   bei    Tunikaten  und  Selachiern  nicht 
wieder,  was  bei  .Amphibien,  nicht  bei  den  Fischen. 
Nun  kann  man  allerdings  vielleicht  dazu  sagen, 
gerade  bei  Amphioxus  und  bei  Amphibien  könne 
man  die  verhältnismäßig  ursprünglichsten  Entwick- 
lungsgänge   unter    allen    VVirbeltieren     erwarten. 
Aber  selbst  dann  würde  im  Sinne  Z  i  e  g  I  e  r '  s  frag- 
lich   bleiben,    ob    wir    damit    den    ursprünglichen 
Modus    für    die    Tiere    überhaupt    gefaßt    hätten. 
Denn    Ziegler    macht    geltend,     das    Cölom    der 
Wirbeltiere  sei  dem  der  Anneliden  (Ringelwürmer) 
wohl    nicht    homolog,    sondern    nur    konvergent, 
wie  auch  die  Segmentierung  der  Wirbeltiere  von 
der    bei  Würmern    anzutreffenden  wesentlich  ver- 
schieden sei:  bei  jenen  entstehe  sie  aus  der  Musku- 
latur, bei  diesen  gehe  sie  von  den  Gonaden  oder 
den     Exkretionsorganen     aus.       Sonach     möchte 
Ziegler   auch    bei    den  Wirbeltieren  die  Leibes- 
höhle nicht  als  Derivat  der  Urdarmhöhle  auffassen, 
wenigstens  wäre  sie  nicht  ursprünglich  ein  solches 
gewesen.     Man  könne  sich  vielmehr  vorstellen,  daß 
die    Bildung    des    Hohlraums    durch    Ausstülpung 
an    der  Urdarmhöhle    eine   sekundär    eingetretene 
Vereinfachung  oder  Erleichterung  sei,  die  den  sich 
rasch  entwickelnden  Larvenformen    zu  gute  kam. 
V.  Franz. 


576 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Geologie.  Die  Bedeutung  der  Solifluktion  für 
die  Erklärung  deutscher  Landschafts-  und  Boden- 
formen. Die  bedeutsamen  Untersuchungen  von 
B.  Högbom  über  die  geologische  Bedeutung  des 
Frostes  (Bull.  Geol.  Inst.  Upsala  XII,  1914)  veran- 
laßten  W.  Salomon  zu  einer  kritischen  Durch- 
arbeitung ähnlicher  Erscheinungen  in  Deutschland 
(Geologische  Rundschau,  Band  VII,  H.  1/2,  1916). 
Schon  lange  war  von  einzelnen  Forschern  ver- 
mutet worden,  daß  bestimmte  Bodenformen  wie 
die  Felsenmeere  der  deutschen  Mittelgebirge  nicht 
unter  den  heutigen  klimatischen  Verhältnissen  ent- 
standen sein  können.  Im  großen  und  ganzen  war 
aber  doch  die  Meinung  vorherrschend  geblieben, 
daß  die  Blockmeere  durch  Akkumulation  kleiner 
Vorgänge  der  Gegenwart  langsam  entstanden  seien 
und  noch  weiter  sich  bilden  würden.  Vielfach  hat 
man  angenommen,daß  widerstandsfähige  Schichten, 
aus  denen  die  Blöcke  der  Felsenmeere  z.  B.  des 
Odenwaldes,  Pfälzerwaldes,  Schwarzwaldes  usw. 
bestehen,  eine  Zeitlang  überhängende  oder  vor- 
springende Gesimse  gebildet  hätten  und  dann  durch 
Frostwirkung  oder  bloßes  Abbrechen  zn  den  heu- 
tigen Felsenmeeren  zusammengerollt  seien.  Nach 
Götzinger  sind  auch  in  unserem  Klima  die 
lockeren  Schuttmassen  in  einer  dauernden  lang- 
samen Bewegung  nach  unten  begriffen,  die  je  nach 
der  Steilheit  der  Gehänge  und  dem  Grade  der 
Durchfeuchtung  manchmal  3 — 5  cm  im  Jahre  be- 
tragen kann ;  Götzinger  hat  diese  Erscheinungen 
„Gekrieche"  genannt.  Eine  sehr  genaue  Unter- 
suchung der  starken  Fließbewegungen  des  Bodens 
in  den  polaren  und  subpolaren  Gebieten  gab 
J.  G.  Andersson  in  einer  Arbeit  über  Soli- 
fluktion(-Boden  fließen)  und  Blockströme. 
Die  Blockströme  der  Falklandsinseln,  des  Ural,  von 
England,  Gibraltar  und  Schweden  werden  auf 
fossile  Solifluktionserscheinungen  zurückgeführt. 
Ähnlich  erklärt  Passarge  die  Ströme  von 
eckigen  Felsblöcken  im  Riesengebirge,  am  Zobten 
und  in  anderen  deutschen  Mittelgebirgen.  Ebenso 
betrachtet  W.  von  Lozinski  die  h'elsenmeere 
der  zentral-  und  osteuropäischen  Mittelgebirge  als 
eine  fossile  Bildung  der  Diluvialperiode  und  unter- 
scheidet eine  „periglaziale  Facies  der 
mechanischen  Verwitterun g".  Im  Gegen- 
satz zu  Andersson's  subglazialer  Ver- 
witterungsfacies  mit  oft  erheblichem  Trans- 
port des  zerfrorenen  Materials  nimmt  \V.  von 
Lozinski  eine  weitgehende  mechanische  Gesteins- 
zertrümmerung in  situ  durch  Spaltenfrost  an.  Eine 
weitere  Förderung  erhielt  das  Problem  durch  die 
Spitzbergenreise  des  Stockholmer  Internationalen 
Geologenkongresses  und  ganz  besonders  durch  die 
mehrmaligen  Reisen  B.  Högbom's  nach  Spitz- 
bergen. B.  Högbom  macht  vor  allem  auf  die 
„T  j  ä  1  e",  den  Eisboden  oder  gefrorenen  Untergrund 
aufmerksam,  welcher  für  alle  Bodenbewegungen 
in  den  sehr  kalten  Regionen  der  Erde  von  außer- 
ordentlicher Bedeutung  ist.  Der  häufige  Wechsel 
von  Auftauen  und  Gefrieren  über  der  Tjäle  führt 


zu  einem  leichteren  Fließen  des  Bodens  als  in 
unserem  Klima,  da  der  Zusammenhang  zwischen 
der  beweglichen  Oberhaut  des  Bodens  und  dem 
unbeweglich  liegen  bleibenden  Untergrund  in  den 
Tjälegebieten  viel  geringer  sein  dürfte.  Eine  Reihe 
von  eigentümlichen  Bodenformen  kommt  so  zu- 
stande, die  bei  uns  fehlen  oder  doch  nur  als 
Seltenheiten  in  unseren  Hochgebirgen  vorkommen. 
Natürlich  spielte  der  Spaltenfrost  beim  Zerfrieren 
freistehender  Felsoberflächen  sowohl  in  der  Gegen- 
wart wie  in  der  Vergangenheit  eine  wichtige  Rolle. 
Högbom  erklärt  die  heutigen  Bodenformen  als 
Folgen  fossiler  Frostwirkungen  der  Diluvialzeit;  er 
schließt  sich  dabei  nicht  von  Lozinski,  sondern 
J.  G.  Andersson  an,  wobei  er  dessen  Ansichten 
ganz  erheblich  erweitert.  Rezente  Solifluk- 
tionserscheinungen kommen  vor  in;  Spitz- 
bergen, König  KarlsLand,  Bären-Insel,  Island,  Grön- 
land, Arktisches  Nordamerika,  Nordsibirien,  Novaja 
Semlja,  Kola-Halbinsel,  nördliches  Finland,  Graham- 
land, Südgeorgien,  Crozet-Inseln,  Kerguelen,  Skan- 
dinavien, Alpen,  Zentralasien,  F'elsengebirge  Nord- 
amerikas, Patagonische  Anden ,  P'alklands-Inseln, 
Neuseeland;  fossile  Wirkungen  der  Soli- 
fluktion dagegen  aus  P^ngland,  von  Gibraltar, 
aus  dem  Odenwald  (Felsberg),  Taunus,  Harz, 
bayrischen  Wald,  Riesengebirge,  dem  Ural,  aus 
Canada,  den  P'alklands-Inseln  und  Neuseeland. 

Im  Odenwald  wurden  typische  Blockströme 
auf  den  Hängen  des  Felsberges  beobachtet,  die 
sich  weit  von  ihren  vermutlichen  Ursprungspunkten 
entfernen  und  sich  über  ganz  flache  Stellen  der 
von  ihnen  eingenommenen  Rinnen  hinwegziehen. 
Nach  Salomon  sind  sie  in  der  geologischen  Ver- 
gangenheit entstanden  und  zwar  während  des 
kälteren  Klimas  im  Diluvium,  das  ein  Bodenfließen 
über  der  Tjäle  ermöglichte. 

Was  für  den  Odenwald  gezeigt  wurde,  gilt 
auch  für  viele  der  deutschen  Mittelgebirge.  Das 
Klima  der  diluvialen  Vereisung  hat  einen  starken 
Einfluß  auf  die  F"ormen  und  die  Lagerung  der 
obersten  Bodenmassen  gehabt.  Die  heute  nur 
noch  aus  den  polaren  und  subpolaren  Gebieten 
bekannten  Erscheinungen  des  Bodenfließens  über 
einer  Tjäle  waren  auch  bei  uns  wirksam.  Die 
Felsen-  und  Blockmeere  sind  überwiegend  auf 
das  diluviale  Bodenfließen  zurückzuführen,  während 
dem  rezenten  Gekrieche  eine  geringere  Bedeutung 
zukommt.  Eine  dankbare  Aufgabe  zur  Unter- 
scheidung von  Gekrieche  und  Solifluktion  dürfte 
es  sein,  wenn  bei  Vorhandensein  von  guten  Auf- 
schlüssen z.  B.  bei  Wegebauten  möglichst  viele 
gründliche  Beobachtungen  und  Messungen  über 
das  Gekrieche  angestellt  werden  würden. 

V.  Hohenstein. 

Botanik.  Über  die  Fluoreszenz  wässriger 
Rindenauszüge  von  Eschen  in  ihrer  Beziehung  zur 
Verwandtschaft  der  Arten  macht  Lin  g  elsheim, 
der  Monograph  der  Gattung  Fraxinus,  in  Heft  9 
der  Berichte  der  deutschen  botanischen  Gesellschaft, 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


577 


(Band  34,  1916)  bemerkenswerte  Mitteilungen. 
Schon  Harms  hatte  sich  mit  der  Frage  beschäftigt, 
ob  die  Erscheinung  der  Fluoreszenz  in  wässrigen 
Aufgüssen  der  Rinde  bei  bestimmten  Arten 
Rückschlüsse  auf  ihre  systematische  Stellung 
ermögliche.  In  einer  früheren  Nummer  der 
Xaturw.  Wochenschr.  (X.  F.  XIV.,  191 5,  S.  361) 
berichtete  M  o  e  w  e  s  über  die  Untersuchungen 
von  Harms,  die  sich  auf  das  Lignum 
nephriticum  bezogen.  Später  teilte  Harms 
die  Ergebnisse  weiterer  über  die  Fluores- 
zenzerscheinung bei  Pflanzen  angestellter  Unter- 
suchungen mit.  Danach  ist  sie  verhältnismäßig 
häufig.  Übergießt  man  die  Samen  von  Sper- 
gula  arvensis  L.,  einem  gemeinen  Ackerun- 
kraut, mit  Alkohol,  so  steigen  in  der  Flüssigkeit 
bald  tiefblaue  Wolken  auf,  die  sie  schließlich  voll- 
ständig färben.  Der  die  Färbung  bedingende  Stoff, 
das  Spergulin,  ist  nach  Harz  eine  schwache 
Säure.  Rhamnus  frangulaL.,  die  Blätter  der 
ßlutbuche  und  zahlreiche  Bakterienarten  (Pseu- 
domonas) werden  erwähnt.  Auch  manche  der 
als  Gelb  holz  (Alter  Fustik)  im  Handel  befind- 
lichen Hölzer  zeigten  die  Erscheinung,  so  die 
Moracee  Chlorophora  tinctoria  (L.)  Gaud. 
in  mit  Alaun  versetztem  Alkohol.  Der  gleiche 
gelbe  Farbstoft",  das  Morin,  der  bei  den  Moraceen 
verbreitet  sein  dürfte,  findet  sich  auch  im  Holze 
des  indo-malayischen  Jackbaumes  (Artocarpus 
integrifolia  L.) sowie  des  amerikanischen  „Bow- 
wood"  (Maclura  aurantiaca  Xutt.),  die  beide 
schöne  Fluoreszenz  aufweisen.  Am  interessantesten 
ist  aber  das  Verhalten  wässriger  Rindenauszüge 
von  P'raxinus  und  Aesculus. 

Daß  manche  .^rten  der  Roßkastanie  blau  fluo- 
reszieren, ist  schon  von  iVIoeller  angegeben  worden 
(Ber.  deutsche  Pharmaz.  Ges.  33.  S.  54.  191 5). 
Harms  kommt  nun  aber  zu  dem  Ergebnis,  daß 
sich  die  .Arten  der  Gattung,  je  nachdem  sie  keine, 
starke  und  himmelblaue,  oder  schwächliche  und 
grünlichblaue  P'luoreszenz  zeigen,  in  drei  Gruppen 
ordnen  lassen,  die  mit  den  .Sektionen  der  Gattung 
im  ganzen  gut  übereinstimmen.  Es  ist  danach 
anzunehmen,  daß  wir  in  dem  .•\uftreten  des 
Pluoreszenzphänomens  ein  Mittel  besitzen,  die 
natürliche  Verwandtschaft  der  .Arten  zu  erkennen. 
Auch  unter  den  Eschenarten  konnte  Harms 
zwei  Gruppen  unterscheiden,  deren  wässriger 
Rindenauszug  blau,  bzw.  grünblau  fluoresziert, 
wiihrend  eine  Anzahl  Arten  negative  Ergebnisse 
lieferte.  Pir  vermutet,  daß  sich  auch  bei  F  r  a  x  i  n  u  s 
die  Fluoreszenz  in  zweifelhaften  P'ällen  zur  Be- 
stimmung der  Arten  verwenden  läßt,  konnte 
jedoch  nicht  erkennen,  in  welcher  Weise  sich  die 
Erscheinung  auf  die  nach  morphologischen  Merk- 
malen unterschiedenen  Gruppen  verteilt  (Verh. 
bot.  Ver.  Prov.  Brandenburg  57.     191 5.). 

Wie  nun  Lingelsheim  zeigen  konnte,  lag 
dies  daran,  daß  Harms  zum  Teiffalsch  bestimmte 
Pflanzen  vorlagen.  .An  der  Hand  des  ihm  zur 
Verfügung  stehenden  reichen  Materials  kommt  er 
zu  dem  wichtigen  Ergebnis,    daß    ganz   unzweifel- 


haft eine  solche  Beziehung  besteht.  Er  untersuchte 
alle  .Arten  der  Gattung  mit  einer  Ausnahme.  Für 
den  Versuch,  bei  dem  nur  ganz  geringe  Mengen 
der  abgeschabten  Rinde  —  es  genügt  schon  V,o 
mg!  —  oberflächlich  in  ein  mit  Wasser  gefülltes 
Reagenzglas  gebracht  werden,  ist  es  gleichgültig, 
ob  frisches  oder  getrocknetes  Material  vorliegt. 
Selbst  100  Jahre  alte  Stücke  reagieren  ebenso 
kräftig  wie  frische.  Ist  fluoreszierende  Substanz 
überhaupt  vorhanden,  so  ergeben  sich  blau  und 
blaugrün  fluoreszierende  Wolken,  die  beim  Schütteln 
die  gesamte  Wassersäule  färben.  Auf  Grund  mor- 
phologischer Merkmale  heben  sich  aus  den  Gattun- 
gen zwei  Sektionen,  Ornus  und  Fraxinaster, 
scharf  heraus,  von  denen  die  erste  als  phylo- 
genetisch ältere  sich  durch  mancherlei  primitive 
Merkmale  auszeichnet.  Ihnen  stehen  bei  Fraxi- 
naster durch  .Arbeitsteilung  bedingte  Fortschritte 
deutlich  erkennbar  gegenüber,  womit  eine  all- 
mähliche Reduktion  der  Blütenhülle  verbunden 
ist.  Diese  ist  es  gerade,  die  eine  weitere  Teilung 
in  scharf  umrissene  Untergruppen  ermöglicht.  Der 
Versuch  ergab  nun,  daß  die  Glieder  der  Sektion 
Ornus  bis  auf  wenige  Arten  Fluoreszenz  zeigen, 
ebenso  drei  der  zu  Fraxinaster  gehörenden 
Subsektionen.  Den  übrigen  zweien  fehlte  sie  mit 
einer  .Ausnahme,  der  zur  Subsektion  M  e  1  i  o  i  d  e  s 
gestellten  I^" r a X i n u s  anomolaTorr.  Mit  dieser 
einen  Ausnahme  schien  die  .Annahme  einer  .Ab- 
hängigkeit zwischen  .Stammesverwandtschaft  und 
der  Anwesenheit  fluoreszierender  Stoft'e  gut  be- 
gründet. Das  Verhalten  der  letztgenannten  Art 
war  allerdings  höchst  auffallend,  würde  sie  doch 
als  einzige  der  zahlreichen  Melioidessippen  ein 
positives  Resultat  ergeben.  Da  gelang  Lingels- 
heim aber  durch  Untersuchung  eines  Frucht- 
exemplars der  überraschende  Nachweis,  daß  die 
Art  Blumenblätter  besitzt  und  somit  aus  der  kelch- 
blütigen  (apetalen)  Gruppe  der  Melioides  aus- 
zuschalten ist.  Auch  andere  morphologische  und 
pflanzengeographische  Gründe  stellen  sie  zu  den 
Dipetalae.  So  erweist  sich  in  diesem  P'alle  in 
der  Tat  das  Vorhandensein  der  Fluoreszenz  als 
eine  ganz  einwandfreie  Probe  auf  die  Zugehörig- 
keit einer  Art  zu  einem  bestimmten  Verwandt- 
schaftskreise. Weiterhin  zeigt  Lingelsheim, 
daß  auch  bei  den  Sippen  der  Sektion  Ornus 
das  Auftreten,  bzw.  P"ehlen  der  Fluoreszenz  ein 
gesetzmäßiges  Verhalten  darstellt,  das  auf  den 
Stammbaum  der  Gruppe  ein  ganz  neues  Licht 
wirft.  Dagegen  kann  die  Farbe  der  Fluoreszenz 
nur  in  geringem  Grade  als  Verwandtschaftskri- 
terium dienen.  Diese  Versuche  bestätigen  voll- 
auf die  von  Harms  geäußerte  Erwartung,  die 
Fluoreszenzerscheinungen  würden  für  die  Syste- 
matik der  Gattung  wertvoll  sein,  deren  Arten 
ja,  besonders,  wenn  Früchte  nicht  vorliegen,  zum 
Teil  recht  schwierig  zu  unterscheiden  sind.  Das 
Auftreten  der  Fluoreszenz  zeichnet 
ganz  bestimmte  Verwandtschaftskreise 
aus,  ebenso  ist  ihr  Fehlen  ein  eindeu- 
tiges Merkmal  besonderer  Gruppen.  Zum 


578 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Schlüsse  betont  Lingelsheim  die  Möglichkeit 
ähnlicher  Beziehungen  bei  anderen  Gattungen,  die 
er  besonders  bei  Aesculus  für  wahrscheinlich 
hält.  Kr. 

Botanik.  Geschlechtlichkeit  bei  den  Laminarien. 
Bei  einer  vergleichenden  Betrachtung  der  Fort- 
pflanzungsverhältnisse im  Pflanzenreich  erschien 
es  immer  unverständlich,  daß  die  größten  Tange, 
die  Laminariaceen,  die  an  Größe  und  Organisation 
schon  den  Blütenpflanzen  vergleichbar  sind,  sich 
nur  einfach  ungeschechtlich  durch  Schwärmsporen 
fortpflanzen  sollten,  während  die  ihnen  ähnlichen, 
aber  morphologisch  nicht  einmal  so  hoch  organi- 
sierten l*\icaceen  deutliche  Eibefruchtung  bei  höchst 
verschieden  gebildeten  männlichen  und  weiblichen 
Geschlechtsorganen  zeigen.  Zwar  wollte  vor  kurzem 
ein  Beobachter  gesehen  haben,  daß  die  Schwärm- 
sporen kopulieren,  daß  also  der  Keimung  der 
Sporen  eine  Befruchtung  vorausgehe,  doch  es 
erwies  sich,  daß  die  als  männliche  Reproduktions- 
zellen gedeuteten  Gebilde  Monaden  gewesen  sind. 
Nun  aber  hat  der  bekannte  französische  Algologe 
Sauvageau  eine  Entdeckung  gemacht,  die  eine 
höchst  merkwürdige  Entwicklung  der  Laminarien 
kennen  lehrt  und  die  wohl  als  das  wichtigste  Er- 
gebnis auf  dem  Gebiete  der  Algenkunde  in  letzter 
Zeit  zu  betrachten  ist.  Er  fand  nämlich  bei  einigen 
Arten  dieser  Gruppe  einen  Generationswechsel 
und  zwar  in  der  Form,  daß  aus  den  Schwärm- 
sporen eine  winzige,  bisher  übersehene  Geschlechts- 
generation, ein  Prothallium,  hervorgeht  und  daß 
sich  erst  das  befruchtete  Ei  des  weiblichen  Pro- 
thalliums zur  eigentlichen  Pflanze  entwickelt.  Die 
Arten,  bei  denen  er  dieses  Verhältnis  konstatieren 
konnte,  sind  Saccorhiza  bulbosa,  Laminaria  flexi- 
caulis  u.  L.  saccharina.  Die  winzigen  Schwärm- 
sporen bilden  nachdem  sie  zur  Ruhe  gekommen 
sind,  einen  Keimschlauch,  der  sich  zu  kleinen 
verzweigten  Fäden  entwickelt,  ähnlich  einem  Moos- 
protonema.  Doch  kann  auch  ein  solches  Ge- 
schlechtspflänzchen  nur  aus  ein  paar  Zellen  be- 
stehen. Die  einen  bilden  Antheridien,  sind  also 
männliche  Prothallien,  die  anderen,  die  weiblichen 
Prothallien ,  bilden  ( )ogonien.  Das  aus  der 
letzten  oder  vorletzten  Fadenzelle  entstehende 
Antheridium  liefert  ein  Antherozoid,  das  dem  der 
Fucaceen  ähnlich  ist,  also  eine  schlanke,  durch 
zwei  seilliche  Zilien  bewegliche,  nackte  Schwärm- 
zelle. Der  Inhalt  des  (logoniums  tritt  als  nackte 
Eizelle  aus,  bleibt  an  der  Mündung  der  Mutter- 
zelle sitzen  und  wird  hier  offenbar  befruchtet, 
doch    teilt    Sauvageau    über    diesen    Vorgang 

^)  C.  Sauvageau,  Sur  la  se.\ualite  heterogamique  d'une 
Laminaire  (Saccorhiza  bulbosa)  (Comples  rendus  de  l'Acad. 
des  sc.  de  Paris.  T.   i6l.  p.   796). 

Idem  eodem  T.  162.  p.  601  :  Sur  les  gamctophytcs  de 
deux  Laminaires  (L.  flexicaulis   et  L.  saccharina). 

Da  die  genannten  Bände  während  des  Krieges  erschienen 
sind,  werden  sie  in  vielen  Bibliotheken  nicht  zu  haben  sein. 
Deshalb  sind  auch  diese  sowie  die  vorhergehenden,  dort 
zitierten  .Aufsätze  Sauvageau's  wohl  rielen  deutschen 
Botanikern  unbekannt  geblieben. 


noch  nichts  mit.  Das  Ei  entwickelt  sich  ohne 
Ruhepause  zum  Embryo,  der  zunächst  aus  einem 
kurzen  Zellenfaden  besteht.  Dessen  unterste  Zelle 
liefert  das  erste  Rhizoid,  sein  oberer  Teil  verbreitert 
sich  durch  entsprechende  Zellteilungen  und  wächst 
zur  eigentlichen  Pflanze  heran,  die  wir  dann  als 
Sporophyten  zu  bezeichnen  hätten.  Die  Reduktion 
der  Chromosomen  wird  also  jedenfalls  erfolgen, 
wenn  sich  der  Inhalt  des  Sporangiums  in  die  Zoo- 
sporen teilt.  Diese  Sporangien  stehen  in  großer 
Menge  mit  sterilen  Haaren  gemischt  auf  der  Ober- 
fläche des  Laubes  und  bilden  Flecken  von  mehr 
oder  minder  scharf  begrenzter  F"orm,  die  man 
Sori  nennt.  Vermutlich  werden  die  echten  La- 
minariaceen alle  einen  Generationswechsel  besitzen 
entsprechend  den  von  Sauvageau  zuerst  ge- 
machten und  von  Kylin  und  Kuckuck  bereits 
bestätigten  Angaben.  Wie  sich  andere  Braun- 
algen, die  bisher  für  ganz  geschlechtslos  angesehen 
wurden,  in  dieser  Beziehung  verhalten,  muß  die 
Zukunft  lehren.  Möbius. 

Physik.  In  seinem  berühmten  Vortrage  über 
Licht  und  Elektrizität  auf  der  Naturforscherver- 
sammlung in  Heidelberg  (1889)  verglich  Hein- 
rich Hertz  die  elektromagnetische  Lichttheorie 
mit  einem  Gewölbe,  das  eine  Kluft  unbekannter 
Dinge  überspannt.  „Alles  was  man  lange  Zeit 
zur  Kräftigung  dieses  Gewölbes  tun'  konnte,  be- 
stand darin,  daß  man  seine  beiden  Widerlager 
verstärkte.  Wenn  es  dadurch  auch  in  den  Stand 
gesetzt  wurde,  sich  selber  dauernd  zu  tragen,  so 
hatte  es  doch  eine  zu  große  Spannweite,  als  daß 
man  es  hätte  wagen  dürfen,  auf  ihm  als  sicherer 
Grundlage  weiter  in  die  Höhe  zu  bauen.  Hierzu 
waren  besondere  Hauptpfeiler  nötig,  welche  vom 
festen  Boden  aus  aufgemauert,  die  Mitte  des  Ge- 
wölbes faßten.  Einem  solchen  Pfeiler  wäre  der 
Nachweis  zu  vergleichen  gewesen,  daß  wir  aus 
dem  Licht  unmittelbar  elektrische  oder  magnetische 
Wirkungen  erhalten  könnten,  einem  anderen  Pfeiler 
der  Nachweis,  daß  es  Wellen  elektrischer  und  mag- 
netischer Kraft  gibt,  die  sich  nach  Art  der  Licht- 
wellen ausbreiten.  Eine  harmonische  Vollendung 
des  Gebäudes  wird  den  Aufbau  beider  Pfeiler  er- 
fordern". Während  die  Grundsteinlegung  und  ein 
guter  Teil  des  Ausbaus  des  zweiten  Pfeilers  von 
Heinr.  Hertz  selbst  vollbracht  und  von  anderen 
Forschern  so  weit  gefordert  ist,  daß  er  eine  mäch- 
tige Stütze  des  ganzen  Baues  darstellt,  ist  der  erste 
Pfeiler  auch  heute  noch  nicht  vollständig  errichtet 
worden.  Wir  kennen  zwar  eine  ganze  Reihe  von 
Wechselwirkungen  zwischen  Licht  einerseits  und 
elektrischen  und  magnetischen  Kräften  andererseits 
(elektromagnetische  Drehungder  Polarisationsebene, 
lichtelektrische  Erscheinungen,  ZeemanefTekt  und 
die  unlängst  von  J.  Stark  entdeckte  Aufspaltung 
von  Spektrallinien  unter  dem  Einfluß  starker 
elektrischer  Felder),  aber  dieses  Tatsachenmaterial, 
so  rückhaltig  es  auch  zu  sein  scheint,  ist  dennoch 
zu  geringfügig,  um  bei  der  großen  Zahl  der  not- 
wendigen Hilfshypothesen  die  volle  Sicherheit  der 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


579 


Schlüsse  zu  gewährleisten.  Es  ist  daher  von  Be- 
deutung, daß  der  Bau  des  von  der  optischen  Seite 
errichteten  Stützpfeilers  auf  einem  ganz  anderen 
Wege  hat  gefördert  werden  können,  nämlich  durch 
die  Erforschung  des  ultraroten  Spektrums. 
Über  die  Bedeutung  des  ultraroten 
Spektrums  für  die  Bestätigung  der 
elektromagnetischen  Lichttheorie  hat 
Rubens  in  der  Sitzung  der  Preußischen  Akademie 
der  Wissenschaften,  in  der  öffentlichen  Sitzung  am 
25.  Januar   1917  den  Festvortrag  gehalten.^) 

Die  Schwierigkeiten,  Messungen  um  Ultraroten 
(Wellenlänge  größer  als  0,8  a  =  o,ooo8  mm)  aus- 
zuführen, sind  einesteils  darin  begründet,  daß  das 
Auge  auf  diese  langwelligen  Strahlen  nicht  an- 
spricht, man  muß  also  erst  ein  Mittel  schaffen, 
sie  nachzuweisen :  (Thermosäule,  Bolometer).  Ferner 
werden  die  Strahlen  von  einem  Glasprisma  zum 
allergrößten  Teil  absorbiert.  Durch  Verwendung 
von  Prismen  aus  Steinsalz  und  Sylvin  ist  es  ge- 
lungen, Wellenlängenmessungen  bis  zu  23  /(  d.  i. 
das  40  fache  der  Wellenlänge  des  Natriumlichtes 
auszuzuführen.  Eine  weitere  Ausdehnung  der 
Messung  ist  wegen  der  Absorption  der  Prismen- 
substanz nicht  möglich.  Auf  einem  anderen  von 
Rubens  angegebenen  Wege  gelingt  es  weiterzu- 
kommen: Nach  unseren  Vorstellungen  vom  Aufbau 
der  Materie  ist  es  vorauszusehen,  daß  jeder  Körper 
ganz  bestimmte  Ätherwellen  absorbiert  nämlich 
diejenigen,  deren  Schwingungszahl  mit  der  Eigen- 
frequenz jener  schwingungsfähigen  Gebilde  über- 
einstimmt, aus  denen  sich  der  Körper  aufbaut. 
Bei  den  regulären  Kristallen  mit  einatomigem 
Raumgitter  hat  man  berechnen  können,  daß  nur 
eine  solche  Resonanzstelle  (Absorptionsbande) 
vorhanden  ist,  die  im  Gebiete  der  äußerst  lang- 
welligen ultraroten  Strahlen  liegt.  In  unmittel- 
barer Nähe  dieser  Absorptionsstreifen  nimmt  das 
Reflexionsvermögen  außerordentlich  hohe  Werte 
an,  wie  wir's  bei  der  metallischen  Reflexion  etwa 
an  einem  Silberspiegel  für  Lichtstrahlen  beobachten. 
Das  kann  man  nun  benutzen,  um  einzelne  lang- 
wellige Strahlenkomplexe  auszusondern.  Läßt  man 
z.  B.  Sirahlen  aller  Wellenlängen  auf  eine  Stein- 
salzfläche fallen,  so  werden  diejenigen,  deren 
Wellenlänge  um  52  /(  herum  liegt,  besonders  stark 
reflektiert,  während  alle  übrigen  in  den  Kristall 
eindringen.  Läßt  man  das  reflektierte  Strahlen- 
bündel noch  mehrere  Mal  an  einem  Spiegel  aus 
dem  gleichen  Kristall  reflektieren,  so  enthält  er 
schließlich  nur  Strahlen  von  der  angegebenen 
Wellenlänge ;  sie  werden  Reststrahlen  genannt. 
Sie  sind  in  der  folgenden  Tabelle  für  verschiedene 
Substanzen  zusammengestellt. 


Flußspat 
Steinsalz 


ttlere  Wellenlänge 

24,0  u.  31,6  /( 

52,0    (( 


Reststrahlen  von 

Mittlere   Wellenlänge 

Sylvin 

63.4 

Chlorsilber 

81,5 

Bromkalium 

82,6 

Thalliumchlorür 

91,6 

Jodkalium 

94,1 

Bromsilber 

112,7 

Thalliumbromür 

117,0 

Tiialliumjodür 

151,8 

')  Sitzungsber.    d.    Kgl.    Preuß.    Ak.    d.  Wi 
IV  S.  47- 


Man  sieht,  wie  außerordentlich  unsere  Kennt- 
nis des  ultraroten  Spektrums  durch  die  Methode 
der  Reststrahlen  erweitert  ist.  Sie  umfassen  einen 
Wellenlängenbereich  vom  40  fachen  bis  zum 
250  fachen  des  Natriumlichtes.  Daß  man  mit  dieser 
Methode  noch  größere  Wellenlängen  isoliert,  ist 
nicht  wahrscheinlich,  da  es  nicht  viele  für  optische 
Zwecke  verwendbare  Substanzen  gibt,  deren  Raum- 
gitterschwingungen noch  langsamer  erfolgen  als 
bei  dem  Thalliumjodür.  Außerdem  werden  die 
Messungen  durch  die  sehr  geringen  Strahlungs- 
intensitäten sehr  erschwert;  so  beträgt  bei  den 
Reststrahlen  des  Thalliumjodürs  ihre  Intensität 
kaum  mehr  als  ein  Millionstel  der  Gesamtstrahlung 
des  als  Strahlungsquelle  benutzten  schwarzen 
Körpers  von   looo "  C. 

Auf  einem  anderen  Wege  kann  man  noch  weiter 
in  das  Gebiet  des  Ultraroten  eindringen,  es  ist 
die  Quarzlinsenmethode;  auch  sie  ist  von 
Rubens  angegeben.  Quarz  ist  für  ultraviolettes 
und  sichtbares  Licht  sehr  durchlässig,  für  ultra- 
rote Strahlen  bis  zu  21  /(  etwa  nimmt  seine 
Durchlässigkeit  ab,  um  für  größere  Wellenlängen 
wieder  zuzunehmen.  Sein  Brechungsexponent  für 
diese  langwelligen  Strahlen  ist  sehr  groß;  ein 
Quarzprisma  lenkt  sie  doppelt  so  stark  ab  wie  die 
Licht-  und  Wärmestrahlen,  so  daß  eine  Trennung 
dieses  langwelligen  Teils  von  dem  kurzwelligen 
leicht  möglich  ist.  F"ür  eine  Linse  aus  Quarz  liegt 
ihr  Brennpunkt  jenes  langwelligen  Strahlengebietes 
viel  dichter  an  der  Linse  als  für  den  kurzwelligen 
Teil.  Sie  entwirft  mithin  von  einer  Lichtquelle 
zwei  Bilder  hinter  der  Linse,  von  dem  das  eine 
die  gewöhnlichen  Licht-  und  Wärmestrahlen  ent- 
hält, während  das  andere,  viel  näher  an  der  Linse 
liegende  die  gesuchte  langwellige  Strahlung  ver- 
einigt. Man  stellt  die  Lichtquelle  nun  so  zur  Linse 
auf,  daß  das  erste  Bild  virtuell  wird,  während  das 
zweite  reell  bleibt.  An  die  Stelle,  wo  das  „lang- 
wellige" (natürlich  unsichtbare)  Bild  entsteht,  bringt 
man  eine  Blende,  die  gerade  jenes  Bild  aufnimmt. 
Dann  dringen  die  langwelligen  Strahlen  durch  die 
Blendenöffnung  hindurch,  während  von  den 
divergenten  Strahlen,  die  vom  virtuellen  sichtbaren 
Bild  ausgehen,  kein  merkbarer  Bruchteil  hinter 
den  Blendenschirm  gelangt.  Durch  Wiederholung 
des  Isolierverfahrens  mittels  einer  zweiten  Quarz- 
linse enthält  man  den  langwelligen  Strahlungsanteil 
in  vollkommener  Reinheit.  Die  LIntersuchung  einer 
Reihe  von  Strahlungsquellen  nach  diesem  Verfahren 
lieferte  eine  inhomogene  Strahlung  mit  einem 
Maximum  bei  etwa   lOO  ,«.     Die  Quarzqueck- 


58o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


silberlampe  enthält  Strahlen  von  noch  größerer 
Wellenlänge;  die  nach  dem  geschilderten  Verfahren 
isolierte  Strahlung  besteht  aus  zwei  Teilen,  von 
denen  der  eine  von  dem  heißen  Quarzrohr  stammt 
und  keine  Besonderheiten  zeigt.  Der  zweite  Teil 
geht  von  dem  leuchtenden  Quecksilberdampf  aus 
und  seine  Untersuchung  zeigt,  daß  er  aus  zwei 
Emissionsbanden  besteht,  deren  Maxima  bei  218 
und  34:"2  /<  gelegen  sind;  die  Wellenlänge  ist  dem- 
nach größer  als   '/s   mm- 

Während  sich  das  sichtbare  Spektrum  von 
Violett  0,4  /(  bis  Rot  0,8  ß  erstreckt,  also  in  der 
Ausdrucksweise  der  Akustik  eine  Oktave  umfaßt, 
enthält  das  ultrarote  Spektrum,  soweit  es  durch 
rein  optische  Methoden  untersucht  ist,  8 — 9  Okta- 
ven; es  übertrifft  danach  an  Umfang  der  Schwin- 
gungszahlen die  Tonskala  eines  modernen  Konzert- 
flügels. Interessant  ist  ein  Vergleich  mit  dem 
bisher  erforschten  ultravioletten  Teil  des  Spek- 
trums; es  umfaßt  nicht  ganz  drei  Oktaven,  von 
0,4  (.1  bis  0,06  ;(.  Dann  folgt  ein  Gebiet  von  nahezu 
sechs  Oktaven,  das  uns  noch  vollständig  unbekannt 
ist.  Daran  schließen  sich  die  Röntgenstrahlen 
mit  6'/,,  Oktaven.  Mithin  beträgt  der  Umfang 
des  uns  bekannten  optischen  Spektrums  heute 
etwa  19  Oktaven,  von  denen  aber  nur  eine  einzige 
durch  unser  Auge  wahrgenommen  wird. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  die  Erforschung 
des  ultraroten  Spektrums  zur  Prüfung 
der  elektromagnetischen  Lichttheorie 
dienen  kann.  Die  Max  well'schen  Gleichungen 
gelten  nur  für  ein  kontinuierliches  Medium  d.  h. 
für  strukturlose  Medien,  in  denen  weder  selektive 
Absorption  noch  Farbenzerstreuung  vorkommen 
kann.  Wir  nehmen  aber  einen  diskontinuierlichen 
Bau  der  Materie  an,  indem  wir  sie  aus  einzelnen 
Atomen  aufgebaut  denken.  Nun  ist  allerdings 
eine  Beeinflussung  der  elektromagnetischen  Wellen 
durch  die  Eigenschwingungen  der  Atome  so  lange 
nicht  zu  erwarten,  als  die  Schwingungszahl  der 
Wellen  sehr  viel  kleiner  ist  als  die  Eigenfrequenz 
der  schwingungsfähigen  Gebilde,  aus  denen  der 
Körper  besteht,  weil  dann  Resonanzerscheinungen 
ausgeschlossen  sind,  d.  h.  langen  Wellen  gegen- 
über weicht  das  Verhalten  der  Körper  nicht 
wesentlich  von  dem  des  in  der  Theorie  voraus- 
gesetzten Kontinuums  ab.  In  den  kurzwelligen 
Teilen  des  Spektrums  dagegen,  in  denen  die 
Schwingungszahlen  von  derselben  Größenordnung 
wie  die  molekularen  Eigenfrequenzen  sind,  wird 
die  Theorie  versagen.  Je  weiter  wir  im  Spek- 
trum nach  den  langen  Wellen  fortschreiten  und 
uns  damit  von  dem  Gebiet  der  molekularen 
Eigenschwingungen  entfernen,  um  so  mehr  müssen 
wir  erwarten,  daß  die  von  Maxwell  entwickelten 
Beziehungen  zwischen  optischen  und  elektrischen 
Eigenschaften  der  Körper  sich  als  richtig  erweisen. 
Hier  tritt  also  die  Bedeutung  des  langwelligen 
ultraroten  Spektrums  deutlich  zutage. 

Als  erste  solcher  Beziehung  kommt  eine  Ab- 
hängigkeit zwischen  dem  elektrischen  Leitver- 
mögen, der  Extinktion  für  eine  gegebene  Strahlenart 


und  der  Wellenlänge  dieser  Strahlen  in  Betracht. 
Die  Formel  sagt  aus,  daß  die  besten  elektrischen 
Leiter  für  eine  gegebene  Wellenlänge  die  höchsten 
Extinktionskoeffizienten  besitzen,  mithin  die  un- 
durchsichtigsten Substanzen  sind.  Qualitativ  wird 
dieser  Satz  durch  die  Erfahrung  ohne  weiteres  be- 
stätigt, indem  die  besten  Leiter,  die  Metalle,  die 
undurchsichtigsten  Substanzen  sind.  Bei  einer 
quantitativen  Prüfung  versagt  indessen  die  Formel 
vollständig.  Die  aus  dem  Leitvermögen  er- 
rechnete Durchlässigkeit  ist  bei  den  Metallen  um 
ein  Vielfaches  geringer  als  die  optisch  beobachtete. 
Diese  Unstimmigkeiten  schwanden,  als  Rubens 
und  seine  Mitarbeiter  nicht  die  Durchlässigkeit 
für  sichtbares  Licht,  sondern  für  ultrarote  Strahlen 
bestimmten.  Je  weiter  man  nach  der  langwelligen 
Seite  fortschreitet,  um  so  besser  wird  die  Über- 
einstimmung. Für  die  Reststrahlen  des  Fluß- 
spates ist  sie  vollkommen  zwischen  der  beobach- 
teten Absorption  und  den  aus  dem  elektrischen 
Leitvermögen  berechneten  Werten.  Es  wurden 
12  reine  Metalle  und  21  Legierungen  untersucht 
und  eine  erhebliche  Abweichung  nur  bei  dem 
Wismut  gefunden,  das  sich  ja  auch  in  anderer 
Hinsicht  abnorm  verhält.  (Daß  aus  praktischen 
Gründen  statt  der  Extinktion  die  Emission  der 
Metalle  bestimmt  wurde,  ist  ohne  Bedeutung,  da 
es  für  diese  eine  entsprechende  Beziehung  gibt  wie 
für  jene.)  Man  ist  also  mh  Hilfe  der  Maxwell- 
schen  Formel  imstande,  das  elektrische  Leit- 
vermögen eines  Metalls  aus  optischen 
Strahlungsmessungen  zu  bestimmen 
und  umgekehrt. 

Der  zweite  aus  der  Max  well' sehen  Theorie 
abgeleitete  Satz  besagt,  daß  das  Quadrat  des 
Brechungsexponenten  gleich  der  Dielektrizitäts- 
konstanten der  betreffenden  (nichtleitenden)  Sub- 
stanz sein  muß.  Bei  den  Gasen  und  einigen 
wenigen  festen  und  flüssigen  Stoffen  wird  diese 
Beziehung  durch  die  Erfahrung  bestätigt,  wenn 
man  den  Brechungsexponenten  für  sichtbares  Licht 
einsetzt.  Bei  der  Mehrzahl  der  Stoffe  ergibt  sich 
wegen  der  Störung  durch  die  molekujaren  Eigen- 
schwingungen keine  befriedigende  Übereinstim- 
mung, ja  vielfach  starke  Abweichungen  von  der 
von  der  Theorie  geforderten  Gesetzmäßigkeit. 
Mit  Hilfe  der  langwelligen  Quecksilberdampf- 
strahlung sind  von  Rubens  und  seinen  Mit- 
arbeitern 35  feste  Körper  (20 Kristalle  und  15  amor- 
phe Substanzen)  untersucht  und  ihre  Brechungs- 
exponenten und  Dielektrizitätskonstanten  gemessen 
worden.  In  allen  Fällen  ist  die  Maxwell'sche 
Beziehung  mit  hinreichender  Genauigkeit  erfüllt. 
Bei  den  Flüssigkeiten  lassen  sich  zwei  Gruppen 
unterscheiden;  in  der  ersten,  zu  der  u.  a.  Benzol, 
Xylol  und  Schwefelkohlenstoff  gehören,  ist  schon 
für  relativ  kleine  Wellenlängen  des  ultraroten 
Spektrums  die  Gleichung  gültig,  bei  der  zweiten 
dagegen  —  ihr  gehören  Wasser,  Glycerin  und 
die  Alkohole  an  —  ist  auch  für  die  langwelligsten 
bekannten  Strahlen  die  Annäherung  der  Brechungs- 
exponenten an  die  Wurzel  aus  der  Dielektrizitäts- 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S81 


konstanten  noch  lange  nicht  vollendet.  Bei  diesen 
Substanzen  muß  daher  bei  noch  viel  längeren 
Wellen  (etwa  im  Bereich  der  Hertz'  sehen  Wellen ) 
nochmals  starke  Absorption  und  anomale  Dispersion 
auftreten,  was  in  den  meisten  Fällen  auch  tat- 
sächlich beobachtet  worden  ist.  Diese  Absorption 
beruht  indessen  nicht  auf  molekularen  Eigen- 
schwingungen, sondern  nach  Debye  auf  dem 
richtenden  Einfluß,  welche  das  elektrische  Wechsel- 


feldder  Schwingungen  auf  die  elektrisch  polarisierten 
Flüssigkeitsmoleküle  ausübt. 

Die  Kenntnis  des  ultraroten  Spektrums  hat 
also  auf  zwei  wichtigen  Gebieten  zu  einer  quan- 
titativen Bestätigung  der  elektromagnetischen  Licht- 
theorie geführt.  Wir  sind  imstande,  das  elektrische 
Leitvermögen  eines  Metalls  und  die  Dielektrizitäts- 
konstante eines  festen  Isolators  aus  rein  optischen 
Messungen  zu  ermitteln.  K.  Seh. 


Bücherbesprechungen. 


Karl  Sapper ;  GeologscherBau  und  Land- 
schaftsbild.   Die  Wissenschaft.    Band  61   mit 
16  Abbildungen.      Friedrich  Vieweg  und  Sohn, 
Braunschweig    191 7. 
Ein    Buch    liegt    uns    hier    vor,    das    aus    dem 
reichen  Schatz  eigener  Forschungen  uns  Anschau- 
ungen in  überaus  lebendiger  Darstellung   und  der 
Erde    verschiedene  Landschaftstypen  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit vom  geologischen  Bau  und  als  Produkt 
geomorphologischer  Vorgänge  darstellt.    Wie  man 
das  Landschaftsbild  subjektiv  begreift,  welche  Ver- 
änderung   es    erleben    kann  durch  Beleuchtung  in 
den  Jahreszeiten,  Tageszeiten,  welche  Elemente  die 
Landschaft    bilden    (biologische,    anorganische)  er- 
fährt man  in  den  einleitenden  Abschnitten.    Rein 
geologische  Studien    zum  Verständnis    des    Land- 
schaftsbildes bietet  der  Verf  erst  im  4.  Abschnitt 
dar    (Die   Grundformen    oder    primären    Struktur- 
formen),   im    5.    Abschnitt    (Abtragung    und    Auf- 


schüttung). Den  Schluß  des  allgemeinen  Teiles 
bildet  die  Behandlung  der  hydrologischen  Deck- 
gebilde und  des  Hüllgebildes  der  Erde  (Atmo- 
sphäre) als  geologische  Faktoren,  die  Einfluß  auf 
den  geologischen  Aufbau  des  Landschaftsbildes 
gewinnen.  —  Im  besonderen  Teil  schildert  der 
Verf.  einzelne  Typen  der  Erdenlandschaften.  Und 
darin  liegt  der  höhere  Wert  des  Buches,  weil  er 
darin  vieles  gibt,  was  er  mit  eigenen  Augen  ge- 
sehen hat,  was  seine  eigenen  Forschungen  sind. 
Er  gibt  uns  den  Typus  der  „regenfeuchten  Tropen- 
landschaft, der  offenen  Tropenlandschaft,  der  tro- 
pischen und  subtropischen  Wüsten-  und  Halb- 
wüstenlandschaft, der  feuchten  Landschaft  der  ge- 
mäßigten Zone,  der  Steppen  und  Wüsten  der  ge- 
mäßigten Zone,  der  Hochgebirge  der  mittleren 
und  niederen  Breiten,  der  subpolaren  und  polaren 
Landschaft,  der  Meeres-  und  Küstenlandschaften." 
Hundt,  im  Felde. 


Anregungen  und  Antworten. 


über  das  Familienleben  der  Störche  konnte  ich  in  diesem 
Jahre  eine  eigenartige  Beobachtung  machen.  In  Hudemühlen 
a.  d.  Aller  befindet  sich  auf  einem  Hause  ein  Storchnest,  das 
wie  alljährlich  so  auch  in  diesem  Jahre  von  einem  Storch- 
paare bezogen  wurde.  Als  ich  die  Störche  in  diesem  Jahre 
zum  ersten  Male  sah,  waren  sie  gerade  beim  Brüten.  Einige 
Zeit  später,  als  die  Jungen  eben  ausgeschlüpft  waren,  sah  ich 
bei  ihnen  nur  einen  alten  Storch.  Auf  Befragen  erfuhr  ich,  daß 
der  andere  alte  Storch  im  Fluge  gegen  die  Hochspannungs- 
drähte gestoßen  und  durch  den  elektrischen  Strom  getötet  war. 
Die  Kinder  der  Nachbarschaft  hatten  ihn  bestattet,  leider  konnte 
ich  nicht  feststellen,  ob  das  männliche  oder  das  weibliche 
Tier  verunglückt  war.  Ganz  überrascht  war  ich,  beim  dritten 
Besuche  des  Ortes  wieder  zwei  alte  Störche  auf  dem  Neste  zu 
sehen.  Wie  ich  erfuhr,  hatte  sich  etwa  acht  Tage  nach  dem 
Tode  des  einen  Storches  ein  neuer  Storch  eingestellt,  der  dem 
übriggebliebenen  getreulich  bei  der  Pflege  und  Aufzucht  der 
Jungen  half.  Durch  nichts  war  festzustellen,  daß  es  sich  hier 
um  einen  Stiefvater  oder  eine  Stiefmutter  handelte,  das  Ver- 
halten der  beiden  alten  Störche  entspricht  durchaus  dem 
üblichen  Verhalten. 

In  der  mir  zugänglichen  Literatur  finde  ich  keinen  ähn- 
lichen Fall  verzeichnet.  In  Brehm's  Tierleben  heißt  es;  „Aus 
allen  Beobachtungen  darf  man  folgern,  daß  die  Ehe  eines 
Storchpaares  für  die  Lebenszeit  geschlossen  wurde  und  beide 
Gatten  sich  in  Treue  zugetan  sind."  Und  im  Anschluß  daran 
erzählt  B  r  e  h  m  eine  von  E.  v.  Horaeyer  verbürgte  Geschichte 
von  einem  weiblichen  Storch,  der  nach  dem  Tode  des  Gatten 
über  1 1  Jahre  allein  blieb,  trotzdem  er  viel  umworben  wurde. 
In  diesem  Falle  scheint  der  alte  Storch  sich  schneller  über  den 
Verlust    des  Gatten   getröstet    zu    haben.     Vielleicht    aber  war 


es  auch  die  Sorge  um  die  Jungen,  die  ihn  veranlaßte,  von  der 
sonstigen  Regel  abzuweichen.  Jedenfalls  gibt  ein  derartiger 
Fall  dem  Naturbeobachter  und  Tierpsychologen  eine  Reihe 
von  Fragen  auf,  deren  Beantwortung  sehr  erwünscht  wäre, 
aber  wohl  kaum  im  Bereich  der  Möglichkeit  liegt.  Immerhin 
könnte  durch  Mitteilung  ähnlicher  verbürgter  Fälle  in  gewissem 
Sinne   Klarheit  geschaffen  werden.  E.  Zieprecht. 

Zum  Artikel  in  der  Naturw.  Wochenschr.  Bd.  32  S.  201. 
Sind  die  Maskarenen  und  die  zentralpazifischen  Inseln  ozeanisch .' 
erlaube  ich  mir  eine  Mitteilung  zu  machen,  die  vielleicht  von 
Interesse  ist. 

Prähistorische  Steinfiguren  wie  auf  der  Osterinsel  sind 
auch  auf  Necker  Island,  nordwestlich  von  Hawaii  unter  dem 
Wendekreise  gelegen,  gefunden. 

Ende  Mai  1SQ4  annektierte  die  damalige  provisorische 
Regierung  von  Hawaii  jene  Insel  um  den  Engländern  zuvor- 
zukommen, die  man  in  Verdacht  hatte  Necker  Island  als 
Station  für  ihr  transpazifisches   Kabel  besetzen  zu   wollen. 

Die  Flaggenhissungsexpedition  fand  dort  Monolithe  wie 
auf  der  Osterinsel.  Der  schwierigen  Landung  und  der  schweren 
See  wegen  konnte  der  .Aufenthalt  nur  von  kurzer  Dauer  sein. 

Ich  hielt  mich  in  den  Jahren  1S91  — 1S97  auf  Hawaii  auf 
und  meine  Nachricht  stammt  aus  dem  Bericht  über  genannte 
Expedition  in   der  Hawaiian  Gazette  zu  der  Zeit  veröffentlicht. 


Her 


Brons. 


Der  Sonnentau  als  Insektenvertilger.  In  einem  Moore  der 
Hehlenteiche  beim  DorfeVVinkel  (Kreis  Gifhorn)  ist  in  diesem 
Jahre,  begünstigt  durch  die  anormalen  Witterungsverhältnisse, 
auf  einer    großen  Fläche    der    Sonnentau  (Drosera  intermedia) 


S82 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


recht  üppig  gediehen.  Das  weithin  leuchtende  Rot  der  Wimper- 
härchen, mit  denen  die  Blätter  berandet  und  auf  deren  lebhaft 
grüner  Oberseite  besetzt  sind  und  an  deren  Spitze  ein  Tau- 
tröpfchen im  Sonnenschein  glitzert,  sind  Anreiz  genug,  die 
Insekten  herbeizulocken.  Eine  Unmenge  hiervon,  besonders 
Schmetterlinge,  ließen  sich  nun  auf  dieser  Sonnentaukolonie 
nieder.  Von  den  Schmetterlingen  waren  es  vorzugsweise  Weiß- 
linge (Pieris  brassicae,  rapae  und  napi),  die  der  verführerischen 
Einladung  zu  einem  Besuclie  der  Sonnentaupflanzeu  nicht 
widerstehen  konnten.  Zunächst  waren  es  nur  einige,  die  sich 
dort  einfanden,  an  den  klebrigen  Tautröpfchen  hängen  blieben 
und  sogleich  von  den  Tentakeln  am  Kopfe  umklammert  wurden, 
wobei  sich  das  betreffende  Blatt  bald  über  den  Kopf  des 
Insekts  krümmte,  um  das  Opfer  desto  sicherer  festzuhalten  und 
es  mit  Hilfe  eines  pepsinhaltigen  Saftes  aufzulösen  und  zu 
verdauen. 

Die  Anwesenheit  einiger  Weißlinge  reizte  vielleicht  andere 
Artgenossen  an  dem  vermeintlich  leckeren  Mahle  teilzunehmen. 
Auch  sie  ereilte  das  gleiche  Schicksal.  So  war  denn  schließ- 
lich (zu  Beginn  des  Juli)  die  ganze  weite  Sonnentaufläche  von 
Weißlingen  wie  übersäet  —  ein  eigenartiges  Bild  lür  den  Be- 
schauer! Was  die  Raupen  den  Feld-  und  Gartenfrüehten  der 
dortigen  Gegend  an  Schaden  zugefügt  hatten,  rächten  diese 
kleinen  Pflanzen  au  den  Schmetterlingen  und  deren  Nach- 
kommenschaft. Julius  Reißner-Braunschweig. 

Luftvvellen  als  Schlieren  sichtbar.  (Mit  I  Abb.  im  Te.xt.) 
Die  MitleiluDgen  der  Herren  Franz  und  Mi  ehe  in  Nr.  32 
der  Xaturw.  Wochenschr.,  über  Beobachtung  von  Luftschlieren 
unmittelbar  mit  den  Augen  oder  durch  ein  Fernglas,  bringen 
Beobachtungsmöglichkeiten  in  Erinnerung,  die  in  wissen- 
schaftlichen Kreisen  seit  mehr  als  einem  Vierteljahrhundert 
bekannt,  seitdem  aber  auch  wieder  in  Vergessenheit  geraten 
waren. 

Besonders  darf  ich  in  dieser  Hinsicht  eine  Veröffentlichung 
des  Geh.  Reg.-Rats  Herrn  Dr.  F.  Neesen  anführen  über 
„die  Photographie  in  ihrer  Verwendung  bei  Untersuchung  der 
Bewegung  und  Wirkung  von  Geschossen",  die  in  einem  Ab- 
schnitt das  Verhalten  der  Luft  beim  Geschoßdurchgang  aus- 
führlich behandelt.     Sie  ist  im  Aprilheft   1917   der  Artilleristi- 


auf  S.  1048—1049.  Sie  geht  von  der  Entdeckung  dieser  Be- 
obachtungsweise durch  den  französischen  Hauptmann  Journee 
aus,  dessen  Darstellung  Mach  nur  insofern  berichtigt,  als  er 
die  von  Journee  vertretene  Ansicht  des  belgischen  Physikers 
Melsens,  eine  Masse  oder  Hülle  dichter  Luft  würde  vom 
Geschosse  mitgenommen,  durch  seine  erwähnte  Auffassung  eines 
Schwingungsvorgangs  ersetzt  wissen  will.  Die  Anmerkung  hat 
im  wesentlichen  folgenden  Wortlaut: 

,,Herr  Journee  hat,  hinter  dem  Gewehr  stehend,  mit 
einem  Fernrohr  in  der  Schußrichtung  visierend,  die  fliegenden 
Projektile  samt  ihrer  Lufthülle  (Wellengrenze)  beobachtet,  was 
bei  der  perspektivisch  stark  verkleinerten  Geschwindigkeit  und 
der  merklichen  Lichtreflexion  an  der  bedeutend  verdichteten 
Luft  ganz  wohl  verständlich  ist.  An  Schärfe  und  Reinheit 
müssen  natürlich  die  Bilder,  welche  sich  Herrn  Journee 
zeigten,  hinter  den  unsrigen  weit  zurückstehn.  da  die  ersteren 
keine  Momentbilder  sind,  sondern  aus  der  Überdeckung  von 
Bildern  entstehen,  welche  verschiedenen  Zeiten  angehören. 
Abgesehen  davon,  daß  sie  eine  ungünstige  perspektivische  An- 
sicht bieten.  Das  von  Herrn  Journee  angewandte  Prinzip 
der  perspektivischen  Verkleinerung  der  Geschwindigkeit  wird 
vielleicht  noch  mehrfach  nützlich  werden.  Ich  möchte  hier 
bemerken,  daß  man  nach  diesem  Prinzip  große  Geschosse  auch 
ohne  P'ernrohr  verfolgen  kann.  Stellt  sich  der  Beobachter  B 
nahe  an  das  Geschütz  so,  daß  er  etwa  unter  45"  gegen  die 
Schußlinien  auf  die  Geschützmündung  M  hinsieht,  so  beschreibt 
ein  Geschoß  von  500  Sem  Geschwindigkeit  den  Gesichts- 
winkel MBS|,  von  etwas  unter  45"  in  einer  Sekunde.  Seine 
scheinbare  Größe  sinkt  aber,  wenn  es  '/j  m  Durchmesser  hat, 
nur  auf  etwa  4'  (Gradminuten).  Es  bleibt  also  dann  noch 
etwa  7  s  (Zeitsekunden)  sichtbar,  bis  es,  bei  der  scheinbaren 
Größe  von  '/,,',  verschwindet.  Ein  Geschoß  von  2  Zentimeter 
Durchmesser  erscheint  unter  denselben  Umständen  schon 
nach  '/öS  in  der  Größe  von  '/s't  verschwindet  also.  Ich  glaube, 
daß  sich  der  Journee'sche  Versuch,  bei  einigen  zweck- 
mäßigen Anordnungen,  mit  großen  Projektilen  besonders  schön 
ausführen  ließe." 

Soweit  Herr  E.  Mach.  Den  beschriebenen  Versuch 
scheinen  weder  er  noch  seine  Mitarbeiter  wirklich  ausgeführt 
zu  haben.  Jedenfalls  findet  sich  in  den  Sitzungsberichten  der 
Wiener  Akademie,  in  denen  er  sonst  über  die  neuen  Versuche 


s^ 


Fernro hr be obach tung    größerer  Geschosse    im  Fluge 

nach  dem  J  o  urne  e  '  sehen  Prinzip  der  perspektivischen  Verkleinerung  der 

Geschwindigkeit. 

Zeichnung  von  Wilhelm  Krebs  nach   einem  Entwurf  E.  Mach 's. 


sehen  Monatshefte  erschienen,  jener  Abschnitt  auf  S.  155  u.  ff. 
Er  bedarf  notwendig  einer  Ergänzung.  Sie  soll  deshalb  be- 
sonders rasch  geboten  werden,  weil  ohne  sie  wertvolle  Be- 
obachtungen für  die,  zumal  in  dieser  Kriegszeit,  alltäglich  sich 
die  Möglichkeit  bietet,  unterbleiben   könnten. 

Herr  Neesen  warf  auf  S.  155  die  Frage  auf,  wie  die 
Luftverdichtung  vor  einem,  schneller  als  der  Schall  dahin- 
fliegenden Geschosse  zu  erkennen  sei.  Er  beantwortet  sie 
damit,  daß  ,, unser  Auge  nicht  empfindlich  genug"  sei,  daß 
dagegen  die  von  E.  Mach  nach  Töpler  auf  die  Luft  ange- 
wandte Schlierenphotographie  jenen  Vorgang,  den  man  nach 
Mach  selbst  übrigens  nicht  als  Luftschicht,  sondern  als 
Wellenverdichtung  aufzufassen   hat,  sichtbar  mache. 

Demgegenüber  ist  zu  bemerken,  daß  die  Augen-,  bzw. 
Fernrohrbeobachtung  dieser  sog.  Mach 'sehen  Kopf-  oder 
Scheitelwelle  durchaus  möglich  und  von  Mach  selbst  für  die 
Verfolgung  größerer,  also  besonders  artilleristischer  Geschosse 
empfohlen  ist.  Das  ist  in  einer  Anmerkung  zu  seinem  Berichte 
über  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  durch  scharfe 
Schüsse  erregten  Schalles  geschehen,  den  er  der  Wiener 
Akademie   am    II.    Oktober    1888    erstattete.     Sie   findet   sich 


zu  berichten  pflegte,  nichts  darüber.  Übrigens  hat  auch 
Journee  in  dem  Pariser  Sitzungsberichte,  der  von  MacTi 
alsjournee's  Veröft'entlichung  allein  angegeben  ist,  über 
seine  Entdeckung  selbst  Nichts  verlauten  lassen.  Um  so  tat- 
kräftiger sollte  nunmehr  der  Beobachtungsvorschlag  E.  Mach  's, 
besonders    an    großen   Geschossen,    ins  Werk    gesetzt    werden. 

Daß  solche  Beobachtungen  auch  für  die  militärische  Praxis 
nicht  ohne  Wert  sind,  wird  durch  die  Bemerkung  des  Herrn 
Prof  Dr.  Miehe  belegt,  „daß  sich  auch  dann,  wenn  der 
Gcschoßeinschlag  nicht  oder  nicht  scharf  sichtbar  war,  ziem- 
lich gut  das   Ergebnis  des  Schusses  angeben  ließ". 

Bei  Artilleriegeschossen  von  '/„  m  Länge  kann  die 
Verfolgung,  nach  den  oben  wiedergegebenen  Darlegungen, 
bis  fast  auf  2'/..,  bei  großen  Granaten  von  I  m  Länge 
sogar  über  4'/2   Kilometer  Entfernung  stattfinden. 

Dazu  tritt  die  rein  wissenschaftliche  Bedeutung  dieser  Be- 
obachtungen, die  sogar  bis  in  die  Arbeitsgebiete  der  Astronomie 
reicht.  Das  gilt  für  eine  häufige  Nebenbeobachtung  bei 
Sonnenfinsternissen,  besonders  bei  totalen.  Es  sind  die  soge- 
nannten „F'liegenden  Schatten",  Schattenstreifen,  die  sich  un- 
mittelbar vor  Beginn  und  unmittelbar  nach  Schluß  der  stärksten, 


N.  F.  XVI.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S83 


bzw.  totalen  Verfinsterung  einstellen  und  ungefähr  senkrecht 
zu  ihrer  eigenen,-  parallelen  Erstreckung  vorüberlaufen. 

Nach  früheren  Ansichten  auf  die  Totalitätszone  beschränkt, 
wurden  sie  zuerst  am  30.  August  1905,  auf  der  von  mir  be- 
dienten nordatlantischen  Station,  dem  Postdampfer  ,, Patricia" 
der  Hamburg- Amerika- Linie,  auch  im  Parlialgebiete  der  da- 
maligen Sonnenfinsternis  festgestellt.  In  Nr.  4074  der  Astro- 
nomischen Nachrichten,  in  der  darüber  berichtet  ist,  ist  auch 
meine  Erklärung  dieser  Erscheinung  -wiedergegeben.  Sie  kam 
auf  den  Schattenwurf  eines  besonders  kräftigen  Wellenzuges 
an  einer  der  Grenzflächen  der  windgeschichteten  Erdatmosphäre 
hinaus.  In  der  Sache  kommt  diese  Sichlbarwerdung  überein 
mit,  derjenigen  atmosphärischer  Schlieren.  Nur  handelt  es  sich 
um  ein  Projektionsbild,  nicht  um  unmittelbares  Sehn,  wie  in 
dem  Miehe 'sehen   Falle. 

Dieses  Projektionsbild  der  Fliegenden  Schatten  wurde  an 
jenem  30.  August  1905  von  Schififsoffizieren,  Passagieren  des 
Dampfers  und  von  mir  selbst  auf  der  Oberfläche  des  Atlantik 
vorübereilend  gesehn.  Vielfältig  beobachtet  ist  es  auf  dem 
festen  Erdboden  und  sonst  auf  irdischen  Gegenständen,  bei 
der  Sonnenfinsternis  des  17.  .\pril  1912  auch  auf  Schul-  und 
Fensterbänken   (A.   N.  4597,  S.   219— 220). 

In  diesem,  gleicherweise  von  mir  untersuchten  und  ver- 
öffentlichten Falle,  -wie  in  dem  des  30.  August  1905,  konnte 
die  beobachtete  Richtung  des  Wellenzuges  in  Übereinstimmung 
gefunden  werden  mit  einer  aus  meteorologischen  Gründen 
erschlossenen  Hochströmung  der  Atmosphäre,  die  solchen 
Wellenschlag   auf  ihrer  Grenzfläche   erzeugen   mußten. 

Streifungserscheinungen  beim  Auf-  und  Untergang  der 
Sonne,  also  bei  ihrem  horizontnahen  Stande,  die  ich  bereits 
in  der  ersten  Veröffentlichung  vom  November  1905  (A.  N.  4074, 
S.  283)  zur  Bekräftigung  meiner  Theorie  heranzog,  sind  in- 
zwischen von  anderen  Beobachtern  noch  umfassender  bestätigt. 

So  steht  nichts  im  Wege,  die  Franz 'sehe  Beobachtung 
aus  einem  ähnlichen  Wellenschlag  in  der  Atmosphäre  zu  er- 
klären- Denn  ebenso  gut  wie  auf  einer  Wasserfläche  und  wie 
auf  den  Oberflächen  fester  irdischer  Gegenstände,  wird  ein 
solcher  Wellenschlag  auch  auf  einer  Wolkenfläche  von  hin- 
reichender Nähe  sichtbar  entworfen  werden  können.  Für 
Schallschwingungen,  auf  die  Franz  selbst  vermutet,  erscheint 
der  berichtete  Wellenabstand    zu    groß :    300  Meter,    denn  die 

längsten  Schallwellen  können    nur  eine  Länge  von    etwa     •-    , 

also  von  22  Metern  erreichen.  Immerhin  könnte  auch  auf 
Luftschwingungen  vermutet  werden,  die  als  Schall  noch  nicht 
wahrzunehmen  waren,  die  aber,  wie  dieser,  durch  die  Laduugs- 
explosionen  veranlaßt   wurden. 

Bei  der  Miehe 'sehen  Beobachtung  dagegen  handelte  es 
sich  um  die  Sichtbarkeit  einer  echten  Schallwelle.  Es  ist  die 
sogenannte  Mach 'sehe  Scheitel-  oder  Kopfwelle.  Genauer 
ausgedrückt,  handelt  es  sich  dabei  um  die  erste,  mechanische 
Luftverdichtung,  die  ihren  ursächlichen  Anfang  bildet.  Diese 
Vefdichtung  war  schon  vor  nunmehr  50  Jaliren,  um  1S67  von 
dem  Brüsseler  Physiker  Melsens  nachgewiesen  worden.  Doch 
war  sie  von  ihm  als  mitgeschleppte  „enveloppe"  aufgefaßt 
worden.  Mach,  der  sie  zuerst  1SS5  durch  Schlierenphotographie 
sicherstellte,  legte  besonderen  Wert  auf  ihre  Erklärung  als 
Anfangsverdichtung  einer  Schallwelle.  (G.C.) 

Die  Nr.  30  der  Naturw.  Wochenschr.  enthält  einen  Auf- 
sati Killermann's :  Die  Entdeckung  der  Paradiesvögel.  Der 
Verf.  bespricht  unter  anderem  die  lange  Zeit  für  wahr  gehaltene 


Beinlosigkeit  der  Paradiesvögel.  Es  dürfte  vielleicht  inter- 
essant sein  zu  hören,  daß.  Aldro  vand  i  in  seiner  Ornithologia 
ein  weiteres  Beispiel  eines  fußlosen  Vogels  aufführt.  Es  handelt 
sich  um  die  fußlose  indianische  Drossel.  (Omithologiae 
über  .\Vi  cap.  XVII.  p.  2S3  u.  284) 

Das  Bild  dieses  Vogels  ist  Aldrovandi  von  dem  Vor- 
steher des  pisan.  Gartens  Malocchius  zugeschickt  worden. 
Letzterer  verbürgt  sich  für  die  Wahrheit  des  Vorkommens.  Auf 
welche  Tatsachen  sich  seine  Mitteilungen  an  Aldrovandi 
stützen,  gibt  dieser  nicht  an.  Aldrovandi  steht  der  ge- 
nannten Zuschrift  sehr  skeptisch  gegenüber.  Er  meint,  ent- 
weder sind  die  Beine  entfernt  worden,  oder  der  Vogel  muß 
so  abweichend  gebaut  sein,  daß  auch  in  der  übrigen  Organi- 
sation auffällige  Unterschiede  hervortreten.  Das  Bild  aber 
zeigt,  abgesehen  von  der  Beinlosigkeit,  einen  vollkommen 
normalen  Vogel  (Ornith.  Hb.  XVI  lab.   11,  Nr.   16). 

Eigenartig  ist,  daß  A 1  d  r  o  va  n  d  i  an  dieser  Stelle  der 
.'\nnahme  der  Beinlosigkeit  widerstrebt,  während  ihm  doch  der 
Mangel  der  Füße  bei  den  Paradiesvögeln  durchaus  einleuchtend 
erscheint.  (Omnibus  (sc.  Manucodiatis)  tamen  illud  peculiare 
est,  ut  pedibus  Careant  .  .  .  Ornith.  lib.  XII.  cap.  .KXI. 
p.  399.)  Dr.  Kaspar. 


Literatur. 

Solch,  Prof.  Dr.  Joh.,  Beiträge  zur  eiszeitlichen  Tal- 
geschichte des  Steirischen  Randgebirges  und  seiner  Nachbar- 
schaft.    Stuttgart  '17,  J.   Engelhorns  Nachfolger.   —    10,60  M. 

Handbuch  det  Regionalen  Geologie.  20.  Heft.  Bd.  111  I. 
The  British  Isles  und  21.  Heft.  Bd.  IV,  2a.  Grönland.  Heidel- 
berg  '17,   K.   Winter. 

Offe,  Dr.  H.,  Politische  Weltkunde.  Ein  Beitrag  zur 
Volksbildung.  Mit  einem  Vorwort  von  Dr.  Paul  Rohr- 
bach.    Leipzig  '17,  Chr.  H.  Tauchnitz.  —  2,50  M. 

Haecker,  Prof.  Dr.  Val.,  Die  Erblichkeit  im  Mannes- 
stamm und  der  vaterrechtliche  Familienbegriff.  Jena  '17, 
G.  Fischer.  —   I   M. 

Westrußland  in  seiner  Bedeutung  für  die  Entwicklung 
Mitteleuropas.  Mit  einer  Einleitung  von  M.  Sering.  Leipzig 
und  Berlin   '17,  B.  G.   Teubner.  —  4,80  M. 

Arzneip  flanzen- Merkblätter  des  Kaiserl.  Gesund- 
heitsamts bearbeitet  in  Gemeinschaft  mit  dem  Arzneipflanzen- 
Ausschuß  der  deutschen  Pharmazeutischen  Gesellschaft  Berlin- 
Dahlem.     Berlin   '17,  S.  Springer.  —   1,80  M. 

Maurer,  Prof.  Dr.  F'r.,  Die  Beurteilung  des  biologischen 
Naturgeschehens  und  die  Bedeutung  der  vergleichenden  Mor- 
phologie. Rede,  gebalten  zur  Feier  der  akademischen  Preis- 
verteilung  in  Jena   am    16.  Juni  1917.     Jena  '17,  G.  Fischer. 

—  1,80  M. 

Verworn,  M.,  Biologische  Richtlinien  der  staatlichen 
Organisation.  Naturwissenschaftliche  Anregungen  für  die  poli- 
tische   Neuorientierung    Deutschlands.      Jena    '17,    G.  Fischer. 

—  I   M. 


Berichtigung.  In  dem  Artikel  ,,Nesselfaserge - 
w  Innung"  (Nr.  38  der  Naturw.  Wochenschr.  S.  530)  ist  ein 
Irrtum  untergelaufen.  Es  muß  selbstverständlich  statt  Urtica 
urens  heißen  Urtica  dioica. 


Inhalt:  Ludwig  Freund,  Keimdrüsen  und  Kastration  der  männlichen  Vögel.  (I  Abb.)  S.  569.  —  Kleinere  Mitteilungen: 
H.  Blücher  und  R.  Krause,  Druckstöcke  aus  Hefe.  S.  571.  —  Einzelberichte:  J.  Thienemann,  Krieg  und 
Vogelzug.  S.  573.  Luc  an  US,  Die  Höhe  des  Vogelzuges.  S.  574.  H.  E.  Ziegler,  Urdarmhöhle  und  Cölom.  S.  575. 
W.  Salomon,  Die  Bedeutung  der  Solifluktion  für  die  Erklärung  deutscher  Landschafts-  und  Bodenformen.  S.  576. 
L  i  n  g  e  1  s  h  e  i  m  ,  Über  die  Fluoreszenz  wässriger  Rindenauszüge  von  Eschen  in  ihrer  Beziehung  zur  Verwandtschaft  der  Arten. 
S.  sytp.  C.  Sauvageau,  Geschlechtlichkeit  bei  den  Laminarien.  S.  578.  Rubens,  Licht  und  Elektrizität.  S.  57?. 
—  Bücherbesprechungen:  Karl  Sapper,  Geologischer  Bau  und  Landschaftsbild.  S.  5S1.  —  Anregungen  und 
Antworten:  Über  das  Familienleben  der  Störche.  S.  581.  Sind  die  Maskarenen  und  die  zentralpazifischen  Inseln  ozeanisch? 
S.  581.  Der  Sonnentau  als  Insektenvertilger.  S.  5S1.  Luftwellen  als  Schlieren  sichtbar.  (l  Abb.)  S.  5S2.  Die  Ent- 
deckung der  Paradiesvögel.  S.   583.  —  Literatur:  Liste.  S.  5S3.  —  Berichtigung. 


Manuskripte  und  Zuschriften   werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Bei 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Je 

Druck  der  G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m. 


in  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


584 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


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werden  5ie  öesöaliigen  ^rgi^bniffe  der  ^ieöd-^n(eif)en 
ebenfo  in  die  Ißagfcftaie  falten,  i»ie  unfere  durd) 
da«  6d[}töprt  errungenen  troffen  Erfolge  --- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  21.  Oktober  1917. 


Nummer  43. 


Das  „Wiederholungsgefühl"  als  Quelle  des  Seelenwanderungs-Glaubens. 


[Nachdruck  verboten.)  Von    Dr.    R, 

In  der  psychologischen  Literatur  kennt  man 
seit  langem  eine  eigentümliche  seelische  Erscheinung, 
für  die  sich  seit  dem  Erscheinen  einer  umfassenden 
Ikonographie  von  Bernard -Leroy^)  auch  im 
Deutschen  in  steigender  Häufigkeit  der  Name 
„fausse  reconnaissance"  eingebürgert  hat. 
Eine  in  der  Literatur  allgemein  eingeführte  deut- 
sche Bezeichnung  dafür  gibt  es  nicht.  Der  von 
R.  Baerwald  gemachte  Vorschlag,  „Pseudo- 
B  e  k  a  n  n  t  h  e  i  t  s  g  e  f  ü  h  1"  zu  sagen,  trifft  zwar  das 
Wesen  der  Sache  verhältnismäßig  noch  am  besten, 
ist  jedoch  bisher  noch  nicht  durchgedrungen,  so  daß 
der  Ausdruck,  um  überhaupt  verstanden  zu  werden, 
erst  einer  eigenen  Erläuterung  bedarf.  Andere 
Vorschläge  für  eine  deutsche  Kennzeichnung  des 
Wesens  der  Sache  (Feuchtersleben's  „Phan- 
tasma des  Gedächtnisses",  Huppert's,  „Doppel- 
wahrnehmungen", K  r  a  e  p  e  1  i  n '  s  „identifizierende 
Erinnerungsfälschungen")  sind  wenig  glücklich  ge- 
wählt, so  daß  der  knappe  französische  Ausdruck, 
der  auch  zuweilen  durch  den  noch  kürzeren  „dejä 
ou"  ersetzt  wird,  bisher  noch  zumeist  Bürgerrecht 
in  der  Literatur  erlangt  hat. 

Das  Wesen  der  „fausse  reconnaissance"  besteht 
darin,  daß  ein  Mensch  in  einer  bestimmten  Lebens- 
lage ganz  unmittelbar,  fast  schreckhaft  plötzlich 
die  Empfindung  verspürt,  er  habe  genau  das- 
selbe Erlebnis  unter  genau  denselben 
äußeren  Umständen  bis  in  alle  Einzel- 
heiten hinein  schon  einmal  gehabt. 
Wenn  auch  Statistiken  über  die  Häufigkeit  dieser 
Empfindung  nicht  beizubringen  sind,  so  unterliegt 
es  dennoch  keinem  Zweifel,  daß  eine  ungemein 
große  Anzahl  von  Menschen  mindestens  vereinzelt, 
meist  aber  mehrfach  in  ihrem  Leben  diese  Empfin- 
dung, für  die  ich  der  Kürze  wegen  den  Ausdruck 
„  W  iederholungsgefühl"  anwenden  möchte,  ge- 
habt haben.  Oft  sind  es  ganz  gleichgültige  Vorgänge, 
durch  die  das  sonderbare  Gefühl  ausgelöst  wird, 
zuweilen  aber  auch  höchst  verwickelte  und  einzig- 
artige Erlebnisse,  bei  denen  von  vornherein  jeg- 
liche Möglichkeit  ausscheidet,  daß  sie  sich  im 
gleichen  Menschenleben  zweimal  unter  denselben 
äußeren  Umständen  abspielen  können. 

Der  älteste  Fall  eines  Wiederholungsgefühls,  der 
in  der  wissenschaftlichen  Literatur  beschrieben  ist, 
kann  zurzeit  genau  auf  ein  Alter  von  100  Jahren 
zurückblicken,  wenn  er  auch  erst  um  27  Jahre 
später  von  sachkundiger  Seite  veröffentlicht  und 
analysiert  worden  ist.     In  einem  Werke  des  Eng- 


')  Ev 
;ussance" 


ene  Bcrnar 
Paris   1S98. 


Hennig.. 

länders  Wigan'j  findet  sich  nämlich  folgender 
Bericht  einer  Person  über  ihre  Teilnahme  an  den 
Trauerfeierlichkeiten  für  die  i.  J.  18 17  verstorbene 
Prinzessin  Charlotte : 

„Ich  war  in  einem  Zustand  dumpfer  Träumerei 
verfallen,  als  ich  durch  den  Ausbruch  eines  heftigen 
Schmerzes  des  hinterbliebenen  Gatten,  der  in  dem 
Augenblick  erfolgte,  da  der  Sarg  in  der  Gruft  ver- 
sank, zum  Bewußtsein  zurückkehrte  ...  In  diesem 
Augenblick  empfand  ich  nicht  nur  den  Eindruck, 
sondern  geradezu  die  Überzeugung,  daß  ich 
dieser  ganzen  Scene  bei  einer  früheren  Gelegen- 
heit schon  einmal  beigewohnt  hatte,  ja,  ich  glaubte 
sogar  schon  genau  dieselben  Worte  ver- 
nommen zu  haben,  die  jetzt  Sir  George  Naylor 
an  mich  richtete." 

Man  sollte  von  vornherein  meinen,  daß  im  Leben 
eines  Individums,  welches  von  Zeit  zu  Zeit  das 
Wiederholungsgefühl  verspürt,  mit  dem  zunehmen- 
den Alter  die  Empfindung  immer  häufiger  auftritt, 
da  ja  die  größere  Summe  der  gesammelten  Er- 
fahrungen die  irrige  Vorstellung  begünstigen  muß. 
Doch  trifft  diese  Voraussetzung  nicht  zu.  Im 
Gegenteil,  es  hat  durchaus  den  Anschein,  als  ob 
die  Pubertätszeit  im  weiteren  Sinne  des  Wortes 
den  fruchtbarsten  Boden  für  das  Auftreten  der  Er- 
scheinung abgibt  und  als  ob  mit  dem  höheren 
Lebensalter  ein  Seltcnerwerden,  bei  vielen  Personen 
sogar  ein  völliges  Schwinden  dieser  Empfindung 
eintritt.  Selbst  das  Kindesalter  mit  seinem  erst 
bescheidenen  Schatz  an  erlebten  Eindrücken  ist 
nicht  frei  von  der  eigenartigen  Selbsttäuschung. 
Bis  zum  Alter  von  6  Jahren  hinunter  scheint  deren 
Vorkommen  sichergestellt  zu  sein.  In  der  gründ- 
lichen Umfrage,  über  deren  Ergebnis  Bernard- 
Leroy  in  seinem  genannten  Werk  Bericht  er- 
stattet, findet  sich  z.  B.  unter  Nr.  63  die  Aussage 
eines  17jährigen  Gymnasiasten:  „Das  Phänomen 
seit  dem  Alter  von  6  Jahren  bis  heute  beobachtet." 
Wiederholt  finden  sich  bei  Bernard-Leroy  An- 
gaben der  befragten  Personen,  daß  mit  beendeter 
Pubertätstzeit  die  Disposition  zu  der  fraglichen 
Empfindung  abgenommen  habe.  Nr.  86  sagte 
z.  B.  aus:  „Ihre  Häufigkeit  wuchs  bis  zu  meinem 
20.  Lebensjahr;  dann  nahm  sie  ab."  Verf.  hat 
auch  aus  seiner  eigenen  Erfahrung  an  anderer 
Stelle '-)  bestätigt ,  daß  er  als  Gymnasiast  die 
„fausse  reconnaissance"  in  übrigens  wenig  charak- 
teristischer Weise  einige  Male,  vielleicht  insgesamt 

'}  Wigan,  „The  duality  of  Ihe  minH'-,  Kapitel  9,  S.  85 
bis  S7.     London   1844. 

- 1  R.  H  e  n  n  i  g ,  ,,Zur  Theorie  der  fausse  reconnaissance"  in 
der  „Zeilschr.  f.  Psychotherapie  und  medizinischen  Psychologie", 
Bd.  V,   Heft  5,  S.  257. 


5  86 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  42 


viermal,  an  sich  beobachtet  hat,  daß  jedoch  in  der 
nachfolgenden  Zeit,  während  eines  Zeitraums  von 
mehr  als  einem  Vierteljahrhundert,  ein  Fall  dieser 
Art  nicht  mehr  zu  verzeichnen   war. 

In  vielen  Fällen  ist  die  Empfindung,  man  habe 
eine  Lebenslage,  wie  man  sie  gerade  durchmacht, 
schon  einmal  erlebt,  sehr  unbesümmter  Natur  und 
dabei  so  rasch  vorübergehend,  daß  man  sich  über 
die  Einzelheiten  und  über  die  Gründe  der  Vor- 
stellung keine  Rechenschaft  zu  geben  vermag.  Es 
ist  ein  etwas  unbehagliches  Gefühl,  das  blitzschnell 
auftaucht  und  ebenso  blitzschnell  wieder  schwindet. 
In  anderen,  selteneren  Fällen  aber  ist  sie  von  einer 
peinlich  genauen  Bestimmtheit  und  erstreckt  sich 
selbst  auf  unwesentliche  Einzelheiten  eines  jeweilig 
durchlebten  Vorgangs.  Eine  gewisse  Berühmtheit 
innerhalb  der  Fachwissenschaft  hat  z.  B.  ein  von 
Du  gas  mitgeteilter  Fall  erlangt*):  ein  Kandidat 
der  ein  Geschichtsexamen  bestanden  hat,  behaup- 
tete hinterher, 

„er  habe  genau  dieselben  Fragen  durch  den 
selben  Professor  in  demselben  Saale  und  mit  der- 
selben Stimme  schon  einmal  vorgelegt  erhalten 
Auch  seine  eigenen  Antworten  schienen  ihm  schon 
einmal  gegeben  worden  zu  sein;  er  hörte  sich 
selbst  zum  zweiten  Male". 

Die  irrige  Empfindung  des  Bekanntschaftsgefühls 
macht  dabei  auch  vor  den  unwahrscheinlichsten 
Vermengungen  gleichzeitiger  Begebenheiten  nicht 
Halt.  Dromard-Albes  bringt  z.  B.  folgende 
Selbstschilderung  ^) : 

„Ich  lese  in  meinem  Zimmer  bei  offenem 
Fenster;  vor  mir  liegt  der  Roman  „Quo  vadis  ?" 
Während  ich  lese,  denke  ich  an  Petronius  und  be- 
fasse mich  mit  der  Analyse  seines  Charakters.  Ich 
denke  daran  und  lese  weiter,  und  die  Begeben- 
heiten der  Erzählung  ziehen  an  meinem  Auge 
vorbei,  während  all  mein  Denken  dem  antiken 
arbiter  elegantiarum  gilt.  Da  sagt  mein  Nachbar, 
der  die  Zeitung  liest,  mit  lauter  Stimme  dazwischen  : 
„Sieh  an,  Barnum  ist  in  Paris!"  Im  selben  Augen- 
blick habe  ich  die  ganz  bestimmte  Empfindung, 
denselben  Komplex  von  Eindrücken  schon  einmal 
auf  genau  dieselbe  Weise  empfangen  zu  haben. 
In  einer  Vergangenheit,  die  ich  nicht  näher  be- 
schreiben kann,  war  ich  —  so  kommt  es  mir  vor 
—  bereits  hier  in  demselben  Zimmer,  im  selben 
Anzug,  dasselbe  Buch  lesend,  das  in  mir  dieselben 
Betrachtungen  hervorrief  Derselbe  Freund  saß  auf 
demselben  Stuhl,  las  in  derselben  Zeitung  und  ließ 
mit  lauter  Stimme  dieselbe  Bemerkung  fallen." 

Vereinzelt  geht  die  Täuschung  so  weit,  daß  der 
Gewährsmann  behauptet,  er  habe  vorhergewußt,  was 
sich  nun  ereignen  werde,  da  eben  das  ganze  Erlebnis 
nur  die  Wiederholung  eines  früheren  gewesen  sei. 
Einen  F"all  dieser  Art  schildert  Zschokke  in  seiner 
Novelle :  „Julius  oder  die  Bibliothek  des  Oheims" :  ^) 


')    D  u  g  a  s ,    „Observalions    sur    la    fausse 
„Revue  Philosophique",  Bd.  37,  S.  34.     Paris   1894. 

'■*)  „Journal  psychologique''.   1905,  Teil  II,  S.  217. 

ä)  Zschokke,  „Gesammelte  Schriften",  Bd.  XIV,  S.  226, 
1851. 


„„Ach,  Fräulein,  wenn  man  immer  fände,  was 
man  suchte  1"  .  .  .  seufzte  ich,  und  während  ich  diese 
Worte  sprach,  ward  mir,  als  wäre  das  schon  ein- 
mal dagewesen  wie  jetzt,  und  ich  dachte  mir  ihre 
Antwort  im  voraus:  „Oft  findet  man  auch  Besseres, 
als  man  sucht".  Doch  dacht'  ich  dies  nur  flüchtig 
und  unklar.  Aber  sie  entgegnete,  was  ich  gedacht 
hatte:  „Oft  findet  man  Besseres,  als  man  sucht". 
Damit  ging  sie  zur  Tür  .  .  ."  " 

Die  belletristische  Literatur  hat  sich  übrigens 
gar  nicht  selten  mit  der  Erscheinung  des  Wieder- 
holungsgefühls abgegeben.  Wie  im  vorstehenden 
Fall  der  Schweizer  Zschokke  eine  durchauszu- 
treffende Schilderung  des  an  sich  ja  ziemlich  oft 
vorkommenden  psychischen  Vorgangs  gibt,  so  ist 
dieser  u.  a.  auch  von  dem  Engländer  Dickens 
(in  „David  Copperfield"),  von  dem  Russen  Tolstoi 
(in  „Krieg  und  Frieden")  von  den  Deutschen 
Spielhagen  und  Frenssen  (in  „Hammer  und 
Amboß"  und  „Peter  Moors  Fahrt  nach  Südwest") 
beschrieben  worden  —  ein  deutliches  Zeichen  für 
die  an  keine  Nationalität  gebundene  Verbreitung 
der  sonderbaren  Empfindung!  Zwei  der  genannten 
Literaturstellen,  eine  mit  düsterem,  die  andere  mit 
gemütvollplauderhaftem  Hintergrund,  seien  nach- 
stehend wiedergegeben. 

In  „Peter  Moors  Fahrt"  heißt  es  bei  der  Schil- 
derung des  endlosen,  Leib  und  Seele  zermürbenden 
Trekkens  der  deutschen  Truppen  durch  das  süd- 
westafrikanische  Wüstengebiet   an    einer  Stelle : ') 

„Das  langsame,  schwerfällige  Trekken  durch 
das  menschenleere,  weite,  eintönige  Land,  dies 
Liegen  und  Rauchen  in  den  Ruhestunden,  im 
Schatten  der  Wagen,  und  das  gemütliche,  gemäch- 
liche, langsame  Reden,  Necken  und  ein  wenig 
Prahlen,  dies  dürftige  Essen  und  spärliche  Trinken, 
ein  Schuß  im  Busch  auf  eine  Schar  Perlhühner,  und 
wenn  das  Glück  wollte,  auf  eine  Antilope,  vier 
Stunden  Schlaf  am  verglimmenden  Feuer,  den 
Sattel  unterm  Kopf:  das  alles  erlebte  ich  nun  wieder. 
Und  es  war  mir,  da  ich  nun  zum  zweitenmal  so 
unterwegs  war,  als  wenn  ich  dies  Land  nun  schon 
lange,  lange  kannte,  als  wenn  ich  schon  vor  langer, 
langer  Zeit,  die  weit  vor  meiner  Geburt  lag,  so 
neben  einem  Wagen  durch  solch  wildes  Land  ge- 
zogen war,  und  im  Wagenschutz  geruht  und  ge- 
schlafen hatte.  Das  sind  ja  wohl  die  Erlebnisse 
der  Vorväter,  die  in  den  Geschlechtern  einen  langen 
Schlaf  tun  und  in  dem  Kinde,  das  wieder  alte 
Wege  und  Stege  geführt  wird,  aufträumend  das 
graue  Haupt  erheben." 

Diesem  ersten  Gemälde  sei  eine  ProbeD  i  ckens- 
scher  Behaglichkeit  zur  Seite  gestellt.  Im  schon 
genannten  Roman  „David  Copperfield"  findet  sich 
folgende  Stelle: 

„„Lieber  Copperfield,  wenn  Sie  uns  nicht  an 
jenem  angenehmen  Nachmittag,  den  wir  bei  Ihnen 
zuzubringen  das  Vergnügen  hatten,  versichert  hätten, 
daß  D  Ihr  Lieblingsbuchstabe  sei",  sagte  Mr. 
Micawber,  „so  würde  ich  jedenfalls  glauben,  es  müßte 


>)  Kap.  XII,  S.  121/22.  Berlin   1906. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


587 


A  sein"".  —  Wir  alle  kennen  ein  Gefiihl,  das  uns 
manchmal  überkommt,  als  ob  das,  was  wir  sagen 
und  tun,  schon  früher  vor  langer  Zeit  gesagt  und 
getan  worden  wäre,  als  ob  wir  vor  uralter  Zeit 
dieselben  Gesichter,  Gegenstände  und  Verhältnisse 
um  uns  gesehen  —  als  ob  wir  vollkommen  voraus 
wüßten,  was  jetzt  gesagt  werden  wird,  als  ob  wir 
uns  dessen  plötzlich  erinnerten  1  Diese  geheimnis- 
volle Empfindung  war  in  mir  nie  stärker  als  jetzt, 
da  Mr.  Micawber  diese  Worte  sprach." 

Beachtenswert  an  dieser  Dickens'  sehen  Äuße- 
rung ist  vor  allem  der  Ausdruck:  „Wir  alle 
kennen  .  .  ."  Er  läßt  einen  Rückschluß  darauf  zu, 
wie  sehr  der  Dichter  die  „fausse  reconnaissance" 
glaubte  als  Allgemeingefühl  bei  seinen  Lesern 
voraussetzen  zu  dürfen. 

Die  wissenschaftliche  Erklärung  der  merk- 
würdigen Empfindung  kann  wohl  nur  in  dem  Sinne 
gegeben  werden,  daß  in  einem  Komplex  von 
neuen  Eindrücken  ein  einzelner  oder  auch  mehrere 
bekannt  anmuten  und  daß  sich  hieraus  der  irrige 
Schluß  ergibt,  das  ganze  Erlebnis  habe  sich 
schon  einmal  in  genau  gleicher  Weise  abgespielt. 
In  interessanter  Weise  deuten  gerade  die  zwei 
mitgeteiltenLiteraturstellen  darauf  hin,  wiezutreffend 
diese  Vermutung  sein  dürfte:  im  „Peter  Moor" 
betont  der  Held  der  Erzählung,  das  Wiederholungs- 
gefühl habe  sich  bei  ihm  eingestellt,  als  er  nach 
längerer  Unterbrechung  zum  zweiten  Mal  das 
Trekkleben  kennen  lernte,  und  in  den  Worten  des 
Mr.  Micawber,  die  im  Copperfield  die  fausse  recon- 
naissance auslösen,  ist  ausdrücklich  Bezug  genom- 
men auf  eine  Unterhaltung  an  einem  früheren 
Nachmittag,  die  den  gleichen  Gegenstand  betraf. 
Bei  scharfer  Nachprüfung  dürfte  man  ähnliche 
Tatsachenkerne,  an  die  das  irrende  Wiederholungs- 
gefühl anknüpft,  nicht  selten  auffinden  können. 
Ein  unbedeutendes  Etwas,  ein  Nichts  in  dem  ge- 
samten Tatsachenkomplex,  kann  genügen  um  der 
Fehlempfindung  einen  Kristallisationskern  darzu- 
bieten. Schon  die  Versuchspersonen  Bernard- 
Leroy's  nahmen  richtig  wahr,  daß  eine  neben- 
sächliche Einzelheit,  die  vertraut  anmutet,  genügt, 
um  das  Wiederholungsgefühl  auszulösen.  Die  eine 
von  ihnen  gibt  z.  B.  an  *) : 

„Ich  befinde  mich  z.  B.  in  einem  Salon  mit 
mehreren  anderen,  teils  stehenden,  teils  sitzenden 
Personen,  die  sich  unterhalten.  Plötzlich,  in  dem 
Augenblicke,  wo  jemand  irgend  ein  Wort  aus- 
spricht, fahre  ich  zusammen,  und  es  kommt  mir 
vor,  als  hätte  ich  genau  dieselben  äußeren  Um- 
stände schon  einmal  erlebt." 

Eine  andere  Person  erklärte^): 

„Im  allgemeinen  stellte  sich  die  Empfindung 
ein  beim  Hören  irgend  einer  Redensart  oder 
beim  Gedanken  daran," 

und  eine  dritte  meinte"): 


')  a. 

a.   0 

S. 

29. 

■')  Nr 

ÖS 

der 

Umfrage, 

a. 

a. 

U 

s 

217. 

^')Nr 

74 

der 

Umfrage, 

a. 

a. 

ü. 

ö. 

229. 

„Das  Phänomen,  daß  ich  ziemlich  oft  beobachtet 
habe,  hatte  entweder  ein  Wort,  oder  einen 
einfachen  Gesichtseindruck  als  Ausgangs- 
punkt.    Die  Begleitumstände    waren    stets  banal." 

Von  einem  gewissen  pikanten  politischen  Bei- 
geschmack ist  ein  weiterer  Fall  der  Bernard- 
L  e  r  o  y '  sehen  Umfrage,  denn  er  zeigt,  daß  gewisse 
Phrasen,  wie  sie  ein  unentbehrliches  Requisit  des 
Diplomaten  und  Politikers,  ganz  besonders  des 
französischen,  bilden,  ebenfalls  unter  gewissen  Um- 
ständen nicht  unbekannt  anmuten  und  demgemäß 
Anlaß  zu  einem  „Wiederholungsgefühl"  geben 
können.  Ein  Gewährsmann,  dessen  Äußerungen 
Bernard-Leroy  wiedergibt,  berichtete  nämlich 
folgendermaßen  über  die  Empfindungen,  die  er  bei 
der  Lektüre  der  Zeitung  „Echo  de  Paris"  und  einer 
darin  wiedergegebenen,  am  16.  März  1898  ge- 
haltenen Rede  des  französischen  Außenministers 
über  die  Kretafrage  hatte  ^) : 

„„Gewiß  können  die  Dinge  auch  ohne  Sie 
geregelt  werden.  Aber  sie  würden  sich  dann  sicher 
gegen  Ihren  Willen  regeln.  Ich  frage  mich,  ob 
hierfür  eine  Majorität  vorhanden  ist,  angesichts 
einer  Schwierigkeit  von  verhältnismäßig  unter- 
geordneter Bedeutung,  zumal  da  alle  Groß- 
mächte einig  sind  und  da  wir  unsere 
Haltung  nach  ihrer  einmütigen  Über- 
einstimmung richten...""  Beim  Lesen  dieser 
letzten  Phrase  hatte  ich  plötzlich  den  Eindruck, 
sie  schon  einmal  vernommen  zu  haben,  in  einem 
unbestimmten  Zeitpunkt,  genau  mit  derselben 
Fassung  (und  mit  demselben  Tonfall),  dieselbe 
Zeitung  vor  Augen  .  .  .  Die  folgenden  10  Zeilen 
werden  sehr  rasch  und  ohne  Störung  gelesen,  aber 
die  fausse  reconnaissance  begann  abermals  bei  der 
folgenden  Stelle  der  Rede:  „In  einer  sehr  korrekten 
Sprache,  ohne  große  rednerische  Wirkungen  er- 
zielen zu  wollen,  ist  aber  geschickt  der  Versuch 
gemacht  worden,  daß  wir  im  europäischen 
Konzert  verbleiben  können"  .  .  .  Dann  hörte  die 
fausse  reconnaissance  plötzlich  auf.  Ich  war  der 
Täuschung  nur    wenige  Sekunden  lang  verfallen." 

Sollte  dieser  Gewährsmann  noch  den  großen 
Weltkrieg  erlebt  haben  und  die  Reden  französischer 
Minister  noch  immer  mit  Aufmerksamkeit  verfolgen, 
so  ist  es  leicht  möglich,  daß  für  ihn  die  „fausse 
reconnaissance"  nunmehr  ein  alltägliches  Erlebnis 
geworden  ist.  — 

Die  vorstehenden  Ausführungen  machen  es 
von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  gewisse  Ereig- 
nisse, diejederMensch  in  ungleichmäßigenZwischen- 
räumen  von  Zeit  zu  Zeit  nicht  gar  zu  häufig  er- 
lebt, das  Zustandekommen  des  Wiederholungs- 
gefühls begünstigen  werden,  so  insbesondere  z.  B. 
Hochzeiten,  Taufen,  Trauerfeiern  usw.,  zumal  da  die 
bei  solchen  Gelegenheiten  üblichen  Reden  nicht 
selten  die  Eigentümlichkeit  besitzen,  daß  einzelne 
Worte  oder  Sätze  darin  ganz  von  selbst  ein  „Be- 
kanntheitsgefühl"  auslösen,  eine  „vraie  reconnais- 
sance", die  dann  leicht  eine  „fausse  reconnaissance, 


1)  a.  a.  O.  S.   163/64. 


588 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  42 


nach  sich  zieht.  In  diesem  Lichte  betrachtet  er- 
häk  der  oben  wiedergegebene  äkeste  fachwissen- 
schafthche  Bericht  von  VVigan  über  ein  durch 
eine  Trauerfeierlicbkeit  i.  J.  1817  ausgelöstes 
„VViederholungsgefühl"  auf  Kosten  des  darin  er- 
wähnten Sir  George  Naylor  einen  ganz  eigentüm- 
lichen ironischen  Nebengeschmack,  der  zweifellos 
dem  ursprünglich  ganz  harmlos  gemeinten  Bericht 
ganz  fremd  war. 

Was  für  eine  Intensität  von  beinahe  schon 
krankhafter  Stärke  die  Empfindung  das  Wieder- 
holungsgefühl bei  derartigen  Festlichkeiten  erreichen 
kann,  zeigt  eine  Mitteilung  von  Arnaud  über 
einen  seiner  Patienten: ') 

„Bei  der  Hochzeit  seines  Bruders  erklärte  er 
plötzlich,  er  sei  ganz  sicher,  daß  er  derselben 
Feier  unter  denselben  Umständen  im  vorigen  Jahr 
schon  einmal  beigewohnt  habe,  daß  er  alle  Einzel- 
heiten wiedererkenne  und  nicht  wisse,  warum  man 
das  alles  noch  einmal  wiederhole." 

In  diese  Kategorie  von  Fällen  gehört  auch  ein 
von  Sander  wiedergegebener  Bericht  eines 
25  jährigen  Mannes  über  seine  Empfindung  beim 
Empfang    einer    unerwarteten    Trauerbotschaft:") 

„Ich  war  zu  Bett  gegangen,  als  man  mir  mel- 
dete: „K.  Müller  ist  gestorben."  „Müller  ist  ge- 
storben! Herr  Gott!  Aber  er  kann  doch  nicht  zum 
zweitenmal  gestorben  sein."  Es  schien  ihm  in  der 
Tat,  daß  er  dieselbe  Situation  schon  einmal  durch- 
lebt habe,  daß  dieselbe  Person  ihm  dieselbe  Nach- 
richt unter  denselben  Umständen  gemeldet  habe." 

Verhältnismäßig  oft  scheinen  ferner  die  wech- 
selnden Eindrücke,  wie  sie  der  Mensch  auf  Wan- 
derungen und  Spaziergängen  empfindet,  das  Zu- 
standekommen des  Wiederholungsgefühls  auszu- 
lösen. Es  liegt  hierüber  eine  Reihe  von  Zeugnissen 
vor,  unter  denen  einige  besonders  bemerkenswerte 
hervorgehoben  seien.  Kraepelin,  der  das  Ge- 
fühl aus  eigner  Erfahrung  kannte,  knüpft  seine 
wissenschaftliche  Erläuterung  des  Begriffs  geradezu 
an  die  Empfindungen  von  Wanderern  in  freier 
Natur  an,  wenn  er  schreibt :  •') 

„Unsere  eigene  Person  steht  mitten  drin  in  der 
Täuschung,  es  überfällt  uns  gegen  unser  besseres 
Wissen  plötzlich  das  unentrinnbare  und  gebiete- 
rische Gefühl,  daß  wir  von  dieser  Person  schon 
einmal  gehört,  mit  denselben  Personen  (unter 
gleichen  Umständen)  auf  dem  gleichen  Berggipfel 
gestanden  haben." 

Bei  Du  gas  findet  sich  in  seinem  schon  er- 
wähnten Aufsatz  eine  ebenfalls  hierher  gehörige 
Bemerkung: 

„Eines  Tages  begegnete  es  mir,  daß  ich  bei 
einem  Spaziergang  im  Freien  erschrocken  innehielt, 
indem    ich    feststellte,    daß    ich   den  soeben  ver- 


')  Arnaud,  „Un  cas  d'illusion  de  „dejä  ou"  ou  „fausse 
memoire"'  in  „Annales  de  la  medecine  psychologique",  Mai- 
Juni-Heft   1896,  S.  445. 

-)  W.  Sander,  „Über  Erinnerungstäuschungen"  im 
,, Archiv  für  l'sychiatrie  und  Nervenkrankheiten",   1874,  S.  244. 

■')  „Archiv  für  Psychologie",   1S87,  S.  425. 


flossenen  Augenblick  genau  ebenso  schon  einmal 
erlebt  hatte." 

Noch  charakteristischer  aber  ist  ein  Ausspruch 
von  Anjel,  weil  er  erkennen  läßt,  daß  bei  manchen 
Menschen  die  fausse  reconnaissance  zu  einer  ganz 
gewohnten  Erscheinung  werden  kann:') 

„Auf  mehrstündigen  Spaziergängen  hatte  ich 
beim  Anblick  eines  Denkmals,  eines  Platzes,  einer 
Schloßfassade  oft  das  Gefühl,  schon  einmal  gelebt 
und  denselben  Gegenstand  unter  gleichen  Um- 
ständen gesehen  zu  haben." 

In  der  letzten  Äußerung  treffen  wir  unter  den 
bisher  mitgeteilten  Fällen  zum  erstenmal  auf 
einen  Versuch  des  Gewährsmanns,  sich  eine  Er- 
klärung für  seine  unbegreifliche  Empfindung  zurecht- 
zulegen. Angedeutet  war  ein  solcher  \'ersuch 
übrigens  schon  in  dem  oben  angeführten  Zitat 
aus  „Peter  Moors  Fahrt".  Hier  wurden  in  etwas 
mystisch-unklarer  Weise  die  „Erlebnisse  der  \^or- 
väter"  zu  Hilfe  gerufen,  an  die  sich  der  Sohn 
unserer  Zeit  gelegentlich  unbestimmt  zurück- 
erinnern sollte;  im  .^njel'schen  Fall  glaubt  der 
Berichtende  dagegen,  selber  schon  einmal  gelebt 
und  bei  dieser  Gelegenheit  denselben  Eindruck 
schon  einmal  gehabt  zu  haben.  Diese  Schluß- 
folgerung ist,  wie  man  zugeben  wird,  mehr  als 
kühn ;  aber  sie  steht  dennoch  keineswegs  vereinzelt 
da,  wie  wir  noch  sehen  werden.  In  der  Mehrzahl 
der  Pralle  werden  freilich  die  Personen,  die  sich 
von  ihrem  unbehaglichen  und  unverständlichen 
Gefühl  Rechenschaft  abzulegen  bemüht  sind,  auf 
einfachere  und  wahrscheinlichere  Deutungsversuche 
zurückgreifen. 

Besonders  beliebt  ist  bei  Vorkommnissen,  wo 
jede  Möglichkeit,  daß  sie  wirklich  schon  einmal 
erlebt  wurden,  ausgeschlossen  ist,  die  Annahme, 
daß  das  Ereignis,  das  ein  Wiederholungsgefühl 
auslöst,  früher  schon  einmal  geträumt  worden 
ist.  Als  Typus  sei  eine  Schilderung  des  eng- 
lischen Dichters  Shelley  angeführt,  die  gleich- 
zeitig klar  erkennen  läßt,  inwieweit  ein  sensitiver 
Mensch  durch  eine  fausse  reconnaisance  überrascht, 
erschreckt  und  beunruhigt  werden  kann.  Shelley 
machte  an  einem  Spätherbst-Nachmittag  bei  be- 
ginnender Dämmerung  einen  Spaziergang  in  der 
Nähe  von  Oxford.  Beim  Anblick  einer  Mühle 
überkam  ihm  plötzlich  das  (befühl,  genau  dasselbe 
Erlebnis  schon  einmal  gehabt  zu  haben: 

„Ich  erinnerte  mich,  i  m  T  r  a  u  m  vor  sehr 
langer  Zeit  genau  dieselbe  Situation  schon  einmal 
erlebt  zu  haben.  Ein  Schauer  faßte  mich,  eine 
Art  von  Schreck  bemächtigte  sich  meiner  .  .  . 
Ich  mußte  den  Platz  sofort  verlassen." 

Hier  gesellt  sich  also  zu  dem  ersten  Irrtum  des 
Wiederholungsgefühls  ein  zweiter,  nämlich  die  durch 
Überlegung  hervorgerufene  Autosuggestion,  man 
habe  dieselbe  Szene  bereits  im  Traume  sich  ab- 
spielen   sehen.     Daß  es  sich  hierbei  um  eine  Er- 


')  Anjel,  „Beitrag  zum  Kapitel  der  Erinncrungsläuschun- 
gen"  im  „Archiv  für  Psychiatrie",  Bd.  VIII,  S.  qy.  Berlin  1S78. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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innerungstäuschung  handelt,  handeln  muß,  ergibt 
schon  der  einfache  Hinweis  darauf,  daß  die  Er- 
innerung an  Traumbilder,  falls  diese  nicht  von 
vornherein  unsere  Aufmerksamkeit  aus  irgends 
einem  Grunde  besonders  fesseln,  sehr  kurzlebig 
zu  sein  pflegt  und  meist  schon  nach  wenigen 
Stunden  völlig  verweht  ist.  Nach  „sehr  langer 
Zeit"  noch  bestimmte  Einzelheiten  von  Träumen 
zu  wissen,  die  ursprünglich  gar  nichts  Bemerkens- 
wertes an  sich  tragen,  darf  schlechterdings  als  eine 
Unmöglichkeit  bezeichnet  werden.  Die  ganze 
Zurückführung  des  Wiederholungsgefühls  auf  die 
Eindrücke  eines  Traumes  ist  aber  unzweifelhaft 
nur  eine  Verlegenheitsannahme,  da  der  Mensch 
sich  sein  unbegreifliches  Gefühl  auf  andere  Weise 
überhaupt  nicht  zu  erklären  weiß.  Ob  der  angeb- 
liche prophetische  Traum  dann  in  die  jüngste 
Vergangenheit  oder  um  mehrere  Jahrzehnte  zurück- 
datiert wird,  ist  alsdann  kaum  mehr  als  bloße 
Geschmackssache.  Im  einen  wie  im  anderen  Fall 
muß  auf  das  bestimmteste  bezweifelt  werden,  daß 
er  überhaupt  stattgefunden  hat.  Daß  im  einzelnen 
stark  individuelle  Abweichungen  in  der  Zeitangabe 
für  den  vorgeblichen  Traum  zu  verzeichnen  sind, 
zeige  eine  Gegenüberstellung  folgender  zwei  Fälle. 

Im  Werke  Bernard-Leroy's  findet  sich 
folgende  Schilderung: 

„A.  R.  kommt  eines  Abends  mit  Freunden  in 
einen  Bäckerladen.  „  „Kaum  eingetreten",  berichtet 
er,  „habe  ich  den  sehr  lebhaften,  ja  geradezu  un- 
widerstehlichen Eindruck,  dieselbe  Szene  schon 
einmal  erlebt  zu  haben,  und  zwar  muß  dies  in  der 
letzten  Nacht  oder  in  einer  anderen  im  Traum 
geschehen  sein."" 

Demgegenüber  wird  ein  von  Perty  berichteter 
Fall  eines  Wiederholungsgefühls  seitens  eines  nach 
Mehringen  versetzten  Pfarrers  Happach  auf  einen 
vor 30  Jahren  (!)  gehabten  Traum  zurück- 
geführt. Die  betreffende  Schilderung  Happach 's 
bezieht  sich  auf  seine  Ankunft  im  Mehringer  Pfarr- 
haus und  lautet :  *) 

„Ich  war  vormals  nie  hier  gewesen  und  be- 
suchte jetzt,  ehe  ich  noch  anzog,  vorher  die  Witwe 
(des  Vorgängers).  Sie  empfing  mich  in  der  Haus- 
türe, und  ehe  sie  mich  noch  in  ihre  Wohnstube 
führte,  machte  sie  mir  die  andere  Stubentüre  auf, 
und  ich  war  schon  darin  gewesen;  ich  fand 
die  drei  übereinander  gemauerten  Sitze,  wie  ich 
sie  im  Traume  gesehen,  ich  wunderte  mich  dar- 
über und  hörte,  daß  es  die  Decke  eines  Keller- 
halses war." 

Happach  und  mit  ihm  der  höchst  unkritisch 
veranlagte  und  besinnungslos  jedemWunderglauben 
huldigende  Perty  sind  der  Meinung,  daß  ein  ge- 
heimnisvoller, die  Zukunft  enthüllender  Wahrtraum 
dem  Mehringer  Pfarrer  die  Stätte  seiner  künftigen 
Tätigkeit  30  Jahre  vorher  gezeigt  habe  —  rich- 
tiger wird  man  anzunehmen  haben,  daß  der  an- 
gebliche   Traum    eine    willkürliche  Voraussetzung 


')  Perty,    „Die    mystischen    Erscheinungen    de 
liehen  Natur". 


ist,  um  eine  annehmbare  Erklärung  für  das  sonst 
unbegreifliche  Wiederholungsgefühl  zu  finden. 
Perty  führt  den  Fall  als  besonders  beweiskräftig 
für  das  Vorkommen  weissagender  Träume  an. 
Man  darf  daraus  folgern,  daß  Okkultismus  und 
Wunderglauben  in  Fällen  vorkommender  „fausse 
reconnaissance",  die  der  jeweilige  Gewährsmann 
willkürlich  durch  einen  früher  gehabten  Traum 
sich  zu  deuten  versuchte,  nichts  weniger  als  ver- 
einzelt prophetische  Wahrträume  konstruiert  haben, 
die  den  unkritischen  Leser  höchst  geheimnisvoll 
und  erstaunlich  anmuten,  die  aber  einer  scharfen 
Prüfung  in  keiner  Weise  standhalten  können. 

Bei  dieser  Gelegenheit  darf  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  das  poetisch -ansprechende  Motiv, 
irgendein  uns  lebhaft  beschäftigendes  und  er- 
regendes Erlebnis  hätten  wir  schon  einmal  in 
Gestalt  eines  Wahrtraumes  vorausgeahnt,  mehreren 
großen  Dichtern  dankbaren  Stoff  gegeben  hat, 
insbesondere  dann,  wenn  es  sich  um  eine  roman- 
tische Verherrlichung  der  „Liebe  auf  den  ersten 
Blick"  handelt.  Wiel  an  d 's  „Oberen"  liefert  hier- 
für ein  Beispiel: 

In  Kl  ei  st 's   „Käthchen    von   Heilbronh"   be- 
gegnen wir  demselben  Grundgedanken  gleich   an 
mehreren  Stellen  des  Dramas.    Die  wichtigste  unter 
ihnen  ist  die  Szene,  in  der  das  im  -Schlaf  sprechende 
Käthchen    dem    Ritter    Wetter    vom    Strahl    sein 
Innenleben  enthüllt:') 
„Als  ich  zu  Bett  ging,  da  das  Blei  gegossen. 
In  der  Silvesternacht,  bat  ich  zu  Gott, 
Wenn's  wahr  war',  was  mir  die  Marianne  sagte, 
Möcht'  er  den  Ritter  mir  im  Traume  zeigen. 
Und  da  erschienst  du  ja  um  Mitternacht 
Leibhaftig,  wie  ich  jetzt  dich  vor  mir  sehe." 
Ganz  besonders  gern  aber  hat  sich  Richard 
Wagner    des  poetischen  Motivs  beschäftigt.     In 
nicht  weniger  als  4  seiner  Musikdramen  begegnen 
wir,  mit  kleinen  Abweichungen  im  einzelnen,  dem- 
selben   Grundgedanken,    daß    ein    liebendes  Weib 
vermeint,    den  Geliebten,    als    sie   ihn  zum  ersten 
Male    erblickt,    schon    früher    einmal    geschaut   zu 
haben.     Im  „Fliegenden  Holländer"  handelt  es  sich 
noch  um  die  ins  Wunderbare  gewandelte  Variante, 
daß  nicht  ein  Traum,  sondern  ein  wirkliches  Bild 
den  Anlaß  gibt    zum  Schauen    der  geliebten,    nie 
zuvor    leibhaftig     gesehenen    Person.       Aber    im 
„Lohengrin"    ist    das   Wiederholungsgefühl    selbst 
und  seine  Beziehung  auf  einen  angeblich  gehabten 
Traum  zum  deutlichen  Ausdruck  gebracht,    wenn 
Elsa  in  der  Liebesszene  des  3.  Aktes  dem  Gatten 
bekennt: 
„Doch  ich  zuvor  schon  hatte  dich  gesehen. 
In  sel'gem  Traume  warst  du  mir  genaht." 

In  den  „Meistersingern"  begegnet  uns  derselbe 
Gedanke : 

Eva:  Gut'  Lene,  laß  mich  den  Ritter  gewinnen! 
Magdalene:  Sahst  ihn  doch  gestern  zum  ersten 
Mal? 

')  Akt  IV,  Szene  2. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


F.  N.  XVI.  Nr.  42 


Eva:  Das  eben  schuf  mir  so  schnelle  Qual, 
Das  ich  schon  längst  ihn  im  Bilde  sah. 

Schließlich  klingt  dasselbe  Motiv  auch  in  der 
„Walküre"  an,  freilich  mit  der  neuen  Variante,  daß 
das  geschwisterliche  Liebespaar  hier  ein  Recht 
hat  zu  behaupten: 

Sieglinde:  Ein  Wunder   will    mich  gemahnen: 
Den  heut  zuerst  ich  erschau, 
mein  Auge  sah  dich  schon! 
Siegmund:  Ein  Minnetraum  gemahnt  auch  mich: 
in  heißem  Sehnen  sah  ich  dich  schon! 

Man  wende  nicht  ein,  daß  es  sich  in  allen 
diesen  Fällen  um  dichterische  Freiheiten  der  Dar- 
stellung handle,  für  die  in  der  Welt  der  Wirklich- 
keit kein  Platz  sei.  Genau  in  derselben  Weise, 
wie  Wieland  und  Kleist  und  Wagner  die 
„Liebe  auf  den  ersten  Blick"  poetisch  auszugestalten 
bestrebt  waren,  empfindet  der  liebende  Mensch 
auch  in  der  wirklichen  Welt  zuweilen.  Folgende 
Äußerung,  die  wieder  dem  Werke  Bernard- 
Leroy's  entstammt,  \)  möge  dies  beweisen: 

„Ich  habe  an  sie  den  ganzen  Tag  mit  einem 
sehr  schmerzlichen  Gefühl  gedacht,  das  sich 
während  eines  Monats  mehrfach  erneuerte.  Wenn 
ich  mich  daran  erinnere,  so  meine  ich,  daß  ich 
sie  im  Traume  gesehen  habe,  denn  ich  bin  voll- 
kommen sicher,  daß  ich  ihr  an  jenem  Tage  zum 
ersten  Male  begegnete." 

Die  Zurückführung  auf  einen  früheren  Traum 
ist  nun  aber  nur  eine  der  Verlegenheitshypothesen, 
die  einzelne  Menschen  sich  selbst  zurechtlegen, 
um  sich  das  unheimliche  Wiederholungsgefühl 
logisch  begreiflich  zu  machen.  Nicht  ganz  selten 
besteht  eben  auch,  wie  wir  schon  weiter  oben 
hörten,  die  Neigung,  Erinnerungen  aus  einer  früheren, 
vergessenen  Existenz  als  Erklärung  für  die  rätsel- 
hafte Empfindung  heranzuziehen.  Ein  20-jähriger 
Student, dessen  Aussage Bernard-Leroy  wieder- 
gibt, weilte  zum  ersten  Male  in  seinem  Leben  in 
Paris  und  sah  den  Boulevard  Haußmann  zwischen 
der  Avenue  Friedland  und  dem  Place  Shakespeare :  '^) 

„es  erschien  mir,  daß  ich  diesen  Ort  mehrere 
Jahrhunderte  früher   schon  einmal  besucht  hatte". 

Derselbe  Student  hatte  ein  Jahr  später  an  der- 
selben Stelle  dasselbe  Gefühl,  wenn  auch  in  ab- 
geschwächtem Maße.  Lalande  hat  einen  ähn- 
lichen Fall  mitgeteilt : ''j  eine  Person  hatte  wieder- 
holt in  ihrem  Leben  das  Gefühl,  bestimmte  Er- 
eignisse ihres  Lebens  in  einem  früheren  irdischen 
Dasein  schon  einmal  erlebt  zu  haben,  und  zwar 
mit  so  großer  Gewißheit,  daß  sie  rundweg  be- 
hauptete, die  in  den  früheren  Existenzen  erworbenen 
Erfahrungen  erleichterten  ihr  ihre  zutreftenden 
Entscheidungen. 

Wo  die  Weltanschauung  eines  Menschen  von 
vornherein  dem  Mystizismus  und  vielleicht  gar  der 
Lehre  von  der  Seelenwanderung  zuneigt,  da  wird 

')  a.  a.  O. 

«)  a.  a.  O.  S.   175,  Fall  47. 

')  A.  Lalande,  „Sux  les  paramnesies"  in  „Revue 
philosophique",   Bd.   36  (1893),  S.  488. 


die  Neigung,  allerhand  Eindrücke  „wiederzuerken- 
nen", vielleicht  gar  schon  von  einem  früheren 
irdischen  Dasein  her,  infolge  von  Autosuggestionen 
ganz  beträchtlich  anwachsen.  Das  Wiederholungs- 
gefühl, das  für  die  weitaus  meisten  Menschen  etwas 
Erschreckendes  und  Beängstigendes  an  sich  hat, 
ist  solchen  Personen  angenehm,  weil  sie  darin  nur 
eine  Bestätigung  für  die  ihnen  liebgewordene 
Weltanschauung  oder  ihre  vorgeblichen  eigenen 
übernatürlichen  Fähigkeiten  erblicken.  Einen  Fall 
dieser  Art  von  ziemlich  komischem  Beigeschmack 
habe  ich  selbst  einmal  mitgeteilt:') 

„Eine  stark  phantasiebegabte  Frau  stellte  sich 
mir  eines  Tages  als  Hellseherin  vor  und  behauptete 
neben  mancherlei  anderen  hellseherischen  Fähig- 
keiten, die  bei  näherer  Betrachtung  übrigens  in 
nichts  zerflossen,  auch  die  zu  besitzen,  daß  sie 
nachts  oder  morgens  alle  die  Personen  halluzina- 
torisch im  Bilde  erblicke,  mit  denen  sie  im  Laufe 
des  Tages  erstmalig  in  Berührung  kommen  solle. 
Wiederholt  erklärte  sie  mir  gegenüber,  irgendeine 
Persönlichkeit,  der  ich  sie  zum  erstenmal  gegen- 
überstellte, sei  ihr  schon  in  der  Nacht  zuvor  er- 
schienen. Verschiedene  Versuche,  diese  Behaup- 
tung durch  exakte  Experimente  zu  rektifizieren, 
scheiterten  dann  freilich  in  geradezu  kläglicher 
Weise.  In  die  Enge  getrieben,  berief  sich  diese 
sonderbare  Seherin  schließlich  auf  das  Zeugnis 
ihres  Mannes  und  gab  an,  daß  dieser  wiederholt 
Personen,  mit  denen  das  Ehepaar  tagsüber  uner- 
wartet zu  tun  bekam,  auf  Grund  der  Beschreibung 
ihrer  nächtlichen  Gesichte  wiedererkannt  habe. 
Ich  benutzte  alsbald  die  erste  sich  bietende  Ge- 
legenheit, um  den  Ehemann  zu  befragen,  ob  diese 
Aussage  zutreffend  sei,  und  er  erwiderte  mir 
ebenso  verständig  wie  naiv:  „Nein,  ich  erkenne 
die  Personen  nicht,  aber  meine  Frau  erkennt  sie 
wieder." 

Ein  anderes  noch  wesentlich  wertvolleres  und 
charakteristischeres  Beispiel  für  eine  durch  Auto- 
suggestion gewissermaßen  künstlich  gezüchtete 
fausse  reconnaissance  lieferte  das  ausgezeichnete 
Trance-Medium  F'lournoy's,  über  das  dieser  aus- 
gezeichnete Genfer  Psychologe  ein  wahrhaft  klassi- 
sches Werk  veröftentlicht  hat.  -)  H  e  1  e  n  e  S  m  i  t  h , 
wie  das  Pseudonym  dieses  Mediums  lautete,  neigte, 
wie  es  übrigens  bei  der  Mehrzahl  der  Trance- 
Medien  der  Fall,  stark  zum  Seelenwanderungs- 
glauben und  behauptete,  berehs  eine  ganze  Reihe 
von  irdischen  Existenzen  durchlebt  zu  haben,  zu- 
letzt als  Königin  Marie-Antoinette.  In  einem  wich- 
tigen  Nachtrag  zu  seinem  Hauptwerk  ^)  berichtet 


')  „Zeitschrift  f.  Psychotherapie  und  medizinische  Psycho- 
logie", Bd.  V,  Heft  5,  S.  213. 

'')  Theodore  Flournoy,  „Des  Indes  u  la  planete 
Mars".  Genf  und  Paris  1900.  —  Eingehender  Bericht  hier- 
über in  der  „Naturw.  Wochenschr."  vom  13.,  20.,  27.  Oktober 
1901. 

')  Theodore  Flournoy,  „Nouvelles  observations  sur 
un  cas  de  somnambulisme  avec  glossolalie"  im  „Archive  de 
Psychologie",  Dezember  1901.  —  Vgl.  „Naturw.  Wochenschr." 
vom  20.  Juli   1902. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S9I 


nun  F 1  o  u  r  n  e  y ,  wie  Helene  Smith  im  Novbr. 
1900  zum  ersten  Male  in  ihrem  Leben  von  Genf 
nacii  Paris  kam,  also  nach  der  Stadt,  wo  sie  vor 
rund  110  Jahren  als  Königin  gelebt  zu  haben  be- 
hauptete. Somit  waren  alle  Vorbedingungen  für 
ein  gewissermaßen  künstlich  erzeugtes  Wieder- 
holungsgefühl in  seltener  Vollkommenheit  bei- 
sammen. In  der  Tat  hören  wir  denn  auch  in 
F 1  o  u  r  n  o  y '  s  Nachtrag :  *) 

„In  den  an  ihre  Mutter  gerichteten  Briefen 
sprach  Helene  davon,  daß  sie  in  Paris  nichts  über- 
rasche   und    daß    sie  die  Empfindung    habe,    dort 

schon  lange  gelebt  zu  haben Ich  überschritt 

einen  großen  Platz  und  empfand  während  der 
ganzen  Zeit  des  Hinübergehens  ein  Zittern  in  den 
Armen,  in  den  Händen  und  im  Kopf;  eine  schreck- 
liche Angst  schnürte  mir  das  Herz  zusammen,  und 
ich  beeilte  mich,  wieder  fortzukommen  .  .  .  Ich 
wurde  mir  darüber  klar,  daß  ich  den  Platz  Lud- 
wigs XV.  -)  überschritten  hatte." 

Berücksichtigt  man,  daß  die  Place  de  la  Concorde 
von  1900  schwerlich  noch  die  geringste  Ähnlich- 
keit mit  dem  von  1793  hatte,  so  daß  ein  „Wieder- 
erkennen" auch  rein  äußerlich  ein  Ding  der  Un- 
möglichkeit hätte  sein  müssen,  so  wird  man  die 
interessante  Autosuggestion  einer  voreingenomme- 
nen Denkweise  erst  in  ganzem  Umfange  zu  würdigen 
imstande  sein.  Natürlich  wird  Helene  Smith 
in  der  von  ihr  empfundenen  Angst  den  unwider- 
leglichen Beweis  erblickt  haben,  daß  sie  wirklich 
dereinst  auf  Erden  als  Marie- Antoinette  gewandelt 
sei. 

Im  Hinblick  auf  die  anscheinend  ziemlich  häufig 
vorkommenden  Fälle,  in  denen  ein  Mensch  zu  der 
Vorstellung  neigt,  sein  Wiederholungsgefühl  sei 
durch  Eindrücke  während  einer  früheren  irdischen 
Existenz  zu  erklären,  hat  bereits  Rhys  Davids 
die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  die  „fausse 
reconnaissance"  eine  Hauptwurzel  für  die  buddhis- 
tische Lehre  der  Seelenwanderung  gewesen  sei. 
Neuerdings  hat  Ottokar  Fischer  sich  dieser 
Auffassung  in  einer  schönen,  gedankenreichen  Ab- 
handlung angeschlossen.  ^)  Auch  ich  selbst  habe 
die  hohe  Wahrscheinlichkeit  eines  solchen  Zu- 
sammenhanges bereits  betont.  *) 

Und  nicht  nur  die  Lehre  von  der  Seelenwan- 
derung wird  in  dem  Wiederholungsgefühl  eine 
ihrer  Hauptquellen  zu  erblicken  haben,  sondern 
auch  verschiedene  philosophische  Spekulationen 
ältester  wie  neuester  Zeit,  die  bald  in  dieser  bald 
in  jener  Form  lehren,  daß  in  langen  Zeiträumen 
alles  auf  Erden  sich  wiederhole,  dürften  darauf 
fußen.  Das  „große  Weltjahr"  und  die  „Phönix- 
periode" sind  möglichenfalls  Geisteskinder  des  Zu- 

1)  a.  a.  O.  S.  216/17. 

2)  Auf  diesem  Platz,  heut  Place  de  la  Concorde  genannt, 
wurde  Marie-Antoinette  am   16.  Oktober   1793  hingerichtet. 

')  Ottokar  Fischer,  „Eine  psychologische  Grundlage 
des  Wiederkunftsgedankens"  in  der  „Zeitschrift  für  angewandte 
Psychologie  und  Sammelforschung"  Bd.  V,  Heft  5/6,    S.  4S7. 

*)  „Türmer",  1912,  S.  8S1:  „Eine  Quelle  des  Seelen- 
wanderungs-Glaubens". 


Standes  der  fausse  reconnaissance,  und  dasselbe 
kann  man  mit  erhöhterZu  versieht  in  dem  modernsten 
Ausläufer  dieser  wunderlich  resignierten  Weltan- 
schauung behaupten,  von  Friedrich  Nietzsche 's 
trübseliger  Lehre  von  der  „ewigen  Wiederkunft" 
von  der  „Wiederkehr  des  Gleichen",  die  im  „Zara- 
thustra"  anklingt  und  im  „Dionysos"  zum  System 
entwickelt  wurde.  Die  enge  Verwandtschaft  dieser 
philosophischen  Irrlehre  mit  den  Wunderlichkeiten 
des  Wiederholungsgeiühls  wird  uns  durch  den 
kompetentesten  Zeugen  bestätigt,  durch  Nietzsche 
selbst;  an  zwei  Stellen  seiner  Schriften  gewährt 
er  uns  einen  Einblick  in  die  Gedankenwerkstatt, 
der  die  Lehre  von  der  ewigen  Wiederkunft  ent- 
sprang. Im  „Zarathustra"  findet  sich  eine  geradezu 
klassische  Schilderung  einer  ,. fausse  reconnaissance", 
die  durch  einen  einzelnen  Zug  eines  schauerlichen 
Gesamteindrucks,  durch  ein  Hundegeheul  und  da- 
durch hervorgerufene,  stark  erregende  Kindheits- 
erinnerungen bedingt  wird.  Nietzsche  schreibt 
nämlich,  unzweifelhaft  durch  ein  eigenes  Erlebnis 
veranlaßt: ') 

„„Und  diese  langsame  Spinne,  die  im  Mond- 
scheine kriecht,  und  dieser  Mondschein  selber,  und 
ich  und  du  im  Torwege,  zusammen  flüsternd,  von 
ewigen  Dingen  flüsternd  —  müssen  wir  nicht 
schon  alle  dagewesen  sein  und  wiederkom- 
men und  in  jener  anderen  Gasse  laufen,  hinaus, 
vor  uns,  in  dieser  langen,  schaurigen  Gasse  — 
müssen  wir  nicht  ewig  wiederkommen?"" 
Also  redete  ich,  und  immer  leiser:  denn  ich  fürchtete 
mich  vor  meinen  eigenen  Gedanken  und  Hinter- 
gedanken. Da,  plötzlich  hörte  ich  einen  Hund 
nahe  heulen.  Hörte  ich  jemals  einen  Hund  so 
heulen?  Mein  Gedanke  lief  zurück.  Ja!  Als  ich 
Kind  war,  in  fernster  Kindheit:  —  da  hörte  ich 
einen  Hund  so  heulen.  Und  sah  ihn  auch,  ge- 
sträubt, den  Kopf  nach  oben,  zitternd,  in  stillster 
Mitternacht,  wo  auch  Hunde  an  Gespenster  glauben: 
—  also  daß  es  mich  erbarmte.  Eben  nämlich  ging 
der  volle  Mond,  totschweigsam,  über  das  Haus, 
eben  stand  er  still,  eine  runde  Glut  .  .  ." 

Sind  in  dieser  Darstellung  bereits  die  engen 
Verflechtungen  zwischen  Wiederholungsgefühl  und 
der  Lehre  von  der  ewigen  Wiederkunft  unverkenn- 
bar, so  hören  wir  an  anderer  Stelle,  bei  welcher 
Gelegenheit  der  Grundgedanke  der  Wiederkehr 
des  Gleichen  in  Nietzsche  lebendig  wurde :^) 
„Die  Grundkonzeption  des  Werkes,  der  Ewige- 
Wiederkunfts-Gedanke,  die  höchste  Formel  der 
Bejahung,  die  überhaupt  erreicht  werden  kann  — 
gehört  in  den  August  des  Jahres  1881:  er  ist  auf 
ein  Blatt  hingeworfen,  mit  der  Unterschrift  6000 
Fuß  jenseits  von  Mensch  und  Zeit.  Ich  ging  an 
jenem  Tage  am  See  von  Silvaplana  durch  die 
Wälder;  bei  einem  mächtigen,  pyramidal  aufge- 
türmten Block  unweit  Surlei  machte  ich  Halt.  Da 
kam  mir  dieser  Gedanke." 

In  dieser  Äußerung  finden  wir  zwar  nicht  be- 


')  „Zarathustra",  6,  S. 
2)  Brief  an  Peter  Ga 


„Vom  Gesicht  und  Rätsel" 
1  3.  September  1883. 


592 


Naturwissenschaftliche  Wochenschriit. 


N.  F.  XVI.  Nr.  42 


tont,  wie  im  „Zarathustra",  daß  sich  ein  Gefühl 
einstellte,  alle  diese  Erlebnisse  müßten  schon  ein- 
mal dagewesen  sein,  aber  wenn  der  offenbar  häufiger 
vom  Wiederholungsgefühl  befallene  Philosoph  auf 
einem  Spaziergang,  der,  wie  wir  hörten,  das  Zu- 
standekommen der  fausse  reconnaissance,  vielleicht 
infolge  gesteigerter  körperlicher  Anregung,  beson- 
ders zu  begünstigen  scheint,  plötzlich  den  Ged^nken 
von  der  Wiederkehr  des  Gleichen  inspiratorisch 
erfaßt,  so  muß  ein  unmittelbarer  äußerer  Anlaß 
dazu  vorhanden  gewesen  sein,  und  ich  weiß  nicht 
recht,  wie  man  um  die  Annahme  herumkommen 
will,  daß  dies  eben  ein  Wiederholungsgefühl  von 
besonders  großer  Intensität  gewesen  sein  muß,  wie 
es  in  irgendeinem  Zusammenhang  der  Anblick 
des  genannten,  mächtigen  Blockes  bei  Suclei  aus- 
gelöst haben  mag.  Ottokar  P'isch  er  sträubtsich 
gegen  eine  solche  Schlußfolgerung  und  meint :  \) 
„Ich  würde  als  läppisch  jene  Behauptung  zurück- 
weisen, welche  etwa  formulieren  würde;  „Anfang 
August  1881  wurde  Nietzsche  am  See  von 
Silvaplana  beim  Anblick  eines  pyramidal  aufge- 
türmten Blocks  von  dem  Zustande  der  „fausse 
reconnaissance"  befallen  und  erhielt  dermaßen  den 
Anstoß  zu  seiner  Wiederkunftstheorie." 

Ich  kann  mir  nicht  helfen:  ich  vermag  in 
einer  solchen  Annahme  durchaus  nichts  „Läp- 
pisches" zu  erblicken,  sondern  beinahe  etwas 
Unvermeidliches  und  Selbstverständliches.  Daß 
N  i  e  t  s  c  h  e  durch  zweifellose  Fälle  des 
Wiederholungsgefühls  sozusagen  prädestiniert  war 
für  den  Gedanken  der  ewigen  Wiederkunft,  zeigt 
die  obige  „Zarathustra"-Stelle  einwandfrei.  Eine 
besonders  lebhafte,  erneute  „fausse  reconnaissance" 
mußte  dann  aber  einen  scharfen  Denker,  wie  er 
es  war,  eines  Tages  zwingen,  sich  philosophisch 
mit  dem  unbegreifhchen  Gefühl  abzufinden.  Ob 
die  bei  ihm  anscheinend  besonders  lebhafte  Neigung 
zur  fausse  reconnaissance  im  Zusammenhang  stand 
mit  seiner  psychopathischen  Veranlagung, "bleibe 
dahingestellt.  Im  allgemeinen  liegt  kein  Anhalte- 
punkt  dafür  vor,  in  einem  häufiger  auftretenden 
Wiederholungsgefühl  Anzeichen  einer  geistigen 
Störung  zu  erblicken.  Andererseits  gibt  es  Be- 
richte über  eine  derartige  Intensität  des  Wieder- 
holungsgefühls, daß  ein  stark  pathologischer  Zug 
darin  unverkennbar  ist. 

Die  schon  erwähnte  Arbeit  von  Arnaud 
liefert  hierfür  den  deutlichen  Beweis.  Eine  seiner 
Patientinnen  behauptete  i.J.  1894,  schon  im  nächsten 
Jahre  1895  zu  leben,  weil  alle  Ereignisse,  alle 
Zeitungsnachrichten  usw.  ihn  derart  bekannt  an- 
muteten, daß  er  bestimmt  wisse,  sie  „ein  Jahr 
zuvor"  schon  einmal  erlebt  zu  haben.  Sie  war  in 
eine  Heilanstalt  gebracht  worden  und  erklärte  nun 
dem  Arzt  gegenüber: 

„Tag  für  Tag  habe  ich  meinen  vorigen  Aufent- 
halt in  dieser  Anstalt  nochmals  durchlebt  .  .  . 
Sie  haben  mir  dieselben  falschen  Nachrichten  schon 


damals  zugehen  lassen,  den  Tod  des  Fräuleins  X, 
die  Hochzeit  des  Fräuleins  Z.  Ich  kann  daher  an 
Frau  X  nicht  schreiben,  weil  ich  nicht  weiß,  ob 
die  Mitteilung  wahr  oder  falsch  ist.  Ich  glaube 
aber,  sie  ist  falsch,  denn  ich  weiß  genau,  daß  ich 
dieselbe  Sache  schon  im  vorigen  Jahr  gelesen 
habe  ...  Ich  werde  also  an  Frau  X  nicht  schreiben, 
trotz  der  guten  Gelegenheit,  die  mir  der  angeb- 
liche Tod  ihrer  Tochter  gibt.  Ich  werde  genau 
ebenso  handeln  wie  beim  ersten  Mal,  und  ich  bin 
sicher,  daß  ich  ihr  im  vorigen  Jahre  auch  nicht 
geschrieben  habe  ...  In  den  6  Monaten,  während 
deren  ich  jetzt  hier  weile,  gibt  es  nicht  2  Minuten, 
die  sich  von  meinem  ersten  Aufenthalt  unter- 
scheiden." 

Hier  haben  wir  das  Wiederholungsgefühl  in 
seiner  höchstmöglichen  Entwicklung  vor  uns:  statt 
der  sonst  üblichen  akuten  Form,  die  nur  Augen- 
blicke oder  Bruchteile  eines  Augenblicks  währt, 
ein  „chronisches  Wiederholungsgefühl", 
das  unverkennbare  Anzeichen  einer  ernsten  geistigen 
Erkrankung  an  sich  trägt.  Hätte  die  betreffende 
Person,  die  alle  Ereignisse  während  6  Monaten 
schon  einmal  erlebt  haben  wollte,  den  Zeitpunkt, 
zu  dem  ihr  alles  schon  einmal  begegnet  war,  nicht 
willkürlich  nur  um  ein  Jahr  zurückdatiert,  sondern 
unbestimmter  von  einer  ferneren  Vergangenheit 
gesprochen,  vielleicht  gar  von  einer  früheren 
Existenz  auf  Erden,  so  wäre  sie  auch  ohne  alle 
Philosophie  wohl  zum  überzeugten  Anhänger  der 
Idee  von  der  „ewigen  Wiederkunft"  geworden, 
gleichviel  ob  sie  von  Friedrich  Nietzsche 
jemals  etwas  gehört  hätte  oder  nicht.  In  diesem 
Lichte  gesehen,  tritt  der  krankhafte  Zug,  den 
Nietzsche's  Wiederkunftslehre  unverkennbar  an 
sich  trägt,    um    so  deutlicher  in  die  Erscheinung. 

Im  übrigen  dürfte  der  Hinweis  nicht  unange- 
bracht sein,  daß  sowohl  der  Wiederkunftsgedanke 
wie  die  Seelenwanderungslehre  in  vielen  Fällen 
gewissermaßen  das  Allerweltsrezept  abzugeben 
scheinen  für  die  „Erklärung"  irgendwelcher  un- 
begreiflichen, den  Menschen  lebhaft  beschäftigenden 
und  erregenden  Erlebnisse.  Daß  selbst  die  höchst- 
intelligenten Menschen  gelegentlich  nach  diesem 
Rettungsanker  der  Deutung  greifen,  wenn  alles 
andere  logische  Verstehen  versagt,  bezeugt  eine 
Äußerung  Goethe's  aus  der  Zeit  seiner  Schwär- 
merei für  Frau  von  Stein: 

„Ich  kann  mir  die  Bedeutsamkeit,  die  Macht, 
die  diese  Frau  über  mich  hat,  anders  nicht  er- 
klären, als  durch  die  Seelenwanderung.  —  Ja,  wir 
waren  einst  Mann  und  Weib!" 

Die  Hypothese  von  der  Seelenwanderung  konnte 
sicherlich  auch  ohne  fausse  reconnaissance  sich 
entwickeln,  aber  ihre  mächtigste  Stütze  dürfte  sie 
in  dem  weitverbreiteten  Wiederholungsgefühl  ge- 
funden haben,  das  überdies  stark  dazu  beigetragen 
haben  dürfte,  jener  Lehre  auch  außerhalb  des 
Buddhismus  eine  verhältnismäßig  nicht  geringe 
Beliebtheit  und  eine  beachtenswerte  Anhänger- 
schaft zu  erwerben. 


N.  F.  XVI.  Nr.  4: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


593 


Kleinere  Mitteilungen. 

Hufeisendünen  aus  Schnee.  IVIit  i  Abbildung 
im  Text.  So  viel  ich  weiß  kennt  man  in  Europa 
nur  die  zur  Windrichtung  quer  verlaufenden  Sand- 
dünen der  Meeresküsten.  Mitte  Februar  dieses 
Jahres  (1917)  war  aber  der  gefrorene  Untersee 
(unterster  Teil  des  Bodensees)  mit  einer  Un- 
menge von  Schneewällen  bedeckt,  die  genau  dem 
entsprachen,  was  die  Bücher  über  die  Bogen-, 
Sichel-  oderilufeisendünen  („B a r c h a n e" ) 
der  zentralasiatischen  Wüsten  berichten. 

Bei  strenger  Kälte  war  anfangs  des  Monats 
auf  die  feste  Eisdecke  trockener,  staubförmiger 
Schnee  gefallen.  Zwei  Tage  darauf  erhob  sich 
ein  heftiger  Ostwind,  der  in  die  etwa  zentimeter- 
dicke Schneedecke  mehr  oder  weniger  regelmäßig 
verteilte  Gassen  fegte  und  schließlich  nur  noch 
zahllose  in  der  Windrichtung  bis  lO  m  lange,  quer 
dazu  bis  2  m  breite  und  bis  30  cm  hohe  Schnee- 


seite ein  Zuwachs  statt.  In  einer  halben  Stunde 
maß  ich  30  cm  Verlängerung  in  der  Windrichtung 
—  unter  Beibehaltung  der  alten  Form.  Die  Wälle 
wurden  also  größer,  d.  h.  länger  und  dement- 
sprechend auch  etwas  breiter.  Das  Material  zum 
Zuwachs  brauchte  dabei  nicht  von  weit  her  zu 
stammen.  Es  waren  im  Osten  —  selbst  in  meh- 
reren Kilometern  Entfernung  —  nicht  etwa 
weniger  und  kleinere,  im  Westen  mehr  und  grö- 
ßere Wälle  zu  beobachten.  Vielmehr  hatte  es  den 
Anschein,  als  ob  der  Zuwachs  von  zertrümmerten, 
zu  Beginn  des  Treibens  in  viel  größerer  Zahl  vor- 
handenen kleinen  und  kleinsten  Wällen  entstammte. 
Diese  zeigten  nämlich  zwar  die  gleiche  hin  und 
her  schreitenden  Bewegungen  wie  die  größeren 
Wälle.  Wurde  aber  ihre  Spitze  einmal  zu  weit 
abgenagt,  so  war  es  um  sie  geschehen;  sie  wurden 
ganz    weggeblasen    und    kein    ähnliches    Gebilde 


Abb.     Hufeisendüne  aus  Schnee  auf   dem  gefrorenen  Untersee. 
Der  Apparat  schaute  nach  Norden  gegen  das  badische  Dörflein  Hemnienhofen. 
(Der  schwarze    Strich   im   Hintergrunde  auf  dem  Eise   ist  eine  Leiter,  die  man  mit 
anderem  Werkzeug  zur  Rettung  Eingebrochener  aufzustellen  pflegt.) 


wälle  liegen  ließ.  Wo  diese  nicht  durch  Sprünge 
im  Eis,  durch  Schlittschuhläufer  oder  Vermar- 
kungen  der  Trüschenfischer  und  der  deutschen 
Grenzwachen  gestört  waren,  schlössen  sie  alle 
deutlich  hufeisenförmig  ab.  Die  dem  Winde 
zugekehrte  Seite  dagegen  lief  spitz  zu.  Der  vor- 
dere Teil  der  Längsseiten  war  oft  von  Ansätzen 
zu  neuen  kleinen  Bogendünen  begleitet.  Die 
höchste  Höhe  erreichten  die  Wälle  dicht  vor  der 
Konkavseite  des  Hufeisens.  Sie  fielen  also  nach 
hinten  steil  ab.  Die  größte  Breite  war  ebenfalls 
nahe  dem  hinteren  Ende. 

Ein  eigentliches  Wandern  der  Dünen  konnte 
ich  nicht  beobachten.  Ließ  der  Wind  etwas  nach, 
so  wuchs  im  Handumdrehen  von  der  bisherigen 
Spitze  aus  ein  langer  flacher  Keil  von  angetriebenem 
Schnee  dem  Wind  entgegen.  Setzte  dieser  aber 
wieder  stärker  ein,  so  wurde  die  Neubildung  vom 
anprallenden  Schneepulver  weggeschabt,  und  sogar 
gelegentlich  die  alte  Spitze  um  einige  Zentimeter 
rückwärts  verlegt.    Dagegen  fand  an  der  Hufeisen- 


entstand  an  ihrer  Stelle.     Die  Gassen  gestalteten 
sich  daher  immer  wegsamer. 

Auch  über  die  Ursache  der  Hufeisen- 
bildung ließ  sich  ein  Urteil  gewinnen.  Wohin 
man  schaute  rutschte  das  vom  Winde  getriebene 
Schneepulver  auf  der  Eisfläche  dahin.  Nicht  ganz 
gleichmäßig  ausgebreitet,  sondern,  gerade  auch 
der  Wälle  wegen,  zu  Faden,  Schlieren,  Bächen 
und  Strömen  verdichtet.  Anders  am  hintern 
Ende  der  Wälle.  Dort  rutschte  der  Schnee- 
staub nicht,  sondern  flog.  Von  dem  Kamm  des 
Hufeisens  sausten  die  Kristalle  geradlinig  in  die 
Luft  hinaus.  Ein  Teil  freilich  wälzte  sich  auch 
die  steile  Halde  hinunter.  Was  immer  aber  in 
den  „Hof"  des  Hufeisens  fiel,  wurde  sogleich 
wieder  erfaßt,  gegen  den  Wind  ansteigend  in  die 
Luft  gehoben  und  dann  auf  der  Höhe  des  Walles, 
dem  Windschatten  entrückt,  weit  weg  geschnellt. 
Also  infolge  einer  Saugwirkung,  die  natürlich 
hinter  dem  höchsten  Teile  der  Dünen  am  stärk- 
sten war,    wurde    der  „Hof"  des  Hufeisens  immer 


594 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  42 


rein  gefegt.  Im  Gegensatz  dazu  fehlte  an  den 
beiden  Seiten  des  fiofes  die  Saugwirkung.  Es 
kam  dort  nur  der  Windschatten  zur  Geltung. 
Infolgedessen  blieb  an  den  Seiten  des  Hintereiides 
der  von  oben  oder  von  außen  angetriebene  Schnee- 
staub in  zwei  langen  Fortsätzen  liegen.  Aus 
diesem  Ansetzen  an  der  Seite  und  dem  Reinfegen 
in  der  Mitte  entstanden  aus  den  einfachen  Wällen 
zu  Beginn  des  Sturmes  die  hufeisenförmigen  der 
nächsten  Tage. 

Am  dritten  Sturmtage  waren  die  Erscheinungen 
schon  viel  verwickelter.  Offenbar  spielte  jetzt  das 
Wirken  der  Sonne  hinein,  das  allerorts  harte, 
schwer  angreifbare  und  oft  unterhöhlte  Schnee- 
flächen schuf.  Unser  Bild  stammt  von  diesem 
dritten  Tage.  Es  zeigt  eine  noch  fast  unveränderte 
„Hufeisendüne". 

Über  die  Windstärke  kann  ich  keine  an- 
deren Angaben  machen  als  die,  daß  man  auf  den 
Schlittschuhen  bei  ausgespannten  Rockschössen 
ohne  jede  eigene  Anstrengung  (also  bei  bloßem 
Sichhinstellen)  im  Mittel  in  der  Stunde  um 
15 — 20  km  „versetzt"  wurde.  (Übrigens  ein  Hoch- 
genuß!) Max  Oettli. 

Literaturhinweise  zu  Killermanns  Aufsatz  über 
„Die  Entdeckung  der  Paradiesvögel".  Es  liegt  im 
Interesse  unserer  jungen  zoologiehistorischen 
Disziplin,  daß  ich  auf  den  in  Heft  30  (vom  29.  Juli 
191 7)  dieser  „Wochenschrift"  abgedruckten  Auf- 
satz S.  Killermanns  über  „Die  Entdeckung 
der  Paradiesvögel"  zurückkomme,  denn  sonst 
könnte  die  falsche  Meinung  entstehen,  wir  hätten 
uns  noch  gar  nicht  mit  dieser  P>age  befaßt. 

Im  Februar  1914  hat  bereits  Erwin  Strese- 
mann  in  Band  XXI  (S.  13—24)  der  „Noviiates 
Zoologicae"  einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Or- 
nithologie unter  dem  Titel  „Was  wußten  die 
Schriftsteller  des  XVI.  Jahrhunderts  von  den 
Paradiesvögeln?"  veröffentlicht,  der  diese  ganze 
Frage  in  eleganter  Methode  beantwortet.  Leider 
ist  Killermann  diese  Studie  unbekannt  ge- 
blieben. Und  ich  halte  es  nun  für  meine  Pflicht, 
ergänzend  darauf  hinzuweisen  und  einiges  daraus 
hier  mitzuteilen,  da  die  „Novitates  Zoologicae"  wohl 
nicht  allen  Lesern  gleich  zur  Hand  sind.  Viel- 
leicht würde  ja  auch  Stresemann  selbst  die 
Feder  ergreifen.  Doch  er  sei  dieser  immerhin 
peinlichen  Mühe  überhoben.  Mag  ihm,  der  jetzt 
im  Felde  steht,  das  Folgende  zeigen,  daß  die 
Zoologiehistorik  seine  Arbeit  von  1914  wohl  zu 
schätzen  weiß. 

Eines  freilich  konnte  Stresemann  damals 
nicht  wissen:  daß  nämlich  um  1460  Pier- 
candido  in  seinem  handschriftlichen  Tierbuch 
von  den  „Aves  paradisi"  schrieb:  „Color  illis  fuscus 
atque  subrutilus;  monedulae  forma  minores  sunt. 
Ceterum  nihil  a  me  ex  illustribus  auctoribus  de 
his  aut  earum  natura  perspectum  est"  (Zoologische 
Annalen  VI  2/3,  1914,  S.  171  Anm.  i),  da  dieser 
Cod.  Vatic.  Urb.  lat.  276  erst  1914  durch  Killer- 


manns eigene  Veröffentlichung  in  den  „Zoolo- 
gischen Annalen"  uns  bekannt  wurde.  Dafür  brachte 
aber  Stresemann  eine  auf  die  Paradiesvögel  be- 
zügliche ältere  Stelle  aus  dem  Reisebericht  des 
venetianischen  Kaufmanns  Nicolo  de  Conti, 
den  der  päpstliche  Sekretär  Gian  Francesco 
Poggio  Bracciolini  1440  oder  1441  nieder- 
schrieb und  der  unter  dem  Titel  „India  recog- 
nita"    zuerst    1492    in  Mailand    im  Druck  erstand. 

Das  was  Killermann  aus  dem  Berichte  des 
Maximilian  US  Transsylvan  US  mitteilt,  findet 
man  bei  Stresemann  in  gründlicher  Darstellung. 
Dieser  hat  aus  dem  römischen  Druck  von  1523 
der  „Epistola  ....  de  .  .  novissima  Hispanorum 
in  Orientem  navigatione,  quae  variae  regiones  in- 
ventae  sunt,  cum  ipsis  etiam  Moluccis  insulis  bea- 
tissimis,  optimo  Aromatum  genere  refertis"  zitiert, 
während  Killermann  nur  von  einer  „Editio 
princeps,  Co  In  1523,  Januar"  —  ohne  Titel- 
angabe —  schreibt  und  wahrscheinlich  aus  dem 
Regensburger  Originalmanuskript  schöpft,  wobei 
ihm  jedoch  einige  falsche  Lesungen  untergeschlüpft 
sein  dürften. 

Auch  die  deutsche  Übersetzung  von  Marco 
Antonio  Pigafetta's  „Beschreibung  der  von 
Magellan  unternommenen  ersten  Reise  um  die 
Welt"  in  der  Gothaer  Ausgabe  von  1801  durfte 
von  Killermann  nicht  herangezogen  werden, 
wo  doch  bereits  zwischen  1524  und  1534  der  von 
Pigafetta  wahrscheinlich  schon  1522  verfaßte 
Bericht  in  französischer  Übersetzung  („Le  Voyage 
et  navigation  faict  par  les  Espagnolz  es  Isles  de 
Mollucques  cfc")  erschien  und  außerdem  in  der 
Ambrosiana  das  Original  von  Pigafetta's  Hand 
liegt,  nach  dem  sich  S  treseman  n  gerichtet  hat. 
Die  bei  Killermann  stehende  Übersetzung  ist 
jedenfalls  sehr  anfechtbar.  Z.  B.  ist  durchaus  nicht 
zu  übersetzen:  „Dieser  Vogel  hat  die  Größe  einer 
Drossel",  da  im  Cod.  Ambros.  furtola  —  also 
„Turteltaube"  —  steht.  Außerdem  muß  es  statt 
„Bolon  dinata"  sprachlich  richtig  heißen :  („man 
nennt  ihn)  Bolon  dinata",  da  nach  S  t  rese  man  n, 
der  meines  Wissens  auch  ein  guter  Kenner  der 
Archipelsprachen  ist,  im  Javanischen  iiiaiiuk  cicvata 
und  im  Malayischen  biiniiig  devafa  „göttlicher 
Vogel"  bedeutet.  Dieses  fatale  //  mag  deswegen 
ruhig  in  dem  in  „Pigafetta  Raccolta"  (V.  3,  99) 
abgedruckten  Eigenbericht  des  Reisenden  stehen, 
der  freilich  S  treseman  n  unbekannt  blieb.') 

Weiterhin  schreibt  K  i  1 1  e  r  m  a  n  n ,  daß  seines 
Wissens  Conrad  Gesner  „in  den  ersten  Auf- 
lagen seines  Werkes  den  Paradiesvogel  noch  nicht 
abgebildet"  habe,  sondern  daß  zum  ersten  Male 
in  der  von  Heußlin  besorgten  deutschen  Aus- 
gabe, im  „Vogelbuch"   1600,    eine  Abbildung  auf- 


')  Stresemann,  der  den  Cod.  Ambros.  benutzte,  hat 
jedenfalls  i^o/dH  diiui/a.  Ich  kann  nur  die  der  Gothaer  Aus- 
gabe als  Übersetzungsvorlage  dienende  Schrift  „Premier  voyage 
autour  du  monde,  par  le  Chevr.  Pigafetta,  sur  l'escadre  de 
Magellan,  pendant  les  annees  1519,  20,  21  et  22;  .  .  .  ." 
(Paris,  l'an  IX)  einsehen,  wo  allerdings  auf  S.  197  auch 
lioloiuiinata  zu  lesen  ist. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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tauche.  Doch  ist  bei  Gesner  in  der  lateinischen 
Erstausgabe  seines  „Historiae  animalium  liber  III. 
qui  est  de  Auium  natura",  die  bekanntlich  1555 
zu  Zürich  aus  der  Presse  kam,  auf  .S.  612  eine 
Abbildung  von  Paradisaea  apoda  (?)  zu  finden, 
wie  auch  Stresemann  die  ausführlichen  Mit- 
teilungen Gesners  (1.  c.  p.  611 — 614)  über  die 
Paradiesvögel  wörtlich  abdruckte.  Hat  doch  auch 
bereits  Pierre  Belon  in  seinen  1557  zu  Paris 
erschienenen  „l'ortraits  d'oyseaux"  den  Gesn er- 
sehen Holzschnitt  reproduziert,  wenn  er  das  Tier 
auch  als  Phönix  bezeichnet  und  folgende  senti- 
mentalischen  Verse  dazu  geschmiedet  hat  (.S.  23  b): 
„Tant  hault  en  l'air  ie  me  pas  de  rosee 
Qu'impossible  est  me  pouuoir  vif  auoir, 
Ny  mesment  qu'apres  ma  mort  me  voir. 
Voila  comment  ma  vie  est  composee." 
Es  würde  zu  weit  führen,  wollte  ich  nach 
Stresemann  noch  die  wichtigen  Betrachtungen 
über  die  Paradiesvögel  wiedergeben,  und  zwar 
von:  Girolamo  Cardano  (De  subtilitate  libri 
XXI,  Paris  1551,  p.  202),')  Pierre  Belon  (Les 
observations  de  plusieurs  singularitez  et  choses 
memorables,  trouuces  en  Grece,  Asie,  ludee,  Egypte, 
Arabie,  et  autres  pays  estranges,  Paris  1553, 
p.  1891'';  L'histoire  de  la  nature  des  oyseaux, 
Paris  1555,  p.  329—331),  Francisco  Lopez 
de  Gomara  (La  istoria  de  las  Indas,  Saragossa 
1552,  p.  546),  Julius  Caesar  Scaliger  (Exo- 
tericarum exercitationum  liber  quintus  decimus, 
de  subtilitate ,  ad  Hieronymum  Cardanum ,  Paris 
15S7.    P-  3001^1 — 302f'l).    Ulisse    Aldrovandi 

(Ornithologiae    libri    XII,     Bologna     1599, 

p.  806 — 816),  Luca  Contile  (Ragionamento 

sopra  la  proprietä  delle  imprese,  Pavia  157.4, 
p.  JJ^""^ — 78''0>  Simon  Maiolus  (Dies  canicu- 
lares  seu  colloquia  tres,  et  viginti,  Rom  1597, 
p.  280)  usw.  usw. 

Nur  auf  eins  darf  vielleicht  noch  hingewiesen 
werden.  Stresemann  hat  seiner  Studie  die 
Reproduktionen  zweier  italienischer  Aquarelle  aus 
der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  beige- 
geben, die  Paradiesvögel  darstellen.  Sie  befinden 
sich  jetzt  mit  133  anderen  Vogelaquarellen  in  der 
Bibliothek  des  Tring-Museums,  haben  aber  einst, 
wie  Stresemann  evident  nachzuweisen  vermag, 
Aldrovandi  als  direkte  Vorlage  für  die  Holz- 
schnitte seiner  Ornithologia  vom  Jahre  1599  ge- 
dient. 

Da  wir  nun  einmal  auf  Stresemann s  grund- 
legende Abhandlung  zurückgekommen  sind,  mache 
ich  zugleich  auf  eine  neuere  Bemerkung  B  e  r  t  h  o  1  d 
Lau  fers  aufmerksam,  der  vor  zwei  Jahren  in 
seiner  Arbeit  „Vidai'iga  and  Cubebs"  (in:  T'oung 
PaoXVI,  1915,5.282—288  [Fußnote  i  auf  S.  284]) 
über  die  erste  Einführung  der  Paradies- 
vögel in  China  sich  in  bekannter  Gelehrsam- 
keit kurz  ausgelassen  hat.    Stresemann  (a.  a.  O 

')  In  dem  von  mir  stets  benutzten  älteren  Druck:  Nürn- 
berg 1550,  bei  Job.  Petrejus,  auf  S.  239.  —  Ich  habe  im 
folgenden  Stresemanns  Literaturangaben  nachgeprüft  und 
stillschweigend  einige  Verbesserungen  angebracht. 


S.  18  Fußnote  -f)  vermutete,  daß  die  im  Jahre 
813  vonjavanesen  dem  Kaiser  von  China  als  eine 
Art  Tribut  dargebrachten  „Pinka-Vögel''  Paradisaea- 
Arten  gewesen  wären.  Lauf  er  erscheint  dies 
indessen  zweifelhaft,  da  die  Javaner  selbst  erst  in 
der  Miite  des  14.  Jahrhunderts  die  Molukken  er- 
reichten, wo  ein  am  westlichsten  lebender  Paradies- 
vogel vorkommt.  Er  macht  außerdem  Strese- 
mann auf  eine  von  diesem  übersehene  Miszelle 
von  F.  W.K.  Müller  im  „T'oung  Pao"  IV  (1893), 
S.  82  —  83  und  auf  Henry  Yule's  und  A.  C. 
Burnell's  „Hobson-Jobson"  (1886,  p.  95  [New 
ed.  by  W.  Crooke,  1903])  aufmerksam.  Ihm  sind 
auch  die  von  F.  Hirt  h  (in:  T'oung  Pao  V,  1894, 
S.  390 f)  und  W.  E.  Groeneveldt  (ebendas. 
VII,  1896,  S.  114)  gegen  Müllers  Ansicht  über 
die  Einführung  von  Paradiesvögeln  in  China  vor- 
gebrachten Gründe  nicht  zwingender  Natur. 

Leider  hat  Stresemann  noch  nicht  die 
Muße  gefunden,  auf  einen  Hinweis  meinerseits 
(in:  Mitteilungen  zur  Geschichte  der  Medizin  und 
der  Naturwissenschaften  XVI,  1917,  S.  69)  dem 
Problem  weiter  nachzuspüren.  Man  sieht  jeden- 
falls, daß  die  Geschichte  der  Paradiesvögel  durch- 
aus nicht  so  einfacher  Natur  ist,  daß  aber  St  rese- 
manns  auf  gründlichster  Literaturkenntnis  auf- 
gebaute Arbeit  in  den  „Naturae  Novitates"  die 
Geschichte  von  der  ersten  Kenntnis  dieser  farben- 
prächtigen Vögel  in  Europa  bereits  geklärt  hat. 
Höchstens,  daß  zufällige,  glückliche  Funde  in 
Handschriften  den  Kreis  der  Belege  noch  schärfer 
schließen  oder  auch  zeitlich  erweitern  können. 
Rudolph  Zaunick  (Dresden). 

Biologische  Beobachtungen  am  Blindmoll  {Spa- 
lax  hiingaricus  Nhrg.).  Die  genannte,  etwa  20  cm 
lange  Blindmaus,  deren  anliegendes,  mausgraues 
Haar  am  Rücken  und  an  den  Seiten  erdbraune 
Spitzen  zeigt,  kommt  am  unteren  Sereth  nicht 
gerade  selten  vor.  Im  Mündungsgebiete  des 
Buzens  in  den  Sereth  gelang  es  mir  innerhalb 
eines  Monats,  vier  Stück  zu  erhalten,  und  fünf 
oder  sechs  weitere  wurden  in  dem  etwa  2  km 
breiten  Streifen  meines  Abschnittes  von  der  Mann- 
schaft erschlagen. 

Meinen  magyarischen  Kameraden  ist  der 
Blindmoll  übrigens  unter  dem  Namen  „földi-kutya" 
(=  Erdhund)  bekannt,  nicht  unter  der  in  Brehms 
Tierleben ')  angegebenen  Bezeichnung  „Földi- 
kölök"  (r.  kölyök   =   junger  Hund). 

An  einem  lebend  und  unverletzt  in  meine 
Hände  gelangten  Blindmoll  konnte  ich  einige 
Lebensäußerungen  genau  beobachten,  deren  Mit- 
teilung vielleicht  eine  nicht  unwillkommene  Er- 
gänzung zu  der  in  Brehms  Tierleben  von  L.  Heck 
gegebenen  Lebensbeschreibung  bieten  dürfte. 

Der  Blindmoll  lebt  unter  der  Erde,  in  selbst- 
gegrabenen, im  Querschnitt  kreisförmigen,  ungefähr 
7  cm  weiten  Gängen,  die  vollständig  unregelmäßig 
verlaufen,   jedoch    nie  eine  stärkere  Steigung  auf- 

')  IV.  Aufl.,  Säugetiere  —  2.  Band,  S.  244. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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weisen.  Das  Eingraben  von  der  Erdoberfläche 
aus  vollzieht  sich  folgendermaßen:  Mit  vorge- 
strecktem Kopfe  wühlt  der  Blindmoll  sich  zu- 
nächst durch  die  obere,  lockere  Erdschicht,  bis  er 
auf  den  stärkeren  Widerstand  des  gewachsenen 
Bodens  trift't;  hierauf  scharrt  er  darin  —  gleich 
einem  grabenden  Hunde  —  eine  kleine  Vertiefung 
aus,  die  mittels  des  Kopfes  vergrößert  wird.  Dabei 
spielen  neben  dem  rüsselförmigen  Fortsatz  der 
Oberlippe  auch  die  kräftigen  Nagezähne  (bes.  die 
unteren,  gegeneinander  beweglichen)  eine  wichtige 
Rolle.  In  3  Minuten  ist  eine  4  cm  tiefe  und 
ebenso  breite  Höhlung  hergestellt,  in  der  Kopf 
und  Vorderfüße  schon  vollständig  verschwinden. 
Die  Arbeit  wird  mit  solchem  Eifer  und  so  großer 
Kraftanwendung  verrichtet ,  daß  zeitweilig  der 
Hinterkörper  1 V.,  cm  und  mehr  über  den  Erd- 
boden gehoben  wird:  dies  geschieht  immer  dann, 
wenn  eine  schwer  erreichbare  Stelle  mit  den 
Zähnen  ausgenagt  wird.  Von  Zeit  zu  Zeit  wirft 
sich  das  Tier  mit  einem  plötzlichen  Ruck  herum 
und  schiebt  —  oder  besser:  stößt  —  die  ausge- 
grabene Erde  mit  dem  Kopfe  zurück,  so  daß  als- 
bald ein  halbkreisförmiger  Wall  von  12—15  cm 
Halbmesser  um  die  gegrabene  Höhlung  entsteht. 
Nach  10  Min.  war  die  Höhlung  schon  so  groß, 
daß  das  ganze  Tier  darin  Platz  hatte  und  nach 
12  Min.  konnte  der  Blindmoll  sich  darin  um- 
drehen und  die  Erde  mit  dem  Kopfe  hinaus- 
schieben. Ehe  das  Tier  aber  die  Höhle  weiter 
vertiefen  konnte,  wobei  aus  dem  anfänglichen 
Erdwall  ein  dem  des  Maulwurfs  ähnlicher  Haufen 
entstanden  wäre,  holte  ich  es  mittels  eines  Hölz- 
chens wieder  heraus;  wütend  biß  es  mit  seinen 
furchtbaren  Schneidezähnen  hinein,  wie  stets,  wenn 
man  es  bei  der  Arbeit  störte.  Sehr  gereizt  läßt 
es  auch  ein  hohes,  mausähnliches  Quieken  („i") 
hören  oder  ein  Pfauchen  (wie  „ch''),  wobei  das 
Maul  weit  offen  und  die  Spitzen  der  beiden  unteren 
Nagezähne  4  mm  voneinander  entfernt  stehen. 

Die  eigentliche  Grabarbeit  verrichten  stets, 
wie  ich  mich  mehrmals  überzeugte,  ausschließlich 
die  Nagezähne;  die  Vorderfüße  dienen  lediglich 
als  Stütze  und  zum  Zurückscharren  der  losgenagten 
Erde,  während  der  Hinterkörper  beim  Ein- 
graben wie  eine  Wetterfahne  hin-  und  her- 
schwankt. Beim  Verlängern  des  Ganges  da- 
gegen bildet  der  Hinterkörper  einen  guten  Halt, 
indem  er  an  die  Wände  gepreßt  wird  und  die 
nötige  Stütze  für  die  hebelartige  Wirkung  des 
Kopfes  mit  seiner  mächtigen  Nackenmuskulatur 
abgibt. 

Sehr  ergötzlich  ist  es,  den  Blindmoll  beim 
Fressen  zu  beobachten.  Ein  vorsichtig  in  seine 
Nähe  geschobener  saftiger  Wurzelstock  wurde 
nach  mehreren  vergeblichen  Versuchen  angenom- 
men, mit  den  beiden  Vorderfüßen  festgehalten  — 
ähnlich  wie  es  die  Eichhörnchen  zu  tun  pflegen 
—  und  mit  großer  Geschwindigkeit  verzehrt,  wo- 
bei die  Arbeit  der  Zähne  deutlich  zu  hören  war. 
Während  der  Mahlzeit  legte  das  Tierchen  sich 
zuweilen  halb  auf  die  eine  Seite. —  Auf  Nahrungs- 


suche scheint  der  Blindmoll  meist  gegen  Abend 
auszugehen,  denn  alle  Stücke  wurden  abends  in 
den  Laufgräben  gefunden;  diese  durchschneiden 
natürlich  kreuz  und  quer  die  Gänge  der  Blind- 
mäuse und  da  ihre  Sohle  (180  cm  unter  der  Erd- 
oberfläche) mindestens  80  cm  tiefer  liegt  als  jene, 
so  fallen  die  Tiere  auf  ihren  abendlichen,  unter- 
irdischen Wanderungen  in  unsere  Gräben. 

Regelmäßige  Nester  —  wie  der  Maulwurf  sie 
baut  —  scheint  der  Blindmoll  nicht  anzulegen; 
ich  fand  in  den  vielen  der  Länge  nach  durch- 
schnittenen Gängen,  die  ich  untersuchen  konnte, 
nur  unregelmäßige  Erweiterungen,  mit  Grashalmen 
und  -wurzeln  ausgepolstert,  die  ich  für  Schlaf-  und 
Bruträume  halte. 

Von  den  Sinnen  ist  beim  Blindmoll  das 
Gehör  ausgezeichnet  entwickelt.  Beim  geringsten 
Geräusch  —  nahende  Schritte  u.  dgl.  —  drückt 
er  sich  unbeweglich  in  seine  Höhlung  und  nimmt 
die  Arbeit  erst  wieder  auf,  wenn  einige  Zeit  nach 
der  Störung  verstrichen  ist. 

Auch  eine  gewisse  Licht  empfin  dl  ichkeit 
muß  der  Blindmoll  besitzen,  obgleich  die  rudi- 
mentären Augen  vollständig  unter  dem  Fell  ver- 
borgen sind;  ich  schließe  dies  aus  folgenden  beiden 
Beobachtungen:  i.  sucht  der  Blindmoll,  an  die 
Oberfläche  gebracht,  sich  stets  den  dunkelsten 
Winkel,  um  sich  daselbst  einzugraben  oder,  wenn 
er  —  im  Unterstand  z.  B.  —  das  nicht  kann,  hin- 
zukauern; 2.  wird  er  merklich  unruhig,  wenn  man 
ihn  dort  mit  einer  elektrischen  Taschenlampe  oder 
mit  durch  einen  Spiegel  zurückgeworfenem  Sonnen- 
licht grell  beleuchtet.  Bei  längerer  Belichtung 
verläßt  er  sogar  seinen  Platz.  Bei  dem  Verhalten 
gegen  reflektiertes  Sonnenlicht  könnte  man  allen- 
falls an  einen  sehr  feinen  Temperatursinn  denken 
aber  bei  Verwendung  einer  elektrischen  Taschen- 
lampe in  einem  Abstände  von  annähernd  V2  m 
ist  diese  Erklärung  wohl  nicht  zulässig. 

Von  den  übrigen  Sinnen  ist  der  Tastsinn 
sehr  gut  ausgebildet.  Bei  Berührungsversuchen 
reagierte  der  Blindmoll  durch  ruckweise  Rückwärts- 
bewegungen, schon  bevor  ich  an  seinen  Kopf 
bzw.  an  eines  seiner  Tasthaare  mit  einem  Hölz- 
chen ankam. 

Leider  war  die  Freude,  einen  lebenden  Blind- 
moll zu  besitzen,  nicht  von  langer  Dauer;  schließ- 
lich ist  der  Schützengraben  der  ersten  Linie  gerade 
nicht  der  geeignete  Ort  zum  Halten  und  Beobachten 
lebender  Tiere.  Obwohl  ich  dem  Tierchen  ver- 
schiedene Pflanzenwurzeln  in  seine  mit  Erde  ge- 
füllte Kiste  gab,  war  es  nach  einiger  Zeit  schon 
etwas  matt  und  am  Ende  des  zweiten  Tages  tot. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Beispiel  von  der  ge- 
waltigen Kraft,  die  der  Blindmoll  in  seinen  Nage- 
zähnen besitzt.  Am  ersten  Abend  nach  Ein- 
bringung des  Tieres  untersuchte  ich  um  ^,2  9  Uhr 
die  Kiste  und  fand  sie  unbeschädigt;  um  i  Uhr 
nachts  sah  ich  wieder  nach  und  konnte  den  Blind- 
moll gerade  noch  einfangen :  er  hatte  in  höchstens 
4'  .,  Stunden  in  ein  '^|^  cm  dickes  Brett  ein  5  cm 
breites  Loch  genagt,  obgleich  er  schon  bedeutend 


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weniger    Lebenskraft    zeigte    als    zur    Zeit    seiner 
(.lefangennahme. 

Prof.  Dr.  Wilhelm  Hoffer  (z.  Zt.  im  Felde). 


Brasilianische  Säugetiere  und  Vögel  im  natur- 
historischen Museum  zu  Bern.  Anfang  Juli  dieses 
Jahres  starb  zu  Bern  Professor  Emil  August 
Goeldi,  ein  Schweizer  von  Geburt,  welcher 
durch  seine  biologischen  Forschungen  in  weiteren 
zoologischen  Kreisen  bekannt  wurde;  seinem  An- 
denken mögen  die  folgenden  Zeilen  gewidmet  sein! 

Durch  langjährigen  Aufenthalt  in  Brasilien  und 
namentlicli  als  Direktor  des  Museums  in  Para, 
welches  er  über  ein  Jahrzehnt  leitete  und  zu  hoher 
Blüte  brachte,  war  es  Goeldi  vergönnt  sich  in 
ausgedehntem  Maße  mit  der  F"auna  Brasiliens  zu 
beschäftigen.  Namenilich  waren  es  die  Staaten 
Rio  de  Janeiro,  Minas  Geraes,  Sao  Paulo,  Kspirito 
Santo,  Bahia  und  Para  dieses  an  Naturmerkwürdig- 
keiten so  reichen  Landes,  welche  er  eingehend  auf 
ihre  Tierwelt  hin  untersuchte. 

Keine  fremdländische  P'auna  ist  vielleicht  ver- 
hältnismäßig so  gut  erforscht  worden,  wie  die 
südamerikanische.  Diejenige  von  Chile  wurde 
zuerst  von  dem  Jesuitenpater  Molina  in  seinem 
„Saggio  sulla  storia  naturale  del  Chili"  schon  im 
Jahre  1782  genauer  beschrieben,  diejenige  Para- 
guay's  von  Azara  und  namentlich  von  Rengger 
durch  meisterhafte  Biographien,  welche  teilweise 
in  Brehm's  Tierleben  übergegangen  sind,  in  dem 
1830  zu  Basel  erschienenen  Werke  „Die  Säuge- 
tiere von  Paraguay"  in  unübertroffener  Weise  ge- 
schildert. 

Brasilien  und  Paraguay,  da  beide  aneinander 
grenzend,  haben  daher  eine  vielfach  überein- 
stimmende Fauna.  So  finden  sich  z.  B.  der  Jaguar, 
der  Tapir,  der  große  Ameisenfresser,  bekannte 
Insassen  unserer  Tiergärten,  verschiedene  Vögel, 
Reptilien  usw.  in  beiden  Provinzen  gemeinschaft- 
lich vor. 

Doch  nirgends  mag  eine  reichere  und  üppigere 
Tierwelt  anzutreft'en  sein  als  im  Gebiete  des  Ama- 
zonen-Stromes, dieses  größten  Flusses  Südamerikas. 
Dieselbe  wurde  von  dem  Engländer  Bates  in 
seinem  Buche  „Der  Naturforscher  am  Amazonen- 
Strom",  welches  mehrere  Auflagen  erlebte  und 
auch  im  Jahre  1S66  in  deutscher  Übersetzung  zu 
Leipzig  erschien,  den  weitesten  Kreisen  bekannt 
gemacht  und  Goeldi  darf  gewissermaßen  als  der 
Nachfolger  dieses  bedeutenden  Mannes  in  der 
naturwissenschaftlichen  Erforschung  Brasiliens  an- 
gesehen werden. 

Die  Zahl  der  von  Goeldi  neu  entdeckten, 
fast  allen  Klassen  angehörenden  Tierarten  ist  Le- 
gion, zählt  er  doch  selbst  in  einem  als  Manu- 
skript gedruckten  und  zur  Verteilung  an  seine 
l""reunde  bestimmten  Verzeichnis  deren  über  200 
auf,  zu  einem  großen  Teile  von  ihm  selbst  be- 
schrieben ! 

Die  wissenschaftliche  Ausbeute  Goeldi 's  ist 
wohl    zum    größeren    Teile    im    naturhistorischen 


Museum  von  Parä,  zum  kleineren  in  demjenigen 
von  Bern,  woselbst  der  P"orscher  die  letzten  Jahre 
seines  Lebens  zubrachte,  deponiert.  In  letzterem 
sind  namentlich  die  Säugetiere  und  Vögel  Brasi- 
liens in  \'orzüglich  ausgestopften  Bälgen  zu  sehen, 
es  ist  mir  unmöglich  sie  alle  an  dieser  Stelle  an- 
zuführen und  es  mag  daher  nur  eine  ikurze  Über- 
sicht über  die  selteneren  Arten  folgen,  um  so  mehr 
als  dieselben  in  den  übrigen  Museen  des  euro- 
päischen Kontinents  wohl  nur  zum  geringsten  Teile 
vertreten  sein  mögen. 

A.  Säugetiere. 

1.  J//(/(7S  grisc'orerh'x  Goeldi.  Dem  M.  rufi- 
nentcr  Gray  in  der  Färbung  sehr  nahekommend, 
aber  sich  durch  den  weißgrauen  Scheitel  davon 
unterscheidend.  Von  Rio  Purüs  im  Amazonas- 
Gebiet.  —  Gehört  zur  Gruppe  der  Krallenaffen, 
welche  wesentlich  durch  die  Gattung  Ilapnle  re- 
präsentiert wird  und  von  Midas  durch  die  längeren 
Eckzähne  des  Unterkiefers,  welche  die  Schneide- 
zähne um  ein  Beträchtliches  überragen,  unter- 
schieden. 

2.  Callifl/rix  ciiprais  Spix.  Rio  Pui  üs.  Nament- 
lich durch  die  kupferrote  I;ärbung  der  Wangen,  der 
Vorderarme  und  Schenkel  ausgezeichnet  und  zu 
den  Springaffen  gehörig. 

3.  W  a  1  d  h  u  n  d  {Jcficyon  venaiicus  Lund). 
Amazonas-Gebiet.  Ein  von  der  typischen  Hunde- 
familie ganz  abweichendes  Mitglied.  Durch  seine 
untersetzte  Gestalt,  w'elche  namentlich  durch  die 
kurzen  Beine  hervorgerufen  wird,  besitzt  er  ein 
ausgesprochen  mar  derartiges  Gepräge! 

4.  Diiioinys  Branickii  Peters  —  Rio  Purüs  — 
Dieses  durch  die  Färbnng  an  das  Para  (Coclogenys 
Para  Rengg.)  erinnernde,  aber  in  der  Bildung  des 
Schädels  dem  größten  Nager  Südamerikas,  dem 
Wasserschwein  (Hydrochoerus  capibara  Erxl.)  nahe- 
stehende Nagetiere  wurde  1873  zuerst  von  Pro- 
fessor Peters  in  Berlin  beschrieben.  Lange  Jahre 
war  nur  ein  einziges  Exemplar  bekannt,  in  der 
letzten  Zeit  fängt  das  Tier  aber  an  in  den  Samm- 
lungen häufiger  zu  werden.  So  besitzt  das  Mu- 
seum in  Frankfurt  am  Main  ein,  dasjenige  in  Bern 
sogar  zwei  ausgestopfte  Tiere,  außerdem  zwei  in 
Spiritus  conservierte  Foetus. 

Der  mit  dem  Museum  in  Para  verbundene 
zoologische  Garten  erhielt  im  Jahre  1905  zwei 
lebende  Exemplare  dieser  Tierart,  von  welchen 
nach  Goeldi  das  eine  bald  einging,  das  andere 
sich  aber  recht  gut  gehalten  haben  soll.  In  euro- 
päische Gefangenschaft  dürfte  das  Tier  seiner  re- 
lativen Seltenheit  halber  wohl  noch  nicht  gelangt 
sein. 

5.  Caiiis  {Ccrdocyoii)  inicrvtis  ^clater.  Para 
und  Amazonas  Gebiet.  Wurde  s.  Z.  im  Tiergarten 
zu  Londen  gefangen  gehalten  und  daselbst  von 
Sclater  als  eigene  i\rt  entdeckt  und  beschrieben. 
Zeichnet  sich  namentlich  durch  schlanken  Körper- 
bau und  kurze  Ohren  aus.    Nahe  verwandt  ist  ihm 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  ebenfalls    im  Berner  Museum    befindliche,    im 
gleichen  Gebiete  vorkommende  Canis  vetulus  Lund. 
6.  Von    selteneren    mäuseartigen    Nagern    ver- 
dienen Erwähnung; 

Kaiuiabatconiys  avibonyx  Wagn.,  Nectomys 
squaniipcs  Brant.,  beide  von  Sao  Paolo, 
ferner  Oryzoiiiys  longicaudatus  (Lund.)  vom 
Orgelgebirge  und  Mcsomys  ecaudatiis  Wagn. 
vom  Amazonas-Gebiet. 

Von  dem  die  Hufpfötler  repräsentierenden 
Meerschweinchen    (Cavia    porcellus    L.)    ist 
die  wilde,  aber  kleinere  Stammform  aus  dem 
Orgelgebirge  von  Interesse. 
Das  seltene  Wiesel  Piitoriiis  paracnsis  von  Parä, 
1877    von  Goeldi    in  Spengel's   „Zoologischen 
Jahrbüchern"  beschrieben  und  dem  Entdecker  nur 
in    drei    Exemplaren    bekannt,    fehlt    dem    Berner 
Museum  und  wahrscheinlich  auch  sonstigen  euro- 
päischen Sammlungen. 

B.  Vögel. 
Auch  die  ornithologische  Sammlung  des  Berner 
naturhistorischen  Museums  verdankt  Goeldi 
manche  wertvolle  Exemplare,  doch  sind  daselbst 
im  allgemeinen  nur  die  gewöhnlicheren  Arten  aus 
Brasilien  vertreten.  Erwähnung  verdienen  schon 
der  geographischen  Verbreitung  halber  die  fol- 
genden : 

1.  Cymindis    uncinatus     Cuv.      Falkenartiger 
Raubvogel  vom  Orgelgebirge. 

2.  Weißschwanz-Bussard  [Biäco  albicau- 
datiis  Viell.)     Ebendaher. 

3.  Schopfhuhn  {OpistJwcoDius  hoaztn  Müll.) 


Parä.  Eine  ganze  Gruppe  ist  von  diesen  inter- 
essanten Scharrvögeln  ausgestellt,  welche  dadurch 
ausgezeichnet  sind,  daß  die  Jungen  derselben  an 
Daumen  und  Mittelfinger  Krallen  aufweisen,  welche 
ihnen  eine  hohe  Kletterfähigkeit  ermöglichen. 
Die  genannten  Eigenschaften  gehen  den  alten 
Vögeln  ab. 

Von  weiteren  Scharrvögeln  seien  ferner  Or- 
falis araciian  Spix  von  Park  und  Odonfophorus 
capiicira  Spix  vom  Orgelgebirge  erwähnt.  End- 
lich sind  folgende  seltenere  Vogelarten  bemerkens- 
wert. 

4.  von  Schnepien:  Gallma£-o/renafal\\.  Orgel- 
gebirge. 

5.  von  Rallen:  Porp/iyrwla parva  (Bodd.)  Parä, 
ein  Sultanshuhn  im  kleinen. 

6.  von  Ibissen:  Weißhals-Ibis  [TJieristicus 
candatiis  (Bodd.).     Marajo,  Amazonas. 

7.  von  Singvögeln:  Saltator  siDiilis  Lafr. ;  Ca- 
luspiza  thoracica  Gab. ;  Cissopis  major  Gab. ;  Bra- 
chyspiza  pilcafa  (Bodd.);  Troglodylcs  musculus 
Licht.;  sämtliche  Arten  vom  Orgelgebirge. 

8.  von  Schreivögeln :  Grallaria  inipcrator  Lafr. 
zu  den  Formicariidae  oder  Ameisenvögeln  im  en- 
geren Sinne  gehörig.     Orgelgebirge. 

9.  von  Kolibris;  Lamponiis  vioUcaiida  (Bodd.) 
Bahia. 

Zum  Schlüsse  mag  noch  der  Jabirn  oder  ameri- 
kanischer Riesenstorch  {Mycteria  avicricaiia  L.), 
welcher  jetzt  sehr  selten  in  europäische  Gefangen- 
schaft gelangt,  aber  längere  Jahre  im  Basler  Tier- 
garten lebte,  von  der  ungemein  reichhaltigen  Aus- 
beute Goeldi's  angeführt  sein.  Epstein. 


Bücherbesprechungen. 

und  Geschichte.    J.  C.      orientierter  Formbegriff. 


Fritz  Neeff,  Geset 

B.  Mohr  191 7.  45  S.  —  I  Mk. 
Eine  von  Rudolf  Eucken  mit  einem  emp- 
fehlenden Vorwort  versehene  philosophische  Erst- 
lingsschrift. Sie  ist  im  Felde  konzipiert,  daher 
noch  mehr  Bekenntnis-  als  Erkenntnisschrift,  voll 
warmen  F'ühlens  und  reinen  Wollens,  ohne  der 
kühlen  Sachlichkeit  zu  entbehren.  Da,  wie  Neeff 
gegen  den  Schluß  hin  sagt,  alle  Wirklichkeit  aus 
dem  Zusammentreffen  von  ursächlichem  Sein  und 
ursprünglichem  Geschehen  sich  forme,  besteht  also 
„alle  Erkenntnis  in  wechselseitiger  Gültigkeit  des 
zeitlos  Allgemeinen  für  das  Besondere  (Gesetz) 
und  des  zeitlich  Besonderen  für  das  Allgemeine 
(in  der  Geschichte).  Beide  Erkenntnisweisen  aber 
vollenden  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit".  Es 
sucht  also  die  Naturwissenschaft  überwiegend 
Gleichartiges  unter  allgemeine  Gesetze  zu  bringen, 
die  Geschichte  Besonderes  aus  dem  bedeutungs- 
losen Geschehen  gestaltend  herauszuheben.  — 
Was  wird  dabei  unter  Geschichte  verstanden,  was 
unter  dem  von  ihr  bedeutsam  Gestalteten?  Als 
das  Gestaltete  in  seiner  einzigartigen  Besonderheit 
gilt  Neeff  schlechtweg  das  „Neue",  —  ein  aus- 
schließlich   am    Vorhandenen    oder    Vergangenen 


Wie  man  etwa  in  der 
Folge  geologischer  Schichtungen  eine  jüngere  von 
der  älteren  durch  bestimmte  äußerliche  Eigen- 
schaften unterscheidet.  Dies  soll  auch  für  die 
Geschichte  der  kultivierten  Menschheit  gelten.  Es 
wird  daher  nicht  scharf  genug  getrennt  zwischen 
ihr  und  der  Geschichte  der  Naturformen.  Ins- 
besondere wird  der  Gegensatz  des  Menschen  als 
sittlichverantwortlich  handelnden,  vernunftbegabten 
Wesens  im  kausal  gebundenen  Geschehen  des 
Naturganzen  (soweit  es  ihm  nicht  als  Naturprodukt 
selbst  angehört)  gänzlich  übergangen.  Daher  bleibt 
auch  Unklarheit  in  der  Stellung  Neeff's  zum 
„werthaften  Erkennen  der  Kulturwissenschaft",  das 
er  mit  einer  gewissen  Verlegenheit  nur  streift. 
Menscheitsgeschichte  in  ihren  jüngeren,  kulturge- 
sättigten Formen  geht  ihm  unter  in  allgemeiner, 
kosmischer  Geschichtsvorstellung,  wo  die  Wert- 
bestimmung keinen  Platz  haben  kann.  Diese  liegt 
aber,  gewollt  oder  nicht,  jeder  die  menschlichen 
Kulturperioden  behandelnden  Geschichtsschreibung 
zugrunde.  Es  erscheint  zwar  das  Ergebnis  des 
Peloponnesischen  Krieges,  von  der  Seite  der  Lake- 
dämonier  aus  betrachtet,  als  Erfüllung  eines 
Naturgesetzes:  Die  bessere  Organisation  überwin- 


N.  F.  XVI.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift- 


599 


det  die  schlechtere.  Der  Zusammenbruch  Athens 
aber  fordert  als  Werturteil:  Untergang  der  selb- 
ständigen, von  sittlichem  Pflichtgefühl  nicht  mehr 
hinreichend  getragenen  kulturellen  Schöpferkraft. 
Solche  ethische  Erkenntnis  erscheint  daher  in  der 
Geschichtsbetrachtung  menschlicher  Zustände  und 
Personen  als  das  ihr  Eigentümliche,  als  das  wert- 
vollere und  wertbestimmende.  Dem  wird  nicht 
gerecht,  wer,  mit  Neff,  geneigt  ist,  die  spezifische 
Eigenart  der  Geschichte  kultivierter  Menschheit 
im  Zusammenhange  der  Gesamtgeschichte  irdi- 
schen Lebens  zu  unterschätzen. 

K.  Steinacker. 


L.  Graetz,  Das  Licht  und  die  Farben  (Ein- 
führung in  die  Optik).     Sechs  Vorlesungen  ge- 
halten     im       Volkshochschulverein      München. 
17.  Bändchen  von  „Aus  Natur  und  Geisteswelt". 
4.  Aufl.      130   Seiten    mit    lOO  Abbildungen  im 
Text.     Leipzig  und  Berlin   191 6,  B.  G.  Teubner. 
—  Preis  geb.  1,25  M. 
Daß  die  Vorträge  des  Verfs.  nach  kurzer  Zeit 
bereits    in    vierter  Auflage  erscheinen,    zeugt   von 
der  hohen  Wertschätzung,  deren  sich  diese  kurze, 
aber  abgerundete,  nach  Form    und  Inhalt  muster- 
gültige Darstellung  der  gesamten  Optik  in  weite- 
sten Kreisen  erfreut.    Wer  einen  klaren,  von  jeder 
Schwierigkeit  freien  und  doch  weitgehenden  Ein- 
blick in  die  Gesetze    der  geometrischen  und  phy- 
sikalischen   Optik    zu    gewinnen    sucht,    wird    das 
Bändchen   jedenfalls    mit    Erfolg    zu    Rate    ziehen. 
Aber    auch    dem    Kundigen,     insbesondere    dem 
Lehrer,    wird    die    vortreffliche   Verknüpfung    von 
theoretischer   Folgerung    und    dem    Ergebnis    der 
direkten  Erfahrung  bzw.  des  Experiments  nament- 
lich   in    didaktischer    Hinsicht    manche    Anregung 
geben  können.    Gegenüber  den  früheren  Auflagen 
weist    die   gegenwärtige   nur  kleinere  Änderungen 
auf.  A.  Becker. 


Otto  Hauser,  Der  Mensch  vor  looooo  Jahren. 

Mit    96    Abbildungen    und    3    Karten.      Leipzig 

191 7.  F.  A.  Brockhaus.  —  3  M. 
Otto  Hauser,  dessen  Lebenswerk  durch 
den  Weltkrieg  in  geradezu  tragischer  Weise  unter- 
brochen, wenn  nicht  gar  abgebrochen  wurde,  schil- 
dert in  diesem  hübsch  ausgestatteten  Büchlein 
die  Geschichte  seiner  Entdeckungen,  die  ihn  weit 
über  den  Rahmen  seiner  Fachdisziplin  hinaus 
bekannt  gemacht  haben,  und  rundet  darüber  hin- 
aus   seine    Darstellung    zu    einem    Bilde   des   vor- 


geschichtlichen Menschen,  seiner  Lebensweise  und 
seiner  Umgebung  ab.  Der  Hauptreiz  des  Hauser- 
schen  Buches  liegt  aber  in  dem  ersten  Teil,  in 
welchem  er  seine  Forschungen  und  Erlebnisse  im 
Tale  der  Vezere  in  der  Dordogne  erzählt,  mit 
einer  Anschaulichkeit  und  Lebhaftigkeit,  die  einen 
Abglanz  des  Forscherfiebers  und  der  Entdecker- 
spannung und  -freude  auch  im  Leser  hervorrufen. 
Fabelhaft  ist  auch,  wie  sich  der  Verfasser  in  die 
vorgeschichtliche  Welt  und  die  Seele  der  alten 
Menschen  hineinfühlt;  und  wenn  auch  naturgemäß 
die  rein  konstruktive  Phantasie  daran  einen  großen 
Anteil  hat,  so  überläßt  man  sich  doch  willig  dem 
Reiz  dieser  urzeitlichen  Erzählungen  und  der 
Suggestion  eines  Erzählers,  dessen  Spürsinn  so 
viele  greifbare  Erfolge  erzielte.  Miehe. 


Alfred  Hettner,  EnglandsWeltherrschaft 
und  ihreKrisis.  Leipzig  und  Berlin  1917. 
B.  G.  Teubner.  —  4,80  M. 
Daß  dieses  Buch,  das  in  der  ersten  Auflage 
den  Titel:  „Englands  Weltherrschaft  und  der 
Krieg"  führte,  nunmehr  bereits  in  der  dritten  Auf- 
lage vorliegt,  spricht  für  das  große  Interesse,  das 
es  gefunden  hat.  Das  ist  durchaus  verständlich, 
ist  doch  der  Stoff  sowohl  als  die  ausgezeichnete 
Darstellung  geeignet,  die  größte  Anteilnahme  bei 
jedem  zu  erwecken,  der  diese  ungeheure  Zeit 
bewußt  mitlebt.  Dies  Interesse  wird  womöglich 
gerade  in  der  gegenwärtigen  Phase  des  Krieges, 
von  der  wir  hoffen,  daß  es  die  entscheidende  ist, 
noch  gesteigert,  da  es  allmählich  auch  den  po- 
litisch harmlosesten  Menschen  klar  geworden  ist, 
daß  England  unser  erbittertster  und  unversöhnlich- 
ster Gegner  ist  —  und  sein  muß.  Denn  der  Verfasser 
zeigt  uns,  wie  die  englische  Weltherrschaft  all- 
mählich geworden  ist  und  wieso  sie  sich  jetzt  vor 
einer  Krise  befindet,  die  mit  Notwendigkeit  zu  einer 
gewaltsamen  Lösung  drängte.  Die  Darstellung 
des  gelehrten  Geographen  ist  trotz  ihrer  fes- 
selnden Form  in  ganz  wissenschaftlichem  Geiste 
gehalten  und  auf  zuverlässiger  breiter  geogra- 
phischer, geologischer,  geschichtlicher  und  welt- 
wirtschaftlicher Grundlage  aufgebaut,  bietet  also 
im  Gegensatz  zu  zahlreichen  Tagesleistungen  eine 
Quelle  zuverlässiger  Belehrung,  von  der  möglichst 
viele  in  dieser  wichtigsten  Epoche  unserer  Ge- 
schichte zur  Vertiefung  ihres  politischen  Urteils 
schöpfen  sollten.  Miehe. 


I  R.  Hennig,  Das  „Wiederholungsgefühl"  als  Quelle  des  Seelenwanderungs-Glaubens.  S.  585.  —  Kleinere  Mit- 
teilungen: Max  Oettli,  Hufeisendünen  aus  Schnee.  (1  Abb.)  S.  593.  Rudolph  Zaunick,  Literaturhinweise  zu 
Killermanns  Aufsalz  über  „Die  Entdeckung  der  Paradiesvögel".  S.  594.  Wilhelm  Hoffer,  Biologische  Beobach- 
tungen am  Blindmoll  (Spa/ax  huiigarii-iis  Nhrg.).  S.  595.  Epstein,  Brasilianische  Säugetiere  und  Vögel  im  natur- 
historischen Museum  zu  Bern.  S.  597.  —  Bücherbesprechungen:  Fritz  Nee  ff,  Gesetz  und  Geschichte.  S.  598. 
L.  Graetz,  Das  Licht  und  die  Farben.  S.  599.  Otto  Hauser,  Der  Mensch  vor  100 c»o  Jahren.  S.  599.  Alfred 
Hettner,  Englands  Weltherrschaft  und  ihre  Krisis.  S.  599. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


6oo 


N'aturwissenschafiliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  42 


&0 

fet^r€rfol0 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  i6.  Band; 
der   ganzen  Reihe  32.  Band. 


Sonntag,  den  28.  Oktober  1917. 


Nummer  43. 


Goethes  Farbenlehre  und  die  Naturwissenschatt. 


[Nachdruck  verboten 


E.  Raehlmann 


Seit  einem  vollen  Jahrhundert,  man  kann  wohl 
sagen,  seit  ihrer  Entstehung  ist  die  Goethische 
Farbenlehre  ein  Streitobjekt  der  Naturwissenschaft 
gewesen.  Der  Streit  ist  zu  verschiedenen  Zeiten 
besonders  lebhaft  geworden,  wenn  die  führenden 
Geister  auf  dem  Gebiete  der  Physik,  der  Physio- 
logie und  der  Philosophie  sich  für  oder  gegen 
dieselbe  aussprachen.  Mitte  des  vorigenJahrhunderts 
war  Arthur  Schopenhauer,  trotz  einiger  ab- 
weichender eigener  Anschauungen,  warm  für  die- 
selbe eingetreten.  Gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
war  sie  von  Helmholtz,  du  Bois-Reymond, 
von  Bezold  und  anderen  grundsätzlich  abgelehnt, 
später  aber  durch  die  Arbeiten  von  StiUing, 
Kalischer,  König,  Magnus  und  anderen 
wieder  rehabilitiert  worden. 

Neuerdings  ist  sie  wieder  von  Sommerfeld*) 
abgewiesen  worden.  Wenn  Sommerfeld 
Goethes  Physik  ablehnt,  so  hat  er  vollkommen 
recht,  aber  damit  auch  Goethes  Farbenlehre  ab- 
lehnen, hieße  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten. 

Denn  Goethes  Farbenlehre  enthält,  abgesehen 
von  der  unglücklichen  Polemik  mit  Newton,  die 
auf  rein  physikalischem  Gebiete  liegt,  eine  solche 
Fülle  von  Wahrheit  über  die  Entstehung  von  Farbe 
und  P'ärbung  in  der  Natur,  daß  keine  Farben- 
untersuchung, die  über  den  Bereich  des  Experi- 
mentes in  der  Dunkelkammer  hinausgeht  und 
allgemein  naturwissenschaftliche  Farbenerschei- 
nungen erklären  will,  an  ihr  vorbeigehen  kann. 

Wenn  das  trotzdem  in  vielen  modernen  Ab- 
handlungen geschieht,  so  darf  nicht  übersehen 
werden,  daß  sich  diese  Abhandlungen  auf  physio- 
logische und  philosophische  Vorarbeiten  stützen, 
deren  Grundlagen  der  Goethe'schen  Farbenlehre 
entnommen  sind. 

Das  ist  auch  nicht  unrichtig,  so  lange  es  sich 
um  P^orscherarbeilen  handelt,  die  für  orientierte 
Fachkreise  bestimmt  sind.  Sommer feld's  Auf- 
fassung aber  wendet  sich  an  Laien,  an  die  Ge- 
bildeten aller  Berufe  und  Stände.  Darum  möge 
es  gestattet  sein,  dem  Sommerfeld'  sehen  Artikel 
eine  aufklärende  Ergänzung  hinzuzufügen. 

A.  Subjektive    Naturfarben. 
Wenn  man  von  Farben  und  Farbenlehre  spricht, 
meint    man    nicht    allein    das    Resultat    der    rein 


»)  A.  Sommerfeld,  Prof.  der  theoretischen  Physik  an 
der  Universität  München,  „Goethes  Farbenlehre  im  Urteile  der 
Zeit."  Deutsche  Revue  (Deutsche  Verlagsanstalt,  Stuttgart) 
Juliheft   191 7. 


„Und  so  lasset  auch  die  Farben 
mich  nach  meiner  Art  verkünden." 

(Nachträge  zur  Farbenlehre.     Vorwort.) 

physikalischen  Untersuchung  über  die  optische 
Beschaffenheit  des  weißen  und  farbigen  Lichtes, 
sondern  auch  die  Ergebnisse  der  Beobachtung,  wie 
weißes  und  farbiges  Licht  auf  unser  Auge  wirkt, 
wenn  es  in  der  freien  Natur  unter  den  verschie- 
densten Bedingungen  der  Beleuchtung  auf  uns 
einwirkt. 

Je  nachdem  farblose  und  farbige  (Reflex-) 
Lichter  nebeneinander  in  verschiedenen  Intensitäts- 
verhältnissen auf  unser  Auge  einwirken,  kommen 
Farben  zustande,  die  durchaus  nicht  immer  den 
physikalischen  Gesetzen  der  Lichtmischung  folgen ; 
sondern  es  entstehen  in  den  farbigen  Schatten 
und  bei  unzähligen  anderen  Beleuchtungsbedin- 
gungen zahllose  und  teilweise  ganz  neue  Farben, 
die  mit  den  rein  physikalischen  Gesetzen  der  Licht- 
bewegung nicht  übereinstimmen  und  mit  ihnen 
auch  gar  nichts  zu  tun  haben.  Solche  Farben 
erscheinen  uns  namentlich  in  den  farbigen  Kontrasten. 

Mit  dem  Namen  Kontrast  bezeichnen  wir  be- 
kanntlich die  Gesetzmäßigkeit,  mit  welcher  sich 
mehrere  P'arben,  die  man  auf  der  F'läche  des 
Gesichtsfeldes  gleichzeitig  übersehen  kann,  gegen- 
seitig beeinflussen. 

Die  moderne  physiologische  Optik  verdankt 
den  wesentlichenTeil  ihrer  fundamentalenKenntnisse 
über  die  Kontrastfarben  den  Vorarbeiten  Goethes. 

Diese  Farben  sind  es  im  wesentlichen,  die 
Goethe  mit  soviel  Eifer  gegen  den  schulmäßigen 
Standpunkt  der  damaligen  Physik,  welche  diese 
Farben  nicht  kannte  und  auch  nicht  für  möglich 
hielt,  verteidigte.  Daß  Goethe  dabei,  weil  er  bei 
seinen  Gegnern  kein  Verständnis  fand,  die  funda- 
mentalen Grundgesetze  des  Lichtes  und  der  Farben 
ablehnte  und  bekämpfte,  war  ein  Irrtum,  welcher 
in  dem  damaligen  Standpunkte  der  Wissenschaft 
seine  Erklärung  findet. 

Vor  hundert  Jahren  konnte,  bei  dem  Stande 
der  damaligen  Kenntnisse,  weder  Goethe  den 
Newton'schen  Standpunkt,  noch  der  Physiker  den 
Standpunkt  Goethes  begreifen  und  würdigen. 
Daher  der  Streit  Goethes  mit  der  Physik  seiner 
Zeit.  Beide  verfolgten  eigene  Pfade  der  Forschung, 
die  für  unsere  heutige  Wissenschaft  fundamentale 
Grundlagen  geworden  sind.  —  Aber  gegenseitig 
konnten  sie  sich  damals  nicht  verstehen.  Sie 
arbeiteten  (um  einen  trivialen  Ausdruck  zu  ge- 
brauchen), aneinander  vorbei.  Heute  wissen  wir, 
daß  beide  Lehren,  die  von  Goethe  und  die  von 
Newton  zusammengehören    und    vereint    uns    den 


602 


Naturwissenschaftliche  Woohenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  43 


Begriff  von  der  Harmonie  der  Naturfarben  ver- 
ständlich machen. 

Unsere  jetzigen  Kenntnisse  auf  diesem  Gebiete 
sind  begründet  in  der  wissenschaftlichen  Erfahrung 
der  Jahrzehnte  nach  Goethe. 

Die  Fortschritte  eines  ganzen  Jahrhunderts 
haben  dazu  gehört,  um  das  eigentliche  Wesen  und 
die  Bedeutung  der  Goethe'schen  F"arben  zu  erkennen 
und  von  der  Newton'schen  Farbe  zu  trennen. 

Niemand,  der  die  Naturwissenschaft  kennt,  kann 
heutzutage  an  der  Richtigkeit  der  Newton'schen 
Lehre  zweifeln.  Sie  ist  die  Grundlage  der  größten 
Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  des  Mikroskops, 
der  Spektralanalyse  und  der  Astronomie  geworden. 

Wie  verhält  sich  also  zu  ihr  die  Goethe'sche 
Farbenlehre?  Sie  ist  nichts  weniger  als  der 
physiologische  Schlußstein  zu  Newton's  Farbe. 
Sie  ist  die  subjektive  physiologische  Ergänzung 
zu  jeder  physikalischen  Farbe,  die  in  freier  Natur 
auf  das  menschliche  Auge  einwirkt. 

Es  ist  etwas  anderes,  wie  der  äußere 
Reiz  desLichtes  und  derFarben  optisch 
beschaffen  ist  (Newton),  und  etwas 
anderes,  wie  das  Auge  auf  diesen  Reiz 
antwortet  und  wie  es  ihn  verändert 
(Goethe). 

B.  Eigen  färbe    und  Lokal  färbe. 

Wenn  wir  von  der  Farbe  schlechthin  sprechen, 
wie  sie  unser  Auge  an  den  Gegenständen,  die  uns 
in  der  freien  Natur  umgeben,  wahrnimmt,  so  müssen 
wir  dabei  einen  objektiven  und  einen  subjektiven 
Anteil  unterscheiden. 

Die  objektive  oder  physikalische  Farbe  (die 
Farbe  Newtons)  ist  diejenige,  welche  dem  Gegen- 
stande infolge  seiner  materiellen  physikalischen 
Beschaffenheit  zukommt,  wenn  er  von  farblosem 
Lichte  einheitlich  beleuchtet  wird. 

Diese  objektive  ,, Eigenfarbe"  eines  Körpers 
kann  also  nur  festgestellt  werden,  wenn  jede  zweite 
Lichtquelle  ausgeschlossen  ist.  Zuverlässige  Fest- 
stellungen sind  demnach  nur  im  Dunkelzimmer 
möglich ,  wenn  in  dasselbe  nur  farbloses  Licht 
(Sonnenlicht)  eintritt. 

Sobald  aber  ein  Gegenstand  nicht  allein  vom 
Weißen  (Sonnen-),  sondern  auch  von  sogenanntem 
diffusen,  meist  farbigen  (Reflex-)Lichte  der  um- 
gebenden Gegenstände  beleuchtet  wird,  kommen 
Mischungen  von  farbigen  und  farblosen  Lichtern 
zustande,  welche  die  I'^arbe  der  so  beleuchteten 
Gegenstände  gänzlich  verändern  können.  Wir 
nennen  diese  neue  Farbe,  die  der  Gegenstand 
seiner  farbigen  Umgebung  verdankt,  die  „Lokal- 
farbe" desselben. 

Diese  Lokalfarbe  hängt  nicht  allein  von  dem 
physikalischen  Lichte  ab,  welches  den  Gegenstand 
erhellt,  sondern  auch  von  einer  besonderen  Tätig- 
keit des  Auges,  welche  der  objektiven 
Farbe  eine  subjektive  hinzufügt. 

Sie  ist  es,  mit  welcher  sich  Goethe  auf  allen 
Wegen  in  freier  Natur  beschäftigte.  Er  nannte 
sie    die    physiologische    Farbe.     Sie    hat    er    zum 


Ausgangspunkt  und  zum  Leitmotiv  seiner  ganzen 
P'arbenlehre  gemacht.  Sie  bildet  den  wesentlichen 
Inhalt  derselben. 

Heute  nennon  wir  einen  Teil  solcher,  unter 
verschiedenen  Bedingungen  der  Beleuchtung  auf- 
tretender, von  Goethe  besonders  studierter  Farben 
Kontrastfarben  und  wissen,  daß  sie,  wie  Goethe 
immer  betont  hat,  vom  Auge  hervorgebracht 
werden. 

C.  Verbreitung  von  Goethe's  F'arben 
in  der  Natur. 

Überall,  wo  farbige  Lichter  in  der  Natur  mit 
gedämpften  farblosen  weißen  Lichtern  in  Kon- 
kurrenz treten,  entstehen  völlig  neue  Farben,  die 
unser  Auge  selbsttätig  hervorbringt. 

Wird  eine  farblose  Fläche  gleichzeitig  von  zwei 
Lichtquellen,  einer  farbigen  und  einer  farblosen 
weißen ,  in  einem  bestimmten  Verhältnis  der 
Helligkeit  beleuchtet,  so  erscheint  dort,  wo  die 
farbige  Beleuchtung  nicht  hingelangt,  oder  wo 
Schatten  des  farbigen  Lichtes  vorhanden  sind, 
die  weiße  Beleuchtung  farbig  und  zwar 
komplementär  zu  ihr  gefärbt. 

Wer  kennt  nicht  die  subjektiven  Kontrastfarben 
auf  Schneelandschaften  bei  der  gelben  Beleuchtung 
der  tief  stehenden  Sonne  am  Abend?  Dann  ist 
namentlich  bei  bewölktem  Himmel  eine  Doppel- 
beleuchtung gegeben,  welche  zu  den  schönsten 
subjektiven  Kontrastfarben  Anlaß  bietet. 

Wir  sehen  dann  die  von  der  Sonne  beleuchtete 
Fläche  stark  gelb.  Die  Schattenstellen  aber  in 
Furchen,  Gruben,  auf  Sturzäckern,  hinter  Hügeln, 
wo  die  Sonnenstrahlen  nicht  hinlangen,  erscheinen 
deutlich  blau. 

Kurz  vor  oder  bei  Sonnenuntergang  und  dunsti- 
gem Horizont  ist  die  Beleuchtung  der  Landschaft 
tötlich  und  dann  sind  die  Schatten  in  derselben 
Landschaft  grün. 

In  beiden  Fällen  ist  die  Schneefläche  doppelt 
beleuchtet,  erstens  direkt  durch  die  untergehende 
Sonne  und  im  ersten  Falle  gelb,  im  anderen  rot, 
zweitens  direkt  durch  den  Reflex  der  Wolken,  die 
farbloses,  weißes  Licht  reflektieren  und  dieses  der 
direkten  (gefärbten !)  Sonnenbeleuchtung  zumischen. 

Wo  aber  die  direkte  Sonnenbeleuchtung  nicht 
hingelangen  kann,  d.  h.,  dort,  wo  die  erwähnten 
Unebenheiten  des  Bodens  das  Sonnenlicht  abhalten, 
da  werden  diese  Schattenstellen  nur  allein  von 
weißem  Reflexlicht  der  Wolken  erhellt  und  dieses 
weiße  Reflexlicht  erscheint  unserem  Auge  blau 
(bzw.  bei  rötlicher  Abendbeleuchtung  grün). 

Ebenso  bekannt,  aber  in  ihrem  Ursprung  viel- 
leicht noch  weniger  beachtet,  sind  die  Kontrast- 
farben, die  wir  in  Gebüschen  und  im  Walde  auf- 
treten sehen,  wenn  das  durch  Zweige  und  Blätter 
der  Bäume  auftretende  Sonnenlicht  mit  dem  grünen 
Reflexlicht  der  Vegetation  eine  Doppelbeleuchtung 
liefert,  bei  der  in  den  Schattenstellen  die  schönsten 
subjektiven  Farben,  meist  in  rötlichen  und  violetten 
Tönen  zur  Wirkung  gelangen. 

Man  kann  sich  leicht    davon  überzeugen,    daß 


N.  F.  XVI.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


603 


an  den  Stellen,  wo  diese  roten  und  violetten  Farben 
erscheinen,  in  Wirklichkeit  gar  kein  farbiges  Licht 
vorhanden  ist.  Wir  brauchen  nur  durch  eine  enge 
Röhre,  etwa  durch  einen  zusammengerollten  Papier- 
bogen zu  schauen,  sie  erscheinen  dann,  wenn  die 
Farben  der  Umgebung  ausgeschaltet  werden,  ein- 
fach grau. 

Unter  ähnlichen  Bedingungen  der  Beleuchtung 
entstehen  die  prachtvollen  F"arben  der  Gebirgsseen, 
die  von  felsigen  Gebirgen  (die  stark  reflektieren) 
eingeschlossen  sind,  sowie  die  Farben  der  Gletscher- 
landschaftcn  bei  tiefstehender  Sonne  und  die  Farben 
der  Meereswogen.  (Goethe,  zur  Farbenl.  didakt. 
Teil  Kap.  57). 

Es  entstehen  in  all  diesen  Fällen  jene  Ab- 
schwächungen  der  farblosen  (weißen)  Tagesbeleuch- 
tung, welche  im  Kontrast  mit  dem  Reflexlicht  der 
Umgebung  die  Kontrastfarben  hervorrufen. 

Es  könnten  noch  zahlreiche,  jedermann  be- 
kannte, farbige  Erscheinungen  in  der  Natur  ange- 
führt werden,  welche  den  Charakter  der  subjektiven 
physiologischen  Farben  tragen.  Doch  die  ange- 
führten Beispiele  mögen  genügen.  Es  lag  mir 
daran,  darzulegen,  wie  verbreitet  sie  in  der  Natur 
sind.  Wir  müssen  dabei  die  unbestreitbare  Tat- 
sache festhalten,  daß  bei  all  diesen  Erscheinungen 
weißes  Licht  farbig  gesehen  wird.  Es 
handelt  sich  dabei  nicht  um  Zufälligkeiten  oder 
um  gelegentliche  Ausnahmen  der  I'^ärbung,  sondern 
um  Naturerscheinungen,  welche  eine  wesentliche, 
unter  Umständen  die  wesentlichste  Ursache  der 
P'arben  sind,  die  überhaupt  in  der  Landschaft  auf- 
treten. Bei  bestimmten  Beleuchtungsverhältnissen 
(bedingt  durch  Sonnenstand,  Wolkenbildung  und 
Reflexion)  ist  die  ganze  Natur  von  ihnen  angefüllt. 

Es  muß  ausdrücklich  hervorgehoben  werden, 
daß  diese  Farben,  solange  die  Beleuchtungsver- 
hältnisse dauern,  von  objektiven  Farben  nicht  zu 
unterscheiden  sind.  Die  rein  physikalischen  Gesetze 
Newtons  haben  für  sie  keine  Gültigkeit.  Es  sind 
alles  Goethe'sche  Farben.  —  Sie  sind  subjektiv, 
aber  sie  sind  für  den  Naturforscher  wesentlich 
und  gehören  darum  als  wesentlicher  Bestandteil 
einer  jeden  Naturfarbe  in  die  Farbenlehre,  wenn 
sie  auch  mit  der  Physik  nur  indirekt  zu  tun  haben. 

Zum  Zustandekommen  dieser  Kon- 
trastfarben gehört  also  eine  Doppel- 
beleuchtung, eine  farbige  und  eine 
weiße,  welche  in  einem  bestimmtenVer- 
hältnis    ihrer  Stärke  zusammen  wirken. 

Man  kann  durch  eine  Menge  von  Experimenten 
diese  Herkunft  der  Goethe'schen  subjektiven  Farben 
erläutern  und  ihre  Abhängigkeit  von  der  definierten 
Doppelbeleuchtung  klar  beweisen.  (Wer  sich  dafür 
interessiert,  vergleiche  die  Abhandlung  des  Ver- 
fassers „Goethe's  Farbenlehre"  im  3.  Bde.  des  Jahr- 
buches der  Goethe  Gesellschaft   1916). 

Ein  sehr  belehrendes  Experiment  läßt  sich  in- 
deß  ohne  jede  Vorbereitung  ausführen,  wenn  eine 
Leineneinbanddecke  von  Engelkorns  allgem. Roman- 
bibliothek (Stuttgart)  zur  Hand  ist.  Diese  Einband- 
decke   besteht   aus    feuerroter  Leinwand,    die   mit 


rein  schwarzer  Schrift  und  einem  ebenfalls  schwarzen 
Rankenornament  bedruckt  ist. 

Die  schwarzen  Ornamente  und  die  Schrift- 
zeichen stehen  also  tief  schwarz  auf  rotem  Grunde, 
sie  reflektieren  kein  Licht,  darum  erscheinen  sie 
schwarz;  aber  ihre  Oberfläche  ist  glatt  und  daher 
zur  Spiegelung  geeignet. 

Hält  man  die  Einbanddecke  schief  gegen  das 
Licht,  so  daß  die  Oberfläche  spiegelt,  so  wird 
durch  den  Reflex  der  ganzen  Fläche  (dem  Rot 
des  Grundes  und  dem  Schwarz  der  Ornamente) 
weißes  Licht  hinzugefügt. 

Die  rote  Fläche  der  Einbanddecke  reflektiert 
außer  dem  Licht  ihrer  Eigenfarbe  rot  jetzt  auch 
noch  von  der  spiegelnden  Oberfläche  reflektiertes 
weißes  Licht,  welches  die  Eigenfarbe  ins  Gelbrole 
steigert.  —  Aber  auch  die  glänzende  Obenfläche 
der  Ornamente  spiegeln  dieses  weiße  Licht  und 
dieses  wird  nun  in  dem  gelbroten  Felde  als  tief 
grün  empfunden.  Man  kann  die  subjektive  grüne 
Farbe  der  Ornamente  selbstverständlich  auch  her- 
vorrufen, wenn  man  bei  jeder  beliebigen  Lage 
und  Stellung  der  Einbanddecke  mit  einem  Spiegel 
diffuses  Licht  so  auf  die  Decke  wirft,  daß  das 
gespiegelte  Licht  in  unser  beobachtendes  Auge 
fällt. 

Dieses  Grün  ist  subjektiv,  vom  Auge  hervor- 
gebracht. Es  ist  die  Farbe  Goethe's.  Das  weiße, 
von  der  glatten  Oberfläche  der  Ornamente  ge- 
spiegelte Licht  wird  grün,  also  farbig  gesehen,  was. 
mit  der  New  ton' sehen  Lehre  nicht  vereinbar  ist 

Das  Experiment  beruht  auf  einem  technischen 
Zufall  in  der  Wahl  der  Materialien.  Es  ist  aber 
darum  nicht  minder  beweiskräftig.  Goethe, 
der  solche  Farben  überall  in  der  Natur  beobach- 
tete, F"arben,  von  denen  die  Physiker  seiner  Zeit 
nichts  wissen  wollten,  glaubte  damit  einen  un- 
widerleglichen Beweis  für  die  Unrichtigkeit  der 
Newton 'sehen  Lehre  gefunden  zu  haben. 

Das  war  vor  hundert  Jahren  auch  ein  berech- 
tigter Standpunkt.  Gegenwärtig  aber  kann  man 
die  daraus  abgeleiteten  Argumente  nicht  mehr 
gegen  Newton's  Lehre  ins  F"eld  führen. 

Aber  die  Tatsache  selbst,  daß  weißes  Licht 
unter  bestimmten  Beleuchtungsverhähnissen  farbig 
gesehen  wird,  ist  unstreitig  auch  von  großer 
Wichtigkeit  für  die  Physik. 

Das  physikalische  Weiß  ist  zusammengesetzt, 
es  enthält  alle  farbigen  Lichtstrahlen.  Das  sub- 
jektive Weiß,  das  Weiß  unserer  Empfindung  ist 
aber,  wie  Goethe  immer  behauptet  hat,  eine 
einheitliche,  unteilbare,  also  nicht  zusammengesetzte 
Empfindung.')  —  Aber  trotzdem  wird  es,  wie 
oben  gezeigt  wurde,  in  der  Natur  vielfach  farbig 
empfunden. 

Goethe  hat  die  dadurch  entstehenden  Farben 
überall  beobachtet.  Sie  haben  ihn  überall  gefesselt! 
Jede  Stelle  im  Freien,  im  Weimarer  Park,  wie  im 
Garten,  wo  er  sie  beobachtete,  zog  ihn  an!    Selbst 

')  Zu  diesem  Schluß  kommt  auch  O.  Wiener:  Vortrag 
gehalten  auf  der  Naturforscherversammlung    zu   Cöln   a.   Rhein 


6o4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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im  Waftenlärm  der  Campagne  in  Frankreich  ') 
konnte  ihn  ein  Wassertümpel  mit  seinen  Farben 
vollständig  vom  Kriegsgetümmel  abziehen.  Solche 
Farbenstudien  nach  Goethes  Vorbild  sind  auch 
im  gegenwärtigen  Kriege  vielfach  im  Schützen- 
graben in  Ost  und  West  von  Physikern  und  Phy- 
siologen mit  viel  Erfolg  angestellt  worden.  Davon 
legen  mehrere  an  mich  gelangte  Zuschriften  ein 
erfreuliches  Zeugnis  ab. 

Die  Farbe  geht  in  der  Natur  weiter,  als  die 
theoretische  Physik  sie  begrenzt. 

Die  letztere  lehrt  auf  Grund  vollkommen 
exakter  Versuche  in  (fbereinstimmung  mit  mathe- 
matischen Berechnungen,  daß  einer  Licht- 
bewegung von  bestimmter  Wellenlänge 
eine  bestimmte  Farbe  entspreche. 

Diese  an  sich  vollkommen  richtige  Lehre,  die 
im  Dunkelzimmer  gewonnen  war,  wurde  unmittel- 
bar auf  jedes  F"arkensehen  in  der  Natur  über- 
tragen. Es  wurde  angenommen,  daß  der  Lehrsatz 
auch  umgekehrt  Geltung  habe,  d.  h.  daß  über- 
all da,  wo  eine  bestimmte  Farbe  auf- 
trete, dazu  auch  das  Licht  bestimmter 
Wellenlängen  gehöre. 

Das  ist  ein  Irrtum,  der  noch  gegenwärtig  (auch 
bei  Vertretern  der  Physik!)  vorhanden  ist,  der 
aber  vor  hundert  Jahren  allgemein  war. 

Goethe  hat  diesen  Irrtum  seinerzeit  erkannt 
und  diese  Erkenntnis  wurde  die  Ursache  der  be- 
klagenswerten Polemik  gegen  die  Physiker,  die 
Nachfolger  Newton's.  Diese  hielten  Goethe's 
Farben  für  Phantasmen,  für  krankhafte  Erschei- 
nungen, für  „optische  Täuschungen"  usw.  —  Auf 
Naturbeobachtungen  ließen  sie  sich  nicht  ein.  Und 
Goethe,  der  seinerzeit  die  mathematische  Beweis- 
führung seiner  Gegner  nicht  verstand,  wollte  von 
dem    „Gespenst    in    der    Dunkelkammer"    nichts 


D.    Ihre  Stellung  zur  Physik. 

Die  Ursache  der  ganzen  Polemik  war  also  im 
Grunde  genommen  ein  Mißverständnis  auf  beiden 
Seiten. 

Auf  der  einen  (Goethe's)  Seite,  die  Erkennt- 
nis des  gesetzmäßigen  Ursprunges  einer  großen 
IVIenge  von  Naturfarben,  die  den  physikalischen 
Gesetzen  über  Lichtbewegung  nicht  unterworfen 
waren,  die  aber  von  Goethe  mit  Hart- 
näckigkeit der  Physik  zugeordnet  wur- 
den, und  auf  der  anderen  Seite  die  rein  physi- 
kalische Definition  von  Lichtqualitäten,  welche  für 
alle  Farben  ohne  Ausnahme,  also  auch  für  alle 
Naturfarben,  gültig  sein  sollte. 

Gegenwärtig  wissen  wir,  daß  diese  physikali- 
schen Definitionen  für  Naturfarben  nur  bedingte 
Gültigkeit  haben  Sie  sind  demnach  auch  nicht 
das  einzig  Bestimmende  für  Farbenstudien  und 
Farbenlehre,  sondern  es  kommt  noch  ein  zweites, 
unter  Umständen  noch  mehr  Bestimmendes  hinzu, 
d.  h.  die    subjektive   physiologische  Re- 

')  Vergl.:   Aufzeichnnng  vom  30.   .Angust. 


aktion  auf  jeden  physikalischen  Farben- 
reiz, d.  h.  die  Farbe  Goethe's. 

Im  Grunde  genommen  läßt  sich  die  reine  phy- 
sikalische Optik  gar  nicht  auf  Naturfarben  an- 
wenden, auch  nicht  unbedingt  auf  Pigmente  1 

Ebenso  wenig  aber  läßt  sich  die  Goethe- 
sche  physiologische  Farbe  auf  die  reine  physika- 
lische Optik  übertragen. 

Goethes  Farbendefinition  gehört  also  nicht  in 
die  Physik,  sondern  in  die  Naturwissenschaft  und 
zwar  in  die  der  Farbenlehre  schlechthin. 

Das  Mißverständnis,  welches  ich  in  Vorstehen- 
dem, angeregt  durch  den  erwähnten  Aufsatz  von 
Sommerfeld,  welcher  in  dieser  Frage  auf  rein 
physikalischem  Boden  steht,  zu  erklären  versuchte, 
ist  ein  Jahrhundert  alt. 

Es  ist  die  Hauptursache  gewesen,  daß  Goethe's 
Lehre  in  naturwissenschaftlichen  Kreisen  zuerst 
ganz  abgelehnt  und  auch  später  nicht  so  aner- 
kannt wurde,  als  sie  verdient. 

Goethe  selbst  hat  aber  dieses  Mißverständnis 
bereits  geahnt.  Es  ist  ebenso  interessant  als  für 
unsere  Frage  wichtig,  was  er  im  Rückblick  auf 
sein  Lebenswerk  in  den  „Nachträgen  zur  Farben- 
lehre" 1820  im  Kapitel  16  mit  der  Überschrift 
„Wohl  zu  erwägen"  ahnungsvoll  darüber  schreibt. 
Goethe  kommt  dort  zu  der  Überzeugung,  daß  der 
Widerwille  gegen  seine  P'arbenlehre  daher  komme, 
daß  er  seine  ersten  kleinen  Hefte  „Beiträge  zur 
Optik"  genannt  habe,  und  daß  die  Sache  ein  ganz 
anderes  Ansehen  gewonnen  hätte,  wenn  er  „Bei- 
träge zur  Farbenlehre"  angekündigt  und  in  die 
allgemeine  Naturwissenschaft  gespielt  hätte. 

Die  Goethe'sche  physiologische  Farbe  wird 
auch  gegenwärtig  noch  vielfach  unterschätzt. 
Selbst  in  Arbeiten  namhafter  Physiker  begegnet 
man  noch  der  Auffassung,  als  ob  es  sich  nur  um 
innere  Farben  des  Auges,  um  sogenannte  Phosphene, 
wie  sie  auch  bei  Druck,  Stoß  usw.  auf  das  Auge 
bemerkt  werden,  oder  um  die  Wirkung  von  Nach- 
bildern handle.  Selbst  die  Kontrastfarben  werden 
noch  für  Zufälligkeiten  gehalten. 

Demgegenüber  kann  nicht  genug  betont  werden, 
daß  die  Goethe'schen  Farben  überall  in  der  Natur 
vorhanden  sind  und  alle  Farbeneindrücke,  die  wir 
überhaupt  im  Freien  haben  können,  mehr  oder 
weniger  stark  beeinflussen. 

Das  Wichtigste  dabei  ist  aber,  daß  P^arben 
entstehen,  die  physikalisch  nicht  erklärbar  sind, 
indem,  wie  mehrfach  erwähnt,  weißes  Licht  farbig 
gesehen  wird. 

Die  Bedingungen  der  Beleuchtung,  unter 
welchen  das  geschieht,  sind  aber  physikalisch 
genau  zu  bestimmen.  Es  kann  das  Verhält- 
nis der  Doppelbeleuchtung,  d.  h.  der 
Anteil  des  farbigen  und  des  weißen 
Lichtes,  welcher  zumAuftreten  dersub- 
jektiven  Farben  die  Veranlassung  bietet, 
genau  gemessen  werden.  Insofern  ist  die 
P^klärung  dieser  subjektiven  Farben  auch  Auf- 
gabe der  Physik. 

Man  hat  die  Goethe'sche  Farbenlehre    vielfach 


N.  F.  XVI.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


605 


als  Phänomenologie  aufgefaßt,  nach  Goethes  Be- 
zeichnung einzelner  Erscheinungen,  der  Urphäno- 
mene  und  nach  dem  Vorbilde  Mach's,  aber  man 
darf  darunter  nicht,  wie  es  leider  meistens  ge- 
schieht, Zufälligkeiten  und  Ausnahmen  in  der 
Naturfärbung  verstehen  wollen,  sondern  man  muß 
dabei  festhalten,  daß  es  sich  um  gesetzmäßig 
auftretende  Farben  handelt,  welche 
unter  bestimmten  physikalischen  Be- 
dingungen regelmäßig  entstehen  und 
von  objektiven  Farben  gar  nicht  zu 
unterscheiden  sind. 

Also  nicht  die  Polemik  mit  Newton  und  die 
mißverständliche  Auffassung  von  dessen  Physik 
der  objektiven  PVbe  bildet  den  eigentlichen 
Inhalt  von  Goethes  Farbenlehre,  sondern  die  sub- 


jektive Farbe  ist  es,  welche  die  ganze  Farbenlehre 
trägt.     „Sie  ist  des  Pudels  Kern." 

Diese  F"arbe  ist  von  enormer  Wichtigkeit  für 
unser  Farbensehen  überhaupt,  da  das  Auge  ihr  in 
der  Natur  überall  und  immer  begegnet.  Sie  ist 
auch  die  Ursache  des  farbigen  Kontrastes  und  durch 
ihn  der  Regulator  aller  farbigen  Gegensätze,  die  sich 
dem  Auge   im  Gesichtsfelde  gleichzeitig  darbieten. 

Wir  schließen  mit  der  Behauptung,  daß  Goethe's 
P^arbenlehre,  befreit  von  den  physikalischen  Irr- 
tümern, für  die  Beurteilung  der  Natur-  und  Pig- 
mentfarben, für  Gewerbe,  für  Kunst  und  Industrie 
ungleich  viel  wichtiger  ist,  als  die  Lehre  der  reinen 
physikalischen  Optik  und  jedermann,  der  in  der 
Natur  den  Spuren  Goethe's  nachgeht,  wird  uns 
beipflichten. 


Einzelberichte. 


Vererbungslehre.  Die  Erblichkeit  im  Mannes- 
stamme. V.  Haecker')  untersucht  die  inter- 
essante Frage,  ob  das  besonders  enge  Verhältnis 
zwischen  Vater  und  Sohn,  namentlich  dem  erst- 
geborenen (im  Gegensatz  zu  dem  Verhältnis  Vater- 
Tochter),  wie  es  sich  in  der  Namensübertragung, 
der  Primogeniturordnung  und  anderen  patriarcha- 
lischen und  vaterrechtlichen  Einrichtungen  aus- 
drückt, naturwissenschaftlich  zu  rechtfertigen  ist. 
Die  P>age  hat  insofern  ein  erhöhtes  Interesse,  als 
in  diesem  Kriege  viele  Familien  den  Veriust  von 
Söhnen,  ja  von  sämtlichen  Söhnen  zu  beklagen 
haben  und  nicht  wenige  im  Mannesstamme  vor 
dem  Eriöschen  stehen  oder  bereits  erloschen  sind. 
Die  Grundlage  muß  die  moderne  Vererbungslehre 
geben,  deren  Anwendungsfähigkeit  auf  den  Menschen 
der  Verf.  zunächst  einer  kurzen  vorläufigen  Erörte- 
rung unterzieht.  Die  prinzipielle  Gültigkeit  der 
Mendel'  sehen  Regel  ist  unbestreitbar,  wenn  auch 
besonders  schwierige  Umstände  es  bewirken,  daß 
die  Erhebungen  beim  Menschen  nicht  so  eindeutig 
und  klar  sind,  wie  bei  vielen  anderen  einfacheren 
tierischen  oder  gar  pflanzlichen  Vererbungsver- 
suchen. Bei  dem  komplexverursachten  Charakter 
der  meisten  menschlichen  Merkmale,  treten  allerlei 
Unregelmäßigkeiten  im  Vererbungsveriauf  auf,  die 
sich  entweder  nur  durch  Zusatzhypothesen  in  das 
Mendel' sehe  Schema  einfügen  lassen,  oder  aber 
durch  eine  vom  Verf  seinerzeit  vorgeschlagene 
Modifikation  der  Mendel' sehen  Regel,  der  soge- 
nannten „entwicklungsgeschichtlichen  Vererbungs- 
regel" erklärt  werden  müssen.  Da  bei  dieser 
Sachlage  immerhin  eine  gewisse  Unsicherheit  be- 
steht, schlägt  der  Verf  einen  anderen  vorläufigen 
Weg  ein,  um  den  Einfluß  einer  etwa  vorhandenen 
Präponderanz  des  männlichen  Keimgutes  bei  der 
sexuellen  Verkoppelung  der  Anlagen  festzustellen. 


')  Die  Erblichkeit  im  Manncsstamm  und  der  vaterrecht- 
liche  Familienbegriff.  Jena  1917.  G.  Fischer.  I  M.  In  bezug 
auf  Einzelheiten  sei  ausdrücklich  auf  den  inhaltsreichen  und 
fesselnden  Aufsatz  aufmerksam  gemacht. 


Er  sucht  in  den  Generationen  einzelner  Familien 
den  Einfluß  der  Frauen  auf  die  Umwandlung  der 
geistigen  und  körperiichen  Eigenschaften  der  männ- 
lichen Nachkommen  zu  ermitteln.  Dazu  eignen 
sich  Fürstenfamilien  wegen  ihrer  langen,  durch 
mancherlei  Dokumente,  namentlich  Bildnisse  wohl 
belegten  Tradition  besonders  gut,  noch  besser, 
wenn  auch  einen  weniger  langen  Zeitraum  um- 
fassend, würde  sich  aber  auch  eine  möglichst  ein- 
gehende, wissenschaftlich  genaue  Untersuchung 
bürgerlicher  F"amilien  eignen,  besonders  von  Ärzten 
und  Naturforschern,  die  die  unerlässige  Kritik  und 
geschulte  Beobachtungsgabe  mitbringen. 

In  fürstlichen  Familien  gibt  es  nun  in  der  Tat 
zahlreiche  deutliche  Hinweise  darauf,  daß  auch 
die  Frauen  einen  starken,  den  P'amilientypus 
verändernden  und  zeitweilig  bestimmenden  Ein- 
fluß ausüben.  Die  hier  wiedergegebenen,  dem 
Buche  Haecker's  entnommenen  Bilder  der 
Sophie  von  Brandenburg,  der  Gemahhn  Christians  I. 
von  Dänemark,  und  ihres  Sohnes  Christians  IL, 
lassen  z.  B.  eine  ganz  ausgeprägte  Ähnlichkeit  er- 
kennen. Dadurch  ändert  sich,  wie  man  oft  sehr 
gut  verfolgen  kann,  der  F'amilientypus  periodisch, 
undzwaretwaalle  2-4  Generationen.  Eine  Ausnahme 
scheint  nur  z.  B.  die  Familie  Habsburg  zu  machen, 
deren  starke  Unterlippe  verbunden  mit  starker 
Entwicklung  des  Kinns  sich  durch  5  Jahrhunderte 
verfolgen  läßt.  Wie  geht  das  zu '  Die  Erklärung 
liegt  darin,  daß  gerade  in  dieser  Familie  Verbin- 
gungen  mit  verwandten  oder  seit  längerer  oder 
kürzerer  Zeit  verschwägerten  Familien  besonders 
häufig  waren,  so  daß  die  Frauen  immer  wieder  die 
nämlichen  Anlagen  in  den  Mannesstamm  einführten. 
In  ähnlicher  Weise  soll  sich  auch  in  der  Familie 
der  Weifen,  in  der  ebenfalls  Verwandtenehen  häufig 
waren,  die  militärische  Begabung  traditionell  er- 
halten haben.  Friedrich  der  Große  soll  sogar  sein 
Feldherrngenie  seiner  Mutter,  Sophie  Dorothee 
von  Hannover,  verdanken.  Die  Schopenhauer- 
sche  Ansicht,  daß  der  Intellekt  von  der  Mutter, 
Wille    und  Charakter    dagegen    vom    Vater    über- 


6o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  43 


liefert  werden,  wird  durch  Tatsachen  nicht  gestützt. 
Oft  genug  ist  das  Gegenteil  der  Fall,  wie  z.  B. 
bei  der  Vererbung  des  mathematischen  Genies, 
das  besonders  häufig  vom  Vater  auf  den  Sohn 
übergeht.  Weshalb  die  Übertragung  auf  die  Tochter 
selten  ist,  liegt  daran,  daß  die  mathematische  Be- 
gabung nach  der  Art  männlicher  sekundärer 
Geschlechtscharaktere  nur  im  männlichenGeschlecht 
entfaltet  wird,  im  weiblichen  dagegen  latent  bleibt. 
Die  auffällige  Weiterführung  der  musikalischen 
Begabung  in  manchen  Familien  und  zwar  in 
direkter  männlicher  Linie  kann  auf  zunftmäßiger 
Inzucht,  Gattenwahl  auf  Grund  gemeinsamer 
musikalischer  Neigungen,  bei  der  h^amilie  Bach 
vielleicht  noch  dazu  auf  der  weiten  Verbreitung 
der  musikalischen  Begabung  im  sächsischthürin- 
gischen  Volksstamm  beruhen,  die  bei  schon  vor- 


tische Abschwächung  vielleicht  auch  mit  der  Zeit 
zu  einer  Reduktion  und  einem  schließlichen  Schwund 
der  Anlage  selber  führen  könne. 

Als  allgemeines  Ergebnis  läßt  sich  feststellen, 
daß  kein  Merkmal  im  direkten  Mannesstamme  mit 
größerer  Sicherheit  und  Zähigkeit  fortschreitet  als 
in  irgendeiner  anderen  Linie  eines  menschlichen 
Stammbaums.  Selbst  ausgeprägt  männliche  Eigen- 
schaften werden  ebenso  gut  in  weiblichen  Zweig- 
linien wie  im  direkten  Mannesstamm  fortgeerbt. 
Daraus  folgt,  daß  der  bei  uns  auf  Grund  des  Vater- 
rechts übliche  Famiiienbegriff,  nach  welchem  nur 
die  den  Namen  des  Vaters  fülirenden  Personen 
zur  Familie  im  eigentlichen  Smne  gerechnet  werden, 
biologisch  nicht  zu  rechtfertigen  ist.  Wenn  also 
jemand  heule  Müller  heißt  wie  seine  männlichen 
Vorfahren    väterlicherseits,    so    ist  das    eine   reine 


II.  von  Dänemark. 


handener  starker  Tradition  natürlich  leicht  zur 
beruflichen  Betätigung  führt.  Daß  auch  patholo- 
gische Anlagen,  wie  geistige  Störungen  ebensogut 
vom  Vater  weitergegeben  wie  von  der  Mutter  in 
die  Familie  neu  hineingetragen  werden  können, 
ist  vielfältig  belegt.  Eine  scheinbare  Ausnahme 
von  dem  Satze  von  der  gleichen  Vererbungskraft 
des  väterlichen  und  des  mütterlichen  Keimplasmas 
machen  die  Bluterkrankheit  und  die  Rot-Grün- 
Farbenblindheit,  die  im  ganzen  an  das  männliche 
Geschlecht  gebunden  sind.  Die  Anlagen  zu  diesen 
pathologischen  Abweichungen  können  aber  sowohl 
von  der  Mutter  wie  von  dem  Vater  Übermacht 
werden,  ihre  Entfaltung  zu  dem  sichtbaren  Merk- 
mal ist  aber  wieder  geschlechtsbegrenzt,  indem 
sie  nur  im  männlichen  Körper  erfolgt.  Auch  sei 
noch  einmal  an  den  Prognatismus  inferior  der  Habs- 
burger erinnert,  der  ebenfalls  in  reiner  Ausprägung 
vorwiegend  nur  den  männlichen  Gliedern  zukommt, 
bei  den  Frauen  dagegen  gemildert  ist.  Verf.  legt 
die  Möglichkeit  nahe,  daß  diese  individuelle  soma- 


juristische  Konvention,  naturwissenschaftlich  ist  er 
mit  dem  Namen  Müller  nicht  enger  verknüpft  als 
mit  irgendeinem  der  von  seinem  weiblichen  Vor- 
fahren getragenen.  Aus  der  gleichen  Vererbungs- 
potenz beider  Geschlechter  folgt  aber  nicht  die 
völlige  Gleichwertigkeit  der  Geschlechter  selber, 
wie  vielleicht  P'rauenrechtlerinnen  geneigt  wären 
anzunehmen.  Zwischen  Anlage  und  ihrem  Sicht- 
barwerden im  dazugehörigen  Merkmal  besteht 
ein  Unterschied,  es  gibt  zweifellos  manche  Anlagen, 
die  nur  im  männlichen  Substrat  zur  vollen  Ent- 
faltung kommen. 

Stirbt  also  in  einer  Familie  der  letzte  Träger 
des  Namens,  so  stirbt  genealogisch  zwar  die 
P'amilie  im  Mannesstamme  aus,  biologisch  aber 
nicht,  falls  Töchter  vorhanden  sind,  die  gleich 
erbkräftig  wie  die  Söhne  ihre  vom  letzten  Träger 
des  Namens  überkommenen  Anlagen  an  etwa  vor- 
handene Enkel  und  Enkelinnen  weitergeben.  Die 
Vorstellung  von  der  gleichen  Vererbungskraft 
beider  Geschlechter,  wie  sie  sich  aus  allen  unseren 


N.  F.  XVI.  Nr.  4: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


607 


modernen  Vorstellungen  und  Tatsachen  über  Ver- 
erbung als  sehr  wahrscheinlich,  ja  fast  als  selbst- 
verständlich ergibt,  ist  von  dem  übermächtigen 
Vaterrecht  im  mstinktiven  Bewußtsein  nie  völlig 
unterdrückt  worden.  So  gab  es  schon  im  alten 
Indien  die  Bestimmung,  daß  die  Tochter  die 
Familie  ihres  Vaters  dann  fortsetzen  soll,  wenn 
keine  Söhne  vorhanden  sind,  und  um  ein  anderes 
Beispiel  zu  nennen,  wurde  bekanntlich  durch  die 
]:>ragmatische  Sanktion  Karls  VI.  von  1724  fest- 
gelegt, daß  die  Erbfolge  bei  dem  Mangel  männ- 
licher Erben  auf  die  weiblichen  übergehen  sollte. 
.So  kam  Maria  Theresia  auf  den  Thron.  Der  Verf 
schließt  mit  folgenden  zeitgemäßen  Worten  in 
Hinblick  auf  die  Verluste,  die  manche  F"amilie  mit 
alten  Traditionen  in  diesem  Kriege  erlitten  hat: 
„Ein  kleiner  Trost,  aber  doch  immerhin  ein  Trost 
und  ein  Halt  mag  es  manchen  sein,  daß  die 
körperlichen  und  geistigen  Tugenden,  auf  welche 
die  Familie  stolz  ist  und  durch  welche  ihre  Glieder 
nach  innen  und  außen  verbunden  erscheinen,  nicht 
jäh  aufhören,  sondern  auch  in  den  Kindern  der 
Töchter  weiterleben  und  nach  uralten,  schon  von 
den  Weisen  des  altes  Testaments  geahnten  Regeln 
fortwirken  können,  bis  ins  dritte  und  vierte  Glied." 
Miehe. 

Geologie.  Die  Goldlagerstätten  Arabiens. 
Arabien  gehört  noch  zu  den  unbekannten  Ge- 
bieten der  Erde,  trotzdem  es  an  einer  Haupt- 
handelsstraße der  Welt  liegt.  Große  Flächen 
Arabiens  sind  Wüste,  die  schwer  zu  durchqueren 
ist  und  in  denen  der  Reisende  den  Überfällen 
kriegerischer  Beduinen  nur  durch  Aufwand  hoher 
Lösegelder  entgehen  kann.  Vielleicht  bringt  der 
Krieg  auch  hier  einen  Umschwung,  denn  er  hat 
bewiesen,  daß  wir  im  Automobil  und  dem  Flug- 
zeug Verkehrsmittel  besitzen,  die  auch  in  der 
Wüste  selbst  da  zu  gebrauchen  sind,  wo  die  seit 
altersher  das  einzige  Verkehrsmittel  darstellenden 
Kameelkarawane  versagt. 

Arabien  gilt  zwar  heute  als  ein  armes  Land, 
was  die  Mineralproduktion  anbelangt;  aber  das 
ist  nicht  immer  so  gewesen.  Wir  besitzen  aus 
alten  Schriften  Nachrichten  über  einen  lebhaften 
Bergbau  und  namentlich  die  Gewinnung  des 
Goldes  wird  häufig  erwähnt;  bei  neuen  F"or- 
schungsreisen  wird  man  sich  gewiß  auch  mit  der 
Untersuchung  von  Erzlagerstätten  und  besonders 
den  Goldvorkommen,  die  in  einem  kulturlosen  Land 
am  ehesten  auszubeuten  sind,  beschäftigen. 

Die  Golddistrikte,  von  denen  wir  sichere 
Kunde  besitzen,  finden  sich  nach  Moritz^)  nur 
im  westlichen  Teil  des  Landes,  in  dem  großen 
Randgebirge,  das  die  Scheidewand  zwischen  der 
schmalen  Küstenebene  und  dem  innerarabischen 
Tafelland  bildet.  Geologisch  besteht  dieses  aus 
Granit,  das  von  Porphyrstöcken  durchbrochen  und 
von  Sandstein  und  ganz  jungen  Lavamassen,    die 


')    Der    Bergbau    Arabien 

s.  36—39. 


Orient,    Heft 


in  ihrer  großen  Ausdehnung  eine  Eigentümlichkeit 
Arabiens  bilden,  bedeckt  wird.  In  der  Mitte  des 
Landes  scheint  sich  der  Granit  weiter  nach  Osten 
zu  erstrecken  und  teilweise  auch  den  Boden  des 
Hochlandes  zu  bilden.  Ihr  südliches  Ende  erreicht 
die  Graniiformation  im  Norden  von  Jemen,  etwa 
bei  15"  n.  Br.  Der  Südwesten  Arabiens  gehört 
anderen  Bildungen  an. 

Die  Landschaften,  in  denen  in  dem  genannten 
Gebiet  über  Goldvorkommen  berichtet  wird,  sind 
im  Nordwesten  das  alte  Land  Midian,  daran  an- 
schließend nach  Süden  der  Hedschas,  östlich  hier- 
von das  Land  Nedjd,  weiter  südöstlich  der  Jemen 
und  schließlich  im  Süden  das  Land  Asir. 

Die  Lagerstätten  des  alten  Landes  Midian 
bringt  man  mit  den  Nachrichten  der  Bibel  in 
Zusammenhang  und  glaubt,  daß  sich  die  Stelle 
des  Buches  Hiob  (Kap.  28,  i — 11)  auf  sie  be- 
ziehen könnte;  vielleicht  ließen  sich  die  Verse  5 
und  1 1  als  erste  Kunde  eines  Seifenbergbaues 
deuten  „Man  findet  Saphir  an  etlichen  Orten  und 
Erdenklöße,  da  Gold  ist"  und  „Man  wehret  dem 
Strom  und  bringet ,  das  verborgen  darin  ist,  an 
das  Licht".  Das  eigentliche  Goldland  der  Phö- 
nizier und  Hebräer  soll  allerdings  nicht  Midian, 
sondern  das  Land  Asir  gewesen  sein ;  hierhin  ver- 
legt Moritz  das  im  Buch  der  Könige  genannte 
Ophir,  während  andere  F"orscher  wie  Dr.  Peters 
es  in  Portugiesisch-Samesia  und  dem  Matabeleland 
gesucht  haben,  wo  die  Ruinenstadt  Simbabewe 
dem  einstigen  Bergbau  ihre  Entstehung  verdanken 
soll.  Hier  im  Süden  findet  sich  auch  nach  ara- 
bischen Quellen  die  reichste  Goldlagcrstätte,  wo 
es  nach  den  Worten  des  Propheten  Gold  regnete; 
sie  hieß  „madin  Suad"  (madin  bedeutet  „Berg- 
werk" wie  Almaden  an  die  arabische  Herrschaft 
in  Spanien  erinnert)  und  lag  am  Ostabhange  des 
Randgebirges,  180  km  nördlich  von  Nedjran  im 
oberen  Akik. 

In  neuerer  Zeit  ist  nur  das  Land  Midian  ein 
einziges  Mal  auf  Erzlagerstätten  untersucht  wor- 
den ;  es  geschah  auf  Veratilassung  des  stets  geld- 
bedürftigen Khedive  von  Ägypten  in  den  Jahren 
1877/78.  Man  fand  Reste  alten  Bergbaues  und 
auch  Halden  aus  Quarz,  der  sich  als  goldhaltig 
erwies,  ein  Zeichen,  daß  in  früherer  Zeit  nicht 
nur  eine  Gewinnung  des  Goldes  aus  Seifen,  son- 
dern auch  auf  primärer  Lagerstätte  stattgefunden 
hat.  Von  weiteren  Erfolgen  der  Expedition,  die 
die  Untersuchungen  ausführte,  hat  man  nichts 
gehört. 

Nach  allen  arabischen  Quellen  muß  man  an- 
nehmen, daß  der  Bergbau  nirgends  von  langer 
Dauer  gewesen  und  bereits  im  frühen  Mittelalter 
erloschen  ist.  Moritz  sucht  die  Gründe  hierfür 
in  Verschiebungen  der  Bevölkerung,  die  mit  der 
Ausbreitung  der  Türkenherrschaft  in  Kleinasien 
zusammenhängen  sollen,  wohin  die  bergmännische 
Bevölkerung  Arabiens  den  Fahnen  des  Propheten 
gefolgt  sei. 

Es  gibt  aber  noch  andere  Umstände,  die  für 
das  Erliegen  des  Goldbergbaus  herangezogen  wer- 


6o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  43 


den  können  und  die  nicht  von  außen  herange- 
kommen, sondern  in  der  Natur  der  arabischen 
Goldlagerstätten  selbst  gelegen  haben  mögen. 
Wir  finden  nämlich  nicht  nur  hier,  sondern  in 
der  ganzen  Weh,  daß  dem  alten  Goldbergbau 
meistens  nur  ein  kurzes,  wenn  auch  glanzvolles 
Dasein  beschieden  gewesen  ist,  während  der  Berg- 
bau auf  andere  Metalle  oft  von  vorgeschichtlicher 
Zeit  an  bis  heutigen  Tages  sich  eines  ununter- 
brochenen Betriebes  auf  der  gleichen  Lagerstätte 
erfreut.  Beim  Seifenbergbau  ist  dies  ja  leicht  er- 
klärlich, denn  Goldseifen  gehen  nicht  in  die  Tiefe, 
sotidern  haben  nur  eine  beschränkte  Ausdehnung 
in  horizontaler  Erstreckung.  Aber  auch  dort,  wo 
der  Bergbau  auf  Gängen  umging,  die  in  große 
Tiefe  niedersetzen,  finden  wir  nach  kurzer  Blüte- 
zeit meistens  einen  schnellen  Verfall.  Die  neue 
Lagerstättenforschung  hat  hierfür  eine  ausreichende 
Erklärung  erbracht.  Durch  vergleichende  Unter- 
suchungen an  einer  großen  Zahl  von  Lagerstätten, 
die  in  neuerer  Zeit  betrieben  wurden  und  daher 
der  Forschung  zugänglich  waren,  hat  sich  gezeigt, 
daß  das  Gold  auf  seinen  primären  Lagerstätten 
weder    gleichmäßig    noch   willkürlich    verteilt    ist. 


sondern  daß  es  hierin  einem  ganz  bestimmten 
Gesetz  folgt.  Am  Ausgehenden  der  Lagerstätte 
wird  der  Edelmetallgehalt  ausgelaugt,  sinkt  nieder 
bis  zum  Grundwasserspiegel,  wo  die  reichen  Lö- 
sungen auf  unzersetzte  Erze  stoßen,  die  aus  ihnen 
den  Goldgehalt  wieder  ausfällen.  Hier  reichert 
sich  daher  der  Goldgehalt  an;  es  entsteht  eine 
„Zementationszone",  deren  Goldgehalt  um  vieles 
reicher  ist,  wie  der  übrige  Teil  der  Lagerstätte 
und  auf  diese  allein  war  der  alte  Bergbau  ge- 
richtet, während  der  GoldgehaU  der  unzersetzten 
Erze  in  früher  Zeit  nur  selten  lohnend  gewesen 
sein  mag  und  es  in  vielen  Fällen  selbst  bei  den 
heutigen  Mitteln  der  Technik  noch  nicht  ist. 
Übergroße  Hofi^nungen  darf  man  daher  auf  die 
Wiederaufnahme  eines  alten  Goldbergbaues  wie 
den  Arabiens  nicht  setzen ,  solange  nicht  gründ- 
liche Untersuchungen  über  das  Verhalten  der 
Lagerstätten  unter  der  wahrscheinlich  in  früherer  Zeit 
allein  abgebauten  Zementationszone  vorliegen,  so 
fabelhaft  auch  die  Schätze  gewesen  sein  mögen, 
von  denen  arabische  Schriftsteller  erzählen. 
(G.C)  Zöller. 


Anregungen  und  Antworten. 


Herrn  Dr.  Luger.  Das  beste  Mittel  zur  Bekämpfung  des 
Hausschwammes  ist,  dem  wachsenden  Pilze  die  Wasserzufuhr 
abzuschneiden.  Unter  dem  Namen  ,, Hausschwamm*'  werden 
eine  ganze  Reihe  holzzerstörender  Pilze  zusammengefaßt; 
Merulius  lacrymans,  der  echte  Hausschwamm,  Cnniophora 
cerebella,  der  Kellerschwamm,  Polyporus  vaporarius,  der  Poren- 
hausschwamm,  Lenzites  Blälterschwammfäule  und  andere  (sel- 
tener vorkommende)  mehr.  Diese  Pilze  sind  in  bezug  auf  ihren 
Wasserbedarf  und  ihre  Lebenszähigkeit  verschieden  zu  bemessen. 

Während  Coniophora  c.  die  Wasserentziehung  nur  kurze 
Zeit  aushallen  kann,  vermag  Merulius  1.  längere  Zeit  sich  in 
lufttrockeem  Holze  lebend  zu  erhalten.  Die  Pilze  der  Lenzites- 
gruppe  sind  sogar  imstande,  eine  jahrelang  anhaltende  Aus- 
trocbnung  auszuhalten,  um  wieder  ihr  Wachstum  von  neuem 
fortzusetzen,  wenn  ihnen  wieder  Feuchtigkeit  geboten  wird. 

Eine  große  Anzahl  Mittel  sind  empfohlen  worden,  um  die 
Pilze  selbst  abzutöten  und  zur  Vorbeugung  und  zur  Verhütung 
von  Pilzverfall  zu  dienen.  Es  findet  sich  in:  Metz,  Der 
Hausschwamm,  Dresden  1908.  Verlag:  R.  Linke.  S.  238 ff. 
eine  Zusammenstellung  dieser  Substanzen  mit  Angabe  ihrer 
Wirkungsweise. 

In  Heft  4  der  „Hausschwammforschungen",  im  amtlichen 
Auftrage  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  A.  Möller,  Jena  191 1. 
Verlag:  G.  Fischer,  sind  die  bisher  bekannten  Mittel  zur  Ver- 
hütung von  Pilzschäden  an  Bauhölzern  in  ausführlicher  Be- 
sprechung behandelt. 

In  Heft  7  ebenda  werden  als  Schutzanstriche  empfohlen: 
Lösungen  von  Dinitrophenol-natrium  und  -kalium,  sowie  von 
Dinitrokresol-natrium  und  -kalium.  Dort,  wo  ihre  Färbung 
und  Giftigkeit  diese  Substanzen  ausschließt,  ist  eine  5  —  100/0 
Lösung  von  Kieselfluormagnesium  zu  verwenden.      Duysen. 


Eine  Beobachtung  über  Variieren  der  Tonhö 
ulatus   dürfte   vielleicht   einiges  Interesse   biegte 


bei  Culex 
Es  zeigte 


sich,  das  Tiere,  deren  Hinterleib  durch  bedeutende  Eiermengen 
aufgetrieben  war,  einen  tieferen  Ton  von  sich  geben ,  als 
solche  mit  nicht  gefülltem  Uterus.  In  gleicher  Weise  den 
Ton  erniedrigend  wirkte  das  Vollsaugen  mit  Blut,  beide  Ur- 
sachen aber  selbständig  nebeneinander,  wie  sich  leicht  an  aus- 
gehungerten Exemplaren  feststellen  ließ.  Diese  Erscheinung 
würde  die  Respirationstheorie  Landois's  entschieden  bekräftigen, 
denn  ein  abnormal  gestalteter  Hinterleib  vermag  doch  nur  dann 
eine  Änderung  der  Tonhöhe  hervorzurufen,  wenn  der  Ton- 
erreger mit  ihm  in  direktem  Zusammenhang  steht.  Aus  dem 
trägeren  Flug  der  dickleibigen  Exemplare  auf  geringere  An- 
zahl von  Flügelschwingen  zu  schließen  und  daraus  den  tieferen 
Ton  zu  erklären,  scheint  mir  verfehlt,  da  doch  die  größere 
Körpermasse  mindestens  der  gleichen  Arbeit  zur  Fortbewegung 
bedarf  wie  vordem;  auch  daß  sie  freiwillig  langsamer  fliegen 
sollten,  läßt  sich  als  unbegründet  nicht  annehmen.  Ferner 
kann  die  Ansicht,  der  Körper  wirke  nur  als  Resonanzboden 
unmöglich  das  Richtige  treften,  da  ein  Resonanzboden  niemals 
die  Tonhöhe  des  Schallerregers  zu  beeinflussen  vermag. 

Fetscher,  stud.  med.,  Lt  d.   R. 


Notiz. 

In  dem  Artikel  „Kristallstruktur  und  Röntgenstrahlen" 
von  Dr.  K.  Schutt  (Naturw.  Wochenschr.  1917  Nr.  38)  sind 
die  Abbildungen  5 — 13  zwei  Aufsätzen  von  Herrn  Geheimrat 
Rinne  entnommen,  die  in  der  Zeitschrift  ,,Die  Naturwissen- 
schaften" (Verlag  J.  Springer  Berlin)  Bd.  IV  (1916)  S.  211  u. 
233  und  Bd.  V  (X917)  S.  49  veröffentlicht  sind.  Leider  ist 
durch  ein  Versehen  ein  Hinweis  auf  den  ersten  der  angeführten 
Artikel  unterblieben.  K.  Seh. 


Inhalt:  E.  Raehlma 
Erblichkeit  im  Ma 
Antworten ;  Mitie 
—  Notiz.  S.  608. 


Goethes  Farbenlehre  und  die  Naturwissenschaft.  S.  601.  —  Einzelberichte:  V.  Haccker,  Die 
itamme.  (2  Abb)  S.  605.  Moritz,  Die  Goldlagerstätten  Arabiens.  S.  607.  —  Anregungen  und 
Bekämpfung  des  Hausschwammes.  S.  608.     Variieren  der  Tonhöhe  bei  Culex  annulatus.  S.  60S. 


Manuskript! 


und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraöe  42, 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 

d.r''ganze'L°'Reiht  f^^^sLä.      \ SoHiitag,  den  4.  November  1917. j Nummer  44. 


Sulfit-  und  Karbidsprit. 


Neue  Verfahren  zur  Erzeugung  von  Alkohol 
[Nachdruck  verboten.]  Von  Hanns  Günther. 

Bei  der  industriellen  Erzeugung  des  Äthylalko 


hols  oder  Spiritus,  der  im  wirtschaftlichen  Leben 
unserer  Zeit  eine  höchst  bedeutsame  Rolle  spielt, 
ging  man  bis  vor  kurzem  überall  von  stärke-  oder 
zuckerhaltigen  Rohstoffen  aus,  unter  denen  die 
Kartoffel  an  erster  Stelle  steht.  Zur  Erzeugung 
von  120  1  Alkohol  sind  lOOO  kg  Kartoffeln  nötig. 
Die  Deckung  der  450  Millionen  Liter  betragenden 
Jahresproduktion  der  deutschen  Spiritusindustrie  er- 
fordert also  ganz  gewaltige  Kartoffelmengen,  während 
andererseits  unsere  Ernährungsverhältnisse  geradezu 
nach  Ausnutzung  jedes  Kilos  Kartoffeln  für  die 
menschliche  Ernährung  schreien.  Ähnliches  gilt 
für  die  übrigen  Rohstoffe  der  Spiritusindustrie 
(Zuckerrübe,  Melasse  und  minderwertiges  Getreide), 
die,  soweit  sie  nicht  unmittelbar  der  menschlichen 
Ernährung  dienen  können,  heute  als  Viehfutter 
bessere  Dienste  leisten.  Den  Spiritus  aber  kann 
man  auch  nicht  entbehren,  denn  einmal  ist  er  bei 
der  heute  herrschenden  Benzin-  und  Benzolknapp- 
heit eines  der  wichtigsten  Treibmittel  für  Kraft- 
wagen-, Rad-  und  Bootsmotoren,  weiter  ersetzt  er 
vielerorts  das  fehlende  Leuchtöl  (Spiritusglühlicht) 
und  Heizgas  (Spirituslampen),  und  drittens  brauchen 
ihn  viele  Zweige  der  chemischen  Industrie,  um  nur 
die  wichtigsten  Verwendungsgebiete  zu  nennen. 
Diese  Sachlage  ließ  es  von  höchster  Wichtigkeit 
erscheinen,  neue  Verfahren  zur  Erzeugung  von 
Alkohol  auszuarbeiten,  die  nicht  auf  als  Nahrungs- 
und Futtermittel  verwendbaren  Rohstoffen  fußen. 
Solche  Versuche  sind  in  den  letzten  15  Jahren 
mehrfach  unternommen  worden,  hauptsächlich 
mit  Holzabfällen  als  Ausgangsmaterial.  Die  Kriegs- 
zeit mit  ihrem  heilsamen  Zwang  der  unbedingten 
Notwendigkeit  hat  uns  eine  noch  wesentlich  wert- 
vollere Lösung  des  Problems  gebracht,  indem  sie 
uns  ein  äußerst  elegantes,  vom  Kalziumkarbid  aus- 
gehendes Verfahren  zur  Alkoholerzeugung  auf  rein 
chemischem  Wege  schenkte;  außerdem  hat  sie 
einem  seit  1909  in  Schweden  ausgeübten  Ver- 
fahren zur  Erzeugung  von  Sprit  aus  Sulfitlauge 
Eingang  in  Deutschland  verschafft,  der  ihm  bisher 
durch  steuergesetzliche  Bestimmungen  verschlossen 
war. 

Die  Sulfitspritfabrikation  beruht  auf  dem  gleichen 
Prinzip  wie  die  bisher  gebräuchlichen  Verfahren 
zur  technischen  Darstellung' von  Alkohol:  Auf  der 
Vergärung  zuckerhaltiger  Stoffe  mit  nachfolgender 
Destillation.  Ein  Unterschied  besteht  nur  darin, 
daß  man  als  Ausgangsmaterial  ein  auf  andere  Weise 
nicht  verwertbares  Abfallprodukt  benutzt,  die 
bei  der  Papierfabrikation  nach  dem  Sulfitverfahren 
übrigbleibende   Sulfiilauge,    die   von    den    meisten 


Fabriken  als  wertlos  in  Flüsse  und  Seen  ausge- 
schüttet wird  und  hier  schwere  Verunreinigungen 
bewirkt.  Das  neue  Verfahren  schlägt  also  zwei 
F'liegen  mit  einer  Klappe:  Es  liefert  uns  einerseits 
den  unentbehrlichen  Sprit  und  macht  andererseits 
aus  einem  überall  als  Plage  empfundenen  Abfall- 
produkt ein  wertvolles  Rohmaterial.  Wie  das  ge- 
schieht, soll  eine  kurze  Erläuterung  der  technischen 
Grundlagen  zeigen. 

Bei  der  Papierfabrikatioa  nach  dem  Sulfitver- 
fahren wird  zerkleinertes  Fichtenholz  in  einer 
Lösung  von  saurem  schwefligsaurem  Kalk  (Kal- 
ziumsulfit) gekocht.  Durch  diesen  Kochprozeß  zer- 
setzt sich  das  Holz  und  zwar  in  der  Art,  daß  die 
Zellstoffasern  frei  werden,  während  sich  die  übrigen 
Bestandteile  der  Holzmasse  in  der  Sulfitlauge  lösen. 
Die  Papierindustrie  benötigt  lediglich  den  Zellstoff, 
der,  nachdem  er  von  der  Kochlauge  geschieden 
und  gereinigt  worden  ist,  auf  Papier  weiter  ver- 
arbeitet wird.  Die  Lauge  hat  für  die  Papier- 
industrie keinen  Wert ;  sie  bildet,  wie  schon  gesagt, 
ein  höchst  lästiges  Abfallprodukt,  um  dessen  tech- 
nische Verwertung  sich  die  beteiligten  Kreise 
schon  seit  Jahrzehnten  bemühen.  Der  Gedanke, 
die  Sulfitlauge  zur  Gewinnung  von  Alkohol 
zu  benutzen,  geht  bis  auf  das  Jahr  1878  zurück, 
wo  Mitscherlich,  der  Schöpfer  der  modernen 
Papierfabrikation,  ihn  zum  erstenmal  aussprach, 
und  hat  in  der  Folgezeit  viele  Forscher  beschäftigt. 
Begründet  ist  die  Möglichkeit,  aus  der  Sulfitlauge 
Alkohol  zu  gewinnen,  darin,  daß  die  organi- 
schen Bestandteile,  die  die  Lauge  beim  Kochen  aus 
der  Holzmasse  löst  (sie  betragen  etwa  100  kg  pro 
Kubikmeter  Lauge),  0,5 — 2  "/o  gewisser  Zuckerarten 
enthalten,  die,  zur  Alkoholgärung  gebracht,  1  —  1,5% 
Alkohol  liefern.  Zwei  schwedische  Chemiker,  die 
Ingenieure  Ekström  und  Valiin  ,  waren  die 
ersten,  denen  es  gelang,  das  Problem  der  Erzeugung 
von  Sulfiisprit  in  industriell  verwertbarer  Weise 
zu  lösen.  Auf  Grund  ihrer  Ergebnisse  wurde  im 
Jahr  1909  von  einer  großen  schwedischen  Papier- 
fabrik, Eigentum  der  „Stora  Kapparbergs  Bergslogs 
Aktiebolag",  die  erste  Sulfitspritfabrik  gebaut,  der 
bald  zwei  weitere  folgten.  Diese  drei  Fabriken 
erzeugen  unter  normalen  Verhältnissen  allein 
jährlich  2,5  Mill.  Liter   looprozentigen  Sprit. 

Um  sich  ein  richtiges  Bild  von  der  Sulfitsprit- 
fabrikation zu  machen,  muß  man  sich  vergegen- 
wärtigen, daß  die  abfallenden  Laugenmengen  ge- 
radezu riesig  sind,  —  eine  Zellstoffabrik  von  30000  t 
Jahresproduktion  liefert  täglich  etwa  3000  hl  Ab- 
lauge, —  während  der  Gehalt  an  zu  vergärendem 
Zucker,  wie  oben  schon  angedeutet,  äußerst  gering 


6io 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


ist.  Hinzu  kommt,  daß  die  Sulfiilauge  erhebliche 
Mengen  freier,  zumeist  organischer  Säuren  enthält, 
die  eine  unmittelbare  Vergärung  unmöglich  machen. 
Die  Lauge  muß  daher  zunächst  entsäuert  werden, 
was  im  heißen  Zustand  durch  Einleiten  in  große 
Betoniürme  und  Behandlung  mit  Atzkalk  und 
kohlensaurem  Kalk  unter  gleichzeitigen  Einblasen 
von  Dampf  geschieht.  Nach  dieser  Vorbehandlung 
wird  die  Lauge  vom  entstehendem  Schlamm  ge- 
reinigt, abgekühlt  und  in  große  Tonnen  aus 
Holz  oder  Beton  bildende,  etwa  lOOm^  fassende 
Gärbottiche  gebracht,  wo  man  sie  mit  Hefe 
und,  da  sie  zu  wenig  Stickstoffnahrung  für  die 
Hefe  enthält,  mit  siickstofi'haltigen  Nährstoffen 
(Ammoniumsalzen  und  sauren  phosphorsauren 
Alkalien]  versetzt,  um  sie  dann  bei  einer  Tem- 
peratur von  29 — 30°  C  zur  Gärung  zu  bringen. 
Der  Gärprozeß  dauert  3 — 4  Tage.  Er  verläuft 
unter  starker  Kohlensäure  •  Entwicklung  und 
Schaumbildung.  Die  fertig  gegorene  Flüssigkeit 
enthält  etwa  1  %  Alkohol.  Ist  die  Alkoholbildung 
beendet,  so  wird  der  Sprit  in  der  üblichen  Weise 
abgetrieben,  wobei  man  die  gewöhnlichen  Destil- 
lattons- und  Rektifikationsapparate  benutzt.  Der 
erzeugte  Alkohol  kann  bequem  in  einer  Gradstärke 
von  96  Volumprozenten  erhalten  werden;  der  bei 
der  Fabrikation  auftretende  giftige  Methylalkohol 
läßt  sich  leicht  vollständig  entfernen. 

Die  Verwendungsgebiete  des  Sulfitsprits  sind 
die  gleichen  wie  die  des  gewöhnlichen  Brennerei- 
spiritus. Vor  allem  kommt  er  dank  seiner  Billig- 
keit als  Brennstoff  für  Kraftwagen-,  Rad-  und  Boots- 
motoren in  Betracht,  auf  welchem  Gebiet  der  Er- 
satz des  Benzins  durch  ein  in  Deutschland  erzeug- 
bares Treibmittel  auch  für  die  Zukunft  von  höchster 
Wichtigkeit  ist.  In  Schweden  hat  man  sogar 
Versuche  mit  der  Verwendung  von  Sulfitsprit  zum 
Eisenbahnbetrieb  (Triebwagen)  gemacht,  die  durch- 
aus befriedigend  ausgefallen  sein  sollen.  Ähnlich 
günstige  Ergebnisse  haben  Versuche  zur  Verwen- 
dung des  Sulfitsprits  für  medizinische  und  chemisch- 
technische Zwecke  (Parfüm-  und  Seifenfabrikation, 
hygienische  und  kosmetische  Mittel  usw.),  sowie 
für  den  Laboratoriumsbedarf  geliefert.  Die  Frage  der 
Verwendbarkeit  ist  also  in  jeder  Beziehung  geklärt.  *) 

Genau  das  gleiche  gilt  für  den  Karbidsprit, 
der  ebenfalls  hinsichtlich  Verwendungsfähigkeit  dem 
gewöhnlichen  Brennereisprit  in  keiner  Weise  nach- 
steht, obwohl  er  nicht  durch  Gärung,  sondern  auf 
einem  sich  von  allen  Gärverfah  ren  grund- 
sätzlich untersche  idenden  Wege,  durch 
rein  chemische  Reaktionen,  gewonnen  wird.  Ver- 
suche, auf  diese  Weise  Alkohol  zu  erzeugen,  sind 
gleichfalls  schon  früh  unternommen  worden;  prak- 
tisch verwertbare  Ergebnisse  wurden  aber  erst  vor 
kurzem  erzielt.  Sehr  aussichtsreich  erschien  eine 
Zeitlang   ein   Verfahren,    das  Äthylen,    ein   brenn- 


')  Angemerkt  sei,  dafl  der  Sulfitsprit  nach  schwedischen 
Angaljen  auch  als  Trinkspirilus  Verwendung  finden  kann,  doch 
kann  er  in  dieser  Beziehung  hinsichtlich  Qualität  nicht  mit  dem 
aus  Kartoffeln  oder  Getreide  hergestellten  konkurrieren. 


bares  Gas,  als  Ausgangspunkt  zu  benutzen.  Äthylen 
(C2H4)  steht  als  Beatandteil  des  Leucht-,  Kokerei- 
und  Ölgases  billig  zur  Verfügung,  kann  aber  auch 
durch  Anlagerung  von  Wasserstoff  an  Azetylen 
(CjHa),  das  bekannte,  durch  Behandlung  von 
Kalziumkarbid  mit  Wasser  entstehende  Gas,  leicht 
gewonnen  werden.  Wie  das  Azetylen  selbst,  so 
besitzt  auch  das  Äthylen  chemisch  den  Charakter 
eines  ungesättigten  Stoffes,  der  es  zu  Additions- 
oder Anlagerungsreaktionen  der  verschiedensten 
Art  befähigt.  Unsinteressiert  von  diesen  Reaktionen 
nur  die,  die  sich  vollzieht,  wenn  man  Äihylen  mit 
warmer  konzentrierter  Schwefelsäure  zusammen- 
bringt, in  der  es  sich  in  beträchtlichen  Mengen 
(bis  zu  14  kg  auf  100  kg  Säure)  löst.  Es  entsteht 
dann  Äthylschwefelsäure  (CHgCHjOSOsH),  die 
sich  beim  Kochen  in  Alkohol  und  Schwefelsäure 
spaltet  (CHgCH^OH  +  H^SOJ. 

Der  Überiührung  dieses  Prozesses  in  die  Praxis 
haben  sich  verschiedene  Hindernisse  entgegenge- 
stellt. Die  billigste  Äihylenquelle  würde  dank 
seines  Äthylengehalts  unser  Leuchtgas  sein,  und 
es  sind  auch  mehrfach  Versuche  gemacht  worden, 
ihm  durch  Behandlung  mit  Schwefelsäure  das 
Äthylen  zu  entziehen.  Ein  praktisch  brauchbares 
Verfahren  aber  wurde  bisher  nicht  gefunden,  so 
daß  man  auf  den  oben  angedeuteten  zweiten  Weg, 
die  Darstellung  aus  Azetylen,  angewiesen  bleibt. 
Die  technische  Durchführung  dieses  Verfahrens 
ist  gleichlalls  lange  Zeit  großen  Schwierigkeiten 
begegnet;  erst  in  der  allerletzten  Zeit  ist  es  gelungen, 
den  Prozeß  in  eine  für  den  Großbetrieb  geeignete, 
mit  gutem  Wirkungsgrad  arbeitende  Form  zu 
bringen  und  so  zu  leiten,  daß  man  nur  das  ge- 
wünschte Äthylen  erhält.  Eine  dritte  und  letzte 
Schwierigkeit  bildet  aber  noch  der  große  Säure- 
bedarf —  um  I  hl  Alkohol  zu  erzeugen,  benötigt 
man  450  kg  Schwefelsäure,  die  allerdings,  wie 
unsere  Darstellung  zeigt,  im  Kreisprozeß  regeneriert 
und  wieder  verwendbar  wird  —  und  daran  ist  die 
praktische  Ausführung  des  Verfahrens  bisher  ge- 
scheitert. 

Erfolgreicher  war  die  chemische  Technik"  mit 
einem  zweiten  Verfahren,  das  gleichfalls  vom 
Kalziumkarbid  bzw.  Azetylen  ausgeht,  aber  nicht 
Äthylen  sondern  Azetaldehyd  als  Zwischenstufe 
benutzt.  Azetaldehyd,  eine  äußerst  reaktionsfähige, 
brennbare  Flüssigkeit,  die  unter  normalem  Druck 
schon  bei  20"  C  siedet,  wird  dadurch  erhalten, 
daß  man  dem  Azetylen  ein  Molekül  Wasser 
chemisch  anlagert.  Die  starke  Reaktionsfähigkeit 
macht  den  Stoff  genau  wie  das  Äthylen  zu  weiteren 
Anlagerungsreaktionen  fähig.  Pügt  man  ihm  ein 
Atom  Sauerstoff  zu,  so  entsteht  Essigsäure 
(dieses  Verfahren  wird  heute  gleichfalls  technisch 
verwertet),  lagert  man  dagegen  zwei  Atome  Wasser- 
stoff an,  so  erhält  man  Alkohol.  Für  diejenigen 
Leser,  die  chemische  Formeln  zu  lesen  verstehen, 
sind  die  ganzen  bei  der  Darstellung  von  Karbid- 
sprit in  Frage  kommenden  chemischen  Prozesse 
nachstehend  kurz  zusammengestellt: 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6ii 


1.  CaO  +         3C 
Gebrannter  Kalk  Koks 

2.  CaQ  +       2H2O 
Kalziumkarbid  Wasser 

3.  QH2  +        H^O 
Azetylen  Wasser 

4.  CH3CHO  +        2H 
Azetaldehyd  Wasserstoff 

Die  industrielle  Nutzbarmachung  dieser  an  sich 
schon  länger  bekannten  Reaktionen  ist  gleichfalls 
großen  Schwierigkeiten  begegnet,  die  sich  ins- 
besondere auf  der  ersten  Stufe  —  der  Darstellung 
des  Azetaldehyds  —  geradezu  häuften.  Dieser 
Vorgang  vollzieht  sich  nämlich  in  Wirklichkeit 
nicht  so  einfach,  wie  es  die  Formeln  und  die  Dar- 
stellung darzutun  scheinen,  sondern  unter  Ent- 
stehung komplizierter  Zwischenprodukte,  deren 
Zerfall  den  gewünschten  Azetaldehyd  liefert.  Diese 
Reaktion  technisch  brauchbar  zu  gestalten,  ist 
erst  in  jüngster  Zeit  gelungen  und  zwar  durch  ein 
Verfahren,  dessen  Prinzip  darin  besteht,  daß  Azetylen 
unter  ständigem  Rühren  in  konzentrierte  oder  ver- 
dünnte heiße  Schwefelsäure  eingeleitet  wird,  in 
der  Quecksilberoxyd  suspendiert  ist.  Wie  die 
Schwefelsäure  wirkt,  ist  noch  nicht  ganz  aufgeklärt, 
doch  scheint  sie  bei  dem  Mechanismus  der  Wasser- 
anlagerung eine  wichtige  Rolle  zu  spielen.  Das 
Quecksilberoxyd  wird  zu  Quecksilber  reduziert, 
das  sich  elektrolytisch  zu  Oxyd  regenerieren  läßt. 
Der  gebildete  Aldehyd  wird  abdestilliert  oder  auf 
andere  Weise  isoliert.  Die  Verarbeitung  auf 
Alkohol  vollzieht  sich  in  der  Praxis  so,  daß  man 
mit  Wasserstoff  gemischte  und  erhitzte  Aldehyd- 
dämpfe über  erhitztes,  als  Katalysator  wirkendes 
Nickeloxyd  leitet,  eine  Operation ,  die  auch  im 
größten  Maßstab  technisch  leicht  durchführbar  ist. 

Die  Ausarbeitung  des  Karbidverfahrens  ist 
zum  größten  Teile  das  Werk  deutscher  Forscher. 
Über  die  Anwendung  des  Verfahrens  in  Deutsch- 
land sind  indessen  z.  Zt.  aus  naheliegenden  Grün- 
den keine  Daten  erhältlich.  In  der  Schweiz  ist 
eine  vorderhand  auf  7000  t  Jahresproduktion  be- 
rechnete Karbidsprit- Fabrik  im  Bau,  die  das  Land 
nach  und  nach  vom  Bezug  ausländischen  Alkohols 
unabhängig  machen  soll.  Die  Anlage  wird  in 
Anlehnung  an  die  Karbidfabrik  Visp  der  Lonza- 
werke  geschaffen,  die  auch  eine  nach  dem  oben 
angedeuteten  Prinzip  arbeitende  Essigsäurefabrik 
ins  Leben  gerufen  haben.  Die  technische  Be- 
deutung des  Karbidverfahrens  liegt  nicht  nur  darin, 
daß  es  unseren  Bedarf  an  Spiritus  ohne  Inan- 
spruchnahme von  Nähr-  und  Futterstoffen  zu 
decken  gestattet,  sondern  auch  darin,  daß  es  das 


=  CaCa  +  CO 

Kalziumkarbid  Kohlenoxyd 

=  C.,Hj  +  Ca(0H)2 

Azetylen  Gelöschter  Kalk 

=        CH3CHO 
Azetaldehyd 

=  CHgCHjOH 
Äthylalkohol 
Anwendungsgebiet  des  Kalziumkarbids  abermals 
in  umfangreicher  Weise  erweitert.  Vor  rund  25 
Jahren  zum  erstenmal  dargestellt,  galt  das  Kal- 
ziumkarbid zunächst  nur  als  wissenschaftlich  in- 
teressantes Präparat,  bis  man  auf  seine  Verwendnng 
zu  Beleuchtungszwecken  (Azetylenlaternen  usw.) 
kam.  Diese  Verwendungsart  ist  lange  Zeit  die 
einzige  geblieben,  hat  aber  heute,  obwohl  sich  die 
Azetylenbeleuchtung  stark  ausgedehnt  hat,  für  die 
Karbidindustrie  an  Bedeutung  wesentlich  einge- 
büßt, weil  in  den  letzten  Jahren  mehrere  neue 
Anwendungsbiete  erschlossen  wurden,  die  die 
Azetylenbeleuchtung  an  Wichtigkeit  weit  über- 
ragen. Ich  erinnere  an  die  Benutzung  des  Aze- 
tylens in  der  Metallindustrie  beim  autogenen 
Schneiden  und  Schweißen,  an  die  Darstellung  des 
Kalziumzyanamids  oder  Kalkstickstoffs  (aus  Kal- 
ziumkarbid und  Luftstickstoff  im  elektrischen 
Ofen),  der  einesteils  als  Stickstoffdünger,  anderen- 
teils als  Ausgangspunkt  für  die  Darstellung  von 
Salpetersäure  gerade  jetzt  eine  äußerst  wichtige 
Rolle  spielt,  weiter  an  die  sogenannten  Chlorsub- 
stitutionsprodukte des  Azetylens,  die  in  vielen 
Fällen  das  Benzin  als  Lösungs-  und  Reinigungs- 
mittel mit  Vorteil  ersetzen  und  schließlich  an  die 
mehrfach  erwähnte  Darstellung  von  Essigsäure, 
die  mit  dem  Spritverfahren  in  die  gleiche  Gruppe 
gehört.  Gerade  auf  diesem  Gebiet  der  Additions- 
und Kondensationsreaktionen,  die  mit  den  stark 
ungesättigten  Eigenschaften  des  Azetylens  zu- 
sammenhängen —  (2  Atome  Kohlenstoff  sind 
beim  Azeiylen  mit  nur  2  Atomen  Wasserstoff 
verknüpft,  können  also,  da  der  Kohlenstoff  vier- 
wertig  ist,  noch  eine  ganze  Anzahl  einwertiger 
Atome  aufnehmen)  —  sind  schon  in  nächster 
Zukunft  weitere  wertvolle  Fortschritte  zu  erwarten. 
Möglicherweise  wird  (oder  ist?)  sogar  auf  diesem 
Wege  das  Problem  des  künstlichen  Kautschuks 
(oder  besser  ge-agt;  seiner  industriellen  Herstellung) 
gelöst.  Verheißungsvolle  Versuche  zur  Verwen- 
dung des  Azetylens  als  Ausgangspunkt  für  die 
Kautschuksynthese  sind  nach  schweizerischen  Be- 
richten schon  seit  längerer  Zeit  an  verschiedenen 
Stellen  im  Gange.  (OC) 


[Nachdruck  verboten.] 


Der  Anthropomorphismus  in  der  Zoologie. 

Von  Univ. -Prof.  Dr.  phil.  u.  med.  Ludwig  Kathariner,  Freiburg  (Schweiz). 


Als  Anthropomorphismus  herrschte  bis  in  die 
Gegenwart  und  herrscht  vielfach  noch  heute  der 
menschliche  Egoismus  in  den  Wissenschaften.  Nach 
ihm  soll  der  Mensch  vielfach  in  physiologischen 
Fragen  maßgebend    sein;    der  Eindruck,   welchen 


ein  Reiz  auf  seine  Sinnesorgane  ausübt,  soll  in 
qualitativ  und  quanthativ  gleicher  Weise  auch  bei 
den  anderen  Lebewesen  einwirken.  Was  auf  ihn 
einen  angenehmen  Eindruck  macht,  soll  auch  dem 
Tier  gefallen    und   umgekehrt.     Einen   Irrtum   als 


6l2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


solchen  zu  erkennen,  ist  in  der  Biologie  einmal 
deshalb  besonders  schwierig,  weil  er  sich  meistens 
nicht  rechnerisch  erweisen  läßt,  dann  aber  auch, 
weil  kein  Normalorganismus  bekannt  ist,  der  den 
Maßstab  liefern  könnte,  weil  ferner  die  Tiere  häufig 
zweilellos  über  Sinnesorgane  verfügen,  welche  dem 
Menschen  fehlen,  und  endlich,  weil  in  vielen  Fragen 
der  Geschmack  den  Ausschlag  gibt,  welcher  doch 
schon  bei  den  verschiedenen  menschlichen  Individuen 
verschieden  ist.  Über  alle  diese  Schwierigkeiten, 
ja  Unmöglichkeiten  sieht  man  nur  allzu  häufig 
leichten  Herzens  bei  der  Beurteilung  biologischer 
Fragen  hinweg,  mitunter  in  geradezu  unglaublicher 
Weise.  Der  Biologe  begehl  leichi  einen  entsprechen- 
den Fehler  besonders  dann,  wenn  er  einen  Be- 
weisfür seine  Ansichten  zu  finden  glaubt.  Besonders 
fruchtbar  an  diesem  biologischen  Unkraut  waren 
die  letzten  Jahrzehnte  des  vorigen  Jahrhunderts. 
Kritiklos  wurden  von  der  großen  Menge  die  dar- 
winistischen  Leitsätze  aufgenommen.  Unzählige 
Einzelfalle  von  Beobachtungen  wurden  nicht  nur 
in  der  Fachliteratur,  sondern  noch  mehr  unter 
dem  Strich  in  den  Tageszeitungen  veröffentlicht 
und  gläubig  hingenommen,  von  wem  sie  auch 
kamen,  falls  sie  nur  unter  einer  willkommenen 
wissenschaftlichen  Marke  liefen.  Fälle  von  Mimikry, 
Schutz-  und  Trutzfärbung  und  Zeichnung  bildeten 
meistens  den  Gegenstand  derartiger  populärer 
Forsch  ungsergebn  isse. 

Wenn  ein  Analogieschluß  vom  Menschen  auf 
das  Tier  richtig  sein  soll,  so  müssen  drei  Bedin- 
gungen unweigerlich  zutreffen.  Ist  eine  einzige 
von  ihnen  nicht  erfüllt,  so  beruhen  die  Voraus- 
setzungen des  biologischen  Schlusses  auf  Irrtum 
und  er  fällt  in  Nichts  zusammen.  Besonders  ver- 
dient um  die  kritische  moderne  Biologie  machte 
sich  der  Münchener  Ophthalmologe  Prof.  Dr. 
C.  v.  Heß.  Von  den  drei  Bedingungen,  welche 
eine  biologische  Tatsache  unbedingt  erfüllen  muß, 
prüft  er  vor  allem  die  physiologische  Seite  eines 
biologischen  Falles.  In  psychologischer  Hinsicht 
entscheidet  der  Versuch  und  daß  die  physikalische 
Möglichkeit  eines  Geschehens  vorliegen  muß, 
dürfte  für  niemand  zweifelhaft  sein. 

Ein  besonders  krasses  Beispiel  falscher  Schluß- 
folgerung bildet  die  Zeichnung  auf  dem  Rürken 
des  Totenkopfschwärmers.  Daß  die  menschliche 
Phantasie  unschwer  darin  eine  Ähnlichkeit  mit  dem 
menschlichen  Totenkopf  erkennt,  ließ  die  Anhänger 
der  Schreckzeichnungshypothese  darüber  hinweg- 
sehen, daß  das  Bild  auf  dem  Rücken  des  Schwärmers 
nur  klein  ist  und  keinerlei  Perspektive  Körperlichkeit 
vortäuscht.  Dazu  kommt,  daß  der  tierische  Feind 
wohl  kaum  die  Gelegenheit  hatte,  einen  mensch- 
lichen Totenschädel  zu  sehen  und  daß  ein  solcher 
alles  Furchterregende  verliert,  wenn  er  nicht  die 
Gedanken  an  die  Schmerzen  des  Todes  und  Furcht 
vor  Strafe  im  Jenseits  erregt.  Es  wäre  aber  eine 
willkürliche  Annahme,  derartige  Voraussetzungen 
als  für  den  tierischen  Feind  zutreffend  zu  halten. 
Daß  man  sich  vielfach  nicht  gescheut  hat,  der 
Hypothese  zulieb  so  weit  zu  gehen,  ja  noch  weiter, 


ergibt  sich  aus  der  Speziesbezeichnung  einer  tro- 
pischen Acherontia  als  A.  satanas;  wahrscheinlich 
wird  die  Art  so  genannt,  weil  deren  Zeichnung 
einer  Teufelfratze  ähnelt,  wie  man  sie  auf  alten 
Bildern  sieht. 

Wenn  sich  nun  auch  gewissenhafte  Forscher 
gescheut  haben,  eine  derartige  unbegründete  Über- 
treibung mitzumachen,  so  beruhen  doch  gewisse 
biologische  Lehrgebäude  auf  einer  zweifellos  irrigen 
Voraussetzung.  Diese  besteht  darin,  daß  man, 
auf  einer  Irrlehre  der  Zoologie  fußend,  die  Blüten 
vielfach  einteilt  in  Windblütler  (anemophile)  und 
Insektenblütler  (entomophilej.  Man  geht  dabei 
davon  aus,  erstere  seien  bei  ihrer  Bestäubung 
darauf  angewiesen,  daß  ihnen  die  bewegte  Luft 
den  Blütenstaub  zuführe,  während  andererseits  die 
Insektenblütler  durch  ihren  süßen  Nektarsaft  Kerb- 
tiere zum  Besuche  verlocken,  gelegentlich  dessen 
sie  Blütenstaub  von  einer  Blume  auf  die  andere 
übertragen.  Durch  leuchtende  Farben  und  Zeich- 
nungen sollen  die  Insekten  angezogen  und  zur 
Honigquelle  geführt  werden.  Wird  doch  die 
bunte  Färbung  der  Blüten  häufig  als  Aushänge- 
schild   bezeichnet  und  von  Saftmalen  gesprochen. 

In  den  Lehrbüchern  der  Zoologie  wird  ganz 
unbedenklich  von  Hochzeitskleid,  Prachtfärbungen, 
den  lebhaften  Farben  der  Tiefseetiere  usw.  geredet. 
Angenommen  wird  dabei,  daß  die  Tiere  die  be- 
treffenden Farben  geradeso  wahrnehmen,  wie  sie 
dem  menschlichen  Beobachter  erscheinen;  nicht 
genug  damit,  wird  auch  angenommen,  daß  sie 
auch  seinen  Geschmack  teilen.  Diese  Voraus- 
setzungen sind  nun  als  hinfällig  und  damit  auch 
die  auf  ihnen  basierenden  Schlüsse  vielfach  als 
falsch  nachgewiesen  worden.  C.  v.  Heß  fand  nämlich 
bei  zahlreichen  Untersuchungen  über  das  Farben- 
sehen der  Tiere,  daß  viele  von  letzteren  gar  nicht 
das  Vermögen  haben,  Farbenwahrnehmungen  zu 
machen,  und  daß  man  bisher  Helligkeits-  und 
Färbungsunterschiede  nicht  scharf  auseinander  hielt. 
Alle  Wirbellosen,  einschließlich  der  Insekten  haben 
nach  ihm  kein  Farbensehen;  Farbenwahrnehmungs- 
vermögen und,  was  uns  darauf  zu  beruhen  scheint, 
findet  vielmehr  in  dem  verschiedenen  Helligkeits- 
grad des  gesehenen  Objekts  seine  ausreichende 
Erklärung;  von  den  Wirbeltieren  fehlt  auch  den 
im  Wasser  lebenden  Arten  das  Farbensehen.  Alles 
erscheine  den  genannten  Wirbeltieren  und  sämt- 
lichen Wirbellosen,  je  nach  der  größeren  oder 
geringeren  Helligkeit  in  hellerem  und  dunklerem 
Grau.  Auch  die  in  der  Luft  lebenden  Wirbeltiere 
können  vielfach  nicht  dieselbe  Farbenempfindung 
haben,  wie  der  Mensch;  die  Netzhaut  hat  meistens 
Eigenschaften,  aus  welchen  sich  diese  Folgerung 
mit  Notwendigkeit  ergibt.  Auch  ihnen  erscheint 
nur  heller  oder  dunkler  Grau  getönt,  was  unserem 
Auge  durch  leuchtende  Farben  imponiert.  Sind 
die  beiden  erstgenannten  Bedingungen  für  die 
Möglichkeit  des  Farbensehens  ungünstig,  so  er- 
übrigt sich  alles  Weitere.  Sind  sie  nicht  gegeben, 
so  bliebe  ein  dritter  Weg  offen,  auf  welchem  das 
Vorhandensein    oder    Fehlen    eines    Farbenwahr- 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


613 


nehmungsvermögens  geprüft  werden  kann.  Es 
werde  das  Verhalten  des  lebenden  Tieres  unter 
möglichst  normalen  Verhältnissen  beobachtet.  Aus 
seinem  Verhalten  gegenüber  einem  Objekt,  dessen 
Farbenqualitäten  einen  farbenblinden  Menschen 
verborgen  sind,  darf  man  per  analogiam  schließen, 
daß  auch  ihm  das  Farbenwahrnehmungsvermögen 
fehlt.  Aber  auch  ohne  „Testsubjekt"  kann  man 
mit  Berechtigung  den  betreftenden  Schluß  ziehen, 
wenn  das  biologische  Verhalten  des  untersuchten 
Tieres  zu  ihm  nötigt;  ist  doch  auch  sonst  in  der 
Biologie  aus  unbestrittenen  Handlungen  eines 
Tieres  auf  seine  Empfindungen  zu  schließen. 

Was  nun  die  physikalische  Seite  der  Frage  anbe- 
langt.so  ist  unbestreitbar,daß  selbst  im  klarsten  Wasser 
das  Sonnenlicht  nicht  Hunderte  oder  gar  Tausende 
von  Metern  tief  vordringen  kann.  Ein  Sehen  in 
diesen  Tiefen  ist  also  wegen  der  völligen  Finsternis 
ausgeschlossen  und  doch  sind,  wie  wir  durch  die 
neueren  Meeresforschungen  wissen,  die  Organismen 
des  Grundes  der  wärmeren  Meere  häufig  durch  eine 
überraschende  Farbenpracht  ausgezeichnet.  Mutatis 
mutandis  gilt  das  für  die  Farbenpracht  Gesagte  auch 
für  die  Formenschönheit  der  Tiefseeorganismen. 
Bei  der  Beurteilung  der  Formenschönheit,  welche 
die  Glasschwämme  der  Meerestiefen  aufweisen, 
ist  außerdem  zu  bedenken,  daß  die  Abbildungen 
von  ihnen  in  der  Regel  nur  das  gesäuberte  Kiesel- 
skelett darstellen,  welches  beim  lebenden  und  im 
Grund  steckenden  Tier  größtenteils  von  den  Zellen 
des  Weichkörpers  eingeschlossen  ist.  Außerdem 
ist  zu  bedenken,  daß  die  Schätzung  der  Formen- 
schönheit dieser  Gebilde  zur  Voraussetzung  hat, 
daß  man  das  Ganze  überblickt;  bei  einem  Tier 
trifft  das  meistens  nicht  zu. 

Wie  leichtfertig  vielfach  bei  der  Deutung  der 
Form  und  Färbung  der  Tiefseeorganismen  ver- 
fahret! wurde,  zeigen  zahlreiche  Beispiele,  wo  aus 
der  Übereinstimmung  einer  Art  mit  dem  von  ihm 
bewohnten  Tierstock  —  etwa  Krabbe  oder  Schnecke 
und  Schwamm  —  eine  Schutzfärbung  abgeleitet 
wurde.  Und  doch  fehlt  hier  meistens  unzweifelhaft 
jede  physikalische  Möglichkeit  einer  optischen 
Täuschung. 


Ein  Beispiel  dafür,  daß  die  physiologische 
Voraussetzung  nicht  zutrifft,  ist  die  Prachtfärbung 
und  das  stolze  Kleid  blau  gefärbter  Vogelarten, 
wie  Eisvogel,  Mandelkrähe  usw.  Die  prächtige 
blaue  Farbe  könnte  nur  den  Eindruck  eines 
helleren  oder  dunkleren  Grau  machen,  wenn  die 
farbenempfindlichen  Zellen  oder  Netzhaut,  die 
Zapfen  in  ihrem  Zellkörper  Ölkugeln  enthalten, 
wie  dies  beim  Huhn  der  Fall  ist.  Durch  die 
gelben  Ölkugeln  werden  nämlich  die  blauen 
Strahlen  absorbiert  und  können  nicht  zur  Wahr- 
nehmung gelangen.  Daß  dies  beim  Huhn  der  Fall 
ist,  hat  V.  Heß  durch  einen  Versuch  am  lebenden 
Tier  festgestellt.  Als  einem  Huhn  ein  Streifen 
von  Getreidekörnern  vorgestreut  und  mit  den 
Spektralfarben  beleuchtet  wurde,  ließ  das  Huhn 
die  vom  blauen  Licht  getroffenen  Körner  unbe- 
achtet, während  es  die  andersfarbigen  aufpickte. 
Den  Grund  für  diese  Blaublindheit  sieht  v.  Heß 
in  den  gelben  Ölkugeln  der  Netzhautzellen. 

Ein  weiteres  Beispiel  für  Lichtwahrnehmungen 
von  Strahlen,  die  unserem  Auge  entgehen,  bildet 
das  ultraviolette  Licht.  Ameisen  fliehen  das  Licht 
und  suchen  dunkle  Verstecke  auf  Wurde  nun  in 
einem  Versuch  ein  für  uns  dunkler  Ort  von  ultra- 
violettem Licht  getroffen,  so  blieb  es  für  das 
menschliche  Auge  nach  wie  vor  dunkel,  wäh- 
rend ihn  die  lichtscheuen  Ameisen  flohen.  Sie 
hatten  also  offenbar  durch  ultraviolette  Strahlen 
einen  Eindruck  von  Helligkeit  bekommen,  der  uns 
durchaus  fehlt.  Noch  zahlreicher  sind  die  Beispiele, 
in  welchem  die  Mensch  und  Tier  gemeinsamen 
Sinneswahrnehmungen  bei  letzteren  eine  Stufe 
erreichen,  an  die  selbst  die  schärfsten  menschlichen 
Sinne  nicht  heranreichen.  Denken  wir  an  den 
feinen  Geruchssinn  des  Wildes,  die  Spürnase  des 
Jagd-  und  Polizeihundes,  das  Auge  des  Adlers  usw. 

In  vielen  Fällen  sind  wir  auch  nicht  imstande, 
ohne  weiteres  zu  entscheiden,  ob  die  Tätigkeit 
eines  bekannten  Sinnes  vorliegt,  so  beim  Finden 
des  Heimwegs  durch  einen  verirrten  Hund  oder 
eine  entfernte  Hauskatze  und  bei  der  Rückkehr 
der  Zugvögel  zum  alten  Nistplatz. 


Einzelberichte. 


Meteorologie.  Geschützfeuer  und  Wetterlage. 
Von  großem  Interesse  ist  die  Frage,  ob  durch  das  an- 
dauernde Geschützfeuer  und  die  Minensprengungen 
an  der  Westfront  derartige  Störungen  in  der  Atmo- 
sphäre hervorgerufen  werden,  daß  sich  dies  in  der 
Wetterlageausspricht,  namentlich  ob  dadurch  Regen- 
fälle verursacht  werden  können.  Für  die  weite  Ver- 
breitung der  Annahme,  daß  Explosionen  auf  der 
Erdoberfläche  sich  auch  in  den  höheren  Schichten 
der  Atmosphäre  gehend  machen,  spricht  ja  das 
Aufkommen  dersogenannten Hagelkanonen  nament- 
lich in  den  Weinbau  betreibenden  Bezirken  in  den 
letzten  Jahren;  meinte  man  doch  damit  die  Bildung 


von  Hagelwolken  verhindern  zu  können.  G.  Le- 
moine  spricht  sich  entschieden  dahin  aus,  daß 
das  Geschützfeuer  nur  einen  Lokalregenfall  von 
kurzer  Dauer  verursachen  könnte,  während  aus- 
gedehnte und  lang  anhaltende  Regenfälle,  etwa 
solche,  welche  Überschwemmungen  verursachten, 
große  Luftströmungen  in  der  Atmosphäre  voraus- 
setzten. 

Vor  dem  Kriege  habe  man  viel  mit  den 
Hagelkanonen  (Artillerie  de  paragrele)  gearbeitet. 
In  Oberitalien  sei  die  Frage  eingehend  geprüft 
worden;  die  italienische  Regierung  habe  aber  die 
Versuche   eingestellt,    weil   sie    kein  positives  Re- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


sultat  ergaben.  In  den  letzten  Sitzungen  der  Pa- 
riser Akademie  der  Wissenschaften  kam  die  An- 
gelegenheit wiederholt  zur  Erörterung.  Sie  wurde 
verschieden  beantwortet,  so  daß  die  Frage 
offen  geblieben  ist. 

Für  die  Möglichkeit  einer  Beeinflussung  durch 
das  andauernde  Geschützfeuer  sprach  in  der  Sitzung 
vom  23.  April  1917  H.  Deslandres  (Influ- 
ence  des  cannonades  intenses  et  prolongees  sur 
la  chute  de  la  pluie.  C.  R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  17, 
191 7).  Schon  seit  alters  sei  die  Meinung  ver- 
breitet, daß  lang  andauernde  Kanonaden  von 
Schlachten  Niederschläge  in  Form  von  Regen- 
güssen verursachen.  So  folgte  ein  heftiger  Regen 
der  Schlacht  von  Ligny  (16.  Juni  1815)  und  am 
folgenden  Tage  wurde  dadurch  die  Schlacht  von 
Waaterloo  so  lange  hinausgezogen,  bis  „die  Preu- 
ßen kamen".  In  der  Schlacht  von  Solverino  brach' 
ein  heftiges  Gewitter  aus,  welches  den  Öster- 
reichern erlaubte,  sich  rechtzeitig  zurückzuziehen. 
Ähnliches  sei  im  gegenwärtigen  Weltkrieg  wieder- 
holt eingetreten.  Auf  bloßen  Zufall  könne  man 
das  Zusammenfallen  nicht  zurückführen.  Jeden- 
falls aber  sei  es  von  Interesse,  die  Frage  weiter 
zu  verfolgen  und  eventuell  klarzustellen.  Durch 
das  Artilleriefeuer  werde  eine  derartige  Menge 
von  elektrischen  Ionen  in  die  Atmosphäre  ge- 
schickt, daß  sich  der  Wasserdampf  darin  leicht 
kondensieren,  und  es  regnen  könne.  Beim  Feuern 
mit  Tausenden  von  Kanonen  und  Hunderltau- 
senden von  Gewehren  werde  ferner  die  Luft  durch 
Reibung  der  Geschosse  an  der  Luft  stark  elektrisch 
geladen.  Sie  werde  plötzlich  verschoben,  bei  den 
Sprengungen  werden  die  ionisierten,  in  dem  Erd- 
reich eingeschlossenen  Luftteilchen  frei  gemacht, 
die  Explosionsgase  und  das  heiße  Gas  aus  den 
Röhren  der  Feuerwaffen  steigen  in  die  höheren 
Luftschichten  auf  usw.  Es  sei  also  ganz  wahr- 
scheinlich, daß  eine  derartige  Durchmischung  der 
atmosphärischen  Luft  einen  Einfluß  auf  die  Kon- 
densation des  Wasserdampfs  habe.  Jedenfalls  aber 
komme  das  Geschützfeuer  gegenüber  den  gewöhn- 
lichen Ursachen  für  die  Gestaltung  des  Wetters 
kaum  in  Betracht.  Die  großen  Luftströmungen, 
welche  vom  Ozean  kommen,  bringen  Regen  und 
Gewitter  und  werden  in  dieser  Beziehung  die 
erste  Rolle  behalten.  Das  Geschützfeuer  dagegen 
setze  eine  mit  Wasserdampf  fast  gesättigte  At- 
mosphäre voraus  und  könne  in  diesem  Fall 
Regen  veranlassen;  wenn  die  Luft  aber  trocken 
sei,  habe  es  keinen  Effekt.  Ohne  es  würde  der 
Regen  viel  später  und  in  viel  größerer  Entfernung 
niedergegangen  sein  oder  der  Wasserdampf  hätte 
sich  in  der  Atmosphäre  zerstreut. 

In  der  nächsten  Sitzung  behandelte  den  Gegen- 
stand der  General  Sebert  (Les  violentes  canno- 
nades peuvent  elles  provoquer  la  pluie?  C.  R. 
Ac.  sc.  Paris  Nr.  18,  19 17).  Er  meint,  Deslan- 
dres habe  zu  ausschließlich  die  Beeinflussung 
des  Wetters  an  Ort  und  Stelle  im  Auge  gehabt. 
Man  müsse  aber  auch  die  Umgestaltungen  berück- 
sichtigen,   welche     dadurch    bedingt   seien,    daß 


infolge  der  Windströmung  die  Kanonade  ganz 
wo  anders  wirke,  als  am  Ort  der  Kanonade. 
In  demselben  Sinn  äußerte  sich  auch  in  der 
gleichen  Sitzung  G.  Lemoine  (Observations 
sur  la  communication  de  M.  Deslandres.  C. 
R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  17,  1917).  Jedenfalls  scheine 
es,  daß  durch  die  Kanonade  nur  schwacher  und 
kurzdauernder  Lokalregen  hervorgerufen  werden 
könne.  Man  könne  sich  nun  fragen,  ob  in- 
folge der  furchtbaren  Kanonade  auf  der  West- 
front in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  atmosphärische 
Störungen  nicht  auch  in  weiterer  Entfernung 
manchmal  heftige  und  langdauernde  Regengüsse 
verursachen.  Manche  Nachrichten  lassen  erkennen, 
daß  sich  die  atmosphärischen  Störungen  nach 
verschiedenen  Richtungen  hin  ausgebreitet  haben 
bis  in  sehr  weite  Entfernungen.  Seit  Beginn  habe 
man  ungewöhnliche  Erscheinungen  beobachtet, 
wenigstens  in  der  letzten  Zeit  des  Schützen- 
grabenkriegs, wo  die  Granaten-  und  Minenexplo- 
sionen intensiver  geworden  seien.  In  Frankreich 
glaube  man  allgemein,  daß  damit  heftige  Regen- 
güsse zusammenhingen.  Oft  habe  sich  auch  eine 
ganz  unerwartete  Änderung  des  Wetters  eingestellt, 
welche  der  Barometerstand  nicht  voraussehen  ließ. 
So  seien  ganz  unerwartete  Regengüsse  plötzlich 
ohne  jeden  Übergang  auf  schönes  Wetter  ge- 
folgt. Im  Winter  seien  erhebliche  Temperatur- 
änderungen eingetreten,  namentlich  in  Südfrank- 
reich, in  Spanien  und  selbst  in  Algerien  Kälte 
und  Schneefälle.  Für  diese  ungewöhnlichen  Er- 
scheinungen auch  in  weit  entfernten  Gegenden 
lasse  sich  kein  anderer  Grund  finden  als  die  un- 
gewöhnlichen Kriegsereignisse.  Deslandres 
habe  schon  daran  erinnert,  daß  mitunter  infolge 
großer  Schlachten  ein  so  starker  Regen  eingetreten 
sei,  daß  er  auch  den  zeitgenössischen  Chronisten 
aufgefallen  sei.  Während  des  Krimkrieges, 
wo  es  also  noch  keinen  Telegraphen  gab,  so  daß 
eine  Neuigkeit  nur  relativ  langsam  nach  Frankreich 
kam,  machte  sich  ein  Apotheker  von  Saint  Brieuc 
M.  le  Maout  dadurch  bekannt,  daß  er  große 
Schlachten  auf  weite  Entfernung  hin  aus  plötz- 
lichen Regengüssen  folgerte.  Ein  glücklicher 
Zufall  wollte  es,  daß  der  Kriegsminister  durch 
ihn  zuerst  von  der  Schlacht  bei  Inkermann  und 
dem  Treffen  bei  Sebastopol  erfuhr.  Dies  ver- 
schaffte ihm  eine  gewisse  Berühmtheit,  und  er 
setzte  es  durch,  daß  man  offizielle  Versuche  da- 
rüber anstellte,  ob  es  möglich  wäre,  durch  Kanonen- 
schüsse Regen  herbeizuführen.  Es  ist  aber  leicht 
zu  verstehen,  daß  das  Geschützfeuer  und  die 
Minenexplosionen  nur  dann  Regen  veranlassen, 
wenn  die  atmosphärische  Luft  mit  Wasserdampf 
nahezu  gesättigt  ist.  Ebenso  wußte  le  Maout 
immer  zuerst  von  großen  Treffen  im  italienischen 
Feldzug.  Die  Erfolge,  welche  er  hatte,  sind 
nur  unter  der  Voraussetzung  zu  verstehen,  daß 
eine  Kanonade  sich  in  großer  Entfernung  äußerte; 
wahrscheinlich  breiten  sich  Luft-  und  Gasströme 
in  den  höheren  Schichten  der  Atmosphäre  aus. 
Eine  derartige  plausible  Annahme  erinnert  an  die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Erscheinungen,  welche  nach  dem  Ausbruch  des 
Vulkans  Kakatau  selbst  in  Europa  in  den  oberen 
Schichten  der  Atmosphäre  zu  sehen  waren.  Es 
macht  dies  die  Annahme  begreiflich,  daß  heftige, 
sonst  unerklärliche  und  unerwartete  Regengüsse 
durch  das  heftige  Geschützfeuer  an  der  Front 
verursacht  wurden.  Der  offizielle  Wetterbericht 
wolle  freilich  nichts  davon  wissen,  da  die  An- 
nahme durch  keine  einzige  einwandfreie  Beobach- 
tung gestützt  wurde.  In  der  Tat  sei  die  Menge 
des  Regens  nicht  wesentlich  verschieden  vom 
Durchschnitt  des  Vorjahrs.  Man  sage,  die  Gesamt- 
masse der  Gashülle  des  Erdballs  wäre  viel  zu 
groß,  als  daß  das  Hinzukommen  der  genannten 
Gase  eine  merkliche  Änderung  herbeiführen  könnte. 
Es  handle  sich  aber  gar  nicht  um  eine  Gleich- 
gewichtsstörung der  Gesamtmasse  oder  auch  nur 
eines  größeren  Teils  derselben.  Die  zahlreichen 
Kanonen-,  Gewehrschüsse  und  Minenexplosionen 
erzeugen  doch  eine  Menge  warmer  Luft,  welche 
in  die  Höhe  steige,  die  kalten  Luftschichten  in 
der  Atmosphäre  verdränge.  Es  sei  nun  doch 
wahrscheinlich,  daß  diese  Luft  durch  die  gerade 
herrschenden  Winde  in  einer  bestimmten  Richtung 
fortgeführt  werde.  In  gewissen  anderen  Ortschaften 
könne  sie  Regenfälle  veranlassen,  wenn  sie  auf 
ihrem  Weg  mit  Luftschichten  zusammenstoße, 
die  wärmer  und  mit  Wasserdampf  gesättigt  seien. 
Es  brauche  sich  nun  durchaus  nicht  um  eine  all- 
gemeine Verschiebung  in  der  Atmosphäre  zu 
handeln.  Analoges  könne  man  ja  auch  an  einem 
Fluidum  in  einer  Glaskuvette  oder  in  der  Atmo- 
sphäre im  kleinen  an  den  Verschiebungen  be- 
obachten, die  durch  den  Dampf  aus  Fabriken  und 
Werkstätten  hervorgerufen  werden.  Um  die  so 
formulierte  Hypothese  auf  ihre  Richtigkeit  zu 
prüfen,  müsse  man  einerseits  die  Zeit  des  heftigen 
Geschützfeuers  und  andererseits  ungewöhnliche 
regionale  Regenfälle  in  der  weiteren  Umgebung 
und  zugleich  die  Richtung  des  in  den  oberen 
Schichten  herrschenden  Windes  feststellen. 

Nach  Aufhören  des  Schießens  müssen  derartige 
Feststellungen  gemacht  werden,  wobei  man  die 
an  Ort  und  Stelle  gemachten  Beobachtungen  zu 
berücksichtigen  habe;  die  hauptsächlichsten  Tage, 
an  denen  der  Artilleriekampf  eine  bedeutende 
Rolle  spiele,  seien  ja  bekannt.  Man  müsse  nun 
nachforschen,  was  zu  gleicher  Zeit  anderwärts 
beobachtet  werde;  das  meteorologische  Bureau 
gebe  nicht  wie  sonst  tägliche  Bulletins  heraus, 
aus  denen  man  den  Barometerstand  und  die 
Windrichtung  ersehen  könne;  solche  Angaben 
könnten  sonst  vom  Feind  für  seine  Luftangriffe 
verwertet  werden.  Man  sei  also  vorläufig  für  die 
Beweisführung  auf  die  Angaben  in  früheren  Jahr- 
gängen von  meteorologischen  Zeitschriften  be- 
schränkt. Kalhariner. 

Botanik.  Die  Vegetation  des  Amazonasge- 
bietes. Unter  den  Forschern,  die  unsere  Kenntnisse 
von    der    so    reichen   Pflanzenwelt   Brasiliens    ge- 


fördert haben,  steht  E  r  n  s  t  U 1  e ,  der  am  15.  Juli 
191 5  viel  zu  früh  Verstorbene,  an  erster  Stelle. 
Wie  kein  anderer  kannte  er  das  gewaltige  Urwald- 
gebiet des  Amazonenstromes,  hat  er  es  doch  in 
langjährigen  Reisen  durchforscht  und  in  fast  90 
wissenschaftlichen  Arbeiten  darüber  berichtet. 
Noch  wenige  Monate  vor  seinem  Tode  gab  er  in 
zwei  Vorträgen  ein  treffliches  Bild  des  weiten 
Gebietes  und  der  eigenartigen,  noch  lange  nicht 
vollständig  bekannten  biologischen  Verhältnisse 
seiner  Flora  (Biologische  Beobachtungen  im 
Amazonasgebiet.  Vortr.  a.  d.  Ges.-geb.  d.  Bot.  3. 
Berlin  1915;  Die  Vegetation  des  Amazonasgebietes. 
Verh.  Bot.  Ver.  Brandenburg  LVII.  56—75.  Berlin 
1916). 

Mit  einem  Stromgebiet  von  über  7  Millionen 
D- Kilometern  ist  der  Amazonenstrom  der  größte 
und  zugleich  wasserreichste  Fluß  der  Erde.  Die 
hier  herrschende  hohe,  nur  geringen  Schwankungen 
unterworfene  Wärme,  große  Feuchtigkeit  mit  häu- 
figen Niederschlägen  und  große  Windstille  haben 
zur  Entwicklung  mächtiger  Urwälder  geführt,  der 
Hylaea  Humboldts,  die  nur  stellenweise  durch 
offene,  mit  Gebüsch  bewachsene  C  a  m  p  i  n  a  s  oder 
die  Gras  und  Kräuter  tragenden  Campos  (Sa- 
vannen) unterbrochen  wird.  Fauna  wie  Flora 
weisen  darauf  hin,  daß  das  Amazonasgebiet  früher 
ein  Meeresbecken  gewesen  ist.  Nach  seiner  Hebung 
entwickelte  sich  eine  reiche  Vegetation,  die  zum 
großen  Teil  auch  darauf  beschränkt  geblieben  ist, 
da  die  es  begrenzenden  trockeneren  Savannen  viele 
Pflanzen  an  weiterer  Verbreitung  hinderten.  Der 
Wechsel  einer  regenreichen  und  regenarmen  Pe- 
riode bedingt  alljährlich  ein  gewaltiges  Steigen 
der  Flüsse  (bis  20  Meter!),  die  dann  oft  mehrere 
Monate  lang  die  Wälder  weithin  überschwemmen. 
Dies  Gebiet  wird  Varzea  oder  Igapö  genannt, 
das  überschwemmungsfreie  Land  dagegen  Terra 
firme  oder  Ca  et  6.  In  beiden  ist  der  Wald  ver- 
schieden zusammengesetzt,  namentlich  an  den 
„weißen  Flüssen",  die  alluviale  Niederungen  durch- 
strömen und  daher  durch  Schlammteile  hell  ge- 
färbt sind.  Die  „schwarzen  Flüsse"  dagegen  sind 
kalkarmen  Gebieten  eigen,  wo  die  Humusteile  nicht 
gelöst  werden  können  und  das  Wasser  daher  tief 
dunkel  färben.  Charakterbäume  der  Uferwälder 
sind  überall  die  Fächerpalme  Maiin'fia  flexuosa 
L.  f.  und  die  Fiederpalme  Eidcrpe  oleracea  Mart. 
Am  Ufer  der  weißen  Flüsse  finden  wir  auch  oft 
windenartige  Sträucher,  Salix  Martiana  Seyb. 
oder  Aklwriiea  castanci/oUa  A.  Juss.,  in  deren 
Hintergrund  die  hohen,  hellen  Stämme  von  Ce- 
cropia  lockere  Bestände  bilden.  Manche  Pflanzen 
wachsen  ausschließlich  in  dem  Überschwemmungs- 
gebiet wie  Hevea  brasiliensis  Müll.  Arg.,  die  den 
besten  und  meisten  Kautschuk  liefert,  während 
andere  sich  der  fast  amphibischen  Lebensweise 
nicht  angepaßt  haben.  So  ist  der  Wald  der  Terra 
firme,  dessen  Bestände  geschlossener  sind  und  aus 
kräftigeren  Bäumen  bestehen,  viel  mannigfaltiger 
und  üppiger.  Im  Unterholz  herrscht  oft  ein  dor- 
niges    Rohr,     Gtmdua     Weberbaueri    Pilg.,    vor, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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daneben  sind  kleine  Palmen,  Musaceen,  IVIaran- 
thaceen  und  Zingiberaceen  häufige,  und  am  Rande 
treffen  wir  Bestände  von  Hclicornia.  An  den 
schwarzen  Flüssen  ist  der  Gegensatz  von  Igapö 
und  Terra  firme  weniger  groß.  Andere  Arten, 
auch  Palmen  setzen  den  weniger  hohen,  doch 
mehr  durchwachsenen  Wald  zusammen.  Der  hier 
ältere  und  festere  Boden  ist  stellenweise  so  trocken 
und  unfruchtbar,  daß  an  Stelle  des  Waldes  Ge- 
büschgruppen treten,  zwischen  denen  sich  die 
eigentlichen  Campinas,  d.  h.  freie,  mit  binsenartigen 
Farnen  und  Flechten  bewachsene  Flächen,  aus- 
dehnen. Während  sie  in  erster  Linie  durch  die 
Unfruchtbarkeit  des  Bodens  bedingt  sind,  ver- 
danken die  Campos  der  Trockenheit  des  Klimas 
ihre  Entstehung.  Sie  bilden  oft  weite,  mit  zer- 
streuten krüppelhaften  Bäumen  und  büscheligem 
Gras  bedeckte  Flächen.  An  sumpfigen  Stellen 
bildet  jManrUia  flcxitosa  Bestände,  während  aus 
dem  Wasser  der  hindurchziehenden,  an  Strom- 
schnellen reichen  Flüssen  das  Laub  der  eigen- 
artigen Podostemonaceen  über  den  Wasserspiegel 
hervorragt. 

Die  biologischen  Erscheinungen  der  Hylaea, 
der  die  dichtlaubigen  Bäume  mit  hohen,  hellen 
Stämmen,  zahlreiche  Palmen  und  üppiges  Unter- 
holz ein  besonderes  Aussehen  geben,  sind  noch 
wenig  bekannt.  Auch  hier  gibt  es  eine  Perio- 
dizität im  Wachstum.  Manche  Bäume  im  Igapö 
wie  Bombax  JMiiiigiiba  K.  Schum.  stehen  bei 
Hochwasser  kahl  da,  andere  werfen  bei  Trocken- 
zeit ihr  Laub  ab  und  blühen  dann  auch  wohl  vor 
Bildung  der  neuen  Blätter.  Da  die  Wurzeln  vieler 
Bäume  nicht  tief  in  den  Boden  eindringen,  geben 
ihnen  mächtige  Brettwurzeln  Halt.  So  ist  es  bei 
der  riesenhaften  Bombacee  Ceiba pcnfaiidraGatrin., 
die  wie  alle  Bäume  des  Urwalds  bei  äußerst 
schnellem  Wachstum  nur  ein  geringes  Alter  er- 
reicht. Manche  Ficiis-kritn  besitzen  aus  Stamm 
und  Krone  hervorwachsende  Stützwurzeln,  die 
Palme  Iriartea  exorhiza  Mart.,  Cecropia- Arten  und 
andere  entwickeln  eigenartige  Stelzwurzeln,  die 
den  Stamm  stützen.  Häufig  wachsen  Bäume  und 
Sträucher  nicht  durch  Gipfel-,  sondern  Seitentriebe, 
andere  Sprosse  werden  wie  Blätter  abgeworfen. 
Manche  „Schopfbäume"  wie  SoJnireyia  exelsa  Kr., 
die  an  die  Palmengattung  Corypha  erinnert,  sind 
vielleicht  wie  diese  hapaxanthisch.  Zahlreich  sind 
die  Arten  der  Lianen,  von  denen  manche  Big- 
noniaceen,  Menispermaceen  und  Leguminosen  bis 
in  die  äußerste  Baumkrone  gelangen.  Mit  ihren 
windenden  Stengeln,  Ranken  und  Haken  dienen 
sie  wiederum  anderen  Kletterpflanzen  als  Stütze 
und  bilden  ein  dichtes  Geflecht,  das  zuweilen  selbst 
gefällte  Bäume  aufrecht  erhält.  Araceen  wicA/oiisfcra 
und  Pliilodeiidroii  kriechen  mit  Kletterwurzeln 
an  den  kahlen  Urwaldstämmen  hinauf.  Da- 
neben finden  wir  hier  Kletterpflanzen  aus  Gruppen, 
die  im  übrigen  Amerika  diese  Wuchsform  nirgends 
zeigen,  so  die  Gymnospermengattung  Giiefiim  und 
von  den  Cactaceen  Cfrc/is  Wif/ii  K.  Schum.  So- 
lanuni  hederadkitluin  Biit.  und  S.   Ulcaiiion  Bitt. 


des  südöstlichen  Amazoniens  sind  die  einzigen 
bekannten  Arten  der  Gattung,  die  epheuartig  die 
Stämme  hinaufklettern.  Epiphyten  sind  nicht, 
wie  man  es  in  den  feuchtheißen  Wäldern  viel- 
leicht erwartet,  besonders  üppig  und  zahlreich 
entwickelt.  Die  höchst  entwickelten  Epiphyten 
wie  Tillandsia,  deren  Samen  meist  für  die  Ver- 
breitung durch  den  Wind  geeignete  Flugapparate 
besitzen,  meiden  die  Hylaea.  Für  ihr  Gedeihen 
scheinen  in  erster  Linie  Bewegung  der  Luft  und 
klimatischer  Wechsel  Bedingung  zu  sein,  die  hier 
aber  fehlen.  So  finden  wir  denn  nur  weniger 
entwickelte  Formen  oder  Hemiepiphyten.  Orchi- 
daceen,  Piperaceen,  Cactaceen  {R/iipsalis),  Bromeli- 
aceen  u.  a.  bedecken  die  Äste  der  alten  Bäume. 
Manche  von  ihnen  sammeln  in  den  Blattrosetten 
Wasser  und  Abfalle,  in  denen  sich  wieder  andere, 
namentlich  Farne  ansiedeln.  In  dem  mehr  xero- 
philen Grenzgebiet  gegen  Peru  umgeben  die  mäch- 
tigen Nischenblätter  von  Platyccriuiii  aiidiiuim 
Bak.  oft  den  ganzen  Stamm  der  Wirtspflanze  wie 
ein  großer  Schirm,  der  alle  Feuchtigkeit  auffängt. 
Andere  Farne  siedeln  in  den  Blattnischen  der 
Palmen,  neben  ihnen  das  riesige  Pliilodciidron 
juaxiiuiiiH  Krause,  Fic/is  und  Coiissapoa-hritn, 
deren  Samen  durch  Fledermäuse  dorthin  verschleppt 
werden.  Ihre  Stütz-  und  Klammerwurzeln  er- 
würgen den  stützenden  Baum  sehr  oft. 

Eigentümlich  sind  der  Hylaea  die  von  Ule 
zuerst  entdeckten  Ameisenepiphyten.  Ameisen 
der  Gattungen  Canipuiiotiis  und  Azteca  legen  auf 
Bäumen  und  Sträuchern  Erdnester  an,  in  die  sie 
die  Samen  ganz  bestimmter  beerenfrüchtiger 
Pflanzen  schleppen,  die  auskeimen  und  dann  oft 
riesige  Pflanzenknäuel  bilden,  oft  20  bis  30  Meter 
hoch  auf  den  Bäumen.  Aus  diesen  Erdnestern 
sind  bisher  14  Pflanzenarten  bekannt  geworden 
(2  Araceen,  3  Bromeliaceen,  i  Piperacee,  I  Moracee, 
I  Cactacee,  2  Solanaceen  und  4  Gesneriaceen), 
die  mit  vielleicht  zwei  Ausnahmen  außerhalb  der 
Ameisengärten  nicht  vorkommen.  Einige  gehören 
sogar  zu  den  Gattungen,  die  in  Brasilien  sehr 
selten  oder  überhaupt  noch  nicht  gefunden  worden 
sind.  So  ist  es  wahrscheinlich,  daß  in  Analogie 
zu  vielen  Kulturpflanzen  des  Menschen,  die  Pflanzen 
der  Ameisengärten  außerhalb  dieses  Kulturkreises 
der  Ameisen  nicht  mehr  wachsen.  Da  sie  durch 
die  Ameisen  reichlich  mit  Erde  und  Nährstoffen 
versehen  werden,  besitzen  sie  meist  ein  reicheres 
Laubwerk  als  andere  Epiphyten.  Im  Über- 
schwemmungsgebiet wie  auf  der  Terra  firme  finden 
wir  sodann  zahlreiche  Ameisenpflanzen,  die 
in  Hohlräumen  von  Stamm  und  Zweigen  oder  in 
Schläuchen  von  Blattstielen  und  Blättern  den 
Ameisen  Wohnung,  manche  auch  in  besonderen 
Ausscheidungen  Nahrung  gewähren.  Unter  ihnen 
sind  die  Arten  der  Gattung  Cecropia  am  be- 
kanntesten, die  am  Ufer  wie  auf  Inseln  mitunter 
dichtere  Bestände  bilden.  Ihre  Zweige  bestehen 
aus  durch  Querwände  getrennten  Hohlräumen. 
An  bestimmten  Stellen  besitzen  die  Internodien 
ein    Grübchen    mit    dünner    Wandung,     das    die 


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Ameisen  stets  zuerst  anbohren  und  so  in  das  Innere 
gelangen.  Hier  leben  sie  in  Mengen  und  nähren 
sich  u.  a.  von  den  IMüllerschen  Körperchen, 
eiweißhaltigen  Gebilden  der  Blattkissen.  In  ähn- 
licher Weise  leben  die  Ameisen  in  Gängen  im 
Stamm  von  Tn'plan's  Bäumen,  bei  der  Leguminose 
Tacliigalia  im  hohlen  Blattstiel,  bei  vielen 
Melastomaceen  in  Schläuchen  am  Grunde  der 
Blätter.  Die  von  Seh  im  per  begründete  Theorie 
einer  Symbiose  zwischen  Pflanzen  und  Ameisen 
will  Ule  nicht  gelten  lassen,  da  viele  Tatsachen 
dagegen  sprechen. 

Die  Blütezeit  währt  das  ganze  Jahr  hindurch. 
Die  Gehölze  des  Igapö  blühen  zur  Zeit  des  Hoch- 
wassers, die  der  Terra  firme  zur  Zeit  der  Trocken- 
heit. Viele  Arten  blühen  auch  in  regelmäßigen 
Pulsen.  Zweckdienliche  Raumverteilung  bestimmt 
die  Anlage  der  Blüten.  Daher  sind  Stammbürtigkeit 
und  Bodenbürtigkeit  häufig  zu  beobachten.  In 
einigen  Fällen  wie  bei  Aiiona  rliizaiifha  Eichl. 
entwickelt  die  Stammbasis  dünne  Zweige,  die 
unter  der  Erde  hinkriechen  und  allein  Blüten 
tragen.  In  anderer  Weise  ist  das  Streben  nach 
freier  Blütenentfaltung  außerhalb  der  Laubregion 
bei  Parkeria  auriculata  Spr.  verwirklicht,  wo  die 
kopfartigen  Blütenstände  an  der  Spitze  meterlanger 
Stiele  stehen.  Im  Gegensatz  dazu  hängen  sie  bei 
Parkeria  pendula  Bth.  an  langen,  fadenförmigen 
Stengeln  herab.  Ule  glaubt  nicht,  daß  diese  Ver- 
hältnisse als  Anpassungen  an  die  befruchtenden 
oder  Früchte  suchenden  Tiere  zu  erklären  sind, 
möchte  vielmehr  die  Erklärung  derStammblütigkeit 
usw.  auf  eine  Raumverteilung  in  der  Lebenstätig- 
keit der  Pflanzen  gestützt  wissen.  Kr. 

Die  Anschauungen  Goebels  über  den  physio- 
logischen Wert  der  Erstlingsblätter  werden  durch  die 
Untersuchungen  von  Esenbeck  und  Wilh. 
Vischer  bestätigt.  Jener  untersuchte  eine  Anzahl 
Wasserpflanzen(Beiträge  zur  Biologie  der  Gattungen 
Potamogeton  und  Scirpus.  Flora.  N.  F.  VII.  igrs. 
152—212).  Zahlreiche  Pü/a>iii)gc/oii-h.rXtn  besitzen 
die  Fähigkeit,  unter  gewissen  Bedingungen  auch 
auf  dem  Trocknen  zu  leben,  wobei  sich  an  Stelle 
der  löfi'elartigen  Schwimmblätter  von  Potamogeton 
schmale,  pfriemenartige  Spreiten  entwickeln.  Es 
ist  Esenbeck  nicht  gelungen,  diese  „Landformen" 
zu  kultivieren.  Soweit  sie  nicht  überhaupt  bald 
eingingen,  schlugen  sie  nach  kurzer  Zeit  in  die 
„Wasserform"  zurück,  woraus  er  schließt,  daß  wir 
es  bei  den  Wasserblättern  mit  einem  Beharren 
oder  besser  Zurücksinken  auf  die  Jugendform  zu 
tun  haben.  Dies  kann  ganz  unabhängig  vom  Medium 
durch  Störungen  verschiedenster  Art  hervorgerufen 
werden.  Wirkliche  Landpflanzen  sind  auch  jene 
„Landformen"  nicht,  die  sich  nur  unter  günstigen 
Bedingungen  entwickeln,  d.  h.  wo  sie  gegen 
starke  Verdunstung  geschützt  sind.  Wenn  sie  sich 
auch  durch  sehr  gedrungenen  Wuchs  auszeichnen, 
besitzen  sie  doch  kein  anatomisches  Merkmal,  das 
den  Wasserformen  fehlt,  besonders  kommt  es  nie 


zur  Bildung  von  echtem  Schwammparenchym.  Nur 
P.  perfoliatus  L.  bildet  scheinbar  eine  Ausnahme, 
wenigstens  beschreibt Uspenskij  (ZurPhylogenie 
und  Ökologie  der  Gattung  Potamogeton.  Bull. 
Nat.  Mose.  19 13)  eine  anscheinend  unzweifelhafte 
Landform  dieser  Art  mit  5 — /schichtigen  Blättern, 
die  typische  Spaltöffnungen  und  eine  Art  von 
Pallisaden-  und  Schwammgewebe  besitzen. 

Die  Untersuchung  der  gewöhnlich  völlig  blatt- 
losen Scirpus-hx\.cn  lehrte,  daß  sie  ebenfalls  unter 
ungünstigen  Bedingungen,  bei  schlechter  Ernährung 
oder  in  abgeschwächtem  Licht,  Laubblätter  ent- 
wickeln.    Daß  auch  hierin  ein  Rückschlag  in  die 


Abb.   I. 
Hakea  äff.  cycloptera.     R.  Br.     Vergr.   1 :  2. 

a.  Normaler  Steckling  aus  dem  Kalthaus. 

b.  Steckling  aus  dem  Feuchlkasten. 

c.  Wie  a,  nach  Abschneiden  der  Blätter. 

Jugendform  zu  sehen  ist.  wird  durch  beblätterteKeim- 
pflanzen  von  Seirpns  prolifer  L.  und  S.  lactisiris  L. 
erwiesen.  Bei  dieser  Art  und  bei  S.  flidtans  L.  kann 
ebenfalls  wie  bei  Potajno^eton  die  Wasserform  auf 
dem  Lande  experimentell  hervorgerufen  werden. 
Zahlreiche  xerophile  Pflanzen  zeigen  einen 
ähnlichen  Gegensatz  von  Erstlings-  und  Folge- 
blättern {Fest II ea  glaiiea  Sehr.,  Eucalyptus  glo- 
buliis  Lab.,  Hakea,  j\liilile?ibeckia  u.  a.)  Wie 
Vischers  Versuche  lehren  (Experimentelle 
Beiträge  zur  Kenntnis  der  Jugend-  und  Folge- 
formen xerophiler  Pflanzen.  Flora  N.  R.  VIII. 
1915),  können  auch  bei  ihnen  durch  das 
Experiment  beide  Formen  willkürlich  hervorgerufen 
werden.  Starkes  Zurückschneiden,  gute  Bewurze- 
lung,  schwaches  Licht,  feuchte  Luft,  Kultur  in 
Nährlösung  führen  zur  Bildung  der  Rückschlags- 
form, schwache  Bewurzelung  dagegen,  gutes  Licht, 


6i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVL  Nr.  44 


Zurückschneiden  der  Wurzeln  oder  Kultur  in  reinem 
Wasser  bedingen  die  Entwicklung  der  fnlgeform 
(Abb.  I  u.  2).  Diese,  durch  starke  Wandverdickungen 
charakterisiert,  stellt  nach  Vischer  aber  keine 
zweckmäßige  Reaktion  auf  ein  Lebensbedürfnis  dar, 
denn    die    Wandverdickungen     sind     nur     durch 


Abb.  2. 

Hakea  suavolens.     R.  Br. 

Im   Freien  gewachsen  mit  RückschlagssproS.     Vergr.    I  :  2. 

Sämtliche  Abbildungen  nach  Vischer. 

Mangel  an  Nährsalzen  und  Häufung  der  Assimi- 
lationsprodukte  bedingt,  weisen  aber  keinerlei  Be- 
ziehung zur  Luftfeuchtigkeit  und  dem  Gehalt  des 
Substrats  an  Wasser  auf  Dieses  Ergebnis  wirkt 
überraschend,  und  es  ist  wohl  Aufgabe  weiterer 
Versuche,    seine    Allgemeingültigkeit  zu  erhärten. 

Kr. 

Physik.  Die  Einordnung  der  Radioelemente  in 
das  periodische  System,  wie  sie  von  Soddy  und  von 
Fajans  ausgeführt  wurde,  hat  zu  der  Annahme 
geführt,  daß  es  Elemente  gibt,  die  bei  gleichen 
chemischen  und  spektralen  Eigenschaften  ver- 
schiedenes Atomgewicht  haben,  man  hat  sieisotope 
Elemente ')  genannt.  In  zwei  Fällen  ist  es  mit 
völliger  Sicherheit  gelungen,  experimentell  Isotope 
nachzuweisen :  Blei  und  Ra  G,  das  stabile  End- 
produkt der  Uran-Radiumfamilie  sind  isotop.  Das 
Atomgewicht  des  Bleis  ist  207,2;   auf  Grund  der 


')  Naturwiss.  Wochenschr.  XV,  1 7  :  Das  periodische  System 
die   Radioelemente. 


Verschiebungssätze  berechnet  sich  das  Atomgewicht 
von  Ra  G  zu  206,0,  indem  nämlich  das  Uranatom 
(238J  zunächst  durch  Abgabe  von  3  Heliumatome 
(He  Atomgew.  4,  also  3  He  =  12)  in  das  Radium 
(226)  und  dieses  durch  Abgabe  von  5  weiteren 
Heliumatomen  (20)  sich  in  Ra  G  (206)  verwandelt. 
Man  hat  nun  nachgewiesen,  daß  das  Blei,  das  sich 
in  Uranerzen  findet,  nicht  ein  Atomgewicht  von 
207,2,  sondern  stets  ein  niedrigeres  (bis  zu  206,05) 
hat.  Dieses  Uranblei  ist  also  kein  gewöhnliches 
Blei,  sondern  ein  Gemisch  von  diesem  und  einer 
Isotope  desselben,  eben  des  Ra  G.  Für  die  Isotopen 
Thorium  (232,4)  und  lonium  (230),  das  direkte 
Vaterelement  des  Radiums,  ist  der  Nachweis 
ebenfalls  gelungen.  Stellt  man  Thorium  aus 
Monazit  (frei  von  Uran)  her,  so  findet  man  ein 
Atomgewicht  von  232,15.  Isoliert  man  es  dagegen 
aus  Uranmineralien,  so  enthält  das  Endprodukt  neben 
Thorium  die  Isotope  lonium,  da  ja  Isotopen  die 
gleichen  chemischen  Eigenschaften  zeigen,  also 
nicht  zu  trennen  sind.  In  diesem  Fall  findet  man 
für  das  Atomgewicht  231,5,  also  einen  kleineren 
Wert.  Noch  ein  dritter  Fall  ist  der  experimentellen 
Prüfung  zugänglich,  in  allen  übrigen  sind  die 
Mengen,  in  denen  die  Isotopen  vorhanden  sind, 
zu  klein.  Über  diesen  berichtet  O.  Hönigschmid 
(Prag)  in  der  Zeitschr.  f.  Elektrochemie  XXIII, 
161  (1917);  es  handelt  sich  um  das  Thorblei. 
Das  Thorium  zerfällt  durch  Abgabe  von  6  Helium- 
atome (die  /5-Strahlumwandlungen  können,  weil 
mit  ihnen  ein  merklicher  Massenverlust  nicht  ver- 
bunden ist,  unberücksichtigt  bleiben)  in  Th  E,  dessen 
Atomgewicht  sich  also  zu  208,12  (232,12 — 6-4) 
berechnet.  Dieses  Produkt  ist  dem  Blei  isotop 
und  scheint  stabil  zu  sein.  Da  nun  jedes  Thor- 
mineral auch  Uran  enthält,  so  erhält  man,  wenn 
man  Th  E  aus  ihm  isoliert,  gleichzeitig  die  Isotope 
Ra  G.  Das  Atomgewicht  muß  demnach  zwischen 
dem  von  Ra  G  (206,0)  und  Th  E  (208,12)  liegen, 
je  nachdem  in  welchen  relativen  Mengen  die 
Komponenten  in  dem  Isotopengemisch  enthalten 
sind.  Soddy  hat  nach  einer  indirekten  Methode 
für  das  Thorblei  207,74  gefunden.  Hönigschmid 
führt  eine  direkte  Bestimmung  aus  an  dem  von 
Soddy  zur  Verfügung  gestellten  Stückchen  Thor- 
blei (Gewicht  12  g).  Das  Metall  wird  in  Salpeter- 
säure gelöst  und  dann  mit  Salzsäure  gefallt.  Durch 
Fällung  .  als  Chlorsilber  wird  das  .Atomgewicht 
ermittelt;  es  ergibt  sich  als  Mittel  aus  acht 
Messungen  zu  207,77  in  guter  Übereinstimmung 
mit  dem  Soddy'schen  Wert.  Daß  der  Wert 
wesentlich  niedriger  als  der  aus  den  Verschiebungs- 
sätzen theoretisch  berechnete  Wert  208,1  ist,  er- 
klärt sich  aus  der  Gegenwart  der  Isotope  Ra  G. 
—  Damit  ist  die  Zahl  der  Isotopiefälle,  die  der 
experimentellen  Beobachtung  zugänglich  sind,  er- 
schöpft. K.  Seh. 

Geologie.  Gewinnung  von  Platin  aus  Ge- 
steinen. Vor  dem  Kriege  wurde  die  Entdeckung 
plaiinlührender   Gesteine   im  Sauerlande   viel   be- 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


619 


sprechen;  sie  sollten,  so  hieß  es,  überaus  reich 
sein  und  uns  von  fremder  Zufuhr  ganz  unabhängig 
machen.  Tatsächlich  ist  das  Vorkommen  von 
Platin  in  Grauwacken,  die  den  tiefsten  Schichten 
des  rheinischen  Unterdevons  angehören,  einwand- 
frei erwiesen  worden.  Da  außerdem  in  diesen 
Gesteinen  noch  etwas  Chrom  und  Nickel  vorkam 
und  diese  Mineralien  die  Begleiter  des  Platins  in 
den  olivinreichen  Gesteinen  des  Urals  sind,  die 
das  Muttergestein  der  dortigen  Seifen  bilden,  so 
nimmt  man  an,  daß  auch  das  Platin  der  Sauer- 
länder Grauwacke  aus  derartigen  Gesteinen  stammt. 
Man  hat  sie  zwar  nirgends  gefunden,  aber  das 
spricht  nicht  gegen  diese  Auffassung,  denn  sie 
können  in  früheren  Epochen  der  Erdgeschichte 
zerstört  worden  sein;  ihre  widerstandsfähigsten 
Bestandteile,  eben  die  aus  Platin,  Chrom  und 
Nickel  bestehenden  Mineralien  blieben  erhalten 
und  lagerten  sich  mit  den  Zerstörungsprodukten 
anderer  Gesteine,  in  der  Hauptsache  Quarzkörn- 
chen und  Ton  in  einer  Schicht  ab,  die  wir  jetzt 
als  Grauwacke  vor  uns  sehen  und  demnach  als 
fossile  Platinseifen  bezeichnen  können. 

Über  den  Gehalt  der  Grauwacke  an  Platin 
sind  keine  sicheren  Angaben  veröffentlicht  wor- 
den. Nur  so  viel  steht  fest,  daß  er  sehr  ungleich 
im  Gestein  verteilt  und  daß  sich  leider  auch  äußer- 
lich nicht  feststellen  läßt,  ob  er  überhaupt  vor- 
handen ist.  Das  bedeutet  einen  sehr  mißlichen 
Umstand  für  den  Abbau  der  Lagerstätte,  weil 
man  dadurch  genötigt  ist,  neben  dem  platinhaltigen 
auch  viel  taubes  Gestein  zu  gewinnen  und  zu  ver- 
arbeiten. Eine  andere  noch  größere  Schwierig- 
keit bildet  aber  die  freie  Verteilung  des  Platins 
für  seine  Gewinnung  aus  dem  Gestein.  Ob  die 
Gesellschaften,  die  sich  mit  der  Ausbeutung  der 
Platinlagerstätten  befassen  wollten,  dieser  Schwie- 
rigkeiten Herr  geworden  sind,  ist  nicht  bekannt 
geworden.  In  welcher  Weise  man  sich  aber  mit 
der  Lösung  des  Problems,  das  fein  verteilte  Platin 
aus  dem  Gestein  zu  gewinnen,  beschäftigt  hat, 
zeigt  ein  jetzt  veröffentlichtes  Patent  (D.R.P.  297  2 1 1 ), 
das,  wenn  man  auch  noch  im  Ungewissen  ist, 
ob  die  ihm  zugrunde  liegende  Erfindung  sich  in 
der  Praxis  bewährt,  doch  einen  interessanten 
und  in  der  Erzaufbereitung  ganz  neuartigen  Ge- 
danken zum  Ausdruck  bringt.  Das  Verfahren 
geht  in  der  Weise  vor  sich,  daß  das  fein  pulvri- 
sierte  Gestein  auf  eine  elektrische  leitende  Fläche 
in  dünner  Schicht  verteilt  aufgetragen  wird;  diese 
Fläche  wird  mit  dem  einen  Pol  einer  Elektrizitäts- 
quelle in  Verbindung  gebracht.  Der  zweite  Pol 
besteht  aus  einer  kleinen  Platte,  welche  auf  das 
Gesteinspulver  gelegt  und  hin-  und  hergeschoben 
wird.  Der  elektrische  Strom  kann  seinen  Weg 
von  der  unteren  Fläche  zur  bewegten  Platte  nur 
durch  die  Platinteilchen  nehmen,  da  das  Gesteins- 
pulver eine  isolierende  Schicht  bildet.  Hierbei 
tritt  nun  die  Scheidung  ein,  indem  die  Platin- 
teilchen an  den  Berührungsstellen  mit  den  Pol- 
platten Funken  bilden  und  hierbei  ;n  diese  ein- 
schmelzen. Die  Polplatten  können  nach  genügender 


Anreicherung  eingeschmolzen  werden.  Man  kann 
sie  sowohl  aus  Wachs,  Asphalt  wie  auch  aus 
irgendeinem  leicht  schmelzenden  Metall  anfertigen. 
Es  sei  noch  erwähnt,  daß  der  Preis  des  Platins 
eine  Höhe  erreicht  hat  wie  nie  zuvor  und  daß 
daher  auch  Verfahren,  die  zur  normalen  Zeit  un- 
unwirtschaftlich wären,  zur  Anwendung  kommen 
könnten.  In  Rußland  wird  Platin  jetzt  mit  rund 
10 000  Mark  für  das  Kilogramm  bezahlt,  etwa 
viermal  so  hoch  wie  Gold,  während  sein  Preis  vor 
dem  Krieg  die  Hälfte  betrug,     (oc)  Z. 

Zoologie.  Die  Schlangen  wurden  in  der  älteren 
Systematik  (Dumeril  und  Bibron,  1852)  ein- 
geteilt in  Giftschlangen  und  ungiftige  Schlangen. 
Die  ersteren  besitzen  einen  Giftzahn,  d.  h.  einen 
spitzen  Zahn,  welcher  vor  der  Pulpahöhle  einen 
Kanal  besitzt;  dieser  beginnt  am  Grunde  des  Zahnes 
mit  einer  Eingangsöffnung  und  mündet  kurz  vor 
der  Spitze.  Durch  den  Kanal  wird  ein  giftiges 
Speichelsekret,  das  Schlangengift  in  die  Bißwunde 
gebracht.  Erzeugt  wird  das  Gift  in  einer  mehr 
oder  minder  großen  Drüse,  welche  beiderseits  vor 
dem  Ohr  liegt  und  deren  Ausführungsgang  gegen- 
über der  Eingangsöffnung  in  den  Giftkanal  des 
Zahnes  mündet.  Durch  die  Anordnung  der  Zahn- 
keime wird  bewirkt,  daß  nach  Ausfallen  des  Gift- 
zahnes die  Giftdrüsenflüssigkeit  nicht  nutzlos  verloren 
geht,  indem  eine  Schleimhautfalte  den  leer 
gewordenen  Teil  der  Giftzahntasche  verschließt.*) 
Die  Giftdrüse  selbst  steht  unter  der  Einwirkung 
des  Kaumuskels  und  unterliegt  infolge  der  An- 
ordnung und  Form  der  Kieferknochen  bei  jedem 
Beißakt  einem  Druck,  durch  welchen  das  Gift  in 
den  Zahn    und    in  die  Wunde    ausgepreßt  wird.**) 

Der  Giftzahn  ist  nun  entweder  von  einem 
ringsum  geschlossenen  Kanal  für  das  Gift  durchsetzt, 
oder  letzteres  wird  in  die  Wunde  geleitet  durch 
eine  mehr  oder  minder  tiefe  Furche,  welche  auf 
der  vorderen  Fläche  des  Zahnes  von  der  Wurzel 
bis  zur  Spitze  verläuft.  Die  Giftschlangen  der 
ersten  Gruppeheißen  Röhrenzähner(Solenoglyphen), 
die  anderen  P'urchenzähner.  Zur  ersten  Gruppe, 
den  Viperiden,  gehören  die  europäischen  Gift- 
schlangen: Kreuzotter  und  Viper,  sowie  die 
amerikanische  Klapperschlange  und  zahlreiche 
tropische  Arten.  Furchenzähner  sind  die  Brillen- 
schlange, die  Seeschlangen  und  eine  große  Zahl 
tropischer  Formen.  Der  den  funktionierenden 
Giftzahn  tragende  Oberkieferknochen  ist  bei  den 
Röhrenzähnern  ganz  kurz,  pyramidenförmig  und 
beweglich  am  Schädel  befestigt.  Der  Oberkiefer 
der  Furchenzähner  dagegen  ist  langgestreckt  und 
trägt  die  Giftzähne  entweder  vorn  (Proteroglyphen) 
wie  bei  den  Brillen.schlangen  oder  im  hinteren 
Abschnitt  (Opisthoglyphen);  zu  den  Opistoglyphen 
gehören  eine  Reihe  südamerikanischer  Arten. 
Ausser   den  Gifizähnen   trägt   der  Oberkiefer   bei 

')  Kathariner  L.,  Bildung  und  Ersatz  der  Giftzähne 
bei  Giftschlangen.     Zoolog.  Jahrbücher   lo.  Bd.,   1897. 

^)  Kathariner  L.,  Mechanismus  des  Bisses  der  soleno- 
ghyphen    Giftschlangen.      Biolog.   Zentralblatt    20.    Bd.    1900. 


620 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


den  giftigen  Colubriden  noch  eine  verschieden 
große  Anzahl  solider  Hakenzähne. 

Im  Gegensatz  zu  den  beiden  Gruppen  typischer 
Giftschlangen,  Röhren-  und  Furchenzähnern,  wurden 
alle  anderen  Schlangenarten  als  Glattzähner 
(Aglyphen)  zusammengefaßt.  Dadurch  wird  die 
Meinung  erweckt,  ihr  Speichelsekret  übe  keine 
giftige  Wirkung  aus.  Daß  diese  Annahme  aber 
durchaus  irrig  ist,  geht  aus  Versuchen  hervor,  über 
welche  Marie  Phisalix  in  der  Pariser  Akademie 
der  Wissenschaften  berichtet. 

Die  Giftdrüse  der  Schlangen  ist  nach  Leydig 
der  Ohrspeicheldrüse  (Parotis)  der  anderen  höheren 
Tiere  homolog.  Daß  sie  nicht  bloß  bei  den 
typischen  Giftschlangen,  den  Röhren  und  Furchen- 
zähnern,  vorhanden  ist,  wurde  durch  M.  Physalix 
festgestellt  (sur  la  glande  parotide  venimeuse 
des  Colubrides  aglyphes,  et  sur  l'existence  de  cette 
glande  chez  des  especes  appartenant  aux  Bo'ides 
et  aux  autres  familles  de  Serpents  qui  s'y  rattachent. 
Sitzung  vom  II.  Juni  1917.  C.  R.  t.  164  Nr.  26). 
Sie  untersuchte  i.  ob  die  Parotis  auch  bei  den 
aglyphen  Colubriden  vorhanden  sei,  2.  ob  man 
sie  auch  bei  anderen  Schlangenfamilien  antreffe 
und  3.  ob  ihr  Vorhandensein  und  ihre  Entwicklung 
in  Beziehung  ständen  zur  Zahnbildung. 

1.  Die  aglyphen  Colubriden  besitzen,  wie  schon 
Leydig  vermutete,  gleichfalls  eine  Parotis.  Diese 
ist  eine  kompakte  Masse  von  rötlichweißer  Farbe, 
in  zahlreiche  Läppchen  geteilt  und  besitzt  keinen 
einheitlichen  Sammelraum.  Sie  liegt  ohne  besondere 
Muskulatur  zwischen  der  Oberlippe  und  dem  Auge. 
Ihr  kurzer  Ausführungsgang  mündet  am  inneren 
Rand  einer  SchleimhautfaUe;  das  weiße,  schleimige 
Sekret  vermischt  sich  also  mit  der  Speichelflüssig- 
keit, bevor  es  in  die  Wunde  eingespritzt  wird. 
Die  Parotis  wurde  bei  72  von  95  untersuchten 
Arten  festgestellt ;  sie  findet  sich  also  häufig,  wenn 
auch  nicht  ausnahmslos  auch  bei  den  aglyphen 
Colubriden. 

2.  Auch  die  Boi'den  und  andere  verwandte 
Familien  haben  eine  Parotis.  In  der  herpetologischen 
Sammlung  des  Pariser  Museums  wurden  daraufhin 
alle  dort  vorhandenen  Schlangenarten  untersucht. 
Die  Parotis  fehlte  lediglich  bei  den  Typhlopiden 
und  den  Glauconiden ;  sie  fand  sich  dagegen  bei 
den  Boiden  (Eryx),  liysiden  (Ilysia,  Cylindrophis), 
Uropehiden  (Rhinophis,  Silybura,  Pleciurus,  Platy- 
plecturus),  Xenopeltiden  (Xenopeltis)  und  Ambly- 
cephaliden  (Leptognathus). 

3.  Was  nun  die  Beziehung  des  Vorhandenseins 
oder  Fehlens  der  Parotis  zum  Vorhandensein  oder 
Fehlen  von  Giftzähnen  anbelangt,  so  trifft  man 
die  größte  Mannigfaltigkeit.  Es  können  z.  B.  zahl- 
reiche kleine  und  gleich  große  Zähne,  wie  bei  den 
Aglyphen,  vorhanden  sein;  bei  gewissen  Arten 
sind  die  Oberkieferzähne  ungleich  groß,  und  zwar 
sind  bald  die  vorderen  und  bald  die  hinteren  länger. 
Im  letzteren  Fall  unterscheiden  sie  sich  von  den 
Giftzähnen  der  Opisthoglyphen  nur  durch  das 
Fehlen  der  Furche  (Macropisthodon,  Heteroden  usw.). 


Die  mehr  als  130  untersuchten  Arten  aus  den 
verschiedensten  Familien  verhielten  sich  folgender- 
maßen: 

a)  Die  Parotis  fehlt;  aber  Giftzähne  sind  vor- 
handen (Prosymna,  Pseudaspis) ; 

b)  Die  Parotis  ist  vorhanden;  aber  Giftzähne 
fehlen  (Coronella,  Contia,  Xenopeltis); 

c)  Bei  Schlangen,  welche  zu  derselben  Gattung 
einer  und  derselben  Familie  gehören,  die  also 
dieselbe  Bezahnung  haben,  besitzen  die  einen  eine 
Parotis,  die  anderen  nicht  (Coluber,  Polyodontophis, 
Rhadinea,  Leptognathus). 

Es  kann  also  eine  Parotis  vorhanden  sein  un- 
abhängig von  der  Art  der  Bezahnung.  Wenn  nun 
das  Vorhandenseins  einer  Parotis  mit  dem  von  Gift- 
zähnen zusammenfällt  (Macropisthodon,  Xenodon, 
Heterodon),  so  hat  man  „Fraeopisthoglyphen" 
(Phisalix)  mit  einem  Ciftapparat.  Dem  Beutetier 
gegenüber  ist  dieser  Typus  gleichwertig  dem  der 
Opisthoglyphen;  denn  wie  bei  allen  anderen 
Schlangen  ist  die  Parotisflüssigkeit  von  giftiger 
Wirkung.  Mit  Speichel  gemischt  dringt  sie  leichter 
in  die  Wunde  ein;  außerdem  stehen  dafür  mehr 
Wundöffnungen  und  längere  Zeit  zur  Verfügung, 
da  das  Beuteiier  sich  zu  befreien  sucht. 

Die  Giftigkeit  des  Parotissekrets  wurde  nun 
für  2  Gruppen  von  Glattzähnern  untersucht; 
nämlich  für  die  Familien  der  Boiden  und  der 
Uropeltiden  und  zwar  für  die  Arten  Eryx  Johni 
D.  B.,  Silybura  pulneyensis  Bedd.,  Platynlecturus 
madurensis  Bedd.  und  P.  trilineatus  Günther 
(M.  Phisalix,  Sur  les  proprietes  venimeuses  de 
la  secretion  parotidienne  chez  des  especes  de 
Serpents  appartenant  aux  Boides  et  aux  Uropeltides. 
Sitzung  vom  2.  Juli  1917.  C.  R.  t.  165  Nr.  i). 
Die  zum  Versuche  dienenden  Schlangen  waren 
frisch  gefangene  Exemplare;  die  Giftigkeit  wurde 
erprobt  an  Vögeln,  welche  bekanntlich  für  die 
Giftwirkung  sehr  empfindlich  sind,  indem  man 
einen  Extrakt  in  die  Brustmuskeln  injizierte.  Trotz- 
dem die  Drüsen  oft  sehr  klein  und  die  Menge 
ihres  Sekretes  dementsprechend  minimal  war,  er- 
lagen die  Vögel  meist,  z.  T.  unter  schwersten 
Erscheinungen  (Atemnot,  Herzkrämpfe,  klonische 
und  tonische  Krämpfe  usw.);  mitunter  trat  der 
Tod  blitzartig  schnell  ein.  So  war  z.  B.  die  Parotis 
von  Platyplecturus  trilineatus  nur  0,25  mg  schwer; 
I  ccm  eines  Auszugs  ihres  Sekrets  tötete  aber  die 
7  g  Culicicapa  ceylonensis  augenblicklich. 

G.  A.  Boulenger  (Sur  l'evolution  de  l'appareil 
ä  venin  des  Serpents.  Sitzung  vom  9.  Juli  191 7. 
C.  R.  t.  165  Nr.  3)  betont,  er  stimme  mit 
M.  P  h  i  s  a  1  i  X  darin  überein,  daß  die  Unterscheidung 
der  Aglyphen  und  der  Opisthoglyphen,  soweit  sie 
die  Beschaffenheit  des  Parotissekrets  anbelange,  nicht 
stichhaltig  sei.  Ausschlaggebend  können  überhaupt 
nur  die  morphologischen  Merkmale  sein.  Auch 
gebe  die  Größe  der  hinteren  Oberkieferzähne, 
welche  durch  eine  Lücke  von  der  vorderen  ge- 
schieden sein  sollen,  für  manche  Opisthoglyphen 
kein  sicheres.Merkmal  ab.  Man  dürfe  die  Bezeichnung 
Opisthoglyphen    nicht   auf  die  Formen   mit  mehr 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


621 


oder  minder  langen  Zähnen  beschränken.  Vom 
praktischen  Gesichtspunkt  aus  könne  man  eine 
Aufstellung  der  Gruppe  der  Opisthoglyphen  wohl 
rechtfertigen  und  dieselbe  in  2  parallelen  Reihen 
anordnen,  welche  sich  an  entsprechende  Reihen 
von  Aglyphen  anschlössen.  Er  brauche  wohj 
nicht  besonders  zu  betonen,  daß  die  Einteilungen 
von  Schlegel,  Günther  und  Jan  von  durchaus 
verfehlten  Vorraussetzungen  ausgingen.  Es  stehe 
außer  Zweifel,  daß  die  Furche  ein  primitives  Merk- 
mal bilde;  sie  habe  sich  nämlich  allmählich  ent- 
wickelt, wie  eine  ganze  Anzahl  von  Gattungen 
beweise.  Es  ließen  sich  die  Froteroglyphen  in 
einer  Reihe  anordnen,  wobei  die  Furche  immer 
immer  tiefer  wird,  bis  sie  zuletzt  zwischen  der 
Ein-  und  Ausmündung  zu  einem  Kanal  geschlossen 
ist  (Elaps,  Dendaspis  und  Solenoglyphen).  Zwischen 
der  Größe  der  Zähne  und  ihrer  Umbildung  zu 
Giftzähnen  bestehe  keine  Beziehung.  Beweis  dafür 
seien  die  oben  genannten  Opisthoglyphen  und 
manche  Wasserschlatigen;  bei  letztereu  seien  die 
vorderen  Haken  sehr  klein  im  Vergleich  zu  den 
Giftzähnen  der  anderen  Froteroglyphen  und  den 
Solenoglyphen.  Bezüglich  der  Ableitung  der 
Froteroglyphen  und  der  Solenoglyphen  halte  er 
an  seiner  schon  vor  25  Jahren  ausgesprochenen 
Ansicht  fest.  Die  Gattungen  Ogmodon  und 
Toxicocalamus  gäben  einen  Begriff  davon,  wie  die 
Umbildung  der  Aglyphen  zu  den  Froteroglyphen 
stattgefunden  habe,  und  die  Zurücklühruug  der 
Solenoglyphen  auf  die  Aglyphen  werde  durch  eine 
ganz  neue  Entdeckung  bestätigt.  Sein  Sohn 
E.  G.  Boul enger  habe  nämlich  gefunden,  daß 
bei  Xenodon  Merremi  der  sehr  kurze,  senkreciit 
gestellte  Oberkiefer  um  die  Querachse  des  Schädels 
beweglich  sei.  Man  brauche  sich  nur  den  Ober- 
kiefer noch  mehr  verkürzt,  die  kleinen  Vorderzähne 
fehlend  und  den  Gifikanal  vorhanden  zu  denken, 
um  die  einzelnen  Entwicklungsstufen  des  Ober- 
kieferapparates der  Viperiden  vor  sich  zu  haben. 
Darauf  erwiderte  M.  Phisalix  (Sur  la  valeur 
subjective  de  l'evolution  de  l'appareil  venimeux 
des  serpents  et  de  l'action  physiologique  des  venins 
dans  la  systematique.  Sitzung  vom  9.  Juli  191 7. 
C.  R.  t.  165  Nr.  3),  daß  sie  dem  Giftapparat  nicht, 
wie  sie  das  früher  getan  habe,  eine  Bedeutung  in 
systemati.'-cher  Beziehung  zumesse.  In  ihren  letzten 
Arbeiten  habe  sie  den  Beweis  geliefert,  daß  das 
Farotissekret  der  Aglyphen  ebenso 
giftig  wäre,  wie  das  der  Frotero-  und 
der  Solenoglyphen.  Kathariner. 

August  Weidmann  starb  am  6.  November  1914 
und  schon  hat  man  seine  Bedeutung  als  Natur- 
philosoph in  einer  Schrift  untersucht,  aut  die  ich 
aufmerksam  machen  möchte,  um  zugleich  einige 
Worte  der  Kritik  anzuschließen. 

Heinrich  Spix  hat  sich  in  einer  dickleibigen, 
über  16  Bogen  starken  Bonner  Dissertation  (vom 
Jahre  1915)  über  „A  ugust  Weisman  n  als  Er- 
kentnistheoretiker  und  Psychologe"  die 


Aufgabe  gestellt,  Weismanns  philosophische 
Voraussetzungen  auf  erkenntnistheoretischem  und 
psychologischem  Gebiete  aus  dessen  zahlreichen 
größeren  und  kleineren  Schriften  herauszuarbeiten. 
—  Einleitend  wird  im  I.  Teil  (S.  7 — 12),  vielleicht 
nur  allzu  kurz,  der  Lebens-  und  Werdegang 
Weismann 's  im  Hinblick  auf  seine  philo- 
sophische Ausbildung  dargestellt.  Der  II.  Teil 
(S.  13—235)  nimmt  den  Hauptraum  der  Disser- 
tation ein  und  behandelt  Weismann  als  Er- 
kenntnistheoretiker und  Psychologen.  Zunächst 
seine  Stellung  zu  drei  Fragen  der  Erkenntnistheorie: 
I.  zum  Empirismus,  2.  zur  Kausalität  und  3.  zur 
Einheit,  zur  Einfachheit  und  zum  Individuum. 
Dann  seine  Stellung  zu  Fragen  der  Psychologie: 
I.  Instinkt  und  Intelligenz,  2.  Anthropologie  und 
3.  Leib  und  Seele.  Im  III.  Teil  (S.  235 — 245) 
erhalten  wir  eine  gedrängte  Zusammenfassung  des 
Gesamtergebnisses  der  Arbeit  (unter  wesentlicher 
Berücksichtigung  der  noch  ungedruckten  Teile 
der  Dissertation  1),  und  die  den  Beschluß  bildende 
Inhaltsangabe  der  gesamten  eingereichten  Studie 
(auf  S.  246)  endlich  zeigt,  welch  vielfache  Punkte 
von  Weismann  in  seinen  Schriften  diskutiert 
worden  sind. 

Einzelnes  läßt  sich  aus  der  Arbeit  nicht  heraus- 
heben. Weismann  ist  stets  ein  Anhänger  des 
materialistischen  (oder  hylistischen)  Monismus  ge- 
wesen. Daß  Spix  persönlich  dem  Materialismus 
wohl  nahezu  diametral  gegenübersteht,  daß  er 
diese  Weltanschauungsfragen  leider  oft  nur  allzu 
subjektiv  ausklingen  läßt,  wird  jeder  Leser  selbst 
bemerken  können.  Darunter  leidet  natürlich  eine 
rein  historische  Darstellung,  und  Spix'  Schrift 
ist  infolgedessen  stellenweise  eine  modern- 
kri  tisch  anmutende  Auseinandersetzung  mit 
dem  Materialismus  im  allgemeinen.  Wie 
weit  Spix  da  geht,  zeigt  z.  B.  ein  Satz  auf  S.  222, 
wo  er  gegen  das  wohl  gelegentlich  angefochtene, 
aber  doch  von  der  Mehrzahl  der  Biologen  ver- 
tretene biogenetische  Grundgesetz  sich  ereifert; 
er  schreibt:  „Diesem  sogenannten  [!]  Gesetze 
fehlen  sowohl  die  logischen  als  auch  die  natur- 
wissenschaftlichen Unterlagen,  weshalb  dasselbe 
heute  in  Forscherkreisen  verpönt  ist."  Haeckels 
und  Wiedersheims  Stammbaum- Versuch  nennt 
er  einige  Zeilen  später  sogar  „ein  phantastisches, 
tendenziöses  Machwerk",  und  auf  S.  1 1  sprach  er 
vorher  schon  von  den  „ausgetretenen"  Bahnen  des 
Materialismus. 

So  fruchtbringend  Spix'  Untersuchung  auch 
für  die  moderne  Erkenntnislehre  sein  mag,  so 
wenig  scheint  sie  mir  unsere  Historik  zu  fördern. 
Wie  ist  es  aber  auch  möglich,  das  am  schwierig- 
sten zupackende  natur  philosophisch  eLebens- 
werk  eines  Biologen,  der  eben  noch  unter  uns 
weilte,  dessen  Stimme  seinen  Schülern  noch  in 
den  Ohren  klingt,  dessen  Schriften  von  gestern 
Probleme  von  heute  bewegen  und  erörtern,  ganz 
akademisch  und  neutral  ein  Jahr  nach  dessen 
Tode  zu  sezieren?  Weismann  steht  ja  noch 
mitten  drin  in  naturphilosophischen  Tagesfragen, 


622 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


im  Kampf  moderner  Geister  um  Probleme  der 
Weltanschauung.  Die  histoiische  Distanz  fehlt 
uns  doch,  um  die  Konturen  seines  Geistesbaues 
scharf  umreißen  zu  können.  Daher  möchte  ich 
für  meine  Person  das  Schlußergebnis  von  Spix 
nicht  in  allen  Punkten  mit  unterschreiben,  wo  es 
heißt:  „Weis mann  ist  einer  der  Naturforscher, 
der  vor  der  Behandlung  philosophischer, 
selbst  metaphysischer  Fragen  nicht  zurück- 
schreckt und  ihre  Bedeutung  anerkennt.  Freilich 
nimmt  er  sie  vielfach  zu  leicht  und  läßt  dann  die 


nötige  Klarheit,  auch  die  volle  Umsicht  in  diesen 
Dingen  vermissen.  Ihm  gegenüber  sind  heutige 
Naturforscher  meist  vorsichtiger.  Immerhin  ehrt 
es  den  vielseitigen  und  feinstgebildeten  Denker, 
daß  er  den  Problemen  fest  ins  Auge  blickte  und, 
wie  seine  privaten  Studien  zu  Kant  beweisen, 
innerlich  mit  ihnen  rang.  Eine  größere  Ori- 
ginalitätfehlt ihm,  und  Helm  holt  z,  Hertz, 
E.  Mach  und  andere  stehen  in  dieser  Hinsicht 
wesentlich  höher  als  er."  Rudolph  Zaunick. 


Bücherbesprechungen. 


St.  Meyer    und    E.   von    Schweidler,    Radio- 
aktivität.    541    Seiten    mit    87    Abbildungen 
im  Text.  Lerpzig  und  Berlin  1916.  B.  G.  Teubner. 
—  Preis  geh.  22,50  M. 
Daß  neben  den  bekannten  Werken  von  Curie 
und  Rutherlord  das  Gesamtgebiet  der  Radioaktivi- 
tät auch  von  deutscher  bzw.  österreichischer  Seite 
eine    umfassende    Bearbeitung    erfährt,    ist    vollauf 
gerechtfertigt    nicht    nur    dadurch,    daß,    wie    die 
Verf    betonen,    diese    beiden  Länder    von  Anfang 
an  durch  eifrige  Mitarbeit  an  der  experimentellen 
und    theoretischen    Klarstellung    des    neuen    For- 
schungsgebiets   mitbeteiligt    waren,   sondern    auch 
dadurch,   daß    namentlich  die  Grundlagen  für  das 
Verständnis   und  die  Ausarbeitung  des  Gebiets  im 
wesentlichen    in   Deutschland    geschaffen    worden 
sind. 

Wenn  dieser  letztere  Umstand  in  der  neuen 
Bearbeitung  auch  nicht  mit  der  wünschenswerten 
Deutlichkeit  zum  Ausdruck  kommt,  so  verdient 
diese  doch  durch  die  ausgezeichnete  Art  der  Dar- 
stellung, namentlich  die  kaum  zu  übertreffende 
Übersichtlichkeit,  die  erstrebte  weilgehende  Voll- 
ständigkeit in  der  Angabe  des  vorliegenden  Tat- 
sachenmaterials und  die  scharfe  Hervorhebung  der 
gesamten  umfangreichen  Literatur  größte  Beach- 
tung. Sie  gewährt  sowohl  dem  Fernerstehenden, 
der  sich  erschöpfend  über  die  einzelnen  Probleme 
der  Radioaktivität  zu  orientieren  wünscht,  als 
namentlich  auch  dem  auf  verwandten  Gebieten 
täligen  F"orscher  einen  vollen  Einblick  in  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Kenntnis  und  die  vor- 
liegende Literatur.  Die  letztere  findet  sich  jeweils 
am  Schlüsse  jedes  Kapitels  oder  Abschnitts  zu- 
sammengestellt —  zur  Vermeidung  einer  Über- 
lastung der  einzelnen  Seiten  durch  zu  zahlreiche 
Fußnoten  und  zur  Erhöhung  der  Übersichtlichkeit 
— ,  während  am  Fuße  jeder  Seite  auf  den  Ort 
der  speziellen  Literaturnachweise  noch  besonders 
hingewiesen  wird.  Um  die  Aktualität  des  Werkes 
bis  in  die  neueste  Zeit  zu  sichern,  haben  die  Verf. 
in  kurzen  im  Anhang  sich  findenden  Nachträgen 
noch  den  während  der  Drucklegung  erschienenen 
Untersuchungen  Rechnung  getragen. 

Der  Gegenstand  selbst  wird  in  7  Kapiteln 
systematisch  behandelt.  Das  erste  enthält  eine 
kurze    historische  Einleitung.     Das   2.  Kapitel  be- 


trachtet „die  Prozesse  der  radioaktiven  Umwand- 
lung" auf  Grund  der  Zerfallstheorie,  die  nicht  mehr 
induktiv  entwickelt  sondern  als  bereits  gesicherter 
Besitz  als  Tatsache  genommen  wird.  Das  3.  Ka- 
pitel behandelt  „die  Prozesse  der  radioaktiven 
Strahlung"  unter  getrennter  Darstellung  der  Ge- 
setze der  drei  verschiedenen  vorliegenden  Strahlen- 
arten. Den  „Wirkungen  der  radioaktiven  Strah- 
lung" ist  das  4.  Kapitel  gewidmet,  während  das 
fünfte  der  ziemlich  ausführlichen  Besprechung  der 
„Maße  und  Meßmethoden"  dient.  Im  6.  Kapitel 
findet  sich  eine  umfassende  Charakteristik  der 
einzelnen  radioaktiven  Substanzen.  Das  7.  Kapitel 
schließlich  enthält  eine  kurze  Zusammenstellung 
der  Kenntnis  der  „Radioaktivität  in  Geophysik 
und  kosmischer  Physik". 

Daß  der  erste  Entwurf  eines  Werkes  dieses 
gewaltigen  stofflichen  Umfangs  noch  gewisse  Ein- 
wände zuläßt,  ist  verständlich.  Was  zunächst  die 
erstrebte  Vollständigkeit  in  der  Berücksichtigung 
der  Literatur  betrifft,  so  vermißt  Ref.  mehrere 
seiner  hierhergehörigen  Arbeiten;  ebenso  erscheinen 
die  wichtigen  Untersuchungen  Lenard's  viel  zu 
wenig  berücksichtigt.  Bei  Besprechung  der  Schmelz- 
verfahren zur  Radiumbestimmung  wird  die  hierher- 
gehörige Untersuchung  Holthusen's  kaum  er- 
sichtlich. Unter  den  Angaben  über  die  Ge- 
schwindigkeitsabnahme der  /S-Strahlen  fehlt  die 
eingehende  Untersuchung  Baxmann's.  Historisch 
nicht  zutreffend  ist  die  auf  S.  166  sich  findende 
Angabe,  daß  „die  in  festen  Dielektriken  durch 
Becquerelstrahlen  hervorgerufenen  lonisierungs- 
erscheinungen"  zuerst  von  Becquerel  konstatiert 
und  dann  erst  vom  Ref  untersucht  worden  seien. 
Sachlich  teilweise  unzutreffend,  teilweise  unklar 
sind  die  Bemerkungen  über  die  von  /5-Strahlen 
erzeugten  Sekundärstrahlen.  Hier  wie  namentlich 
auch  bei  den  Betrachtungen  der  Absorption  der 
(^-Strahlen  vermißt  Ref.  überdies  eine  genügende 
Kritik  der  Literatur  seitens  der  Verf  Wenig  glück- 
lich gewählt  dürfte  auf  S.  146  die  Einteilung  der 
„Ionen  in  Gasen"  sein.  Bei  der  Betrachtung  der 
3  radioaktiven  Strahlenarten  wäre  wohl  ein  Hin- 
weis auf  die  Kenntnis  der  Kanal-,  Kathoden-  und 
Röntgenstrahlen  zu  wünschen,  von  denen  ja  die 
beiden  letzteren  nicht  nur  den  radioaktiven  Strahlen 
analog  sondern  völlig  wesensgleich  sind.    Dadurch 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


623 


würden  die  Gesetze  dieser  Strahlungen  mit  grö- 
ßerer Vollständigkeit  hervortreten,  als  wie  sie  die 
Beschränkung  auf  eine  spezielle  Strahlenquelle  ge- 
winnen lät5t.  Es  möge  schließlich  noch  auf  einen 
Druckfehler  in  der  Angabe  von  R,5  für  AcA  der 
schäl zenswerten  Tabelle  2  aufS.  490  hingewiesen 
werden. 

Ref.  zweifelt  nicht,  das  die  daneben  vorhandenen 
großen  Vorzüge  dem  Werke  zahlreiche  Freunde 
zuführen  und  daher  den  Verf  in  kurzer  Zeit  Ge- 
legenheit geben  werden,  die  noch  vorliegenden, 
hier  teilweise  angedeuteten  Unebenheiten  in  einer 
Neuauflage  zu  beseitigen.  A.  Becker. 


A.  Föppl,  Vorlesungen  über  Technische 
Mechanik.  I.  Band:  Einführung  in  die 
Mechanik.  5.  Aufl.  431  Seiten  mit  104  Fig. 
im  Text.  Leipzig  und  Berhn  191 7,  B.  G.  Teubner. 
Geh.  9,20  M. 
Die  ständige  Nachfrage  hat  in  kurzer  Zeit  eine 

Neuauflage   des  ersten    Bandes  dieses    lange   be- 


nutzten, bewährten  Führers  auf  dem  Gebiet  der 
technischen  Mechanik  notwendig  gemacht.  Es  ist 
sehr  zu  begrüßen,  daß  die  Verlagsbuchhandlung 
trotz  der  Ungunst  der  Zeiten  mit  der  Herausgabe 
nicht  gezögert  und  damit  dem  angehenden  Tech- 
niker auch  für  die  Folgezeit  ein  wertvolles  Hilfs- 
mittel für  seine  Studien  erhalten  hat. 

Der  Inhalt  des  Bandes  ist  gegen  früher  im 
wesentlichen  unverändert.  „Er  ersi  reckt  sich  auf 
die  wichtigsten  grundlegenden  Begriffe,  auf  die 
sich  an  diese  unmittelbar  anschließenden  Sätze 
und  auf  eine  Reihe  der  einfacheren  Anwendungen, 
darunter  auch  auf  solche,  die  in  den  späteren 
Bänden  ausführlicher  behandelt  werden."  Hervor- 
zuheben ist  die  vorbildliche  Klarheit  in  der  Dar- 
stellung und  in  der  elementaren,  durch  die  Be- 
tonung des  Vektorbegriffs  besonders  anschaulichen 
mathematischen  Beschreibung  des  Stoffs.  Dem 
Bedürfnis  des  Praktikers  kommt  die  Anfügung 
praktischer  Zahlenbeispiele  besonders  entgegen. 
A.  Becker. 


Anregungen  und  Antworten. 


Um  das  Kriechen  der  Schnecken 


es  eine  eigene  Be- 
wandtnis. Die  Sohle  oder  der  Fuß,  mit  der  das  Tier  der  Unter- 
lage aufliegt,  gleitet  an  dieser  hin  ohne  Änderung  seiner 
Umrisse  und  wäre  es  selbst  an  einer  senkrechten  oder  an 
der  Unterseite  einer  wagrecht  gehaltenen  Glastafel.  Andere 
Tiere,  die  entsprechend  m  kriechen  vermögen,  bedürfen  zu- 
nächst besonderer  Kleb-  oder  Saugvorrichtungen,  die  der 
Schneckenschlcim  wohl  leisten  kann,  das  Vorwärtskommen 
hängt  ab  von  irgendwelchen  UmriSverschiebungen,  abwechseln- 
des Gewinnen  und  wieder  Lösen  von  Siüizpunkten,  etwa 
Schuppen  und  Rippenenden  bei  Schlangen,  wechselndes  Ein- 
engen und  Anschwellen  des  Körperquerschnitts  wie  beim 
Regenwurm  u.  dgl.  m.  Die  einzige  Möglichkeit,  den  Körper 
ohne  Konturänderung  vorwärts  zu  bringen,  durch  Flimmern 
oder  Cilien  nämlich,  ist  hier  ausgeschlossen  wegen  der  Größe 
des  Schneckenkörpers.  Es  läuft  also  auf  Musktlwirkung 
hinaus.  Im  Haulmuskelschlauch  der  Mollusken  schließen  sich 
an  das  einschichtige  Epithel  Muskelfasern  und  -biindcl  an,  die 
sich  in  den  verschiedensten  Richtungen  kreuzen,  hauptsächlich 
Längsmuskeln,  Quermuskeln,  dorso-ventrale  und  schließlich 
diagonale.  Es  läßt  sich  mit  Sicherheit  zeigen,  daß  die  ürts- 
bewegung  lediglich  von  Längsmuskeln,  die  unmittelbar  über 
der  Sohle  verlaufen,  bewirkt  wird,  und  zwar  am  deutlichsten 
bei  den  Landlungenschnecken.  Eine  Schlammschnecke,  die  in 
umgekehrter  Lage  am  Wasserspiegel  dahingleitet,  zeigt  nur 
auf  der  Sohle  ein  unregelmäßiges  Wellenspiel  wie  ein  vom 
Winde  bewegtes  Ährenfeld  ;  und  wenn  die  Sohle  der  Glaswand 
anliegt,  kommt  von  den  einzelnen  Wellen  nichts  zur  Ansicht, 
sondern  die  ganze  Sohle  verschiebt  sich,  scheinbar  ohne  jede 
innere  Änderung.  Wesentlich  verschieden  verhält  sich  der 
Fuß  einer  Landschnecke,  einer  Helix  etwa  oder  noch  besser 
einer  ,aulacopoden  Form',  bei  der  die  Sohle  durch  zwei  feine 
Längsfurchen  in  drei  Felder  geteilt  ist,  von  denen  nur  das 
mittlere,  ungefärbte,  zur  Lokomotion  dient.  Hier  sehen  wir 
deutlich  Querwellen  in  regelmäßigen  Abständen  und  gleich- 
mäßigem Rhythmus  von  hinten  nach  vorn  das  lokomotorische 
Mittelfeld  durchziehen,  und  zwar  sowohl  an  der  freigehaltenen 
Sohle  wie  an  der,  die  der  Glaswand  anliegt.  Strickleiterartig 
treten  die  Wellen  an  der  kriechenden  Schnecke  hervor,  um  bei 
Ruhe  spurlos  zu  verschwinden.  Ausgelöst  und  reguliert  werden 
die  Bewegungen  durch  ein  feines  Nervennetz  von  ähnlicher 
Strickleitcrform,  das  die  von  den  unteren  Teilen  des  Schlund- 
rings, den  Fußnervenknoten,  ausstrahlenden  F'ußnerven  im 
lokomotorischenFeld  bilden  unter  Einlagerung  zahlreicher  kleiner 
Ganglien.  Wie  empfindlich  der  Apparat  ist,  zeigte  Kunkel 
an  Limax  tenellus,  der  Egelschnecke,  die  sich  im  Sommer  und 
Herbst   häufig   an  Pilzfrüchten   findet.     Läßt  man  von  ihr  ein 


herausgeschnittenes  Stückchen  der  Sohle  unter  dem  Mikroskop 
allmählich  zur  Ruhe  kommen,  so  genügt  ein  Strahl  airikien 
Sonnenlichtes,  um  das  lokomotorische  Wellcnspiel  wieder  in 
Gang  zu  setzen. 

Soweit  die  wesentlichsten  Tatsachen.  Nun  noch  die 
Deutung  1 

Die  regelmäßige  Anordnung  der  Wellen  bei  den  Land- 
schnecken hängt  mit  dem  Medium  insofern  zusammen,  als  im 
Wasser  beinahe  das  ganze  Gewicht  des  Schneckenkörpers  ge- 
tragen wird,  während  in  der  Luft  die  ganze  Körprrlast  zu 
bewegen  ist.  Gleitende  Reibung  hängt  aber  in  erster  Linie 
von  dem  Druck  ab,  den  die  bewegten  Körper  gegeneinander 
ausüben.  Die  Druckpunkte,  bei  den  Wasserschnecken  über 
die  ganze  Sohle  verbreitet,  werden  bei  den  Landschnecken  in 
bestimmte  Querlinien  verlegt,  wodurch  sich  die  gleitende 
Reibung  der  bequemeren  rollenden  Reibung  nähert. 

Die  auffallende  Tatsache,  daß  Schnecken  auf  jeder  Unter- 
lage mit  annähernd  gleicher  Geschwindigkeit  kriechen,  da  doch 
die  glritende  Reibung  sonst  wesentlich  mit  der  Beschaffenheit 
der  Berührungsflächen  wechselt,  erklärt  sich  einfach  aus  dem 
Schleimband,  welches  beim  Kriechen  unausgesetzt  am  Vorder- 
rande gebildet  wird,  so  daß  nur  die  Reibung  zwischen  ihm 
und  der  Sohlenfläche  in  Betracht  kommt. 

Noch  fehlt  aber  die  Erklärung  der  Lokomotion  selbst. 
Wir  sehen  Wellen  an  Längsmuskeln  verlaufen,  die  sie  regel- 
mäßig vorn  um  so  viel  verlängern,  als  sie  sich  nach  deren 
Ablauf  hinten  verkürzen.  Das  kann,  wie  es  scheint,  auf 
doppeltem  Wege  geschehen.  Entweder  der  Muskel  verlängert 
sich,  allen  sonstigen  Erfahrungen  entgegen,  in  der  Tätigkeit 
und  verkürzt  sich  in  der  Ruhe,  so  wie  ich's  vor  fast  40  Jahren 
geschlossen  habe,  —  oder  es  wird  die  große  Schwellbarkeit 
des  Molluskenleibes  durch  die  Hämolymphe,  die  alle  Gewebs- 
lücken  ausfüllt,  zu  Hilfe  genommen.  Man  hätte  sich  dann 
vorzustellen,  daß  durch  eine  lokomotorische  Welle  ein  Haut- 
stückchen blutleer  gemacht  würde,  in  das  dann  nach  Aufhören 
der  Kontraktion  die  Flüssigkeit  unter  dem  allgemeinen  Tonus 
des  Hautmuskelschlauches  wieder  schwellend  einströmte.  Ent- 
scheidende Versuche  sind  bis  jetzt  nicht  gelungen,  und  wir 
wollen  die  Hypothesen  hier  nicht  weiter  verfolgen.  Daß 
meine  Annahme  im  Laufe  der  Jahrzehnte  auf  vielfachen  Wider- 
spruch gestoßen  ist,  versteht  sich  wohl  von  selbst.  Immer 
aber  war  es  leicht,  die  Einwürfe  zurückzuweisen. 

Schließlich  noch  eine  Bemerkung.  Je  tiefer  ein  Geschöpf 
auf  der  tierischen  Leiter  steht,  desto  gleichmäßiger  und  auto- 
matischer vollziehen  sich  seine  Lebensäußerungen,  desto  mehr 
rücken  sie  aus  der  Sphäre  bewußter  Handlungen  in  den  Be- 
reich   des    unbewußten,    sympathischen   Nervensystems.      Der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  44 


lokomotorische  Apparat  der  Schnecken  zeigt  eine  merkwürdig 
scharfe  Mittelstufe.  Das  lokomotorische  Wellenspiel  vollzieht 
sich  völlig  automatisch  gleichmäßig,  ohne  dafi  eine  weitere 
Beeinflussung  oder  Abänderung  möglich  wäre,  wie  etwa  unser 
Puls  oder  Herzschlag  als  Muster  von  Sympathicus-Tätigkeit,  — 
jeweiliger  Anfang  und  Ende  aber  jeder  lokomotorischen  Be- 
wegung wird  vom  Willen  bestimmt,  als  ob  wir  unseren  Herz- 
schlag willkürlich  unterbrechen  oder  iu  Betrieb  setzen  könnten. 
H.  Simroth  f. 

Herrn  Prof.  Dr.  Rosenthaler.  Das  eingesandte  Haferblatt, 
das  eine  schmutzig  braune  Färbung  aufweist,  stammt  von  einer 
Pflanze,  die  von  emer  Milbe ;  Tarsonemus  spirife.x  befallen  ist. 
Die  Milbe  findet  sich  in  den  Scheiden  der  oberen  Blätter  oft  in 
großer  Anzahl.  Durch  den  Befall  wird  die  aulfallende  Färbung 
hervorgerufen.  Zugleich  wird  die  Pflanze  so  geschädigt,  daß  die 
Rispe  entweder  gar  nicht  zur  Entwicklung  kommt,  oder  wenn 
sie  sich  entwickelt,  die  Körner  nicht  ausgebildet  werden. 

Gegen  die  Milbe  selbst  »ind  wegen  ihres  Sitzes  keine 
Mittel  anwendbar.  Zur  Bekämpfung  wird  Fruchtwechsel  und 
starke  Düngung  empfohlen.  Duysen. 


Zu  dem    heute    öfter  behandelten    Thema  „Genießbarkeit 
mancher  bisher  nicht  beachteter  Tiere"  gestatte  ich  mir  einige 
dürften,    der  dabei 


Mitteilungen,    die    auch    den 

nicht  an  den  eigenen  Magen  denkt. 

Wieder  einmal  wurde,  nach  der  „Deutschen  Jägerzeitung", 
in  den  belgischen  Ardennen  eine  Wildkatze  geschossen. 
Sie  gelangte  ins  Berliner  Zoologische  Museum  und  wurde  hier 
als  eine  zweifellos  echte  Wildkatze  bestimmt.  Das  häufige 
Vorkommen  der  Wildkatze  und  des  Fuchses  im  besetzten 
Frankreich  und  Belgien  gehört  zunächst  wie  das  Vorkommen 
des  Wolfes  in  diesen  Ländern  und  zahlreiche  andere  Bei- 
spiele —  solche  aus  dem  Vogelleben  erwähnte  ich  vor  Jahres- 
frist in  dieser  Zeitschrift,  Nr.  36,  1916  —  zu  den  vielen  An- 
zeichen für  die  erst  während  des  Krieges  recht  bekannt  ge- 
wordene Tatsache,  daß  Deutschland  nicht  nur  von  seinem 
östlichen,  sondern  auch  von  seinem  westlichen  .Nachbarlande 
sich  durch  Verarmung  an  allerlei  Warmblütern,  nur  nicht  an 
Hirschen  und  Kehen,  abhebt.  Ich  habe  in  Frankreich  noch 
keine  Wildkatze  gesehen,  aber  so  viele  völlig  wild  lebende 
und  so  viele  wildkalzenähnlich  gefärbte  Hauskatzen,  daß  ich 
die  gelegentliche  Vermischung  von  Hauskatzen-  mit  Wildkatzen- 
blut nicht  für  ausgeschlossen  erachte.  Über  den  Wolf  sei  be- 
merkt, daß  von  ihm  noch  kein  einziges  Kriegserlebnis  aus 
dem  Westen  berichtet,  ganz  anders  als  aus  dem  Osten,  so  daß 
die  Frage  nach  seinem  Vorkommen  in  den  Ardennen  wohl 
neuer  Prüfung  wert  schiene.     Doch  das  nur  nebenbei. 

Zu  jener  Erlegung  einer  Wildkatze  durch  Major  Bad  icke 
wird  mitgeteilt,  daß  die  belgischen  Landleute  den  Schützen 
um  Überlassung  der  Beute  baten,  denn  diese  sei  sehr  gut  zum 
Essen.  Ganz  gewiß  ist  dieses  Urteil  nicht  in  den  Kriegs- 
ernährungsverhältnissen begründet,  die  für  den  Belgier  nicht 
ungünstig  sind,  sondern  rührt    bereits  aus  friedlicher  Zeit  her. 

Zigeuner  verzehren  nicht  nur  —  bekanntlich  —  sehr 
gern  den  Igel,  den  sie  in  Lehm  backen  und  dann  durch 
Abschlagen  der  harten  Lehmkruste  von  den  Stacheln  befreien, 
sondern  es  ist,  wenigstens  aus  früherer,  um  wenige  Jahrzehnte 
zurückliegender  Zeit,  belegt,  daß  herumstreifende  Zigeuner  sich 
auch  gern  in  den  Dörfern  erschlagene  Marder  und  selbst 
Iltisse  geben  lassen,  um  sie  zu  verspeisen. 

In  Jägerkreisen  wurde  neuerdings  öfter  Dachsbraten 
empfohlen,  der  bei  geeigneter  Zubereitung  vortrefflich  sein  soll, 


und  noch  rückhaltloser  ist  in  Fischereikreisen  vom  Küchen- 
standpunkte aus  das  Lob  der  sonst  überaus  schädlichen,  in 
Sachsen  und  Bayern  immer  weiter  vordringenden  Bisamratte, 
deren  Verbreitung  hofi'entlich  mit  durch  diese  neue  Beurtei- 
lung des  Tieres  m  den  fleischknappen  Zeilen  wieder  einge- 
schränkt oder  wenigstens  gehemmt  werden  wird.  Dagegen 
fand  man  am  Fischotter  keinen  Geschmack. 

Vor  unseren  Soldaten  ist  schon  lange  kein  Haushund 
sicher,  wenn  er  ihnen  nicht  durch  den  Vorgesetzten  feierlich 
als  dessen  Eigentum  vorgestellt  ist.  Dabei  sind  diese  Männer, 
die  auch  das  Fleisch  gelallener  Pferde  sehr  schätzen,  immer 
noch  wählerisch  in  ihrem  Geschmack.  Von  gefaßten  vor- 
treftlich  zubereiteten  Gemüsen,  von  „Drahtverhau"  —  das  sind 
gedörrte  Kohlrübenschnitzel  —  und  von  „Schrapnellkugeln" 
—  das  sind,  seitdem  es  Erbsen  kaum  mehr  gibt,  die  überaus 
nahrhaften  Bohnen  —  wird  immer  noch  ein  guter  Teil  ,, weg- 
gehauen", was  besonders  bedauerlich  ist,  wenn  sie  mit  zer- 
kleinertem Fleisch  zusammen  gekocht  wurden.  Weniger,  aber 
auch  noch  genug,  geht  verloren,  wenn  die  Fleiscbportion 
gesondert  verabreicht  wird.  Auf  den  Ernährungszustand  des 
Heeres  —  ich  spreche  nach  Erfahrungen  bei  den  Sachsen,  die 
ja,  durch  ihre  Vorliebe  für  Zucker  und  für  dünnen  Kaffee 
bekannt,  auch  in  Gemüsen  einen  eigenen  Geschmack  haben 
mögen  —  werfen  diese  Tatsachen  sicher  kein  ungünstiges  Licht. 

In  Schaufenstern  deutscher  Wildhandlungen  sieht  man 
jetzt  bekanntlich  Vögel  aller  Art  bis  zum  Bussard.  Wir 
sind  damit  nahezu  in  solchen  Zeilen  wie  in  denen  des  alten 
Naumann,  der  in  seinem  berühmten  Vogelwerk  bei  jeder 
Art  unter  „Nutzen"  ein  Urteil  über  ihr  Fleisch  fällt,  selbst 
beim  Zaunkönig.  Ich  selber  kann  außer  Krähen  und  Seevögeln 
auch  Falken,  die  ich  auf  Helgoland  probierte,  nur  das  Wort 
sprechen.  Daß  man  aus  anderen  Gründen  die  meisten  Falken- 
arten in  Deutschland  nicht  schießen  soll,  bleibt  natürlich 
trotzdem  bestehen. 

Schließlich  erwähne  ich,  was  dem  Franzosen  der  Kiebitz 
bedeutet.  In  den  Departements  Aisne  und  Pas  du  Nord  habe 
ich  nirgends  Kiebitze  zur  Brutzeit  bemerkt,  Kiebitzeier  kennt 
man  nicht,  dagegen  erscheinen  Kiebitze  zahlreich  als  Durch- 
zügler. Ebenso  wird  es  in  der  Champagne  sein,  und  hier 
wird  im  Frühjahr  ein  regelrechter  gewerbsmäßiger  Fang  auf 
Kiebitze  getrieben,  ein  einträgliches,  obschon  im  Anfang  mit 
hohen  Unkosten  verbundenes  Handwerk.  Die  Vögel  gelangen 
nebst  einigen  anderen  in  die  Netze  geratenden  Sumpfvögeln 
in  Friedenszeit  in  großer  Zahl  nach  Paris,  wo  sie  namentlich 
als  Fastenspeise  hoch  begehrt  sind.  In  einem  französischen 
Schloß  sah  ich  auf  einem  großen  Jagdgemälde  in  der 
Strecke  des  Jägers  auch  eine  Drossel  —  wahrscheinlich  Wach- 
holderdrossel,  wenigstens  brütet  die  Singdrossel  dort  sowie 
an  der  Aisne  nicht  —  und  einen  Kiebitz  dargestellt.  Also 
selbst  einen  Schrotschuß  werden  diese  Vögel  in  Frankreich 
wert  gehalten.     (G.G.)  V.  Franz. 


Literatur. 

Gaupp,  Prof.  Dr.  E.  f,  August  Weismann,  sein  Leben 
und  sein   Werk.     Jena  '17,   G.  Fischer.  —  9  M. 

Stratz,  Prof.  Dr.  C.  H.,  Volkszunabme  und  Wehrmacht 
im  Deutschen  Reich.  Eine  naturwissenschaftliche  Betrachtung. 
Mit  7  Abbildungen.     Stuttgart  '17,  F.  Enke.  —  2  M. 

Boas,  J.  E.  V.,  Zur  Auffassung  der  Verwandtschaftsver- 
hältnisse der  Tiere  I.     Kopenhagen    '17,    A.  Bang.    • —    3  Kr. 

Bauer,  Dr.  H.,  Chemie  der  Kohlenstoftverbindungen  III, 
Karbozyklische  Verbindungen.  Berlin  u.  Leipzig  '17,  G.  J. 
Göschen'sche  Verlagshandlung.  —   i   M. 


Inhalt  I  Hans  Günther,  Sulfit- und  Karbidsprit.  S.  609.  Lud  wig  Kat  hari  ner ,  Der  Anthropomorphismusin  derZoologie. 
S.  611.  —  Einzelberichte:  H.  Deslandres,  Sebert,  G.  Lemoine,  GeschUtzfeuer  und  Wellerlage.  S.  613.  Ernst 
Ule,  Die  Vegetation  des  Amazonasgebieles.  S.  615.  Esenbeck  und  W  ilh.  Visch  er.  Physiologischer  Wert  der  Erst- 
lingsblälter.  (2  Abb.)  S.  617.  O.  Hönigschmid,  Isotope  Elemente.  S.  618.  —  Gewinnnung  von  Platin  aus  Gesteinen. 
S.  618.  M.  Physalix  und  G.  A.  Boulenger,  Giftschlangen  und  ungiftige  Schlangen.  S.  619  H.  Spix,  August 
Weismann  als  Naturphilosoph.  S.  621.  —  Bücherbesprechungen:  St.  Meyer  u.  E.  v.  Seh  weidler,  Radioaktivität. 
S.  622.  A.  Föppl,  Vorlesungen  über  Technische  Mechanik.  S.  623.  —  Anregfungen  und  Antworten:  Kriechen  der 
Schnecken.  S.  623.  Haferblalt.  S  624.  Genießbarkeit  mancher  bisher  nicht  beachteten  Tiere.  S.  624.  —  Literatur :  Liste.  S.  624. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,   Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  ii.  November  1917. 


Nummer  45. 


[Nachdruck  verbot« 


Studien  zur  Nervenregeneration. 

(Untersuchungen  von  Prof.   Dr.  J.  Boeke,  Leiden). 

Von  Alexander  Lipschütz,  Bern. 

Mit  8  Abbildungen. 


In  zwei  großen  Arbeiten,  die  in  den  Verhand- 
lungen der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Amsterdam  erschienen  und  mit  einem  reichen 
Tafelwcrk  versehen  sind,  faßt  Boeke  das  Ergebnis 
mehrjähriger,  groß  angelegter  Untersuchungen  über 
die  Nervenregeneration  zusammen. ')  Die  Ergeb- 
nisse, zu  denen  Boeke  gelangt  ist,  gehen  über 
den  engen  Rahmen  der  speziellen  Frage  der 
Nervenregeneration  weit  hinaus  und  machen  die 
Arbeiten  von  Boeke  zu  einem  bedeutungsvollen 
Beitrag  zur  Entwicklungsmechanik. 

I. 
Es  ist  bekannt,  daß  bei  Durchschneidung  eines 
Nerven  der  peripher  von  der  Durchtrennungs- 
stelle gelegene  Anteil  desselben  degeneriert.  Nach- 
dem die  Degeneration  vollzogen  ist,  kommt  es  in 
der  Regel  zu  einer  Neubildung  des  degenerierten 
Anteils,  zu  einer  Regeneration.  Der  regenerierte 
Teil  steht  mit  dem  zentral  gelegenen  Anteil  des 
Nerven  in  kontinuierlicher  Verbindung,  die  sensible 
und  motorische  Funktion  der  gelähmten  Organe, 
etwa  eines  Armes,  wird  wiederhergestellt.  Die 
iVieinungen  der  Forscher  gingen  bis  vor  einigen 
Jahren  darüber  auseinander,  aus  welch  einem 
zellulären  Material  der  regenerierte  Teil  des  Nerven 
entsteht:  ob  er  aus  den  an  Ort  und  Stelle  vor- 
handenen Zellen  bindegewebiger  Natur  gebildet 
wird,  die  am  Aufbau  des  normalen  Nervenstranges 
beteiligt  sind,  oder  ob  er  aus  dem  zentralen  Anteil 
des  durchschnittenen  Nerven ,  der  mit  der  Gan- 
glienzelle in  Verbindung  ist,  herauswächst.  Es  ist 
dieselbe  Frage,  die  in  der  Embryologie  so  lebhaft 
diskutiert  wurde,  die  Frage  über  die  Entstehung 
der  Nerven  während  der  embryonalen  Entwicklung. 
Nach  den  Untersuchungen,  die  Harrison  vor 
etwa  zehn  Jahren  veröffentlicht  hat,  brauchen  wir 
nicht  mehr  daran  zu  zweifeln,  welche  von  den 
beiden  Auffassungen  die  richtige  ist.  Harrison 
schnitt  aus  der  Rückenmarksanlage  von  Frosch- 
embryonen kleine  Stückchen  heraus  und  brachte 
sie  in  Froschlymphe.  Er  konnte  dann  unter  dem 
Mikroskop  das  Herauswachsen  eines  Nervenfortsatzes 
aus  der  isolierten  Ganglienzelle  direkt  beobachten 
und  sogar  die  Geschwindigkeit  dieses  Wachstums 
messen.  Dieser  Versuch  zeigt  uns,  daß  die  Gan- 
glienzelle   die  Fähigkeit  besitzt,    Fortsätze   in   die 


')  J.  Boeke,  Studien  zur  Nervengeneration  I.  Verhande- 
lingen der  Koningklijke  Akademie  van  Wetenschappen  te 
Amsterdam  (Tweede  Sectie).  Deel  XVII,  Nr.  6  und  Stud.  z. 
Nervenregener.  II.  Ebenda.  Deel  XIX,  Nr.  5.  Amsterdam 
1916  und   1917. 


Umgebung  auszusenden,  daß  also  die  Nervenfasern 
unabhängig  von  irgendwelchen  anderen,  peripheren, 
an  Ort  und  Stelle  vorhandenen  Zellen  entstehen 
können. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  eine  Regeneration  eines 
peripheren  Nervenastes  auch  von  dem  zentralen 
Anteil  eines  andern  Nerven  aus  stattfinden  kann. 
Diese  Frage,  die  praktische  Bedeutung  hat,  ist 
mehrfach  experimentell  bearbeitet  worden.  Es 
steht  fest,  daß  der  zentrale  Anteil  eines  motorischen 
Nerven  auch  in  die  Bahn  eines  anderen  motorischen 
Nerven  hineinwachsen  kann.  Ebenso,  daß  man 
den  zentralen  Teil  des  die  Herztätigkeit  hemmen- 
den Vagus  in  die  Bahn  des  Nervus  sympathicus 
hineinleiten  kann,  der  die  Erweiterung  der  Pupille 
und  die  Zusammenziehung  der  Blutgefäße  der 
Kopfregion  vermittelt.  Bei  Reizung  des  Vagus 
kommt  es  dann,  wie  Langley  und  Anderson 
gezeigt  haben,  zu  einer  Erweiterung  der  Pupille 
und  zu  einer  Kontraktion  der  Blutgefäße  des 
Kopfes.  Kann  aber  auch  eine  Vereinigung  eines 
Bewegungsnerven  mit  einem  Empfindungs- 
nerven Zustandekommen?  Das  war  vor  allem 
die  Fragestellung  von  Boeke. 

Boeke  durchschnitt  bei  einer  größeren  Anzahl 
von  Igeln,  die  für  diese  Operation  sehr  geeignet 
und  in  den  Niederlanden  sehr  leicht  zu  haben 
sind,  den  motorischen  Nervus  hypoglossus  und  den 
sensiblen  Nervus  lingualis,  d.  h.  den  Bewegungs- 
nerv und  den  Empfindungsnerv  der  Zunge,  auf  der 
einen  Seite  des  Tieres.  In  einer  Reihe  von  Ver- 
suchen wurde  das  zentrale  Ende  des  Hypo- 
glossus mit  dem  peripheren  Ende  des  Lingualis 
vereinigt,  in  einer  anderen  Reihe  von  Versuchen 
wurde  das  zentrale  Ende  des  Lingualis  mit  dem 
peripheren  Ende  des  Hypoglossus  vereinigt.  Die 
anderen  beiden  Nervenenden,  die  nicht  in  den 
Regenerationsprozeß  hineingezogen  werden  sollen, 
wurden  exstirpiert.  Wie  schon  aus  älteren  Ver- 
suchen, die  von  manchen  Forschern  ausgeführt 
wurden,  bekannt  ist,  kann  es  unter  Umständen  zu 
einer  festen  Verbindung  zwischen  den  beiden 
heterogenen  Nerven  kommen.  Boeke  hat  nun 
eine  sehr  eingehende  histologische  Analyse  bei 
seinen  Versuchstieren  ausgeführt,  um  die  Inner- 
vationsverhältnisse  der  Zunge  genau  verfolgen  zu 
können.  Boeke  zerlegte  sein  Material  jeweils  in 
lückenlose  Serienschnitte  und  er  konnte  dabei  die 
Fasern  der  betreffenden  Nerven  ununterbrochen 
bis  zu  ihren  peripheren  Endigungen  verfolgen.  Die 
Art  des  Befundes  wird  am  besten  durch  die  beiden 
folgenden  Abbildungen  illustriert  (Abb.  I  u.  2).    Ein 


626 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Querschnitt  aus  der  normalen  Hälfte  der  Igelzunge 
(Abb.  i)  zeigt  uns  zu  beiden  Seiten  eines  iVIuskel- 
bündels,  das  längs  getroffen  ist,  Lingualisäste  (L) 
und  Hypoglossusäste  (Hg).  Wir  sehen  die  Felder 
quergetroffener  Nervenfasern.  Abb.  2  ist  ein  Quer- 
schnitt aus  einer  Igelzunge  5  Monate  nach  Durch- 
schneidung des  Hypoglossus  und  Lingualis  und 
Verbindung  des  zentralen  Endes  des  Hypoglossus 
mit  dem  peripheren  Ende  des  Lingualis.  Wir 
sehen,  daß  die  peripheren  Bündel  des  Hypoglossus 
sich  nicht  regeneriert  haben,  die  alte  periphere 
Bahn  des  Hypoglossus  ist  fast  leer.  Dagegen  sind 
die  alten  Bahnen  des  Lingualis  dicht  gefüllt  mit 
quergetroffenen  und  einigen  längsgetroffenen 
Nervenfasern.  DerHypoglossus  oder  der  Bewegungs- 
nerv ist  in  die  peripheren  Bahnen  des  Lingualis 
oder  des  Empfindungsnerven  hineingewachsen.  Es 
findet  also,  wie  Boeke  sich  ausdrückt,  eine 
„heterogene  Regeneration"  statt,  der  Nerv 
gelangt  in  einer  atypischen,  in  einer  heterogenen 


;w 


Abb.  I. 
Schnitt  aus  der  normalen  Zungenhälfte  des  Igels. 
Äste  des  Lingualis  (L),  des  Empfindungsnerven  der  Zunge,  und 
Äste  des  Hypoglossus  [Wf.),  des  Bewegungsnerven  der  Zunge 
im  Querschnitt.  M.  Muskrlfasern  der  Zunge  im  Längsschnitt 
Vergr.  6oo.     Nach  Boeke. 

Bahn  zur  Regeneration.  Boeke  konnte  auch  nach- 
weisen, daß  die  einzelnen  Nervenfasern  innerhalb 
der  alten  röhrenförmigen  Nervenfaserscheiden  ver- 
liefen: „die  neurotropische  Anziehungskraft,  welche 
die  auswachsenden  regenerierenden  Neurofibrillen- 
bündel  zur  peripheren  Nervenbahn  geleitet,  ist  völlig 
indifferent,  und  jede  auswachsende  regenerierende 
Nervenfaser,  welche  auch  ihre  Herkunft,  kommt 
unter  ihren  Einfluß."  Die  Lingualisbahn  ist  so 
weit  von  dem  Hypoglossus  durchdrungen,  daß 
nicht  nur  die  Bahnen  der  größeren  Lingualisäste, 
sondern  auch  die  Bahnen  der  feinsten  Verzwei- 
gungen derselben,  auch  diejenigen  der  Xerven- 
fasernetze  im  Bindegewebe  der  Zungenschleim- 
haut, die  nach  der  einfachen  Durschschnei- 
dung  des  Lingualis  natürlich  alle  degenerieren, 
jetzt  dicht  mit  regenerierenden  Nervenfasern  gefüllt 
waren.  Trotzdem  es  sich  nun  um  Hypoglossus- 
fasern  handelt,  die  in  der  Bahn  des  Lingualis  ver- 
laufen, verläßt  keine  dieser  motorischen  Fasern  die 
Bahn  des  Empfindungsnerven,  es  sproßt  kein 
einziger  Seitenzweig  zu  den  Muskeln  hin. 

Schon    dieser    eine    Befund    ist   von    großem 


Interesse.  Wir  sehen,  daß  regenerierende 
Nervenfasern,  wenn  sie  einmal  in  eine 
bestimmte  periphere  Nervenbahn  ein- 
gedrungen sind,  diese  Bahn  nicht  mehr 
verlassen  können,  sie  wachsen  zwangs- 
weise in  dieser  Bahn  weiter,  ohne  hin- 
aus zu  können.  Das  an  Ort  und  Stelle  vor- 
handene Zellenmaterial  bindegewebiger  Natur  ist 
das  „Gel ei tge webe",  wie  Boeke  sagt,  für  die 
Nervenfasern. 

Als  Boeke  das  eigentliche  Endgebiet  der 
regenerierenden  Hypoglossusfasern  untersuchte, 
konnte  er  feststellen,  daß  diese  Fasern  sowohl  im 
Bindegewebe  als  im  Epithel  Endverästelungen 
gebildet  hatten,  die  zwar  in  vieler  Beziehung  den 
Endverästelungen  von  einfach  regenerierenden 
motorischen  Fasern  glichen,  jedoch  eine  sehr 
innige  Verbindung  zwischen  den  motori-chen 
Nervenfasern    und    dem  Bindegewebe    bzw.    dem 


Abb.  2. 
Schnitt  aus  der  op  er  ierten  Zu  n  ge  nhäl  ft  e  ,  5  Monate 
nach  der  Durchschneidung  des  Hypoglossus  und  Lingualis  und 
Verbindung  des  zentralen  Hypoglossus  mit  dem  peripheren 
Lingualis.  bl  ^  Blutgefäß.  Rechts  oben  sieht  man  zwei 
Querschnitte  durch  die  Lingualisbahn,  die  bei  der  Verfolgung 
einer  lückenlosen  Serie  von  Schnitten  sich  erweist  als  gefüllt  mit 
Hypoglossusfasern.  Die  Hypoglossusbahn  dagegen  ist  fast  leer. 
Nach  Boeke. 

Epithel  herstellten.  Eine  Verbindung,  wie  sie 
normalerweise  nur  zwischen  den  Empfindungs- 
nerven und  diesen  Endstationen  vorhanden  ist. 
Diese  Ergebnisse  müssen  wir  als  einen  Hin- 
weis darauf  betrachten,  daß,  wenn  die  Nerven- 
fasern während  der  embryonalen  Entwicklung  auch 
nicht  peripher  entstehen,  doch  ein  peripheres 
„Geleitgewebe"  anzunehmen  ist,  das  den  aus  den 
Ganglienzellen  auswachsenden  Nervenfasern  den 
Weg  weist,  sie  führt.  Wir  dürfen  jetzt  wohl  sagen : 
die  Nervenfaser  ist  zentralen  Ursprungs 
aber  der  Weg,  den  sie  im  Organismus 
nimmt,  ist  durch  periphere  Momente 
festgelegt.  In  diesem  Sinne  sprechen  übrigens 
auch  ältere  Versuche  von  Harri  so  n.  Er  trans- 
plantierte  eine  noch  nervenfreie  Extremitätenanlage 
auf  eine  normale  Amphibienlarve  und  konnte  fest- 
stellen, daß  aus  der  normalen  Larve  Nervenfasern 
in  die  transplantierte  Extremität  hineinwuchsen, 
gleichgültig    an    welcher  Stelle    des  Körpers   die 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


627 


Transplantation  der  nervenfreien  Extremitäten  vor- 
genommen worden  war.  M 

II. 
Xoch  bedeutungsvoller  war  das  Ergebnis  der 
zweiten  Reihe  von  Versuchen  mit  heterogener 
Regeneration,  wo  das  zentrale  Ende  des  Lingualis 
mit  dem  peripheren  Ende  des  Hypoglossus  ver- 
einigt wurde.  Auch  hier  zeigte  es  sich,  daß  die 
regenerierenden  Nervenfasern,  welche  in  die 
fremde  Nervenbahn  eingedrungen  waren,  die  einmal 
eingeschlagene  Bahn  nicht  mehr  verlassen  konnten. 
Die  alte  Bahn  des  Lingualis  war  hier  vcllkommen 
leer,  das  Bindegewebe  und  das  Epithel  der  Zungen- 


denen  normalerweise  nur  sensible  Fasern  enden. 
Ebenso  treten  Lingualisfasern,  die  in  der  Bahn 
des  Hypoglossus  regenerieren,  an  die  Muskelfasern 
heran  und  bilden  Endverästelungen,  die  auf  diese 
Weise  eine  Verbindung  herstellen  zwischen  sen- 
siblen Fasern  und  einer  Endstation,  in  der  nor- 
malerweise motorische  Fasern  enden.  Während 
nun  aber  die  Endigungen  des  Hypoglossus  im 
Lingualisendgebiet  im  allgemeinen  ungefähr  das 
gleiche  Aussehen  haben  wie  regenerierende  Endi- 
gungen von  Hypoglossusfasern ,  weisen  d  i  e 
Endigungen  des  Lingualis  imHypoglossus- 
endgebiet,  d.  h.  auf  den  Muskelfasern,  einen  Bau 
auf,  der  motorischen  Nervenendigungen  sehr 
ähnlich  ist.  Die  Abb.  3 — 6  mögen  als  Beispiel 
dienen.  Das  Milieu,  die  Umgebung  bestimmt 
hier  somit  den  Bau  der  Nervenendigungen:  die 
Endigungen  des  sensiblen  Lingualis,  der  im  Experi- 


Eine    Muskelfaser    aus    den    Rippenmuskeln    des 
Igels,    etwa    2    Monate    nach    der    Durchschneidung    des  zu- 
führenden Nerven.     Man  sieht  die  regenerierte  Nervenfaser  mit 
der  charakteristischen   Endigung  (motorische   Endplatte). 
Nach  Boeke. 


..\bl,.   4. 

Eine  Muskelfaser  aus  derZunge  des  Igels,  45  Tage 

nach  der  Durchschneiduog  des  motorischen  Nerven  (Hypoglossus). 

Man  sieht  die  regenerierte  Nervenfaser  mit  der  charakteristischen 

Endigung.     Vergr.   1800.     Nach  Boeke. 


Zwei  Muskelfasern  aus  der  Zunge  des  Igels,  etwa 
3  Monate  nach  der  Durchschneidung  des  Lingualis  und  des 
Hypoglossus  und  der  Vereinigung  des  zentralen  Teiles  des 
Lingualis  mit  dem  peripheren  Ende  des  Hypoglossus.  Man 
sieht  die  regenerierten  Nervenfasern,  die  Lingualisfasern 
darstellen,  at>er  Endausbreitungen  gebildet  haben,  wie  sie  für 
motorische  Nervenfasern  charakteristisch  sind.  Vgl.  hierzu 
Abb.  3  und  4.     Nach  Boeke. 


Schleimhaut  waren  von  Nervenfasern  vollkommen 
frei,  während  die  Bahnen  des  Hypoglossus  dicht 
gefüllt  waren  mit  regenerierenden  Fasern  des 
Lingualis.  Insofern  bringen  diese  Versuche  eine 
Bestätigung  der  Befunde,  die  sich  aus  der  ersten 
Reihe  ergeben  hatten.  In  einer  Beziehung  erweitern 
sie  aber  diese  Befunde.  Wir  haben  erwähnt,  daß 
die  Hypoglossusfasern,  die  in  der  Bahn  des  Lin- 
gualis verlaufen,  Endverästelungen  im  Bmdegewebe 
und  im  Epithel  der  Schleimhaut  bilden,  so  daß 
eine  innige  Verbindung  zwischen  den  motorischen 
Fasern    und  jener  Endstation  hergestellt  wird,   in 


')  Harrison,  II.  of  e.xp.  Zool.  1917.  B.  4.  Zitiert  nach 
Verworn,  Bemerkungen  zum  heutigen  Stand  der  Neuron- 
lehre.    Medizin.  Klinik,  Jahrg.   1908,  Nr.  4. 


ment  gezwungen  wird,  die  Bahn  des  motorischen 
Hypoglossus  einzuschlagen,  bildet  in  der  für  ihn 
atypischen  Umgebung,  d.  h.  auf  den  Muskelfasern, 
motorische  Endigungen.  Boeke  formuliert  dieses 
Ergebnis  in  Form  eines  Gesetzes:  „Bei  der 
Nervenregeneration  wird  dieForm  und 
Gestalt  der  ausgebildeten  Endorgane 
im  allgemeinen  bestimmt  durch  die 
Umgebung,  dasMilieu,in  welchem  sich 
die  Endorgane  bilden"...  Das  weniger 
differenzierte  Gewebe  der  Schleimhaut,  in  der 
normalerweise  der  Lingualis  seine  Endigungen 
ausbildet,  übt  augenscheinlich  einen  viel  weniger 
bestimmenden  Einfluß  auf  die  hier  regenerierenden 
Fasern  des  Hypoglossus  aus,  als  das  hochdifferen- 
zierte Muskelgewebe  auf  die  regenerierenden  Fasern 


628 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


des  Lingualis.  Das  dürfte  die  Erklärung  dafür 
sein,  daß  die  Endigungen  der  Hypoglossusfasern, 
die  in  die  Lingualisbahnen  geleitet  werden,  ihre 
Eigenart  in  stärkerem  Maße  beibehalten,  als  die 
Endigungen  der  Lingualisfasern  im  Hypoglossus- 
gebiet. 

Auch  diesen  Befund  möchte  ich  ins  allgemein- 
embryologische  übersetzen:  Die  bestimmte 
Differenzierung,  welche  eine  Zelle  im 
Verlaufe  der  Entwicklung  eingeht,  ent- 
springt nicht  nur  aus  der  mit  der  Zelle 
von  vornherein  gegebenen  Anlage,  son- 
dern sie  wird  mitbestimmt  durch  die 
Umgebung,  in  der  die  sich  differen- 
zierende Zelle  lebt,  durch  die  anderen 
Zellen,  mit  denen  die  Zelle  zusammen- 
lebt. Das  weitere  Schicksal  jeder  ein- 
zelnen Zelle  im  Zellen  verband  wird  in 
gleicher  Weise  bestimmt  durch  die 
an  deren  Zellen  wie  durch  die  eigenenAn- 
lagen. ')  Es  unterliegt  kaum  einem  Zweifel,  daß 
dieses  Moment  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  der 
Zellen  in  der  indivieuellen  Entwicklungsgeschichte 
eine  viel  größere  Rolle  spielt,  als  im  allgemeinen 
angenommen  wird.  Man  geht  viel  zu  weit  mit 
der  Verwendung  des  Begriffs  der  „Anlage".  Dieser 
starre  Begriff  der  Morphologie  oder  der  biologischen 
Statik  muß  mehr  und  mehr  durch  die  Mittel  der 
Entwicklungsphysiologie,  durch  die  biologische 
Dynamik  aufgelöst  werden.  Diemorphogenetischen 
Funktionen  bestimmter  Organe,  z.  B.  der  Puber- 
tätsdrüsen (oder  des  innersekretorischen  Anteils 
der  Keimdrüsen),  der  Hypophyse  u.  a.  sprechen 
in  gleicher  Weise  wie  die  interessanten  Versuche 
von  Boeke  in  dieser  Richtung. 

III. 

Kehren  wir  zu  den  Versuchen  von  Boeke 
zurück.  Nachdem  wir  gesehen  haben,  daß  bei 
der  heterogenen  Regeneration  der  regenerierende 
Nerv  die  ganze  atypische  Bahn  durchläuft,  um 
schließlich  im  Endgebiete  Endorgane  zu  bilden, 
die  sogar  der  Natur  des  Endgebietes  angepaßt 
sein  können,  müssen  wir  uns  fragen,  ob  die  zu- 
standegekommene nervöse  Verbindung 
auch  funktionell  wirksam  ist.  Boeke 
hat  auch  in  dieser  Richtung  eine  Reihe  bedeutungs- 
voller Beobachtungen  gemacht. 

Wenn  man  den  motorischen  Nerv  der  Zunge 
auf  der  einen  Seite  durchschneidet,  so  geraten  die 
Muskelfasern  der  gelähmten  Zungenhälfte  in  einen 
eigentümlichen  hbrillären  Bewegungszustand,  was 
man  mit  bloßem  Auge  oder  mit  der  Lupe  be- 
obachten kann.  Mit  der  Regeneration  des  durch- 
schnittenen Nerven  hören  diese  Bewegungen  all- 
mählich auf.  Boeke  konnte  sich  nun  überzeugen, 
daß  diese  abnormen  fibrillären  Bewegungen  auch 
dann   allmählich    abnahmen    und   schließlich    fast 


unmerklich  werden,  wenn  der  Lingualis  an  Stelle 
des  Hypoglossus  in  die  Bahn  desselben  hinein- 
wuchs und  die  Muskelfasern  erreichte.  ,,Es  schienen 
auch  die  in  die  motorische  Bahn  eingewachsenen 
Lingualisfasern  .  .  .  einen  derartigen  trophischen 
Einfluß  auf  die  Muskelfasern  auszuüben,  und  es 
scheint  mir  angesichts  dieser  Beobachtungen  gar 
nicht  unwahrscheinlich,  daß  nach  künstlicher 
Reizung  des  Lingualis  bei  diesen  Versuchen  ein 
sichtbarer  motorischer  Erfolg,  eine  Kontraktion 
der  Zungenmuskelfasern,  erreicht  werden  könnte." 
Boeke  hat  auch  einen  Befund  erhoben,  der 
darauf  hinweist,  daß  ebenso  der  bis  in  die  Schleim- 
haut hineingewachsene  Hypoglossus  funktionell 
wirksam  ist.  Nach  der  Durchschneidung  des  Lin- 
gualis verschwinden  beim  Versuchstier  alle 
„Schmeckbecher",  welche  sich  in  der  Schleimhaut 
der  Zunge  finden.  Die  Schmeckbecher  stehen  mit 
den  Endverästelungen  des  Lingualis  in  Verbindung 
und  sind  als  Geschmacksorgane  aufzufassen.  So- 
bald die  Nervenfasern  wieder  regeneriert  sind, 
kommen  die  Schmeckbecher  wieder  zur  Ausbildung. 


')  Vgl.  A.  LipschÜtz,  Zur  allgemeinen  Physiologie  des 
Wachstums.  Zeiischr.  f.  allgem.  Physiologie,  Bd.  XVII.  (Er- 
scheint demnächst.) 


\  Abb    8 

Abb.  7. 

Normal  er  Geschmacksbecher  mit  den  charakteristischen 

langgestreckten  Zellen  und  eintretenden  Nervenfasern  aus  dem 

Lingualis.      Normale    linke    Zungenhälfte    (Igel).      Vergr.    750. 

Nach  Boeke. 


Abb.  8. 
In  Regeneration  begriffener  Geschmacksbecher 
mit  eintretenden  Nervenfasern  aus  dem  Hypoglossus,  156  Tage 
nach  der  heterogenen  Nervenverbindung  (zentraler  Teil  des 
Hypoglossus  mit  den  peripheren  Teil  des  Lingujlis).  Vergr.  750. 
Nach  Boeke. 


Auch  die  in  die  Zungenschleimhaut  hineinwachsen- 
den Hypoglossusfasern  scheinen  nun  eine  solche 
stimulierende  Wirkung  auf  die  degenerierten 
Schmeckbecher  auszuüben.  Abb.  7  zeigt  uns 
einen  normalen  Schmeckbecher  aus  der  Zungen- 
schleimhaut mit  den  Endausbreitungen  des  Lin- 
gualis, des  sensiblen  Zungennerven.  Abb.  8  führt 
uns  einen  Schmeckbecher  aus  der  Zunge  desselben 
Tieres  vor,  aber  aus  der  anderen  Zungenhälfte, 
deren  Lingualis  vor  5  Monaten  durchschnitten  und 
mit  dem  zentralen  Ende  des  Hypoglossus  vereinigt 
wurde.  Man  sieht  die  Nervenfasern,  die  nichts 
anderes  sind  als  Endausbreitungen  des  Hypo- 
glossus in  einem  Gebilde,  das  deutlich  als 
Schmeckbecher   zu   erkennen    ist.      Es    unterliegt 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


629 


keinen  Zweifel,  daß  hier  ein  Schmeckbecher,  also 
ein  sensibles  Organ,  unter  dem  Einfluß  eines 
motorischt-n  Nerven  zur  Regeneration  gelangt  ist. 
So  sind  jedenfalls,  Hinweise  darauf 
vorhanden,  daß  die  im  atypischen  Ge- 
biet zur  Regeneration  gelangten  Ner- 
venfasern auch  funktionell  wirksam 
sind.  Die  weitere  Untersuchung  dieser  Frage 
erscheint  sowohl  aus  theoretischen  als  aus  prak- 
tischen Gründen  geboten.  Es  ist  vor  allem  eine 
PVage,  die  auf  der  Grundlage  der  von  Boeke  ge- 
wonnenen histologischen  Erkenntnisse  experimen- 
tell bearbeitet  werden  könnte:  ob  durch  die  Im- 


pulse, die  dem  Lingualis- Hypoglossus  an  der 
Peripherie  durch  Geschmacksreize  zugeführt 
werden,  eine  Beeinflussung  der  nervösen  Zen- 
tren erzielt  werden  kann.  Diese  Frage  greift 
tief  in  die  Physiologie  des  zentralen  Nervensystems 
ein  und  ist  schon  mehrfach  mit  verschiedenen 
Versuchsanordnungen  in  der  Physiologie  bearbeitet 
worden.^)  Die  Befunde  von  Boeke  geben  neue 
methodische  Handhaben  für  die  Bearbeitung  dieses 
großen  Problems. 

')  ^g'-  J-  Vesri,  Zur  Frage  der  Irreziprozität  der  Er- 
regungsleitung in  den  Nervenzentren.  Zeitschrift  f.  allgem. 
Physiologie  Bd.  X,   1910. 


Zur  Psychologie  uud 

[Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.  Richard 

Von  allen  Teilen  der  Psychologie  ist  es  um 
die  Erforschung  des  Gefühlslebens  weitaus  am 
schlechtesten  bestellt.  Die  meisten  Lehrbücher 
behandeln  die  Gefühle  im  Vergleich  zu  den  Emp- 
findungen oder  den  Vorstellungen  äußerst  stief- 
mütterlich, mehr  um  eine  Lücke  zu  fü  len,  als  weil 
sie  wirklich  viel  zu  sagen  hätten.  Und  manche, 
sonst  vortreffliche  Handbücher,  wie  das  von  VV. 
James,  wei.'^en  ganz  unverhüllt  im  Punkt  der  ein- 
fachen Gefühle  eine  klaffende  Lücke  auf. 

Der  Grund  für  diese  Vernachlässigung  ist  einer- 
seits darin  zu  suchen,  daß  die  Gefühle  der  experi- 
mentellen Erforschung  weit  schwerer  zugänglich 
sind;  andererseits  aber  begeht  die  traditionelle 
Psychologie  gleich  an  der  Schwelle  des  Problems 
einen  prinzipiellen  Fehler,  der  jeden  weiteren  Weg 
versperrt.  Dieser  prinzipielle  Fehler  ist  der,  daß 
man  alle  Gefühle  auf  Lust  —  Unlust  reduziert 
und  sich  nicht  klarmacht,  daß  diese  beiden  Be- 
griffe nur  Abstraktionen  von  einer  überaus 
großen  Zahl  von  höchst  mannigfaltigen,  ebenfalls 
durch  Selbstbeobachtung  nachweisbaren  Gefühlen 
sind.  Die  Psychologie  begeht  damit  den  gleichen 
Fehler,  den  vor  ihr  die  Philosophie  so  oft  gemacht 
hat:  den  nämlich,  daß  sie  eine  sehr  weitgetriebene 
und  daher  naturgemäß  sehr  inhalileere  Abstrak- 
tion mit  einer  sehr  einfachen,  sehr  fundamentalen 
Realität  verwechselte.  Genau  so,  wie  die 
Metaphysik  von  der  tausendfältigen  Wirklichkeit 
etwa  das  reine  „Sein"  oder  die  „Substanz"  erst 
durch  Weglassung  aller  IVlannigfaltigkeit  abstrahierte 
und  dann  diese  inhaltsleere,  scheinbar  einfache 
Abstraktion  für  den  Realgrund  der  Welt  ansah, 
genau  so  verfährt  die  Psychologie,  wenn  sie  die 
beiden  leeren  Abstraktionen  Lust— Unlust  für  reale 
Grundformen  des  äußerst  mannigfaltigen  Gefühls- 
lebens ansieht.  Kein  Wunder,  daß  aus  solchen 
Schemen  keine  lebendige  Wissenschaft  erwachsen 
kann! 

Man  braucht  freilich  diese  Abstraktionen  nur 
genau  zu  besehen,  um  ihrer  gespensterhaften  Leere 
gewahr  zu  werden.  Hören  wir,  was  ein  kon- 
sequenter  Vertreter    dieser   Theorie     darüber    zu 


Biologie  der  Gefühle. 

MüUer-Freienfels. 
sagen  hat:  „Ist  es  wirklich  wahr,  daß  die  Freude 
an  einem  guten  Diner  identisch  ist  mit  der  Freude 
an  einer  guten  Handlung?  Der  Verfasser  ant- 
wortet darauf  mit  Ja,  wobei  er  aber  ernstlich 
daran  erinnert,  daß  die  Psychologie  noch  am  An- 
fang steht  und  niemand  diese  Frage  mit  Sicher- 
heit beantworten  kann.  Ein  gutes  Diner  und  eine 
gute  Handlung  unterscheiden  sich  für  ihn  —  nicht 
in  ihrer  Lust:  gerade  darin  sind  sie  gleich,  sondern 
in  beinahe  allem  anderen." ')  —  Uns  scheint  diese 
Lehre,  die  ihr  Verfasser  ja  selber  nur  zögernd 
ausspricht,  völlig  unhaltbar  und  ein  Irrweg  in  die 
graueste  Theorie.  Es  ist  so,  als  wollte  jemand 
behaupten,  daß  ein  gesättigtes  Rot,  ein  gesättigtes 
Blau,  ein  gesättigtes  Gelb,  was  ihre  „Gesättigtheit" 
anlangte,  einander  gleich  wären,  und  als  wollte 
man  nun  die  so  abstrahierte  „Gesättigtheit 
an  sich"  als  einen  realen,  isolierbaren  Faktor  zur 
Erklärung  heranziehen.  Der  logische  Fehler  liegt 
auf  der  Hand!  So  wenig  es  eine  „Gesättigtheit 
an  sich"  als  reale  Komponente  gibt,  so  wenig  gibt 
es  „Lust  an  sich"  oder  „Unlust  an  sich'.  Auch 
diese  Begrifi"e  sind,  das  muß  mit  aller  Entschieden- 
heit betont  werden,  nur  Abstraktionen,  die 
von  grö  ßeren  Komplexen  losgelöst  sind 
und  nicht  selber  als  Realitäten  behan- 
delt werden  dürfen.  Nicht  die  grauen  Ab- 
straktionen „Lust— Unlust"  müssen  der  Forschungs- 
gegenstand der  Psychologie  sein,  sondern  jene 
allein  wirklichen  Gesamterscheinungen,  innerhalb 
deren  jene  beiden  Nuancen  nur  unselbständige 
Eigenschaften  darstellen. 

Im  Gegensatz  also  zu  der  oben  skizzierten  Ge- 
fühlstheorie müssen  wir,  um  die  psychologische 
Tatsächlichkeit  zu  erfassen,  zwei,  mit  einander  in 
Beziehung  stehende  F"eststellungen  machen:  erstens 
daß    es    eine   Mannigfaltigkeit   von  Gefühls- 


•)  Titchener,  Lehrbuch  der  Psychologie  1.  S.  257. 
Vgl.  dazu  die  ausführliche  Kritik  in  meinem  Buche:  Das 
Denken  und  die  Phantasie.  Leipzig  1916.  Joh.  Ambr. 
Barth,  und  meinen  Aufsatz  in  Zeitschr.  f.  Psychologie  68, 
„Zur  Analyse  und  Begriffsbestimmung  der  Gefühle". 


630 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  4S 


erscheinungen  gibt,  die  mit  dem  Gegensatz  Lust  — 
Unlust  nicht  zu  erschöpfen  ist,  und  zweitens  daß 
Lust  und  Unlust  selten  ganz  allein  oder  auch  nur 
allein  in  Verbindung  mit  Empfindungen  oder 
Vorstellungen  auftreten,  sondern  daß  sie  stets  als 
Seiten  oder  Färbungen  (beides  natürlich  nur 
vergleichsweise  zu  verstehen)  eines  größeren  emo- 
tionalen Komplexes  erscheinen,  die  ich  hier  kurz 
als  „Stellungnahme"  bezeichnen  will. 

Die  Pluralität  der  Gefühle  ist  bereits  seit 
längerer  Zeit  von  bedeutenden  Forschern  vertreten 
worden.  Leider  hat  sie  Wundt,  der  im  Prinzip 
eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  Gefühlen  an- 
erkennt, in  seine  Dreidimensionentheorie  eingeengt, 
die  ihrerseits  der  Kritik  große  Angriffsflächen  bot 
und  daher  der  pluralistischen  Gefüiilstheorie  in  der 
Gesamtheit  geschadet  hat,  obwohl  sie  nur  eine 
Möglichkeit  derselben  ist,  die  durch  andere  ersetz- 
bar wäre. ')  Ohne  hier  im  einzelnen  darauf  ein- 
zugehen, stellen  wir  jedenfalls  in  Übereinstimmung 
mit  Wundt  eine  unbegrenzte  Mannigfaltigkeit  der 
Gefühle,  d.  h.  der  subjektiven  Reaktionen  oder 
Stellungnahmen  fest,  die  mindestens  so  groß  ist 
wie  die  der  Empfindungen  oder  Vorstellungen. 

Das  ist  durch  eine  einfache  Überlegung  einzu- 
sehen; denn  da  uns  sowohl  die  Selbstbeobachtung 
wie  der  Vergleich  mit  anderen  zeigt,  daß  man  auf 
jede  Empfindung  oder  Vorstellung  zu  verschiedenen 
Zeiten  auch  ganz  verschieden  zu  reagieren  pflegt, 
so  muß  notwendig  die  Mehrheit  der  Gefühle,  d.  h. 
der  subjektiven  Reaktionen,  noch  größer  sein  als 
die  der  Empfindungen  oder  Vorstellungen.  Aber 
auch  abgesehen  von  solchen  Erwägungen  belehrt 
uns  die  Selbstbeobachtung,  daß  sobald  wir  einmal 
die  Beschränkung  der  subjektiven  Stellungnahmen 
auf  die  Abstraktionen  Lust — Unlust  fallen  lassen, 
nicht  nur  das  Gefühl  gegenüber  einem  guten  Diner 
eine  ganz  andere  Stellungnahme  ist  als  das  Ge- 
fühl gegenüber  einer  guten  Handlung  oder  einer 
Beethoven'schen  Symphonie,  nein  wir  finden  sogar, 
daß  dieselbe  Symphonie  uns  heute  lebhaft  er- 
regen, morgen  beruhigen,  übermorgen  uns 
indifferent  lassen  kann.  Oder  welch  unendliche 
Fülle  von  Stellungnahmen,  subjektiven  Zuständen 
erleben  wir  täglich  gegenüber  demselben  Menschen! 
Welche  psychologische  Blindheit  gehört  dazu,  um  die 
tausend  Schwankungen  des  Gefühls,  deren  die 
Liebe  oder  die  Freundschaft  fähig  sind,  in  die 
dürftigen  Kategorien  Lust  und  Unlust  einzuteilen ! 
Man  bedenke  nur,  wieviel  Ausdrücke  selbst  die 
Sprache,  deren  Armut  in  dieser  Hinsicht  von 
Dichtern  doch  so  oft  beklagt  worden  ist,  für  Lust- 
und  Unlustzustände  hat!  „Freude",  „Jubel",  „Selig- 
keit", „Gefallen",  „Annehmlichkeit",  „Behagen", 
„Entzücken"  sind  nur  ein  paar  Ausdrücke  einer 
langen  Reihe,  die  ebenso  für  die  Unlustscite  be- 
steht. Und  doch  ist  auch  jeder  dieser  Begriffe 
noch  ein  viel  zu  plumpes  Gefäß,  um  die  unzähligen 

')  Vgl.  Vi^undt,  Grundriß  der  Psychologie  9.  Aufl.  S.  98. 
Als  weitere  Anhänger  der  pluralistischen  Gefühlstheorie  nenne 
ich  u.  a:  Th.  Lipps,Ribot,  Maier,  Orth,  Österreich, 
Alechsief.  Näheresbei  Müller-Freienfels  a.a.O.  S.  23. 


Schattierungen  und  Schwankungen  der  Gefühle 
zu  fassen  1  Alle  diese  komplexen  Gefühlszustände, 
besonders  die  sogenannten  Affekte  als  Verbindungen 
von  Vorstellungen  mit  Lust — Unlust  erklären  zu 
wollen,  ist  ein  völlig  verfehltes  Unternehmen. 

Dazu  gibt  es  noch  eine  große  Anzahl  subjek- 
tiver Zustände,  also  Gefühle,  die  überhaupt  nicht  in 
jenen  Gegensatz  Lust  —  Unlust  unterzubringen  sind. 
Man  denke  an  die  Gefühle  ')  der  ,, Neuheit",  der 
„Fremdheit",  der  „Größe",  der  „Bekannlheit",  der 
„Vertrautheit",  der„Dasselbigkeit",  der  „Indifferenz" 
(die  keineswegs  ein  bloßes  Fehlen  von  Gefühlen, 
sondern  selbst  ein  sehr  positives  Gefühl  ist).  Auch 
hier  vermöchte  eine  Aufzählung  nicht  zu  er- 
schöpfen. Selbst  an  einen  Klassifikationsversuch 
können    wir  aus  Raumgründen   nicht  herantreten. 

Alle  diese  Zustande,  die  an  sich  weder  Lust 
noch  Unlust  sind,  können  doch  entschieden  Lust — 
Unlust-färbung  tragen.  Und  zwar  kann  jeder  von 
ihnen,  sagen  wir  das  Gefühl  der  Fremdheit  oder 
das  der  Größe,  sowohl  lustbetont  wie  unlustbetont 
sein.  In  allen  diesen  Fällen  ist  die  Lust  wie  die 
Unlust  nichts  Selbständiges  neben  jenen  Gefühlen, 
sondern  —  wie  gesagt  —  nur  eine  Färbung,  eine 
Betonung,  eine  Seite  eines  größeren  Gefühls- 
komplexes, der  gesamten  subjektivenStellungnahme. 
*  * 

* 

Damit   sind    wir   bereits    zu    der   zweiten    der 

obenangeführten  Tatsachen  gelangt :  daß  sehr  selten 
Lust  oder  Unlust  die  einzigen  Stellungnahmen  des 
Ich  zu  einem  Eindruck  oder  einer  Vorstellung  sind. 
Gewiß  tritt  die  Lust-  oder  Unlustfärbung  oft  so 
stark  hervor,  daß  es  scheinen  mag,  sie  seien  allein 
da.  Indessen  ergibt  genaueres  Nachforschen 
meistens  sehr  bald,  daß  hinter  der  Lust  oder  der 
Unlust  noch  andere  seelische  Tatsachen  stecken. 
Beginnen  wir  mit  einem  aus  Schopenhauer 
bekannten  Beispiele,  mit  der  Lust  an  der  Schön- 
heit des  weiblichen  Körpers.  Bekanntlich  zeigt 
Schopenhauer  sehr  überzeugend,  daß  alle 
Lustbewertung  in  dieser  Hinsicht  zurückgeht  auf 
Geschlechtsregungen.  Kurz  formuliert  ließe  sich 
das  aussprechen:  Eine  wohlgebildete  weibliche 
Gestalt  erregt  unseren  Geschlechtstrieb  nicht  lust- 
voll, weil  sie  „schön"  ist ;  nein,  wir  nennen  sie  schön, 
weil  sie  unseren  Geschlechtstrieb  erregt,  was  an 
sich  lustvoll  empfunden  wird.  Darüber,  daß  jede 
Erregung  unserer  Organe,  falls  sie  nicht  überstark 
oder  sonstwie  unadäquat  ist,  als  lustvoll  empfunden 
wird,  soll  später  gesprochen  werden.  Wir  stellen 
zunächst  nur  fest,  daß  in  sehr  vielen  „Schönheits- 
gefühlen" eine  latente  Erregung  des  Geschlechts- 
triebs mitschwingt,  die  sich  auch  im  Bewußtsein 
geltend  macht  und  von  einer  unvoreingenom- 
menen Selbstanalyse  mit  Sicherheit  zu  erkennen 
ist.     Es  ist  zuzugeben,  daß  in  der  rein  ästhetischen 

')  Avenarius  führt  für  diese  psychologischen  Tatbestände 
den  Begriff  des  „Charakters"  ein.  Wir  sagen  „Stellung- 
nahme", erweitern  aber  auch  den  Begrifl'  des  Gefühls  durch- 
aus im  Sinne  der  Umgangssprache  so,  daß  er  jene  Zustände 
umfaßt.  Ebenso  Th.  Lipps,  Vom  Fühlen,  Denken, 
Wollen  S.   1  ff. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


631 


Betrachtung  dieser  triebhafte  Bestandteil  oft  ganz 
zurücktritt,  was  jedoch  nichts  gegen  sein  ursprüng- 
liches Vorhandensein  beweist. 

Dieser  Fall  nun  ist  typisch.  Die  Lust  ist  nur 
eine  Nebenerscheinung  einer  komplexeren  seelischen 
Stellungnahme,  die  sich  als  trieb-  oder 
willens haft  erkennen  läßt.  Das  ist  aber  bei 
fast  allen  Gefühlen  der  Fall.  Wie  dort  ein  latenter 
Geschlechtswille  der  Kern  des  Lustgefühls  ist,  so 
steckt  in  allen  Lustgefühlen  ein  Streben,') 
irgendein  Trieb  oder  ein  Begehren,  die  nur  oft 
sich  in  ihrem  Wesen  nicht  enthüllen.  Analysiert 
man  jedoch  die  Lust,  die  z.  B.  ein  Erfolg  mit  sich 
bringt,  so  wird  man  als  eigentliche  Triebfeder 
eines  solchen  Erlebnisses  den  Willen  zur  Selbst- 
behauptung und  Selbsterhöhung  des  Ich  erkennen. 
—  Umgekehrt  steckt  in  aller  Unlust  ein  negatives 
Streben.  Die  Unlust,  die  wir  beim  plötzlichen 
Anblick  einer  Schlange  empfinden,  ist  eine  Neben- 
erscheinung der  Furcht,  d.  h.  eines  negativen 
Strebens  zur  Selbsterhaltung.  Die  Unlust,  die  eine 
Beleidigung  in  uns  hervorruft,  hat  ihren  Grund  in 
einer  negativen  Erregung  des  Willens  zur  Selbst- 
erhöhung des  Ich.  Kurz,  es  läßt  sich  sagen,  Lust 
und  Ulilust  treten  nicht  allein  in  der  Seele  auf, 
sie  sind  nur  Nebenerscheinungen  komplexerer 
Stellungnahmen  unseres  Ich,  vor  allem  der  Trieb- 
und  Willensregungen.  Und  zwar  ist  Lust  das 
Zeichen  einer  adäquaten  Erregung,  Unlust  das 
Anzeichen  einer  konträren,  hemmenden, 
inadäquaten  Erregung. -j 

Über  die  Art  der  Bewertung  jenes  Triebes,  ob 
er  als  lustvoll  oder  unlustvoll  ins  Bewußtsein  tritt, 
läßt  sich  kurz  sagen,  daß  im  allgemeinen  jede 
Bejahung  des  Triebes,  d.  h.  jede  ungehemmte 
Tätigkeitsauslösung  als  lustvoll  empfunden  wird, 
während  jede  Verneinung  des  Strebens,  jede  Hem- 
mung als  unlustvoll  bewertet  wird.  Man  bezeichnet 
diejenige  Lust,  die  durch  die  adäquate  Erregung 
eines  Triebs  ausgelöst  wird,  auch  als  „F  u  n  k  t  i  o  n  s  - 
lust",  womit  man  ausdrücken  will,  daß  sie  durch 
das  bloße  Ausüben  einer  Funktion  ausgelöst  wird. 
Denn  jedes  Nervenzentrum  hat  in  sich  das  vitale 
Bedürfnis,  geübt  zu  werden,  wenn  es  regelrecht 
ernährt  ist.  Die  Lust  ist  eine  psychische  Begleit- 
erscheinung der  erwünschten  Betätigung.  Die 
Unlust  hinwiederum  ist  das  Anzeichen  dafür,  daß 
entweder  ein  Trieb  gestört  wird  oder  daß  seine 
Inanspruchnahme  in  keinem  adäquaten  Verhältnis 
zu  der  verfügbaren  Energie  steht.  Daher  löst  jede 
allzustarke  Erregung  Unlust  aus.  Manche  Triebe 
und  Willensregungen  sind  an  sich  negativ,  wie  die 
Furcht,  der  Neid  usw.:  bei  diesen  bringt  jede  Er- 
regung, wenn  sie  nicht  durch  Begleiterscheinungen 
paralysiert  wird,  Unlust  hervor,  da  die  physiologische 
Komponente  solcher  Gefühle  aus  Störungen  und 
Hemmungen  besteht.*) 

')  Diese  Ansicht  findet  man  ebenfalls  vertreten  bei  Th. 
Lipps,  a.  a.  O.  S.   16 ff. 

*)  Experimentell  ist  das  festgestellt  durch  Münsterberg, 
Beiträge  zur  experim.  Psychologie  IV. 

3]  Näheres  darüber   in  den  Schriften  zur  Affektlebre  von 


Nach  alledem  können  wir,  das  Bisherige  zu- 
sammenfassend, sagen,  das  es  ganz  falsch  ist,  Lust 
und  Unlust  als  gesonderte  seelische  Erscheinungen 
aufzufassen.  Vielmehr  muß  man  sie  als  Begleit- 
erscheinungen komplexerer  emotionalerTatbestände 
ansehen,  deren  innerster  Kern  trieb-  oder  willens- 
haft  ist.  Gewiß  tritt  oft  im  Bewußtsein  die  Be- 
gleiterscheinung fast  allein  heraus,  indessen  ihre 
Wurzel,  ihre  treibende  Kraft  steckt  doch  in  einem 
Triebe,  der  sich  der  eindringenden  Analyse  stets 
erschließt  und  der  der  Lust  oder  Unlust  auch 
jene  spezifische  Färbung  verleiht,  von  der  wir 
im  Anfang  sprachen. 

*  * 

Indessen  scheint,  selbst  wenn  man  diese  Anschau- 
ung für  die  Affekte  wie  Liebe,  Haß,  Hochmut  und 
ähnliches  zugibt,  dennoch  als  Einwand  nahezuliegen, 
daß  gerade  die  „einfachsten"  Gefühle,  diejenigen, 
die  in  der  P.sychologie  vor  allem  untersucht  werden, 
sich  nicht  als  triebhaft  erweisen  ließen.  Also  vor 
allem  jene  „Empfindungsgefühle",  die  sich  an  den 
Eindruck  eines  schönen  Akkordes,  einer  leuchten- 
den Farbe,  an  den  Geschmack  des  Zuckers  an- 
schließen, diese  seien  doch  —  so  wird  man  be- 
haupten —  „reine"  Lustgefühle,  ohne  Begeh- 
rungsrharakter.  Man  wird  vielleicht  sogar  darauf 
hinweisen,  daß  allen  ästhetischen  Gefühlen  insbe- 
sondere, der  landläufigen  Definition  gemäß,  jedes 
Begehrungsmoment  fehle. 

Dem  werden  wir  entgegnen,  daß  zunächst  die 
„Einfachheit"  der  ästhetischen  Gefühle  keineswegs 
natürlich  ist,  sondern  eine  anerzogene  Abstraktion 
ist.  Das  Kind  kennt  keine  begehrensiose  Lust. 
Nach  allem,  was  ihm  gefällt,  streckt  es  sofort  die 
Hände  aus,  sucht  es  an  sich  zu  ziehen  und  wo- 
möglich in  den  Mund  zu  führen.  Erst  allmähliche 
Erziehung  bringt  den  Menschen  dazu,  bei  wohl- 
gefälligenEindrücken  dasBegehren  zurückzudrängen, 
und  in  der  Tat  gelingt  das  denn  auch  mit  den 
Jahren  besonders  bei  Tönen  und  Farben,  die  nicht 
unmittelbar  auf  Triebe  wirken.  Wieweit  auch  bei 
erwachsenen  Menschen  die  Fähigkeit  geht,  sich 
rein  ästhetisch,  begehrenslos  an  der  Schönheit 
einer  verlockenden  Frucht  zu  erfreuen,  das  hängt 
sehr  von  der  Individualität  und  —  dem  Hunger  ab. 

Aber  bleiben  wir  zunächst  bei  jenen  Fällen,  in 
denen  wir  über  eine  schöne  Farbe  Lust  empfinden, 
ohne  daß  ein  Begehren  uns  bewußt  wäre.  Liegt 
nicht  vielleicht  doch  ein  unbekanntes  Begehren  zu- 
grunde? Vielleicht  zeigt  der  negative  Fall  den 
Sachverhalt  noch  deutlicher.  Nehmen  wir  an,  wir 
hörten  neben  uns  den  schneidenden  grellen  Pfiff 
einer  Lokomotive,  der  uns  lebhafteste  Unlust  aus- 
löste. Beobachten  wir  uns  dabei  genau,  so  be- 
merken wir  in  uns  ein  lebhaftes  Widerstreben  gegen 
den  Eindruck,  ein  Begehren  ihm  zu  entfliehen. 
Und  diese  triebhaften  Erregungen,  die  sich  in 
allerlei  Bewegungen  und  Handlungen  entladen, 
sind    nicht   etwa    von    der  Unlust    abhängig,    nein 


James,     Lange,    Ribot,    bes.     dessen    „Psychologie    des 
Sentiments". 


632 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


sie  sind  sogar  oft  zeitlich'voraufgehend.  Besonders 
bei  plötzlichem  Schreck  können  wir  beobachten, 
daß  wir  erst  zusammenfahren  und  uns  nur  all- 
mählich der  Unlust  bewußt  werden.  In  allen 
diesen  Fällen  ist  der  Trieb,  dem  Eindruck  zu  ent- 
fliehen, nicht  etwas  Nebensächliches,  sondern  er 
hängt  innerlich  mit  der  Unlust  zusammen.  Selbst 
wenn  man  die  bekannte  „periphere"  Theorie  der 
Gefühle,  daß  diese  nur  Begleiterscheinungen  der 
Ausdrucksbewegungen  seien,  nicht  in  Bausch  und 
Bogen  annimmt,  wenn  man  sich  bloß  auf  den 
psychologischen  Sachverhalt  beschränkt,  wird  man 
zugeben  müssen,  daß  in  jedem  Unlustgefühl,  nicht 
als  Abhängige  davon,  das  Bestreben  steckt,  sich 
dem  Eindruck  zu  entziehen.  Ebenso  steckt  in 
jedem  Lustgefühl  der  Trieb,  dabei  zu  verweilen, 
ja  das  Lustgefühl  auf  sein  Maximum  zu 
steigern.  Das  genießende  Auskosten  der  Lust 
enthält  dies  Streben  ganz  unverkennbar.  Und  es 
dürfte  kaum  ein  Lustgefühl  geben,  in  dem  wenigstens 
der  Trieb,  dabei  zu  verweilen,  ja  es  noch  besonders, 
intensiv  zu  erleben,  mit  Sicherheit  sich  der  Analyse 
erschließt.  Und  zwar  ist  dieser  Trieb  nichts  Sekun- 
däres; er  ist  der  innerste  Kern  des  Gefühlserleb- 
nisses. Scharf  formuliert  würde  das  bedeuten: 
Wir  begehren  einen  Eindruck  nicht, 
weil  er  lustvoll  ist,  sondern  weil  wir 
ihn  begehren,  ist  er  lustvoll.  Das  Sprich- 
wort, daß  Hunger  der  beste  Koch  sei,  sagt  im 
Grunde  dasselbe  aus.  Auch  die  bestzubereitete 
Speise  erregt  uns  keine  Lustgefühle,  wenn  wir 
übersättigt  sind.  Der  Hunger  ist  also  die  innerste 
Triebkraft  des  Wohlgeschmacks.  Daß  in  der  ge- 
wöhnlichen Meinung  dieser  Tatbestand  auf  den 
Kopf  gestellt  ist,  hat  seinen  Grund  darin,  daß  der 
Hunger  vielfach  nicht  vorher  im  Bewußtsein  war, 
daß  er,  wie  ein  anderes  Sprichwort  sagt,  oft  erst 
während  des  Essens  kommt.  Aber  latent  muß  er 
vorhanden  gewesen  sein,  und  es  sind  ja  die 
raffiniertesten  unserer  Küchen-  und  Kellergenüsse, 
die  —  indem  sie  scheinbar  unseren  Hunger  oder 
Durst  stillen  —  zugleich  ihn  aufs  neue  reizen. 

Indem  wir  aber  nun  weiter  fragen,  welcher 
Art  denn  die  Triebe  seien,  die  die  gewöhnlichen 
Empfindungsgefühle,  das  Wohlgefallen  an  einer 
leuchtenden  Farbe,  einem  feineren  Ton  auslösen 
sollen,  kommen  wir  wieder  auf  den  Begriff  der 
Funktionslust  zurück,  den  wir  oben  streiften,  und 
zugleich  damit  nähern  wir  uns  der  biologischen 
Erklärung  des  Gefühlsphänomens. 

Wir  sagten  oben,  das  jedes  wohlgenährte 
Organ  unseres  Körpers  das  Bedürfnis  hat,  sich  zu 
betätigen,  wenn  es  nicht  verkümmern  soll.  Das 
gilt  auch  von  allen  Sinnesorganen.  Sie  bedürfen, 
damit  die  nötigen  Wechsel  von  Dissimilation  und 


')  Die  periphere  Theorie  ist  begründet  von  K.  Lange 
und  W.  James  und  ist  seitdem  in  zahllosen  Schriften  für 
und  wider  erörtert.  Eine  gute  Übersicht  in  dem  „Literatur- 
bericht" von  M.  Kelchner,  Archiv  für  System.  Psych.  .Will. 

^)Über  die  im  Lust — Unlustphänomen  steckendenBewegungs- 
erscheinungen  vgl.  besonders  die  Experimente  H.  Münster- 
bergs, 


Assimilation  im  Organ  stattfinden,  der  Reizung, 
„trophischer"  Reize,  wie  Verworn  sie  nennt.') 
Es  besteht  demnach  in  jedem  Organ  ein  Bedürf- 
nis, ein  Trieb,  gereizt  zu  werden.  Wir  können 
ihn  den  Reizhunger  oder  den  Reiz  trieb 
nennen.  Infolgedessen  wirken  alle  kräftigen,  nicht 
überstarken  Lichteindrücke  oder  Schalieindrücke 
auf  den  naiven  Menschen  so  unmittelbar  lustvoll, 
eben  weil  sie  diesem  latenten  Reizhunger  ent- 
gegenkommen. Beim  Kulturmenschen  durchkreuzen 
freilich  mancherlei  Vorstellungen  und  besondere, 
anerzogene  seelische  Konstellationen  die  naive  Reiz- 
lust, dergestalt,  daß  er  allerlei  qualitative  Kom- 
plikationen braucht,  um  starke  Lust  zu  empfinden. 
Aber  auch  diese  kann  sich  letzten  Endes  doch 
auf  den  primitiven  Reizhunger  zurückführen.  -)  Das 
Streben  zum  „Verweilen"  bei  dem  Reiz,  zum 
möglichst  intensiven  Auskosten,  das  wir  oben  er- 
örterten, ist  nur  eine  Sonderform  dieses  Reiz- 
hungers. 

Nur  nebenbei  wollen  wir  hier  die  Tatsache 
erwähnen,  daß  in  den  Assimilationsvorgängen  und 
vielen  Weiterleitungen  auch  die  physiologische 
Basis  der  Lust  =  Unlustgefühle  mit  einer  gewissen 
Wahrscheinlichkeit  gesucht  worden  ist.  Bei  einem, 
dem  Gesamtsystem  gut  angepaßten  Reizvorgang 
tritt,  wie  Lehmann'')  sagt  „Bahnung"  ein,  d.  h. 
eine  Verteilung  der  Erregung  auf  andere  Zentra, 
die  dann  ebenfalls  lustvoll  erregt  werden.  Wir 
enthalten  uns  an  dieser  Stelle  einer  Kritik  dieser 
Anschauungen,  die  natürlich  noch  lange  nicht  rest- 
los geklärt  sind  und  vor  allem  für  die  Affektlust 
und  Unlust  noch  wichtiger,  in  dem  peripheren 
Nervensystem  zu  suchender  Ergänzungen  bedürfen. 
-•=•■  * 

Wir  erörtern  nur  noch  kurz  die  Frage  nach 
der  biologischen  Stellung  von  Lust  — 
Unlust.  Seit  Aristoteles,  auf  den  ja  fast  alle 
Teleologie  in  der  Naturwissenschaft  letzten  Endes 
zurückführt,  hat  man  vielfach  gerade  in  dem 
Umstand,  daß  die  Lustgefühle  solche  Erregungen 
begleiten,  die  dem  betreffenden  Organ  oder  System 
nützlich  sind  und  daß  deshalb  die  Lust  unser 
Begehren  erwecke,  die  Gefühle  teleologisch 
zu  erklären  gesucht.  Diese  Teleologie  aber  ent- 
spricht weder  der  kausalen  Naturdeutung  noch 
den  Tatsachen.  Die  von  mir  vertretene  An- 
schauung ermöglicht  nicht  nur  eine  durchaus 
kausale  Erklärung  und  Ausschaltung  aller 
Teleologie,  sie  trägt  auch  den  Tatsachen  besser 
Rechnung.  Wir  sagten,  daß  wir  unser  in  diesem 
Fall  oft  trügerisches  Bewußtsein  ausschalten  müssen, 
daß  wir  nicht  darum  nach  etwas  streben,  weil  es  Lust 
verspricht,  sondern  daß  wir  Lust  empfinden,  weil 
der  betreffende  Reiz  ein  Streben  befriedigt,  also 
eine  psychophysiche  Spannung  löst.  Diese  Er- 
klärung ist  durchaus  kausal,  ohne  jede  Teleologie. 


')  Vgl.  Verworn:  .Mlgemeine  Physiologie  ^     520  ff, 

••=)  Vgl.  meine  „Psychologie  der  Kunst"  Bd.  II  S.  2off. 

'^)  vgl.   AI  fr.  Lehmann:    Die  körperlichen  .Äußerungen 
der  psychischen  Zustände.     I  301  ff. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


633 


In  unserem  Nervensystem  bilden  sich  physiko- 
chemische Konstellationen,  die  als  Trieb  wirksam 
werden  und  als  Streben  ins  Bewußtsein  treten: 
stellt  sich  nun  ein  Reiz  ein,  der  diese  Spannungen 
aufhebt,  so  wird  er  lustvoll  bewertet,  weil  er 
erstrebt  war  und  weil  er  die  latente  Spannung 
aufhob.  In  all  diesen  Fällen  wäre  auch  nach 
der  alten  Anschauung  die  Teleologie  „unbewußt" 
gewesen. 

Aber  auch  wo  der  Vorgang  „bewußt"  ist,  d.  h. 
wo  eine  Vorstellung  des  erstrebten  Reizes  dem 
Reiz  selber  vorausging,  ist  die  Sachlage  im  Grunde 
dieselbe.  Auch  die  den  Willen  auslösende  Vor- 
stellung wird  nicht  deshalb  zu  verwirklichen  ge- 
sucht, weil  sie  lustvoll  ist,  sondern  nur  darum  ist 
sie  lustvoll,  weil  sie  einem  Trieb,  einem  Bedürfnis 
entgegenkommt.  Sind  wir  völlig  gesättigt,  so 
vermag  die  Aussicht  auf  die  sonst  willkommenste 
Mahlzeit  uns  kein  Lustgefühl  zu  erwecken,  weil 
kein  Streben,  kein  Bedürfnis  danach  vorhanden 
war.  Haben  wir  aber  Hunger,  so  kann  die  Vor- 
stellung der  einfachsten  Speise  uns  Lust  erwecken, 
weil  jene  Vorstellung  eben  einem  Trieb,  einem 
Bedürfnis  entgegenkommt.  Wir  sehen  also,  die 
Teleologie  ist  durchaus  bloß  scheinbar,  in  Wirk- 
lichkeit läßt  sich  der  Vorgang  rein  kausal  erklären. 
Kein  Reiz  erweckt  im  teleologischen  Sinne  darum 
Lust,  um  biologisch  nützliche  Begehrungen  zu  er- 
regen; nein,  wenn  ein  Reiz  biologisch  nützlichen 
Begehrungen  entgegenkommt,  ist  er  von  Lust 
begleitet.  Der  biologische  Nutzen  ist  dann  nicht 
das  Ziel,  sondern  die  Ursache  des  Lustgefühls. 
Nur  so  läßt  sich  die  Gefühlstheorie  in  durchaus 
natürlicher  Weise  mit  dem  kausalen  Denken  ver- 
einen. Die  F"rage,  warum  überhaupt  das  Lust- 
bewußtsein auftritt,  ist  dann  nur  ein  Spezialfall 
der  anderen  Frage,  nach  der  Bedeutung  des  Be- 
wußtseins im  allgemeinen.  Eine  restlose  Antwort 
ist  da  heute  nicht  möglich.     Die  Lösung  Mach's, 


der  zwischen  dem  Psychischen  und  Physischen 
einen  fu  n  kt  io  n  al  e  n  Zusammenhang  annimmt, 
ist  heute  wohl  die  dem  Stande  der  Wissenschaft 
genehmste.  Jedenfalls  bietet  unsere  Fassung  der 
Gefühlstheorie  den  Vorzug,  auch  nach  dieser  Seite 
hin  einen  geschlossenen  Kausalnexus  der  physio- 
logischen Zusammenhänge  zu  ermöglichen,  ohne 
die  Einführung  teleologischer  Momente  nötig  zu 
machen. 

* 

Nur  in  kurzer  Skizze  konnte  hier  eine  Richtung 
der  Gefühlspsychologie  gekennzeichnet  werden,  in 
der  sich  viele  neuere  Forscher  bewegen  und  die 
unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  hin 
reiche  Aufschlüsse  verspricht.  Die  damit  ver- 
worfene Einschränkung  der  Gefühle  auf  Lust  — 
Unlust  hat  geradezu  versperrend  gewirkt.  Wird 
damit  gründlich  aufgeräumt,  so  wird  der  Weg 
frei  zu  Erkenntnissen,  die  auch  fürs  Leben  fruchtbar 
werden  können.  Nur  angedeutet  sei,  daß  besonders 
auf  ethischem  Gebiete  der  Ausschluß  des  Quali- 
tativen in  der  Bewertung  die  groben  Verallge- 
meinerungen des  landläufigen  Hedonismus  auf 
dem  Gewissen  hat.  Indem  man  nur  von  einem 
Streben  nach  Lust  im  allgemeinen  redete,  gar 
nicht  erkannte,  welche  Bedeutsamkeit  der  Frage 
nach  der  Art  der  erstrebten  Lust  zukommt,  ver- 
fehlte man  die  Möglichkeiten  sehr  ergiebiger 
Lösungen.  Und  auf  ästhetischen,  religions- 
psychologischen, ja  jedem  wertpsychologischen 
Gebiete  ist  die  Sachlage  ähnlich.  Wir  können 
es  aussprechen :  niemals  wird  das  Wertproblem 
rein  quantitativ  zu  lösen  sein.  Erst  durch 
Einführung  von  Qualitätsunterschieden  kann 
eine  ersprießliche  Lösung  möglich  werden.  Dafür 
aber  ist  Voraussetzung,  daß  man  den  Bann  der 
einseitigen  Lust  —  Unlusttheorie  bricht  und  der  viel 
bunteren  psychologischen  Tatsächlichkeit  volle 
Rechnung  trägt. 


Einzelberichte. 


Physik.  Mit  der  Elektrochemie  der  Taschen- 
lampenbatterien beschäftigt  sich  eine  Arbeit  von 
K.  Arnd  (Charlottenburg)  in  der  Zeitschrift  für 
Elektrochemie  XXIII,  161  (191 7).  Die  während 
des  Krieges  in  vielen  Millionen  Exemplaren  ge- 
brauchten Batterien  bestehen  aus  drei  hinterein- 
ander geschalteten  Zink-Kohle-Trockenelemcnten. 
Als  positiver  Pol  wird  Bogenlichtkohle  verwendet, 
die  nach  Art  der  Leclanche-Elemente  mit  einem 
Gemisch  mit  gepulvertem  Graphit  und  Braunstein 
umgeben  ist.  Das  Ganze  wird  mit  Gazestoff  und 
Fäden  umwickelt  und  bildet  die  „Puppe".  Diese 
wird  in  den  becherförmigen  negativen  Zinkpol 
hineingeschoben  und  füllt  ihn  fast  ganz  aus.  Der 
schmale  Zwischenraum  wird  mit  einem  an- 
gefeuchteten Gemisch  aus  Ammoniumchlorid, 
Zinkchlorid  und  Mehl  ausgefüllt,  das  als  Elektrolyt 
dient.     Gummiringe  und  Pappscheiben  verhindern 


eine  unmittelbare  Berührung  der  beiden  Pole. 
Die  drei  Elemente  werden  von  Pappe  umhüllt, 
der  Zwischenraum  zwischen  den  Bechern  mit 
Sägespänen  ausgefüllt  und  das  Ganze  oben  mit 
Pech  verschlossen.  Der  Kohlepol  des  letzten 
Elements  ist  mit  einer  Metallkappe  versehen;  an 
diesem  ist  ebenso  wie  an  dem  Zinkpol  des  letzten 
Bechers  auf  der  anderen  Seite  ein  Metallstreifen 
befestigt,  der  die  Verbindung  mit  der  Lampe  her- 
stellt. Die  auf  der  Umhüllung  angebrachten  Zahlen 
geben  über  das  Jahr  und  die  Woche  der  Her- 
stellung Aufschluß;  so  bedeutet  z.  B.  6—17,  daß 
die  Batterie  in  der  sechsten  Woche  des  Jahres  191 7 
hergestellt  worden  ist. 

Die  mit  einem  Voltmeter  von  sehr  großem 
Widerstand  gemessene  Klemmspannung  der  Batterie 
beträgt  4,5  Volt;  sie  soll,  wenn  die  Batterie  nicht 
benutzt  wird,   nach  vier  Wochen   nicht   unter  4,2 


634 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


sinken.  Ihr  innerer  Widerstand,  mit  Wheatstone'scher 
Brücke,  Induktor  und  Telephon  gemessen,  ist 
0,7 — I  .0;  er  steigt  durch  Entladung  auf  2  S  und 
mehr.  Seine  Größe  hängt  von  der  Art  des  ver- 
wendeten Graphits  ab,  dessen  Widerstand  durch 
den  Zusatz  von  Braunstein  sehr  erhöht  wird.  Zur 
Prüfung  der  Leistung  der  Batterie  eignet  sich  be- 
sonders folgendes  Verfahren:  iVIan  entlädt  die 
Batterie  mit  der  konstanten  Stromstärke  von  0.2  A, 
die  sie  auch  beim  Betrieb  der  Taschenlampe 
angenähert  zu  liefern  hat,  und  mißt  nun  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  die  Spannung.  Die  Leistungen 
sind  sehr  ungleich.  Bfi  einer  guten  Batterie  fiel 
die  Spannung  nach  167  IVIinuten  auf  2  Volt  ab, 
bei  einer  mittelguten  nach  120  und  bei  einer 
schlechten  schon  nach  74  Minuten.  Der  ersteren 
konnte  man  230  Minuten  einen  Strom  von  0,2  A 
entnehmen,  dann  sank  die  Spannung  auf  1,5  Volt. 
Die  gelieferte  Strommenge  beträgt  in  diesem  Fall 
0,2  X  230=  46  Ampere-Minute  =  rund  |  Ampere- 
stunden. Mittels  der  Entladungskurve  ließ  sich 
die  Leistung  zu  rund  2  Wattstunden  ermitteln, 
was  einer  mittleren  Entladungsspannung  von 
2,6  Volt  entspricht.  Doch  ist  die  Batterie  durch 
diese  Entladung  bis  zu  1,5  Volt  nicht  erschöpft, 
am  nächsten  Tage  hat  sie  sich  erholt  und  zeigt 
eine  Spannung  von  3,2  Volt,  die  allerdings  sofort 
beim  Einsetzen  der  Entladung  auf  2  Volt  abfäUt. 
Man  kann  ihr  im  ganzen  294  Minuten  lang  0,2  Amp. 
entnehmen,  was  einer  Elektrizitätsmenge  von 
0,98  Amperestunden  entspricht.  Der  Widerstand 
einer  neuen  Glühbirne  beträgt  etwa  17  ß.  Die 
der  Batterie  bei  ihrer  Verwendung  in  der  Taschen- 
lampe entnommene  Stromstärke  ist  also  anfangs 
größer  als  0,2  A,  später  wird  sie  kleiner.  Die 
Folge  ist,  daß  die  I3atterie  mehr  leistet,  da  die 
Belastung  geringer  ist.  Die  Leistung  der  besten 
läßt  sich  auf  3  Wattstunden  schätzen,  d.  i.  für 
I  kg  Gewicht  24  Wattstunden,  so  daß  sie  den 
besten  Akkumulatoren  in  dieser  Beziehung  eben- 
bürtig sind.  Nach  Erschöpfung  der  Batterie  sind 
noch  I  vom  Sauerstoff  vorhanden.  Längeres 
Lagern  schadet  den  Batterien  sehr:  Sauerstoff  geht 
verloren  und  das  Zink  wird  aufgefressen.  Nach 
einem  halben  Jahre  beträgt  die  Leistung  nur  noch 
75  "/q  einer  frischen.  K.  Seh. 

Die  Frage  nach  dem  Raumgefüge  der  ver- 
schiedenen Kohlenstoffmodifikationen  wird  in  emer 
Arbeit  von  P.  Debye  und  P.  Scherrer:  In- 
terferenzen an  regellos  orientierten  Teilchen  im 
Röntgenlicht  III  in  der  Physik.  Zeitschr.  XVIII 
(1917)  291  beantwortet.  Die  Röntgenstrahlen 
haben  sich  ja,  wie  vor  kurzem  in  dieser  Zeitschrift 
ausführlich  dargelegt  wurde,  als  ein  vorzügliches 
Mitlei  erwiesen,  den  Feinbau  von  Kristallen  zu 
ermitteln.  Während  die  Laue'sche  und  die 
Bragg'sche  Methode  zur  Untersuchung  wohl- 
ausgebildeter  Kristalle  von  bekannter  Kristallform 
zur  Untersuchung  bedürfen  und  während  nament- 
lich bei  der  ersteren  die  zahlenmäßige  Auswertung 


der  Röntgenogramme  wegen  ihrer  zahlreichen 
Einstiche,  die  durch  die  Reflexion  von  Strahlen 
verschiedenster  Wellenlänge  an  zahlreichen  ver- 
schieden orientierten  Neizebenen  hervorgerufen 
werden,  beträchtliche  Schwierigkeiten  macht,  ja  in 
vielen  Fällen  nicht  möglich  ist,  ist  die  von  Debye 
und  Scherrer  angegebene  Methode  wesentlich 
einfacher.  Rufen  wir  uns  das  Prinzip  der  Methode 
ins  Gedächtnis  zurück:  Aus  der  pulverisierten  zu 
untersuchenden  Substanz  wird  ein  kleines  Stäbchen 
geformt  und  in  das  Innere  einer  zylindrischen 
Kamera  gebracht.  In  diese  dringt  senkrecht 
zur  Achse  ein  schmales  Büschel  monochromatisches 
Röntgenlicht  (Wellenlänge  /.).  Alle  diejenigen 
Netzebenen  (ihr  gegenseitiger  Abstand  ist  d),  die 
so  orientiert  sind,  daß  die  Strahlen  unter  dem 
Glanzwinkel  a  auffallen,  reflektieren  in  maximaler 
Intensität;  es  besteht  die  Gleichung  n-A  =  26 
sin  «,  n=  I,  2,  3  .  .  .  Die  reflektierten  Strahlen 
liegen  auf  Kegeln,  deren  Achse  das  auffallende 
Büschel  und  deren  Spitze  das  Stäbchen  ist.  Auf 
einem  der  Zylinderwandung  anliegenden  Film 
werden  die  Helligkeitsmaxima  als  Schnittlinien  der 
Kegel  mit  dem  Zylinder  abgebildet.  Aus  der 
ein  en  Aufnahme  kann  man  nicht  nurdas 
Kristallsystem,  sondern  auch  das  Raum- 
gitter erschließen. 

Durch  Verbesserung  der  Methode  gelang  es 
bei  der  Untersuchung  des  Graphits,  von  dem 
vier  Sorten  bestrahlt  wurden,  die  Genauigkeit  der 
Winkelmessung  auf  zwei  pro  Mille  zu  steigern. 
Als  Strahlungsqurlle  wurde  Kupferröntgenlicht  be- 
nutzt,dasvornehmlichdie  Wellenlänge  1,549-  io~'*cm 
und  daneben  in  schwächererintensität  1,402-  io~*cm 
enthält.  Das  Ergebnis  ist,  daß  Graphit,  über 
dessen  Kristallform  bisher  keine  Einstimmigkeit 
unter  den  Forschern  zu  erzielen  war,  trigonal 
kristallisiert.  Der  Elementarkörper  ist  ein  R  h  o  m  - 
boeder,  dessen  Ecken  und  Seitenflächenmitten 
mit  Kohlenstoffatomen  besetzt  sind.  Durch 
Photometrierung  der  Linien  des  Röntgenogrammes 
ergeben  sich  die  Intensitäten  derselben ;  aus  diesen  ist 
zu  schließen,  daß  zwei  dieser  flächenbesetzten  Gitter 
ineinandergestellt  sind  und  zwar  liegen  dieselben 
so,  daß  in  gleichen  Abständen  von  3,41 -lo^*  cm 
Ebenen  (in)  (ihr  Index  ist  bezogen  auf  die 
Kanten  des  Rhomboeders),  aufeinanderfolgen,  die 
die  Kohlenstoffatome  enthalten.  In  jeder  dieser 
Ebenen  liegen  die  Atome  in  den  Ecken  eines 
regulären  Sechsecks,  dessen  Mitte  nicht  besetzt  ist; 
die  Seite  des  Sechsecks,  also  der  kürzeste  Abstand 
zweier  Atome  ist  1,45-  lO'*  cm.  Die  Ebenen  sind 
lückenlos  mit  Sechserringen  besetzt  In  benach- 
barten Ebenen  liegen  die  Atome  nicht  senkrecht 
übereinander.  Verläßt  man  eine  Ebene  vom  Eck- 
punkt eines  Sechsecks  aus  in  Richtung  der  Nor- 
male, dann  trifft  man  zunächst  zweimal  auf  die 
unbesetzte  Mitte  eines  Sechsecks,  um  erst  in  der 
dritten  Ebene  auf  eine  mit  einem  Atom  besetzte 
Ecke  zu  stoßen,  usf  Sehr  interessant  ist  die 
Folgerung  für  die  Valenzen,  die  sich  aus  dieser 
Gruppierung    ergibt.     Von    den  vier  Wertigkeiten 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


635 


des  Kohlenstoffatoms  sind  drei  gleichwertig,  sie 
liegen,  Winkel  von  120"  miteinander  bildend,  in 
einer  Ebene  (ili)  und  stellen  den  Zusammenhang 
mit  den  3  benachbarten  Atomen  her.  Die  vierte 
ist  völlig  von  diesen  verschieden,  sie  stellt  ab- 
wechselnd nach  unten  und  nach  oben  die  Ver- 
bindung mit  den  benachbarten  Ebenen  her.  Da 
der  Abstand  von  einer  Ebene  zur  andern  größer 
als  die  Seite  des  Sechsecks  ist,  liegt  die  Ver- 
mutung nahe,  daß  jene  Bindung  lockerer  ist.  Das 
wird  durch  Erfahrung  bestätigt,  indem  der  Graphit 
parallel  zu  den  (iii)  Ebenen  besonders  leicht 
spaltbar  ist.  Ferner  zeigt  sich,  daß  die  von  diesen 
Netzebenen  erzeugten  Linien  des  Röntgenogramms 
nur  dann  gut  ausgebildet  sind,  wenn  das  Graphit- 
pulver aus  dem  das  Stäbchen  hergestellt  ist,  ganz 
locker  ist.  Durch  Pressung  bei  seiner  Formung 
wird  der  Abstand  der  Ebenen  und  damit  die 
Lage  der  Linien  verschoben. 

Der  Elementarkörper  des  Diamanten  ist 
nach  den  Untersuchungen  der  Braggs  im  Jahre 
1913  ein  Würfel  von  der  Kante  3,53- lO""*  cm, 
dessen  Flächenmitten  wie  bei  den  Rhomboedern 
des  Graphits  mit  Atomen  besetzt  sind.  Zwei  in- 
einandergestellte  Gitter  von  diesem  Bau  bilden 
sein  Raumgitter  und  zwar  ist  der  zweite  Würfel 
um  ein  Viertel  der  Würfeldiagonale  relativ  zum 
ersten  verschoben.  Eine  interessante  und  auf- 
fallende Gesetzmäßigkeit  zeigt  sich  zwischen  den 
Elementargebilden  der  beiden  Kohlenstofifmodi- 
fikationen :  Projiziert  man  den  Würfel  des  Dia- 
manten und  das  Rhomboeder  des  Graphits  auf 
eine  Ebene,  die  senkrecht  zur  Raumdiagonale 
liegt,  dann  erhält  man  in  beiden  Fällen  Sechsecke, 
die  nicht  nur  der  Form,  sondern  auch  der  wirk- 
lichen Größe  nach  gleich  sind.  Daraus  folgt,  daß 
die  Diagonalen  von  Diamant  und  Graphit  sich 
umgekehrt  wie  die  Dichten  der  beiden  Stoffe  ver- 
halten ;  durch  Einsetzen  der  Werte  erhält  man 
für  das  erste  Verhältnis  0,598,  für  das  zweite  0,62. 
Ein  großer  Unterschied  besteht  für  beide  Sub- 
stanzen in  den  Wertigkeiten ;  während  das  Graphit- 
atom drei  Haupt-  und  eine  Nebenvalenz  zeigt, 
sind  beim  Atom  des  Diamanten  die  Valenzen 
absolut  gleichwertig.  Die  Analyse  mittels  Röntgen- 
strahlen bestätigt  durchaus  die  Anschauung  der 
Chemie,  die  dahin  geht,  daß  die  Valenzen  nach 
den  Ecken  eines  Tetraeders  gerichtet  sind,  in 
deren  Mitte  das  Atom  des  Diamanten  sich  befindet. 

Eine  Frage  von  großer  Wichtigkeit  und  außer- 
ordentlichem Interesse  ist  nun  die  nach  dem  P'ein  - 
bau  der  amorphen  Kohle:  liegen  ihre  Atome 
regellos  durcheinander  oder  gibt  es  ein  Kohlen- 
stoffmolekül mit  charakteristischer  Verkettung  der 
Atome?  Gleich  die  erste  Aufnahme  Debye's 
und  Scherrer's  zeigte,  daß  eine  regelmäßige  An- 
ordnung der  Atome  vorhanden  sein  muß;  es 
fanden  sich  nämlich  Linien  auf  ihr,  die  allerdings 
ziemlich  breit  und  verwaschen  waren,  so  daß  sie 
besser  als  Helligkeits-Maxima  und  Minima  be- 
zeichnet werden.  Die  genauere  Ausmessung  der 
Photogramme  ergab,  das  die  Maxima  an  derselben 


Stelle  liegen  wie  beim  Graphit.  Daraus  geht  her- 
vor, daß  der  Feinbau  der  amorphen  Kohle 
und  des  Graphits  nicht  wesentlich  ver- 
schieden ist.  Durch  die  Untersuchung  von 
sieben  aut  verschiedene  Weise  hergestellten  Kohlen- 
stoffarten wurde  dieses  Resultat  bestätigt.  Die 
theoretische  Betrachtung  zeigt ,  daß  die  Breite 
der  Linien  von  der  Korngröße  des  Pulvers  ab- 
hängt; je  kleiner  diese  ist,  desto  breiter  und  ver- 
waschener werden  die  Linien,  ohne  indessen  dabei 
ihre  Lage  zu  ändern.  Der  Unterschied  zwischen 
Graphit  und  amorpher  Kohle  ist  also  physikalischer 
Natur:  es  liegt  eine  verschieden  feine  Pulverisierung 
ein  und  desselben  Kristallgefüges  vor.  Amorphe 
Kohle  ist  Graphit  in  einer  so  feinen 
Verteilung,  wie  sie  durch  mechanische  Mittel 
niemals  erreicht  werden  kann;  nur  etwa  30  Atome 
finden  sich  in  einem  Kristall.  Je  nach  Art  der 
Herstellung  wird  die  Breite,  nicht  aber  die  Lage 
der  Linien  in  gewissen  Grenzen  variiert.  Der 
Molekelaufbau  als  Ganzes  ist  derselben  geblieben; 
die  Unterschiede  beruhen  auf  gröberer  oder  feinerer 
Pulverisierung. 

Wenn  man  lediglich  den  Feinbau  berücksichtigt, 
gibt  es  demnach  nur  zwei  Modifikationen  des 
Kohlenstoffs:  den  Diamanten  und  den  Graphit. 
Die  Verschiedenartigkeit  der  Valenzen  der  beiden 
Atome  kommt  auch  in  den  chemischen  Eigen- 
schaften zum  Ausdruck,  insofern  als  der  Diamant 
durch  Salpetersäure  nicht  angegriffen  wird,  während 
Graphit  und  Kohle  Melliihsäure  liefern,  die  als 
Benzolhexacarbonsäure  (Cg(C02H)8)  noch  das 
reguläre  Sechseck  der  Muttersubstanz  im  Benzol- 
kern bewahrt  hat.  Der  Kohlenstoff  in  der  Form 
des  Diamanten  erscheint  als  Prototyp  der  alipha- 
tischen Chemie  mit  dem  an  der  Spitze  der  Über- 
legungen stehenden  Kohlenstoff- Tetraeder.  Graphit 
und  amorphe  Kohle  dagegen  bilden  die  durch  das 
Auftreten  der  Sechsecksstruktur  augenfällig  ge- 
kennzeicheten  einfachsten  Stufen  der  aromatischen 
Chemie,  welche  den  Benzolring  als  Hauptmerkmal 
führt.  Seh. 

Zoologie.  Beobachtungen  und  Versuche  über 
Spermatogenese  in  Gewebekulturen.  Während  in 
Pathologie,  Physiologie  und  Entwicklungsmechanik' 
die  Methode  der  Kultur  von  Gewebestücken 
außerhalb  des  Organismus  in  den  letzten  Jahren 
mit  steigendem  Erfolge  Anwendung  gefunden 
hat,  ist  in  der  Zellforschung  bisher  kaum  von 
ihr  Gebrauch  gemacht  worden.  Über  einen 
Versuch,  die  Methoden  der  Explantation  auf 
die  Geschlechtszellen  von  Wirbellosen  anzu- 
wenden und  die  Spermatogenese  in  vitro  zu 
studieren,  berichtet  Goldschmidt').  Seine 
Ergebnisse  berechtigen  ihn  zu  der  Hoffnung,  daß 
sich  hier  der  experimentellen  Erforschung  der 
Geschlechtszellen  ein  Gebiet  erschließt,  das  noch 
reiche  Resultate  liefern  wird. 


')   Goldschmidt,    R.  Versuche    zur  Spermatogenese  in 
vitro.  Arch.  f.  Zellforsch.,  Bd.   14,   191 7. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Zu  seinen  Untersuchungen  benutzte  Gold- 
schmidt einen  Schmeiterlinp;,  Samia  cecropia  L. 
Die  Anfertigung  der  Kulturen  bot  keine  besonderen 
Schwierigkeiten.  Die  wichtigste  Vorbedingung 
für  das  Gelingen  der  Experimente  ist  die  Sterilität. 
Nach  Sterilisierung  aller  zu  benutzenden  Instrumente 
und  Apparate  wird  die  Schmeiterlingspuppe  dem 
Kokon  entnommen  und  auf  einige  IVlinuten  in 
QÖ^/oigen  Alkohol  gebracht,  was  ihr  nicht  weiter 
schadet,  zur  Sterilisierung  aber  genügt.  Hierauf 
wird  die  Puppe  in  der  dorsalen  Mittellinie  an- 
geschnhten,  mit  einer  Pipette  möglichst  viel  Blut 
entnommen  und  dieses  in  einen  hohlgeschliffenen 
Objektträger  gebracht.  Sodann  werden  die  Hoden 
herausgepreßt  und  in  der  Blutflüssigkeit  zerzupft. 
Die  in  Menge  herausfallenden  Hodenfollikel  werden 
in  einem  Tropfen  Hämolymphe  auf  ein  Deckglas 
gebracht,  auf  einem  hohlgeschliffenen  Objektträger 
im  hängenden  Tropfen  montiert  und  mit  Vaseline 
verschlossen.  Ist  die  Kultur  völlig  steril,  so  leben 
die  Geschlechtszellen  in  ihnen  bis  zu  drei  Wochen 
und  können  die  ganze  Spermatogenese  durchlaufen. 
Weit  lebensfähiger  sind  in  den  Kulturen  die 
Follikel-  und  Blutzellen,  die  nach  dem  Abstetben 
der  Samenzellen  mit  einem  außerordentlich  regen, 
gewebebildenden  Wachstum  beginnen,  eine  eigen- 
artige Erscheinung,  die  Goldschmidt  in  einer 
besonderen  kleinen  Abhandlung')  beschreibt.  In 
einer  Kultur  lebten  diese  Zellen  noch  nach 
einem  Jahrl  Auffällig  ist,  daß  sich  die  weibliche 
Hämolymphe  besser  als  Kulturmedium  eignet  als 
die  männliche.  Daß  die  Hämolymphe  vieler 
Insekten  in  den  beiden  Geschlechtern  chemisch 
verschieden  ist,  wissen  wir  ja  bereits  aus  den 
Untersuchungen  von  Steche. 

Die  Spermatogenese  der  Schmetterlinge  wurde 
bisher  von  Meves  am  genauesten  studiert.  Die 
Beobachtungen  Goldschmidt 's  am  lebenden 
Objekt  stehen  in  sehr  erfreulicher  Übereinstimmung 
mit  denen  von  Meves  am  gefärbten  Präparat. 
So  ziemlich  alles,  was  dieser  beschrieb,  konnte 
Goldschmidt  auch  in  der  Gewebekultur  ver- 
folgen, das  Verhalten  der  Mitochondrien,  die 
Reifungsteilungen,  die  Bildung  der  Achsenfäden 
und  die  Umwandlung  der  Spermatiden  in  die 
funktionsfähigen  Samenfäden.  Dazu  kommen  noch 
manche  Beobachtungen,  die  sich  nur  im  Leben 
machen  lassen.  Leider  läßt  sich  nicht  die  ganze 
Spermatogenese  an  einer  einzigen  Zelle  verfolgen, 
da  die  frühesten  Stadien  zu  langer  Zeit  bedürfen. 
Immerhin  konnten  die  Reifungsteilungen  und  die 
Bildung  der  Samenfäden  am  gleichen  Follikel 
studiert  werden.  Die  Dauer  der  Prozesse  hängt 
natürlich  sehr  von  der  Temperatur  ab.  Bei  Zimmer- 
temperatur entwickelte  sich  z.  B.  die  Spermatozyte 
in  3—4  Tagen  zur  Spermie,  im  Brutschrank  bei 
26"  benötigte  sie  nur  einen  Tag  dazu. 

Besonderes  Interesse  verdienen  Goldschmidt 's 


')  Goldschmidt,  K.  Notii  über  einige  bemerkenswerte 
Erscheinungen  in  Gewebekulturen  von  Insekten.  Biol.  Centralbl., 
Bd.  36,   1916. 


Beobachtungen  über  die  erste  Bildung  des  Achsen- 
fadens und  über  die  Vorgänge,  deren  Resultat  die 
Bildung  eines  Spermienbütidels  ist,  zumal  da  er  im 
Anschluß  an  seine  Beobachtungen  eine  Reihe  von 
Experimenten  ausführte,  die  einiges  Licht  auf  die 
physikalischen  Faktoren  werfen,  die  den  Ablauf 
der  normalen  S[)ermatogenese  bedingen. 

Es  ist  eine  Besonderheit  der  Spermatogenese 
der  Schmetterlinge,  daß  die  Achsenfäden  bereits 
vor  den  Reifungsteilungen  gebildet  werden.  In 
der  Gewebekultur  sieht  man,  wie  sich  die  dem 
Follikelinnern  zugekehrte  Zelloberfläche  der  jungen 
Spermatozyten  mit  zahlreichen  zottenartigen  Pseudo- 
podien bedeckt.  Eines  von  diesen  Pseudopodien 
wächst  schließlich  zu  einem  völlig  starren  und 
geraden  Gebilde  aus,  dem  typischen  Achsenfaden, 
an  dessen  Basis  sich  das  Zentrosom  befindet,  und 
dessen  Spitze  mit  einem  Plasmakügelchen  endet, 
das  offenbar  bei  dem  weiteren  Wachstum  des 
Achsenfadens  Verwendung  findet.  Kurz  vor  den 
Reifungsteilungen  teilt  sich  das  Zentrosom  jeder 
Spermatozyte  in  zwei,  die  Achsenfäden  teilen  sich 
in  vier,  von  denen  jede  Spermatide  einen  erhält. 
Nach  Ablauf  der  Reifungsteilungen  verändert  der 
Hodenfollikel  alsbald  seine  Form.  Bis  dahin  war 
er  kugelig,  umgeben  von  einer  dünnen,  zelligen 
Follikelmembran  und  ausgekleidet  von  einer  Lage 
Samenzellen,  deren  Achsenfäden  alle  nach  dem 
Zentrum  der  Follikelhöhle  zu  konvergieren.  Nun- 
mehr wird  er  plötzlich  länglich  oval,  seine  Zellen 
rücken  an  den  einen  Pol  des  Ovals,  drängen  sich 
hier  dicht  zusammen  und  nehmen  eine  hohe, 
zylindrische  Gestalt  an,  die  Achsenfäden  ordnen 
sich  bündelweise  parallel  an.  Indem  dann  nach 
Art  einer  Pseudopodienbildung  das  Protoplasma 
der  Spermatide  dem  Achsenfaden  entlang  zum 
Schwanzfaden  des  Spermatozoons  auswächst, 
strecken  sich  die  Follikel  mehr  und.  mehr  in  die 
Länge,  und  so  entsteht  schließlich  das  charak- 
teristische Spermienbündel. 

Um  den  Einfluß  veränderter  Konzentration 
des  Mediums  auf  den  Ablauf  der  Spermatogenese 
festzustellen,  versetzte  Goldsch  midt  die  Hämo- 
lymphe mit  Ringer'scher  Lösung  von  verschiedener 
Konzentration.  Wurde  die  Gewebekultur  in  reiner 
Ringer-Lösung  angelegt,  so  zeigten  die  Hoden- 
follikel ein  sehr  merkwürdiges  Verhalten.  Alle 
Follikel  waren  am  Tage  nach  der  Anfertigung  der 
Präparate  geplatzt  und  die  Zellen  in  morulaartigen 
Haufen  aus  der  Follikelmembran  ausgetreten.  An 
allen  Zellen,  mochten  es  Spermatogonien  oder 
Spermatozyten  irgendwelchen  Alters  sein,  traten 
dann  Zotten,  Pseudopodien  und  Achsenfäden  auf, 
und  zwar  unterschieden  sich  die  Prozesse  kaum 
von  den  normalen  Vorgängen.  „Es  scheint  somit," 
sagt  Goldschmidt,  „daß  durch  chemischen 
bzw.  osmotischen  Reiz  Zellen  vor  der  normalen 
Zeit  der  Achsenfadenbildung  zu  einer  solchen  an- 
geregt werden  können;  woraus  sich  vielleicht 
schließen  läßt,  dsß  auch  der  normale  Vorgang 
durch  eine  entsprechende  Veränderung  in  der  Be- 
schaffenheit   der    P'ollikelhöhlenflüssigkeit    bedingt 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


637 


wird.  Das  frühzeitige  Auftreten  der  Achsenfäden 
in  den  Spermatozyten  der  Lepidopteren  wäre  also 
gewissermaßen  nur  eine  Zufallserscht-inung,  die  aber 
mit  der  Notwendigkeit  einer  Reaktion  eintreten 
muß,  weil  die  betreffenden  physikalischen  Ver- 
änderungen innerhalb  des  Follikels,  die  sie  be- 
dingen, hier  schon  in  jungen  Follikeln  eintreten." 
Außer  den  Achsenfäden  entstanden  in  den  Ringer- 
Kulturen  aber  auch  Gebilde,  die  in  der  normalen 
Spermatogenese  fehlen:  Vornehmlich  in  der  Wärme 
bildeten  die  Zellen  jeden  Alters  und  jeder  Art 
eine  oder  mehrere  Geißeln.  Die  Geißelbildung 
geht  ebenfalls  von  einem  Pseudopodium  aus.  Das 
Pseudopod  fließt  aus  der  Zelle  vor,  erreicht  rasch 
eine  beträchtliche  Länge,  seine  Achse  geht  dann 
offenbar  in  den  Gelzustand  über,  während  eine 
flüssige  Protoplasmahülle  die  feste  Achse  zunächst 
noch  in  Tropfenform,  dann  gleichmäßig  verteilt 
überzieht.  Sinkt  die  Temperatur,  so  können  die 
Geißeln  wieder  eingezogen  werden;  sie  werden 
tropfig,  verwandeln  sich  wieder  in  Pseudopodien 
und  fließen  in  die  Zelle  zurück.  In  reiner  Ringer- 
Lösung  lebten  die  Zellen  bis  zu  fünf  Tagen,  in 
der  Wärme  nur  zwei  Tage. 

Zum  Verständnis  des  Auswachsens  der  kugeligen 
Samenzelle  in  das  fadenförmige  Spermatozoon  kön- 
nen Versuche  mit  hypertonischen  und  hypotonischen 
Medien  beitragen.  Im  hypertonischen  Medium,  das 
durch  systematisches  Emdicken  der  Häniolymphe 
gewonnen  wird,  wachsen  sämtliche  Zellen  in  die 
Länge.  Je  stärker  das  Medium  eingedickt  ist, 
desto  länger  wachsen  die  jungen  Spermatiden  und 
älteren  Spermatozyten  aus,  es  entstehen  lange 
Fäden,  „PseudoSpermien".  Daß  der  Vorgang  eine 
direkte  physikalische  Reaktion  ist,  geht  daraus 
hervor,  daß  sich  das  Auswachsen  der  Samenzellen 
durch  den  Grad  der  Eindickung  regulieren  läßt. 
Bis  zu  einem  gewissen  Stadium  ist  der  Prozeß 
reversibel.  Kann  die  FoUikelmembran  —  diese 
muß  unversehrt  sein,  wenn  das  Auswachsen  er- 
folgen soll  —  den  normalen  Turgor  des  Follikels 
durch  Wasseraufnahme  wiederherstellen,  so  kehren 
die  Zellen  zu  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  zurück. 
Es  sei  noch  erwähnt,  daß  bei  diesen  Experimenten 
die  Zellen  nicht  wie  bei  der  normalen  Sperma- 
togenese in  die  Follikelhöhle  hinein,  sondern 
nach  außen  wachsen.  Beim  normalen  Auswachsen 
der  Spermatide  muß  also  der  hypertonische  Zu- 
stand innerhalb  der  Follikelhöhle  eintreten. 

Sind  auch  die  bisherigen  Versuche  Gold- 
schmidt's  erst  kleine  Anlange  in  der  Richtung 
einer  experimentellen  Analyse  der  zytologischen 
Vorgänge  bei  der  Entwicklung  der  Samenzellen, 
so  erscheint  doch  der  Weg,  den  er  eingeschlagen 
hat,  recht  vielversprechend.  Bei  weiterem  Ausbau 
der  Technik  der  Gewebekuhur  und  der  experi- 
mentellen Seite  dürfte  sich  noch  manches  wichtige 
Resuhat  erzielen  lassen.  Vielleicht  läßt  sich  auf 
diese  Weise  auch  das  Problem  der  oligo-  und 
apyrenen  Spermien  einer  Lösung  zuführen.  Über 
die  Funktion  dieser  abnormen  Samenfäden  wissen 
wir    bisher   nichts.      Goldschmidt    hält    es    für 


sehr  wohl  möglich,  daß  „eine  kleine  physikalische 
oder  chemische  Besonderheit  des  Follikels  zu- 
fälliger Natur  genügen  könnte,  um  zwangsläufig 
eine  solche  abnorme  Entwicklung  herbeizuführen, 
die  entsprechend  der  Spezifität  des  Samenzell- 
plasmas auch  spezifisch  wäre."  Die  atypischen 
Spermien  hätten  nach  dieser  Anschauung  also  gar 
keine  Funktion,  sondern  wären  lediglich  ein  „lusus 
naturae". 

Zum  Schluß  sei  noch  auf  die  Ähnlichkeit  hin- 
gewiesen, die  die  von  Goldschmidt  festgestellten 
Vorgänge  bei  der  Bildung  des  Achsenfadens  in 
der  Spermatogenese  mit  den  kürzlich  mitgeteilten 
Beobachtungen  Doflein's'j  über  die  Entstehung 
der  Achsenfäden  in  den  Pseudopodien  der  Rhizo- 
poden  haben.  Doflein  hat  mit  großem  Erfolg 
bei  seinen  Untersuchungen  die  Dunkelfeld- 
beleuchtung angewandt.  Es  dürfte  sehr  von  Vorteil 
sein,  wenn  auch  die  Gewebekulturen  von  Geschlechts- 
zellen Wirbelloser  in  Zukunft  vermittels  dieser 
Methode  studiert  würden.  Nachtsheim. 

Botanik.  Tropische  und  subtropische  Moore 
auf  Ceylon  und  ihre  Flura.  Das  erste  tropische 
Moor  wurde  1891  auf  Sumatra  entdeckt  und  von 
Koorders  eingehend  beschrieben,  nachdem 
Potonie  auf  die  große  Bedeutung  dieses  Vorkom- 
mens namentlich  für  die  Frage  nach  der  Entstehung 
der  Kohlenlager  hingewiesen  hatte.  Später  be- 
richtete Janeusch  über  Torfmoore  in  Ostafrika. 
Erst  19 13  entdeckte  dann  Keilhack  auf 
Ceylon  ein  tropisches  sowie  zwei  im  subtropi- 
schen Klima  gelegene  Moore,  von  denen  eins 
nach  Keil  hack  das  erste  im  subtropischen 
Gebiet  nachgewiesene  Hochmoor  darstellt.  Im 
Mittelpunkt  des  im  südlichen  Teile  der  Insel 
gelgenen  hohen  Gebirges  liegt  das  6  km  lange, 
400  bis  600  m  breite  Hochtal  von  Nurelia, 
dessen  südlichster  Teil  ein  See,  der  Lake  Gregory, 
ausfüllt.  Rings  um  den  See  schließt  sich  nun  ein 
typisches  Flachmoor  an,  dessen  tiefschwarze  Torf- 
decke 30—40  cm  dick  ist.  Wie  man  deutlich 
erkennt,  ist  es  durch  Verlandung  des  ehedem 
größeren  Sees  entstanden.  Unmittelbar  an  ihn 
schließt  ein  Gürtel  von  Jiincus-  und  Scirpus- 
Büscheln ,  zwischen  denen  sich  Gruppen  von 
Eriocaidon- ,  Hydrocoiylc-  und  Polygonittn- hritn 
finden;  dann  lolgt  ein  Gürtel,  in  dem  mächtige 
Eriocaulon-^ühen  vorherrschen,  gemischt  mit 
kleineren  Gewächsen,  Gräsern  und  Blütenpflanzen. 
Sie  treten  in  der  weiteren  Umgebung  immer  mehr 
an  die  erste  Stelle.  Die  größte  Breite  des  ganzen 
Moores  erreicht  kaum  200  m.  K  e  i  1  h  a  c  k  sammelte 
51  höhere  Gefäßpflanzen.  Farne  und  Bärlappe 
vertreten  die  Archegoniaten.  Die  Gramineen  mit 
9  Arten,  6  Arten  von  Cyperaceen  und  die  an 
Eriophorum   erinnernden   Enocaulon-^\x%c\\^   sind 

')  Doflein,  F.  Zell-  und  Protoplasmastudien,  Unter- 
suchungen über  das  Protoplasma  und  die  Pseudopodien  der 
Rhizopoden.  Jena  1916.  (Siehe  den  Bericht  im  vorigen  Jahr- 
gange  dieser  Zeitschrift.  Seite  661.) 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


die  Haupttorfbildner.  Die  Arten  von  Pulygoiiiini, 
JuHCHS,  Drosera,  der  Doldenblütler  [Hydrocotyle), 
Kompositen  {GnapItaliiDii)  und  anderer  Gruppen 
erinnern  sehr  an  heimische  Torfmoorformen ,  so 
daß  das  Flachmoor  von  Nurelia  im  ganzen  keine 
übermäßigen  Abweichungen  von  unseren  Mooren 
aufweist.  Nun  wird  es  von  einem  5 —30  m  ansteigen- 
den, '/a — ^/t  m  mächtigen  Gehängemoor  umgeben, 
das  wie  in  geologischem  Bau  auch  in  der  Flora 
von  jenem  auffällig  verschieden  ist,  stimmen  doch 
von  39  hier  gesammelten  Arten  nur  7  mit  Arten 
des  Hachmoors  überein.  Während  dort  Bäume 
und  Sträucher  völlig  fehlen,  trägt  das  Gehänge- 
moor verkrüppelte,  höchstens  3  —  4  m  hohe  ver- 
kümmerte Exemplare  von  Rhododendron  arboreum 
Sm.,  das  sonst  im  Urwald  bis  15  m  hohe  Bäume 
bildet.  Sie  erinnern  sehr  an  unsere  Moorkiefern. 
Hier  muß  auch  an  das  schöne  gelbblühende 
Rhododendron  flaviim  unserer  Gärten  erinnert 
werden,  das,  im  Kaukasus  heimisch,  nach  Fax 
auch  auf  den  Torfmooren  Wolhyniens  gedeiht. 
Sträucher  und  Moose  fehlen  fast  völlig,  dagegen 
finden  sich  wiederum  einige  Farne  und  Bärlappe  und 
viele  Gräser;  neben  letzteren  treten  noch  zahlreiche 
andere  Familien  auf,  kommen  aber  als  Torfbildner 
nicht  in  Frage.  Dieses  Gehängemoor  ist  das  Er- 
gebnis des  im  Vergleich  zu  dem  Flachmoor  sehr 
erheblichen  Mangels  an  mineralischen  Nährstoffen, 
wird  es  doch  nur  vom  Regen  befeuchtet.  Da 
dies  die  für  Hochmoore  typischen  Bedingungen 
sind,  glaubt  Keilhack  das  Gehängemoor  nicht 
als  Zwischenmoor,  sondern  trotz  völligen  Fehlens 
von  Moosen  als  Hi)chmoor  bezeichnen  zu  können. 
Ist  diese  Auffassung  richtig,  so  wäre  damit  der 
Beweis  für  die  Existenz  von  Hochmooren  wenigstens 
im  subtropischen  Klima  erbracht.  Denn  obwohl 
das  Gebiet  unter  7"  n.  Br.  liegt,  bedingt  die  Höhen- 
lage (1850  m)  rein  subtropische  Verhältnisse  in 
Temperatur,  Niederschlag  und  Flora.  Bemerkens- 
werte Anklänge  an  die  Hochmoore  unserer  Breiten 
bieten  die  häufige  Ausbildung  stark  behaarter 
Stengel  und  Blätter,  also  xerophiler  Merkmale,  die 
typische  Wuchsform  der  meisten  Moorpflanzen  in 
einzelnen  Büschen  oder  Bülten,  sowie  die  Tatsache, 
daß  die  Ufer  der  das  Moor  durchfließenden  Bäche 
wie  unsere  Moorrüllen  eine  völlig  abweichende 
Vegetation  aufweisen.  Infolgedessen  bieten  die 
Moore  von  Nurelia  den  gleichen  Anblick  wie  die 
unsrigen.  Auch  die  Flora  zeigt  auffallende  Über- 
einstimmung, sind  doch  von  32  Familien  nur  3  in 
unseren  Mooren  nicht  vertreten  und  selbst  unter 
den  Gattungen  sind  mehr  als  die  Hälfte  die  gleichen, 
wenn  natürlich  auch  die  Arten  fast  alle  völlig  ver- 
schieden sind.  Ein  zweites  Moor  traf  Keil  hack 
am  Talagalla,  dem  höchsten  Berge  der  Insel, 
in  2250  m  Höhe,  dessen  aus  meist  endemischen 
Arten  bestehende  h'lora  von  der  vorher  geschilderten 
sehr  abweicht.  Danach  finden  sich  im  subtropischen 
Khma  Ceylons  also  Torfmoore,  die  dem  euro- 
päischen Typus  der  Flach-  und  Hochmoore  ent- 
sprechen und  als  reines  Grasmoor  oder  als  Erio- 
caulo}i-Moor  entwickelt  sind. 


Nach  langem  Suchen  fand  Keilhack  auch 
echte  tropische  Moore,  die  sich  an  der  Südspitze 
der  Insel  über  eine  große  Strecke  des  flachen 
Küstenlandes  erstrecken.  Das  ganze  Gebiet  liegt 
im  tropischen  Regenwald  und  weist  zahlreicheRinnen 
und  Becken  auf  Sie  sind  überall  dort,  wo  die 
zur  Schwarzwasserbildung  führenden  regelmäßigen 
Überschwemmungen  durch  Hußwasser  fehlen,  mit 
echtem  Torf  erfüllt.  Den  Untergrund  bilden 
subfossile  Madreporenriffe.-  Kleine  Inseln  von 
niedrigen  Bäumen  und  Büschen  durchsetzen  das 
flache  Grasmoor,  die  ihrerseits  von  einem  dichten 
Geflechte  üppiger  Schlingpflanzen  überzogen  sind. 
Das  Moor  bietet  daher  einen  ganz  anderen  Anblick  als 
unsere  Moore.  Auffallend  ist,  daß  Farne,  Gräser  und 
Leguminosen  zwei  Fünftel  der  Flora  ausmachen. 
Xyridaceen  und  Eriocaulaceen,  die  im  Nureliamoor 
so  häufig  sind,  treten  hier  stark  zurück  und  sind 
nur  mit  je  einer  Art  vertreten.  Unter  den  F"arnen 
finden  wir  auch  zwei  kletternde  Formen,  Lygodiuni 
scandens  (L.)  Sw.  und  Gleichenia  linearis  L.  Zu 
den  höheren  Holzgewächsen  gehört  die  schon  von 
dem  afrikanischen  Tropenmoor  bekannte  Barring- 
tvnia  raeei/iosa  Bl. ;  die  Rhizophoracee  Bnigitiera 
gyiiuiorrhi::a  Lam.  ist  eine  echte  Mangrove.  Da- 
neben sind  andere  Baumgewächse  vorhanden,  die 
zu  Euphorbiaceen,  Melastomaceen ,  Myrtaceen, 
Apocynaceen  und  Ochnaceen  gehören.  Sie  alle 
sind  mit  einem  dich  en  Netz  von  Kletterpflanzen 
überzogen,  neben  den  genannten  zwei  Farnen 
einem  Gras,  Leersia  hexandra,  Gloriosa  sitperba 
L.,  einer  Kletterlilie  mit  prächtigen  roten  Blüten, 
Passiflora  foefida  L.  und  anderen.  Brett-  oder 
Stützwurzeln  und  Pneumaiophoren  wie  in  Sumatra 
fehlen  vollständig.  Wie  in  den  subtropischen 
Mooren  sind  auch  hier  Moose  kaum  vorhanden; 
im  Gegensatz  zu  jenen  fehlt  jegliches  xerophiles 
Merkmal.  Da  auch  die  Flora  eine  ganz  andere 
ist,  haben  wir  trotz  geringer  räumlicher  Entfernung 
zwei  ganz  verschiedene  Moorvegetationen  vor  uns. 
Von  einer  Ähnlichkeit  mit  unseren  Mooren,  wie 
sie  bei  den  Nureliamooren  so  stark  ausgeprägt  ist, 
kann  hier  keine  Rede  sein,  da  uns  ganz  neue,  von 
den  unsrigen  stark  abweichende  Pflanzenformen 
entgegentreten.  Während  sich  90"/,,  der  sub- 
tropischen Familien  (der  Gattungen  noch  55"/,,) 
auch  bei  uns  finden,  gilt  dies  für  die  tropischen 
nur  von  58  "/u  (Gattungen:  18%).  (Vorträge  a.  d. 
Gesamtgebiet  d.  Botanik.  H.  2.  191 5;  Tropische 
und  subtropische  Moore.  Jahrbuch  preuß.  Geol. 
Landesanstalt  36.  H.  2.  1916.  Letztere  Arbeit  ent- 
hält auch  zahlreiche  Einzelphotogramme  der  cey- 
lonischen Moorpflanzen  und  Vegetationsbilder). 

Kr. 

Interessante  Beobachtungen  über  das  Leben 
einiger  niederer  Pflanzen  enthält  der  65.  Band  der 
Österreichischen  botanischen  Zeitschrift  (1915). 
So  beschreibt  Fritz  von  Wettstein  eine  von 
ihm  als  Alge  aus  der  Gruppe  der  Siphoiieae  be- 
trachtete Pflanze,  die  in  ihrer  Lebensweise  an 
einen  Nostoc  gebunden  ist  [Geosiphon  [Bofrydiiim) 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


639 


/^)77/(?/-w^  (Ktz.)  Fr.  Wettst.).  Sie  fand  sich  zahl- 
reich aul  Krautfeldern  in  der  Nähe  von  Krems- 
münster (Oberösterreich)  in  Form  kleiner  schwarzer 
Pünktchen.  Bei  näherer  Untersuchung  erwies  sich 
aber,  daß  jedes  Individuum  mehrere  (bis  30) 
birnenförmige  Blasen  bildet,  die  durch  ein  weit 
verzweigtes,  in  Hauptachse  und  zahlreiche  Seiten- 
zweige gegliedertes  Rhizoidengeflecht  verbunden 
sind.  Diese  Rhizoiden  enden  teils  in  jenen  Blasen, 
teils  dienen  sie  der  Verankerung  und  Nahrungs- 
aufnahme im  Boden.  Nirgends  finden  sich  im 
Innern  des  Pflanzenkörpers  Zellwände,  während 
das  Protopla>tiia  zahlreiche  kleine  Kerne  enthält, 
wie  es  für  die  Sip/io)iccn  charakiensiisch  ist.  Daneben 
entriahen  dieBiasen  zahlreiche  Öltröpfchen,  nirgends 
dagegen  auch  nur  eine  Andeutung  von  Chroma- 
tophoren.  Das  ganze  Gebilde  wird  von  einer 
gleichmäßig  dicken  Haut  aus  Chitin  umschlossen. 
Außer  duich  Sprossung  erfolgt  eine  Vermehrung 
auch  durch  Dauerorgane,  die  am  Ende  der  Vege- 
tationsperiode als  kleine  Kügelcheii  gebildet  werden. 
Sie  enthalten  ein  dünnes  Netzwerk  von  Protoplasma, 
in  dem  fettes  Öl  sowie  pyrenoid-ähnliche  Gebilde 
aufgespeichert  sind.  Zu  all  diesen  höchst  merk- 
würdigen Zügen  kommt  nun  noch,  daß  in  den 
Blasen  regelmäßig  zu  Knäueln  vereinte  Zelliäden 
einer  iVoj/oc- Art  leben.  Da  Wettstein  sie  frei- 
lebend nirgends  auf  den  Feldern  fand  und  sie  sich 
auch  sonst  von  den  bekannten  Arien  unterscheidet, 
betrachtet  er  sie  als  neue  Form  (iV.  syiiibioii/ic/nii 
Fr.  Wettst.j.  Während  der  untere  Teil  der 
Gcos!pkoiiYi\astn  von  Plasma  mit  einer  großen  Zahl 
von  Kernen  erfüllt  ist,  tritt  dieses  im  oberen  Teil 
zurück,  bis  schließlich  der  ganze  Raum  von  den 
Zellen  des  Nostoc  erfüllt  ist.  W  e  1 1  s  t  e  i  n  ist  der 
Ansicht,  daß  der  A^os/oc  assimiliert ;  für  GeosipJwn 
ist  nach  ihm  dagegen  rein  saprophytische  Lebens- 
weise durch  das  Fehlen  der  Chromatophoren  be- 
dingt und  durch  Versuche  erwiesen.  Kr  glaubt, 
daß  beide  an  der  wechselseitigen  Ernährung  teil- 
haben. Ist  diese  Auffassung  richtig,  dann  hätten 
wir  also  eine  Symbiose  einer  CyanopJiycec  und 
einer  saprophytischen  Cldorophycee  vor  uns.  Das 
hierbei  sich  ergebende  einheitliche  Gebilde 
könnte  dann  in  gewissem  Sinne  mit  den  Flechten 
verglichen  werden.  Auffallend  ist  jedenfalls  neben 
dem  völligen  Fehlen  von  Chromatophoren  vor 
allem  die  aus  Chitin  bestehende  Membran.  Eine 
solche  ist  bisher  von  keiner  Oilorophycee  bekannt, 
tritt  aber  bei  den  Pilzen  ganz  allgemein  auf. 
Aber  selbst  wenn  sich  die  von  Wettstein  ge- 
gebene Deutung  des  Gebildes  nicht  in  allen 
Punkten  halten  lassen  sollte,  bleibt  das  Neue 
und  Eigenartige  seiner  Organisation  bestehen. 
(Geosiphon  Fr.  Wettst.,  eine  neue,  interessante 
Siphonee,  Österr.  Bot.  Ztschr.  65.  1915.  145—155). 
Im  gleichen  Bande  betonte  A.  Lampa,  daß 
mehrere  eingehend  untersuchte  Moose  {Haploiii- 
itriiim  Hookcri,  Sphagnitni  quiiiqiicfariKvi,  Ricard ia 
pingiäs)  in  ihren  Jugendstadien  "manche  Überein- 
stimmungen zeigen,  die,  nicht  auf  äußere  gleiche 
Verhältnisse    zurückführbar,     auf    phylogenetische 


Beziehungen  hinweisen.  Doch  sind  die  Beobach- 
tungen wohl  noch  zu  wenig  allgemein,  als  daß 
man  darin,  wie  [,ampa  will,  einen  Beweis  für 
einen  gemeinsamen  Ausgangspunkt  der  Laubmoose, 
Lebermoose  und  der  Farne  sehen  kann.  Interessant 
ist,  ddß  Ricardia  piiiguis,  ein  nicht  gerade  häufiges 
Lebermoos,  Verpilzung  aufwies.  Die  Zellen  der 
völlig  weißen  und  scheinbar  auch  chlorophyllosen, 
wenig  differenzierten  Pflänzchen  waren  dicht  mit 
Pilzhyphen  angefüllt.  Sie  vegetierten  unterirdisch. 
Der  verbreiteten  Ansicht,  daß  eine  solche  „Mycor- 
rhiza"  bei  den  Moosen  diesen  kaum  irgendwelche 
Vorteile  biete  (Peklo),  tritt  Lampa  für  diesen 
Fall  nicht  bei,  da  es  sich  nicht  um  normale  grüne 
Pflanzen  handelt.  Alle  gefundenen  Individuen 
besaßen  kein  Chorophyll  und  waren  in  allen 
Teilen  von  den  Pilzhyphen  durchzogen.  Da  das 
Moos  normalerweise  als  assimilierende  Pflanze  lebt, 
kann  nach  Lampa  nicht  daran  gezweifelt  werden, 
daß  es  hier,  unterirdisch  lebend,  auf  die  Zuführung 
von  organischer  Nahrung  durch  den  Pilz  ange- 
wiesen ist.  Verf.  meint  also,  daß  eine  Symbiose 
vorliegt,  die  sonst  ohne  Notwendigkeit  besteht, 
in  diesem  bestimmten  Falle  aber  dem  Lebermoos 
jene  F"orm  des  Daseins  ermöglicht,  in  der  es 
unter  den  gegebenen  Verhältnissen  überhaupt  noch 
existieren  konnte.  Demgegenüber  scheint  die  Frage 
berechtigt,  ob  es  sich  nicht  vielleicht  doch  um 
eine  parasitäre  Wirkung  handelt.  (A.  Lampa, 
Untersuchungen  über  die  ersten  Entwicklungs- 
stadien einiger  Moose.  Österr.  Bot.  Ztschr.  65. 
1915.   195 — 204.)  Kr. 

Physiologie.  Verfahren  der  objektiven  Prüfung 
und  Messung  der  Hörlähigkeit  oder  Hörschnelle. 
Die  bisher  im  Gebrauche  befindlicnen  Instrumente 
zur  Bestimmung  der  Hörfähigkeit  als  solcher  im 
Gegensatz  zur  Prüfung  der  Hörschärfe  für  reine 
Töne  verschiedener  Höhe  haben  nur  unzureichend 
ihrem  Zwecke  entsprochen.  Am  besten  hat  sich 
noch  der  zu  diesem  Zwecke  von  Hughes  kon- 
struierte Apparat  bewährt,  mittels  welchem  eine 
Tonquelle  geschaffen  wird,  die  die  menschliche 
Stimme  ersetzt.  Bezold  und  Edelmann  ver- 
wenden zu  ihrem,  von  den  Ohrenärzten  fast  aus- 
schließlich benutzten  Verfahren  Stimmgabeln  und 
die  Galtonpfeifen.  Allein  die  Handhabung  des 
Apparates,  bei  dem  für  jeden  Ton  eine  besondere 
Stimmgabel  oder  Pfeife  zu  verwenden  ist,  ferner 
der  Umstand,  daß  mit  demselben  die  Konstanz 
der  Töne  nur  kurze  Zeit  erhalten  werden  kann, 
überdies  das  Maß  ihre  Stärke  nur  indirekt  er- 
mittelt wird,  hat  für  die  Praxis  eine  Abänderung 
notwendig  gemacht,  die  Pldelmann  insofern 
gelungen  ist  in  bezug  auf  die  erwähnten  Mängel, 
daß  der  Apparat  zwar  für  rein  wissenschaftliche 
Zwecke  seinen  Zweck  erfüllt,  aber  für  den  Ohren- 
arzt doch  zu  schwierig  in  seiner  Handhabung  sich 
gestaltet.  Für  das  akustische  System  beiderlei 
Richtungen  ist  zu  fordern,  daß  es  genügend  emp- 
findlich,   daß    sein    Ton    rein    und    schwach    ge- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  45 


dämpft  ist  und  daß  sich  die  Reaktionen  in  den 
IVlonotelephonen,  den  mit  ausgesprochenem  Eigen- 
ton versehenen,  leicht  und  unzweifelhaft  in  posi- 
tivem, wie  negativem  Sinne  bei  der  Prüfung  fest- 
stellen lassen.  Es  muß  also  gehngen,  den  tat- 
sächlichen Stand  oder  die  organische  Verfassung 
des  Gehörs  in  bezug  auf  Tonaufnahme  und  Ton- 
auffassung bzw.  Tonverarbeitung  zu  ermitteln  und 
andererseits  allenfallsigen  Simulationen  von  selten 
des  zu  Prüfenden  auf  die  Spur  zu  kommen. 

Fritz  Lux,  bekannt  durch  seine,  wohl  all- 
gemein anerkannte  Theorie  über  die  Fernwirkung 
des  Kanonendonners  und  das  Einsetzen  der  Schweig- 
zone —  vgl.  dieselbe  in  Nr.  22  S.  321  der  „Na- 
turw.  VVochenschr."  1916  — ,  hat  es  nun  unter- 
nommen, eine  neue  Methode  der  objektiven  IVIes- 
sung  der  Hörfähigkeit  zu   schaffen,    die    einerseits 


den  wissenschaftlichen  .■Ansprüchen  gerecht  wird 
und  andererseits  auch  leicht  von  jedem  Ohrenarzt 
gehandhabt  werden  kann. 

Im  „Archiv  für  die  ges.  Physiologie"  Bd.  168 
vom  Jahr  19 17  entwirft  Lux  ein  Bild  über  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Frage,  aufweiche  Weise 
es  gelingt,  die  Hörfähigkeit  objektiv  zu  prüfen. 
Zunächst  erörtert  derselbe  unter  Hinweis  auf  die 
einschlägige  Literatur  die  Licht-  und  Schattenseiten 
des  bisherigen  Verfahrens  und,  darauf  bauend,  die 
von  ihm  aufgefundene  Methode.  Als  dann  be- 
weist derselbe  die  Vorteile  seiner  Erfindung  gegen- 
über der  bisherigen  Methode  und  zieht  daraus  den 
Schluß,  daß  dieselbe  die  einzig  sichere  Handhabe 
zur  objektiven  Prüfung  der  Hörfähigkeit  bietet. 
Als  Tonquelle  wird  von  Lux  der  Telephonhörer 
benutzt.  Reuter. 


Anregungen  und  Antworten. 


Den  interessanten  Beiträgen  von  V.  Franz  über  die 
Veränderung  der  Tierwelt  durch  Kriegseinflüsse  lassen  sich 
noch  einige  »eitere  Belege  anreihen.  Zunächst  bestätigt 
Martin  Braeß  die  Zunahme  der  Nachtigall  bei  Wiuen- 
berg  (verminderte  Nachstellung  durch  Vogelsteller,  weil  sich 
diesen  zurzeit  lohnendere  Berufe  bieten)  und  die  Zunahme 
der  Wachtel  in  der  fränkischen  Schweiz,  in  Sachsen  zwischen 
Müglitz-  und  Weißeritzial  bis  hinauf  in  die  Alienberger  Gegend 
{Schonungin  Südrußland).  Doch  sei  bemerkt,  daß  auchdasschon 
vor  dem  Kriege  (1909)  erschienene  Buch;  W.  Schuster, 
„Unsere  einheimischen  Vögel"  (Heimatverlag  Gera)  S.  69  mit 
Fettdruck  als  ersten  Satz  unter  ,, Wachtel"  schreibt:  „Nimmt 
in  den  letzten  Jahren  wieder  etwas  zu".  Hochinteressant  ist 
ein  Bericht  über  Zunahme  der  Schwarzamseln  in  Schleswig- 
Holstein  als  Folge  der  „Kriegsschonung"  (W.  Schuster, 
„Die  Tierwelt  im  Weltkrieg",  Verlag  Müller-Heilbronn).  Aus 
gleichem  Grunde  und  namentlich  wegen  Abwesenheit  des 
Forstpersonals  verzeichnet  Braeß  ferner  eine  Zunahme  der 
Elster  für  Frankfurt  a.  M.,  Lüneburg,  Pirna  an  der  Elbe 
(„Gefl. -Börse"  Nr.  66) ;  nur  der  Vernichlungsfanatiker,  den 
wir  in  diesem  Falle  mit  der  Löns 'sehen  Prägung  „Gemüls- 
krüppel"  belegen  dürfen,  weil  sein  Gemüt  derartig  moralisch 
defekt  ist,  daß  er  die  Schönheiten  der  Natur  nicht  mehr 
schauen  und  werten  kann,  nur  ein  solcher  kann  der  Elster, 
dem  stolzen  und  schönen  Vogel,  die  knappe  Zunahme  nicht 
gönnen,  denn  beispielsweise  hier  in  der  Provinz  Posen  ist  ihr 
Bestand  ganz  außerordentlich  vermindert  gegen  früher  und  in 
meiner  Heimal  Hessen  ist  sie  fast  ausgerottet.  Schelladler 
sollen,  wie  ich  in  meinem  Buche :  „Die  Tierwelt  im  Weltkrieg" 
mitteile,  durch  Kriegslärm  aus  Polen  verdrängt  worden  sein. 
In  dieser  Beziehung  muß  man  jedoch  immerhin  vorsichtig  sein ; 
die  Frage,  wieweit  der  Krieg  die  Zugstraßen  der  Vögel  abge- 
ändert hat,  wird  sehr  verschieden  beantwortet;  manche  be- 
streiten diese  angebliche  Tatsache  (so  Thienemannl.  Die 
„Frankf.  Ztg."  meldet  neuerdings  in  Pommern  auftretende, 
aus  dem  Balkan  verschlagene  Geier  (Mönchs-  und  Gänse- 
geier).    Interessant  ist  auch  der  folgende  Bericht :  „Man  kann 


sich  nicht  mehr  der  Einsicht  verschließen",  so  führt  der 
„Gaulois"  aus,  „daß  der  Krieg  die  Vermehrung  des  Schlangen- 
geschlechts in  unerwartetem,  stellenweise  fast  unglaublichem 
Umfange  erweitert  hat.  Ganz  besonders  die  durch  ihren 
giftigen  Biß  gefährlichen  Vipern  haben  sich  in  allen  französischen 
Provinzen  in  großer  Menge  entwickelt.  Auch  hier  ist  das 
eigentliche  Schuldige  der  Menschenmangel;  denn  seit  mehr 
als  zwei  Jahren  wurden  die  Vernichtungsteldzüge  gegen  die 
Schlangennester  so  gut  wie  gänzlich  vernachlässigt." 

Wilhelm  Schuster. 

Mit  Hinblick  auf  die  Notizen  von  Anna  Hopffe  und 
Rudolph  Zaunick  über  Infusorienerde,  dem  sog.  Bergmehl, 
und  Mehlerde  sei  hervorgehoben,  daß  auch  an  einer  Reihe 
anderer  Orte  Schichten  angetroffen  wurden,  die  in  Zeiten  der 
Not  zur  Streckung  des  Mehles  dienten.  Als  Fundstellen  werden 
erwähnt:  Weichselmünde  bei  Danzig,  Thorn,  Kamin,  Klicken 
in  Anhalt,  Degernfors  in  Schweden  u.  a.  Auslührlicher  habe 
ich  darüber  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  12,  Nr.  33,  15.  Aug.  1897, 
S.  385 — 388)  in  einem  kleinen  Aufsatz  „Über  Bergmebl  und 
diatomeenfübrende  Schichten  in  Westpreußen"  berichtet.  Bei 
der  Teilnahme,  welche  diesem  Thema  in  der  jetzigen  Zeit  ent- 
gegengebracht wird,  sei  auf  ihn  hingewiesen.       P.  Dahms. 


Literatur. 


G.,    Die    höheren    Pilze.     2.,  ( 
607    Textabbildungen.      Berlii 


Lindau,  Prof.  Dr 
gesehene  Auflage.  Mit 
J.  Springer.  —  8,60  M. 

Trendelenburg,  Prof.  Dr.  W.,  Stereoskopische  Raum- 
messung an  Rönlgenaufnahmen.  Mit  39  Texiabbildungen. 
Berlin  '17.     J.  Springer.  —  6,80  M. 

Kohlschütter,  Prof.  Dr.  W.,  Die  Erscheinungsformen 
der  Materie.  Vorlesungen  über  Kolloidchemie.  Leipzig  und 
Berlin  '17.     B.   G.  Teubner.  —  7  M. 


llt;  Alexander  Lipschütz,  Studien  zur  Nervenregeneration.  (8  .'\bb.)  S.  625.  R  i  chard  M  ül  1er- Frei  enfels  , 
Zur  Psychologie  und  Biologie  der  Gefühle.  S.  629.  —  Einzclberichte :  Arnd,  Elektrochemieder Taschenlampenbatterien. 
S.  633.  P.  Debye  und  P.  Scherrer,  Raumgefüge  der  verschiedenen  KohlenstofTmodifikationen.  S.  634.  Gold- 
schmidt, Bi-obaehlungen  und  Versuche  über  Spermatogenese  in  Gewebekulturen.  S.  636.  Keilhack,  Tropische  und 
subtropische  Moore  auf  Ceylon  und  ihre  Flora.  S.  637.  Fr.  v.  Wettstein,  L.  Lampa,  Beobachtungen  über  das 
Leben  einiger  niederer  Pflanzen.  S.  638.  Fr.  Lux,  Verfahren  der  okjektiven  Prüfung  und  Me.>.sung  der  Hörfähigkeit  oder 
Hörschnelle.  S.  639  —Anregungen  und  Antworten :  Veränderung  der  Tierwelt  durch  Kriegseinflüsse.  S.  640.  Infusorien- 
erde. S   640.  —  Literatur:   Liste.  S.  640. 


N  4. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berl: 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S, 


alidenstrafle  42,  erbeten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  i8.  November  1917. 


Nummer  46. 


[Nachdruck 


D'Alemberts  Bedeutung  für  die  Naturwissenschaften. 

Zu  seinem   200.   Geburtstag  am   16.   November   1917. 
rboten.l  Von  Victor  Engelhardt, 

Assistcut  am  Physikalischen  Institut  der  Landwirtschaftlichen  Hochschule,  Berlin. 


An  Faraday  konnte  ich  zeigen,')  wie  durch 
das  günstige  Zusammenwirken  von  Veranlagung, 
Charakter,  Umgebung  und  Zeitgeist  ein  großes 
Lebenswerk  zustande  kam.  —  Heute  dagegen 
lenkt  der  Zufall  von  D'Alemberts  200.  Geburts- 
tag unser  historisches  Interesse  einem  Forscher 
zu,  bei  dem  die  Entwicklung  einer  großen  Be- 
gabung durch  einen  schwachen  Charakter  und 
eine  ungünstige  Umgebung  nicht  zu  ihrer  vollen 
Blüte  gelangen  konnte.  Faradays  ernster 
Forscherwille  verbot  jedes  Abirren  vom  Weg, 
während  D'Alembert  den  Lockungen  einer 
glänzenden  Gesellschaft  nicht  widerstand,  ihren 
Wünschen  Rechnung  trug  und  so  einer  tausend- 
fältigen Zersplitterung  verfiel.  —  Faradays  Leben 
wurde  durch  seine  Arbeit  bestimmt,  D'Alemberts 
Arbeit  von  seinem  Leben.  Es  ist  uns  deswegen 
nicht  möglich  seine  Werke,  wie  die  des  englischen 
Physikers,  nach  gewissen  Grundprinzipien,  das 
heißt  systematisch  zu  behandeln.  Wir  müssen 
vielmehr  D'Alemberts  Arbeiten  gleich  Perlen 
auf  den  roten  Faden  seines  Lebens  reihen,  das 
heißt  biographisch  vorgehen.  Aber  gerade  diese 
durchaus  anders  geartete  Betrachtungsweise  dürfte 
nicht  ohne  Reiz  sein,  denn  in  ihr  offenbart  sich 
eine  Verschiedenheit,  die  uns  einen  Blick  in  den 
Charakter  der  beiden  uns  feindlichen  Nationen 
tun  läßt. 

Bei  einem  allgemeinen  Überblick  über 
D'Alemberts  Leben  scheinen  sich,  wenn  auch 
nicht  immer  ganz  scharf,  drei  Hauptepochen  von 
einander  zu  trennen:  Mit  mathematischen  Unter- 
suchungen begann  seine  Entwicklung.  Aber  auch 
in  den  späteren  Jahren,  in  den  Zeiten  vorwiegend 
philosophischer  Arbeit,  und  auch  dann,  als  diese 
sich  gegen  Ende  seines  Lebens  in  eine  haupt- 
sächlich literarische  Tätigkeit  verlief,  kehrte  er 
immer  wieder  zu  mathematisch-physikalischen 
Problemen  zurück.  Doch  wurde  die  Zeit,  welche 
er  später  für  sie  erübrigen  konnte,  immer  knapper, 
und  seine  mathematischen  Abhandlungen  sind 
deswegen,  nach  Cantors  Ausspruch,-)  ganz  im 
Gegensatz  zu  seinem  sonst  glänzenden  Stil,  unklar, 
unmethodisch  und  schwer  zu  verstehen.  —  Die 
Zeitgenossen  fanden  allerdings  reichen  Ersatz  in 
seinen,  bis  in  den  Himmel  gehobenen,  schrift- 
stellerischen Werken.  Für  sie  stieg  er  zu  immer 
größeren  Höhen  empor.  —  Wir  sind  von  den 
Tagesereignissen  der  damaligen  Zeit  nicht  mehr 
berührt,  von  ihren  Modelaunen  nicht  mehr  ge- 
blendet. Für  uns  verläuft  D'Alemberts  Ent- 
wicklung, auch  dann,  wenn  wir  nicht  nur  mathe- 


matisch physikalische  Interessen  haben,  decrescendo. 
Wollen  wir  aber,  wie  in  vorliegender  Arbeit,  seine 
Verdienste  um  die  Naturwissenschaften  ganz  be- 
sonders betonen,  dann  wird  der  Schwerpunkt 
seines  Schaffens  sehr  weit  an  den  Anfang  gerückt. 

Die  ersten  Tage  seines  Lebens  sind  mit  dem 
ein  wenig  morschen  Zeitalter  Ludwig  XV.  innig 
verknüpft.^).  Er  wurde  am  16.  Nov.  1717  von 
der  schöngeistigen  Salondame,  Mme.  de  Tencin, 
als  der  uneheliche  Sohn  des  Generals  Destouches 
geboren.*)  Um  dem  Skandal  und  den  anzüglichen 
Reden  ihrer  Gesellschaftskreise  zu  entgehen,  ließ 
ihn  die  gewissenlose  Mutter  an  den  Stufen  der 
Taufkapelle  Saint-Jean-Lerond  aussetzen,  wo  ihn 
ein  Polizeikommissar  fand.  In  der  Taufe  erhielt 
er  nach  dem  F"undort  den  Namen  Jean-Baptiste 
Lerond,  während  der  Ursprung  des  Namens 
D'Alembert  rätselhaft  ist.  General  Destou- 
ches nahm  sich,  als  er  von  einer  Reise  zurück- 
gekehrt war,  des  Kindes  an,  setzte  ihm  eine  be- 
scheidene Rente  aus  und  brachte  es  in  das  Haus 
der  Mme.  Rousseau,  die  ihm  eine  großartige 
Pflegemutter  wurde. 

Seine  Schulbildung  empfing  der  Knabe  in 
einem  College,  das  ganz  im  Sinne  der  Jansenisten 
arbeitete.  D'Alemberts  Lehrer  wurden  bald 
auf  seine  glänzende  Begabung  aufmerksam  und 
versuchten  dieselbe  der  Polemik  ihrer  Sekte  dienst- 
bar zu  machen,  einer  Polemik,  welche  damals 
ganz  Frankreich  bewegte.  Es  schwebte  ihnen 
das  Beispiel  Pascals  vor,  des  großen  Mathematikers, 
der  einst  unter  ihrem  Einfluß  seine  ganze  Arbeits- 
kraft in  den  Dienst  religiöser  Streitigkeiten  gestellt 
hatte.  Um  die  Ähnlichkeit  noch  größer  zu  machen, 
wiesen  sie  auch  D'Alembert  auf  mathematische 
Studien  und  hatten  so  großen  Erfolg,  daß  sie 
ihren  Versuch  bald  verwünschten.  Der  „Geo- 
metrie" war  ein  eifriger  Jünger  gewonnen,  den 
Jansenisten  aber  ein  Streiter  verloren  gegangen.**) 

Es  ist  ein  artiger  Zufall,  daß  D'Alembert 
am  Beginn  seiner  Laufbahn  gerade  durch  den 
Einfluß,  den  Tagesstreitigkeiten  auf  ihn  gewinnen 
sollten,  für  lange  Jahre,  für  die  ganze  erste  Epoche 
seines  Lebens,  sich  selbst  und  seiner  mathematischen 
Veranlagung  gewonnen  war.  Er  knüpfte,  über- 
einstimmend mit  dem  wissenschaftlichen  Streben 
seiner  Zeit,  in  zweierlei  Weise  an  Newton  an. 
Einerseits  bemühte  er  sich  die  höhere  Analysis, 
welche  von  Newton  und  Leibniz  in  ihren 
Grundzügen  vorgezeichnet  war,  weiter  auszu- 
bauen, und  andererseits  zog  er  zahlreiche, 
von     Newton     nur    angedeutete    Konsequenzen 


642 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


F.  N.  XVI.  Nr.  46 


des  allgemeinen  Gravitationsgesetzes.  Dem 
zuerst  genannten  Streben  verdanken  wir  viele 
neue  Methoden,  die  entweder  in  seinen  rein 
mathematischen  Abhandlungen  niedergelegt  sind, 
oder  sich  in  den  physikahschen  Schriften  ver- 
stecken. Das  rein  mathematische  Interesse  der- 
selben überragt  das  physikalische  manchmal  sehr 
weit.  Oft  finden  sich  in  ihnen  ganz  unhaltbare 
Theorien,  zu  deren  Ausführung  er  sich  vollständig 
neuer  und  genialer  Rechenmethoden  bedient. 
Eine  Abhandlung  über  die  Ursache  der  Winde,') 
welche  durch  ein  Preisausschreiben  der  Berliner 
Akademie  zustande  kam,  bringt  die  falsche  Vor- 
stellung einer  Luftflut  als  Ursache  der  Passate, 
entwickelt  aber  zur  Durchführung  dieser  Theorie 
durchaus  neue,  analytische  Verfahren.  —  In  seinen, 
allerdings  auch  physikali'-ch  wichtigen  Unter- 
suchungen über  schwindende  Saiten,']  macht  er 
die  Fachwell  zum  erstenmal  mit  der  Lösung  einer 
partiellen  Differentialgleichung  bekannt,  —  und 
auf  fast  allen  Gebieten  der  reinen  Mathematik  ist, 
wie  ein  Blick  in  Cantors  Geschichte  dieser 
Wissenschaft  zeigt,-)  sein  Name  zu  finden.  In  der 
Algebra,  in  der  Differential-  und  Integralrechnung, 
in  der  Lehre  von  den  bestimmten  Integralen  und 
den  Differentialgleichungen,  —  und  nur  auf  einem 
Gebiet  hat  sein  Geist  völlig  versagt  —  auf  dem 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung.  Er  gehörte  zu 
ihren  hefiigsten  Gegnern  und  hat  ihre  Bedeutung 
für  die  Wissenschaft  arg  verkannt.  Sonst  aber 
hat  er  durch  seine  mathematischen  Forschungen, 
deren  Höhepunkt  in  seiner  Jugend  liegt,  die  sich 
aber,  wie  man  aus  den  Anmerkungen  sieht,  bis 
ins  hohe  Alter  hineinziehen,  der  Naturwissenschaft 
indirekt  unschätzbare  Dienste  geleistet,  indem  er 
dazu  beitrug  das  Handwerkszeug  zu  schärfen  und 
zu  verfeinern. 

Trotz  dieses  Verdienstes  ist  es  schwer  zu  ent- 
scheiden, ob  der  direkte  Fortschritt,  den  ihm  die 
Naturwissenschaft  verdankt,  nicht  noch  stärker  ins 
Gewicht  fällt.  Die  zahlreichen  physikalischen  Ab- 
handlungen seines  späteren  Alters  ragen  zwar, 
obwohl  sie  manchen  fruchtbaren  Gedanken  bringen, 
nicht  allzusehr  über  die  Arbeit  anderer  Physiker 
hinaus.  Er  disputierte  mit  Euler  und  Ber- 
noulli  eifrig  über  die  Gestalt  einer  schwingenden 
Saite,")  ein  Problem,  das  171 5  von  Taylor*) 
aufgegriffen  worden  war,  aber  seine  exakte  theore- 
tische Lösung  erst  jetzt  fand,  als  die  Obertöne 
mit  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen  wurden. 
Diese  Beschäftigung  mit  akustischen  Aufgaben 
vereinte  sich  mit  seiner  Liebe  zur  Musik  zu  einem 
musiktheoietischen  Werk,")  dessen  Bedeutung 
selbst  noch  Helmhol  tz  in  seiner  Lehre  von 
den  Tonempfindungen '")  anerkannte.  —  In  der 
Optik  bemühte  er  sich  um  die  Durchrechnung 
achromatischer  Objektive, ")  deren  Konstruktion 
allerdings  schon  gelungen  war.  Der  Erfinder, 
Dollond, '■'')  hatte  aber,  um  sich  das  Privileg 
der  Erzeugung  zu  wahren,  keine  Maße  angegeben, 
und  so  viele  Gelehrte  veranlaßt  auf  theoretischem 
Wege  zu  suchen,  was  er  auf  empirischem  entdeckt. 


Weit  wichtiger  als  all  die  Untersuchungen  ist 
jedoch  D'Alemberts  Ausbau  des  Newtonschen 
Gravitationsgesetzes.  Dieses  erlaubt  in  einfacher 
Weise  die  Kiäfte,  welche  zwei  gegebene  Massen 
mj  und  mj  aufeinander  ausüben,  durch  die 
Gleichung: 

. mj  •  m,,    p 

r"* 

zu  berechnen,  wobei  r  die  Entfernung  und  G  eine 
Konstante  ist. 

Die  Bewegung,  welche  Himmelskörper  unter 
dem  Einfluß  solcher  Kräfte  ausführen  müssen, 
werden,  wie  schon  Newton  gezeigt,  durch  die 
Kepplerschen  Gesetze  beschrieben. '^J  —  Sind 
jedoch  an  Stelle  von  zwei,  drei  Massen  vorhanden, 
so  sehen  wir  uns  dem  berühmten  Dreikörper- 
problem gegenüber.  Die  Kräfte  lassen  sich  wohl 
leicht  berechnen,  —  welche  Bewegungen  aber 
unter  dem  Einfluß  dieser  Kräfte  ausgeführt  werden, 
ist  auch  noch  heute  nur  unter  gewissen  Vernach- 
lässigungen zu  bestimmen.  Das  ist  traurig,  denn 
die  Astronomie  hat  es  oft  mit  der  Einwirkung 
preier  Körper  anfeinander  zu  tun.  Man  denke  nur 
an  die  Bewegung  des  Systems  Sonne,  Erde  und 
Mond,  zu  dem  außerdem  noch  die  kleinen 
Störungen  durch  andere  Planeten  kommen.  Hier 
griff  D'Alem  bert  mit  großem  Erfolg  ein,  wenn 
es  ihm  natürlich  auch  nicht  beschieden  sein  konnte, 
die  schwere  Aufgabe  restlos  zu  losen.  —  Ihm  ge- 
lang es  die  Prazession,  das  Vorrücken  der  Tag- 
und  Nachtgleichen,  durch  die  Anziehung  der  Sonne 
auf  die  abgeplattete  Erde  und  die  Nutation,  das 
geringe  Schwanken  der  Erdachse,  durch  die 
gleiche  Einwirkung  des  Mondes  zu  erklären  und 
damit  beide  Erscheinungen  als  Polge  der  allge- 
meinen Massenanziehung  hinzustellen.^*) 

Seine  hervorragenden  Arbeiten  auf  astrono- 
mischem Gebiet  wären  jedoch  niemals  möglich 
gewesen,  wenn  er  nicht  zu  dem  Erbe,  das  er  von 
Newton  empfing,  etwas  aus  ureigenem  Geist 
hinzugefügt  hatte  —  sein  dynamisches  Prinzip. 
Dieses  ist,  obwohl  es  bereits  im  Jahre  1743,  in 
einer  seiner  ersten  Arbeilen  veröffentlicht  wurde, ^^) 
der  Höhepunkt  seines  Schaffens.  Es  entsprang 
dem  tief  philosophischen  und  echt  physikalischem 
Bemühen,  die  verwirrende  Fülle  dynamischer 
Einzelgesetze  und  Tatsachen  auf  einige  wenige 
Prinzipien  zurückzuführen,  „zu  gleicher  Zeit  die 
Überflüssigkeit  mehrerer  Prinzipien,  die  man  bisher 
in  der  Mechanik  angewandt  hatie  (zu  zeigen),  und 
den  Vorteil  zu  zeigen,  den  man  aus  der  Ver- 
einigung der  übrigen  für  den  Fortschritt  der 
Wissenschaft  ziehen  kann".'®)  Sein  neues  um- 
fassendes Prinzip  gibt  den  Weg,  im  allgemeinen 
Falle  die  Bewegurig  eines  Systems  irgendwie  mit- 
einander verbundener  Körper,  die  dem  Einfluß 
gegebener  Kräfte  unterliegen,  zu  ermitteln.  „Man 
zerlege  die  jedem  Körper  eingeprägten  Bewegungen 
(Kräfte)  a,  b,  c  usw.  in  je  zwei  andere  a,  a;  b,  /?; 
c,  y;  derart,  daß  die  Körper,  wenn  man  denselben 
nur  die  Bewegungen  a,  b,  c  usw.  eingeprägt  hätte, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


643 


diese  Bewegungen,  ohne  sich  gegenseitig  zu  hindern, 
hätten  bewahren  können;  und  daß,  wenn  man 
denselben  nur  die  Bewegungen  a,  ß,  y  usw.  ein- 
geprägt hätte,  das  System  in  Ruhe  geblieben 
wäre;  dann  ist  klar,  daß  a,  b,  c  usw.  die  Be- 
wegungen sein  werden,  welche  diese  Körper  in- 
folge ihrer  Wechselwirkung  annehmen  werden. 
Das  ist  die  Lösung  der  Aufgabe."^') 

Die  dynamische  Aufgabe  war  damit  auf  eine 
wesentlich  einfachere,  statische  zurückgeführt. 

Außer  bei  den  schon  behandelten  astrono- 
mischen Problemen,")  wandte  D'Alembert 
sein  Prinzip  mit  großem  Erfolge  in  zahlreichen 
dynamischen  und  hydrodynamischen  Unter- 
suchungen an.'**)  Die  Gleichungen  waren  aller- 
dings oft  recht  schwer  aufzustellen,  und  es  be- 
durfte noch  der  Arbeit  des  eigentlichen  Begründers 
der  analytischen  Mechanik,  der  Arbeit  Lagranges, 
um  hier  die  beste  Lösung  zu  finden.  Lagrange 
gibt  aber  selbst  zu,  daß  er  D'Alembert  außer- 
ordentlich viel  zu  verdanken  hat. 

Die  grundlegenden  mathematischen  Arbeiten 
entstanden  fern  von  dem  Getriebe  der  Welt  in 
der  stillen  Stube  bei  Mutter  Rousseau.  Aber 
man  wird  nicht  ungestraft  berühmt,  man  kann 
nicht  ungestört  bleiben  und  gleichzeitig  der  Freund 
des  großen  Preußenkönigs  sein,  dessen  Aufmerk- 
samkeit D'Alembert  durch  seine  Behandlung 
der  Berliner  Preisaufgabe ")  erregt  hatte.  Die 
Welt  machte  ihn  zum  Akademiker  und  trat  mit 
ihren  Forderungen  an  ihn  heran.  Diderot  bat 
um  mathematische  Artikel  und  um  ein  Vorwort 
für  die  große  Enzyklopädie.'*)  D'Alembert 
willigte  ein,  wurde  Mitherausgeber  dieses  un- 
vergleichlichen Denksteins  der  philosophischen 
Aufklärungszeit  und  schrieb  den  „Discours  preli- 
minaire."  ^'') 

Es  kann  uns  nicht  wundern,  D'Alembert 
plötzlich  philosophisch  beschäftigt  zn  finden. 
Schon  in  der  Dynamik  zeigte  sich,  wie  wir  sahen, 
sein  philosophischer  Geist  in  dem  Streben  nach 
einheitlichen  Prinzipien  und  in  der  vorangestellten 
erkenntnistheoretischen  Untersuchung  über  die 
Grundlagen  der  Mechanik.  Im  „Discours"  findet 
sich  auf  das  Universum  übertragen,  was  dort  für 
die  Mechanik  galt :  „Für  den,  der  das  Weltall  von 
einem  einheitlichen  Gesichtspunkt  aus  erfassen 
könnte,  würde  es  —  wenn  der  Ausdruck  gestattet 
ist  —  nur  eine  einzige  große  Wahrheit  bedeuten".'') 
Kürzer  und  schärfer  kann  das  Ziel  aller  Philosophie 
und  aller  Wissenschaft  kaum  gekennzeichnet 
werden.  Von  abstrakter  Höhe  versucht  er  nun 
in  spekulativ-philosophischer  Weise  die  Entstehung, 
die  Reihenfolge  und  die  Verknüpfung  der  mensch- 
lichen Kenntnisse  zu  schildern,  und  in  einem 
zweiten  Abschnitt  einen  kurzen  Abriß  der  Ge- 
schichte der  Wissenschaften  seit  ihrer  Renaissance 
zu  geben. 

Dieser  Schrift  war  ein  lauter  überraschender 
Erfolg  beschieden,  der  den  seiner  tiefen  mathe- 
matischen Arbeiten  weit  übertraf.  Er  hatte  eben 
ohne  besonders  originell  zu  sein,    die  in  der  Zeit 


liegenden  Gedanken  in  leicht  faßlicher,  glatter 
Weise  dargestellt  und  hatte,  was  wohl  am  meisten 
den  Beifall  des  Publikums  hervorrief,  die  Voll- 
endung der  kulturellen  Entwicklung  in  seiner 
französischen  Heimat  gefunden.  —  D'Alemberts 
Charakter  war  von  gallischer  Eitelkeit  nicht  völlig 
frei,  der  Erfolg  berauschte  ihn  und  veranlaßte 
ihn,  trotz  seiner  spezifisch  mathematischen  Begabung, 
weiter  zu  philosophieren.  Aber  gerade  die  mathe- 
matische Begabung,  dieser  Sinn  für  saubere 
Exaktheit  hat  ihn  davor  bewahrt  in  der  Philosophie 
nur  die  Gedanken  seiner  Zeit  zu  wiederholen,  hat 
seinem  Denken  eine  persönliche  Note  gegeben. 

Er  übertrug  Newtons  Auffassung  von  der 
Physik,  Newtons  Forderung  keine  Hypothesen 
zu  bilden,  sondern  nur  das  zu  behandeln,  was 
sich  in  klare  Gleichungen  kleiden  läßt,  auf  das 
Denken  überhaupt  —  und  kam  so  notgedrungen 
zum  Skeptizismus.  Genau  so  wie  er  es  in  der 
Physik,  bei  der  Abhandlung  über  die  Winde*) 
ablehnt,  deren  wahre  Ursache,  die  Sonnenwärme, 
weiter  zu  verfolgen,  weil  sie  sich  nicht  in  strenge 
Formeln  kleiden  läßt  und  er  dadurch  zu  falschen 
Resultaten  kommt,  so  lehnt  er  in  der  Philosophie 
von  vornherein  jede  Metaphysik  ab.  „Man  könnte 
das  Weltall  mit  gewissen  Schriftwerken  von  er- 
habener Dunkelheit  vergleichen,  deren  Verfasser 
sich  bisweilen  zu  der  Geistessphäre  des  Lesers 
herablassen  um  ihm  einzureden,  daß  er  ja  alles 
nahezu  verstände".  Aber  er  versteht  es  nicht 
„und  die  größten  Genies  gelangen  mit  dem  an- 
gestrengtesten Nachdenken  .  .  .  nur  zu  oft  dahin, 
daß  sie  schließlich  noch  etwas  weniger  davon 
wissen,     als     die     gewöhnlichen    Sterblichen."--) 

D'Alembert  ist  Positivist,  eigentlich  der 
erste  Positivist,  das  heißt  für  ihn  ist  die  Philosophie, 
wie  es  im  „Discours"  deutlich  zum  Ausdruck 
kommt,  nur  die  Wissenschaft  von  den  Tatsachen 
und  von  der  Zusammenfassung  der  Tatsachen, 
die  ihre  Berechtigung  in  der  oben  angeführten 
Einheit  alles  Tatsächlichen  hat.  Das  Wesen  der 
Dinge,  und  ob  sie  überhaupt  sind,  ist  uns  unbe- 
kannt, nur  Erscheinungen  sind  gegeben.  Mit  den 
Erscheinungen  aber  müssen  wir  praktisch  rechnen 
und  tun  es  am  besten,  indem  wir  uns  eine  Außen- 
welt vorstellen.  Die  Außenwelt  hat  einen  prak- 
tischen Sinn. 

Wie  man  sieht  paßte  die  ganze  Art  seines 
Denkens  vorzüglich  zu  den  Bestrebungen  der 
Aufklärungszeit,  zu  den  Bestrebungen  der  Enzy- 
klopädisten. Er  hat  seinen  Anteil  am  Kampf 
gegen  kirchlichen  und  politischen  Zwang,  —  und 
das  macht  auch  die  philosophische  Periode  seines 
Lebens  für  die  Naturwissenschaften,  wenigstens 
indirekt  wertvoll.  Wir,  die  es  für  selbstverständ- 
lich halten,  daß  man  wissenschaftliche  und  reli- 
giöse Meinungen  frei  aussprechen  kann,  haben 
gar  keine  Ahnung,  welcher  Zwang  in  F"rankreich, 
und  wohl  nicht  nur  in  Frankreich  im  18.  Jahr- 
hundert auf  die  Geister  ausgeübt  wurde.  Wir 
müssen  jedem  Dank  wissen,  der  diesen  Zwang 
zerbrechen    half,    denn    er    hat    beigetragen    zur 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Freiheit  unserer  heutigen  Wissenschaft.  Einen 
Vorwurf  können  wir  D'Alembert  allerdings 
nicht  er.'^paren:  er  war  ein  schwacher,  ein  ängst- 
licher Verfechter  seiner  Meinung.  Nachdem  er 
in  der  oben  zitierten  Stelle  des  „Discours"  seiner 
skeptischen  Überzeugung  Ausdruck  verliehen  hat, 
fährt  er  fort:  „Darum  ist  uns  nichts  unentbehr- 
licher als  eine  geoffenbarte  Religion",  durch  welche 
„dank  der  Erleuchtung,  die  sie  über  die  Welt 
verbreitet  hat,  das  \^olk  sogar  in  einer  großen 
Zahl  wichtiger  Fragen  fester  und  schlüssiger  (ist) 
als  es  alle  philosophischen  Sekten  gewesen  sind."  -■^) 
In  den  „Elements  de  philosophie",^*)  welche  neben 
dem  „Discours"  sein  philosophisches  Hauptwerk 
sind,  macht  er  der  Kirche  noch  viel  mehr  Kon- 
zessionen, in  der  Hoffnung  die  Nachwelt  werde  zu 
unterscheiden  wissen,  „zwischen  dem,  was  wir 
dachten  und  dem,  was  wir  schrieben".  Und  als 
die  Mitarbeit  an  der  Enzyklopädie  gar  zu  ge- 
fahrlich wurde,    trat  er  zurück. 

Der  laute  verwirrende  Ruhm,  der  D'Alembert 
aus  seinen  philosophischen  Werken  erwuchs,  wurde 
sein  Schicksal.  Die  Salons  wollten  ihn,  den 
glänzenden  Stilisten,  in  ihren  Kreisen  sehen.  Sie 
lockten  ihn  und  er  gab  nach.  Der  stille  Gelehrte 
wurde  ein  glänzender  Spötter,  ein  Festredner  der 
Akademie  -^)  und  —  fast  sojährig  —  der  Lieb- 
haber einer  geistvollen,  leidenschaftlichen,  gewissen- 
losen Frau,  MUe.  de  Lespinasse.  Ihr  zu  Liebe 
ließ  er  sich  von  den  literarischen  Steitigkeiten 
seines  Zeitalters  fangen,  -")  ihr  zu  Liebe  schrieb 
er  Bücher,  die  ihm  lauten  Beifall  brachten  —  und 
heute  vergessen  sind.  —  Er  stand  auf  der  Höhe 
seines  Ruhms.  Die  ursprünglich  anonym  er- 
schienene Abhandlung  „De  la  destruction  des 
Jesuites", -')  eine  Polemik  gegen  Jesuiten  und 
Jansenisten,  war  das  Tagesgespräch.  Seine  Ge- 
denkreden in  der  Akademie  mußte  man  gehört 
haben,  und  seiner  Freundschaft  mußte  man  sich 
rühmen  können. 

Er  stand  auf  der  Höhe  seines  Ruhms  —  und 
war  tief  verzweifelt,  —  denn  seine  Freundin  war 
nicht  treu.  Die  Verzweillung  raubte  ihm  die 
Kraft  zu  ernster  Arbeit  —  und  ließ  ihn  sehn- 
süchtig an  die  stillen  Stunden  denken,  in  denen 
er  seine  großen  mathematischen  Werke  schuf.  — 
Sie  sind,  neben  seiner  Philosophie,  was  ihn  heute 
noch  unvergessen,  was  ihn  heute  noch  wertvoll 
macht.  Was  damals  aber  laut  gepriesen  wurde, 
daran  denkt  man  jetzt  nicht  mehr. 


ij  Naturw.  Wochenschr.   1917  Nr, 
2)  Cantor,  Vorlesungen  über  Gei 


4  S.  465. 

ichte  der  Mathematik. 
Siehe  z.   B.   3.  Bd.  2.  Aufl.   1901   S.   585. 

3)  Biographische  Arbeiten  über  D'Alembert  nenneich 
folgende:  a)  Condorcet,  Eloge  de  M.  D'Alembert. 
Oeuvres  de  Condorcet  Bd.  3.  Paris  1847.  b)  Bertrand, 
D'Alembert,  Revue  des  deux  Mondes  15.  Okt.  1865. 
c)  Bertrand,  D'Alembert  Paris  18S9,  die  beste  und  aus- 
führlichste Biographie. 

4)  Über  das  genaue  Datum  herrscht  Uneinigkeit.  Der 
16.  Nov.  scheint  das  richtigste  zu  sein.  Siehe  Förster  Beiträge 
zur  Kenntnis  des  Charakters  und  der  Philosophie  D'Alemberts. 
Diss.  Jena  1892  S.  7. 

5)  Condorcet,   1.  c.  S.  53. 

6)  Reflexion  sur  la  cause  generale  des  vents.  Paris  1747.  4°. 

7)  1747  in  der  Berliner  Akademie.  S.  auch  Opuscules 
mathematiques    1761  — 1781. 

8)  Taylor,  Methodes  incrementorum  directa  et  inversa. 
London   1715. 

9)  Elements  de  Musique  theoretique  et  practique  suivant 
les  principes  de  M.  Rameau  1752.  Ins  Deutsche  übers,  von 
Marpurg,  Leipzig   1757. 

10)  Helmholtz,  Lehre  von  den  Tonempfindungen.  S.  380. 

11)  Opuscules  mathematiques,  namentlich  III.  Bd. 

12)  1706 — 61. 

13)  Newton,  Philosophia  naturalis  principia  mathematica 
16S7. 

14)  Recherches  sur  la  precession  des  Equinoxes  et  sur 
Taxe  de  la  terre  dans  le  Systeme  Newtonien.  Paris  1749.  4°. 
Ins  Deutsche  übers,  von  G.  K.  Seuffert.  Nürnberg  1857. 
S.  auch  verschiedene  Art.  in  den  Opusc.  math.  Rech,  sur 
diff.  points  importans  du  Systeme  du  Monde  I — 111.    1754  u.  f. 

15)  Traite  de  Dynamique.  Paris  1743.  In  deutscher 
Übers,  neu  herausg.  in  Oslwalds  Klassikern  der  exakten  Wissen- 
schaften Nr.   106. 

16)  Ostwalds  Klass.   106  S.  7. 

17)  .Ebenda  S.   58. 

iS)  Traite  de  l'Equilibre  et  du  mouvement  des  Fluides 
pour  servir  de  Suite  au  Traite  de  Dynamique.  Paris  1744.  4°. 
Essai  d'une  nouvelle  theorie  de  la  Resistance  des  tluides. 
Paris   1752.   4°.     S.  auch  versch.  Abb.  in  den  Opuscules  math. 

19)  Encyclopedie  ou  Dictionnaire  raisonne  des  Sciences, 
des  Arts  et  des  Metiers,    i.  Bd.   1751. 

20)  In  deutscher  Übers,  von  Hirschberg,  mit  Anm. 
Phil.  Bibl.   140.   Leipzig   1912. 

21)  Ebenda  S.  27. 

22)  Ebenda  S.  22. 

23)  Ebenda  S.  23. 

24)  Essai  sur  les  Elements  de  philosophie  ou  sur  les 
principes  des  connaissances  huraaines  1759 — 1770.  Über  die 
philosophische  Bedeutung  D'Alemberts  siehe  außer  dem 
zitierten  Werk  von  Förster  noch  Kunz,  Die  Erkenntnis- 
theorie D'Alemberts,  Archiv  für  Geschichte  der  Phil.  Uct.  1906. 

25)  Eloges.     Paris   17 79.     8". 

26)  Melanges  de  Litterature,  d'histoire  et  de  Philosophie. 
Paris   1752,   1759,   1763  u.  a. 

27)  De  la  destruction  des  Jesuites  en  France,  par  un 
auteur  desinteresse   1765. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Eigenartiger  Bau  des  Plasmakörpers. 
An  den  Stengeln  und  Blattstielen  der  aus  China 
stammenden  Orchidee  Haemaria  (Goodyera)  dis- 
color  lassen  sich  schon  mit  bloßem  Auge  neben 
länglichen,  grauen  Flecken  (Spaltöffnungen)  kleine, 
runde,  weiße  Pünktchen  erkennen.  Sie  zeigen  die 
Stellen  an,  wo  sich  in  dem  Rindenparenchym  unter 
der  Oberhaut  längliche,  polygonale  Raphiden- 


zellen  befinden,  d.  h.  Zellen,  in  denen  Kalkoxalat 
in  Gestalt  von  bündeiförmig  auftretenden  Kristall- 
nadeln ausgeschieden  ist.  Diese  Zellen  zeigen, 
wie  H.  Molisch  mitteilt,  die  Eigentümlichkeit, 
daß  der  die  Zellwand  innen  auskleidende  Proto- 
plasmaschlauch keine  einförmige  Haut  darstellt, 
sondern  aus  polygonalen  Maschen  zusammengesetzt 
ist  und  als  ein  zierliches  Mosaik  erscheint.    Jeder 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


645 


Baustein  dieses  Mosaiks  wird  von  einer  Kammer 
mit  dünner  Plasmawand  und  wasserhellem  Inhalt, 
einer  Vakuole,  gebildet.  An  irgendeiner  Stelle 
des  Plasmamosaiks  liegt  der  Zellkern.  Der  Hohlraum, 
den  das  Netz  umschießt,  ist  von  homogen  er- 
scheinendem Schleim  ausgefüllt,  und  in  diesen 
eingebettet  liegt  das  Raphidenbündel.  Wenn  man 
die  Zelle  mit  Hilfe  von  10  "/^  Kalisalpeterlösung 
plasmolysiert,  so  rundet  sich  das  Plasma  bei  der 
Ablösung  von  der  Zellwand  nicht  ab,  sondern 
behält  so  ziemlich  den  Umriß  der  polygonalen 
Zelle  bei,  was  für  das  verhältnismäßig  feste  Ge- 
füge des  Plasmamosaiks  zeugt.  Bei  Druck  auf 
das  Deckglas  oder  nicht  selten  von  selbst  trennen 
sich  in  plasmolysierten  Zellen  die  Bausteine  des 
Mosaiks  voneinander  und  bilden  einzelne  scharf 
umschriebene  Stücke,  die  genau  den  Kammern 
des  Plasmas  entsprechen:  „Es  handelt  sich  also 
in  diesen  Raphidenzellen  nicht  um  ein  vergäng- 
liches Schaum-  oder  Wabennetz  .  .  .,  sondern  um 
eine  stabil  organisierte,  ziemlich  festgefügte  Kam- 
merung  des  Plasmas."  Sie  findet  sich  ausnahmslos 
in  allen  Raphidenzellen  von  Haemaria  discolor, 
und  da  diese  die  Aufgabe  haben,  Schleim  und 
Oxalsäuren  Kalk  abzuscheiden,  so  ist  es  nicht  un- 
wahrscheinlich, daß  das  Plasmamosaik  einen  sekre- 
torischen Apparat  darstellt.  Es  wurde  auch  bei 
mehreren  Arten  der  (^rchideengattung  Anoecto- 
chilus,  besonders  A.  Veitchianus,  angetroffen.  In 
den  als  Salep  verwendeten  Knollen  von  Orchis 
purpurea,  O.  latifolia  und  Ophrys-Arten  war  das 
Plasmanetz,  wie  Molisch  nachträglich  feststeUte, 
schon  von  Arthur  Meyer  gesehen  und  be- 
schrieben worden;  man  hat  es  auch  als  diagno- 
stisches Merkmal  für  Salep-Schleimzellen  verwendet. 
Moliscli  fand  es  bei  Knollen  von  Ophris  aranifera 
nur  in  den  ganz  jungen  Raphidenzellen  deutlich 
ausgebildet,  während  es  in  den  ausgewachsenen 
Zellen  nicht  vorhanden  oder  nur  schwach  ausge- 
bildet war.  Bei  Haemaria  und  Anoectochilus 
scheint  es  dagegen  einen  dauernden  Bestandteil 
der  Raphidenzellen  zu  bilden.  Verf.  weist  auf 
gewisse  Analogien  mit  dem  Plasmabau  bei  anderen 
Organismen  (Cladophora-Arten,  Kutikula  gewisser 
Amphibienlarven)  hin,  hebt  aber  als  Besonderheit 
des  von  ihm  beschriebenen  Plasmamosaiks  den 
hohen  Grad  von  Selbständigkeit  der  einzelnen 
Kammern,  die  sich  durch  bestimmte  Mittel  von- 
einander isolieren  lassen,  hervor.  (Sitzungsberichte 
der  kais.  Akad.  d.  Wiss.  in  Wien.  Math.-Naturw. 
Kl.  Abt.  I,  Bd.   126,  1917,  S.  231—241.) 

F.  Moewes. 

Wertvolle  Aufschlüsse  über  die  Entwicklung 
der  Nepenthaceen,  jener  eigentümlichen,  zu  den 
„fleischtressenden"  Pflanzen  gehörenden  Kannen- 
pflanzen, enthält  eine  neuere  Arbeit  von  Kurt 
Stern  (Beiträge  zur  Kenntnis  der  Nepenthaceen. 
Flora,  N  F.  9.  213— 282.  191 7).  Die  kleinen,  nach 
Beccari  nur  0.000035  g  wiegenden  Samen  be- 
sitzen eine  einschichtige,  mit  Vorsprüngen  und  Ver- 
dickungsleisten     versehene    Schale,     die    bei    der 


Keimung  der  Länge  nach  aufplatzt.  Die  läng- 
lichen Keimblätter  sitzen  an  einem  zylmdrischen 
Teile,  dessen  zentrales  radiales  Gefäßbündel  es 
als  Wurzel  charakterisiert.  Andrerseits  enthält  es 
Chlorophyll  und  zeigt  keinen  deutlichen  Geotro- 
pismus, so  daß  es  Stern  als  ein  Mittelding  von 
Wurzel  und  Hypocotyl  auffaßt.  Dieses  Gebilde 
dient  also  schon  zeitig  der  Assimilation,  die  Be- 
festigung im  Boden  wird  dagegen  anfänglich  von 
den  Zacken  der  Schale  übernommen,  die  auch  für 
die  Wasseraufnahme  Bedeutung  besitzt.  Auffallend 
ist,  daß  schon  die  ersten  Laubblätter,  die  in 
horizontalen  Rosetten  angeordnet  sind,  Kannen 
tragen,  die  aber  von  den  später  entstehenden 
deutlich  verschieden  sind.  Die  älteren  Blätter 
zerfallen  in  ausgebildetem  Zustande  in  Spreite, 
Ranke  und  Kanne,  auf  deren  Entwicklung  im  ein- 
zelnen sowie  morphologische  Stellung  hier  nicht 
näher  eingegangen  werden  soll. 

Nach  einer  Untersuchung  der  Blüte  behandelt 
Stern  die  anatomischen  Verhältnisse,  von  denen 
der  Bau  der  Blattdrüsen  am  meisten  interessieren 
dürfte.  Sie  spielen  eine  hervorragende  Rolle  für 
unsere  Vorstellung  von  der  Entstehung  der  In- 
sektivorie.  Haberlandt  hatte  für  Pingiticula 
(das  Fettkraut)  nachgewisen,  daß  die  Verdauungs- 
drüsen wahrscheinlich  aus  wasserabscheidenden 
Hydathoden  abzuleiten  seien.  Die  Vorfahren  der 
Pflanze  besaßen  also  wohl  ursprünglich  solche, 
die  ein  schleimiges  Sekret  absonderten.  Hier 
konnten  zunächst  zufällig  kleine  Insekten  haften- 
bleiben; sie  verwesten,  und  die  gelösten  Stoffe 
wurden  von  der  Pflanze  aufgenommen,  woraus 
dann  allmählich  die  „habituelle  Insektivorie"  her- 
vorging. Da  auch  die  Nepenthaceen  solche 
Hydathoden  besitzen,  lag  nahe,  hier  an  eine  ähn- 
liche Ableitung  zu  denken.  Es  gelang  Stern 
indessen  der  Nachweis,  daß  im  Gegensatz  zu  den 
Droseraceen,  die  Drüsen  nicht  einheitlich  gebaut 
sind,  sich  vielmehr  zwei  Typen  unterscheiden  lassen, 
die  sowohl  im  fertigen  Bau  wie  im  ganzen  Ent- 
wicklungsgange deutlich  voneinander  getrennt 
sind.  Auf  allen  Blättern,  auch  den  Teilen  der  Blüte 
sind  kleine  flache,  köpfchenförmig  vorgewölbte 
Drüsen  nicht  selten.  Das  sind  die  Hydathoden. 
Ihnen  stehen  die  schildförmigen,  meist  eingesenkten, 
echten  Verdauungsdrüsen  gegenüber,  die  sich  von 
jenen  in  keiner  Weise  ableiten  lassen.  Dagegen 
fand  Stern,  daß  sie  vollständig  den  an  den 
Blumenblättern  sitzenden  Nektardrüsen  gleichen, 
von  denen  er  sie  auch  ableitet.  Er  nimmt  dem- 
gemäß an,  daß  bei  den  noch  nicht  gewohnheits- 
gemäß insektivoren  Vorfahren  von  Ncpeiifl/cs  auch 
auf  den  Blättern  derartige  Honigdrüsen  gesessen 
haben.  Diese  Annahme  erfährt  eine  starke  Stütze 
in  der  Tatsache,  daß  die  gleiche  Übereinstimmung 
bei  Sarraceiiia  herrscht  und  hier  wie  dort  ganz 
gleichgebaute  Nektardrüsen  noch  zerstreut  auch 
auf   den    Blättern,    sogar    dem    Stamm    auftreten. 

Diese  anatomischen  und  entwicklungsgeschicht- 
lichen Befunde  bringen  die  Familie  in  enge  Be- 
ziehung zu  Droseraccen  und  Sarraccniacceii.     An 


646 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


jene  erinnert  vor  allem  die  Keimungsgeschichte, 
an  diese  der  geschilderte  Drüsenbau  und  andere 
Merkmale.  Die  Familienreihe  der  Sarra- 
ceniales  muß  daher  entgegen  der  Ansicht 
Wettsteins  als  eine  natürliche  angesehen 
werden. 

Die  vielumstrittene  Frage,  ob  die  Bedeutung 
der  eigenartigen  Anpassung  in  der  Zufuhr  von 
stickstoffhaltigen  Substanzen  oder  von  Nährsalzen 
(Stahl)  zu  suchen  ist,  läßt  Stern  offen,  betont 
aber,  daß  die  gelegentlich  noch  immer  bezweifelte 
Tatsache  der  Insektivorie  entschieden  feststeht. 
Der  von  ihm  beobachtete  Fang  war  stets  reichlich; 
ältere  Kannen  enthielten  eine  bis  i  cm  hohe 
Schicht  ven  Chitinresten  kleiner  Kerbtiere,  Spinnen 
und  Fliegen,  denen  die  Drüsen  wohl  stickstoffhaltige 
wie  stickstofffreie  Nahrung  entnehmen.  Inter- 
essant ist,  daß  es  ihm  gelungen  ist,  durch  schlechte 
Ernährungsverhältnisse  (Stecklingsbildung  u.  a.) 
die  sekundäre  Erzeugung  von  Erstlingsblättern 
zu  erreichen,  worin  er  eine  erneute  Bestätigung 
der  Goeb eischen  Lehre  sieht,  die  die  Primär- 
blätter als  Hemmungsbildungen  deutet.  Zahlreiche 
Versuche  betreffen  die  Bewegungen  von  Kannen 
und  Ranken.  Diese  liegen  zunächst  in  einer  Linie, 
später  biegt  sich  die  positiv  geotropische  Ranke 
nach  unten,  um  sich  oft  stark  zu  krümmen,  die 
negativ   geotropische  Kanne   dagegen  nach  oben. 

Kr. 

Fischereiwesen.  Über  die  unheilvolle  Ein- 
wirkung der  Verschilfung  der  stehenden  Gewässer 
auf  die  Nutzfischzucht  verbreitet  sich  Friedrich 
Wilhelm  Schlesinger  (Karlsruhe)  in  der  All- 
gemeinen Fischereizeitung  (42.  Jahrg.  191 7 
Nr.  13).  Die  Hauptlaichplätze  der  Nutzfische  sind 
die  krautigen  d.  h.  mit  Unterwasserpflanzen  be- 
standenen seichten  Uferstellen.  Durch  die  immer 
weiter  fortschreitende  Ausdehnung  des  Schilfes 
werden  gerade  diese  Uferpartien  vom  Schilf 
überwuchert  und  den  Fischen  als  Laichplätze  ent- 
zogen. Aber  auch  für  die  junge  Brut,  für  die 
Jungfische,  die  sich  gerne  in  dem  seichten  von 
der  Sonne  durchwärmten  Wasser  umhertummeln, 
wo  sie  überdies  an  den  Unterwasserpflanzen  reich- 
liche Nahrung  finden,  bildet  das  Schilf  ein  starkes 
Hemmnis,  ihre  Tummelplätze  werden  ständig  ver- 
ringert, ihre  Hauptnahrungsquellen  abgeschnitten. 
Die  Grundbedingung  jeglicher  gedeihlicher  Fisch- 
zucht, die  Fortpflanzung  der  Fische  und  die  ge- 
sicherte Aufzucht  des  Nachwuchses,  wird  durch 
die  Ausdehnung  der  Schilfbestände  demnach  immer 
mehr  beeinträchtigt.  Die  mit  .Schilf  bestandene 
Uferzone  wird  aber  auch  als  Produktionsort  der 
Fischnahrung  für  die  älteren  P'ische  unergiebiger, 
da  der  Schilf  einerseits  das  Gedeihen  der  Llnter- 
wasserpflanzen  mehr  und  mehr  hemmt,  andererseits 
aber  selbst  nicht  als  Fischnahrung  in  Betracht 
kommt.  Ebenso  können  auch  die  Schilfbewohner, 
die  von  ihm  aus  ins  Wasser  geraten,  nicht j;  als 
Nahrungsquellen    für   die   Fische   gelten.     In    den 


Altwässern  des  Rheins  hat  Schlesinger  seine 
Untersuchungen  angestellt  und  an  den  schilffreien 
Stellen  an  angeschwemmten  Landpflanzenteilen 
ungeahnte  Mengen  von  allerlei  Gliederfüßlern  fest- 
stellen können  (Flohkrebse,  Wasserasseln,  Libellen- 
larven, Wasserkäfer  und  ihre  Larven  u.  v.  a.).  Im 
Schilfwald  dagegen  war  die  Fauna  nach  Zahl  und 
Art  eine  sehr  geringe. 

Ein  2.  Übelstand  der  Verschilfung  für  den 
Fischzüchter  ist  die  Möglichkeit,  welche  die  Schilf- 
dickungen für  die  verschiedenen  Fischräuber  bieten, 
sich  zu  verbergen.  Wasserratten,  Spitzmäuse, 
Wildenten  und  Wasserhühner,  große  Hechte  und 
Barsche,  in  manchen  Gegenden,  wie  in  den  böh- 
misch-sächsisch-bayrischen Grenzgebieten  auch 
noch  der  geiahrlichste  Fischräuber,  die  aus  Amerika 
eingeschleppte  Bisamratte,  sie  alle  finden  im 
Schilfwalde  die  besten  Schlupfwinkel  und  der 
Schaden,  den  sie  durch  diese  Begünstigung  ihrer 
Lebensbedingungen,  unter  dem  Fischbestande  zu 
stiften  vermögen,  ist  durchaus  nicht  unbeträchtlich. 
Die  Verschilfung  wirkt  also  stark  auf  die  Ertrags- 
fähigkeit der  Gewässer  ein,  sie  beschränkt  auch 
die  Fischmengen,  welche  daraus  als  Nahrung  für 
den  Menschen  bezogen  werden  können  und  es 
wird  sich  deshalb  wohl  lohnen,  sich  der  Arbeit 
zu  unterziehen,  die  Schlesinger  zur  Ent- 
schilfung  der  Fischgewässer  vorschlägt. 
„Es  muß  alljährlich  2  mal,  sagt  der  Verfasser,  im 
Frühjahr,  wenn  der  Schilf  stark  in  der  Entwicklung 
ist  und  im  Herbst,  kurz  vor  dem  Absterben,  der 
ganze  Schilfwald  direkt  über  dem  Boden,  also  am 
Wurzelhals,  mit  der  Sense  oder  einer  Schilfmäh- 
maschine abgemäht  werden."  Ich  habe  an  kleineren, 
ruhigfließenden  Flüssen,  wie  an  der  Wörnitz,  einem 
Nebenfluß  der  Donau  in  Bayrisch-Schwaben,  öfters 
ein  derartiges  Abmähen  der  Schilfbestände  vom 
Kahn  aus  mit  der  Sense  beobachtet.  Es  ist  natürlich 
ein  sehr  mühseliges  Verfahren,  das  durch  Benützung 
einer  Schilfmähmaschine  bedeutend  erleichtert 
werden  könnte.  Derartige  Schilfmähmaschinen, 
die  entweder  von  2  Kähnen  aus  oder  bei  günstigen 
Verhältnissen  auch  von  einem  Kahn  und  vom  Ufer 
aus  betrieben  werden  können,  wären  am  besten 
nach  dem  Rat  des  Verfassers  von  Staats  wegen 
anzuschaffen  und  den  einzelnen  Fisch  wasserbesitzern 
gegen  eine  entsprechende  Miete  zu  überlassen.  Die 
Entschilfung  der  Fischgewässer  ist  jedenfalls  eine 
dringliche  Frage,  die  bald  in  Angriff  genommen 
werden  muß,  um  so  mehr  als  in  der  jetzigen  Zeit 
kein  Mittel  unversucht  bleiben  darf,  durch  das  es 
möglich  ist,  unsere  gesamten  heimischen  Wirt- 
schaftsquellen voll  in  den  Dienst  des  Vaterlandes 
zu  stellen.  H.  W.  Frickhinger. 

Forstwirtschaft.  Zum  Vorkommen  der  Wachtel. 
Während  die  Mehrzahl  unserer  einheimischen 
Vögel  Jahr  für  Jahr  an  Zahl  abnehmen,  ist  er- 
freulicherweise bei  der  Wachtel  [Cofiirnix 
coiiniinnis  Bonn)  in  den  letzten  Jahren  allmäh- 
lich eine  Zunahme  zu  konstatieren  gewesen 
und  gerade  heuer    erscheint   die  Wachtel   wieder 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


647 


häufiger  denn  je  auf  unseren  Fluren.  Wie 
Rektor  Benecke  (Bad  Schmiedeberg)  in  der 
OrnithologischenMonatsschrifi  (42.  Jahrg. 
191 7  Nr.  5)  mitteilt,  traf  er  die  Wachtel  in  diesem 
Jahre  nicht  nur  auf  Wiesen  und  in  Kornfeldern, 
sondern  auch  öfters  in  Kiefernschonungen.  Auch 
in  Süddeutschland  ist  die  Zunahme  der  Wachtel 
in  diesem  Jahre  unverkennbar.  Während  ich  lange 
Jahre  nur  mehr  äußerst  selten  den  Wachtelruf 
vernahm,  tönte  er  mir  heuer  auf  meinen  zahlreichen 
Wanderungen  auf  der  oberbayerischen  Hochebene 
und  im  Ries  (Bayrisch-Schwaben)  überall  auf 
Wiesen  und  Feldern,  jedoch  nie  im  Walde  oder  auch 
nur  am  Waldrande,  entgegen.  Womit  ist  nun 
diese  plötzliche  starke  Zunahme  der  Wachtel  zu 
erklären?  Sowohl  Rektor  Benecke  wie  Freiherr 
von  Besserer  (Deutscher  Jäger  39.  Jahrg. 
1917  Nr.  28)  machen  dafür  vor  allem  die  Tatsache 
verantwortlich,  daß  während  der  jetzigen  Kriegs- 
zeit die  Verfolgungen  der  Wachtel  in  den  süd- 
lichen Ländern,  vornehmlich  in  Italien  und 
Griechenland,  schon  deshalb  nicht  so  vernichtend 
ausgeübt  werden  können,  weil  einmal  die  Zahl 
der  Fallensteller  sich  gegen  die  Friedensjahre  stark 
verringert  hat  und  dann  die  füher  in  so  hohem 
IVIaße  geübte  Ausfuhr  erbeuteter  lebender  Vögel  nach 
Frankreich  und  England  kaum  mehr  betätigt  werden 
kann  (allein  von  Ägypten  aus  wurden  früher  alljähr- 
lich zumindest  I  Million  Wachteln  allein  nach  London 
ausgeführt).  Deshalb  war  die  IVIöglichkeit  gegeben, 
daß  in  den  letzten  3  Jahren  immer  mehr  Vögel 
zu  ihren  nordischen  Nistplätzen  zurückgelangen 
konnten.  Und  gerade  heuer  vermehrte  sich  die 
Zahl  der  Wachteln  in  den  deutschen  Gauen  wohl 
aus  dem  Grunde  so  stark,  weil  viele  Vögel,  durch 
den  strengen  Winter  in  der  Rückwanderung  auf- 
gehalten, sich  auf  ihrem  Rückzuge  nach  ihren 
nordischen  Quartieren  verspäteten  und  dann  im 
IVIai  in  Deutschland  ihren  Zug  unterbrachen,  weil 
der  Bruttrieb  erwachte  oder  Legenot  sich  bei 
ihnen  plötzlich  einstellte.  Sei  dem  aber,  wie  ihm 
wolle,  jedenfalls  ist  es  eine  hocherfreulirhe  Tat- 
sache, daß  wir  wieder  einmal  von  einem  Vertreter 
der  deutschen  Vogelwelt  eine  Zunahme  seines 
Vorkommens  festzustellen  vermögen. 

H.  W.  Frickhinger. 

Nützlichkeit  und  Schädlichkeit  der  Spechte. 
Die  Echten  Spechte  oder  Siemmschwanz- 
spechte  {Picinae)  sind  im  deutschen  Forst  durch 
mehrere  Gattungen  und  Arten  vertreten :  der  ge- 
wöhnliche Schwarzspecht  {Picus  martiiis  L.) 
kommt  vornehmlich  in  den  Alpen  und  den  IVIittel- 
gebirgsländern  vor,  während  die  3  Repräsentanten 
der  Buntspechte,  der  große,  mittlere  und 
kleine  Buntspecht  (Deiidrocopus  major  L. ; 
D.  nicdius  Koch  und  D.  minor  Koch)  die 
Wälder  des  Flachlands  bevorzugen;  und  zwar  trifft. 
man  hier  den  großen  Buntspecht  vornehmlich  in 
Nadelwäldern,  den  kleinen  Buntspecht  mehr  in 
Laub-  und  den  mittleren  Buntspecht  fast  aus- 
schließlich in  Eichenwäldern.    Im  allgemeinen  läßt 


sich  aber  wohl  sagen,  daß  die  Grenzen  der  ein- 
zelnen Verbreitungsgebiete  der  3  Spechte  nicht 
scharf  getrennt  sind,  sondern  mehr  oder  weniger 
ineinander  übergehen.  Weiterhin  kommen  in 
deutschen  Wäldern  noch  der  Grauspecht  (Gc- 
cinus  canus  Gmel)  und  der  Grünspecht  {Ge- 
cimis  viridis  L.)  vor,  deren  Bedeutung  aber  im 
Vergleich  zu  den  4  erstgenannten  Arten  gering 
ist.  Der  weißrückige  Specht  (Dendrocopjis 
leuconofus  Bechst.)  und  der  dreizeh  ige  Specht 
{Picoidcs  tridactylus  L.)  sind  seltene  Arten,  die 
für  die  Praxis  kaum  jemals  in  Betracht  kommen. 
Die  Stellung  der  Spechte  im  Haushalt 
der  Natur  ist  viel  umstritten  worden.  Während 
man  früher  die  Vögel  der  Beschädigungen  wegen, 
die  sie  an  den  Bäumen  des  Waldes  vollführen, 
geradezu  als  Schädlinge  bezeichnete  und  Prämien 
für  ihren  Abschuß  aussetzte,  hat  sich  heute  die 
Auffassung  der  Forstzoologen  allmählich  gewandelt: 
die  neueren  Erfahrungen  haben  gelehrt,  daß  die 
Spechte  zwar  nicht  unerheblichen  Waldschaden 
verursachen  können,  daß  aber  der  Schaden,  den 
sie  zugestandenermaßen  anrichten,  bei  weitem 
übertroffen  wird  von  dem  Nutzen,  den  sie  als 
Vertilger  von  allerhand  Sch^dmsekten  stiften.  Die 
Spechte  stellen  vor  allem  zahlreichen  frei  im  Holze 
lebenden  Insekten  und  deren  Larven  nach.  Der 
bekannte  F'orstzoologe  Prof.  Alt  um  hat  allerdings 
behauptet,  die  Spechte  verzehrten  lediglich  forst- 
lich indifferente  Rinden-  und  Holzinsekten,  ließen 
dagegen  die  hauptsächlichsten  Forstschädlinge 
(Rüssel-  und  Bockkäferlarven)  unbehelligt.  Dem 
ist  aber  nicht  so:  gerade  die  forstlich  so  schäd- 
lichen Larven  der  Bockkäfer,  Rüsselkäfer  und 
Borkenkäfer,  daneben  natürlich  auch  die  feisten 
Raupen  des  Cossks  Schwärmers  oder  die  Larven 
der  Holzwespen  (ÄmrArten)  (letzteres  beides 
forstlich  minder  wichtige,  aber  immerhin  beach- 
tenswerte Schädlinge)  werden  von  den  Spechten 
mit  Vorlit-be  aufgesucht  und  vertilgt.  Natürlich 
kann  diese  Nihrungssuche  der  Spechte,  die  sich 
immer  auf  Tiere  erstreckt,  die  zumindest  unter 
der  Rinde,  aber  auch  recht  häufig  tief  im  Holze 
leben,  nicht  ohne  erkennbare  Beschädigungen  der 
Waldbäume  abgehen.  Dabei  ist  aber  zu  bedenken, 
daß  es  ja  immer  nur  kranke  Bäume  sind,  welche 
die  Spechte  angehen;  denn  die  Vögel  erkennen 
das  Vorhandensein  ihrer  Nahrungstiere  ja  geradezu 
am  Gesundheitszustand  der  Bäume.  Die  durch 
die  Spechte  bei  der  Untersuchung  der  Stämme 
auf  Insektennahrung  verursachten  Baumbeschädi- 
gungen sind  verschiedener  Art.  Am  charakteri- 
stischsten erscheinen  die  rechteckigen  Schälstellen, 
wie  sie  Dr.  S t r ö s e  in  der  „Deutschen  Forst- 
zeitung" (Bd.  32  1917  Nr.  25)  von  Stücken  aus 
dem  Jagdmuseum  der  „Deutschen  Jägerzeitung" 
in  Berlin-Zehlendorf  beschreibt.  Auf  den  ersten 
Blick  hat  man  den  Eindruck,  als  seien  die  Wund- 
stellen von  menschlicher  Hand  mit  einem  Meißel 
künstlich  angebracht  worden.  Der  Schnabel  des 
Spechtes  ist  eben  ein  ideales  Werkzeug  für  seine 
Zimmermannstätigkeit.    „Ober-  und  Unterschnabel 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


bilden,  namentlich  bei  den  größeren  Arten,  sagt 
Ströse,  eine  sich  nach  der  Spitze  zu  allmählich 
verjüngende  Pyramide,  der  Schnabel  ist  außer- 
ordentlich hart  und  am  Ende  senkrecht  wie  ein 
Meißel  abgestutzt."  In  entsprechender  Weise  sind 
auch  die  Kopfknochen  organisiert,  sie  sind  von 
beträchtlicher  Stärke  und  fest  miteinander  ver- 
bunden. Die  Höhlungen,  welche  die  Spechte  in 
die  Bäume  meißeln,  haben  aber  außer  ihrer  eigent- 
lichen Bestimmung,  daß  sie  den  Vögeln  zu  ihrer 
Beute  verhelfen  und  so  den  Wald  von  zahlreichen 
Schadinsekten  befreien,  auch  noch  eine  weitere 
begrüßenswerte  Nebenwirkung;  sie  dienen  zahl- 
reichen kleineren  Höhlenbrütern  aus  der  Vogel- 
welt, deren  Nützlichkeit  außer  Frage  steht,  als 
Wohnung.  Der  Schaden,  den  die  Spechte  verur- 
sachen, ist  deshalb  weit  geringer  als  der  Nutzen, 
den  der  Forstmann  aus  ihrer  Tätigkeit  zieht,  und 
die  Bestrebungen,  diese  interessanten  Vögel  vor 
unnützen  Verfolgungen  zu  schützen,  verdienen  die 
Unterstützung  aller  beteiligten  Kreise. 

H.  W.  Frickhinger. 

Paläontologie.  Zur  stratigraphischen  Beurtei- 
lung von  Calceola  (Calceola  sandalina  Lam.  n. 
mut.  lata  und  aha),  mit  2  Figuren  im  Text,  gibt 
R.  Richter  im  Neuen  Jahrbuch  für  Minera- 
logie, Geologie  und  Paläontologie  1916  II.  Bd. 
I.Heft  interessante  Mitteilungen.  Die  Lebens- 
zeit der  Pantoffelkoralle  Calceola  san- 
dalina fällt  in  der  Eifel  nicht  mit  der 
Calceolastufe  des  unteren  Mitteldevons 
zusammen,  wie  manche  Lehrbücher  noch  den 
Eindruck  erwecken,  sondern  sie  reicht  hoch  in 
die  Stringocephalenstufe  hinauf  Damit 
hat  auch  Calceola  sandalina,  ursprünglich  das 
Muster  eines  Leitfossils,  ihren  stratigraphischen 
Wert  verloren.  Indessen  wird  durch  ihr  Aus- 
sterben in  der  Stringocephalenstufe  diese  Stufe  in 
2  Unterstufen  getrennt.  Sehr  verbreitet  ist  die 
Pantoffelkoralle  in  der  Brachiopodenfacies  der 
unteren  Stufe  des  Mitteldevons.  In  der  Eifel  (Hilles- 
heimer  Eifelkalkmulde)  fällt  ihre  Blütezeit  erst  in 
das  Hangende  der  Calceolastufe.  Hier  zeigt  sich 
eine  auffallende  und  beständige  Verschiedenheit 
zwischen  den  Formen  der  unteren  und  denen  der 
oberen  Abteilung  des  Mitteldevons. 

In  der  Stringocephalenstufe  kommt  in  Beglei- 
tung von  Stringocephalus  Burtini,  Spirifer  gerol- 
steiniensis,  Turbo  armatus  und  Dechenella  Ver- 
neuili  stets  eine  Calceola  von  eigenartig  schmalem 
Bau  vor,  die  sich  von  der  älteren  Form  der  Cal- 
ceolastufe gut  auseinanderhalten  läßt.  Das  Vor- 
handensein dieser  verschiedenartigen,  stratigraphisch 
selbständigen  Calceolaformen  stützt  sich  auf  zahl- 
reiche Fundpunkte  der  Eifel.  Überall  ist  eine 
breite  Form  für  die  Calceolastufe  und 
eine  schmaleFormfürdie  jüngereStrin- 
gocephalenstufe  charakteristisch. 

Bereits  Gold  fuß  war  das  Auftreten  einer 
durch  zahlreiche  Übergänge  verbundenen  „hohen" 


und  einer  „breiten"  Spielart  bekannt;  auch  F. 
Roemer  und  namentlich  Quenstedt  waren 
diese  Unterschiede  aufgefallen.  Bezeichnend  ist, 
wie  sich  Quenstedt  darüber  ausspricht:  „Aus 
den  vielen  Varietäten  des  Eifler  Kalkes  hat  man 
nur  eine  Spezies  Calceola  sandalina  zu  machen 
gewagt."  Warum  man  früher  die  zeitliche  Selb- 
ständigkeit der  beiden  Mutationen  nicht  scharf 
erkannt  hat,  liegt  an  dem  Mangel  horizontmäßigen 
Sammeins  in  der  Eifel.  Man  hat  die  Faunen  der 
verschiedenen  Mulden  und  Mitteldevonstufen  bunt 
durcheinandergewürfelt. 

Stratigraphisch  gut  gesammeltes  Material,  das 
der  vorliegenden  Untersuchung  zugrunde  lag,  be- 
findet sich  im  Senckenbergischen  Museum  zu  Frank- 
furt am  Main.  Messungen  der  Rückenfläche  des 
Kelches  an  der  Spitze  ergaben  einen  Winkel  von 
60° — 70"  ja  So"  bei  der  breiten  Form  der  Cal- 
ceolastufe und  von  40—50"  bei  der  schmalen 
Form  der  Stringocephalenstufe.  Dazwischen  lie- 
gende Werte  von  50" — 60",  namentlich  von  55" 
treten  zurück.  In  der  Calceolastufe  sinkt  der 
Winkel  selten  unter  60",  niemals  unter  50°  hinab, 
während  bei  ausgesprochenen  Stringocephalen- 
formen  der  Winkel  ganz  selten  auf  55"  ansteigt, 
dagegen  bis  2)^"  sinken  kann. 

Aus  diesem  Befund  ergeben  sich  folgende  für 
die  stratigraphische  Erkennung  der  beiden  Mittel- 
devonstufen wichtige  Anhaltspunkte: 

1.  Das  Vorwiegen  von  Calceolakelchen  mit 
einem  Winkel  von  60",  die  Abwesenheit  von 
solchen  unter  50",  ja  das  Auffinden  einzelner 
Kelche  mit  Winkeln  über  60°  beweist  das  höhere 
Alter  einer  Ablagerung  und  spricht  für  Zurechnung 
zur  Calceolastufe. 

2.  Das  Überwiegen  von  Calceolakelchen  mit 
Winkeln  von  50"  und  darunter,  die  Abwesenheit 
von  Winkeln  über  60",  ja  das  bloße  Auffinden 
einzelner  Kelche  mit  Winkeln  unter  50"  beweist 
das  jüngere  Alter  einer  Ablagerung  und  genügt 
für  Zurechnung  zur  Stringocephalenstufe. 

Beide  Formen  stehen  nach  alledem  nicht  im 
Verhältnis  von  Spielarten  zueinander,  denn  dann 
müßten  sie  gleichzeitig  miteinander  auftreten, 
sondern  es  sind  Mutationen.  Die  Schmalform  ist 
aus  der  Breitform  (Stammform)  hervorgegangen 
und  hat  deren  ausgesprochene  Merkmale  so  stark 
verdrängt,  daß  nur  unsichere  Anklänge  noch  vor- 
handen sind  oder  auf  sie  zurückschlagen. 

Obwohl  man  an  eine  artliche  Trennung  der 
beiden  Formen  denken  könnte,  unterscheidet  R. 
Richter  nur  Mutationen  im  Sinne  der  erläuterten 
Beschreibung  und  zwar  nennt  er  die  Form  i 
Calceola  sandalina  Lam.  n.  mut.  lata  Richter  und 
Form  2  Calceola  sandalina  Lam.  n.  mut.  alta 
Richter.  Damit  wären  die  selbständigen  Muta- 
tionen von  jenen  Grenzformen  eines  als  einheitlich 
und  gleichzeitig  pendelnd  gedachten  Abänderungs- 
spieles gut  unterschieden. 

Infolge  der  Gleichwertigkeit  von  Stammform 
und  Mutation  ist  es  richtig,  auch  die  Stanimform 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


649 


mit  einem  3.  Namen„typus"  zu  bezeichnen  und 
sie  einander  als  Mutationen  gleichzusetzen. 

Mit  der  älteren  Form  (mut.  lata)  erreicht  Cal- 
ceola  ihre  bedeutendste  Größe,  hinter  der  die 
jüngere  alta-Form  weit  zurückbleibt.  Dafür  aber 
erlaligt  die  jüngere  Form  den  größten  Reichtum 
an  Einzeltieren.  Mitunter  tritt  sie  dann  in  solchen 
Massen  auf,  daß  Kelch  an  Kelch  liegt  (Weinweg 
bei  Gerolstein)  und  zu  regelrechten  Calceolabänken 
werden,  in  denen  daneben  nur  noch  einige  Ko- 
rallen, Crinoiden  und  Brachiopoden  auftreten 
(Dreimühlen  bei  Ahütte).  In  diesem  Falle  bleiben 
die    einzelnen  Tiere   meist  noch  kleiner  als  sonst. 

Die  stratigraphische  Grenzlinie  der  beiden 
Mutationen  ist  noch  unbestimmt,  jedoch  dürfte 
der  Übergang  der  breiten  in  die  schmale  Form 
in  oder  über  der  Crinoidenschicht  oder  in  die 
unteren  Glieder  der  Stringocephalenstufe  fallen. 
Die  breite  Form  steigt  in  die  hängendsten  Lagen 
der  oberen  Calceolastufe  hinauf  und  erreicht  hier 
gerade  ihre  bedeutendste  Größe  und  Breite. 

Rückblickend  läßt  sich  sagen,  daß  die  beiden 
Mutationen  lata  und  alta  2  zoologisch  und  zeit- 
lich getrennte  Calceolaformen  sind,  deren  jede 
eine  der  beiden  Hauptabteilungen  des  Mitteldevons 


Fig.   I. 
Calceola  sandalina  Lam.   mut. 

lata  Richter 
Vereinfachte  Kopie  von  '1  af.  IV 

Fig-   7- 


lg.  2. 

Calceola  sandalina 

Lam.  mut.  aha 

Richter 

Vereinfachte  Kopie 

von  Taf.  IV  Fig.  13- 


bezeichnet.  Sie  lassen  sich  im  Felde  stets  ohne 
weiteres  unterscheiden,  was  von  um  so  größerem 
stratigraphischen  Werte  ist,  da  einem  Calceola 
beim  Sammeln  eher  in  die  Hände  fällt,  als  die 
angegebenen  Leitfossilien. 

Alles  Gesagte  bezieht  sich  nur  auf  die 
Eifel.  Ob  unter  der  jüngeren  Calceola  auch  in 
entfernteren  Gebieten  (z.  B.  den  Stringocephalen- 
formen  von  Haina,  in  Mähren  und  östlich  davon 
usw.)  Beziehungen  zur  Mutation  alta  auftreten, 
muß  späteren  Untersuchungen  vorbehalten  bleiben. 
In  Belgien  erscheint  Calceola  in  der  Cultrijugatus- 
stufe,  ist  ziemlich  vereinzelt  in  der  unteren  Cal- 
ceolastufe, erreicht  ihre  größte  Häufigkeit  in  der 
oberen  Calceolastufe,  ist  aber  mit  Beginn  der 
Stringocephalenstufe  (Givetien)  plötzlich  ver- 
schwunden, während  sie  gerade  in  der  benach- 
barten Eifel  ihre  größte  Häufigkeit  erlangt.  Da- 
mit ist  Calceola  in  Belgien  ein  ausschließliches 
Leitfossil  der  Calceolastufe  und  daher  die  frühere, 
jedoch  in  neueren  Eifelarbeiten  verschiedentlich 
abgelehnte  Bezeichnung  Calceolastufe  für  das  äl- 
tere Mitteldevon  gerechtfertigt.    Die  verdienstvolle 


Arbeit  von  R.  Richter  hat  ergeben,  das  auch 
den  beiden  Mutationen  lata  und  alta  von  Calce- 
ola der  Wert  eines  Leitfossils  zukommt. 

V.  Hohenstein. 

Heilkunde.     Über  die  Verbreitung  des  Krebses 
in    der   Schweiz   hat   M.   B.  JosseP)    auf  Grund 
des    Materials     des    Eidgenössischen    Statistischen 
Amtes    in  Bern    eine  Zusammenfassung    veröffent- 
licht,   die    für    das  Krebsproblem    überhaupt    von 
großem    Interesse    ist.      Die  Schweiz    ist    vor   den 
anderen  europäischen  Ländern    durch  eine  außer- 
ordentlich   große    Sterblichkeit    an    Krebs    ausge- 
zeichnet.    Im  Durchschnitt  der  Jahre   1901  — 1905 
starben    von    loooo   Lebenden    12,2  Personen    an 
ärztlich  festgestelltem  Krebs,  im  Durchschnitt  der 
Jahre    1906— 1910    —    11,9    Personen.      An    bös- 
artigen Geschwülsten  überhaupt  starben  12,9  bzw. 
12,6   Personen    auf  je    lOOOO  Lebende.     Die  ent- 
sprechenden   Zahlen    für    Deutschland,    England, 
Frankreich,    Österreich    und    Italien    sind    viel  ge- 
ringer   und    liegen    zwischen    5,5    und    10   Todes- 
fällen   an     bösartigen    Geschwülsten.       Nijr     die 
Stadtbevökerung    von   Dänemark    weist   mit    13,6 
Todesfällen    eine    größere    Sterblichkeit    an    bös- 
artigen    Geschwülsten      auf     als     die      Schweiz. 
Allerdings    darf   niemals  vergessen    werden,    daß 
die     Zahlen     für     die     Sterblichkeit     an     Krebs 
oder  bösartigen  Geschwülsten  überhaupt  sehr  da- 
von   abhängig    sind,    wie    groß    der    Anteil    der 
Todesfälle,    die    ärztlich  nicht  beglaubigt  wurden, 
an  der  Gesamtzahl  der  Todesfälle  ist.      Je  größer 
die   Zahl   der   Fälle,   bei  denen  die  Todesursache 
ärztlich  nicht  beglaubigt  wurde,  desto  größer  muß 
die   Zahl    der   „unbekannten"   Todesursachen    und 
desto  geringer  die  Zahl  der  Sterbefälle   an  Krebs 
und  anderen  Alterskrankheiten  sein.   J  o  s  s  e  1  bringt 
auch  in  dieser  Richtung  einige  überaus  wertvolle 
Zahlen.    Vergleicht  man  nämlich  die  Sterblichkeit 
an  Krebs  in  den  einzelnen  Kantonen  der  Schweiz, 
so    findet    man,    daß    in    manchen  Kantonen    die 
Krebssterblichkeit  ganz  außerordentlich  gering  ist: 
sie  beträgt    z.  B.  im  Kanton  Wallis   bloß  4,6  auf 
lOOOO    Lebende,    im    Kanton    Uri    —    ii,7    (d'e 
letztere    Zahl    ist    auffallend    klein    im    Vergleich 
zu   den    anderen  benachbarten  Kantonen  der   Ur- 
schweiz  —  Schwyz,  Unterwaiden,  auch  Luzern  —  , 
die     eine    Krebssterblichkeit    von     15,4    bis    17,8 
haben).    Berücksichtigt  man  nun  die  Zahlen  für  den 
prozeniischen    Anteil    der   ärztlich   nicht  oder  nur 
ungenügend    bescheinigten    Todesfälle,    so    findet 
man,    daß   in    diesen    Kantonen    dieser  Anteil   am 
größten  ist:  im  Wallis  gab  es  in  den  Jahren   1901 
bis  1910  —  43,1  "/o  ärztlich  nicht  oder  ungenügend 
bescheinigter  Todesfälle,  in  Uri  -   19,7  7o-      Ab- 
solut sicher  ist  jedoch  dieser  Zusammenhang  noch 
nicht    festgestellt.      Denn    in    manchen  Kantonen, 
wie  z.  B.  im  Tessin  mit  nur  8,8  oder  in  Bern  mit 

1)  M.  B.  Jossei,  Der  Krebs  in  der  Schweiz  in  den 
Jahren  1901— 1910.  (Med.  Dissertation  der  Universität  Bern.) 
Bern  1916,  Akadeniische  Buchhandlung. 


650 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


10,3  Krebsstcrbcfällcn  auf  lOOOO  Lebende,  ist  die 
Zahl  der  Todesfälle,  die  ungenügend  ärztlich  be- 
scheinigt   wurden,    sehr    gering     (bloß    2,3    bzw. 

2,4  V- 

Sicher  festgestellt  ist  die  Abnahme  der  Krebs- 
häufigkeit in  der  Schweiz,  wie  wir  oben  gesehen 
haben.  In  dieser  Beziehung  weicht  die  Schweiz 
von  den  anderen  Ländern  ab,  in  denen  ausnahms- 
los eine  Zunahme  der  Sterblichkeit  an  bösartigen 
Geschwülsten  und  speziell  an  Krebs  festgestellt 
worden  ist.  Ob  auch  hier  wieder  der  oben  er- 
wähnte statistische  Mangel  eine  Rolle  spielt,  kann 
einstweilen  nicht  gesagt  werden. 

Lipschütz,  Bern. 

Zoologie.  Die  Verbreitung  der  Coregonen,  ein 
hydrobiologisches  Problem.  Thienemann^j 
scheidet  die  Binnenseen  im  Hinblick  auf  die  Ver- 
hältnisse Deutschlands  und  der  Schweiz  in  zwei 
Gruppen:  Gruppe  I  bilden  die  Seen  mit  bis  auf 
den  Grund  reichem  Sauerstoffgehalt  und  mit  einer 
Tiefenfauna,  die  der  Tierwelt  von  klaren  Wiesen- 
gräben ähnlich  ist,  Gruppe  II  hat  infolge  Fäulnis 
am  Grunde  hochgradigen  Sauerstoffmangel,  ihre 
Tiefen  werden  daher  von  einer  Abwasserfauna 
besiedelt.  Zu  dieser  Einteilung  der  Seen  kam 
Thienemann  zuerst  bei  seinen  Untersuchungen 
an  den  Kraterseen  der  Eifel,  den  sogenannten 
Maaren.  Weiterhin  schließt  er  der  Gruppe  I  die 
Seen  am  Nordfuß  der  Alpen  an,  der  Gruppe  II 
aber  im  allgemeinen  die  Seen  der  norddeutschen 
Tiefebene. 

Diese  hydrobiologischen  und  hydrochemischen 
Feststellungen  geben  einen  Hinweis  zur  Erklärung 
der  eigenartigen  Verbreitung  der  Coregonen.  Diese 
Fische,  die  Maränen,  Renken  und  Felchen  der 
Gattung  Coregonus,  bewohnen  vornehmlich  die 
nordalpinen  Seen  in  reicher  Artentwicklung.  Viel 
spärlicher  treten  sie  in  der  norddeutschen  Tief- 
ebene auf:  hier  ist  nur  eine  Art,  die  Kleine  Maräne, 
weit  verbreitet,  und  eine  zweite,  die  Große  Maräne, 
kommt  nur  in  drei  Seen  vor:  im  Selenter  See  in 
Holstein,  im  Schalsee  in  Mecklenburg  und  im 
Madüsee  in  Pommern. 

Die  Kleine  Maräne  bleibt  vorläufig  außer  Be- 
tracht, weil  ihre  Lebensverhältnisse  noch  nicht 
völlig  geklärt  sind.  Die  Große  Maräne  ist, 
außer  zu  ihrer  Laichzeit,  ein  Tiefenfisch  und  nahe 
verwandt  mit  manchen  alpinen  Felchen.  Die  nach 
Vorstehendem  naheVermutung, fehlender  Sauerstoff- 
gehalt in  den  meisten  norddeutschen  Seen  werde 
die  Ursache  der  beschränkten  Verbreitung  dieses 
Fisches  sein,  erwies  sich  durch  die  im  Sommer  1916 
ausgeführten  Untersuchungen  als  richtig.  „Die 
drei  Heimatseen  der  Großen  Maräne  haben  ein 
sauerstoffhaltiges  Tiefenwasser,   die   übrigen   zum 


i)A.  Thienemann:  Die  wissenschaftlichen  Aufgaben 
und  die  wirtschaftliche  Bedeutung  der  Hydrobiologischen  Anstalt 
der  Kaiser-Wilhelm-GeselUchaft  zu  Plön.  in  „Der  Fischer- 
bote", herausgegeben  von  E.  Ehrenbaum  und  H.  Lubbert, 
IX.  Jahrg.,   1917,  Nr.  5/6. 


Vergleich    untersuchten    ein    sauerstofifarmes ,    ja 
teilweise  sauerstofffreies." 

Damit  ist  ein  Problem  gelöst,  über  das  man  bis- 
her zum  Schaden  wirtschaftlicher  Unternehmungen 
völhg  im  Unklaren  war:  „Man  hat,  vor  allem  in 
den  siebziger  und  achtziger  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts,  Millionen  von  Coregonenbrut  in  alle 
möglichen  Seen  eingesetzt  und  so  Tausende  und 
aber  Tausende  von  Mark  buchstäblich  ins  Wasser 
geworfen."  Man  hatte  eben  keinen  Einblick  in 
die  Aussichtslosigkeit  aller  dieser  Versuche  und  war 
auf  dem  falschen  Wege,  wenn  man  zeitweilig  an- 
nahm, die  Temperatur  der  norddeutschen  Gewässer 
sei  für  diesen  Fisch  zu  hoch.  Nicht  an  der  Tem- 
peratur, sondern  am  Sauerstofifgehalt  liegt  es,  und 
um  ihn  ungefähr  zu  beurteilen,  genügt  heute  ein 
Schleppnetzzug,  der  etwas  Tiefenfauna  heraufbringt. 

Thienemann  stellt  diese  Untersuchungen, 
die  der  reinen  Wissenschaft  angehören,  gleich- 
wohl aber  auch  für  die  angewandte  Wissen- 
schaft hohe  Bedeutung  haben,  als  ein  Beispiel  hin 
für  die  zukünftigen  Ziele  der  Hydrobiologischen 
Anstalt  in  Plön.  Bekanntlich  ist  der  Gründer  der 
Anstalt,  die  bisher  „Biologische  Station"  hieß, 
Prof  Dr.  O.  Zacharias,  am  2.  Oktober  1916, 
einen  Tag  nach  dem  25jährigen  Jubiläum  des 
Instituts,  verstorben.  Ein  Leben,  reich  an  Erfolgen 
und  Verdiensten,  liegt  hinter  dem  Manne,  der  es 
vom  Handwerksburschen  zum  Professor  gebracht 
hat.  Ihm  verdankt  die  Wissenschaft  den  Hinweis 
auf  die  Bedeutung  der  früher  ganz  vernachlässigten 
Süß  Wasserbiologie,  namentlich  der  Süßwasser- 
planktonkunde, und  den  später  so  vielfältig  zur  Aus- 
führung gekommenen  Gedanken  der  Gründung 
hydrobiologischer  Warten.  Der  angewandten 
Wissenschaft  war  Zacharias  ziemlich  abgeneigt. 
Dagegen  wirkte  er  für  den  biologischen  Unterricht 
viel.  Wofür  er  in  seinem  besten  Mannesjahren 
unermüdlich  warb,  das  ist  Wirklichkeit  geworden. 
Diese  Verdienste  bleiben  unvergessen,  gleichviel 
ob  in  späteren  Jahren  die  Persönlichkeit  Zacharias' 
stark  hinter  der  von  ihm  in  die  Wege  geleiteten 
Sache  zurücktrat,  da  er  nur  noch  wenig  der  wissen- 
schaftlichen Arbeit  lebte  und  sein  Institut,  zu  dem 
er  eigene  Mittel  hergegeben  hatte,  für  viele 
vielleicht  nicht  das  leistete,  was  man  sich  von  ihm 
versprochen.  Nun  ist  diese  Forschungsstätte  in 
den  Besitz  der  Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft  über- 
gegangen ;  zu  seinem  Leiter  ist  Professor  Thiene- 
mann berufen.  Er  stellt  als  Hauptaufgabe  hin, 
die  Wechselwirkungen  zwischen  den  Seen  und 
ihrer  Organismenwelt  zu  erkunden.  Das  ist  ein 
rein  wissenschaftliches  Problem,  vielmehr  eine 
Vielzahl  von  solchen,  doch  wird  ihre  Bearbeitung 
auch  dem  Gewerbe  und  zwar  der  Seenfischerei  zu 
gute  kommen.  Wie  es  im  Titel  des  Vortrags 
heißt:  die  Hydrobiologische  Anstalt  hat  „wissen- 
schaftliche Aufgaben"  und  „wirtschafi liehe  Bedeu- 
tung". Gewiß  kann  die  Süßwasserbiologie  auf 
diesem  Wege  neue  reiche  Erfolge  erhoffen. 

V.  Franz. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


651 


Über    auffallende     Gespinstbildungen     Hifo[ge 
Massenauftretens  einerGespinstmotJ^.  Die  Abteilung 
fiF  Pflanzenkrankheiten  des  Kaiser  Wilhelm  Instituts 
für   Landwirtschaft   in  Bromberg    erhielt,   wie  Dr. 
F.  Burkhardtin  der„Naturwissensch.Zeitschr.  f. 
Forst-  u.  Landwirtschaft"  berichtet  (i  5- Jahrg.  19 17 
Heft   4/6),    anfangs    Juli     1916    ein    Stück    eines 
„seidenpapierartigen  Gewebes",  mit  dem  nach  den 
Angaben    des    Einsenders    einzelne    Bäume    eines 
Wäldchens  bei  Gramtschen  unweit  von  Thorn  dicht 
überzogen  waren.     Das  Gespinst  war  von  „weißer, 
auffallend    zarter,    wenn    auch    ziemlich  fester  Be- 
schafifenheit".     Eine  Besichtigung  an  Ort  und  Stelle 
ergab    dann,    daß    die    befallenen    Bäume    durch- 
gängig Traubenkirschbäume    waren  {Primus  Pa- 
dus  L.)  und  es  sich  bei  den  Gespinsten    um  Ge- 
spinstbildungen   der   Raupe    einer    Gespinstmotte 
{Hypoiwmeiita  padi  Zell,  evonymelhis  L.)  handelte. 
Anfangs  Juni  waren  die  Bäume  von  den  Raupen 
vollständig   kahlgefressen    worden,    ohne    daß   die 
Bäume    aber    dadurch    sichtlich    Schaden    gelitten 
hätten:  sie  hatten  sich  nach  der  Verpuppung  der 
Larven  wieder  neu  belaubt.     Die  großen    Massen 
der  Raupen  hatten  die  Bäume  mit  ihren  Gespinsten 
bis    in    die    feinsten  Zweige  hinein  überzogen,    so 
daß    man    ohne    sonderliche  Schwierigkeiten    zu- 
sammenhängende Gespinststreifen   von   10—12  m 
Länge  ablösen  konnte.     Die  Fäden   des  Gewebes 
dieser  Flypüiiomcuta-^irt  zeichnen  sich  durch  ihre 
Feinheit  aus.     Sie  haben  einen  Durchmesser  von 
höchstens  2  [i  und,    was  besonders  auffallend  ist, 
auf  lange  Strecken  hin  eine    stets  gleichbleibende 
Stärke.     Diesen  seinen  Eigenschaften  verdankt  das 
Gespinst  von  H.  padi  den  Versuch,    es  technisch 
zu    verwerten.     Schon    im  Jahre    1836  wurden  in 
München  derartige  Versuche  unternommen:   man 
ließ    verschiedene    aus    feinem    Draht    hergestellte 
Formen  von  Hüten  oder  Bändern  mit  dem  Gewebe 
überziehen.     Einbürgern    konnten   sich  aber  diese 
Versuche    nicht,    dazu    war    das  Vorkommen  der 
Motte  nicht  häufig    genug    und    blieb    auf  Zufälle 
beschränkt.      Im    heurigen   Jahre    tritt    die    Motte 
sehr    stark    auf,    deshalb    sollen    auch    die    Ver- 
suche,   wie    ich    höre,    wieder    hier    in  München, 
erneut     aufgenommen     werden.      Die     Zahl    der 
ausschlüpfenden    Falter    war    auch    in    dem    von 
Burkhardt  beobachteten  Falle  im  Vergleich  zu 
der    enormen   Anhäufung    der  Kokons    eine    sehr 
niedrige.     Zwei  Ursachen   gibt  der  Verf.  daran  die 
Schuld:    einmal  war  der  Befall  der  Mottenkokons 
durch    Schlupfwespen    ein    sehr    hoher    und    dann 
scheinen     gerade     die     dicht    gehäuften    Kokons- 
klumpen    einen    beträchtlichen     Prozentsatz     der 
Puppen    zu    ersticken    oder    die  frischgeschlüpften 
Motten,  welche  nicht  die  Kraft  haben,  sich  durch 
den  Kokonknäuel  nach  außen  hindurchzuarbeiten, 
bald  wieder  zum  Eingehen  zu  bringen.    Wenigstens 
enthielt  ein  großer  Teil  der    inneren  Kokons  ab- 
gestorbene Puppen  und  abgestorbene  junge  Falter. 
H.  W.  Frickhinger. 


Der  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Entfaltung 
eines  erblichen' Merkmals.  (Mit  4  Abbildungen  im 
Text.)  Im  Verlaufe  von  Selektionsexperimenten, 
die  Miss  Hoge  mit  der  Tau-  oder  Fruchlfliege, 
Drosophila   ampelophila,   ausführte,    traten  in  den 


Abb.  I.  Abb.  2. 

Rechtes  erstes  Bein  eines  Linkes  erstes  Bein  eines 

Männchens.     (Nach  Hoge.)       Männchens.     (Nach  Hoge.) 

Kulturen  einige  Männchen  mit  einem  neuen  Merk- 
mal auf,  das  sich   bei  näherer  Prüfung  als  erblich 
erwies ;  ^)  es  handelt  sich  also  um  eine  Mutation. 
Das  Merkmal   besteht   in  Ver- 
doppelungen   an    den    Beinen, 
^^  die  im  einzelnen  sehr  mannig- 

JR|k  L4  faltig  sein  können.  Bald  sind 
§g^^  t^  Uli''  die  Tarsalglieder  verdoppelt 
■■HkaB  (Abb.  1),  bald  sind  nahezu  voll- 
^^H^l  ständige  überzählige  Extremi- 
■^^^V  täten  vorhanden  (Abb.  4),  an 
W^L  ^  jedem  Glied  des  Beines  können 
Jf  J»  überzählige    Teile     abzweigen. 

fJ^  Im  allgemeinen  ist  die  Verzwei- 

§/    l  gung  dichotom,    doch  kommt 

i       ^  gelegentlich    auch    eine    Drei- 

teilung vor  (Abb.  2).  In  der 
Regel  entwickeln  sich  an  den 
überzähligen  Ästen  alle  distal 
von  der  Abzweigungsstelle  lie- 
genden Glieder.     So  sind  bei 


Abb.  3. 

Rechtes  erstes  Beii 

eines  Männchens. 

(Nach  Hoge.) 


Abb.  4. 
Linkes  drittes  Bein  eines  Weibchens.     (Nach  Hoge.) 

»)  Hoge,  Mild  red  A.,  The  influence  of  temperature 
on  the  development  of  a  Mendelian  character.  Journ.  of 
exper.  Zoöl.,  Vol.   18,   1915- 


652 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


der  in  Abb.  4  wiedergegebenen  Extremität  auf 
den  beiden  einheitlichen  ersten  Gliedern,  Hüftglied 
und  Schenkelring,  zwei  Schenkel,  zwei  Schien- 
beine und  zwei  Reihen  Fußglieder  entstanden.  An 
einer  Extremität  kann  auch  wiederholt  eine  Gabe- 
lung erfolgen.  In  Abb.  3  z.  B.  sitzen  auf  dem 
einheitlichen  Schenkel  zwei  Schienbeine  und  zwei 
Reihen  F'ußglieder,  von  denen  sich  aber  der 
innere  Ast  beim  zweiten  Tarsalglied  wiederum 
gabelt,  so  daß  die  letzten  vier  Tarsalglieder  und 
die  Klauen  dreifach  vorhanden  sind.  An  einer 
Extremität  konnten  bis  zu  vier  Gabelungen  fest- 
gestellt werden.  Bei  einfacher  Gabelung  sind  die 
beiden  Äste  spiegelbildlich  gleich,  d.  h.  sie  ent- 
sprechen einer  rechten  und  einer  linken  Extremität. 
Gabelt  sich  der  eine  Ast  nochmals,  so  steht  die 
Symmetrie  der  tertiären  Teile  in  bestimmter  Be- 
ziehung zu  dem  ungeteilten  sekundären  Ast,  indem 
zwei  Äste  mit  der  gleichen  Symmetrie  einander 
niemals  benachbart  sind.  Der  ungeteilte  sekun- 
däre Ast  weist  immer  die  normale  Symmetrie  des 
Beines  auf.  Extremitäten,  die  sich  gegabelt  haben, 
können  im  Laufe  der  Entwicklung  wieder  mehr 
oder  weniger  verschmelzen,  so  daß  ihre  Doppel- 
natur häufig  nur  an  der  Zahl  der  Klauen  oder 
beim  Männchen  an  der  Zahl  der  „Geschlechts- 
kämme" auf  dem  ersten  Tarsalglied  des  ersten 
Extremitätenpaares  erkannt  werden  kann  (Abb.  i). 
Auch  Verwachsungen  der  Extremitäten  der  rechten 
und  der  linken  Seite  kommen  bei  der  Mutation 
vor,  so  daß  bisweilen  sehr  bizarre,  kaum  funktions- 
fähige Formen   entstehen. 

Von  den  zuerst  aufgetretenen  Männchen  aus 
suchte  Miss  Hoge  eine  reine  Rasse  von  der 
Mutation  zu  züchten.  Dieses  Bestreben  war  in- 
dessen lange  Zeit  erfolglos.  Obwohl  in  jeder 
Generation  die  Mutanten  ausgesondert  und  immer 
wieder  nur  diese  zur  Fortpflanzung  gebracht  wurden, 
variierte  der  Prozentsatz  der  anormalen  Individuen 
von  Generation  zu  Generation  in  hohem  Maße, 
näherte  sich  aber  niemals  loo"/,,.  Das  neue 
Merkmal  verhielt  sich  dem  normalen  Zustande 
gegenüber  offenbar  bald  dominant,  bald  rezessiv, 
und  selbst  Fliegen,  die  den  Verdoppelungsfaktor 
—  wie  wir  den  Erbfaktor,  der  das  neue  Merkmal 
hervorruft,  nennen  wollen  —  in  homozygotem 
Zustande  enthalten  mußten,  waren  oft  vollständig 
normal.  Zweimal  verschwanden  die  Mutanten  in 
den  ,, Reinkulturen"  fast  vollständig.  Im  Sommer 
1912,  kurz  nach  dem  Auftreten  der  Mutation,  fand 
ein  „Rückschlag"  zur  normalen  Form  statt,  nur 
wenige  Mutanten,  überdies  nur  schwach  anormale 
Individuen,  entstanden.  Erst  nach  sorgfältiger 
Selektion  und  längerer  Inzucht  erschienen  die 
Mutanten  in  größerer  Zahl.  Ein  ähnlicher  „Rück- 
schlag" wurde  zu  Beginn  des  Sommers  191 3  be- 
obachtet. In  beiden  P'ällen  erfolgte  der  „Rück- 
schlag" mit  dem  Eintreten  wärmeren  Wetters. 
Das  veranlaßte  Miss  Hoge,  den  Einfluß  der 
Temperatur  auf  die  Produktion  der  abnormen 
Fliegen  experimentell  zu  prüfen,  und  dabei  stellte 
sich  heraus,  daß  die  Entfaltung  des  die  Mutation 


charakterisierenden  Merkmales  in  der  Tat  weit- 
gehend von  der  Temperatur  abhängig  ist.  Brachte 
Miss  Hoge  die  Kulturen  in  einen  Eisschrank  von  un- 
gefähr 10"  C,  so  entstanden  3 — 6  mal  so  viele 
anormale  Fliegen  wie  in  den  Kontrollkulturen,  die 
bei  Zimmertemperatur  gehalten  wurden.  Wurden 
die  Flaschen  mit  den  Fliegen  gleich  nach  der 
Kopulation  derselben  in  den  Eisschrank  gebracht,  so 
blieben  viele  Fliegen  unfruchtbar,  aber  die  ge- 
samte Nachkommenschaft  war  anormal,  und  zwar 
erreichten  viele  Fliegen  einen  weit  höheren  Grad 
von  Anormalität  als  irgendeines  der  bei  Zimmer- 
temperatur gezüchteten  Individuen.  Je  später  die 
niedere  Temperatur  auf  die  sich  entwickelnden 
Fliegen  einwirkte,  desto  geringer  war  die  Zahl 
der  anormalen  Individuen,  desto  geringer  zu- 
gleich auch  der  Grad  der  Anormalität.  Blieben 
die  Fliegen  die  ersten  sechs  Tage  ihrer  Entwick- 
lung in  Zimmertemperatur  und  kamen  dann  in 
die  Kälte,  so  schlüpften  nicht  mehr  anormale 
Individuen  aus  als  in  Kulturen,  die  dauernd  in 
Zimmertemperatur  gehalten  wurden.  Die  niedrige 
Temperatur  ist  also  nur  von  Einfluß,  wenn  sie  auf 
frühen  Entwicklungsstadien  angewandt  wird.  Der 
Prozentsatz  der  anormalen  Individuen  steht  in  be- 
stimmtem Verhältnis  zur  Dauer  der  Kälte- 
exposition. Daß  nicht  etwa  die  Kälte  über- 
haupt das  für  die  Mutation  charakteristische  Merk- 
mal, die  Verdoppelungen  an  den  Extremitäten, 
hervorbringt,  ergab  sich,  wenn  normale  wilde 
Fliegen  in  niederer  Temperatur  zur  Entwicklung 
gebracht  wurden:  auf  diese  blieb  die  Kälte  ohne 
Einfluß.  Nur  Fliegen,  die  den  Verdoppelungs- 
faktor besitzen  —  sei  es  in  homozygotem  oder 
heterozygotem  Zustande  — ,  erzeugen  in  der  Kälte 
Nachkommen  mit  den  beschriebenen  Verdoppe- 
lungen an  den  Beinen.  In  hoher  Temperatur 
andererseits  sieht  die  Nachkommenschaft  solcher 
Fliegen,  selbst  wenn  sie  den  Verdoppelungsfaktor 
in  homozygotem  Zustande  enthält,  vollkommen 
normal  aus,  d.  h.  das  für  die  Mutation  charakteri- 
stische Merkmal  kommt  überhaupt  nicht  zur  Ent- 
faltung. 

Eine  andere  Mutation  von  Drosophila  ampe- 
lophila,  die  Morgan  1910  in  seinen  Zuchten 
entdeckte  und  kürzlich  beschrieben  hat '),  ist  eben- 
falls durch  ein  Merkmal  gekennzeichnet,  das  nur 
unter  bestimmten  äußeren  Bedingungen  in  Er- 
scheinung tritt.  Bei  der  Mutation  fehlen  die 
schwarzen  Pigmentbänder  am  Hinterleib,  die 
Metameren  sind  teilweise  nicht  voneinander  ge- 
trennt, die  äußeren  Genitalien  sind  verlagert. 
Diese  besonderen  Merkmale  des  Mutanten  entfalten 
sich  jedoch  nur,  wenn  die  Nahrung  (Bananen), 
vermittels  der  die  Fliegen  aufgezogen  werden,  eine 
gewisse  Feuchtigkeit  besitzt.  Werden  die  Fhegen 
von  Anfang  an  in  möglichst  trockenen  Flaschen 
gezüchtet,  so  unterscheiden  sich  die  jungen  Indi- 


')  Morgan,  T.  H.,  The  röle  of  the  environment  in  the 
rcalization  of  a  sex-linked  Mendelian  character  in  Drosophila. 
Amer.  Natur.,  Vol.  49,   1915. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


653 


viduen  in  ihrem  Aussehen  nicht  von  normalen 
wilden  Fliegen,  in  dauernd  möglichst  feuchtem 
Medium  hingegen  sind  alle  äußerst  anormal.  So 
läßt  sich  auch  hier  ein  erbliches  Merkmal,  obwohl 
der  es  bedingende  Erbfaktor  in    reinem  Zustande 


vorhanden  ist,  Generationen  hindurch  latent  er- 
halten, kommt  aber  sofort  zum  Vorschein,  wenn 
die  erforderlichen  äußeren  Bedingungen  geschaffen 
werden.  Nachtsheim. 


Bücherbesprechimgen. 


Tobler,  Prof  Dr.  Fr.,  Textilersatzstoffe. 
Dresden  und  Leipzig  1917.  „Globus"  Wissen- 
schaftliche Verlagsanstalt.  1,50  M. 
Die  kleine  Schrift,  die  als  38.  Heft  in  der  von 
Fr.  V.  Mammen  herausgegebenen  „Bibliothek  für 
Volks-  und  Weltwirtschaft"  erscheint,  unterrichtet 
in  knapper  Form  über  einen  der  wichtigsten 
Zweige  der  Kriegswirtschaft,  nämlich  den  Ersatz 
für  die  durch  den  Krieg  ganz  besonders  empfind- 
lich beschränkten  Textilrohstoffe.  Der  Verfasser 
geht  nach  einer  kurzen  Schilderung  der  Gestalt 
der  Fasern,  ihrer  technischen  Eigenschaften,  sowie 
der  Rohstoffverhältnisse  vor  dem  Kriege  dazu 
über,  die  Lage  der  Textilindustrie  im  Kriege  zu 
beleuchten.  Er  geht  die  einzelnen  neu  herange- 
zogenen bzw.  wiederaufgegriffenen  tirsatzfaserstoffe 
durch,  erörtert  ihre  Behandlung,  präzisiert  den 
gegenwärtigen  Stand  dieser  Ersaizindustrie,  sowie 
ihrer  Aussichten  auf  Grund  technischer  und  wirt- 
schaftlicher Überlegungen.  Mitgeteilt  sei  hier  die 
am  Schlüsse  angeführte  Zusammenstellung  der 
Stoffe,  die  teils  sicher  teils  wahrscheinlich  als 
Textilersatz  von  Bedeutung  sind;  es  sind  dies 
erstens  solche,  die  nur  zur  Verspinnung  mit  anderen 
Fasern  geeignet  sind:  Weidenröschen,  Ginster, 
Hopfen,  Schilf,  Strohfaser,  und  zweitens  solche, 
bei  denen  die  Möglichkeit  besteht,  sie  rein  zu  ver- 
spinnen :  Brennessel,  Torffaser,  Papier  und  Stroh. 
Das  Heftchen  wird  für  den,  der  rasch  den  allge- 
meinen Stand  dieser  wichtigen  Dinge  überblicken 
möchte,  von  Nutzen  sein.     (GTc)  Miehe. 

Schenk,  Prof.  Dr.  Adolf,  Die  Kornkammern 
der  Erde.  Halle  a.  d.  S.  116.  W.  Knapp. 
60  Pf 
DerVerf  dieser  kleinen  instruktiven  Zusammen- 
stellung, die  als  Heft  10  der  von  Abderhalden 
herausgegebenen  „Flugschriften  des  Bundes  zur 
Erhaltung  und  Mehrung  der  deutschen  Volkskraft" 
erscheint,  erörtert  die  Rolle,  die  das  Getreide  im 
Welthandel  spielt,  indem  er  die  einzelnen  Länder 
in  bezug  auf  Getreideeinfuhr  und  -ausfuhr  durch- 
geht und,  die  geographischen  und  klimatischen 
Bedingungen  für  die  einzelnen  Getreidearten  be- 
leuchtet. Unterstützt  wird  diese  Übersicht  durch 
einige  Tabellen,  die  die  Ernteerträge  der  einzelnen 
Länder  vor  dem  Kriege,  die  Ausfuhr-  und  Einfuhr- 
mengen und  die  Beziehungen  zwischen  beiden 
veranschaulichen,  sowie  durch  zwei  lehrreiche 
Karten,  auf  denen  die  Getreidezonen  und  der 
Getreidehandel  der  Erde  dargestellt  sind. 

Miehe. 


Roth,  Prof  Dr.  W.,  Bodenschätze  als  bio- 
logische und  politische  Faktoren. 
Berlin  19 17.  J.  Springer.  I  M. 
Der  munter  und  anregend  geschriebene  Auf- 
satz, der  aus  einem  Vortrage  hervorgegangen  ist, 
sucht  dem  größeren  Publikum  die  Augen  darüber 
zu  öffnen,  welche  Bedeutung  die  heimischen 
Bodenschätze  einmal  für  unsere  eigene  Existenz 
und  für  die  unserer  Feinde  haben.  Als  Ausgangspunkt 
wählt  er  die  auf  der  Pflanzenphysiologie  aufgebaute 
Pflanzenproduktionslehre,  erörtert  Bedeutung  und 
Herkunft  von  Kali,  Phosphor,  Stickstoft"  und  zieht 
schließlich  seine  Kreise  noch  weiter,  indem  er  auch 
auf  Kohle  und  Eisen  zu  sprechen  kommt.  Überall 
werden,  oft  in  höchst  amüsanter  F"orm,  die  politi- 
schen Folgerungen  gezogen.  Nebenbei  möchte  ich 
bemerken,  daß  die  Behauptung,  manche  Bakterien 
siedeln  sich  „kolonienweise  als  Knöllchen  auf  den 
Wurzeln  gewisser  Schmetterlingsblütler"  an,  nicht 
ganz  stimmt.      (gTc)  Miehe. 

F.  Kohlrausch    und    L.   Holborn,    Das   Leit- 
vermögen   der    Elektrolyte   insbeson- 
dere   der    wässrigen    Lösungen.     Zweite 
vermehrte  Auflage.     237  Seiten  mit  68  in  den 
Text     gedruckten    Figuren     und     einer    Tafel. 
Leipzig    und    Berlin    1916,    B.  G.    Teubner.    — 
Preis  geh.  7,50  M. 
Die  erstmalig  im  Jahre   1898    erschienene  und 
für    den    seitherigen    Fortschritt    auf    dem    Gebiet 
bedeutungsvolle     umfassende    Monographie     über 
das  Leitvermögen  der  Elektrolyte  wird  durch  die 
vorliegende  Neuauflage  dem  gegenwärtigen  Stand 
unserer  Kenntnis  entsprechend  ergänzt.    Während 
die  Verfahren  und  Mittel  für  die  Bestimmung  des 
Leitvermögens    von  Lösungen  gegen  früher  keine 
wesentlichen  Änderungen  erlitten  haben,  erfuhren 
namentlich    die  Ergebnisse   der  Beobachtung  eine 
erhebliche  Erweiterung.     Sie  findet  in  den  neuen 
Tabellen  des  Buches,  die  den  Grundstock  unseres 
gegenwärtigen    Wissens    über   das   Verhalten    der 
Elektrolyte  bilden,    ausgedehnte  Berücksichtigung. 
Dem    selbständig   arbeitenden   werden  diese  kriti- 
schen   tabellarischen  Zusammenstellungen    zusam- 
men mit  den  bis  ins  Jahr  191  5  reichenden  Literatur- 
nachweisen   von  hohem  Werte   sein.     Im  übrigen 
ist  das  Buch  für  jeden,  der  sich  mit  dem  elektro- 
lytischen Leitvermögen  beschäftigt,  in  theoretischer 
wie    praktischer  Hinsicht    ein   kaum  entbehrlicher, 
zuverlässiger  Führer.  A.  Becker. 


6s4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Leo  Graetz,  Prof.  Dr.,  Die  Physik.  Mit  385 
Textabbildungen  und  15  Tafeln.  Leipzig  1917. 
Verlag  Naturwissenschaften.  —  16  M. 
Mit  dem  vorliegenden  stattlichen  Bande  wird 
vonC.  Thesing  ein  weitausgreifendes  literarisches 
Uniernehmen  eröffnet,  daß  es  sich  zum  Ziel  setzt, 
das  Gesamtgebiet  der  Naturwissenschaften  und 
ihrer  praktischen  Anwendungen  dem  gebildeten 
Laienpublikum  nahezubringen.  Um  es  gleich  vor- 
weg zu  sagen:  das  große  Sammelwerk  wird  durch 
diesen  Physikband  auf  das  vorteilhafteste  eingeführt. 
Der  Verfasser  verfügt  über  die  seltene  Gabe,  an- 
schaulich zu  schreiben.  Indem  er  überall  von 
einfachen  Erfahrungen  oder  leicht  zu  verstehenden 
Erscheinungen  ausgeht  und  an  klar  beschriebene 
und  oft  elegante  Versuche  anknüpft,  gelingt  es 
ihm,  dem  Leser  auch  die  abstrakten  physikalischen 
Gesetze  klar  zu  machen,  ohne  daß  diesem  die 
Schwierigkeiten  recht  bewußt  werden  und  ohne 
bei  ihm  mehr  als  ganz  elementare  mathematische 
Kenntnisse  vorauszusetzen.  Dabei  wird  die  große 
Fülle  des  Stoffes  in  einem  solchen  zusammen- 
hängenden Flusse  dargestellt,  daß  die  trockene, 
lehrbuch-  und  kompendiumartige  Form  aufs  glück- 
lichste vermieden  wird  und  der  Leser  mit  Genuß 
Seite  um  Seite  fortschreitet.  Dabei  hat  sich  der 
Verfasser  nicht  etwa  auf  die  elementare  Physik 
beschränkt,  sondern  er  bietet  auch  die  neuesten 
Tatsachen  und  Theorien  seines  Faches.  Ein  be- 
sonderer Vorzug  ist  auch  die  in  der  Anlage  des 
Gesamtwerkes  in  Aussicht  genommene  stete  Be- 
rücksichtigung der  praktischen  Anwendungen,  die 
jedem  an  der  Technik  interessierten  Leser  be- 
sonders erwünscht  sein  wird.  Die  vom  Verfasser 
selber  gezeichneten  Bilder  sind  klar  und  lehrreich, 
der  historische  Sinn,  der  leider  auf  dem  natur- 
wissenschaftlichen und  technischen  Gebiete  oft 
recht  mangelhaft  entwickelt  ist,  wird  geweckt  und 
wach  gehalten  durch  die  Bildnisse  der  Meister 
der  physikalischen  Wissenschaft.  Wir  können 
das  Buch,  das  man  wohl  als  die  beste  populäre 
Darstellung  der  Physik  bezeichnen  darf,  wärmstens 
empfehlen,  zumal  der  Preis  für  den  gut  ausge- 
statteten starken  Band  sehr  mäßig  zu  nennen  ist. 
Miehe. 

C.  K.  Schneider's  Illustriertes  Handwörterbuch 
der  Botanik,  unter  Mitwirkung  zahlreicher 
Fachgelehrter  herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
K.  Linsbauer.  Mit  396  Textabbildungen. 
2.  völlig  umgearbeitete  Auflage.  Leipzig  19 17. 
W.  Engelmann.  —  25  M. 
Die    zweite    Auflage    dieses    sehr    nützlichen 


Nachschlagewerkes  ist  gegenüber  der  ersten  in- 
sofern verändert,  als  die  einzelnen  Fachausdrücke 
nicht  wieder  durch  Auszüge  aus  den  betreffenden 
Spezialarbeiten  erläutert  werden,  sondern  durch 
knappe,  aber  doch  erschöpfende  und  damit  ohne 
weiteres  gut  verständliche  Erklärungen  ersetzt 
worden  sind.  Glücklich  ist  auch  der  Gedanke, 
an  Si  eile  der  einzelnen  ethymologischen  Ableitungen 
im  Text  ein  besonderes  Vocabularium  der  latei- 
nischen und  griechischen  Stammworte  zu  geben, 
aus  dem  jeder  Leser,  sofern  er  nur  über  ein  Mini- 
mum von  sprachlichen  Kenntnissen  verfügt,  selber 
die  wissenschaftlichen  Termini  ableiten  kann.  .So 
wird  viel  kostbarer  Raum  gespart.  Die  Zahl  der 
Stichworte  ist  erheblich  vermehrt,  sie  beläuft  sich 
jetzt  auf  etwa  7000.  Berücksichtigt  sind  in  erster 
Linie  solche  aus  der  eigentlichen  wissenschaftlichen 
Botanik,  wogegen  die  vielen  Fachausdrücke  aus 
der  rein  beschreibenden  und  angewandten  Botanik 
in  den  Hintergrund  gerückt  wurden.  Immerhin 
sind  aber  auch  diese  Gebiete  im  wesentlichen  be- 
rücksichtigt. Die  einzelnen  Artikel,  die  von  Fach- 
gelehrten verfaßt  wurden,  geben  ohne  Breit- 
schweifigkeit  gerade  soviel,  als  zum  Verständnis 
der  Stichworte  erforderlich  ist.  Sehr  angenehm 
ist  auch  die  Anführung  wichtiger  Literatur,  die 
zwar  nicht  nach  historischen  und  Prioritätsprin- 
zipien angeführt  ist,  aber  doch  die  Möglichkeit 
gibt,  im  einzelnen  Falle  ausführlichere  Belehrung 
aufzusuchen.  So  ersetzt  der  handliche,  mit  zweck- 
mäßig ausgewählten  Abbildungen  ausgestattete 
Band  eine  kleine  botanische  Bibliothek,  die  nicht 
nur  dem  Laien  beim  Nachschlagen  und  bei  der 
Lektüre  schwierigerer  botanischer  Werke  gute 
Dienste  leistet,  sondern  auch  dem  Fachmann  eine 
erwünschte  Hilfe  bietet,  wenn  er  sich  rasch  und 
ohne  Weitläufigkeit  unterrichten  will.        Miehe. 

Kraepelin,  Prof.  Dr.  K.,    Exkursionsflora  für 
Nord-    und  Mitteldeutschland.     8.  verb. 
Aufl.      Mit    einem    Bildnis    K.    Kraepelins    und 
625    Holzschnitten.      Leipzig    und    Berlin    191 7. 
B.  G.  Teubner.     4,80  M. 
Das  Bestimmungsbuch  des  ausgezeichneten,  vor 
kurzem    verstorbenen    Pädagogen    und    populären 
Schriftstellers    soll   denen    dienen,    die    sich    ohne 
wissenschaftlich  botanische  Grundlage    dem    Sam- 
meln und  Bestimmen  der  Pflanzen  zuwenden,  also 
Schülern  und  Laien.     Die  ganze  Anlage  des  Buches 
ist  mithin  darauf  zugeschnitten,   daß  der  Benutzer 
möglichst    sicher    und    leicht    den    Namen    einer 
Pflanze  auch  ohne  Anleitung  ermitteln  kann. 
Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Kritik  der  „Neuen  Namenlisle  der  Vögel  Deutschlands" 
von  Hesse  und  Reichenow.  Ornitliologische  Nomenklaturen 
wechselten  in  di-n  letzten  Jahrzehnten  wie  Kleidermoden  und 
sind  billig  wie  Brombeeren.  .\uf  die  englische  „Handlist" 
(1912)  folgte  jetzt  die  obige  „Neue  Namenliste"  (1916),  womit 
wiederum    Reichenow's    „Kennzeichen    d.    V.    D."    (vom 


Jahre   1902)   überholt  sind;  vordem  galt  die  Nomenklatur  der 
ornithologischen   Autoritäten.  ^) 

')  Festgehalten  sei  bei  alledem,  daß  die  Systematik  nicht 
am  Ende  der  Wissenschaft  steht,  sondern  am  Anfang.  Der 
Biologe  befindet  sich  ein  ganz  Stück  weiter  als  der  aystematiker. 
Die  Namen    der    Vögel    sind    als    solche    nebensächlich,    nur 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


655 


Die  Durchführung  des  leidigen  Prioritätsprinzips  hat  eine 
Unsicherheit  und  ein  Hin-  und  Herschwanken  in  die  Vogel- 
systematik gebracht,  dafl  man  nicht  mehr  aus  noch  ein  weiß. 
Denn  stets  werden  neue,  noch  ältere  Namen  ausgegraben, 
durch  die  bisher  gebrauchte  zu  ersetzen  sind.  Dabei  ist  das 
Prioriläisprinzip  nicht  einmal  richtig  durchgeführt,  denn  es  ist 
durchbrochen  von  dem  Gt-seiz  der  Nomina  conservanda  („Alt- 
eingeführte, in  den  bedeutendsten  Lehrbüchern  gebräuchliche 
Gattungsnamen  der  bekanntesten  Tierlormen  dürfen  nicht  mehr 
geändert  werden")  und  dem  Grundsatz  der  Unantastbarkeit 
gewisser  Gattungs-  und  Artnamen  (,, Begriffsveränderungen 
bisher  allgemein  gebräuchlicher  Gattungs-  und  Artoamen  und 
deren  Übertragung  auf  andere  Formen  sind  unzulässig").  Das 
letztere  ist  besonders  wichtig,  denn  die  Handlist  und  auch 
_die  Nomenklatur  im  neuesten  Brehm  (Tierleben  IV.  Auflage) 
'hat  Zustände  geschalten,  die  direkt  unhaltbar  sind:  Turdus 
musicus  ist  nicht  mehr  die  Singdrossel,  sondern  die  Weindrossel ; 
Sylvia  hoitensis  heifit  nicht  mehr  wie  bisher  die  Gartengras- 
mücke, sondern  der  Orpheussänger.  Zu  solchen  Widersinnig- 
keiten ist  die  logische  Befolgung  des  Priorilätsprinzips  letzten 
Endes  gekommen,  und  im  Grunde  genommen  könnte  der  An- 
hänger einer  ,, sinngemäßen''  und  Gegner  dieser  doch  schliefl- 
lich  nur  auf  der  hilelkeit  des  Menschen  aufgebauten  Nomen- 
klatur seine  helle  f  reude  daran  haben,  daß  sie  durch  sich 
selbst  so  nachhaltig  ad  absurdum  geführt  worden  ist.  Ganz 
richtig  bemerkt  Reichenow,  daß  man  bei  Gebrauch  dieser 
Doppelnamen  nun  immer  dazu  setzen  müßte,  was  eigentlich 
gemeint  ist,  ob  die  Namen  im  alten  oder  neuen  Sinne  gebraucht 
sind;  mit  anderen  Worten:  man  müßte  den  lateinischen 
„wissenschaftlichen"  und  internaiional  verständlich  sein  wollen- 
den Namen  durch  einen  deutschen  Namen  —  verächtlich 
„Trivialnamen"  genannt !  —  näher  erklären.  Dem  kommt  der 
oben  autgestellte  Grundsatz  (Verbot  von  Begriffsveränderungen) 
zuvor.  Wir  wollen  aber  dabei  nicht  verkennen,  daß  damit 
sowohl  die  Einheitlichkeit  wie  die  Folgerichtigkeit  des  Prio- 
ritätsprinzips total  aufgehoben   ist  I 

So  schwere  Bedenken  nun  auch  Referent  gegen  eine 
abermalige  Veränderung  der  Vogelnamen  haben  muß,  so 
kann  und  muß  er  doch  für  diese  neue  Namen- 
liste der  Vögel  eintreten.  Denn  sie  scheint  deutsche 
Einheitslisle  werden  zu  können  und  zu  sollen  und  macht  uns 
von  dem  bisherigen  englischen  Einfluß  los  —  hoffentlich  für 
immer  I  Deutsche  Wissenschaft  war  ja  auch  früher  führend, 
namentlich  in  der  Vogelkunde  (Naumann  I).  Der  Krieg  hat 
uns  von  fremder  Bevormundung  frei  gemacht,  wie  er  auch  mit 
dem  Begriff  des  Internationalen  gründlich  aufgeräumt  hat. 
Lassen  wir  doch  die  Engländer  die  Vögel  nennen  wie  sie  wollen 
—  Unsinnigkeitrn  wollen  wir  jedenfalls  nicht  miimachen ! 
Deshalb,  so  sicher  auch  anzunehmen  ist,  daß  Harten  und 
Genossen  dieser  neuen  Namenliste  bestimmt  den  Krieg  erklären 
werden,  wollen  wir  ihr  unsere  volle  Unterstützung  leihen. 
Der  geschilderte  ruhelose  Zustand  der  Nomenklatur  wird,  wie 
die  Verfasser  richtig  angeben,  noch  lange  andauern,  wenn 
nicht  gewaltsame  Hemmungen  eingreifen.  Viele  alten  Werke 
werden  noch  zu  durchslöbern  sein,  um  die  darin  enthaltenen 
Namen  ans  Licht  zu  ziehen  und  diesen  zu  dem  nach  dem 
Prioritäisgesetze  ihnen  zustehenden  Rechte  zu  verhelfen,  an 
die  Stelle  bestehender  Bezeichnungen  gesetzt  zu  werden.  Und 
diesem  Bestreben  ruft  die  neue  endgültig  festgestellte  „Neue 
Namenliste"   ein  energisches  Veto  zu. 

Mittel  zum  Zweck,  auch  wenn  sie  jetzt  in  diesem  oder  jenem 
systematischen  oder  faunistischen  Werk  zur  Hauptsache  ge- 
stempelt werden.  Das  ist  eine  Verirrungl  Leider  kommt  es 
zurzeit  , .manchem  Verfasser  mehr  auf  den  ältesten  Namen  für 
die  einzelne  Art  an,  als  auf  lückenlose  Gesamtdarstellung  und 
scharfe  Kennzeichnung  der  Formen"  (H  esse  und  Reichenow) 
Der  Einsichtige  dagegen  weiß,  daß  wir  Naturforscher  heutzu- 
tage den  Schwerpunkt  auf  die  Bionomie  (gesetzmäßige  Lebens- 
weise der  Individuen)  und  die  Biologie  (Lehre  vom  Leben  der 
Organismen)  legen  und  die  Systematik  nicht  mehr  als  Endziel, 
sondern  als  Ausgangspunkt  der  Naturbeobachtung  setzen;  erst 
so  verstehen  wir  recht  das  glänzend  akkomodierte  Gewebe  in 
der  Natur.  —  Das  Beste  wäre  die  Einführung  einer  nur  sinnge- 
mäßen Nomenklatur  ohne  Autorenangabe,  wobei  die  lateinischen 
Namen  ein  charakteristisches  Erscheinungsmerkmal  der  be- 
nannten .Art  angeben  müßten. 


Zu  ihrem  Inhalte  wäre  sehr  viel  zu  bemerken.  Hier  nur 
Einiges.  Mit  der  Auffassung  der  ternären  Benennung  der  Vögel 
im  alten  Sinne  wird  das  Verfasserpaar  bzw.  Reichenow 
nicht  durchkommen.  Denn  es  entspricht  nicht  der  Logik  der 
Tatsachen.  Es  ist  ja  schon  ganz  lobenswert,  jenes  Bestreben: 
„P'esthalten  an  der  Spezies  als  kleinsten  Einheit  des  Systems". 
Aber  talsächlich  zerfallt  diese  Spezies  in  Subspezies  (Unter- 
arten) oder  Lokalrassen.  Also  ist  doch  in  Wirklichkeit  die 
Subspezies  die  kleinste  Einheit  des  Systems  1  Wir  müssen 
hiernach  die  Vögel  ternär  benennen.  Die  Spezies  existiert 
dann  nur  dem  Begriffe  nach,  nicht  in  Wirklichkeit,  der  Begriff 
Spezies  faßt  alle  faktisch  existierenden  Subspezies  in  sich  zu- 
sammen. ')  R.  u.  H.  helfen  sich  ja  auch  (und  eigentlich  ist 
es  nur  ein  Spiel  mit  Worten),  wenn  sie  die  geographischen 
Formen  oder  Lokalrassen  als  Konspezies  (Nebenarten)  neben- 
einander stellen.  Aber  diese  Konspezies  haben  doch  nicht 
den  Wert  der  übrigen  Spezies,  denn  sie  unterscheiden  sich 
von  ihrer  Originalspezies  (Stammform)  doch  nur  durch  relative 
Merkmale,  nicht  wi,e  die  übrigen  Spezies  durch  direkte 
bzw.  talsächliche.  Das  Verhältnis  in  der  Natur  wird  durch 
das  nomenklalorische  Spiegelbild  auch  auf  den  Kopf  gestellt, 
wenn  man  die  „Konspezies"  (in  Wirklichkeit  Subspezies)  gleich 
wertet  wie  alle  anderen  Spezies  einer  Gattung,  und  sie  unier- 
schiedlos  neben  diese  stellt  so  gut  wie  die  deutlich  unter- 
schiedenen  fremden  bzw.  andersgearteten   „guten"  Spezies. 

Dagegen  ist  es  aufrichtig  zu  begrüßen,  wenn  R.  und  H. 
mit  den  unsinnigen  gleichlautenden  Benennungen  wie  „Galli- 
nago  gallinago  gallinago"  aufräumen.  Das  ist  in  der  Tat  un- 
nützer Ballast,  von  dem  man  die  Nomenklatur  freimachen 
kann.  Eigentlichen  Zweck  hat  die  Wiederholung  desselben 
Wortes  gar  nicht.  Bei  dem  einfachen  Corvus  cornix  ist  iür 
jedeimann  klar,  daß  die  typische  Form  der  Nebelkrähe  gemeint 
ist,  „Bezeichnungen  wie  Bubo  bubo  bubo  sind  nicht  nur  ohne 
den  geringsten  wissenschaftlichen  Nutzen,  sondern  geradezu 
geeignet,  den  Spott  der  Witzblätter  herauszufordern".    In  der  Tat  I 

Im  übrigen  finde  ich  in  der  „Neuen  Namen  liste" 
mancherlei  persönlich-willkürlich.  Einiges  kann  man 
direkt  nicht  mitmachen.  Was  H.  u.  R.  selbst  mit  Recht  rügen, 
tritt  doch  fast  genau  so  auch  bei  ihnen  wieder  auf,  wenn  sie 
die  bisherige  Eulenart  accipitrinus  mit  flammea  benennen, 
während  letzteres  bisher  die  Schleiereule  bezeichnete.  Daß 
dabei  ein  gewisser  Unterschied  zwar  noch  vorhanden  ist  mit 
Bezug  auf  den  Gattungsnamen  (Strix  ersetzt  durch  Asio).  tut 
nicht  viel  zur  Sache,  denn  das  Tonbild  Strix  (oder  Asio) 
flammea  (oder  flammeusl  ist  dem  Ornithologen  als  Name  der 
Schleiereule  in  Gehör  und  Gedächtnis.  Wie  fernliegend  da- 
gegen der  Name  Strix  alba  guttata  I  Wie  kommt  R.  dazu, 
Fichten-  und  Kiefernkreuzschnabe!'')  als  Sub-  oder  Konspezies 
zu  fassen?  (ich  meine,  das  ist  doch  recht  willkürlich!).  Die 
unterschiedliche  Fassung  der  Kormoranformen  hätte  erfolgen 
sollen,  denn  die  Uonauform  ist  doch  sicher  anders  als  die 
Lokalrasse  aus  Holland.  Die  Unterscheidung  bzw.  Benennung 
der  Sumpfmeisenformen  ist  willkürbch  (Parus  palustris  L., 
Parus  palustris  communis  Baldenst.,  Parus  palustris  longirostris 
Kleinschm.,  Parus  salicarius  Brehm,  Parus  salicarius  rhenanus 
Kleinschm.  —  wer  kennt  sich  denn  da  noch  aus?).  Welcher 
Mangel  an  Einheitlichkeit,  wenn  neben  einer  Stammform  Certhia 
familiaris  L.  zwei  Subspezies  erscheinen,  von  denen  die  eine 
binär  Certhia  brachydactyla  Brehm,  die  andere  gleichwertige 
ternär  Certhia  familiaris  macrodactyla  Brehm  genannt  wird 
(es  ist  eben  eine  heillose  Verwirrung  in  der  ornithologischen 
Nomenklatur  nun  einmal  da  und  läßt  sich  auch  nicht  mehr 
bannen).  Daß  die  bereits  gut  eingebürgerte  Spechtmeisenform 
Sitta  europaea  homeyeri  verschwunden  ist,  muß  bedauert  werden  ; 
gewissermaßen  hat  sich  an  ihre  Stelle  Sitta  caesia  sordida  Rchw. 
geschoben;  „gewissermaßen"  nur,  denn  sie  ersetzt  jene  ja  nicht. 
Wilhelm  Schuster. 


Eine  merkwürdige  Schallerscheinung  im  Felde.  Seitdem 
ich  einer  schweren  Mörserbatteiie  angehöre,  erlebe  ich  öfter 
den  Fall,  daß  beim  Abfeuern  eines  Geschützes  ein  Stück 
Führungsring  von  der  abfliegenden  Granate  loseckt,  das  heißt. 


')  Spezies    ist  nur  systematische    Gruppe    der  Subspezies. 
^)  „Loxia     curvirostra"     und     „Loxia    curvirostra    pytyo- 


6s6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  46 


daß  der  kupferne  Führungsring  bei  der  Hineinpressung  in  die 
Züge  des  Rohrs  an  einer  Stelle  durchreißt  und  das  eine  oder 
beide  dadurch  entstehenden  freien  Enden  sich  rückwärts  um- 
biegen. Selbstredend  sieht  man  davon  nicht  das  geringste, 
man  geht  aber  kaum  fehl  in  der  Vermutung,  daß  dieser  Fall 
eingetreten  ist,  so  oft  das  Geschoß  statt  wie  gewöhnlich 
zischend,  laut  heulend  durch  die  Luft  fährt.  Wenn  mich 
meine  Erinnerung  nicht  täuscht,  kommt  auch  bei  der  Feld- 
artillerie dasselbe  vor,  nur  seltener,  und  es  ist  dort  weniger 
auffällig.  Das  Merkwürdige  nun  an  dem  dabei  erzeugten  Ton, 
der  in  Tonlage  und  Klangfarbe  etwa  an  zweistimmiges  Katzen- 
geheul erinnert,  ist,  daß  man  allgemein  den  Eindruck  hat,  als 
komme  er  näher,  ganz  anders  als  das  gewöhnliche  zischende 
Geräusch  einer  abfliegenden  Granate,  welches  unser  Ohr  dauernd 
dorthin  verlegt,  von  woher  es  gerade  kommt,  also  in  die 
Richtung  der  Flugbahn.  Prüft  man  jene  merkwürdige  Schall- 
erscheinung bei  Gelegenheit  genauer,  so  findet  man,  daß  der 
Schall  in  seiner  Stärke  langsame,  starke  Schwebungen  hat;  in 
den  ersten  Augenblicken  nimmt  er  ab,  bald  aber  wieder  zu, 
und  von  dem  Augenblick  des  Zunehmens  an  meint  man,  die 
Schallquelle  komme  näher,  ja  man  kann  sich  wohl  ein  paar 
Sekunden  lang  einbilden,  ein  feindliches  Geschoß  komme  heran, 
und  möchte  schon  dagegen  Stellung  nehmen.  Denselben  Ein- 
druck, nur  bereits  bei  geringerer  Schallsiärke,  hat  man  nach 
erneutem  Nachlassen  der  Tonstärke  bei  ihrem  zweiten  An- 
schwellen, ebenso  beim  dritten  und  wohl  noch  vierten,  bei 
welchem  der  Schall  schließlich  hoch  über  unserm  Scheitel 
zu  verklingen  scheint.  Vergeblich  habe  ich  darüber  nachgedacht, 
wie  das  Zustandekommen  dieser  Empfindung  zu  erklären 
sei.     (GX^)  Franz. 


Die  neulich  hier  auf  Seite  454  gemachten  weiteren  An- 
gaben über  Zunahme  von  Tierarten  im  Kriege  sind  wohl  schon 
wieder  durch  einige  zu  ergänzen.  Zunächst  möchte  ich  er- 
wähnen, daß  ich  im  Sommer  1915  auch  in  der  Gegend  von  Nerchau 
östlich  Leipzig  Wachtelschlag  vernahm,  was  mir  sehr 
auffiel,  da  ich  ihn  sonst  dort,  wie  überhaupt  im  Königreich 
Sachsen,  stets  vermißt  hatte.  Nachdem  nun  ein  dort  Ansässiger 
mitteilt,  er  habe  in  jenem  Bereiche  noch  nie  so  viele  Wachtel- 
gelege gefunden  wie  jetzt,  scheint  mir  wirklich  auch  dort  eine 
Zunahme  dieses  Vogels  vorzuliegen,  vermutlich  aus  denselben 
Gründen  wie  an  anderen  Stellen.  Soeben  berichtet  ferner  M. 
Braeß  noch  von  mehreren  anderen  Stellen  im  Königreich 
Sachsen  über  eine  erfreuliche  Zunahme  der  Wachteln,  die  man 
früher  in  diesem  Lande  nur  noch  ausnahmsweise  bemerkte. 
Braeß  wagt  aber  nicht  zu  entscheiden,  ob  Kriegsvethältnisse 
die  Ursache  sind.  Bei  der  Korrektur  kann  ich  hinzufügen,  daß 
nach  Ornithol.  Monatsschr.  1917,  10,  die  Wachteinsich  auch  bei 
Hannover  entschieden  vermehrt  haben.  —  Sodann  wird  an  vielen 
Stellen  in  Deutschland  eine  Abnahme  der  Sperlinge,  meist  der 
Haus-,  gelegentlich  auch,  beiOsnabrück  nach  derÖrnithol.  Monats- 
schrift, der  Fcldsperlinge  gemeldet.  Dies  kann  mit  der  vergangenen 
Winterkälte  zusammenhängen,  die  nach  Fritz  Brauer's  An- 
gabe in  Reichenow's  Orniihologischen  Monatsberichten,  H.  7/8, 
19 17,  auch  die  Buchfinken  stellenweise  vertrieben  haben  mag. 
Aber  im  allgemeinen    ist    das  Singvogelleben  Deutschlands  in 


diesem  Jahre  wohl  kaum  gemindert.  Daher  verdient  die  ge- 
legentlieh ausgesprochene  Vermutung  Aufmerksamkeit,  die 
Spatzen  könnten  im  Winter  infolge  starker  Verminderung  der 
Haferrationen  und  der  daher  üblich  gewordenen  starken 
Schrotung  des  Hafers,  die  die  Verdauung  fördert,  keine  unver- 
dauten Haferkörner  mehr  im  Pferdedung  finden  und  hierunter 
Winters  leiden  und  abgewandert  sein.  Dann  wäre  auch  dies 
eine  Kriegsfolge.  Im  Felde  schrotet  man  den  Hafer  nicht, 
und  in  Flandern  treffe  ich  Haussperlinge  überall,  Feldsperlinge 
stellenweise  ganz  auffallend  zahlreich  an.  V.  Franz. 


Barometer  Modell  Thöne  1917.  Folgendermaßen  läßt  sich 
das  Barometer  vereinfachen:  Man  nimmt  eine  gewöhnliche 
Barometerglasröhre,  am  einen  Ende  oben  geschlossen  und  am 
andern  Ende  offen  und  nach  oben  umgebogen,  aber  überall ' 
gleich  weit.  Angenommen,  das  Quecksilber  stehe  im  längeren 
Rohr  genau  76  cm  höher  als  im  kürzeren.  Sinkt  nun  der 
Luftdruck  und  fällt  infolgedessen  das  Quecksilber  im  längeren 
Rohr  um  etwa  3  cm,  dann  steigt  es  gleichzeitig  genau  so  viel 
auch  im  kürzeren.  Folglich  verkürzt  sich  der  Gesamtabstand 
der  beiden  Quecksilberniveaus  nicht  um  3,  sondern  um 
2X3  =  6  cm.  Demnach  schreiben  wir  3  cm  unter  76  auf 
der  Skala  nicht  73,  sondern  70.  In  genau  dieser  Weise  teilen 
wir  auch  sonst  die  Skala  ab,  d.  h.  anders  ausgedrückt:  wir 
machen  von  76  ab  nach  oben  und  unten  ihre  Teil- 
striche doppelt  so  eng,  wie  sie  eigentlich  sein  müßten. 
Dann  genügt  die  eine  Ablesung  von  der  Skala,  um  den  Baro- 
meterstand zu  erkennen  und  wir  brauchen  dann  unten  keine 
zweite  Skala  mehr  und  brauchen  auch  unten  nichts  zu  schrauben. 
Wenn  das  Quecksilber  mit  der  Zeit  etwas  verdampft  und  da- 
durch das  Barometer  ungenau  wird,  dann  kann  man  es  leicht 
wieder  stimmend  machen,  indem  man  die  ganze  Skala  etwas 
herunterzieht  oder  herunterschraubt. 

Dir.  Thöne,  überelvenich  b.  Euskirchen. 


Der  Aufsatz  von  Edw.  Hennig  „Untersuchungen  mit  der 
Wünschelrute"  {Naturw.  Wochenschr.  Bd.  16,  Nr.  39)  mußte 
aus  Gründen,  die  mit  den  Zeitumständen  zusammenhängen, 
erscheinen,  bevor  die  Korrektur  des  Autor  eingegangen  war. 
Infolgedessen  sind,  wie  mich  Herr  Prof.  Edw.  Hennig  bittet 
mitzuteilen,  einige  Druckfehler  stehen  geblieben.  Auch  sei 
ihm  dadurch  die  Möglichkeit  genommen,  seinen  Standpunkt 
noch  etwas  schärfer  zu  formulieren,  insbesondere  zum  Ausdruck 
zu  bringen,  daß  er  der  praktischen  Verwertung  des  Phänomens 
zweifelnd  gegenüberstehe,  solange  dies  selbst  noch  ganz  in 
Dunkel  gehüllt  sei.  Seine  Hauptabsicht  sei,  auf  zweifellos 
vorhandene,  selbst  beobachtete  interessante  Phänomene  hin- 
zuweisen. M. 

Berichtigung. 

In  dem  Bericht  V.  Haeckers  Schrift  „Die  Erblichheit  im 
Mannesslamm  usw."  (Naturw.  Wochenschr.  Bd.  16,  Nr.  43) 
ist  ein  Irrtum  zu  berichtigen.  Es  muß  S.  605,  Spalte  2, 
Zeile  22  V.  u.  heißen;  Christian  I.  von  Sachsen  und  auf 
S.  606  im  Text  zu  der  Abb.  2:    Christian  IL  von  Sachsen. 

M. 


Inhalt;  Victor  Engelhard  t,  D'Alemberts  Bedeutung  für  die  Naturwissensehaften.  S  641.  — Einzelberichte:  H. Molisch, 
Eigenartiger  Bau  des  Plasmakörpers.  S.  644.  Kurt  Stern,  Die  Entwicklung  der  Nepenthaceen.  S.  6  .5.  Friedrich 
Wilh.  Schlesinger,  Unheilvolle  Einwirkung  der  Verschilfung  der  stehenden  Gewässer  auf  die  Nutzfischzucht.  S.  Ö46. 
Benecke,  Zum  Vorkommen  der  Wachtel.  S.  646.  Ströse,  Nützlichkeit  und  Schädlichkeit  der  Spechte.  S.  647. 
R.  Richter,  Zur  stratigraphischen  Beurteilung  von  Calceola.  (2  Abb.)  S.  648.  M.B.  Jossei,  Verbreitung  des  Krebses 
in  der  Schweiz.  S.  549.  Thienemann,  Die  Verbreitung  der  Corcgonen,  ein  hydrobiologisches  Problem.  S.  650. 
F.  Burkhardt,  Über  auffallende  Gespinstbildungen  infolge  Massenauftretens  einer  Gespinstmotte.  S.  651.  Hoge,  Der 
Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Entfaltung  eines  erblichen  Merkmals.  (4  Abb.)  S.  bc,i.  —  Bücherbesprechungen: 
Tobler,  Te.ttilersatzstofle.  S.  653.  Adolf  Schenk,  Die  Kornkammern  der  Erde.  S.  653.  W.  Roth,  Bodenschätze 
als  biologische  und  politische  Faktoren.  S.  653.  F.  Kohlrausch  und  L.  Holborn,  Das  Leitvermögen  der  Elektro- 
lyte  insbesondere  der  wässrigen  Lösungen.  S.  653.  Leo  Graetz,  Die  Physik.  8.654.  C.  K.  Schneider's  Illustriertes 
Handwörterbuch  der  Botanik.  S.  654.  K.  Kraepelin,  Exkursionsflora  für  Nord-  und  Mitteldeutschland.  S.  654.  — 
Anregungen  und  Antworten:  Kritik  der  ,, Neuen  Namenliste  der  Vögel  Deutschlands"  von  Hesse  und  Reichenow.  S.  654. 
Eine  merkwürdige  Schallerscheinung  im  Felde.  S.  ö^^.  Zunahme  von  Tierarten  im  Kriege.  S.  656.  Abnahme  der 
Sperlinge.  S.  65Ö.   Barometer  Modell  Thöne  191  7.  S.  656."  Untersuchungen  mit  der  Wünschelrute.  S.656.   Berichtigung.  S.  656. 


Manuskripte  un 


Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e  ,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  25.  November  1917. 


Nummer  47. 


Ursprung,  Verbreitung  und  Nutzbarmachung  der  chemisch-industriellen 
mineralischen  Rohstoffe. 

von  Prof.  Dr.  O.  Herrmann. 
zirken  von  Peru  und  Bolivien  für  den  Natron-  oder 
Chilesalpeter  (Caliche),  die  Provinz  Sachsen 
in  der  Gegend  von  Halle-Weißenfels-Zeitz  für  die 
pyropissithaltige  Braunkohle,  die  sog.  Schwel- 
kohle,  die  Provinz  Rheinland  in  der  Gegend 
des  Laacher  Sees,  besonders  im  Nette-  und  Brohl- 
tal,  für  den  Traß-Tuffstein,  einen  Trachyttuff, 
das  südwestliche  Grönland  bei  Evigtok  (Ivigtut) 
am  Arksutfjord  (Arsukfjord)  für  den  Kryolith, 
das  ostpreußische  Samland  für  Bernstein,  Klein- 
asien in  der  Gegend  von  Eski-Schehir  für  Meer- 
schaum, New  Jersey  für  Rotzinkerz. 

Durch  neue  P'unde  können  Monopolstellungen 
verloren  gehen.  Beispielsweise  sind  heute  Sizilien 
nicht  mehr  der  fast  ausschließliche  Lieferant  für 
technischen  Schwefel,  die  Maremmen  Toskanas 
für  Borsäure  (Sassolin),  das  südöstliche  Nor- 
wegen für  die  Mineralien  des  Auerschen 
Gasglühlichtes,  das  böhmisch-sächsische  Erz- 
gebirge, namentlich  Joachimstal  i.  B.  nicht  mehr 
für  das  Material  (Uranpecherz  usw.)  zur  Her- 
stellung der  Radiumpräparate,  wie  diese  es 
früher  längere  oder  kürzere  Zeit  waren.  Schwefel 
liefern  heute  dem  Handelsmarkt  in  großer  Menge 
Louisiana,  Japan  und  Neuseeland,  Borsäure- 
mineralien Kalifornien  und  Nevada  (Colemanit), 
die  kleinasiatische  Türkei  (Pandermit),  die  mittel- 
deutschen Kalisalzlagerstätten  (Borazit),  Chile, 
Argentinien  und  Peru  (Boronatrokalzit),  t  h  o  r  i  u  m  - 
und  ceriumhaltige  Mineralien  als  Grund- 
lage der  Gasglühlichtindustrie  die  Monazitsande 
Brasiliens,  Nord-  und  Süd  Karolinas,  Kolumbiens, 
radioaktive  Mineralien  Cornwall  (Uran- 
pecherz), Portugal  (Uranpecherz,  Autunit),  Kolorado 
(Carnotit),  Utah  (Carnoiit),  Pennsylvanien  (Carnotit), 
Südaustralien  (Autunit,  Carnotit),  Ostafrika  (Uran- 
pecherz), das  Material  für  Mesothorium  die  Mona- 
zitsand   produzierenden    eben    genannten    Länder. 

Die  Platinausbeute  Kolumbiens  ist  im 
Begriff,  dem  Ural  mit  seinen  Platinmineralienseifen 
das  Monopol  streitig  zu  machen. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  einmal  den 
Bildungsvorgang  einiger  Mineralien  und  Gesteine 
nebst  den  wichtigsten  Nebenumständen. 

Die  Abscheidung  gelöster  Stoffe  fiel  im 
Meer-  und  Seewasser  unter  dem  Einfluß  mannig- 
facher Faktoren,  wie  Löslichkeit,  Temperatur, 
Lösungsgenossen,  Zeit,  Druck  usw.  verschieden 
aus,  wodurch  beispielsweise  in  Verbindung  mit 
späteren  Weglösungen  (deszendente  und  posthume 
Bildungen)  die  zahlreichen  Kombinationen  der 
sog.  Kalisalze,  wie  Sylvin,  Carnallit,  Kieserit, 
Kainit  usw.  usw.  und  die  Salzgesleine  Sylvinhalit 


[Nachdruck  verboten.]  Technisch-geologische  Skizze 

Die  Quellen  aller  Rohstoffe  der  chemischen 
Technik  entspringen  naturgemäß  in  der  festen 
Kruste  unseres  Planeten  oder  dessen  Wasser-  und 
Gashülle. 

Bei  vielen  mineralischen  Rohmaterialien, 
wie  dem  Steinsalz,  den  sog.  Kalisalzen,  dem 
Schwerspat,  Wiiherit,  Flußspat,  den  meisten  Erzen, 
dem  Kryolith,  dem  Feldspat,  Quarz  und  Glimmer 
sowie  den  vielen  anderen,  z.  T.  seltenen  und 
chemisch-technisch  wertvollen  Mineralien  der 
Pegmatite,  wie  Uranpecherz,  Monazit,  Thorit  usw. 
ist  der  anorganische  Ursprung  ohne  weiteres  ein- 
leuchtend. Sie  sind  direkte  Ausscheidungen  aus 
Wasser  oder  Gesteinsschmelzfluß. 

Bei  manchen,  die  auch  im  Berg-  oder  Stein- 
bruchbau gewonnen  und  als  mineralische 
Bodenschätze  bezeichnet  werden,  haben  organische 
Wesen,  Pflanzen  wie  Tiere,  das  Zustandekommen 
vermittelt.  Kohlengesteine,  Erdöl,  der  Asphalt- 
gehalt mancher  Kalk-  und  Sandsteine,  Ozokerit, 
Bernstein,  die  meisten  Kalk-  und  Dolomitsteine, 
der  größte  Teil  der  Mineralphosphate,  Guano, 
Guanophosphate  gehören  in  diese  Klasse  organo- 
gener  Bildungen. 

Bei  noch  anderen  Stoffen,  wie  den  pflanzlichen  und 
tierischen  Rohmaterialien  der  Stärke-,  Zucker-,  Gärungs-, 
Kettindustrie  denken  wir  kaum  noch  an  die  letzte  mineralische 
Ableitung,  und  doch  waren  es  auch  bei  ihnen  mineralische 
Nährstoffe  des  Bodens  und  die  Kohlensäure  und  der  Stickstoff 
der  Luft,  welche  in  den  Pflanzen  und  indirekt  auch  in  den 
Tieren  angesammelt  und  zu  den  Ausgangsstoffen  jener  In- 
dustrien umgebildet  worden  sind. 

Die  mineralischen  chemischindustriellen 
Rohstoffe  kommen  zwar  über  die  ganze  Erde 
verstreut  vor,  doch  sind  viele  derselben  in  gewissen 
örtlich  begrenzten  Bezirken  angereichert.  Die 
Kenntnis  des  geologischen  Werdeganges  bildet 
den  Schlüssel  zur  Erklärung  dieser  ungleichen 
topographischen  Verteilung.  Es  gibt  gold-, 
kupfererz-,  nickelerz-,  manganerz-, 
wolframerz-,  chromeisenstein-,  zinn- 
stein-, monazitsand-,  magnesitstein-, 
bauxit-,  laterit-,  m  in  eral  ph  osphat-, 
kohlen-,  erdöl-,  kaolinreiche  Landstriche. 

Einzelne  technische  Rohmaterialien  sind  sogar 
auf  Örtlichkeiten  beschränkt  oder  wenigstens  an 
diesen  allein  praktisch  von  Bedeutung,  wodurch 
geographische  oder  sog.  Naturmonopole 
entstehen.  So  haben  das  mittlere  Deutschland, 
insbesondere  die  Gegend  von  Staßfurt,  H«  Imstedt, 
Bernburg,  Aschersleben,  Eisleben,  Nordhausen, 
Eisenach,  Hildesheim,  Hannover,  Celle,  Verden  das 
natürliche  Monopol  für  die  sog.  Kalisalze  (Edel- 
salze,  Abraumsalze),  Chile  mit  den  Grenzbe- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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oder  Sylvinit,  kieseritischer  Sylvinhalit  oder  „Hart- 
salz" usw.  entstanden  und  sich  auch  die  Wechsel- 
lagerung von  Steinsalz  mit  mehr  oder  weniger 
dünnen  Anhydritschichten,  den  sog.  Anhydrit- 
schiiüren  oder  Jahresringen  der  Lagerstätten,  er- 
klären. —  Die  Ablagerung  von  Kalkschalen 
und  -gehäusen  abgestorbener  Tiere,  die  Anhäufung 
von  pflanzlichem  Material  an  den  Torf-,  Braun- 
kohlen- und  Steinkohlenbildungsstätten,  der  Absatz 
von  mechanisch  transportierten  Gesteinstrümmern 
vollzog  sich  zeitweilig  unter  Zuführung  von  anders- 
artigem Material,  so  daß  fremde  Zwischenlagen, 
Nester,  Knollen,  Konkretionen,  Beimischungen, 
„Einsprengungen"  usw.  in  Schichtgesteinen,  wie 
Kalkstein  und  Kohlengesteinen,  entstehen  konnten. 
^  Innerhalb  der  Eruptivgesteine  waren  die  mag- 
matischen Erzausscheidungen  von  vielen 
Faktoren  abhängig,  infolge  deren  dieselben  in 
Größe,  Bestand  und  Veneilung  außerordentlich 
schwanken  können;  bei  der  Entstehung  von  Erz- 
lagerstätten als  SpahenausfüUungen  bildeten  sich 
neben  Erzmineralien  auch  Nichterze,  die  nun  in 
den  Erzgängen  in  vielseitiger  Weise  mitein- 
ander verzahnt  und  verwachsen  sein  können;  bei 
Erzlagerstätten,  die  an  Stelle  älterer  Gesteine 
metasomatisch  traten,  blieben  von  letzteren 
noch  mehr  oder  minder  beträchtliche  Reste  in 
der  Lagerstätte  erhalten.  —  Alle  Gesteine  können 
infolge  Fortführung  durch  lösendes  Wasser 
(z.  13.  die  deszendenten  Kalisalzgesteine)  oder 
durch  Infiltration  mit  chemischen  Lösungen 
(Verkieselung  usw.),  auch  durch  Temperatur- 
erhöhung infolge  des  Druckes  mächtiger  über- 
lagernder Gtbirgsschichlen  oder  des  gebirgs- 
bildenden  Schubes  (Umbildungen  in  den  Kalisalz- 
und  Kohlengesteinslagerstätten  usw.),  endlich  unter 
dem  Einflüsse  der  Verwitterung  durch  Oxy- 
dation, Wasseraufnahme  usw.  teilweise  umge- 
wandelt sein. 

Aus  diesen  Betrachtungen  erhellt  ohne  weiteres, 
daß  in  ein  und  derselben  Minerallagerstätte  an 
verschiedenen  Stellen  nicht  nur  ungleiche  mine- 
ralogische und  chemische,  sondern  als  Folge  davon 
auch  ebensolche  technische  und  wirtschaftliche 
Eigenschaften  zu  erwarten  sind.  Die  Konsequenz 
hiervon  ist,  daß  sich  beim  Abbau  in  verschiedener 
Zeit  Material  von  ungleicher  Beschaffen- 
heit ergeben  kann. 

Die  in  Lehrbüchern,  Katalogen,  Firmen- 
prospekten usw.  wiedergegebenen  Resultate  che- 
mischer Analysen  können  danach  nur  An- 
haltspunkte für  die  Beurteilung  der  Zusammensetzung 
eines  MineralsoderGesteins  sein,  da  sichdie  Resultate 
zunächst  nur  auf  das  gerade  der  Analyse  unter- 
worfene Material,  welches  einer  eben  im  Abbau  be- 
findlichen Stelle  eines  Steinbruches  oder  einer  Grube 
entstammte,  beziehen.  Als  Nutzanwendung  für  den 
technischen  Chemiker  ergibt  sich  daraus,  wenn  es 
sich  um  mehr  oder  weniger  quantitative  Arbeiten 
der  Industrie  handelt,  die  Forderung,  von  ange- 
liefertem Rohgesteinsmaterial  vor  der  Verarbeitung 
immer  von    neuem  Durchschnittsproben  der  che- 


mischen Analyse  zu  unterziehen  oder  solche  an 
ihm  in  einem  öffentlichen  Laboratorium  ausführen 
zu  lassen. 

Wenige  natürliche  mineralische  Rohstoffe 
können  von  der  Industrie  nahezu  unmittelbar,  so 
wie  sie  dem  Erdreich  entnommen  wurden,  ver- 
wendungsfertig dem  Handel  übergeben  werden, 
beispielsweise  manche  Kalisalzdüngemittel,  das 
natürliche  Glaubersalz  (Mirabilit),  die  natür- 
lichen Sodamineralien  Trona  (Urao),  Natron 
(Soda)  und  Thermonatrit,  ein  Teil  des 
Guanos  als  Phosphorsäure-  und  Stickstoffdünger, 
ein  Teil  des  Ozokerites  und  Asphalt  es,  die 
an  vielen  Stellen  des  Bodens  entquellenden  oder 
erbohrten  Mineralwasser,  die  an  einigen 
Punkten,  z.B.  im  Brohltal,  entströmende  Kohlen- 
säure, das  Erdöl  gas  (Erdgas)  als  Begleiter  des 
Erdöls,  Roteisenerz  als  Polier-  oder  „Pariser"- 
oder  „Englischrot",  gewisse  Mineralien  und  Gesteine 
als  Mineralfarben,  wie  Schwerspat  als  „Mineral'- 
oder  „Neuweiß",  Malachit  als  „Berggrün", 
Kupferlasur  als  „Bergblau",  Zinkblende  als 
„Zinkgrau",  Roteisenstein  als  Rötel,  „Venetianer, 
Preußisch  Rot",  roter  Ocker,  Braun-  und  Gelb- 
eisenerz als  Ocker,  cyprische,  türkische  oder  sizi- 
lianische  Umbra,  Terra  di  Siena,  eisenhaltiger  T  o  n  - 
stein  als  Bolus,  Braunkohle  als  „Kölnische 
Umbra"  oder  „Kasseler  Braun",  früher  Lasurstein 
als   natürliches  Ultramarin. 

Aus  anderen  Mineralrohstoffen  gewinnt  man 
die  Fabrikate  mittels  einfacher  mechanischer  oder 
chemischer  Behandlung,  so  aus  Kalkstein  und 
Dolomitstein  den  Ätzkalk  bzw.  Magnesia- 
Ätzkalk  (gebrannten  „Kalk")  und  Kohlensäure; 
aus  Magnesitstein  den  Sintermagnesit  und 
Kohlensäure;  aus  Strontianit  das  Strontium- 
oxyd; aus  Gipsstein  den  Stuck-  und  Estrich- 
gips; aus  dem  Wasser  Wasserstoff;  aus  der 
Luft  Sauerstoff  und  Stickstoff  und  aus  letzterem 
im  Verein  mit  Kalziumkarbid  den  Kalkstickstoff, 
oder  Salpetersäure  und  hieraus  mit  Kalkstein  den 
Luftsalpeter  (Norgesalpeter);  aus  Bernstein 
(Succinit)  die  Bernsteinsäure,  das  -öl,  das  -kolo- 
phonium;  aus  den  verschiedenartigen  Ton en  die 
mannigfachen  Erzeugnisse  der  Keramik,  speziell 
aus  Kaolinerde,  Feldspat,  bisweilen  noch 
Quarz,  Gips  usw.  das  Porzellan;  aus  Quarz, 
zumeist  in  Form  von  Glassand,  Kalkstein, 
Alkalikarbonat  usw.  das  Glas;  aus  Kali- 
salpeter, Holzkohle  und  Schwefel  das 
Schwarzpulver;  aus  Quarzsand  oder  Quarz- 
gestein und  Koks  das  Karborundum;  aus  ge- 
branntem Kalk  und  Koks  das  Kalziumkarbid; 
aus  Caliche  den  Natronsalpeter  und  Jod;  aus 
Glauberit  das  Glaubersalz;  aus  Salzsole 
und  Meerwasser  das  Kochsalz;  aus  den 
Soffioni,  borsäurehaltigen  Wasserdämpfen  Tos- 
kanas, die  Borsäure;  aus  Alunit  (Alaunstein)  den 
Kalialaun  und  Aluminiumsulfat;  aus  asphalt- 
haltigem  Kalk-  oder  Sandstein  den  Stampf- 
und  Gußasphalt,  die  Asphaltlacke,  -firnisse  usw.; 
aus  Magnetkies    von  Bodenmais  i.  Bayern  das 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Poliermittel  Potee;  aus  kalk-  und  tonhaltigen 
Materialien,  z.  B.  Muschelkalk  oder  Schreib- 
kreide und  Septarienton  (Rupelton),  den  Portland- 
zement; aus  dem  Trachyttuff  den  rheinischen 
Traß;  aus  Ton  oder  Kaolinerde,  Soda  oder 
Glaubersalz,  Seh  wefel  und  Ko  h  le  mit  und 
ohne  Quarzsand  die  künstlichen  Ultramarine; 
aus  den  Mineral-  und  Guanophosphaten 
das  Phosphorsäuredüngemittel  Superphosphat;  aus 
dem  Erdöl  Benzin,  Leucht-  und  Brennöle 
(Petroleum),  Schmieröle,  Paraffin,  Vaselin,  Abfall- 
stoffe; aus  Ozokerit  (Erdwachs)  Ceresin  und 
Paraffin;  aus  der  Steinkohle  Teer  und  aus 
diesem  das  Leichtöl  mit  Benzol,  Benzin,  Toluol,  Xylol, 
ferner  Mittelöl  mit  Naphthalin  und  Phenol  (Karbol- 
säure), sodann  das  Schweröl  mit  Kreosotöl,  das 
Anthracenöl  mit  Anthracen,  als  Rückstand  das 
Pech,  dann  Koks,  Leuchtgas,  Cyanverbindungen, 
Ammoniumsulfat  als  Stickstoffdüngemittel,  Seh  wefel; 
aus  Seh  welkohle  Teer  und  aus  diesem  weiter 
Paraffin,  Gasöl,  Karburieröl,  Benzin,  Solaröl,  Putzöl, 
Motoröl,  Vaselin,  Kreosotöl,  Goudron  oder  aber 
Montanwachs,  sodann  Grudekoks  (Grude),  Schwel- 
gas und  -Wasser;  aus  der  Messeier  Braun- 
kohle Rohöl  (Teer)  und  daraus  Paraffin,  Naphtha 
(Leichtöl),  Gas-,  Motor-,  Putz-,  Fett-  und  Schmier- 
öle, ferner  Koks,  Schwelgas  und  -wasser;  aus  den 
schottischen  Ölschiefern  (oil  shales)  das 
Rohöl  (Crude  oil;  Teer)  und  daraus  Leuchtöle, 
Paraffin,  Gas-  und  Motoröl,  Schmier-  und  Putzöl, 
Kreosotnatron  usw.,  ferner  Koks,  Schwelgas  und 
-wasser;  aus  Torf  den  Torfteer  und  aus  diesem 
Torföl,  Paraffin,  Alkohol,  Ammoniumsulfat  als 
Düngemittel,  dann  Torfkoks;  aus  Erzmine- 
ralien und  Erzgesteinen  die  Erzeugnisse 
der  Metallurgie. 

In  den  meisten  Fällen  aber  müssen  die  mine- 
ralischen Rohstoffe  eine   mehr  oder  weniger  um- 


ständliche Verarbeitung  in  Verbindung  mit  kom- 
plizierten chemischen  Prozessen  durchmachen, 
bevor  sie  sich  zu  den  gewünschten  Erzeugnissen 
umgestaltet  haben.  Es  sind  dies  die  Mineralien  und 
Gesteine  —  hauptsächlich  Steinsalz,  Kali- 
salze (einschließlich  Brom-,  Natrium-,  Magnesium- 
und  Kalziumverbindungen),  Chilesalpeter, 
Pyrit  (Eisen-,  Schwefelkies),  Pyrolusit  (Braun- 
stein), Kalkstein,  Schwefel,  Borsäuremine- 
ralien, wie  Borsäure  (Sassolin),  Boronatro- 
kalzit  (Borkalk),  Tinkal  (Borax),  Pandermit 
(Colemanit,  Priceit),  Borazit  (Staßfurlit), 
Magnesitstein,  Gipsstein,  Schwerspat 
(Baryt),  Witherit,Strontianit,  Coelestin, 
Flußspat  (Fluorit),  Bauxit,  Rutil, Mineral- 
phosphat, Arsenkies,  Antimon-,  Wis- 
mut-, Molybdänglanz,  Chromeisenstein, 
die  Mineralien  der  seltenen  Erden,  wie  Monazit, 
Thorit  (Orangit),  Thorianit  usw.,  die  radio- 
aktiven Mineralien,  wie  Uranpecherz  (Pech- 
blende, Uraninit),  Carnoit,Autunit,  Monazit, 
Thorit,  die  Vanadinmineralien,  wie  Van  ad  in  it, 
Patronit,  Roscoelith,  Descloizit,  die 
Wolframmineralien,  wie  Wolframit  (Wolfram) 
und  Scheelit  (Tungstein),  die  Erze  — ,  aus 
denen  schließlich  die  Fabrikate  der  eigent- 
lichen chemischen  Großindustrien :  Säuren,  Alkalien, 
Salze,  darunter  viele  Mineralfarben,  die  aus  den 
Fraktionen  des  Steinkohlenteers  gewonnenen  künst- 
lichen organischen  Farbstoffe  oder  Teer-  auch 
Anilinfarbstoffe  genannt,  künstlicher  Indigo,  Arznei- 
mittel, wie  Salizylsäure,  Salol,  Aspirin,  Aniifebrin, 
Antipyrin,  Sprengstoffe,  wie  Pikrinsäure,  Riechstoffe, 
wie  Mirbanöl,  Antiseptika,  wie  Lysol,  Kreolin,  photo- 
graphische Entwickler,  wie  Hydrochinon,  Rodinal, 
Süßstoffe,  wie  Saccharin,  Dulcin,  Denaturierungs- 
mittel,    wie  Pyridinbasen  u.  v.  a.  m.  hervorgehen. 

(GXJ 


Die  Seefelder  bei  Reinerz  in  Schlesien,  ein  des  Schutzes  bedürftiges  Hochmoor. 

[N«chdruck  verboten.]  Von  Dr.  R.  Kräusel,  Breslau. 


Mit  3  Abbildu 
In  den  letzten  Jahren  hat  die  Naturschutzbe- 
wegung so  großen  Einfluß  in  Deutschland  erlangt, 
daß  es,  obwohl  die  Heimat  von  Hunnen  und  Bar- 
baren, nach  dem  Urteil  berufener  Beobachter  in 
dieser  Hinsicht  den  ersten  Platz  einnimmt.  Aus 
kleinen  Anfangen  hervorgegangen,  können  diese 
Bestrebungen  voller  Genugtuung  auf  das  Erreichte 
zurücksehen,  ist  es  ihnen  doch  gelungen,  nicht  nur 
weite  private  Kreise  für  ihre  Ziele  zu  begeistern; 
auch  alle  örtlichen  und  staatlichen  Behörden  haben 
nunmehr  dieBedeutung  des  Naturschutzes 
gerade  in  unserer  raschlebigen  Zeit  erkannt.  Viel 
Erfreuliches  konnte  schon  geschaffen  werden,  be- 
sonders seit  in  der  preußischen  „Staatlichen 
Stelle  für  Naturdenkmalpflege"  ein  amt- 
licher Mittelpunkt  für  alle  diese  Bestrebungen  ge- 
geben ist,  dem  sich  ähnliche  in  den  mei.-ten  anderen 
deutschen  Bundesstaaten  anreihen.     Daß  sie  noch 


nicht  alle  Pläne  verwirklichen  und  besonders  die 
einzelnenProvinzial-  und  landschaftlichen 
Komitees  bei  weitem  nicht  alle  innerhalb  ihres 
engeren  Arbeitsgebietes  an  sie  herantretenden 
Wünsche  und  Anregungen  nun  auch  in  die  Tat 
umsetzen  konnten,  wird  keinen  Einsichtsvollen 
veranlassen,  ihre  Tätigkeit  abfällig  zu  beurteilen. 
Abgesehen  von  Schwierigkeiten  mancherlei  Art, 
die  es  zu  überwinden  gilt,  besteht  hier  wie  überall 
zwischen  Erwünschtem  und  wirklich  Erreichbarem 
ein  gewisser  Unterschied,  der  uns  aber  nicht 
hindern  darf,  uns  des  schon  Gewonnenen  zu  freuen. 
Hierbei  sei  bemerkt,  daß  es  weniger  auf  die 
Schaffung  sogenaimter  „Naturschutzparke"  an- 
kommt, wie  sie  manche  Kreise  mit  gewiß  löb- 
lichem Eifer  als  Zufluchtstätten  der  durch  die 
Kultur  bedrohten  Tier-  und  Pflanzenwelt  anstreben 
und   dabei  so  weit  gehen,  bereits  verschwundene 


66o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


oder  gar  fremde  Lebewesen  anzusiedehi.  Viel- 
mehr ist  es  die  vornehmste  und  auch  dringendste 
Aufgabe  der  Naturdenkmalpflege,  die  zahlreichen, 
überall  im  Gebiet  zerstreuten  und  oft  nur  kleinen 
Bezirke,  wo  sich  die  Natur  noch  ungestört  durch 
die  Einflüsse  der  Kultur  erhalten  hat,  in  ihrer 
Ursprünglichkeit  zu  bewahren  und  gesetzlich 
zu  schützen,  ehe  es  zu  spät  ist.  Daß  es  dabei 
nicht  lediglich  auf  den  Schutz  von  bemerkens- 
werten Bäumen,  eratischen  Blöcken  usw.  ankommt, 
liegt  auf  der  Hand.  Wie  bedeutend  umfassender 
und  vielseitiger  die  Aufgaben  der  Naturdenkmal- 
pflege  sind,  kann  ein  jeder  aus  den  von  der 
Staatlichen  Stelle  und  den  einzelnen  Komitees 
herausgegebenen  Berichten  ersehen,  die  Rechen- 
schaft über  die  bisher  geleistete  Arbeit  geben. 

Unter  den  Gebieten,  die  des  Schutzes  besonders 
dringend  bedürfen,  stehen  die  Moore  mit  ihrer 
eigenartigen  Flora  und  Fauna  an  erster  Stelle, 
sind  sie  doch  durch  die  gerade  seit  Ausbruch  des 
Krieges  bedeutend  ausgedehnte  Moorkultur  aufs 
höchste  gefährdet.  Da  ist  es  ein  Verdienst  des 
„Schlesischen  Provinzialkomitees  für 
Naturdenkmalpflege"  nicht  minder  wie  der 
„Schlesischen  Gesellschaft  für  vater- 
ländische Kultur",  die  schon  so  viel  für  die 
Erforschung  der  Provinz  getan,  in  jüngster  Zeit 
die  Aufmerksamkeit  auf  ein  Gebiet  gelenkt  zu 
haben,  das  ganz  unverdienterweise  in  Vergessen- 
heit geraten  war.  Ich  meine  die  Seefelder  bei 
Reinerz,  neben  den  weitgedehnten  Mooren  des 
Isergebirges  das  größte  und  höchstgelegene  Hoch- 
moor der  Sudeten. 

Im  äußersten  Osten  der  Westsudeten  südlich 
des  bekannten  Bades  der  Grafschaft  Glatz  gelegen, 
erstreckt  es  sich  dicht  an  der  Landesgrenze,  aber 
noch  völlig  auf  preußischem  Gebiete.  Es  ruht 
auf  der  tonigen  Plänerkalkplatte,  welche  die  Mulde 
zwischen  den  von  Nordwest  nach  Südost  streichen- 
den Kämmen  des  Adler-  und  Habelschwerdter 
Gebirges  bedeckt,  und  zeichnet  sich  dadurch  aus, 
daß  es  sein  Wasser  an  zwei  verschiedenen  Meeren 
zuströmende  Flußsysteme  abgibt.  Nahe  dem  Ost- 
rand des  Moores  entspringt  die  zur  Elbe  ziehende 
Erlitz,  während  im  Westen  ein  Teil  seines  Wassers 
durch  den  Rehdanzgraben  der  Reinerzer  Weistritz 
und  damit  der  Oder  zufließt.  Es  ist  eine  allge- 
mein verbreitete  Ansicht,  daß  dieser  zweite  Abfluß 
erst  um  die  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  künstlich 
geschaffen  wurde,  als  der  Forstmeister  R  e  h  d  a  n  z 
den  nach  ihm  genannten  Entwässerungsgraben 
anlegte,  der  das  ganze  Moor  in  etwa  1600  m  Länge 
durchzieht  und  in  das  schluchtartige  Weistritztal 
mündet.  Die  tiefe,  ganz  dicht  an  den  Westrand 
heranreichendeTalschlucht  legt  indes  die  Vermutung 
nahe,  daß  Rehdanz  einen  schon  vorhandenen 
Abfluß  benutzt  habe,  wo  zumindest  in  nieder- 
schlagsreichen Jahren  ein  Ab-  oder  besser  Über- 
fließen des  Moorwassers  stattfinden  konnte.  Ist 
diese  Auffassung,  die  auch  durch  andere  Gründe 
gestützt  wird,  richtig,  so  können  wir  also  auch  in 
den  eigenartigen  Abflußverhältnissen  eine  ursprüng- 


liche Eigenschaft  des  Gebietes  sehen.  Die  Angaben 
über  seine  Größe  gehen  auseinander.  So  gibt 
Partsch  (Landeskunde  von  Schlesien  i.  1896) 
90  ha  an,  Zacharias  nennt,  einer  älteren  Quelle 
folgend,  353  Morgen  (Zeitschr.  wiss.  Zool.  43. 
1886),  Otto  dagegen  177  ha  (D.  Grafschaft  Glatz. 
1914).  Diese  einander  widersprechenden  Ansichten 
erklären  sich  wohl  aus  dem  verschiedenen  Umfange, 
in  dem  die  Autoren  die  südlich  des  eigentlichen 
Moores  gelegenen,  mit  lichtem  Wald  bestandenen 
„Schwarzen  Sümpfe"  dazu  gerechnet  haben. 
Für  das  Hochmoor  im  engeren  Sinne  gilt  wohl 
die  erste  Zahl.  Es  wird  von  zwei  Wegen  durch- 
quert, an  seinem  Südende  vom  Fouqueweg,  weiter 
nördlich,  etwa  in  der  Mitte,  am  Austritt  des 
Rehdanzgrabens  beginnend,  vom  Rehdanzwege. 
An  ihm  befinden  sich  auch  die  wenigen  ver- 
fallenen Hütten,  die  der  Torfstecherei  dienen.  Diese 
wird  seit  langen  Jahren,  aber  in  sehr  beschränktem 
Umfange  (nur  wenige  Tage  jährlich)  für  rein  ört- 
lichen Bedarf  betrieben  und  hat  entgegen  der 
landläufigen  Ansicht  bis  jetzt  dem  Moor  nur  wenig 
geschadet.  Das  Gleiche  gilt  von  der  in  ähn- 
lichem Zustande  befindlichen  Entwässerungsanlage. 
Partsch  meint  allerdings,  daß  seh  ihrer  Anlage 
die  Wasserabgabe  merklich  beschleunigt  und  jeden- 
falls das  weitere  Vordringen  des  Moores  gegen  den 
Wald  unmöglich  gewesen  sei.  Die  Mächtigkeit  der 
Torfbildung  beträgt  am  Rande  stellenweise  etwa  6  m, 
ist  aber  in  der  Mitte,  nach  der  das  Moor  sanft 
ansteigt,  bedeutend  größer.  Hier  finden  sich  in 
einer  Seehöhe  von  751  m  eine  ganze  Anzahl  kleiner 
kreisförmiger  Teiche,  deren  klares  Wasser  bis  10  m 
tief  ist.  Sie  sind  gelegentlich  als  Reste  einer 
größeren  zusammenhängenden  Wasserfläche  ange- 
sehen worden,  doch  ist  dies  höchst  unwahrschein- 
lich. Seit  alters  her  sind  die  einzelnen  „See- 
pfützen" als  solche  bekannt  und  haben  dem  Moore 
den  Namen  gegeben,  ein  Beweis,  daß  sich  die 
Verhältnisse  nicht  wesentlich  verändert  haben. 
Wohl  erklärlich  ist,  daß  ein  so  ausgezeichnetes 
Gebiet  schon  früh  die  Aufmerksamkeit  auf  sich 
zog.  Zum  ersten  Male  wird  es  im  Jahre  1790 
näher  beschrieben  (Schles.  Provblt.).  Es  kann  nicht 
Aufgabe  einer  kurzen  Schilderung  sein,  eine  Auf- 
zählung der  zahlreichen  späteren  Arbeiten  zu  geben, 
in  denen  Milde,  Goeppert,  Zeller,  Stand- 
fuß, Zacharias  u.  a.  wertvolle  Beiträge  zur 
Erforschung  von  Flora  und  Fauna  lieferten,  zumal 
eine  von  anderer  Seite  begonnene  floristische 
Monographie  des  Moores  wohl  in  Bälde  vorliegen 
dürfte.  Eine  solche  eingehende,  zusammenfassende 
Arbeit  fehlt  bisher  aber  vollständig.  Dies  hat  seine 
Ursache  einmal  darin,  daß  die  Untersucher  stets 
nur  ganz  bestimmte,  eng  umgrenzte  Ziele  im 
Auge  hatten,  erklärt  sich  zum  Teil  aber  auch  aus 
dem  Umstand,  daß  seit  der  durch  Rehdanz  ge- 
schaffenen Entwässerungsanlage  und  der  Tatsache 
der  Torfgewinnung  mehr  und  mehr  die  Ansicht 
Raum  gewann,  die  Ursprünglichkeit  des  Moores 
sei  zerstört  und  dieses  dem  Untergang  geweiht. 
Selbst  in  weitverbreitete  Reisehandbücher  hat  diese 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


66 1 


ganz  falsche  Meinung  Eingang  gefunden,  und  sie 
erwähnen  die  Seefelder  nur  flüchtig,  fast  möchte 
man  sagen,  in  historischem  Sinne.  So  kommt  es, 
daß  die  große  Menge  der  Gebirgswanderer  — 
sollen  wir  sagen  glücklicherweise?  —  achtlos  an 
ihnen  vorübergeht.  Erstaunen  erregte  es  daher 
vielleicht  mancherorts,  als  die  „Schlesische 
Gesellschaft  für  vaterländische  Kultur" 
und  die  „Provinzialstelle  für  Naturdenk- 
malpflege" gerade  die  Seefelder  als  einziges 
großes,  typisches  Gebirgshochmoor  der  Provinz 
(dasisermoor  ist  größtenteils  österreichisch)  für  wert 
hielten,  als  Naturdenkmal  geschützt  und  erhalten 
zu  werden.  In  Verfolg  dieser  Bestrebungen  wurde 
das  Gebiet  eingehend  untersucht  (E  i  n  g  e  1  s  li  e  i  m , 
Bericht  über  einen  Besuch  des  Hoclimoores  „die 
Seefelder"  bei  Reinerz,  Jahresber. Schles.  Ges.  1916; 
Ders.,  Über  eine  interessante  Wuchsform  der  Fichte, 
Mitt.  deutsch,  dendrol.  Ges.  25,  1916),  wobei  sich 
ergab,  daß  von  einer  auch  nur  allmählichen  Ver- 
nichtung —  vorläufig  wenigstens  — •  nicht  die  Rede 
sein  kann  und  die  unvollkommenen  Entwässerungs- 
und Torfgewinnungsanlagen  den  ursprünglichen 
Charakter  kaum  gestört  haben.  So  erklärt  es  sich, 
daß  die  philosophische  Fakultät  der  Breslauer 
Friedrich- Wilhelmsüniversität  eine  Preisarbeit  aus- 
geschrieben hat,  die  die  Flora  des  Moores,  ihre 
pflanzengeographische  und  ökologische  Stellung 
behandeln  soll.  Daher  ist  zu  hoffen,  daß  recht 
bald  eine  wenigstens  in  botanischer  Hinsicht  ein- 
gehende Monographie  vorliegen  wird.  Für  das 
Gebiet  der  höheren  Pflanzen  mehr  zusammen- 
fassender Natur,  dürfte  sie  für  die  schlesische 
Thallophytenflora  zahlreiche  neue  Ergebnisse 
zeitigen. 

Aus  diesen  Gründen  soll  hier  nur  eine  flüchtige 
Schilderung  des  so  interessanten  Gebietes  folgen. 
Von  dem  am  Ostabhange  der  „Hohen  Mense" 
gelegenen  Dörfchen  Grunwald  bieten  sich  die 
Seefelder  dem  Blick  als  scheinbar  kahle  braun- 
grüne Flächen  dar,  vom  Dunkel  des  Fichtenwaldes 
umgeben,  dessen  innerster  Rahmen  sich  als  schmaler, 
hellerer  Streifen  abhebt.  Zahlreiche  dunkle  Flecken 
lassen  erkennen,  daß  die  Felder  von  zerstreuten 
Busch-  und  Baumgruppen  bedeckt  sind.  Deut- 
lich sieht  man  die  einzelnen  „Seepfützen"  sowie 
die  über  das  Moor  führenden  Dämme  mit  den 
Torfliülten.  Wollen  wir  es  selbst  begehen  und 
steigen  den  schmalen,  aus  dem  Tal  der  Weistritz 
emporführenden  Pfad  hinauf,  so  umgibt  uns  dunkler, 
hochstämmiger  F'ichtenwald.  Noch  besser  ist  es, 
wir  wählen  den  allerdings  beschwerlichen  .Aufstieg 
durch  das  schluchtartige,  von  steilen  Wänden  be- 
grenzte und  mit  Geröll  und  h'elstrümmern  bedeckte 
Abflußtal  des  Rehdanzgrabens,  in  dem  uns 
schon  mancherlei  durch  das  Wasser  herabgeführte 
Moorpflanzen  begegnen.  Bald  erreichen  wir  die 
Höhe  und  befinden  uns  mitten  im  Moor,  das  bei 
einiger  Vorsicht  ohne  weiteres  begangen  werden 
kann.  Der  Wechsel  des  Landschaftsbildes  ist 
überraschend  und  die  Grenze  äußerst  scharf  aus- 
geprägt.    Jene  hellgrüne  Randzone  wird  von  teils 


hochstämmigen,  teils  mehr  straucliartigen  Moor- 
birken {Bcfiila  piibcscciis  Ehrb.)  gebildet,  die  in 
deutlichen  Gegensatz  zur  Umgebung  treten.  Nach 
innen  zu  werden  sie  lichter,  um  schließlich  ebenso 
wie  die  nur  hie  und  da  noch  eingestreuten  Fichten 
{Picea  cxccha  (L.)  Link)  ganz  zurückzutreten. 
Nur  äußerst  selten  treffen  wir  im  Innern  des  Moores 
kleine,  kümmerliche  Fichtenstämmchen,  die  aber 
schon  nach  wenigen  Jahren  als  Opfer  des  unwirt- 
lichen Bodens  dahinsterben. 

Die  Bodenvegetation  bietet  nicht  überall  das 
gleiche  Bild.  Auf  weite  Strecken  hin  sind  die 
üppigen  Moospolster,  die  an  trockeneren  Stellen 
neben  zahlreichen,  darunter  recht  seltenen  Torf- 
moosarten {SpJiaguiuii)  auch  manche  andere 
Spezies  sowie  Plechtcn  und  Pilze  enthalten,  durch 
kuppeiförmige  Büschel  des  Wollgrases  {EriopJio- 
niDi  vagiiiiüiiin  L.)  u.  a.  vollständig  verdeckt,  an 
anderen  Stellen  herrschen  Vaccinien,  darunter 
die  typischen  Moorbewohner  /'.  ().x\coccus\^.,  die 
Moosbeere,  und  \  1  nligiih>^inii  L.,  die  R a u s c h  - 
beere,  in  Gemeinschaft  mit  ChÜujki  -ntlgai-is  L.  und 
den  zierlichen  Gestalten  von .  ludroincdn  Polifolin  L. 
dem  wilden  Rosmarin.  Dagegen  scheint 
Lcdiiiii  pnliisirr  L.,  der  Sumpfporst,  ganz  zu 
fehlen,  der  schon  in  dem  ältesten  Bericht  (a.  a.  O.) 
als  äußerst  selten  bezeichnet  wird.  Nach  Zacharias 
käme  er  allerdings  geradezu  „massenhaft"  vor 
(a.  a.  O.).  Ob  dieser  unzweifelhafte  Irrtum,  wie 
Lingelsheim  meint,  auf  einer  Verwechslung 
mit  Aiidroiiu'da  beruht,  mag  dahingestellt  bleiben. 
Dagegen  spräche,  daß  Zacharias  an  anderer 
Stelle  (Zacharias,  Ein  Spaziergang  nach  den 
Seefeldern  bei  Reinerz,  1886)  beide  Pflanzen  ganz 
richtig  abbildet,  doch  ist  diesem  Umstände  bei 
seinen  scheinbar  recht  flüchtigen  botanischen  An- 
gaben nur  wenig  Wert  beizulegen.  Jedenfalls  ist 
es  bisher  weder  Lingelsheim  und  mir  noch 
anderen  Untersuchern  gelungen,  auch  nur  ein 
Exemplar  des  Sumpfporstes  zu  finden. 

Während  in  manchen  Bezirken  das  Woll- 
gras allein  herrscht,  tritt  es  in  anderen  gegen- 
über jenen  kleinen  Halbsträuchern  vollständig  zu- 
rück, so  daß  das  Bild  ganz  verschieden  ist.  In 
noch  höherem  Grade  aber  gilt  dies  von  der 
nächsten  Umgebung  der  Seepfützen.  Üppig 
wuchernde  .sy'////o^;///wpolster  verdrängen  alles 
andere,  von  zahlreichen  QvLXzritn  durchsetzt, 
unter  denen  C.  fxuiciflora  Lghtf.  und  C.  liinosn  L. 
Beispiele  seltener  Arten  sind.  Die  zierlichen 
Rosetten  des  Sonnentaus  {Drosera  rofnndifolia 
L.,  I>.  aiiglira  Hds.),  Seheiic/izeria  pal/is/ris  L., 
Rliyiiehnsp'ira  alba  Vahl  und  andere  typische  Moor- 
und  Sumpfpflanzen  finden  hier  die  Bedingungen 
für  üppiges  Wachstum.  Llnmöglich  ist  es  an  den 
meisten  Stellen,  bis  an  den  Rand  des  Wassers  zu 
treten.  Da  die  Polster  an  der  Oberfläche  von 
außen  nach  innen  zu  immer  weiter  wachsen,  bilden 
sie  schon  in  einiger  Entfernung  vom  Rande  eine 
nur  trügerische,  unter  dem  Fuß  hin-  und  her- 
schwankende, schwammige  Masse.  Mehrere  Gebirgs- 
bewohner sollen  hier  ihren  Tod  gefunden  haben; 


662 


Naturwissenschafliichc  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Vorsicht  ist  also  am  l'latze.  Einige  der  Teiche 
sind  schon  ganz  verlandet  (Abb.  ij.  Die  im  süd- 
lichen, trockneren  Teil  des  Moores  gelegenen  da- 
gegen besitzen  festere  Ufer,  wo  die  Vaccinien 
lusw.  dicht  an  das  Wasser  hei  antreten. 

So  lassen  sich  auf  dem  doch  verhäUnisniäßig 
kleinen  Gebiete  des  Moores  ganz  deullicli  schon 
jetzt  drei  Hauptformationen  unterscheide^ ,  die 
scharf  voneinander  getrennt  sind,  der  S])h;ig- 
numsumpf  in  der  nächsten  Umgebung  derTcichc, 
:das  Gebiet  der  Vaccinien  und  der  Bezirk  des  Woll- 
grases. Eingehende  Untersuchung  der  Siandoi  is- 
verhältnisse  der  einzelnen  Aiten  erniögliclit  eine 
weitere .  Gliederung.  Hierzu  tieicn  als  weitere 
E'ormationen  die  schon  erwähnte  Randzonc  des 
Moores  sowie  die  Seepfützen  selbst.     Sie  enthalten 


vorhanden  sein  müßten.  Gebüsch-  und  parkartiger 
Wuchs  war  daher  allem  Anschein  nach  auch  ehe- 
dem die  Regel.  Gebildet  wird  diese  Gebüsch- 
f  o  r  m  a  l  i  o  n  fast  ausschließlich  von  der  auf  Moore 
beschränkte  Moor-  oder  Hakenkiefer  (Piiii/s 
iiihiiialn  Ram.).  In  einzelnen  bruppen  wachsend, 
b)ldci  sie  hier  hohe,  dort  niedrigere  mehr  oder 
weniger  \x:kiüppelte  Stämme,  bald  kriecht  sie  am 
Hodcu  dahin  wie  echtes  Knieholz,  von  dem  sie 
dann  ohne  Zaijfen  kaum  zu  unterscheiden  ist 
(.Abb.   1).     Auf  diesen  Umstand  ist  wahrscheinlich, 


icderhohe  Angabe  über  das  ;Vor- 
rchten  Knieholzes  zurückzuführen. 
1  il<c.  fehlt  den  Seefeldern  durchaus. 
'  ;  man  an  den  Zweigen  der  Kiefern 
../  n\(>iiila  L.  erzeugte  Harzgalle. 


.Abb.    1. 
„Seepfülze" ;  im  Vordergriindc 


Kräüscl  ph( 
Gruppen  der  Moorkiefer. 


eine  Algenflora,  deren  Reichhaltigkeit  auch  noch 
nicht  annähernd  bekannt  ist,  erwähnt  doch  die  große 
schlesische  Kryptogamenflora  C  o  h  n  s  nur  i  5  .Arten. 
Schon  jetzt  läßt  sich  sagen,  daß  es  in  Wirklich- 
keit viel  mehr  sind.  Darunter  finden  sich  auch 
Formen,  die  für  Schlesien  gänzlich  neu  sind.  Üppige 
Rasen  bilden  in  allen  Teichen  die  schönen  Rhodo- 
phyceen  Iln/rdc  /i^xpiriiiinii   iinnillitcniic  Roth,  luid 


JLvat:, 


Ag.,  welch  letztere  zu  den  seltensten  Arten 


der  formenreichen   Gattung  zu  rechnen  ist. 

Geschlossener  Baumbestand  fehlt  dem  Moore 
ivoUständig,  was  wohl  ebenfalls  als  ursprünglicher 
Zustand  anzusehen  ist,  Zwar  soll  es  nicht  immer 
so  gewesen,  der  ehemalige  Wald  nach  alten  ]5e- 
■richten  vielmehr  erst  1797  durch  einen  Waldbrand 
vernichtet  worden  sein.  Es  scheint  aber,  daß  die 
-Tragweite  dieses  lüeignisses  sehr  übertrieben 
■worden  ist;  denn  nirgends  fanden  sich  bisher  in 
dem  Moor  größere  Baumstümpfe;    die  dann  doch 


Die  mannigfachen  Kieferngruppen  bieten  ein 
eigenartiges,  bei  jedem  Schritt  wechselndes  Bild, 
zumal  sie  oft  dicht  mit  Flechten  behangen  sind. 
Im  südlichen  Teil  des  Moores,  dessen  Untergrund 
trockner  ist,  mischen  sich  mit  ihnen  zahlreiche  selt- 
same Knüppelgestalten  der  Moorbirke  (Abb.  2). 
Der  Baumwuchs  ist  reicher  und  macht  den  Eindruck 
eines  in  toller  Laune  geschaffenen  Parks.  Hierzu 
tragen  noch  zahlreiche  Strauchformen:  der  Fichte 
von  ganz  absonderlicher  Gestaltung  bei.  Bald  sind 
es  einzelne  kleine,  aber  auch  höhere  Bäume,  bald 
eng  verflochtene  Gruppen  solcher.  .Alle  aber 
erscheinen  sie  wie  mit  der  Schere  zugestutzt  als 
Kugel-,  Kegel-  oder  Pyramidenformen,  deren  dichtes 
unentwirrbares  Gezweig  bis  auf  die  Erde  herab- 
reicht. Auch  sie  werden  von  Flechten  überwuchert, 
die  so  manche  Kiefer  und  Fichte  erstickt  haben. 
Wo  mehrere  solcher  abgestorbener  Bäume  zu- 
sammenstehen,   erhöhen  sie  in  scharfem  Kontrast 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


663 


die  Eigenart  des  Bildes.  Indem  an  manchen  bei  1 
Stellen  der  Gebüsche  sich  all  diese  Raumtypen  zu  der 
eng  verschlungeneti  Gruppen  Vereinigen,  ergeben      der 


Kniippelfo 

sich  Bilder  von  höchstem  Reiz,  die  die  Worte  voi 
Partsch  über  das  „trübselige  l.andschafisbild 
als  unberechtigt  erscheinen 
lassen  (Abb.  3).  Weder 
Schncedruck  noch  Wildver- 
biß können  als  Ursacheder 
auffallenden  auf  das  Moor  be- 
schränkten Wuchsform  der 
Fichte  in  Frage  kommen, 
wie  Lingelshei  m  nach- 
weist, weshalb  er  sie  mit 
Recht  als  eine  durch  Ein- 
wirkung des  Untergrundes 
bedingte  Abart  ansieht 
[Picea  i.xcclsii  (L.)  Link, 
i./iir/osd  Lingelsh.).  Gegen 
die  Annahme,  daß  es  sich 
um  eine  Frosterscheinung 
handelt ,  spricht  der  Um- 
stand, daß  die  Wuchsform 
streng  an  das  Moor  ge- 
bundenist. Sollte  Li  ngels- 
heims  Ansicht,  wie  ich  an- 
nehme, berechtigt  sein,  so 
dürfte  die  eigenartige  Va- 
rietät sich  auch  auf  andern 
Mooren  nachweisen  lassen. 
Zu  diesen  merkwürdigen 

Holzgewächsen    tritt  neben  Parkartige   Laadi 

einigen  kleinblättrigen  Wei- 
den als  kostbarste  Seltenheit  schließlich  die  Zwerg- 
birke {l'uiiila  nana  L.)  'Lingelsh  e  i  m  gibt  für  dieses 


ins  durchaus  auf  einige  Moore  beschränkte  Relikt 
Eiszeit  zwei  Standorte  auf  dem  nördlichen  Teil 
Seefelder  an.  Ich  fand  sie  auch  südlich  des 
Rehdanzweges  in  reichen 
und  stattlichen  Beständen. 
In  allen  Fällen  wachsen  die 
bis  meterhohen  Sträucher 
in  der  Umgebung  dfcr 
offenen  Teiche,  gehen  aber 
zerstreut  auch  in  die  mit 
Kiefern  bedeckte  Zone  über. 
Auch  ein  Bastard  der  beiden 
Birkenarten  ist  in  vereinzel- 
ten Stücken  nachgewiesen 
worden.  Die  Zwergbirke 
besitzt  hier  neben  dem 
Isermoor  ihren  einzigen 
schlesischen  Standort.  Aber 
wenn  sie  auch  ziemlich  zahl- 
reich ist  und  gut  gedeiht, 
dürften  ihre  Tage  doch  ge- 
zählt sein,  wenn  nicht  bald 
durchgreifende  Schutzmaß- 
regeln ergriffen  werden. 

Was  nun  die  Fauna 
der  See  fei  der  angeht, 
möge  ein  ganz  kurzer  Hin- 
weis genügen.  Typische 
Vertreter  der  höheren 
Tiere  fehlen.  Nur  einige 
lenten  und  Taucher  nisten  schon  seit  mehreren 
cn   in    einem  Teiche.      Beachtenswert  ist  da- 


.^bb.  ,3. 

:haft  mit  Moorbirken   und  Moorformen 


Lingelsheim  plio 
Fichte. 


gegen,  daß  die  weite  Fläche  ein  (  )rl  ist,  wo  sich 
im  Frühjahr  Auer-   und  Birkwild  in  größerer  Zahl 


664 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


zur  Balz  vereinigen  und  das  Hochwild  der  um- 
gebenden Wälder  mit  Vorliebe  seine  Liebeskämpfe 
austrägt.  Reich  ist  das  Gebiet  an  Insekten,  na- 
mentlich Schmetterlingen,  von  denen  Stand  fuß 
eine  lange  Reihe  nennt  (Standfuß,  G.,  Lepi- 
dopterologische  Beiträge  zur  Kenntnis  der  See- 
felder. Ztsch.  Entom.  Breslau  1850).  Unter  ihnen 
befinden  sich  als  Naturdenkmäler  die  seltenen 
Arten  Colias  (^alacno  L.,  Lyraciia  uMihte  Knoch, 
DipldJura  alpiiim  Osbeck,  l'cHlaiiipa  oriiicsn  1  hv., 
^b/diia  iorii/ii;cnt  Thnbrg.,  Lurnilin  iiinirsahi 
(Pax,  über  die  Gefährdung  entomologischer  Natur- 
denkmäler in  Schlesien.  8.  Jahresh.  Ver.  scliles. 
Insektenkunde,  191 5),  während  Zacharias,  der 
die  Fauna  der  Teiche  erforschte,  zwei  äußerst 
seltene  Rotatorienformen  nachweisen  konnte,  von 
denen  die  eine,  Liiiiiiins  spluigiiicohi  Zach.,  von 
allen  Autoritäten  als  besondere  Varietät  anerkannt, 
bis  heute  noch  von  keinem  anderen  I-'undort  be- 
kannt geworden  ist. 

Schon  diese  groben  Striche,  in  denen  ich  ver- 
sucht habe,  ein  Bild  der  Seefelder  zu  entwerfen, 
lassen  unzweifelhaft  erkennen,  daß  wir  ein  äußerst 
charakteristisches  Hochmoor  vor  uns  haben,  dem 
in  seiner  ganzen  Ausbildung  an  Eigenart  nur 
wenige  gleichkommen.  Eine  Fülle  seltener  Moor- 
pflanzen ist  auf  ihm  vereint,  dazu  gesellen  sich 
höchst  bemerkenswerte  Tierarten.  Daß  dieses 
Gebiet  des  Schutzes  wert  ist,  bedarf  danach  keiner 
weiteren  Beweise.  Allein  das  Vorkommen  der 
Zwergbirke,  dieses  nordischen  Relikts,  und  von 
Colias  palacno  rechtfertigt  das  Verlangen  danach 
vollkommen.  Auch  der  Einwand,  daß  bisher  ja 
das  Moor  keinen  beträchtlichen  Schaden  erlitten 
habe,  ist  nicht  stichhaltig.  Einmal  ist  die  Gefahr 
der  intensiven  Torfgewinnung  zwar  glücklich  ab- 
gewendet worden,  die  einer  völligen  Vernichtung 
für  Fauna  und  Flora  gleichkommen  würde;  sie 
kann    aber    jederzeit  wiederkehren,  zumal  gewisse 


Kreise  noch  immer  mit  dem  Gedanken  einer  Aus- 
beutung der  Torflager  spielen,  die  sich  wegen  der 
Entlegenheit  des  Gebirgsmoores  indessen  kaum 
lohnen  dürfte.  Und  ebenso  gilt  dies,  nachdem  dieAuf- 
merksamkeit  erneut  auf  das  Gebiet  gerichtet  worden 
ist,  von  einem  stärkeren  Besuch  durch  die  Gäste 
der  umliegenden  Bäder  und  Sommerfrischen.  Dann 
ade  Seefelder!!  Wie  lange  noch,  und  die  letzte 
Zwergbirke  wäre  vernichtet,  die  letzte  Colins  ge- 
flogen. ')  Wer  denkt  da  nicJit  an  das  Schicksal  des 
schlesischen  Apollofalters,  Paiiiassi/is  apollo  silc- 
siaii/is,  der  heute  in  den  Sudeten  völlig  ausgerottet 
ist,  oder  der  in  den  Strehlener  Bergen  vorkom- 
menden Pericallia  iiin/ro/i/ila,  „an  deren  Standort 
zur  Flugzeit  die  Zahl  der  sammelnden  ,,,, Entomo- 
logen"" diejenige  der  vorhandenen  Tiere  bei  weitem 
übertrifft!"  (Fax,  Wandlungen  der  schlesischen 
Tierwelt  in  geschichtlicher  Zeit,  Beitr.  Natur- 
denkmalspfl.  V,  1916).  Daß  die  Seefelder  vor 
einem  ähnlichen  Schicksal  auch  in  Zukunft  be- 
wahrt bleiben  möchten,  muß  der  Wunsch  eines 
jeden  Heimat-  und  Naturfreundes  sein.  Heimatliche 
wie  wissenschaftliche  Interessen  verlangen  ihren 
Schutz  aufs  dringendste.  Ich  schließe  daher  mit 
dem  Wunsche,  daß  die  Bemühungen  der  .Staat- 
lichen und  provinziellen  Stelle  für  Naturdenkmal- 
pflege, das  ganze  Moor  nebst  dem  es  um- 
schließenden Waldgürtel  zum  Naturschutz- 
gebiet zu  machen,  bei  dem  Besitzer  des  Ge- 
bietes, dem  Königlich  Preußischen  Fiskus,  ver- 
ständnisvolles Entgegenkommen  finden  und  ihnen 
voller  Erfolg  beschieden  sein  möchte. 

•)  Wie  berechtigt  diese  Befürchtung  ist,  erhellt  aus  der 
Tatsache,  daß  sich  schon  in  diesem  Sommer  die  unheilvollen 
Folgen  stärkeren  Besuchs  bemerkbar  gemacht  und  namentlich 
die  Zwergbirken  durch  sinnloses  .Abreißen  von  Zweigen  sehr 
gelitten  haben.  Nach  den  Berichten  der  Korstieute  zeichneten 
sich  hierbei  namentlich  zahlreiche  Schülergruppen  aus,  die  das 
Moor  in  Begleitung  ihrer  Lehrer  (!)  besuchten. 


Einzelberichte. 


Forstwirtschaft.  Kaninchenjagd  mit  dem 
I'Vettchen.  Seit  alters  wurde  die  Kaninchenjagd 
vornehmlich  unter  Zuhilfenahme  eines  Frettchens 
betrieben.  Das  Frettchen  {Foc/oriiis  Fnni) 
gehört  der  Gruppe  der  eigentlichen  Marder  an 
(AliistcUdcii],  innerhalb  der  es  mit  dem  Iltis 
[Foiinri/is  p/i/nriits)  die  größten  Verwandtschafts- 
züge aufweist.  H  i  1  z  h  e  i  m  e  r  geht  so  weit,  das 
Frettchen  überhaupt  nur  den  „albinotischen  Ab- 
kömmling des  Iltis"  zu  nennen,  „der  sich  von  der 
Stammform  durch  nichts  als  blaßgelbe  Farbe  und 
die  roten  Augen  unterscheidet".  Diese  Ansicht 
ist  freilich  nicht  von  jeher  geteilt  worden.  So 
weist  Klaus  Bode  (Kosmos  1917  Xr.  6)  darauf 
hin,  daß  schon  Johann  von  Fischer,  der  im 
Jahre  1888  in  einer  Denkschrift  über  seine  Unter- 
suchungen über  die  Abstammung  des  Frettchens 
berichtet  hat,  betonte,  daß  „das  P'rettchen  vom 
Iltis  ganz  streng  spezifisch  verschieden  ist  und  die 


durch  künstliche  Zuchtwahl  festgelegte  Albinoform 
von  einem  ausgestorbenen  oder  im  wilden  Zustand 
noch  nicht  aufgefundenen  iltisähnlichen  Tier  her- 
rührt". Jedenfalls  sind  heute  zweierlei  Arten 
des  Frettchens  zu  unterscheiden:  die  am  meisten 
genannte  Albinoform,  deren  Pigmentmangel  erblich 
festgelegt  ist  und  die  häufig  gezüchtet  wird,  und 
eine  Form,  die  ihre  Entstehung  einer  Kreuzung 
zwischen  Iltis  und  Frettchen  verdankt.  Die  Jagd 
mit  dem  Frettchen  auf  die  Kaninchen  verläuft 
nach  der  Scliilderung  Robert  Kofferath's  in 
der  „Deutschen  Jägerzeitung"  (Bd.  69  1917  Nr.  29) 
sehr  einfach:  Es  werden,  bevor  das  Frettchen  in 
den  Kaninchenbau  eingelassen  wird,  die  verschie- 
denen Ausgänge  dieses  Baues,  die  man  natürlich 
vorher  erkunden  muß,  mit  Netzen  oder  Hauben 
überdeckt.  Macht  dann  das  Frettchen  im  Bau 
Jagd  auf  das  Kaninchen,  so  treibt  es  die  Tiere 
ohne  weiteres,  wenn  sie  auf  der  Flucht  aus  ihrem 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


665 


Bau  hinauseilen,  in  diese  Netze  hinein.  Die  Jäger 
harren  an  den  einzelnen  Ausgängendes  Kaninchen- 
baues und  erbeuten  dort  ohne  viel  Mühe  die  Nager, 
die  sich  in  den  Netzen  verfangen  haben.  Um  zu 
verhindern,  daß  das  Frettchen  gleich  im  Bau  sich 
über  eines  der  Kaninchen  hermacht,  legt  man  ihm 
gewöhnlich  einen  Maulkorb  an.  Früher  übte  man 
zu  diesem  Zweck  die  rohe  Methode,  dem  Frettchen 
die  Lippen  zuzunähen.  Allerdings  vergreift  sich 
das  Frettchen  auch  trotz  des  Maulkorbs  manchmal 
an  einem  Kaninchen  im  Bau.  Kehrt  es  gar  zu 
lange  nicht  zurück,  so  braucht  der  Jäger  nur  das 
Holzkistchen,  in  dem  das  Frettchen  zum  Bau  ge- 
bracht wurde,  vor  den  einzig  offenen  Ausgang  des 
Baues  zu  stellen.  Dort  wird  er  es  nach  einigen 
Stunden  ruhig  schlafend  darinnen  liegen  finden. 
Die  Kaninchenwolle  an  seinem  I'ang  zeugt  dann 
von  seinen  Taten.  Diese  Jagdart  auf  Kaninchen 
ist  besonders  im  Herbste  lohnend,  wenn  bei 
Eintritt  naßkalter  Witterung  die  Tiere  sich  wieder 
regelmäßiger  in  ihrem  Bau  versammeln.  Das 
Frettieren  zu  früher  Morgenstunde  schafft  da  oft 
recht  ergiebige  Beute.  H.  W.  F"rickhinger. 

Geologie.  Wasserversorgung  durch  offene 
Gräben,  Sickerung,  Drainage  bespricht  Major 
W.  Kranz  in  der  Zeitschr.  für  praktische  Geo- 
logie 19 17,  H.  I. 

Hygienisch  wenig  einwandfrei,  aber  bisweilen 
notwendig,  ist  die  Fassung  von  Trink-  und  Ge- 
brauchswasser durch  offene  Gräben.  Allerdings 
ist  hierbei  mit  böswilligen  und  zufälligen  Verun- 
reinigungen, dem  Zuwachsen  durch  die  Vegetation, 
dem  Einfrieren,  Schneeverwehungen  sowie  schwan- 
kenden Temperaturen  zu  rechnen.  Zur  Trink- 
wasserversorgung sollte  man  offene  Gräben  tun- 
lichst nicht  verwenden. 

Hygienisch  besser  ist  die  Fassung  von  Grund- 
und  (Juellwasser  durch  begeh-  oder  schlupfbare 
Sammelstollen,  die  sich  leicht  beaufsichtigen  lassen, 
durch  Sammelrohre  aus  gebranntem  Ton,  Beton 
oder  Eisen,  gelochte  Steinzeugrohre  oder  durch 
Sickerungen  und  Drainagen  da,  wo  der  Grund- 
wasserträger wenig  mächtig  oder  schwach  durch- 
lässig ist.  Trinkwasser-Sickerungen  und  -Drainagen 
müssen  sorgfältig  gegen  ungenügend  filtrierte 
Tagewässer  abgedichtet  werden.  Die  Abdich- 
tungen, welche  aus  gestampftem  Ton,  fettem 
Mergel,  tonigem  Lehm,  Beton  oder  Mauerwerk 
mit  wasserdichtem  Verputz  bestehen  können, 
sollen  seitlich  in  die  Grubenwände  eingreifen  und 
möglichst  an  undurchlässige  Bodenschichten  an- 
schließen. Oberflächenwasser  muß  möglichst 
durch  gute  Abwässerung  abgeführt  werden.  Trink- 
wasser-Drainagen  und  -Sickeruiigen  dürfen  nicht, 
wie  es  auf  dem  Lande  aus  Sparsamkeitsrücksichten 
oft  geschieht,  zu  nahe  der  Geländeoberfläche 
liegen,  da  dann  Versiegen  bei  trockener  Witterung, 
Trüblaufen  bei  anhaltendem  Regenwetter,  und 
Verseuchung  mit  Bakterien  gar  zu  leicht  eintreten 
können. 


Abwässerdrainagen  werden  gegen  Eindringen 
von  ( )berflächenwasser  absichtlich  nicht  geschützt, 
so  daß  ihnen  im  Stellungskrieg  leicht  Leichenstoffe, 
Urin,  Kot  und  Abfälle  zugeführt  werden  können. 
Wo  diese  Drainagen  Schützen-  und  Annäherungs- 
gräben schneiden,  entnimmt  vielfach  die  Stellungs- 
besatzung Wasser,  das  bisweilen  zum  Kochen 
freigegeben  wird.  Kranz  hält  dies  besonders  in 
der  heißen  Jahreszeit  für  bedenklich  und  schlägt 
vor,  diese  Drainageleitungen  zu  verstopfen,  da  die 
Truppen  im  allgemeinen  kein  Interesse  an  der 
Trockenlegung  des  Zwischengeländes  haben,  viel- 
mehr ihnen  daran  liegt,  daß  dieses  die  Tagewässer 
möglichst  aufsaugt. 

Ebenso  wie  Brunnen-  und  Ouellfassungen  müssen 
auch  .Sicker-  und  Drainageleitungen  durch  ent- 
sprechende Abstände  von  verunreinigenden  An- 
lagen (Düngung,  Abort-  und  Düngergruben,  Be- 
gräbnisplätze und  dgl.)  geschützt  werden.  Gräben, 
in  denen  Sickerungen  und  Drainagen  eingebaut 
werden  sollen,  sind  möglichst  rechtwinklig  zum 
(jrundwasserstrom  anzuordnen.  Hat  man  nicht 
gleich  die  günstigste  Richtung  getroffen,  so  tut 
man  nach  v.  .Scheu  rlen  gut,  einen  2.  Graben 
senkrecht  zum  ersten  anzulegen.  Die  Gräben 
führt  man  am  besten  zu  einem  Sammelschacht,  von 
dem  aus  das  Wasser  durch  Abessinier  oder  andere 
Pumpen  geschöpft  werden  kann.  Die  Grabensohle 
legt  man  möglichst  nahe  unter  den  wasserführenden 
1  lorizont. 

Die  Fortleitung  des  Wassers  erfolgt  durch  die 
handelsüblichen  gebraunten  Drainageröhren  (30  cm 
lang  und  5 — 22  cm  weit),  welche  man  stumpf 
aneinander  stößt  und  dadurch  sich  \on  selbst 
geringe  Fugenzwischenräume  ergeben,  oder  durch 
gelochte,  glasierte  Ton-,  Zement-,  .Steinzeugröhren 
oder  aber  durch  Kanäle  aus  Backstein.  Ein  starkes 
Durchströmen  durch  die  Röhre  ist  tunlichst  zu 
\ermeiden,  doch  darf  das  Gefälle  auch  nicht  zu 
träge  werden.  Zum  .Schutze  gegen  Eindringen 
von  -Sand,  Ton  oder  Lehm  umgibt  man  die  Röhre 
mit  gewaschenem  Material,  zuerst  mit  groben 
Steinen,  dann  Kies  von  abnehmender  Korngröße 
und  zuletzt  bis  über  den  Sammelwasserspiegel 
Sand  („Sandsperren").  Nach  Fraenkel  genügt 
eine  4 — 6  m  mächtige  Sandschicht  zum  Aufhalten 
von   Wasserkeimen. 

Die  Ergiebigkeit  von  .Sickerungen  und  Drai- 
nagen läßt  sich  nur  auf  geologisch-hydrologischer 
Grundlage  unter  Berücksichtigung  des  Schwankens 
besonders  bei  wenig  tiefen  Fassungen  ermitteln. 
Je  geringer  die  Ergiebigkeit  ist,  um  so  größer 
muß  der  Vorratsraum  im  .Sammelschachte  sein, 
den  man  entsprechend  unter  die  wassertragende 
Grenzfläche  hinab  vertieft.  Da  mit  dieser  Methode 
überall  Wasser  erschlossen  werden  kann,  so  kommt 
dieser  Art  von  Trinkwasserbeschaffung  besondere 
Bedeutung  zu  und  ist  oft  das  einzige  Mittel  zur 
Bereitstellung  der  erforderlichen  Trinkwasser- 
mengen für  Mannschaften,  Pferde  und  Vieh.  Die 
Reinhaltung  der  Umgebung  und  bestmögliche 
Filtration    ist  allererste  Pflicht.     Für    die  Wasser- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Versorgung  größerer  Garnisonen,  von  Truppen- 
übungsplätzen und  dgl.  kommen  Sickerungen  und 
Drainagen  nicht  in  Betracht,  indessen  können 
manchmal  die  Verhältnisse  dazu  zwingen,  wie  es 
bei  der  Wasserversorgung  englischer  und  franzö- 
sischer Städte  der  Fall  ist.   (G.c.)    V.  Hohenstein. 

Die  nutzbaren  Mineralien  des  Pamir  unterzieht 
Arved  Schultz  in  seinen  „Landeskundlichen 
Forschungen  im  Pamir"  (Abhandlungen  des 
Hamburgischen  Kolonialinstituts)  kritische  Unter- 
suchungen. 

Gold  findet  sich  in  folgenden  Flüssen:  Tanimes, 
Bartang.  Der  Abbau  lohnt  nicht,  da  ein  sehr 
geübter  Goldsucher  nicht  mehr  als  etwa  für  70  Pf. 
Gold  täglich  sammelt. 

In  Badekschen  fand  man  Eisenerze,  die  solange 
abgebaut  wurden,  so  lange  noch  keine  fertigen 
Eisenwaren  von  Europa  eingeführt  wurden.  Auch 
die  Rubine  am  Pändsch  und  die  Silbererze  am 
oberen  Gunt  baut  man  nicht  mehr  ab. 

Reich  an  Steinsalz  ist  das  Innere  des  Pamir, 
so  daß  von  hier  aus  die  Kirgisen  den  ganzen 
Pamir  damit  versorgen  können.  Grau  und  Rot 
sind  die  Farben,  in  denen  es  aufiritt.  Asbest  zeigt 
sich  im  westlichen  Pamir. 

Der  (Ostabhang  des  Pamir  schließt  in  seinen 
paläozoischen  und  mesozoischen  Ablagerungen 
Kupfererze,    Eisenerze,    Steinkohlen,    Steinsalz  ein. 

Beim  Flusse  Baldis  gräbt  man  Alaun  aus  der 
Erde. 

Die  chinesische  Regierung  betreibt  die  Eisen- 
gewinnung und  soll  damit  eine  Jährliche  Ausbeute 
von  7000  Zentnern  erreichen. 

Hundt,  im  Felde. 

Zoologie.  Überden  Verschluß  von  Präparatenglä- 
sern. Nachdem  sich  in  Museen  und  Sammlungen  zur 
Aufbewahrung  der  in  Alkohol  und  anderen  Flüssig- 
keiten konservierten  Naturgegenstände  mehr  und 
mehr  Gläser  von  parallelepipedischer  Form  ein- 
gebürgert haben,  sind  brauchbare  Methoden,  die 
ein  wirklich  zuverlässiges  Aufkitten  der  ge- 
schliffenen Deckscheibe  gestatten,  von  immer 
größerem  Interesse  geworden.  Besonders  macht 
das  dichte  und  haltbare  Verkitten  von  Präparaten- 
gläsern in  Lehrsammlungen,  die  von  Hand  zu  Hand 
herumgereicht  werden  sollen,  viel  Mühe  und  oft 
viel  Ärger.  Max  Seh  m  id  t- Hamburg  (Monats- 
hefte für  d.  naturwiss.  Unterricht.  1917.  S.  187  ff.j 
faßt  die  Bedingungen,  die  man  in  solchen  Fällen 
an  die  Kittmasse  stellen  muß,  kurz  in  folgenden 
6  Punkten  zusammen: 

„I.  Der  Kitt  soll  stets  gebrauchsfertig  sein. 
Er  soll  in  nicht  zu  langer  Zeit  erhärten.  Er  soll 
einen  sauberen  Verschluß  vermitteln,  darf  also 
nicht  klebrig  oder  schmierig  bleiben. 

2.  Der  Verschluß  darf  auch  bei  tagelangem 
Kippen  des  Glases  nicht  undicht  werden.  Die 
Konservierungsflüssigkeit  darf  also  den  Kitt  nicht 


3.  Auch  bei  vorübergehender,  nicht  allzu 
starker  Erwärmung  (im  Projektionsapparat)  muß 
der  Verschluß  dicht  bleiben. 

4.  Die  Gläser  müssen  sich  bequem  öft'nen 
lassen. 

5.  Wünschenswert  ist,  daß  der  Kitt  kalt  an^ 
gewendet  werden  kann.  Eine  nur  in  der  Wärme 
flüssige  Masse  bietet  Schwierigkeiten  bei  brenn- 
baren Konservierungsflüssigkeiten. 

6.  Wenn  möglich,  soll  bei  allen  Kon'iervierungs- 
flüssigkeiten  (Alkohol,  Formahn,  Wintergrünöl) 
die  gleiche  Mas^e  verwendet  werden." 

Diesen  Anforderungen  entspricht  nun,  soweit 
sich  übersehen  läßt,  keine  einzige  der  vielen  im 
Handel  vorhandenen  Kittmassen,  besonders  nicht, 
soweit  es  sich  um  Punkt  6  handelt. 

Schmidt  glaubt  aber  nun  einen  Klebstoff 
gefunden  zu  haben,  der  in  geradezu  idealer  Weise 
zunächst  für  Alkohol  als  Konservierungsflüssigkeit 
den  obigen  Forderungen  i  —5  genügt,  und  der 
noch  den  Vorzug  großer  Billigkeit,  Sauberkeit, 
leichter  Handhabung  und  ständi^^er  Gebrauchs- 
fähigkeit für  sich  hat.  Es  handelt  sich  um  den 
in  Tuben  überall  —  auch  jetzt  im  Kriege  — 
käuflichen  P'ischleim  „Syndetikon".  Seine 
Verwendung  ist  höchst  einfach:  Man  durchsticht 
den  Tubenhals  mit  einer  Nadel  oder  einem  Nagel, 
trägt  die  Masse  kalt  und  ohne  Verwendung  eines 
Pinsels  auf  und  zwar  so  sparsam,  daß  außen  und, 
innen  nichts  hervorquillt  und  herabläuft,  legt  den 
Deckel  auf,  und  beschwert  ihn  nach  einiger  Zeit 
etwas.  Nach  spätestens  einem  Tage  kann  man 
die  Alkoholgläser  kippen  und  umgekehrt  stellen; 
die  Glasplatte  bricht  eher,  als  daß  die  Verkittung 
sich  löst,  sogar  bei  nur  schmaler  Berührung  von 
Gefäß  und  Deckel  (2  mm  genügen!)  und  nicht 
ganz  exaktem  Schliff.  Verdunstung  und  Aus- 
fließen ist  absolut  verhindert.  Nur  in  ganz  feuchter, 
Luft,  wie  sie  in  Sammlungen  ausgeschlossen  ist, 
kann  sich  die  Masse  erweichen.  Doch  läßt  sich 
das  durch  Überziehen  mit  schwarzem  Lack, 
ebenfalls  verhindern.  Auch  eine  vorübergehende 
Erwärmung  im  Projektionsapparat  macht  den 
Verschluß  nicht  undicht.  Trotz  des  enorm  festen 
Hafiens  ist  ein  Öffnen  des  Deckels  doch  möglich, 
wenn  man  um  den  Rand  —  nach  eventueller 
Entfernung  des  Lackringes  —  für  einige  Stunden 
ein  nasses    Luch  wickelt. 

Was  nun  Forderung  6  angeht,  so  ist  zu  er- 
wähnen, daß  Syndetikon  auch  Gläser  mit  Winter-, 
grünöl  klebt.  Bei  wässrigen  Lösungen  wie  Formalin- 
lösung  ist  er  aber  zunächst  unbrauchbar,  weil 
Wasser  Fischleim  löst.  Durch  einen  kleinen  Hand- 
griff macht  Schmidt  aber  das  Klebemittel  auch 
hier  verwendbar,  indem  er  den  Leim  mit  etwas 
löslichem  Bichromat  versetzt.  Bekanntlich  werden 
Gelatinen,  Gummiarten,  Leime  durch  solchen  Zu- 
satz bei  Belichtung  wasserunlöslich.  Man  löst  in 
dem  Leim, wenig  Kaliumbichromat,  so  daß  er  eine, 
schwach  gelbliche  Farbe  annimmt  und  verwendet 
ihn  dann  wie  oben.  Man  kann  auch  die  Tube 
an    dem    breiten    Ende   öffnen,     durch    Umrühren 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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etwas  gepulvertes  Kaliurnbichromat  darin  lösen, 
die  Tube  wieder  'zudrehen  und  nun  wie  bei  Al- 
kohol verwenden.  Einige  Punkte  sind  jedoch  zu 
beachten:  Man  streicht  den  chromierten  Leim 
besser  nicht  auf  den  Rand  sondern  nur  auf  den 
Deckel,  damit  die  Klebemasse  ja  nicht  mit  der 
Flüssigkeit  in  Berührung  kommt,  ehe  sie  völlig 
trocken  ist.  Aus  demselben  Grunde  stellt  man 
das  zu  verschließende  Glas  vorher  dorthin,  wo  es 
zum  Trocknen  stehen  bleiben  soll,  bevor  man  den 
■Deckel  auflegt.  Nach  Auflegen  des  Deckels  ver- 
bleibt das  mit  Formaiin  gefüllte  Glas  im  Dunkeln, 
bis  der  Deckel  festsitzt,  was  etwa  am  nächsten 
Tage  der  h'all  ist.  Dann  kommt  das  Gefäß  ans 
Licht,  das  nunmehr  die  Kittma^se  u:<löslich  macht. 
Solche  Gläser  lassen  sich  nach  einiger  Zeit,  wie 
Versuche  gelehrt  haben,  bis  zu  einer  Woche  um- 
gekehrt stellen,  ohne  daß  sich  der  Deckel  löst 
oder  undicht  wird.  Will  man  den  Verschluß  lösen, 
stellt  man  das  Gefäß  einige  Stunden  umgekehrt 
in  Wasser.  Wahrscheinlich  lassen  sich  nach  dieser 
Methode  auch  Küvetten  u.  a.  kleben  und  dichten. 
Bei  Schaugläsern,  die  in  Vorlesungen  oder  im 
Unterricht  herumgehen,  oder  die  bei  episkopischen 
Projektionen  Verwendung  finden  sollen,  ist  es  oft 
erwünscht,  daß  im  Glas  möglichst  keine  störenden 
Luftblasen  sich  finden,  das  Glas  also  möglichst 
völlig  mit  Flüssigkeit  gefüllt  ist.  Man  erreicht 
dies  gleichzeitig  mit  dem  Verkitten  der  Deck- 
scheibe auf  folgende  einfache  Weise.  Mit  Hilfe 
einer  dreikantigen  Glasfeile  feilt  man  vorher  in 
den  geschliffenen  Rand  des  Präparatenglases  zwei 
nebeneinanderliegende  Rinnen  und  zwar  so  tief, 
daß  zwischen  Deckel  und  Rand  eine  Stecknadel 
von  der  Dicke  der  Kanüle  einer  Pravaz-  oder 
ähnlichen  Spritze  Pialz  hat.  In  diese  Rinne  legt 
man  je  eine  mit  Vaseline  überzogene  Stecknadel 
und  kittet  nun  den  Deckel  wie  oben  beschrieben 
darüber.  Nach  dem  Trocknen  zieht  man  die 
Nadeln  heraus.  Mit  Hilfe  einer  Pravazspritze  füllt 
man  nun  durch  eine  der  Öffnungen  Flüssigkeit, 
während  durch  die  andere  Luft  entweicht,  legt 
das  Gefäß  dann  um,  Rinnen  nach  oben,  und  ver- 
schließt nach  sorgfältigem  Abtrocknen  diese  eben- 
falls mit  Kittmasse.  Ein  zu  langes  Erhitzen  beim 
Projizieren  ist  natürlich  nicht  angängig,  vielleicht 
aber  eher  dann,  wenn  man  eine  kleine,  sonst  nicht 
störende  Luftblase  darin  läßt.  Will  man  gänzlichen 
Luftausschluß,  müssen  Flüssigkeit  und  Präparat 
vorher  ausgepumpt  werden. 

Olufsen. 

Chemie.  Über  die  Einwirkung  von  gasförmigem 
Ammoniak  auf  Superphosphate  und  die  Verwendung 
der  gewormenen  Ammoniakphosphate.  Wie  Prot. 
Dr.  G  e  r  1  a  c  (i  ■  Bromberg  m  der  Zeitschrift  für 
angewandte  Chemie,  1916,  S;  13— 14,  18  —  20 
mitteilt,  findet  bei  der  Einwirkung  von  gasförmigem 
■Ammoniak  auf  frisches  und  getrocknetes  Super- 
phosphat .  unter  Wärmeentwicklung  eine  lebhafte 
Absorption    des  Gases    statt.     Wegen    des  infolge 


des  Krieges  bewirkten  Mangels  an  Schwefelsäure 
scheint  der  Vorgang  von  erheblicher  Bedeutung 
zu  sein,  da  er  also  die  Bindung  des  .Ammoniaks 
ohne  Verwendung  von  Säure  gestattet.  E.r  ver- 
dient deshalb  größere  Beachtung. 

Das  Aufschließen    des   in    der   Natur    vorkom- 
menden Tricalciumphosphates  durch  die  Schwefel- 
säure   und    seine  Umwandlung    zu  Superphosphat 
geht  bekanntlich  nach  folgender  Gleichung  vor  sich : 
Cag(PO^\  +  2H.,S0i,  aq  =CaH,(PO,). 
'  +  2Ca"SO„  2H.jO. 

Das  Gemenge  aus  Monocalciumphosphat  und 
Gips  ist  das  viel  verwendete  Düngemittel. 

■Die  Einwirkung  des  Ammoniaks  auf  dieses 
Produkt  verläuft  nun  nach  G  e  r  1  a  c  h  in  folgender 
Weise: 

CaH,(POJ..  -f  2CaS0j,  2H.,0  +  4NH3  =  Ca..(PO,).. 
+  4H.jO  +  2iNH,,)oSO,. 

Neben  in  Wasser  unlöslichem  Calciumphosphat 
bildet  sich  also  aus  dem  im  Superphosphat  ent- 
haltenen Gips  Ammoniumsulfat. 

Es  scheint,  daß  zunächst  als  Zwischenprodukte 
Doppelsalze  entstehen,  und  daß  obige  Umsetzung 
durch  NH3  erst  nach  dem  Lösen  des  festen  Ge- 
misches in  Wasser  beendet  ist.  Theoretisch  werden 
von  100  Teilen  Phosphorsäure  (PoOr,)  39,4  Teile 
Ammoniakstickstoff  aufgenommen. 

Frisches  Superphosphat  kommt  unmittelbar, 
ohne  getrocknet  oder  gemahlen  zu  sein,  aus  der 
Kammer  in  eine  2  m  lange,  langsam  rotierende 
Trommel,  durch  welche  Ammoniak  geleitet  wird. 
Es  wird  nach  kurzer  Zeit  zu  etwa  90  "/„  absorbiert, 
wobei  sich  der  Trommeliuhalt  so  weit  erwärmt, 
daß  das  im  Superphosphat  enthaltene  Wasser  zum 
größten  Teile  verdampft.  Das  nicht  absorbierte  Gas 
kehrt  in  den  Betrieb  zurück.  Die  noch  bleibende 
trockene  Masse  läßt  sich  fein  mahlen.  Die  fabrik- 
mäßige Darstellung  dürfte  nach  den  angestellten 
Versuchen  kaum  auf  Schwierigkeiten  stoßen,  da 
bei  den  Vorversuchen  wiederholt  Mengen  von 
25  —  30  kg  Superphosphat  in  die  Trommel  kamen. 
Zwar  geht  das  Superphosphat,  wie  obige  Gleichung 
zeigt,  auf  wasserlösliches  Calciumphosphat  zurück, 
bleibt  aber  in  verdünnter  Zitronensäxire  löslich. 
Monatelanges  Lagern  läßt  keine  Ammoniakverluste 
eintreten.  Ein  Produkt,  das- am  18.  3.  6,61  %  Ge- 
I Samtstickstoff  und  6^7  "U-  ^'PasserlÖ5lichen  Stick- 
stoff enthielt,  wies  am  29.  sbaoch  6,54  "/'o  bzw. 
6,34  "  u  Stickstoff  auf.-  Die  Verwendung  des  neu- 
gewonnenen Ammoniakphosphates  anstelle  des 
bisherigen,  handelsüblichen  Ammoniaksuperphos- 
phats, einer  Mischung  aus  aufgeschlossenen,  ge- 
trockneten Kalkphosphaten  mit  schwefelsaurem 
Ammoniak,  ergab  nach  den  im  Kleinen  angestellten 
Düngungsversuchen  in  i  qm  großen,  ummauerten 
Parzellen  gute  Resultate,  denn  es  erwies  sich,  so- 
wohl was  die  Stickstofif-,  als  auch  was  die  Phos- 
phorsäurewirkung angeht,  als  diesem  völlig  eben- 
bürtig. Dies  geht  aus  den  in  der  Arbeit  beschrie- 
benen Vergleichsvcrsuchen  hervor.  .  Das  PJrgebnis 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


ist  deshalb  von  besonderer  Bedeutung,  weil  zur 
Bindung  des  Ammoniaks  keine  neue  Schwefelsäure 
sondern  nur  die  im  Gipse  des  Superphosphates 
enthaltene,  für  die  Düngung  bedeutungslose  Schwefel- 
säure verwendet  wurde.  Um  einen  Doppelzentner 
Ammoniaksuperpho.sphat  des  Handels  herzustellen, 
braucht  man  aber  mindestens  1 12  kg  rohe  Schwefel- 
säure von  50"  Be.  h'erner  erspart  das  Verfahren 
die  Ausgaben  und  Einrichtungen  zum  Eindampfen 
des  Ammoniumsulfats  und  für  das  Trocknen  des 
rohen  Superphosphates,  das  bei  der  Herstellung 
von  Ammoniaksuperphosphat  erforderlich  ist.  Nach 
persönlichen  Mitteilungen  des  Herrn  Prof.  G  e  r  1  a  c  h 
haben  die  in  diesem  Sommer  angestellten  Feld- 
versuche die  günstigen  Ergebnisse  der  Vegetations- 
versuche bestätigt.     (  G.C.  )  Olufsen. 

Paläontologie.  Eocäne  Säugetierreste  aus  Xord- 
und  Mitteldeutschland  beschreibt  H.  Schroeder 
im  Jahrbuch  der  Kgl.  Preuß.  Geologischen  Landes- 
anstalt Bd.  X.XXVII  Teil  i  Heft  i.  Es  handelt 
sich  vor  allem  um  Lophiodonreste  aus  der 
Braunkohle  des  Geiseltales  und  aus  den 
Phosphoritlagern  von  Helmstedt  (Braun- 
schweig), die  für  die  F  e  s  t  s  t  e  1 1  u  n  g  d  e  s  A 1 1  e  r  s 
der  Braunkohlenablagerungen  Sachsens 
und  Braunschweigs  von  ganz  besonderer 
Bedeutung  sind. 

Auf  Grube  Cecilie  und  Grube  Leonhardt  bei 
Mücheln  im  Geiseltale  (Kr.  Merseburg)  fanden 
sich  auf  primärer  Lagerstätte  der  dortigen  Mittel- 
kohle Unter-  und  Oberkieferzähne  mehrerer  Arten 
von  Lophiodon,  ebenso  auch  Knochen,  die 
aber  leider  zu  einem  ockerfarbigen  Mulm  zerfielen. 
Die  Lagerstätte  muß  ein  eocänes  Alter  haben,  da 
die  Gattung  Lophiodon  nur  auf  das  Eocän  be- 
schränkt ist.  Eine  nähere  Altersbestimmung  ist 
noch  durch  das  Vorkommen  von  Zähnen  des 
Lophiodon  Cuvieri  möglich,  welche  für  ein  mittel- 
eocänes  Alter  der  Lagerstätte  sprechen  würden. 
Damit  ist  zum  ersten  Male  das  eocäne  Alter  der 
Unter-  und  Mittelkohle  des  Geiseltales  nachge- 
wiesen und  damit  überhaupt  eine  feste  Basis  für 
die  Erörterung  der  Altersstellung  dieser  auf  dem 
Festlande  entstandenen  Ablagerungen  geschaffen. 
Ob  die  darüberlagernde  Oberkohle  gleichalt  oder 
jünger,  etwa  obereocän  oder  unteroligocän  ist, 
ist  vorerst  schwer  zu  sagen.  Ebenso  weiß  man 
auch  zurzeit  noch  nicht,  ob  die  unter  der  Fund- 
stelle liegende  Kohle  (Unterkohle,  z.  T.  Mittelkohle), 
in  welcher  übrigens  Schnecken  und  Schildkröten 
in  schlechtem  Erhaltungszustande  gefunden  wurden, 
älter  als  Mitteleocän  ist. 

Die  Lophiodonten  sind  nicht  als  Vorläufer 
der  Tapirinae  anzusehen,  sondern  beide  sind 
gleich  alte  nebeneinander  hergehende  Stämme.  Die 
Lophiodontinae  starben  noch  vor  der  unteren 
Grenze  des  Oligocäns  aus,  während  die  Tapirinae 
diese  überschreiten  und  noch  bis  in  die  Gegen- 
wart fortleben. 

Aus    den  Phosphoritlagern    bei    Helm- 


stedt sind  schon  länger  Lophiodonreste  bekannt. 
Im  Gegensatz  zu  den  mit  allen  feinen  Skulpturen 
der  Zahnoberfläche  versehenen  Lophiodonzähnen 
aus  der  Kohle  des  Geiseltales  sind  jene  der  Phos- 
phoritlager von  Helmstedt  schlecht  erhalten. 
Ecken  und  Kanten  sind  gerundet,  der  Glanz  matt 
und  verwischt,  Brüche  der  Knochen  stark  abge- 
rundet. Erstere  (Geiseltal)  sind  auf  erster  Lager- 
stätte, letztere  (Helmstedt)  auf  zweiter  Lagerstätte, 
also  als  GeröUe  in  ihrer  jetzigen  Lagerstätte. 

Daneben  kommt  bei  Helmstedt  noch  Propa- 
laeotherium  parvulum,  ein  primitiver  E(]uide 
vor.  Im  Obereocän  stirbt  die  Gattung  Propaläo- 
therium  aus. 

Die  Phosphoritlager  der  Gegend  von  Helmstedt 
sind  unteroligocän.  Die  Phosphorite  sind  aus 
ihrer  ersten  unteroligocänen  Lagerstätte  aufge- 
arbeitet worden  und  wieder  in  unteroligocäne, 
etwas  jüngere  Schichten  eingeschwemmt  worden. 
Dies  könnte  man  auch  für  die  Säugetierreste  an- 
nehmen, wenn  nicht  Lophiodon  und  Propaläo- 
therium  ein  ganz  beschränktes  eocänes  Alter  hätten. 
Das  marine  Unteroligocän  lagert  diskordant  auf 
der  Braunkohlenformation,  überschreitet  deren  Aus- 
dehnung bei  weitem  und  transgrediert  in  der 
weiteren  Umgebung  von  Helmstedt  über  alle 
Formationen  vom  tieferen  Tertiär  bis  zum  Rot- 
liegenden. Das  Oligocänmeer  hat  dabei  alle 
möglichen  Gesteine  des  Untergrundes  in  sich  auf- 
genommen, so  auch  die  Säugetierreste,  die  sehr 
wohl  der  Braunkohlenformation  entnommen  sein 
können  und  sich  auf  zweiter  Lagerstätte  befinden. 

Gegen  die  Gleichaltrigkeit  von  Phosphoriten 
und  Säugetierresten  spricht  der  Umstand,  daß  sie 
im  Gegensalz  zu  allen  dort  gefundenen  unteroli- 
gocänen Fossilresten  nicht  an  Phosphoritknollen 
haften,  oder  von  solchen  umschlossen  sind. 

Damit  sind  auch  die  He  Imsted  t  e  r  Brau  n - 
kohlenablagerungen  eocänen  Alters. 
Von  weiteren  Funden  ist  vielleicht  noch  mehr 
zu  erwarten.  Deshalb  wäre  es  sehr  erwünscht, 
wenn  auf  alle  Funde  sorgsam  geachtet  werden 
würde.  V.  Hohenstein. 

Die  zeitliche  und  räumliche  Verbreitung  und 
Stammesgeschichte  der  fossilen  I-ische  behandelt 
eine  Arbeit  von  Max  Schlosser  in  den  Sitzungs- 
berichten der  königl.  bayerischen  Akademie  der 
Wissenschaften  (Jahrgang  191 7).  Lückenloser  läßt 
sich  jetzt  obengenanntes  Thema  bearbeiten,  weil 
seit  den  Zeiten  von  Agassiz  bedeutend  mehr  und 
wertvollere  l-'unde  gemacht  worden  sind.  Am 
vollständigsten  erhalten  finden  sich  Fischskelette 
in  tonigen,  mergeligen,  kalkigen  Schiefergesteinen 
oder  feinkörnigen  Sandsteinen,  nicht  aber  in  grob- 
körnigem Material  oder  Gesteinen,  die  Nieder- 
schläge bewegten  Wassers  oder  der  Tiefsee  sind. 

Untersilurischer  Kalkstein  von  Canon  ('it\-  in 
Colorado  (Schuppen  und  Hautplatten)  sind  die 
ältesten  Placodermen.  Europas  älteste  Fischfauna 
ist    im    obersilurischen    Bonebed    Schottlands,    im 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Sandstein  von  Lanarkshire,  im  dolomitischen  Kalk 
der  Insel  Ösel,  in  sandigen  Schiefern  von  Galizien 
und  Podolien,  in  Nordamerika,  im  Onodegasand- 
stein  von  Pennsylvanien  eingeschlossen.  Was 
davon  bestimmbar  ist,  entfällt  auf:  Anaspida- 
Birkeniiden-,  Heterostraci-Cölolepiden  und  Ptera- 
spiden-Osteostraci-Chephalospiden  und  Tremata- 
spiden.  Onchus.  Im  Devon  findet  man  schon  eine 
reiche  Formenwelt,  gut  erhalten,  in  den  Schichten  des 
Oldred-Sandsteins  von  Großbritannien,  in  den  russi- 
schen Ostseeprovinzen,  Nordamerika,  Böhmen,  Bel- 
gien, Westfalen,  Nassau,  Eifel.  Wildungen  bei  Kassel 
lieferte  eine  Menge  von  Arthrodira.  Das  Miltel- 
devon  von  Ohio,  Jowa,  Wiskonsin,  New  York  ist 
reich  an  Riesenformen:  Dinichthys,  Megalichthys, 
Diplognathus.  Die  Fischfauna  des  Devons  setzt 
sich  zusammen  aus:  Heterostraci,  Gemündeniden, 
Pteraspiden,  Drepanaspiden,  Osteostraci,  Chepha- 
lospiden,  Antiarchi,  Asterolepiden,  Dipnoern,  Di- 
pteriden,  Phaneropleuriden,  Arthrodiren,  Cocco- 
steiden,  Mylostomatiden,  Ptyctodontiden,  Grosso- 
pterygiern,  Holoptychiiden,  Rhizodontiden,  Osteo- 
lepiden.  Hochentwickelt  sind  schon  Cheirolepis. 
Alle  Familien,  die  schon  im  Silur  vorhanden 
waren,  reichen  über  das  Unterdevon  nicht  hinaus. 

Im  Karbon  zeigen  sich  Fischreste  im  marinen 
Kohlenkalk,  in  Schiefern  und  Sandsteinen  der 
produktiven  Steinkohlenformation.  Es  ver- 
schwinden: Heterostraci,  Osteostraci,  Antiarchi, 
Arthrodiren,  reich  findet  man:  Elasmobranchier, 
Edestiden.  Neu  treten  auf:  Cestracioniden,  Cam- 
podes,  Hybodontiden,  Orodus,  Ctenaconthus. 
Palaeonisciden  und  Platysomiden  aus  dem  pro- 
duktiven Karbon  blühen  auf 

Die  Perm-Fische  schließen  sich  nach  ihrer 
Entwicklung  an  die  aus  dem  Karbon  an.  Das 
Rotliegende  des  Saarbeckens,  Böhmens,  Sachsens, 
Schlesiens,  Frankreichs,  der  Magnesian  Limestone 
Englands,  der  Kupferschiefer  Hessens  und  Thü- 
ringens, des  Perm  von  Texas  und  Neumexiko  hat 
Fische  geliefert.  An  Individuen  reich  treten  die 
Heterocerken-Palaeonisciden,  Platysomiden,  je  ein 
Paar  Crossopterygier,  ein  Coelacanthide  und 
Ctenodontide  auf.  Elasmobranchier  treten  zurück. 
Von  den  Edestiden  hat  sich  nur  Helicoprion 
erhalten.  Am  Ende  des  Perms  sterben  Pleura- 
canthiden  und  Acanthodiden  aus,  nachdem  sie  in 
dieser  Formation  den  Höhepunkt  der  Entwicklung 
erreicht  haben. 

Die  wechselnde  Verteilung  von  Land  und 
Meer,  das  wechselnde  Klima  hat  auch  einen 
Unterschied  in  der  permischen  und  triadischen 
Fischfauna  hervorgerufen.  Im  Buntsandstein  finden 
wir  sehr  wenig.  Erst  im  marinen  Muschelkalk 
wird  es  besser.  Hybodontiden,  Dipnoer,  Crosso- 
pterygier bilden  die  Wurzeln  zur  Weiterentwickelung. 
Die  Mehrzahl  der  beschriebenen  triadischen  Fische 
sind  Ganoiden,  deren  Entwicklung  aus  den  paläo- 
zoischen Ganoiden  sich  zwanglos  nachweisen 
läßt,  während  nur  die  Herkunft  der  Belono- 
rhynchiden  noch  nicht  feststeht.  Hauptfundorte 
triadischer  Fische  sind ;  schwarzer  plattiger  Muschel- 


kalk von  Perledo  um  Comersee,  von  Raibl  in 
Kärnten,  Asphaltschiefer  von  Seefeld  und  anderen 
Orten  der  bayrisch-tiroler  Alpen,  der  obere  Haupt- 
dolomit von  Adnet  in  Salzburg.  Keupersandstein 
von  Schwaben,  Thüringen  und  Franken,  Sandstein 
der  Carrooformaüon  in  Südafrika,  Havkesbery- 
schichten  von  Neu-Süd-Wales ,  die  schwarzen 
Schiefer  von  Connecticut  sind  Fundstellen  wohl- 
erhaltener Fischskelette. 

Im  Lias  ist  die  Fischfauna  die  unmittelbare 
Fortentwicklung  der  triadischen.  Die  Hälfte  der  von 
Agassi z  und  Egerton  beschriebenen  Arten 
stammen  aus  dem  unteren  Lias  von  Lyma  Regis  in 
Dowset.  Der  mittlere  Lias  ist  arm  an  Fischresten, 
da  er  Tiefseeabsatz  ist.  Die  Posydonienschiefer 
und  Stinkkalke  des  oberen  Lias  in  Franken  und 
Württemberg,  die  gleichaltrigen  Schichten  von 
Werther  bei  Halle;  England;  Calvados,  Yonne, 
Cote  d'Ore  in  Frankreich  zeigen  wieder  eine 
reiche  Menge  von  Fischresten.  Hybodonten  sind 
im  Lias  häufig.  Neu  ist  der  Typus  der  Elasmo- 
branchier, Lemniden,  Holocephalen.  Ceratodus  ist 
noch  nicht  beobachtet  worden,  ebenso  selten  sind 
die  Collacanthinen.  Aus  England  und  Württem- 
berg kennt  man  nur  die  Belonorhynchiden.  Ein 
Chondrostiers  ist  anwesend.  Riesen  liefern  an 
Pachycormiden  die  Amiodei.  Die  Catariden  ent- 
halten eine  große  F"ormenmannigfaltigkeit.  Erst- 
malig tritt  ein  Teleostier  als  Gattung  der  Lyco- 
ptera  auf.  Im  Dogger  waren  die  Erhaltungsver- 
hältnisse für  Fischreste  nicht  gut.  Wir  finden  nur 
wenig  und  dieselben  Arten  wie  im  Lias  und  im 
jüngeren  Malm.  Außerordentlich  günstig  lagen 
in  dieser  Schicht  in  den  plattigen  Kalkschiefern 
von  Solnhofen,  Eichstätt,  Kehlheim  (alle  in  Bayern), 
Nusplingen  (Württemberg),  Cevin  (Frankreich)  die 
Erhaltungsverhältnisse.  Elasmobranchier,  Gano- 
iden und  Teleostier  sind  erhalten.  Oligopleu- 
riden  und  Megalariden  treten  zum  ersten  Male 
hier  auf.  Im  formenarmen  Wealden  erscheint 
unter  den  Pycnodonten  der  vorgeschrittene 
Coelodus. 

Die  Kreidezeit  bringt  eine  Umwandlung.  Die 
Ganoiden  werden  von  den  Teleostiern  verdrängt. 
Der  Wechsel  vollzieht  sich  vollständig  in  der 
oberen  Kreide.  Zur  älteren  Kreidefischfauna  ge- 
hören die  Fische  aus  den  schiefrigen  Kalkab- 
lagerungen von  Pietoaroja,  Castallamare ,  Torre 
d'Orlando  im  Neapolitanischen,  von  Comen  in 
Istrien,  Crespeno  •  in  Venetien,  von  der  Insel 
Lasina,  aus  den  schwarzen,  pyritischen  Kalken 
von  Grodischk  in  den  Karpathen,  aus  Neokom- 
schiefern  von  Voiroes  bei  Genf  und  plattigen 
Kalken  in  Mexiko.  Teleostier  waren  schon  damals 
differenziert.  In  der  oberen  Kreide  treten  vor 
allem  Elasmobranchier  als  Ptychodontiden  und 
Lemniden  auf.  Daneben  findet  man  Spinaciden, 
Scylliden,  Notidaniden,  Cestracioniden.  Squatiniden 
kennt  man  vom  Libanon  und  aus  Westfalen. 
Vom  Libanon  sind  auch  Pristiden  und  Rhinorajiden 
bekannt  geworden.  Häufig  sind  im  Cenoman  der 
Lybischen  Wüste  die  CeratodusZähne.  Vollständig 


6/0 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


neue  Formen  der  oberen  Kreide  sind  die  Albu- 
liden,  Dercetiden,  Scopeliden,  Beryciden.  Die  auf 
die  Kreide  beschränkten  Dercetiden,  Plethodiden, 
Euchodontiden,  Ichthyodectiden  sind  in  höchster 
SpeziaUsierung  ausgeprägt.  Macruriden  und 
Stromateiden  sind  hier  erstmalig  durch  Otoliihen 
nachgewiesen.  Jüngere  Kreidefische  finden  sich 
im  kalkigen  Mergel  von  Kansas  (riesige  Ichthyo- 
detiden)  im  Kalkschiefer  des  Libanons,  im  merge- 
ligen Sandstein  der  Baumberge  in  Westfalen,  in 
der  weißen  Kreide  von  England  und  Persien. 

Im  Tertiär  gleicht  sich  die  Fischfauna  der 
rezenten  an.  Die  älteste  —  Eocäenfauna  stammt 
aus  dem  Londonton.  Sie  schließen  sich  an  die 
Formen  der  oberen  Kreide  an.  Neu  sind  die 
IMyliobetinen.  Die  Ichthyodectiden,  Protosphyrae- 
niden  sind  verschwunden.  In  den  Pycnodontiden 
haben  die  Ganoiden  ihre  letzten  Vertreter.  Eine 
Anzahl  der  Eocäenfauna  stammt  von  den  Kreide- 
fischen ab,  die  große  Mehrzahl  aber  ist  aus  süd- 
lichen   und    südöstlichen    Gebieten    eingewandert. 

An  der  Grenze  des  oberen  Eozäns  hat  Matt 
in  Glarus  allein  29  Arten  von  Teleostiern  geliefert. 
Lepidopus  tritt  als  Tiefseeform  auf.  Im  Oligozän, 
(Rupelton  Belgiens,  Meeressande  von  Mainz, 
Pariserbecken)  finden  sich  viele  Reste  von  Haien 
und  Rochen  und  Otolithen  von  Teleostiern.  Im 
westlichen  Nordamerika,  in  den  Pureso-,  Wesatsch-, 
Bridger-Schichten  von  Neu-Mexiko  und  Wyoming, 
besonders  Green  Riverbed  kommen  prachtvolle 
Fischskelette  vor.  Das  sind  aber  Süßwasserab- 
lagerungen, während  die  gleichaltrigen  Schichten 
Europas  mariner  Entstehung  sind. 

Aus  dem  europäischen  Untermiozän  sind  Fische 
in  den  Braunkohlen  von  Rott  bei  Bonn  und  in 
Nordböhmen  bekannt  geworden.  Häufiger  sind 
sie  in  der  miozänen  Meeresmelasse  (Selachier, 
Teleostier  weniger).  Bei  Unterkirchberg  bei  Ulm 
kommen  Solea  und  Clupea  neben  Süßwasserfischen 
(Cyprinus,  Smerdis)  vor.  Das  ließ  sich  auch  im 
Obermiozän  von  Licate  nachweisen,  wo  unter  52 
Arten  44  marine  Fische  vorkamen. 

Was  im  Pliozän  an  Fischresten  vorkommt, 
unterscheidet  sich  von  der  rezenten  Fischfauna 
sehr  wenig. 

So  waren  im  Paläozoikum  Elasmobranchier, 
Dipnoer,  Ganioden  vorhanden.  Die  obersilurischen 
Ana'-piden  waren  vielleicht  die  Vorläufer  der  be- 
schuppten Dipnoern  und  Ganoiden,  die  Coelolepiden 
die  Vorläufer  von  Elasmobranchiern.  Die  Trias- 
Selachier  und  die  rezenten  Haie  und  Rochen 
stehen  in  einer  Stammesreihe.  Die  im  Jura  auf- 
tretenden Holocephalen  haben  sich  bis  jetzt  er- 
halten. Die  ersten  Dipnoer  stehen  den  Amphibien 
nahe.  Die  rezenten  Süßwasserfische  stammen 
von  marinen  Formen  ab.  Die  Amirideen  wandern 
im  Eozän  ins  Süßwasser  und  von  den  Elasmo- 
branchiern tun  es  die  Ichthyotomi. 

Hundt,  im  Felde. 


Biologie.  Konzeptionsfahigkeit  und  Ge- 
schlechtsbestimmung beim  Menschen.  Die  Emp- 
fängnisfähigkeit der  Frau  ist  nicht  immer  gleich 
groß.  Das  ist  eine  altbekannte  Tatsache.  Unserem 
Wissen  hierüber  hat  aber  bisher  jede  exakte 
Grundlage  gefehlt;  war  es  doch  in  Friedenszeiten 
kaum  möglich,  die  zur  Klärung  der  Frage  un- 
erläßliche Feststellungen  zu  machen  über  das 
zeilliche  Verhältnis  der  befruchtenden  Koha- 
bitation  zur  letzten  Menstruation.  Bei  der  dau- 
ernden Kohabitationsmöglichkeit  war  die  Frau 
meist  nicht  imstande,  anzugeben,  welche  Koha- 
bitation  zur  Befruchtung  geführt  hat. 

Der  Krieg  gibt  in  manchen  Fällen  die  Mög- 
lichkeit solcher  Feststellungen.  Insbesondere  bei 
kurzen  Beurlaubungen  verheirateter  Männer  kann 
man  das  Datum  des  befruchtenden  Beischlafs  mit 
einiger  Genauigkeit  nachträglich  bestimmen,  also 
auch  das  Zeitverhältnis  von  Kohabitation  und 
Menstruation. 

Der  Assistent  an  der  Universitäts-Frauenklinik 
in  Freiburg,  Dr.  P.  W.  Siegel,  hat  die  Gelegen- 
heit benützt  und  hat  aus  den  Angaben  von  220 
schwangeren  Kriegerfrauen  eine  Kurve  aufgestellt, 
welche  die  prozentuale  Häufigkeit  befruchtender 
Kohabitationen  an  den  einzelnen  Tagen  des  Men- 
struations-Cyclus  versinnbildlicht  (Deutsche  Med. 
Wochenschr.  191 5,  Nr.  42,  und  Münchner  Med. 
Wochenschr.  1916,  Nr.  21).  Diesen  Cyclus  teilt 
Siegel  ein  in  vier  „menstruelle  Phasen",  nämlich 
i)  die  Menstruation  (Tag   1—4) 

2)  das  Postmenstruum  (Tag  4—9) 

3)  das  Intermenstruum  (Tag  9 — 22) 

4)  das  Prämenstruum  (Tag  22 — 28). 

Die  „Kohabitationskurve"  zeigt  nun  folgendes : 
Die  Empfängnisfähigkeit  der  Frau  ist  unmittelbar 
nach  der  Menstruation  sehr  groß  und  erreicht  am 
sechsten  Tag  nach  Menstruaiionsbeginn  (im  Post- 
menstruum) ihren  Höhepunkt.  Vom  12.  Tag  ab 
läßt  sie  rasch  nach,  und  vom  22. — 28.  Tag  (im 
Prämenstruum)  besteht  eine  fast  absolute  Sterilität. 

Wenn  auch  das  von  Siegel  verwertete  Ma- 
terial für  sichere  Folgerungen  noch  zu  gering  ist, 
wenn  auch  ferner  die  angewandte  Methode  noch 
nicht  allen  Forderungen  einer  exakten  Statistik 
gerecht  werden  dürfte  —  so  sind  die  bisherigen 
Befunde  doch  zu  deutlich,  als  daß  man  sie  von 
der  Hand  weisen  könnte. 

Zur  Erklärung  seiner  Beobachtungen  führt  der 
Verfasser  zwei  Möglichkeiten  an.  Einmal  kann 
durch  die  physiologische  Schwellung  der  Schleim- 
häute des  Uterus  und  der  Tuben  vor  der  Men- 
struation den  Spermien  auf  ihrer  Wanderung  der 
Weg  versperrt  werden.  Je  näher  also  der  Men- 
struationsbeginn bevorsteht,  um  so  geringer  wird 
die  Möglichkeit  einer  Konzeption.  Etwas  mehr 
befriedigt  der  zweite  Erklärungsversuch  Bekanntlich 
fällt  die  Lösung  des  Eies  aus  dem  Ovarium,  die  Ovu- 
lation, zeitlich  nicht  mit  der  Men.struation  zusammen, 
sondern  der  „Follikelsprung"  erfolgt  schon  früher, 
etwa  zwischen   dem  7.  und  14.  Tag  nach  Beginn 


N.  F.  XVI.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


671 


der  vorhergegangenen  Menstruation  (Schroeder, 
Asch  off,  Marcotty).  Zieht  man  nun  in  Be- 
tracht, daß  die  Zeit  größter  Belruchtungsmöglich- 
keit  zwischen  dem  6.  und  dem  12.  Tage  hegt, 
daß  außerdem  —  nach  Graf  Spee  — •  die  Sper- 
mien 24—36  Stunden  brauchen,  um  den  Weg 
durch  Uterus  und  Tube  zurückzulegen,  so  ergibt 
sich  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen  der  mut- 
maßlichen Zeit  des  Follikelsprungs  mit  der  op- 
timalen Befruchtungszeit.  Mehr  als  diese  etwas 
vage  Feststellung  liegt  allerdings  über  diesen  Punkt 
nicht  vor. 

Siegel  hat  auch  den  Versuch  gemacht,  eine 
weitere  Frage  von  höchster  Bedeutung  ihrer  Lösung 
näher  zu  bringen:  die  Frage  nach  der  Geschlechts- 
besiimmung  beim  Menschen.  Hierzu  wurden  die 
Tage  I — 22  in  drei  Abschnitte  geteilt,  Tag  i — 9, 
Tag  10—14  und  Tag  15 — 22;  die  Tage  23  —  28 
konnten  als  ,sterir  ignoriert  werden.  Es  ergab 
sich  nun  die  aulfallende  Beobachtung,  daß  aus 
den  Kohabitationen  zwischen  dem  i.  und  9.  Tage 
37  Knaben  und  nur  7  Mädchen  entstanden,  aus 
denjenigen  zwischen  dem  10.  und  14.  Tage  4 
Knaben  und  3  Mädchen  und  aus  denjenigen 
zwischen  dem  15.  und  22.  Tage  nur  3  Knaben, 
dagegen  20  Mädchen.  In  den  ersten  Tagen  nach 
der  Menstruation  entstehen  also  vorwiegend  Knaben, 
dieses  Übergewicht  verliert  sich  aber  allmählich, 
und  in  den  letzten  Tagen  vor  Beginn  der  nächsten 
Menstruation  hat  sich  das  Verhältnis  zugunsten 
der  Mädchen  verschoben.  Diese  Angaben  ent- 
stammen allerdings  einem  Material  von  nur  100 
Fällen,  und  der  Verfasser  orientiert  uns  nicht  mit 
der  wünschenswerten  Klarheit  über  die  Prinzipien, 
nach  welchen  er  diese  Fälle  aus  den  für  die  Kon- 
zeplionsfrage  verwandten  ausgesucht  hat.  Seine 
kurze  Angabe  hierüber  heißt  nur:  „In  diese  Ein- 
teilung hinein  habe  ich  nun  diejenigen  Fälle  ru- 
briziert, bei  denen  natürlich  nur  wieder  bei  mit 
dem  Krieg  in  Verbindung  stehenden  F"rauen  die 
mögliche  Kohabitation  in  diese  Zeit  fiel."  Sind 
denn  die  logischen  Voraussetzungen  für  die  Frage 
nach    der  Geschlechtsbestimmung   andere   als   lür 


die  nach  der  Konzeptionswahrscheinlichkeit?  Muß 
nicht  bei  beiden  in  gleicher  Weise  gefordert  werden, 
daß  der  ungefähre  Kohabitationstermin  einwand- 
frei feststeht?  Diese,  wie  auch  einige  andere 
Unklarheiten,  mögen  vielleicht  in  der  allzu  großen 
Kürze  der  Darstellung  ihre  Ursache  haben. 

Siegel  bringt  auch  diese  Befunde  in  Bezieh- 
ung zum  mutmaßlichen  Termin  des  Follikel- 
sprunges.  Er  betont  die  Deutlichkeit,  mit  welcher 
„tatsächlich  direkt  nach  dem  Follikelsprung  aus 
da  staltfindenden  Kohabitationen  Mädchen  ent 
stehen,  und  daß  vor  ihm  Knaben  erzielt  werden" 
Diese  Deutlichkeit  ist  nun  zwar  keine  so  unbe 
dingte,  denn  es  entstehen  ja  auch  an  , Knaben 
tagen'  Mädchen  und  an  , Mädchentagen'  Knaben 
Es  steht  aber  doch  außer  Zweifel,  daß  der  je 
weilige  Reifezustand  des  Eies  oder  das  Reifever 
hältnis  zwischen  Ei  und  Sperma  einen  Einfluß 
auf  die  Geschlechtsbildung  ausübt.  Der  Verfasser 
zieht  die  Parallele  zwischen  seinen  Feststellungen 
und  den  bekannten  Versuchen  von  Richard 
Hertwig  und  dessen  Schüler  Kuschakewitsch. 
Diese  haben  an  Fröschen,  deren  normales  Ge- 
schlechtsverhältnis im  Kontrollversuch  53$:58(J 
betrug,  folgendes  festgestellt:  Aus  Eiern,  welche 
erst  bei  einer  Überreile  von  89  Stunden  künstlich 
befruchtet  wurden,  entwickelten  sich  ausschließlich 
299  Männchen  und  ein  bilateraler  Hermaphrodit, 
und  ein  zweiter  Versuch  ergab  bei  einem  Normal- 
verhältnis von  185  $:  164  ^  und  einer  Überreife 
von  94  Stunden  ausschließlich  271  Männchen. 
Hier  lag  also  die  Ursache  der  Männchenbildung 
zweifellos  in  der  Überreife  der  Eier.  Und  wenn 
es  wirklich  berechtigt  ist,  für  den  Follikelsprung 
bei  der  P>au  die  Zeit  vom  11.  bis  15.  Tag  nach 
Menstruationsbeginn  anzunehmen,  so  besteht  eine 
auffallende  Übereinstimmung  mit  den  Froschver- 
suchen. Denn  die  ,jungen'  Eier  sind  dann  vor- 
wiegend mädchenbestimmend,  die  , alten',  über- 
reifen dagegen  knabenbestimmend.')  Krieg. 

')  In  einem  weiteren  Aufsatz  (Zentralblatt  für  Gynäkologie 
vom  21.  Oktober  1916)  macht  Siegel  den  Versuch,  den 
Knabenüberschuß  im  Kriege  zu  erklären. 


Bticherbesprechungen. 


Verworn,  Max,    Biologische   Richtlinien 
der  staatlichen  Organisation.     Natur- 
wissenschaftliche Anregungen  für  die 
politische  Neuorientierung  Deutsch- 
lands.    Jena   1917.     i  M. 
Der  Verfasser    knüpft   in    diesem  Vortrage  an 
den  oft  benutzten  Vergleich  zwischen  dem  Zellen- 
staat des  lebenden  Organismus  und  der  im  Staat 
verkörperten  Gemeinschaft  von  Menschen  an,  um 
aktuelle    politische    Folgerungen    zu    ziehen.     Die 
Harmonie     der    Teile     im    Organismus     läßt    er 
warnend  gegen  den  Imperalismus   auftreten   (wo- 
bei   es    sich    allerdings    gar    nicht    mehr    um    ein 
staatliches    Problem,    sondern    um    ein    zwischen- 
staatliches   handelt),    die    feine    Entwicklung    der 
Individualität    der   Zellen    mit   Rücksicht   auf   das 


Ganze  soll  das  vorbildliche  Beispiel  für  die  wahre  in- 
dividuelle Freiheit  im  Staate  abgeben  usw.  Dabei 
wird  freilich  hie  und  da  die  Berührung  mit  bio- 
logischen Problemen  ganz  gelockert,  und  der  Verf. 
spricht  sich  auch  manches  vom  Herzen  herunter, 
was  mit  Biologie  nichts  mehr  zu  tun  hat.  Soweit 
nun  solche  Auseinandersetzungen  nur  biologisch 
illustrierte  Politik  wären,  den  Versuch  darstellten, 
politische  Probleme  gewissermaßen  in  biologischer 
Denk-  und  Sprechweise  zu  behandeln,  würde  man 
sie  gerne  auf  sich  wirken  lassen,  zumal  Verworn 
immer  Anregendes  zu  sagen  weiß.  Aber  der  Autor 
ist  anspruchsvoller  als  Menenius  Agrippa:  die 
Biologie  soll  die  Lehrmeisterin  der  Politik  sein, 
biologische  Gesetze  sollen  auch  für  das  staatliche 
Leben  Gültigkeit  haben  und  dürfen  nicht  ungestraft 


672 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  4; 


verletzt  werden.  Das  kann  aber,  wie  ich  meine, 
im  Ernst  nicht  behauptet  werden.  Staaten  sind 
immer  Abstracta,  Lebewesen  dagegen  Concreta;  die 
staatliche  Gemeinschaft  wird  aus  vielen  Individuen 
gebildet,  die  physiologisch  vollkommen  unabhängig 
voneinander  sind,  das  Lebewesen  ist  dagegen  ein 
unteilbares,  einheitliches  Ganzes,  das  zwar,  ana- 
tomisch betrachtet,  eine  merkwürdige  innere 
Gliederung  zeigt,  aber  physiologisch  ein  Individuum 
ist  und  bleibt.  Eine  physiologisch  selbständige 
Existenz  gibt  es  für  die  Zellen  nicht.  Deshalb  ist 
auch  die  Vorstellung  von  dem  Organismus  als 
einer  staatenartigen  Aggregation  von  Elementar- 
wesen niederer  Ordnung  höchstens  ein  Bild,  das 
die  anatomische  Beschaffenheit  des  Körpers  ver- 
anschaulichen kann,  das  aber  sofort  versagt,  sobald 
es  sich  um  die  Deutung  irgendeines  physiologischen 
Prozesses  handelt.  De  Bary  hatie  ganz  recht, 
als  er  seinerzeit  sagte,  nicht  die  Zellen  bauen 
den  Organismus,  sondern  der^jOrganismus  baue 
sich  die  Zellen.  Ganz  abgesehen  von  diesen  Ein- 
wänden, würde  ich  es  auch  überhaupt  für  frucht- 
los halten,  wenn  wir  biologische  Betrachtungen 
und  Ergebnisse  auf  Dinge  übergreifen  ließen,  mit 
denen  sie,  wenigstens  grundsätzlich,  nichts  ver- 
bindet. Biologie  ist  gut  und  Politik  ist  gut,  aber 
die  Kombination  von  beiden  muß  deswegen  nicht 
auch  gut  sein.  Miehe. 

Fitting-Jost-Schenck-Karsten,  Lehrbuch  der 
Botanik  für  Hochschulen.  13.  umge- 
arbeitete Auflage.  Mit  845  z.  T.  farbigen  Ab- 
bildungen. Jena  1917.  G.  Fischer,  n  M. 
Wie  ein  Regenbogen  auf  der  veränderlichen 
Wolke  hat  der  „St  ras  bürg  er"  den  Wechsel 
der  Zeiten  und  der  Autoren,  von  denen  nur  noch 
Schenck  zu  den  Begründern  des  Buches  gehört, 
überdauert  und  seine  alte  Anziehungskraft  bewahrt. 
Von  Auflage  zu  Auflage  haben  die  Herausgeber 
an  dem  Buche  weiter  gefeilt,  es  bereichert,  umge- 
staltet, vieles  Neue  an  Tatsachen  und  Anschauungen 
mit  der  Zeil  hineingetragen,  manches  Alte,  ehemals 
liebevoll  gehegte  erbarmungslos  hinausgetan.  Auch 
die  vorliegende  Auflage,  bereits  die  13.,  weist 
überall  die  Spuren  der  Tätigkeit  der  Herausgeber 
auf,  insbesondere  ist  auch  wieder  die  Zahl  der 
Abbildungen  vermehrt  worden.  Die  Reichhaltig- 
keit des  Buches  ist  geradezu  erstaunlich  und,  wenn 
sie  auch  für  den  Anfänger  ein  etwas  verwirrendes 
Moment  in  sich  birgt,  so  ist  sie  doch  andererseits 


für  den,  der  sich  tiefer  in  die  Botanik  versenkt, 
immer  wieder  ein  Reiz,  indem  er  sich  unmittel- 
barer, als  das  vielleicht  in  anderen  Lehrbüchern 
der  Fall  ist,  mit  dem  Fortschreiten  der  Wissen- 
schaft verknüpft  fühlt.  Dazu  tragen  auch  die 
Literaturzitate  am  Schlüsse  bei.  In  bezug  auf  diese 
letzteren  möchte  ich  übrigens  (ohne  die  großen 
Schwierigkeiten  zu  verkennen),  bemerken,  daß  sie 
mir  hier  und  da  etwas  gar  zu  willkürlich  aus- 
gewählt erscheinen.  Es  kann  z.  B.  vorkommen, 
daß  im  Text  vorn  eine  gewisse  Materie  in  engem 
Anschluß  an  die  Untersuchungen  eines  Autors  dar- 
gestellt, im  Literaturverzeichnis  aber  nicht  dieser, 
sondern  ein  anderer  genannt  wird.  —  Eine  Emp- 
fehlung dieses  Buches,  das  zu  den  erfolgreichsten 
Lehrbüchern  für  Hochschulen  gehört,  erübrigt  sich, 
es  genüge,  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß 
wieder  eine  neue  Auflage  erschienen  ist.      Miehe. 


Arzneipflanzen  Merkblätter  desKaiserlichenGe- 
sundheitsamts.  Berlin  1917.  J.Springer.  i,8oM. 
Das  früher  ganz  allgemein  in  Deutschland 
übliche  Sammeln  von  Kräutern  war  vor  dem  Kriege 
stark  zurückgegangen,  so  daß  ein  erheblicher  Teil 
aus  dem  Auslande  bezogen  wurde.  Die  veränderten 
Verhältnisse  machen  es  aber  wünschenswert,  zu 
der  alten  Gewohnheit  zurückzukehren.  Zur  P'örde- 
rung  dieser  Bestrebungen  hat  das  Reichsgesund- 
heitsamt in  Gemeinschaft  mit  dem  Arzneipflanzen- 
aus«chuß  der  Deutschen  Pharmazeutischen  Gesell- 
schaft Berlin-Dahlem  eine  Reihe  von  30  Merk- 
blättern herausgegeben,  auf  denen  die  in  erster 
Linie  von  dem  Drogenhandel  verlangten  Pflanzen 
dargestellt  und  beschrieben  sind.  Außerdem  ent- 
halten die  Blätter  Angaben  über  das  Vorkommen, 
die  verwendbaien  Teile,  ihre  Einsammlung  und 
Trocknung.  Auf  einem  besonderen  Merkblatte  sind 
die  Winke  über  Zeit  und  Art  des  Sammeins, 
Trocknung  und  Aufbewahrung  zusammengestellt. 
Diese  Blätter  sind  in  dem  vorliegenden  Bändchen 
vereinigt  und  mit  einer  Einleitung  versehen,  in 
welcher  auch  Hinweise  auf  die  zweckmäßigste 
Organisation  desSanimelns  und  die  Absatzmöglich- 
keiten gegeben  werden.  Die  farbigen  Abbildungen 
sind  die  bekannten  vorzüglichen  des  Strasburger- 
schen  Lehrbuchs  der  Botanik.  Miehe. 


Druckfehlerberichtigung. 
In  dem  Aufsatz  von  Dr.  Häußler,  in  Nr.  36  der  Naturw. 
Wochenschr.    soll    es    auf    S.   502,    Sp.  2    etwa    in    der  Mitte 
heißen:  „anorganischer  Salze"  statt;  „organischer". 


;  O.  Herrmann,  Ursprung,  Verbreitung  und  Nutzbarmachung  der  chemisch-industriellen  mineralischen  Rohstoffe.  S.  657. 
R.  Krause],  Die  Seefelder  bei  Reinerz  in  Schlesien,  ein  des  Schutzes  bedürftiges  Hochmoor.  (3  Abb.)  S.  Ö59.  — 
Einzclberichte:  Rob  ert  K  offer  ath  ,  Kaninchenjagd  mit  dem  Frettclien.  S.  664.  W.Kranz,  Wasserversorgung  durch 
oflene  Gräben,  Sickerung,  Drainage.  S.  665.  Arved  Schultz,  Die  nutzbaren  Mineralien  des  Pamir.  S.  666.  Max 
Schmidt,  Über  den  Verschluß  von  Präparatengläsern.  S.  666.  Gerlach,  Über  die  Einwirkung  von  gasförmigem 
Ammoniak  auf  Superphosphate  und  die  Verwendung  der  gewonnenen  Ammoniakphosphate.  S.  667.  H.  Schroeder, 
Eocäne  Säugetierreste  aus  Nord-  und  Mitteldeutschland.  S.  668.  Max  Schlosser,  Die  zeitliche  und  räumliche  Ver- 
breitung und  Stammesgeschichte  der  fossilen  Fische.  S.  668.  Siegel,  Konzeptionsfähigkeit  und  Geschlechtsbestimmung 
beim  Menschen.  S.  670.  —  Blicherbesprechungen :  MaxVerworn,  Biologische  Richtlinien  der  staatlichen  Organisation. 
S.  671.  Fitting-Jost-Schenck-Karsten,  Lehrbuch  der  Botanik  für  Hochschulen.  S.  672.  Arzneipflanzen-Merk- 
blätter des  Kaiserlichen  Gesundheitsamts.  S.  672.     Druckfehlerberichtigung.  S.  672. 


Manuskripte  und  Zuschriften 


rden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a,  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  2.  Dezember  1917. 


Nummer  48. 


Die  Veränderungen  der  Landoberfläche  durch  das  Wasser. 


[Nachdruck  verboten.  Mit  9  Abbildi 

nüvTa  qeI,  „Alles  ist  in  Fluß",  dieser  Grund- 
satz griechischer  Naturphilosophie  hat  ein  für 
allemal  den  Gedanken  vom  Stillstehen  im  Leben 
der  gesamten  Natur  zu  nichte  gemacht.  Auch  in 
der  Betrachtung  der  leblos,  unbewegt,  unverändert 
scheinenden  Erdoberfläche  spielt  dieser  Grundsatz 
eine  große  Rolle.  Hier  ist  das  alles  bewegende, 
neue  Veränderung  wirkende  Moment  das  Wasser. 
Nicht  nur,  daß  es  —  vorausgesetzt,  daß  nicht  ganz  be- 
sondere Ereignisse  eintreten  —  ewig  rinnt  und  den 
WegzumMeere  nimmt,  ist  das  Wasser  auch  der  Faktor, 
der  die  hauptsächlichsten  Veränderungen  der  Land- 
oberfläche vor  unseren  Augen  entstehen  läßt.  Im 
großen  wie  im  kleinen  verändert  und  umgestaltet 
es  den  Grund  und  Boden,  auf  dem  der  Mensch 
für  seine  kurze  Erdenfrist  sein  Dasein  aufgeschlagen 
hat.     Das  Bild  vom  „Strome  des  Lebens"  in  seiner 


ngen  im  Text. 

wechseln,  werden  diese  deutlich  oder  undeutlich 
sein  (Linien  AB,  CD,  Abb.  i).  Die  tieferen  Teile 
als  Sammelbecken  der  von  den  Hängen  herab- 
rinnenden Wasser  nennen  wir  Mulden  (GH,  IK, 
LM  der  Abb.  i).  Nähern  sich  zwei  Mulden,  so 
werden  die  in  ihnen  gesammelten  Wasser  einander 
zustreben  und  als  gemeinsame  größere  Wasserader, 
als  Fluß,  werden  sie  weiter  fließen,  bis  sie  ihr 
Ziel,  die  Küste  der  aufgetauchten  Insel  erreicht 
haben.  Durch  solche  Vereinigungen  mehrerer 
Mulden  und  damit  Stromlinien  entstehen  die 
Flußsysteme.  Hat  die  Oberfläche  dieser  Ur- 
insei, wie  man  sie  nennen  könnte,  insonderheit 
auffallende  Formen  wie  Stufen  oder  rundliche, 
kesseiförmig  allseitig  abgeschlossene  Vertiefungen, 
so  wird  entweder  das  Wasser  in  dem  einem  Fall 
über  diese  Stufen  abstürzen,  also  einen  VVasser- 


Abb.    I.     Diagramm  einer  Urobertiäche. 
(nach  Davis:    Erklär.  Beschreibung  der  Landformen.    S.  33). 

Übertragenen  Bedeutung  konnte  nur  ein  guter  Be- 
obachter des  ewig  fließenden  Wassers  wählen. 

Denken  wir  uns  einmal  den  Fall,  daß  aus  dem 
weiten  Ozean  eine  Insel  auftauche,  deren  Ober- 
fläche nicht  ganz  eben  ist,  sondern  schon  den 
Unterschied  von  hoch  und  niedrig  erkennen  läßt. 
Die  Lage  über  dem  Meere  wird  dieses  Stück  Erde 
sofort  den  Einflüssen  der  Witterung  aussetzen. 
Ohne  die  Wirkungen  der  Luft,  des  Windes,  des 
wechselnden  Klimas  zu  beachten,  sei  nur  dem  Wasser 
das  Augenmerk  geschenkt.  Der  fallende  Regen 
wird  die  Oberfläche  der  Insel  treffen  und  ent- 
sprechend den  großen  Verschiedenheiten  der  Ober- 
flächenform von  den  höheren  Stellen  zu  den  tiefer 
gelegenen  rinnen,  d.  h.  die  Höhenzüge  werden 
also  die  Wasser  trennen.  Wasserscheiden 
haben  sich  gebildet.  Je  nach  der  besonderen 
Ausgestaltung  der  Erhebung,  die  in  ihren  Umrissen 


Abb.  2.     Die  Entwicklung  der  Talgebänf 
(nach  Davis:  Erkl.  Beschreibung  der  Landformen.  S.  62). 

fall  (Q)  bilden,  oder  es  wird  im  zweiten  Falle 
sich  als  See  in  jener  Vertiefung  sammeln. 

An  allen  diesen  Urformen,  wie  sie  von 
Natur  aus  gegeben  sein  sollen,  wird  nun  die 
Arbeit  des  Wassers  einsetzen;  so  wird  als  not- 
wendige Folge  die  Arbeit  diese  einstmals  vor- 
handenen Urformen  verändern,  sie  zu  Folge- 
formen  machen.  Hier  beginnt  nun  unsere 
eigentliche  Betrachtung,  die  der  Arbeit  der 
Flüsse  und  der  Entstehung  der  Folgeformen 
gelten  soll: 

Das  [aus  den  Wolken  im  Regen  fallende]  Wasser 
muß  notwendigerweise  den  Untergrund  beein- 
flussen. Je  nachdem  dieser  entsprechend  seiner 
geologischen  Beschaffenheit  hart  oder  weich  ist, 
wird  diese  Arbeit  schwerer  oder  leichter  auszuüben 
sein  (vgl.  hierzu  Abb.  2).  Es  werden  jedenfalls 
Vertiefungen  im  Erdboden  entstehen.  Jeder 
Regenguß  läßt  an  aufgeschütteten  Halden,  Schutt- 


674 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  48 


häufen,  Straßenrändern  solche  „Regenrinnen" 
entstehen  und  beobachten.  Sie  sind  aufs  Große 
übertragen  der  Anfang  jedes  Tales.  Das 
prüfende  Auge  erkennt  hier  schon  Unterschiede 
der  Wasserführung,  der  Richtung  und  der  Größe 
von  Haupt-  und  Nebental  (vgl.  Abb.  2).  Der 
Fluß  „erodiert",  von  lat.  erodere  =  abnagen,  weg- 
fressen; der  Vorgang  selbst  ist  die  Erosion,  d.  h. 
die  linienhaft  wirkende  Tiefenarbeit  des  Wassers.  Die 
hier  geleistete  Arbeit  ist  vergleichbar  der  einer 
„Säge";  ebenso  wie  diese  wirkt  sie  von  oben  nach 
unten,  also  in  vertikaler  Richtung.  Der  in  der 
Landoberfläche  zunächst  geschaffene  Einschnitt 
muß  also  eigentlich  senkrechte  Wände 
zeigen  und  durch  die  fortschreitende  Arbeit  des 
Flusses  immer  tiefer  werden.  Nun  kann  aber  die 
Durchfeuchtung  der  Talwände  durch  das  Grund- 
wasser einerseits,  durch  das  nun  auch  auf  die  neuen 
bloßgelegten  Flächen  wirkende  Regenwasser  und 
den  Fluß  selbst  andererseits,  nicht  ohne  Einfluß 
auf  diese  bleiben.  Es  tritt  somit  ein  langsamer 
Ausgleich  der  Formen  ein.  Die  Hänge  werden 
abgespült  und  dadurch  flacher.  Das  Profil  des 
Flusses  wird  die  bekannte  Form  eines  V  an- 
nehmen. Da  die  gesamte  Arbeit  noch  nicht  lange 
von  dem  Flusse  ausgeübt  wird,  können  wir  die 
hier  geschaffenen  Formen  als  „jugendliche" 
bezeichnen.  Die  Tiefenarbeit  herrscht  vor,  die 
Bearbeitung  der  seitlichen  Wände  ist  noch  Neben- 
sache (A  in  Abb.  2).  Der  Fluß  wird  weiter  sein 
Bett  vertiefen,  zugleich  aber  wird  die  Arbeit  an 
den  Talwänden  Schritt  zu  halten  versuchen.  Diese 
Talwände  werden  flacher,  ohne  eine  regelmäßige 
Form  anzunehmen;  Unebenheiten,  Felsvorsprünge, 
werden  noch  das  Landschaftsbild  beherrschen. 
Die  Talformen  sind  in  ihrem  Alter  schon  etwas 
vorwärts  gekommen  (2).  Die  Verwitterung 
durch  Luft,  Wind  und  Wasser  beeinflußt  auch 
diese  Felsnasen;  der  sich  bildende  Verwiite- 
rungsschutt  wird  den  Abhang  abwärts  rut- 
schen und  Schutthalden  an  den  Hängen  bilden, 
die  den  Fels  wieder  verhüllen  und  das  Profil 
des  Tales  ausgleichen  (B  und  C  in  Abb.  2).  Der 
Fluß  hat  inzwischen  Zeit  gehabt,  Unebenheiten 
in  seinem  Bett,  die  zu  Wasserfällen,  Strudeln 
und  Richtungsveränderungen  Anlaß  geben,  durch 
kräftige  Arbeit  zu  beseitigen.  Sein  Lauf,  der  vor- 
her, in  der  Zeit  der  „Jugend",  unruhig,  ungestüm, 
stolpernd  war,  wird  allmählich  ruhiger,  ausge- 
glichener. Die  Arbeit  in  die  Tiefe  läßt  immer  mehr 
nach,  dafür  wird  die  Veränderung  der  Gehänge, 
also  die  Wirkung  nach  der  Seile,  größer.  An 
ihnen  bewirkt  die  Abspülung  des  Regens  und  die 
Verwitterung  im  aligemeinen  eine  Erniedrigung 
und  damit  eine  noch  flachere  Form.  Der  Abstand 
der  Talwände  wird  immer  größer,  das  Tal  immer 
breiter  (C  und  D  in  Abb.  2).  Der  Fluß  kommt  in  ein 
Stadium,  in  dem  er  träger  dahinfließt  und  aus 
Mangel  an  Gefälle  seinen  Lauf  verändert,  in  dem 
er  von  einer  Seite  des  Tales  zur  anderen  fließt, 
ja  wohl  auch  schon  dabei  wieder  das  Ufer  selbst 
bearbeitet  (D  in  Abb.  2).     Die  Talformen  nehmen 


mit  ihren  flachen,  von  Schutt  überzogenen,  weit 
sich  voneinander  entfernenden  Hängen,  dem 
breiteren  Talboden  und  dem  die  Aue  querenden 
P'luß  die  Zeichen  des  vorgerückten  Alters,  der 
Reife,  an.  In  diesem  Reifestadium  der  Tales 
sind  müde  Windungen  ^Mäander  (benannt  nach 
dem  diese  Laufform  typisch  aufweisenden  Fluß  in 
Kleinasien)  dem  alternden  Flusse  eigentümlich  (E  in 
Abb.  2).  Die  Kraft  zum  Einschneiden  erlahmt  immer 
mehr,  die  Hänge  bearbeitet  aber  noch  immer  der 
abspülende  Regen.  Zugleich  aber  schafft  der  bald 
an  diesem,  bald  an  jenem  Ufer  anprallende,  durch 
die  Aue  pendelnde  Fluß  hier  wieder  steile  F'ormen 
durch  die  Benagung  der  bis  dahin  flacher  gewor- 
denen Gehänge;  es  entstehen  Prallstellen, 
deren  senkrechte  Wände  den  an  ihrem  Fuße 
nagenden  Fluß  überragen  (D  in  Abb.  2).  Der 
Querschnitt  ähnelt  dann  mehr  dem  eines 
Kastens. 

In  seinen  verschiedenen  Stadien  der  Kindheit, 
der  Jugend,  des  Alters  und  der  Reife  wechselt 
also  der  Querschnitt  des  Flusses  derart,  daß  zu- 
nächst ein  schluchtartiges  Profil  entsteht 
(I  Abb.  3):  wir  sprechen  dann  wohl  von  einer 
Klamm  oder  einem  Kanon.  Die  Talwände  sind 
steil,  der  Talboden  äußerst  schmal;  die  Tiefen- 
arbeit überwiegt.  Allmählich  entsteht  das  steil- 
V-förmige  Profil  (II):  die  Seitenwände  flachen 


Abb.  3.     Que 


sich  durch  Abspülung  der  oberen  Erddecke  ab, 
noch  stehengebliebene  Felsen  verwittern,  die 
Tiefenarbeit  läßt  nach.  Die  seitliche  Bearbeitung 
der  Talwände  ermöglicht  das  flach -V-förmige 
Profil  (111).  Bei  weiterer  Abschrägung  der  Ge- 
hänge und  Verlangsamung  der  Tiefenerosion  ent- 
stehen breite  Talböden  (IV)  mit  teilweise 
wieder  steilen  Wänden  (Kastenprofil).  Noch 
aber  hört  die  Entwicklung  nicht  auf.  Die  Steil- 
wände werden  durch  den  flächenhaft  spülen- 
den Regen  wieder  abgeflacht  (V);  die  Hänge  ver- 
schwinden allmählich  ganz,  das  ganze  Land  wird 
flacher  und  immer  flacher  in  der  Umgebung  des 
Flusses,  es  wird  am  Ende  fast  eingeebnet  sein  (VI). 
Damit  endet  die  Entwicklung  des  Ouerprofils. 

Dem  Querschnitt  in  seinen  verschiedenen 
Stadien  und  Formen  entspricht  die  Veränderung 
des  Längsprofils.  Es  ist  dies  die  Verbindung 
des  Quellpunktes  mit  der  Mündung.  An  allen 
Stellen  arbeitet  der  Fluß  an  der  Tieferlegung 
seiner  Sohle.  Es  muß  durch  diese  Arbeit  das  ur- 
sprüngliche Gefälle  immer  geringer  werden,  der 
Vorgang  der  Tiefenarbeit  selbst  also  durch  diese 
sich  allmählich  abschwächen;  ein  Minimalge- 
fälle wird  erreicht  werden,  bei  dem  die  Tiefen- 
arbeit  aufliört,  wo   die  Wasserkraft    gerade  noch 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


675 


ausreicht,  das  Wasser  selbst  vorwärts  zu  bewegen. 
Der  Fluß  hat  dann  sein  Gefälle  ausgeglichen  und 
ein  Endgefälle  erreicht.  Dieses  kann  nie  gleich 
Null  sein,  denn  horizontal  kann  kein  Fluß  fließen; 
die  Quelle  muß  stets  höher  liegen.  Entprechend 
der  geringeren  Wassermenge  im  Oberlauf  wird 
das  Gefälle  dort  steil  sein;  die  Zunahme  der 
Wassermenge  und  die  Art  dieser  Zunahme  wird 
das  Längsprofil  derart  beeinflussen,  daß  es  in  dem 
Mittel-  und  Unterlauf  flacher  gestaltet  ist.  Im  ganzen 
also  wird  die  Verbindung  von  Quelle  zur  Mündung 
die  Gestalt  einer  Kurve  haben,  die  in  ihren  Einzel- 
heiten wechselt  (Abb.  4).  Diese  Endkurve  wird 
nun  nur  dadurch  erreicht,  daß  die  nagende,  sägende 
Tätigkeit  des  Flusses  rückwärts  wirkt.  Setzt  man 
ein  gleichmäßiges  Anfangsgefälle  des  Flusses  voraus, 
so  wird  entsprechend  der  nach  unten  hin  zu- 
nehmenden Wassermenge  hier  die  Erosion  am 
stärksten  einsetzen  und  sich  nach  oben  hin  fort- 
setzen. Es  ist  dies  das  Grundgesetz  der 
rückwärtsschreitenden  Erosion.  Niemals 
aber   kann   dabei   eine  Flußstelle  —  von  Strudel- 


Abb.  4.     Längsprofile  des  Tales. 

löchern  abgesehen  —  tiefer  eingeschnitten  werden 
als  die  nächst  abwärts  gelegene. 

Zusammenfassend  kann  gesagt  werden,  daß  das 
Ouerprofil  des  Flusses  bedingt  ist  durch  die 
Tiefenarbeit,  durch  die  Seitenarbeit  und 
durch  die  Abspülung  der  Gehänge;  die  Tiefen- 
erosion will  die  Gehänge  steil  erhalten,  die  Seiten- 
erosion will  sie  zurückdrängen,  die  Abspülung  an  den 
Tal  wänden  will  sie  abflachen.  Anders  das  Längs- 
profil:  Das  Wasser  arbeitet  dauernd  an  seiner 
Vertiefung,  es  gleicht  das  Gefälle  aus,  es  bearbeitet 
das  Längsprofil  im  Rückwärtsschreiten.  Für  die 
Veränderung  beider,  des  Längs-  und  des  Quer- 
profils, bedarf  der  Fluß  einer  gewissen  lebendigen 
Kraft  (k);  diese  wiederum  ist  bedingt  durch  die 
Wassermenge  (m)  und  die  Wasserge- 
schwindigkeit (v).  Es  ist  in  eine  Formel 
gefaßt :  k  =  m  ■  v.  Die  Größe  der  Wasser- 
geschwindigkeit wiederum  hängt  ab  von  der 
Menge  des  zu  Tal  fließenden  Wassers  und  vom 
Neigungswinkel  der  Talsohle.  An  einem  Beispiel 
erörtert  berechnet  sich  das  Gefälle  (G)  eines 
Flusses  leicht  aus  dem  Höhenunterschied  zweier 
Punkte  der  Laufstrecke  und  dem  linearen  Abstand  (E) 

beider  Funkte;  somit   ist  G  =  -j^  oder  in  Zahlen 
'  E 

berechnet : 

Hl  =  So  m  E(ntfernung)  Aj  —  A2  =  4°  km 

Ho  =  60  m  „        20        , ,     ,  ,  f     1 

-^ G  =  —  =  V"  d.  h.  I  m  auf  2  km. 

H„  =  20  m  40 

Aber   auch   die  Wasser  menge  ist  Schwan- 


kungen unterworfen.  In  erster  Linie  sind  das 
Klima  des  Landes  und  die  Niederschläge  ihre 
Regulatoren.  Immer  aber  wird  die  überall  vor- 
handene und  zu  beobachtende  lebendige  Kraft 
desWassers  indreifach  verschiedenerWeise 
der  Arbeit  sich  äußern.  Sie  wird  einmal 
erodieren,  d.  h.  das  Flußbett  abnützen,  ausnagen; 
das  geschieht  sowohl  in  die  Tiefe  bei  starker 
Erosion,  nach  der  Seite  bei  schwächerer  Erosion. 
Auf  jeden  Fall  wird  aus  dem  schmalen  Flußbett 
das  Tal.  Dieselbe  lebendige  Kraft  des  Wassers 
wird  sich  aber  auch  äußern  im  Transportiere  n. 
Die  vom  Wasser  am  Talboden  und  an  den  Tal- 
wänden gelösten  Geröll-  und  Sandmassen  werden 
fortgetragen,  bis  die  Kraft  des  Flusses  erlahmt. 
Dann  wird  eine  dritte  Arbeit  geleistet,  d.  i.  das 
x\b lagern.  Da,  wo  die  Wasserkraft  zu  schwach 
wird,  um  das  bis  dahin  mitgeschleppte  Material 
weiterzutragen,  bleibt  es  liegen.  Alle  drei  Arbeiten 
stehen  natürlich  in  inneren  Zusammenhängen  mit- 
einander. Zumeist  wirken  sie  alle  drei  gleich, 
nur  überwiegt  immer  die  eine  an  der  betreffenden 
Stelle.  Es  wird  die  Arbeit  der  Erosion  und  des 
Transports  vorwiegend  im  Ober-  und  Mittellauf 
vom  Fluß  geleistet  werden,  während  im  Unter- 
laufe die  Ablagerung  vorwiegt. 

Die  einfachen  Erwägungen  über  den  Lauf  eines 
Flusses  und  seine  Talformen,  den  bedingten  Wechsel 
des  Quer-  und  Längsschnittes  und  der  vom  Wasser 
geleisteten  Arbeit  ergeben  den  Schluß,  daß  hier 
dauernde  Veränderungen  vor  sich  gehen.  Sie 
mögen  dem  Auge  des  Menschen  —  wenigstens  in 
ihren  Endmaßen  —  verborgen  bleiben,  aber  sie 
beeinflussen  im  ewigen  Fortbestehen  die  Oberfläche 
und  geben  ihr  stündlich  ein  wechselndes  Aussehen. 
Da  nun  diese  Veränderungen  jedes  Tal  betreff'en, 
also  auch  2  benachbarte,  nur  durch  einen  Höhen- 
rücken getrennte  Täler,  so  muß  dadurch  unmittel- 
bar eine  Veränderung  der  gesamten  Um- 
gebung der  Tallandschaften  eintreten. 

Haben  zwei  Flüsse  in  ihren  Anfangsstadien  in 
einiger  Entfernung  von  einander  sich  in  eine  Hoch- 
fläche eingeschnitten  (vgl.  Abb.  5,  6  und  7),  so 
bleiben  zunächst  ausgedehnte  Stücke  unbeeinflußt 
durch  die  in  den  Tälern  sich  abspielende  Arbeit 
stehen.  DieRänderdieser  „Riedel",  d.h.  der  stehen- 
gebliebenen ebenen  Teile  der  Hochfläche,  werden 
scharfkantig  sich  absetzen  gegen  die  Klammwände 
(Abb.  5).  Ganz  allmählich  werden  diese  Riedel- 
flächen abgeböscht  zu  den  Tälern  hin.  Es  ent- 
stehen allmählich  „Rücken",  die,  mit  den  Tal- 
wänden verwachsen,  sich  trennend  zwischen  die 
beiden  Täler  einfügen.  Nur  da,  wo  zwei  Täler 
nahe  beieinander  sind,  oder  wo  dem  Gestein  ent- 
sprechend die  Flüsse  rasch  einschneiden  können, 
entstehen  steilere  Formen  zwischen  den  Tälern; 
ein  Grat  als  Kammlinie  wird  gebildet  werden, 
von  dem  steil  die  Talwände  nach  beiden  Seiten 
zum  Fluß  führen  (Abb.  5a  u.  5b).  Schutthalden  ohne 
Vegetationsdecke  zeigen  oft  dieses  infolge  rasch 
wirkenden  Regens  geschaffene  Bild.  Die  Trocken- 
gebiete des  westlichen  Nordamerika  weisen  in  weiter 


676 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Ausdehnung  solche,  von  Schluchten  und  tiefen 
Taleinschniiten  durchzogene  Landschaften  auf,  deren 
Queren  unmöglich  ist.  „Schlechtes  Land"  = 
Bad  land  nennt  sie  der  Amerikaner.  Unser  gleich- 
mäßig zwischen  Feuchtigkeit  und  Trockenheit 
wechselndes  Klima  gestattet  fast  überall  das  Ent- 
stehen einer  die  Erdoberfläche  schützenden  Vege- 
tationsdecke und  verhindert  damit  das  Entstehen 
solcher  Gratlandschaften.  Aber  auch  die  Gratformen 
bleiben  nicht  ewig  bestehen,  sie  werden  zu 
Rückenlandschaften  mit  flachgewellter  Ober- 
fläche.    Die  Veränderung  geht   weiter;   sie  ebnet 


Der  vorher  in  diesem  Tale  fließende  Fluß  verliert 
sein  Haupt,  denn  dieses  muß  nun  dem  neuen 
Flusse  folgen  und  das  alte  Tal  wird  entweder 
ohne  Wasser  sein  oder  nur  an  Spuren  von  Wasser- 
resten und  dem  Geröll  den  ehemaligen  Wasser- 
lauf erkennen  lassen  können. 

An  den  Quellflüssen  der  Donau  bei  Tuttlingen 
ist  diese  Anzapfung  durch  die  zum  Rhein  fließende 
Wutach  heule  noch  deutlich  erkennbar.  Donau 
und  Aitrach  fließen  hier  in  700  m  Höhe  in 
breiten  Tälern  nach  Osten;  im  Süden  liegt,  nicht 
weit    entfernt    und    nur    300  m   hoch,   der  kräftig 


(Zwischenstufe)     llllllllllll  llflllllWiiWM  n:rT.^^^^^TT7rrmmwffTTTnT>^      genindete  Rücken 

(Alter) 

^T^tT     iMliiiiiiiillIiHllliiiilifW 


Abb.  5.     Veränderung  der  LandoberflUche  (nach  Pen 
a)  bei  geringer  Taltiefe.         b)  bei  großer  Taltiefe 


ck). 


Abb.  6.     Regenrinnen    auf   ge- 
neigtem Boden  (Riedelformen). 


das  Land  zwischen  den  beiden  Tälern  ein.  Es 
entsteht  die  fast  ebene  Landschaft,  die  „Fast- 
ebene"  oder  „Peneplain",  auch  Rumpfland- 
schaft genannt;  denn  das  Land  erscheint  nun- 
mehr als  ein  Rumpf,  dem  seine  hauptsächlichsten 
Glieder  genommen  sind. 

Fließen  die  Flüsse  einander  parallel  und  haben 
sie  gleiche  Wasserführung  und  gleiche  Gesteins- 
^verhältnisse  auf  ihrem  Laufe,  so  werden  im  all- 
gemeinen von  beiden  Seiten  her  die  Wirkungen 
dieselben  sei.  Sie  werden  wechseln  mit  veränderten 
Verhältnissen  des  einen  der  Flüsse.  Stärkere 
Wasserführung  auf  der  einen  Seite  wird  eine 
raschere  Arbeit  dieses  Flusses  und  damit  eine 
stärkere  Beeinflussung  der  Talwände  und  der  Hoch- 
fläche überhaupt  nach  sich  ziehen;  dasselbe  gilt 
von  einem  Wechsel  im  Gestein.  So  werden  die 
Folgeformen,  die  sich  allmählich  zwischen  den 
Tälern  aus  der  ursprünglich  angenommenen  ebenen 
Hochfläche  herausbilden,  wechseln  in  Lage,  Höhe, 
Form.  Fließen  zwei  Flüsse  aufeinander  zu,  so 
wird  an  ihrer  Mündung  die  beiderseitige  Wirkung 
sich  verdoppeln,  also  an  der  Beseitigung  der  Höhen 
mit  verschärfter  Kraft  arbeiten,  im  Gegensatz  zu 
den  Quellgebieten,  wo  die  wirkenden  Kräfte  noch 
weit  voneinander  getrennt  sind  (vgl.  Abb.  6  und  7). 
Nähert  sich  einem  Flusse,  der  langsam  zu  Tal 
strömt,  ein  anderer  Fluß  mit  seinem  Ouellgebiet, 
so  wird  dieser  den  trennenden  Rücken  zu  beseitigen 
suchen.  Seine  Arbeit  wird  infolge  des  größeren 
Gefälls  rückwärts  wirkend  den  Rücken  zersägen 
und  in  den  Lauf  des  anderen  I^'lusses  eingreifen. 
Es  findet  eine  Anzapfung  statt  (Abb.  8  und  9). 


^r^TTT 


1^ 


arbeitende  Rhein.  Ein  Nebenfluß  des  Rheins,  die 
Wutach  hat  bei  Achdorf  und  Blumberg  in  den 
Lauf  der  Aitrach  eingegrifi'en  und  den  Fluß  ge- 
köpft, dessen  Oberlauf  schon  auf  550  m  ein- 
schnitten ist.  Hoch  darüber  öffnet  sich  bei  Blum- 
berg das  verlassene  Tal,  in  dessen  Boden  nur  ein 
kleiner  Bach,  der  Schleifebach,  sich  hineinarbeitet, 
ein  Zwerg  im  Riesen- 
bett. In  der  ur- 
sprünglichen Rich- 
tung der  Wutach 
greift  ein  anderer 
Bach,  der  Krotten- 
bach  weiter  zurück 
und  wird  wohl  der- 
einst einmal  die 
Donau  selbst  an- 
zapfen. 

Die  Folge  dieser 
veränderten  Laufge- 
staltung der  Flüsse 
ist  eine  notwendige 
VeränderungderGe- 
ländeformen.  Immer 
wird  die  Endform 
die  Ebene  oder  besser  gesagt  die  „Fastebene"  sein. 
Die  Entwicklungsreihe  der  durch  die 
Arbeit  des  fließenden  Wassers  geschaffenen  und 
zu  schaffenden  Formen  wird  sein :  anfangs  eine 
leichte  Durchfurchung  durch  steile  Schluchten 
zwischen  breiter  Riedellandschaft,  dann  tiefere  Zer- 
talung  mit  flacheren  Talhängen  und  Restflächen 
dazwischen,    dann    Ausbildung    der    Riedel-    und 


\,^  ->^*a^^W/. 


Abb.    7.      Zertalte  Landschaft   mit 

stehengebliebenen  Restflächen 

(Riedel). 


N.  F.  XVI.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


677 


und  Restflächen  zu  einem  GebirgsreUef,  endlich 
die  Abtragung  des  letzteren  zu  einer  sanftwelligen 
Landschaft. 

Der  amerikanische  Geograph  William  iVIorris 
Davis,')  dem  wir  über  diese  Gebiete  der  Mor- 
phologie die  wichtigsten  Arbeiten  verdanken, 
spricht  nach  der  Entwicklung  der  Urformen  zu 
Folge-  und  Endformen  von  einem  Zyklus,  das 
wir  mit  Abi  auf  wiedergeben  wollen.  Normal  ist 
dieser  Zyklus,  wenn  die  Veränderungen  durch  das 
Wasser  erfolgt;  seine  volle  Ausgestaltung  aber  ist 
nur  möglich,  wenn  vollständige  Ruhe  im  Erdinneren 


rufen.  Herrschte  auf  der  Erdoberfläche  eine  ausge- 
sprochene, undenklich  lange  Zeiten  währende  Ruhe, 
so  müßten  die  vollständig  entwickelten  Fastebenen 
häufig  auftreten;  diese  aber  gehören  zu  den 
Seltenheiten.  Die  Bodenbewegungen,  von  den 
kleinsten  Ausmaßen  kaum  merklicher  Verände- 
rungen bis  zu  den  großen  der  Brüche  und  Fal- 
tungen sind  aber  nun  in  der  Natur  so  häufig,  daß 
es  in  den  allerseltensten  Fällen  der  Bearbeitung 
der  Erdoberfläche  durch  das  Wasser  zu  einer  in 
einem  einzigen  Ablauf  geschaffenen  Fastebene 
kommt.    Veränderungen  der  Landoberfläche  durch 


Abb.  8.     Bevorstehende  Anzapfung  eines  Tales 


Abb.  9.     Vollzogene  Anzapfung. 


die  Erdoberfläche  der  Wirkung  des  fließenden 
Wassers,  also  dem  Regen  und  derGehängeabspülung 
ausgesetzt  sein  läßt.  Tektonische  Bewegungen  an 
irgendeiner  Stelle  der  Tallandschaft  würde  natur- 
gemäß die  einmal  begonnene  Arbeit  unterbrechen; 
sie  muß  dann  von  neuem  aufgenommen  werden. 
Die  Formen  werden  demgemäß  nicht  die  gewöhn- 
liche Entwicklung,  wie  wir  sie  oben  ableiteten, 
nehmen  können.  Hebung  eines  Landteils,  Ver- 
biegung,  Aufwölbung  oder  Bruch  im  Verlauf  der 
Arbeit  des  Wassers  an  einer  Erdstelle  werden  das 
Ende  eines  „Ablaufs"  und  seiner  Formenreihen  inner- 
halb der  früheren  bedeuten.  Nur  ist  dieser  „Ablauf" 
unvollständig  geblieben,  er  hat  nicht  als  Endform 
die    völlige    Einebnung   der  Landschaft    hervorge- 

')  W.  M.  Davis,  Die  erklärende  Beschreibung  der  Land- 
formen. Leipzig,  Teubner  19 12.  —  Davis-Rühl,  Grund- 
züge der  Physiogeographie.  Leipzig,  Teubner  1911.  ■ — 
Davis,  Practical  exercises  in  physical  geography,  mit  Atlas. 
Chicago   1908. 


tektonische  Bewegungen  können  ein  Tiefland  zum 
Hochland  werden  lassen  oder  umgekehrt,  die  Lage 
zum  Meere  kann  sich  ändern  und  damit  erleidet  die 
Basis,  an  die  jeder  Fluß  mit  seiner  Tiefenarbeit  sich 
anlehnt,  eineVerschiebung  undVeränderung,  die  sich 
dem  weiteren  Flußlaufe  mitteilen  und  seine  Formen- 
bildung beeinflussen  muß.  Immer  werden  Ver- 
änderungen des  Klimas  damit  verbunden  sein. 
Knüpften  sich  unsere  Betrachtungen  über  den 
„normalen  Zyklus"  an  ein  feuchtes  Klima  unserer 
geographischen  Breiten,  so  werden  klimatische 
Änderungen  einen  anderen  Verlauf  in  den  Ver- 
änderungen der  Erdoberfläche  bedingen.  W.  M. 
Davis  stellt  seinem  normalen  Zyklus  der  Wasser- 
arbeit einen  Zyklus  der  Trockengebiete  {=  arider 
Zyklus),  einen  Zyklus  der  vereisten  Gebiete 
(=  glazialer  Zyklus)  und  einen  Zyklus  der  Küsten- 
gebiete (=  mariner  Zyklus)  zur  Seite.  In  noch 
folgenden  kurzen  Abrissen  sollen  auch  diese 
skizziert  werden. 


Kleinere  Mitteilungen. 


über  eine  merkwürdige  Oszillation  des  Rhein- 
spiegels. (Mit  2  Kurven  im  Text.)  Bald  nahen 
wieder  die  Tage,  wo  dichter  Nebel  den  Schiffs- 
verkehr auf  unseren  Strömen  und  Flüssen  behindert 
und  die  Fluten  zeitweise  ungestört  von  den 
peitschenden  Schlägen  der  Schiffsschrauben  und 
Räder  sich  ergießen  können.  Mit  dichtem  Nebel 
ist  meist  auch  Windstille  verknüpft,  es  entfällt 
also  gleichfalls  die  Störung,  welche  der  Winddruck 
der  ungebändigten  Entfaltung  der  Stromtätigkeit 
entgegensetzt.  — 


An  solchen  Tagen  kann  ein  nachdenklicher 
Spaziergänger  auf  den  Leinpfaden  an  unserem 
Strome  eine  Wellenbewegung  des  Wasserspiegels 
studieren,  die  es  verdient,  näher  untersucht  zu 
werden. 

Da,  wo  eine  der  zur  Korrektion  des  Strom- 
laufes eingebauten  Buhnen  mit  ihrem  Rücken  unter 
dem  Stromspiegel  versinkt,  bemerkt  man  ein 
Steigen  und  Fallen  des  Wasserstandes,  das  sich 
in  einer  verstärkten  oder  verminderten  Wellen- 
bildung  äußert.     Am   verständlichsten   werde  ich 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sein,  wenn  ich  den  konkreten  Fall  beschreibe,  an 
dem  ich  das  Phänomen  zuerst  erkannte.  Meine 
Beobachtungen  begannen  im  Räume,  der  durch  die 
Kilometersteine  140,5  bis  143  auf  dem  linken  Ufer 
des  Rheins  bei  Mehlem,  dem  Siebengebirge  gegen- 
über, bezeichnet  ist.  Dort  sind  eine  ganze  Reihe 
von  Buhnen  (Kribben,  wie  man  am  Rheine  sagt)  ein- 
gebaut, deren  Rücken  sich  mit  ganz  flachem  Ab- 
falle ins  Strombett  senken.  Bei  einem  Kölner 
Pegelstande  von  2,75  bis  3,00  m  tauchen  diese 
Rücken  mehr  oder  weniger  weit  aus  dem  Wasser 
hervor  und  stauen  dieses  an,  so  daß  sich  ein 
Unterschied  des  Wasserstandes  ober-  und  unter- 
halb erkennen  läßt.  Der  dadurch  bedingte  kleine 
Wasserfall  —  oder  die  Stromschnelle  —  erzeugt 
eine  Reihe  von  stehenden  Wellenkämmen,  die 
gewöhnlich  in  4 — 6  Reihen,  parallel  zum  Buhnen- 
rücken, unterhalb  desselben  sich  zeigen. 

Von  Zeit  zu  Zeit  verschwinden  diese  Wellen- 
kämme vollkommen,  und  eine  ganz  glatte  Oberfläche 
nimmt  ihren  Platz  ein;  es  herrscht  Stauwasser, 
der  Strom  hört  nicht  allein  auf  —  ja  er  kehrt 
sogar  meist  seine  Richtung  um!  Diese  Ruhe 
dauert  lO — 20  Sekunden,  das  Wasser  hat  seinen 
Höchststand  erreicht.  Nun  tritt  natürlich  ein  Fallen 
ein,  erst  langsam  —  dann  schneller  und  schneller. 
Es  bildet  sich  ein  kleiner  Wellenzug  unterhalb 
der  Buhne,  einige  Sekunden  später  ein  zweiter, 
dann  ein  dritter  usw.,  man  erkennt,  das  Wasser 
fällt  schnell.  Mit  dem  Fallen  wächst  der  Druck 
des  Wassers,  und  bringen  die  Wellen  im  Fallen 
ein  ziemlich  großes  Geräusch  hervor.  Nach  einer 
bis  anderthalb  weiteren  Minuten  flauen  die  Wellen- 
berge ab,  das  Geräusch  läßt  nach  und  verschwindet 
bald,  der  Wasserstand  steigt  wieder  und  nach 
kurzer  Zeit  ist  sein  Höchststand,  und  damit  die 
ruhige  Oberfläche,  wieder  eingetreten.  Dieses 
Wechselspiel  kann  man  in  seiner  Ungestörtheit 
so  lange  verfolgen,  bis  der  Schiffsverkehr  wieder 
einsetzt.  Der  große  und  heftige  Wellenschlag 
der  Rheinschlepper  überlagert  und  stört  die  ge- 
schilderte langsame  Wellenbewegung  derartig,  daß 
sie  nur  sehr  schwer  erkennbar  wird,  wobei  auch 
ihre    Periode    gänzlich    verzerrt    erscheinen    kann. 

Ein  aufmerksamer  Beobachter,  der  das  Phänomen 
einmal  erfaßt  hat,  kann  aber  auch  durch  die 
Störungen  hindurch  es  verfolgen  und  sich  von 
seiner  Großartigkeit  überzeugen. 

Die  Dauer  einer  ganzen  Oszillation  beträgt 
etwa  2  bis  2^  Minute,  je  nach  dem  Wasserstande 
des  Rheines,  und  damit  je  nach  der  Größe  der 
Wassermasse,  die  jeweils  an  der  Schwingung  be- 
teiligt ist. 

Am  13.  Oktober  1916  beispielsweise  fand  ich. 
mit  II  Uhr  2  Minuten  10  Sekunden  beginnend- 
2'  00"  —  2'  00"  —  2'  05"  —  2'  05"  —  2'  05"  — 
2'  05"  —  2'  05"  als  Periode. 

Am  II.  Oktober,  bei  böigem  Winde,  maß  ich, 
um  4  Uhr  59  Min.  30  Sek.  beginnend:  2' 10"  — 
2'  20"  —  2'  30"  —  2'  10"  —  2'  40"  (Störung  durch 
einen    vorüberfahrenden    Dampfer  1)    —    2'  OO"    — 


2'  15"   ^    2' 05"  —  2' 20"  —  2' 20".     Im   Mittel 
2' 17". 

Am    15.  Okt.  zählte    ich    für    21    Oszillationen 

45    Minuten    30  Sekunden,    dies   gibt   im    Mittel 


2730 


130  Sekunden  =  2  Min.  10  Sek.   für   eine 


Periode. 

Im  Januar  191 7  fand  ich  2'  21"  als  Mittel  von 
2  Zählungen  von  16  und  8  Oszillationen  (am  18. 
und  23.). 

Im  Februar,  bei  großer  Kälte  und  niedrigem 
Wasserstande,  2  Min.  und  30  Sekunden  als  Mittel 
von    14  Wellen. 

Bemerkt  sei,  daß  das  vorhin  erwähnte  Ge- 
räusch ein  sehr  guter  Indikator  bei  diesen  Ver- 
suchen bildet ,  wenn  man  das  jeweilige  Ein- 
treten des  Geräusches  mit  der  Uhr  verfolgt 
und  nur  die  Perioden  bis  zum  x*'^"  Geräusche 
zählt.  Diese  Zahl,  in  die  Anzahl  der  durch  die 
Uhr  festgestellten  Sekunden  geteilt,  gibt  die  Periode. 
Bei  großer  Kälte  ist  dieser  Modus  der  einzig 
praktikable,  weil  man  während  des  Zählens  am 
Ufer  hin  und  hergehen  kann,  um  sich  zu  er- 
wärmen. 

Bei  höherem  und  niederem  Wasserstande  als 
obiger  Pegelangabe  entspricht,  also  bei  Überflutung 
oder  gänzlichem  Trockenliegen  der  Kribben  war 
diese  .'\rt  der  Beobachtung  nicht  mehr  durch- 
führbar. Ich  suchte  längere  Zeit  nach  einem  Hilfs- 
mittel, auch  jetzt  den  Oszillationen  des  Strom- 
spiegels nachzuforschen,  bis  ich  es  in  einem,  auf 
den  Grund  geratenen,  mit  Wasser  fast  gefüllten 
Kahne  fand. 

Ich  nahm,  ähnlich  wie  es  Dr.  Forel  bei  seinen 
klassischen  Untersuchungen  der  Schwankungen 
des  Genfer  Sees  tat,  ein  an  beiden  Enden  etwas 
verengtes  Glasrohr  von  5  mm  lichter  Weite  und 
40  cm  Länge,  dem  an  jedem  Ende  ein  etwa 
60  cm   langer  Gummischlauch    übergestülpt    war. 

Dieses  Rohr  wurde  durch  Untertauchen  im 
Strome  mit  Wasser  gefüllt,  das  eine  Ende  mit  den 
Fingern  zugekniffen,  und  über  den  Bord  in  das 
Wasser  des  Kahnes  gesteckt  und  dann  freigegeben, 
während  das  andere  Ende  im  Rheine  lag.  Bald 
waren  die  Wasserspiegel  im  Kahne  und  im  Flusse 
ins  Gleichgewicht  gekommen.  Mittels  meines 
Spazierstockes  wurde  die  horizontale  Lage  des 
Glasrohres  auf  dem  Borde  des  Kahnes  gesichtert 
und  es  konnte  beobachtet  werden.  —  Steigt  das 
Wasser  im  Rhein,  so  drängen  die  Trübungen,  die 
ja  im  Wasser  des  Stromes  nie  fehlen,  in  dem 
Rohre  nach  der  Kahnseite,  fällt  das  Wasser,  so 
drängen  sie  nach  außen.  Ein  untergelegtes  Blatt 
Papier  erleichtert  das  Erkennen  des  Trübes.  Die 
Umkehr  der  Bewegung  wird  stets  durch  einen 
kurzen  Stillstand  charakterisiert,  der  ein  scharfes 
Kennzeichen  für  das  Zählen  abgibt.  So  fand  ich 
die  Periode  für  eine  Oszillation  einmal  2  Min. 
19  Sek.,  ein  ander  Mal  2  Min.  12  Sek.  und  auch 
2  Min.  17  Sek.  Ein  ganz  einfaches  Hilfsmittel  zur 
Beobachtung  der  Oszillation  bei  Hochwasser  fand 


N.  F.  XVI.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


679 


ich  jüngst  in  einem  einfachen  Schwimmer,  einem 
Kork  beispielsweise,  der  an  einem  längeren  Faden 
etwa  8 — 10  m  vom  Ufer  entfernt  und  wenigstens 
20  m  oberhalb  einer  überfluteten  Buhne  vor  Anker 
liegend  an  der  Oberfläche  des  Stromes  frei  sich 
bewegen  konnte. 

Während  er  bei  fallendem  Oszillationsstrome 
sich  in  dessen  Richtung,  unter  deutlich  erkenn- 
baren Zuge,  einstellte,  kehrte  er  mit  dem  ein- 
tretenden Stauwasser  seine  Schwimmrichtung  um 
—  er  trieb  ohne  jeden  Zug. 

Diese  Umkehre  geben  ein  recht  scharfes  Merk- 
mal zur  Beobachtung  der  Zeit. 

iVlit  diesen  Feststellungen  war  der  erste  Wissens- 
durst gestillt  und  wandte  ich  mich  zur  ver- 
gleichenden Betrachtung  des  Verhaltens  des  Wasser- 
spiegels an  den  weiter  oberhalb  und  unterhalb 
gelegenen  Buhnen.  Dies  war  ein  schwierigeres 
Unternehmen,  denn  wenn  ich  auch  von  einem  er- 
höhten Punkte  bei  klarem  Wetter  mit  meinpm 
Feldglase  leicht  2 — 3  Buhnen  jeweils  ober-  und 
unterhalb  übersehen  konnte,  so  versagte  doch 
dies  Hilfsmittel  bei  nebeligem  Wetter  gänzlich.  — 


Ufer  sich  stets  in  der  entgegengesetzten 
Oszillationsphase  befinden. 

Wir  hätten  damit  ein  Oszillieren  des  Wassers 
um  eine  in  der  Längsrichtung  des  Stromes  liegende 
Achse,  wobei  infolge  der  talwärts  gerichteten 
Bewegung  des  Gesamtstromes  eine  scheinbar 
schlangenförmige  Bewegung  resultiert. 

Zur  Messung  des  Voranschreitens  der  Oszillation 
wäre  die  Verteilung  einer  Reihe  von  Beobachtern  auf 
beiden  Ufern  nötig,  die  mit  genau  verglichenen  Uhren 
das  zeitliche  Auftreten  der  Maxima  verfolgten. 

Auf  diese  Weise  wäre  die  qualitative  Seite  der 
Erscheinnng  behandelt,  es  erübrigt  sich  dann  noch, 
die  quantitative  zu  untersuchen  und  zu  erforschen, 
welches  Wasserquantum  bei  jeder  Oszillation  hin- 
und  hergeworfen  wird. 

Mit  Leichtigkeit  wäre  dies  mittels  einer  Reihe 
von  selbst  schreibenden  Mikropegeln  festzustellen, 
deren  Aufzeichnungen  die  Amplitude  jeder  Welle 
herzuleiten  gestatten.  Aus  diesen  Daten  und  der 
Kenntnis  der  Orographie  des  Flußbettes  wäre  die 
Berechnung  des  Phänomens  anzustellen  und  seine 
Erklärung  gegeben.  — 


Pfeile  geben  die  Richtung  des  Oszillationsstromes 
Beobachtungsbuhne  B  im  Hochst.ind  O  ist. 


Ich  muß  mich  darauf  beschränken,  mitzuteilen,  daß 
dies  Fallen  und  Steigen  nicht  einheitlich  auf  einer 
Flußseite  statthat :  Während  die  Beobachtungsbuhne 
Hochstand  hat,  ist  die  talwärts  gelegene  bereits 
im  Abschwellen  und  die  bergwärts  liegende  im 
zunehmenden  Wasserstande.  Es  hat  somit  den 
Anschein,  als  wenn  die  Oszillationswelle  gegen 
die  Stromrichtung  liefe. 

Auch  habe  ich  versucht,  inittels  des  Feld- 
stechers festzustellen,  wie  zur  selben  Zeit  auf  dem 
rechten  Rheinufer  die  Periode  sich  äußerte.  Das 
Auftreten  und  das  Verschwinden  der  Wellenkämme 
unterhalb  der  Buhnen  bot  ja  ein  —  trotz  der  Breite 
des  Stromes  (hierselbet  bis  zu  500  Meter)  —  er- 
kennbares Signal.  Leider  sind  die  Umstände  nicht 
günstig;  während  auf  dem  linken  Ufer  die  Buhnen 
bis  zu  40  m  in  den  Strom  ragen;  reichen  sie 
auf  der  rechten  Seite  bis  zu  125  m  weit  hinein. 
Hierdurch  und  durch  die  größeren  Sandbänke,  die 
sich  zwischen  den  langen  rechtsseitigen  Buhnen  ab- 
gelagert haben,  werden  die  Beobachtungen  mit 
dem  Fernrohre  erschwert,  weil  die  zu  übersehenden 
Flächen  zu  große  sind. 

Wenn  aber  nicht  alles  trügt,  glaube 
ich  heute  schon  aussprechen  zu  können, 
daß    die    einander    gegenüberliegenden 


Ob  diese  beschriebene  Oszillation  eine  allge- 
mein verbreitete  Erscheinung,  der  alle  Flüsse  unter- 
worfen, oder  ob  sie  nur  lokaler  Natur,  kann  alleinig 
durch  Beobachten  an  recht  vielen  Stellen  am  Rhein 
sowohl  als  allen  anderen  Flüssen  entschieden  werden. 


-^  =  Strompfei 


Abb.  2. 
Denkt    man    sich  die  schlangenförmige  Figur  in  Richtung 
des  >•  fortbewegt,    so    erhält  man   ein  Bild  der  Zu- 

stände der  Phasen  auf  den  beiden  Ufern. 

Der  Zweck  dieser  Zeilen  ist,  zur  Mitarbeit 
aufzufordern.  Der  Verfasser  ist  gern  bereit,  bei 
ihm  eingehendes  Material  zu  sammeln,  zu  sichten 
und  es  zu  verarbeiten. 

Die  Beobachtungsmethode  ist  in  vorstehendem 
gegeben.  Natürlich  müßte  genau  die  Stelle  jeden 
Flusses  durch  die  Beobachter  benannt  werden, 
unter  Beifügung  einer  Skizze,  aus  der  die  Umstände, 
insbesondere  der  Lauf  nach  der  Himmelsrichtung, 
die  Breite  und  Tiefe  und  die  Wassergeschwindigkeit 
ersichtlich  sind,  auch  störende  Momente  wie  Inseln, 
Sandbänke,  Brückenpfeiler  usw. 

Albert  Hofmann  (Mehlem). 


68o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr. 


Bticherbesprechungen. 


Schroeder,  Prof.  Dr.  H.,  Die  Hypothesen 
über  die  chemischen  Vorgänge  bei 
der  Kohlensäure-Assimilation.  Jena 
191 7.  G.  Fischer.  —  4,50  M. 
Bekanntlich  ist  der  Weg,  auf  dem  die  Pflanze 
das  aus  der  Luft  aufgenommene  Kohlendioxyd  in 
Kohlehydrat  überführt,  bis  heute  noch  ein  Geheim- 
nis, da  entscheidende  Beobachtungen  über  die  im 
Chemismus  der  assimilierenden  Zellen  verlaufenden 
Vorgänge  nicht  vorliegen.  Gleichwohl  sind  von 
Pflanzenphysiologen,  wie  namentlich  auch  von 
Chemikern  eine  ganze  Reihe  von  mehr  oder  minder 
ausgebauten  Hypothesen  aufgestellt  worden,  die 
eine  Vorstellung  von  dem  mutmaßlichen  Verlauf 
der  aus  Reduktion  und  nachfolgender  Synthese 
bestehenden  chemischen  Vorgänge  anbahnen  sollten. 
Die  Literatur  über  diesen  allgemein  wichtigen 
Gegenstand  ist  außerordentlich  umfangreich  und 
zerstreut.  Es  ist  infolgedessen  sehr  dankenswert, 
daß  der  Pflanzenphysiologe  Schroeder  es  unter- 
nommen hat,  die  Literatur  zu  sammeln,  sie  kritisch 
zu  sichten  und  zu  einer  zusammenfassenden  Dar- 
stellung zu  verarbeiten.  Diese  ist  ganz  objektiv 
gehalten;  angesichts  der  fehlenden  experimentellen 
Unterlagen  hat  der  Autor  darauf  verzichtet,  selber 
die  große  Zahl  der  Hypothesen  um  eine  eigene 
zu  vermehren.  Wohl  aber  legt  er  überall  den 
Maßstab  seines  Urteils  an  und  gibt,  indem  er  auf 
Grund  der  gewonnenen  kritischenUbersicht  versucht, 
die  Fragestellungen  schärfer  zu  fassen,  wertvolle 
Ausblicke  und  Anregungen  für  zukünftige  Forscher- 
arbeit. Ein  Fortschritt  ist  nach  der  Überzeugung 
des  Verfassers  nur  möglich  durch  eine  viel  engere 
Fühlung  zwischen  der  rein  chemischen  Unter- 
suchung und  dem  physiologischen  Experiment, 
das  in  vollem  Umfange  der  Gesamtheit  aller  der 
verwickelten  Bedingungen  Rechnung  trägt,  die  in 
der  lebenden  assimilierenden  Zelle  gegeben  sind. 
Bei  der  zentralen  Bedeutung  des  Assimilations- 
problems darf  die  mühsame  Arbeit  Schroeder's 
der  Beachtung  sicher  sein,  sie  klärt  den  Chemiker 
über  das  äußerst  unübersichtliche  Gelände  auf,  in 
das  er  sich  meist  allzu  unbekümmert  vorwagt, 
und  unterrichtet  in  bequemer  Weise  den  Pflanzen- 
physiologen über  die  zerstreute  und  wertvolle 
Vorarbeit,  die  bisher  von  den  Chemikern  geleistet 
ist.  Miehe. 

Einstein,  A.,  Über  die  spezielle  und  die 
allgemeine  Relativitätstheorie.  Mit 
3  Figuren.  Braunschweig  191 7.  Fr.  Vieweg. 
2,80  M. 


Wir  sind  dem  Verfasser  zu  besonderem  Danke 
verpflichtet,  daß  er  sich  selber  der  Mühe  unter- 
zogen hat,  die  von  ihm  aufgestellte  fruchtbare  und 
in  ihren  Wirkungen  weitreichende  Theorie  gemein- 
verständlich darzustellen.  Wenn  vielfach  behauptet 
wird,  daß  der  Forscher,  namentlich,  wenn  er  sein 
eigenes  Gebiet  vornimmt,  am  wenigsten  geeignet 
sei,  die  Wissenschaft  für  einen  großen  Kreis  dar- 
zustellen, so  trifft  dies  in  diesem  Falle  nicht  zu. 
Wer  das  vorliegende  Heft  aufmerksam  studiert, 
wird  zum  mindesten  eine  deutliche  Vorstellung 
von  den  leitenden  Ideen  bekommen,  die  der  Rela- 
tivitätstheorie zugrunde  liegen,  wenn  er  auch 
vielleicht,  trotz  einfacher  Fassung  des  mathema- 
tischen Rüstzeuges,  die  Gedankenkette  nicht  ganz 
lückenlos  zu  reproduzieren  vermag.         Miehe. 


Sachsze,  Prof.  Dr.  R.,  Chemische  Techno- 
logie. Grundlagen,  Arbeitsverfahren  und  Er- 
zeugnisse der  chemischen  Technik.  2.  Aufl. 
Mit  96  Abbildungen.  Berlin  und  Leipzig  191 7. 
B.  G.  Teubner. 
Das  kurzgefaßte  Buch  ist  zwar  in  erster  Linie 
für  Schulen,  namentlich  für  Handels-  und  Gewerbe- 
schulen bestimmt,  ist  aber  auch,  wie  mir  scheint, 
ein  treff"liches  Hilfsmittel  für  jedermann,  sich  über 
mancherlei  Dinge  des  täglichen  Lebens  zu  unter- 
richten sowie  einen  Einblick  in  unsere  so  hoch- 
entwickelte chemische  Industrie  zu  gewinnen.  Die 
außerordentliche  Reichhaltigkeit  möge  aus  den 
folgenden  Kapitelüberschriften  ersehen  werden: 
Leuchtgas-,  Erdölindustrie;  chemische  Industrie 
anorganischer Stofte ;  Kälteindustrie;  Eisen-,  Metall- 
und  Glashüttenwesen;  Ton-,  Zucker-,  Stärke-, 
Zellstoff-  und  Papierindustrie;  Holzdestillation; 
Fett-,  Seifen-,  Farbenindustrie;  Veredlung  der 
Webstoffe;  Industrie  der  Explosivstofi'e;  Kautschuk- 
industrie; Gerberei;  Bildervervielfältigung  und 
Druckverfahren.  Über  die  einfachen  Grundlagen 
hinausgehende  chemische  Kenntnisse  werden  nicht 
vorausgesetzt,  doch  werden  vielfach  die  prak- 
tischen Beispiele  zur  Vertiefung  der  chemischen 
Bildung  benutzt.  Bei  dem  bedeutenden  Umfange 
des  Stoffes  wird  naturgemäß  auf  technisches  Detail 
zugunsten  der  klaren  Herausarbeitung  der  Grund- 
lagen verzichtet,  das  scheint  mir  aber  gerade  ein 
Vorzug  zu  sein,  der  es  den  Fernerstehenden  er- 
leichtert, sich  rasch  über  technische  und  industrielle 
Fragen  zu  belehren.  Miehe. 


Inhalt I  K.  Krause,  Die  Veränderungen  der  Landoberfläche  durch  das  Wasser.  (9  Abb.)  S.  673.  —  Kleinere  Mitteilungen: 
Albert  Hofmann,  Über  eine  merkwürdige  Oszillation  des  Rheinspiegels.  (2  Abb.).  S.  677.  —  Bücherbesprechungen: 
H.  Schroeder,  Die  Hypothesen  über  die  chemischen  Vorgänge  bei  der  Kohlensäure- Assimilation.  S.  680.  A.  Einstein, 
Über  die  spezielle  und   die  allgemeine  Relativitätstheorie.  S.  6S0.     R.  Sachsze,   Chemische  Technologie.   S.  680. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lipperl  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  9.  Dezember  1917. 


Nummer  49. 


Ein  Alkoholrezept  aus 

[Nachdruck  verboten.]  Eine   Nachprüfung  von 

Am  19.  Juli  d.  J.  legte  Hermann  Diels  in 
der  Gesamtsitzung  der  Königlich  Preußischen 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  eine  Ab- 
handlung des  Bibliothekars  an  der  Kgl.  Bibliothek 
in  Berlin,  Prof.  Dr.  Hermann  Degering  vor, 
die  als  XXXVI.  in  den  Sitzungsberichten  dieser 
Akademie  (S.  503  —  515)  erschienen  ist  und  bald 
auch  an  die  Tagespresse  weitergegeben  wurde, 
in  der  am   18.  August  zu  lesen  war: 

„Es  wird  durch  Vergleichung  zweier  mittel- 
alterlicher Alkoholrezepte,  des  längst  bekannten 
aus  einer  I  landschrift  des  Hospitals  in  S.  Gimignano 
und  eines  bisher  unbekannten  aus  einer  für  die 
Königliche  Bibliothek  erworbenen  Handschrift  aus 
dem  12.  Jahrhundert  aus  Weißenau  (Augia  minor), 
die  auf  einem  Schutzblatt  unter  anderen  Ein- 
tragungen des  13.  Jahrhunderts  auch  jenes  Rezept 
enthält,  der  gemeinsame  Ursprung  dieser  Rezepte 
nachgewiesen.  Die  stark  verderbten  Worte  beider 
Fassungen  lassen  sich  paläographisch  durch  einige 
Mittelglieder  mit  Sicherheit  auf  einen  Archetypus 
des  8.  Jahrhunderts  zurückführen,  was  mit  der 
übrigen  Tradition  dieser  Rezepte  (Mappae  clavi- 
cula  u.  a.)  stimmt.  Dadurch  ist  die  Herkunft 
dieses  Alkoholrezeptes  aus  der  Tradition  des 
Altertums   erwiesen." 

Nicht  ich  allein  war  auf  die  Einzelheiten  des 
Nachweises  gespannt,  doch  kam  mir  persönlich 
die  Veröffentlichung  erst  Anfang  Oktober  zu  Händen. 
Sie  enthält,  leicht  vergrößert,  die  Schriftzüge  der 
Berliner  Eintragung  in  das  Manuskript  aus  dem 
Württemberger  Prämonstratenserkloster  (gegründet 
1 145)  in  Faksimile.  Man  kann  sich  also  überzeugen, 
daß  sie  tatsächlich  aus  dem  Anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts stammen.  Leider  ist  die  Niederschrift  aus 
dem  Ospedale  di  Santa  Fina  in  San  Gimignano 
im  Original  noch  nicht  wieder  aufgetaucht. ') 
Man  muß  sich  also  immer  noch  mit  dem  Abdruck 
bei  Puccinotti  vom  Jahre  1855  begnügen,  wenn 
man  weitere  Quellen  nicht  kennt,  wie  das  für  die 
Herren  Diels  und  De  gering  zutrifft. 

Anknüpfend  an  frühere  Versuche  des  Herrn 
Diels,  die  Kenntnis  der  Alkoholgewinnung  dem 
Altertum  zuzuweisen,  wird  also  auf  Grund  einer 
Handschrift  und  eines  zufälligen  Abdruckes  einer 
anderen  vor  60  Jahren  das  Wagnis  unternommen, 
mit  fHlfe  paläographischer  Erwägungen  für  beide 
einen  Archetypus  des  8.  Jahrhunderts  glaubhaft 
zu  machen. 

')  Ich  selbst  habe  es  1913  versäumt,  mich  danach  bei 
meinem  Besuch  des  hochinteressanten  etruskischen  Felsennestes 
mit  seinen  zahllosen  viereckigen  Türmen  umzuschauen,  zweifle 
aber  nicht  daran,  daß  die  Handschrift  sich  heute  noch  dort 
befindet. 


dem  8.  Jahrhundert? 

Karl  Sudhoff,  Leipzig. 

Dem  Herrn  Verfasser  scheinen  selbst  Bedenken 
über  die  Ratsamkeit  eines  solchen  Vorgehens  auf- 
gestiegen zu  sein.  Ein  früher  von  selten  eines 
der  besten  lebenden  Kenner  der  Geschichte  der 
(^hemie  ausgesprochener  Zweifel,  ob  das  Sangimi- 
gnaneser  Rezept  wirklich  im  12.  Jahrhundert  ge- 
schrieben sei,  wird  mit  auffallender  Schärfe  zurück- 
gewiesen: zu  Bedenken  gebe  „die  genaue  Be- 
schreibung Puccinotti's  nicht  die  geringste 
Veranlassung". 

Und  doch  wäre  es  wohl  ratsam  gewesen,  sich 
dessen  Veröffentlichung  etwas  genauer  anzusehen. 

Zunächst    nagelt    sich    Puccinotti    auf    das 

12.  Jahrhundert  keineswegs  derart  fest,  wie  es 
Degering  erscheinen  läßt.  Er  .sagt  über  die 
Zeit  nur  „risalgono  alle  scritture  tra  il  duodecimo 
e  decimoterzo  secolo",  läßt  also  die  Möglichkeit 
völlig  frei,  dife  Niederschrift  in  die  erste  Hälfte  des 

13.  Jahrhunderts  zu  verlegen.  Man  fühlt  sich 
dazu  sogar  gedrängt,  wenn  man  die  völlig  zu- 
treffende Aufstellung  Degering's:  „meist  ist  die 
Schrift  des  .12.  Jahrhunderts  so  klar  und  deutlich 
in  ihren  Formen  und  so  sparsam  einerseits  und 
regelmäßig  andererseits  in  der  Verwendung  von 
Kompendien  und  Abbreviaturen,  daß  sie  selten 
besondere  Schwierigkeiten  für  die  Entzifferung 
bieten",  prüfend  neben  die  Worte  hält,  mit  denen 
Puccinotti  die  von  ihm  benutzte  toskanische 
Handschrift  kennzeichnet:  „per  le  moltissime 
abbreviature,  ela loro tinta illanguidita rendonsi 
spesso  assai  difficili  a  1  egge rsi".  Jedenfalls 
dürften  aber  uiJter  diesen  Umständen  Lesefehler 
nicht  mit  Bestimmtheit  auszuschließen  sein  trotz 
der  dem  medizinischen  Fachkollegen  ausnahms- 
weise von  philologischer  Seite  so  freigebig  zuge- 
standenen „reichen  Erfahrung  und  Übung  auf 
diesem  Gebiete".  Es  kommt  hinzu,  daß  Pucci- 
notti doch  durch  Bekanntgabe  von  ein  paar 
Proben  nur  vorläufig  Mitteilung  geben 
wollte,  eine  Art  Vorgeschmack  von  dem  reichen 
Inhalt  der  von  ihm  eingesehenen  Handschrift,  der 
zur  Vervollständigung  bruchstückweise,  nach 
mangelhafteren  Handschriften,  von  de  Renzi 
schon  veröffentlicliter  salernitanischer  Texte  dienen 
könne. 

Denn  worum  handelt  es  sich  denn  bei  der 
Handschrift  aus  San  Gipiignano?  In  dem  wich-^ 
tigsten  Teile,  der  im -12./13.  Jahrhundert  nieder- 
geschrieben ist, ')  um 

das  Compendium  des  Magister  Salernus 
(ca.   1150/60  verfaßt). 


■)  Der  Rest  stammt  gar  aus  dem   14.  Jahrhundertl 


682 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


die  Practica  des  Magister  Barthol  omaeus 

(ca.  II 20  verfaßt), 
dasViaticum  des  Konstantin   von  Afrika 

(ca.  1070  hergestellt). 
Von  der  ersten  Schrift  hatte  de  Renzi 
im  3.  Bande  seiner  „Collectio  Salernitana"  1854 
nur  einen  recht  unvollständigen  Abdruck  liefern 
können  (nach  einer  verstümmelten  Handschrift  der 
Bibl.  Laurenziana  zu  Florenz),  und  Puccinotti 
zeigt  nun  an  einer  kleinen  Auswahl  von  8  Kapiteln 
aus  dem  78  Abschnitte  zählenden  Werkchen,  wie 
viel  interessantes  Neues  der  vollständige  Sangimig- 
naneser  Kodex  hinzubringe,  darunter  auch  das  in 
Frage  stehende  31.  Kapitel  „De  aqua  ardente", 
vom   brennenden  Wasser. 

Ist  dieser  Sachverhalt  denn  so  völlig  neben- 
sächlich, daß  der  Leser  der  Untersuchung  Dege- 
ring's  davon  gar  nichts  erfahren    mußte?  —  — 

Es  kommt  noch  etwas  Weiteres  hinzu.  Jedem, 
mit  dem  Überlieferungszustand  der  Salernitaner 
medizinischen  Literatur  auch  nur  obenhin  Bekannten, 
ist  die  Tatsache  geläufig,  daß  der  von  deutscher 
Seite  (He  nschel)  und  französischer  (Charles 
Daremberg)  zur  Veröffentlichung  der  ersten 
vier  Bände  seiner  Collectio  Salernitana  erst  in  den 
Stand  gesetzte  italienische  Gelehrte  de  Renzi 
nach  Puccinotti's  Kritik  und  ergänzenden  Hin- 
weisen (erschienen  1S55)  später  (1859)  noch  einen 
5.  Band  seiner  Collectio  hat  erscheinen  lassen. 
Dieser  Nachtragsband,  der  im  Buchhandel  stets 
mit  den  vier  anderen  zusammen  geliefert  wird, 
bringt  reiche  Ergänzung  zu  den  vier  vorhergehen- 
den Bänden.  De  Renzi  hat  sich  auch  bemüht, 
die  Handschrift  aus  San  Gimignano  zu  erhalten, 
freilich  ohne  Erfolg,  wobei  politische  Momente 
mitgespielt  haben  mögen.  Für  das  „Compendium 
Magistri  Salerni"  vermochte  er  sich  aber  aus  dem 
Nachlasse  Baudry's  de  Balzac  (Paris)  Ersatz 
zu  verschaffen,  der  ihm  unterdessen  zur  Verfügung 
gestellt  war.  Baudry  de  Balzac  hatte  aus 
vier  zum  Teil  interpolierten  Pariser  Handschriften 
einen  umfänglichen  Text  von  127  Kapiteln  des 
„Compendium  Magistri  Salerni"  zusammenstellen 
können,  den  de  Renzi  Band  5  S.  201 — 232  zum 
Abdruck  bringt.  •  ■ 

Natürlich  fehlt  darin  auch  nicht  der  Abschnitt 
über  das  brennbare  Wasser;  er  ist  der  47.  in 
Baudry's  Zählung,  steht  auf  S.  214  und  zeigt 
einen  wesentlich  besseren  Text  als  den  der  Berliner 
Handschrift  und  des  Abdruckes  bei  Puccinotti. 
Das  gleiche  gilt  auch  von  einer  Leipziger  Hand- 
schrift des  „Compendium  Magistri  Salerni",  die 
allerdings  erst  aus  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
stammt.  Der  Papierkodex  Ms.  ij6i  der  Leipziger 
Universitätsbibliothek  bringt  das  Compendium  auf 
Blatt  162"^ — 173'  und  das  Aquaardens-Kapitel  auf 
Bl.  166"^  Sp.  2  bis  Bl.  iö6^'  Sp.  I  in  folgendem 
Wortlaut : 

*T  Aqua  ardens   ad   modum    aque    ros^acee 
fit  hoc  modo.  Vini  rubel  perobtimi  libra  i.  et  salis 


rubel  puluerizati  uel  etiam  salis  cocti  in  olla  rudi 
calida  [Bl.  166^]  et  4.  uncie  ^)  sulphuris  viui  et 
4.  tartari,  omnia  puluerizata  in  Cucurbita  ponantur 
cum  prefatis  et  ventosa  superponatur  et  aquositas 
per  nasum  ventose  exiens  colligatur.  Quo  iniinctus 
pannus  aliquis  a  flamma  saluabitur  sine  substancie 
lesione  et  perdicione.  Ut  autem  talis  aqua  diu 
seruari  possit  cum  huius  effectu,  repponatur  in 
vase  vitreo  non  poroso,  habens  os  strictum,  et  in 
eo  V.  uel  vj.  gutte  olei  ponantur  et  cera  coopertum 
bene  reseruetur.  Hanc  aquam  si  postea  experiri 
volueris  confidenter,  sulphur  viuum  ignitum  ter 
uel  quater  in  eadem  extinguas. 

Man  sieht,  gar  manche  der  von  Degering 
mit  großem  Scharfsinn  gebesserten  Textschäden 
der  toskanischen  und  der  süddeutschen  Überliefe- 
rung sind  in  den  Pariser  Handschriften  und  dem 
Leipziger  Kodex  gar  nicht  vorhanden.  Auch  in 
der  Pariser  Überlieferung  lautet  die  in  Weißenau 
und  San  Gimignano  so  schwer  korrumpierte  wich- 
tigste Stelle  sinngemäß  vollkommen  korrekt: 
„.  .  .  a  qua  aquositate  pannus  intinctus  servabit  ^) 
flammam  illesus.  Item  facit  bonbax  absque  per- 
ditione  substanciae  .  .  ." 

Gelegentliches  Fehlgreifen  der  Textemenda- 
tionen  Degering's  ist  freilich  gleichfalls  ersicht- 
lich, z.B.  im  letzten  Satze,  kommt  aber  hier  nicht  in 
Betracht.  Auf  alle  weiteren  Einzelheilen  kann 
diesmal  nicht  eingegangen  werden,  erübrigt  sich  auch 
unter  der  veränderten  Sachlage,  die  sich  folgender- 
maßen kennzeichnet. 

Wir  haben  nicht  mehr  zwei  isoliert  überlieferte 
Rezepte,  sondern  kennen  bereits  sieben  Hand- 
schriften der  Weingeistdarstellungsvorschrift,  und 
alle  diese,  einschließlich  des  Berliner  Textes, 
gehen  auf  die  Aufzeichnung  eines  Autors  aus  der 
Mitte  des  12.  Jahrhunderts  zurück.^)  Das  muß 
zunächst  festgehalten  werden. 

Magister  Salernus  lebte  um  das  Jahr  I150; 
er  stellte  sein  „Compendium"  und  seine  „Tabulae" 
wohl  noch  vor  1160  zusammen.  Gilles  de 
Corbeil,  der  ihn  unter  seinen  Lehrern  in  Salerno 
preist,  war  bestimmt  schon  1180  wieder  in  Paris, 
wahrscheinlich  schon   einige  Jahre   früher.     Dem 


')  Das  von  Degering  (und  P  ucci  not  ti)  fälschlich  als 
,, Drachme"  gelesene  \  bedeutet  im  12. — 14.  Jahrhundert 
stets  Unze! 

2)  Freilich  das  von  Degering  „wiedergewonnene" 
servibit  aus  dem  „Vulgärlatein  von  Plautus'  Zeiten  bis  auf 
Venanlius  Fortunatus"  findet  sich  nicht.  Die  karolingischen 
Klosterschüler  hatten  es  ja  auch  ausgemerzt.  —  Es  ist  jedoch 
heute  entbehrlich  geworden  wie  andere  Subtilitäten,  einschliefi- 
lieh  der  „insularen  Schrift",  hinter  der  bekanntlich  auch  schon 
die   Fragezeichen  auftauchen. 

^j  Das  Verhältnis  aller  Berliner  Rezepte  zum  Compendium 
Magistri  Salerni  bedarf  wohl  noch  genauer  Prüfung,  ebenso 
die  4  Pariser  Handschriften  und  das  Manuskript  in  San  Gimi- 
gnano. All  das  kann  aber  nichts  Wesentliches  an  dem  oben 
gekennzeichneten  Sachverhalt  ändern.  Da6  im  13.  und  wohl 
schon  im  12.  Jahrhundert  andere  Aqua-ardens-Aufzeicbnungen 
nebenherlaufen,  ist  mir  aus  Handschriften  bekannt,  hat  aber 
mit  dem  in  Frage  stehenden  Textmaterial  vorerst  nichts  zu  tun. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


683 


„brennenden  Wasser"  (aqua  ardens)  gewährte  er 
Aufnahme  im  Anschluß  an  eine  Anweisung  zur 
Darstellung  des  Rosen wassers  (aqua  rosacea)/) 
die  direkt  vorhergeht,  und  auf  welche  im  Wort- 
laut des  Textes  auch  noch  ausdrücklich  verwiesen 
wird.  Der  Weingeist  taucht  damit  in  einem 
Kulturzusammenhange  Süditaliens  auf,  wo  man 
schon  seit  Jahrhunderten,  auch  unter  Langobarden- 
herrschaft, ärztliches  und  naturwissenschaftliches 
Erfahrungswissen  aus  den  Tagen  der  Antike  in 
täglicher  praktischer  Betätigung  weiter  gepflegt 
und  auch  im  kleinen  schon  weiterauszubilden  be- 
gonnen hatte,  wo  man  aber  auch  seit  fast  einem 
Jahrhundert,  den  starken  Anregungen  Konstantins 
des  Afrikaners  (f  1087)  folgend,  neu  aus  dem 
Orient  dahergeführtes  früharabisches  Schul-  und 
Erfahrungswissen  sich  angeeignet  hatte,  und  schon 
dazu  übergegangen  war,  es  in  verwandte  literari- 
sche Formen  umzugießen.  Altes  und  Neuerrungenes 
verschmelzend.  Von  Sizilien  und  Kleinafrika 
strömte  dort  ständig  neues  Sarazenwissen  zu,  und 
man  hatte  auch  der  bei  den  Arabern  weitergepflegten 
Chemie  einen  gewissen  Einfluß  eingeräumt  und 
ihr  namentlich  auch  in  Chirurgenkreisen  eine  be- 
scheidene Pflege  angedeihen  lassen,  unter  welchen 
das  Banner  des  Fortschrittes,  von  Süditalien  nach 
der  Romagna  und  Emilia  getragen,  im  13.  Jahr- 
hundert besonders  mächtig  im  Voranstürmen  wehen 
sollte.  Aber  auch  schon  am  Golf  von  Salerno 
hatte,  eben  in  den  Tagen  des  Magister  Salernus, 
der  bedeutende  wundärziliche  Praktiker  und  Schrift- 
steller Roger  Frugardi  (offenbar  langobardi- 
scher  Abstammung  wie  so  mancher  frühe  Saler- 
nitaner)  der  chemischen  Arzneibereitung  bereits 
das  Tor  geöffnet,  wie  sein  chirurgisches  Werk  be- 

')  Sie  ist  textlich  abermals  ihrerseits  in  einem  vorher- 
gehenden weiteren  Rezepte  durch  ausdrücklichen  Hinweis  ver- 
ankert. Bemerkt  sei  nur,  daß  sich  das  von  Degering  für 
überflüssig  erklärte  ,,non  poroso"  als  Zusatz  zum  „vas 
vitreum"  in  allen  Texten  findet;  ich  fasse  es  als  erklärenden 
Zusatz  auf,  der  noch  besonders  betonen  soll,  dafl  es  bei  dem 
zur  Aufbewahrung  zu  verwendenden  Gefäße  auf  Wasser- 
undurchlässigkeit ankommt. 


weist,  das  sein  Schüler  Guido  von  Arezzo  im 
Jahre  11 70  fertig  aus  seinem  Munde  aufge- 
zeichnet hat. 

Durchgesetzt  hat  sich  in  den  Blütejahren  saler- 
nitanischen  Schrifttums,  in  der  ersten  Hälfte  des 
12.  Jahrhunderts  die  Alkoholkenntnis  noch  nicht. 
Salernus,  in  dessen  Sammelkompendium  sie  zuerst 
auftaucht,  gehört  schon  zum  Abgesang ')  des 
kurzen  literarischen  Konzerts  am  Golfe  von  Paestum, 
das  sich  direkt  nach  dem  durchgreifenden  Wirkung- 
werden der  Konstantinischen  Offenbarung  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des   12.  Jahrhunderts  abspielte. 

Irgendwelches  weitere  Verdienst,  etwa  um 
die  Entdeckung  des  Alkohols,  hat  Magister  Salernus 
sicher  nicht.  Er  ist  nur  als  chronologischer 
Fixierungspunkt  von  Wichtigkeit  —  durch  ihn 
wird  zwischen  1 140  und  1 160  die  Weingeistdar- 
stellung in  Süditalien  bekannt.  Ob  sie  auch  in 
Süditalien  gewonnen  wurde,  ist  damit  nicht 
mit  Bestimmtheit  ausgesagt,  wenn  auch  immerhin 
wahrscheinlich  geworden.  Der  Orient  kannte  sie 
vor  dem  12.  Jahrhundert  nicht,  weder  aus  der 
Überlieferung  des  Altertums,  noch  aus  eigener 
scheide^ünstiger  Arbeit.  Mir  scheint  sie  aber 
auch  der  Schule  von  Toledo  im  dritten  Viertel 
des   12.  Jahrhunderts  vertraut. 

Daß  Degering  und  Diels  mit  ihrem  Hin- 
weis auf  die  „Mappae  clavicula"  in  die  rechte 
Richtung  deuten  und  daß  sie  in  der  Arbeit  an 
dieser  Überlieferungsmasse  und  ihrem  Anwachsen 
in  literarischer  Weitersammlung  und  Neueinreihung 
technischer  Versuchsergebnisse  auf  Erfolg  ver- 
sprechendem Wege  sind,  dafür  scheint  mir  manches 
zu  sprechen.  Die  Einreihung  einer  Weingeist- 
bereitungsvorschrift dürfte  aber  kaum  vor  das 
Jahr  iioo  zu  setzen  sein,  doch  wohl  auch  nicht 
erheblich  später. 

')  Er  fehlt  denlj^  auch  in  dem  berühmten  salernitanischen 
Sammelkodex  der  Rbedigerana  zu  Breslau  aus  dem  12.  Jahr- 
hundert, aus  dem  Sil  e  mos  Ruhm  neu  erblüht  ist. 


[Nachdruck  verboten. 


Über  einige  Fälle  des  Sclieinheriiiaphroditisnius  bei  Fischen. 

]  Von  Dr.  Rob.  Mertens,  Leipzig. 


Obwohl  noch  die  Annahme  vielfach  bestritten 
wird,  daß  Hermaphrodit ism  us  (Zwittertum) 
der  primäre  Zustand  des  Geschlechtsapparates 
der  Tiere  sei,  scheint  sie  doch  heutzutage  immer 
mehr  an  Wahrscheinlichkeit  zu  gewinnen.  Denn 
unter  niederen  mehrzelligen  Tieren  begegnen  wir 
dem  Hermaphroditismus  in  der  Regel  bei  weitem 
häufiger,  als  bei  den  höher  Organisierten.  Aller- 
dings ist  das  Zwittertum  bei  einer  größeren  An- 
zahl von  Metazoen,  so  bei  einigen  Nematoden, 
einigen  Krebstieren  (viele  Cirripedien,  unter  den 
Isopoden  die  Cymothoiden,  welche  als  ausge- 
wachsene Tiere  weiblich,  in  der  Jugend  männlich 
sind)  und  Mollusken  (einige  Lamellibranchier,  alle 
Opisthobranchier    und    die    aus    ihnen    hervorge- 


gangenen Pteropoden,  ferner  alle  Pulmonaten)  an- 
scheinend sekundärer  Natur,  indem  sich  der 
Hermaphroditismus  in  diesen  Fällen  aus  gono- 
choristischen  (getrenntgeschlechtlichen)  Organismen 
sich  auf  die  Weise  herausgebildet  hat,  daß  bei 
Individuen  ursprünglich  weiblichen  Geschlechts 
sich  auch  männliche  Gonaden  entwickelt  haben; 
männliche  Individuen  wurden  dann  ganz  zurück- 
gebildet. Andererseits  scheint  der  Hermaphroditis- 
mus bei  Schwämmen,  einigen  Coelenteraten  (z.  B. 
Hydra,  Ctenophoren)  und  Plattwürmern  auf  pri- 
märe Zustände  hinzuweisen. 

Zwittertum  kommt  regelmäßig  außer  bei 
den  schon  erwähnten  Tiergruppen  noch  bei  vielen 
anderen   vor:    so    bei    einigen  weiteren  Würmern 


6«4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


(OHgochäten,  Hirudineen),  bei  den  Chätognathen, 
Bryozoen,  einigen  Prosobranchiern  (z.  B.  Valvatä), 
Tunicaten,  einigen  Echinodermen  {Syiiapfa)  und 
einigen  Fischen  vor.  Es  findet  sich  ferner  noch 
als  eine  gelegentliche  Erscheinung  bei  vielen 
Tierarten,  die  sonst  normalerweise  gonochoristisch 
sind;  so  z.  B.  unter  den  Stachelhäutern  ht\  Asferias 
glacialis  L.,  SpIiacrecJihuts  grainilaris  Lm.,  Para- 
centrotiis  lividiis  Lm.  Den  sogenannten  Hcrina- 
phroditisiiiHS  lateralis,  bei  dem  aber  häufig  nur 
die  sekundären  Sexualcharaktere  (und  zwar  weist 
die  eine  Hälfte  des  Tieres  nur  weibliche,  die  andere 
hingegen  nur  männliche  auf),  nicht  aber  die  Ent- 
wicklung der  Gonaden  auf  das  Zwittertum  hin- 
weisen, kennen  wir  z.  B.  von  Insekten  (Schwamm- 
spinner, Lymantria  dispar  L.)  und  Vögeln  (Gimpel, 
Pyrrlnila  ciiropaca  Vieill.).  Überhaupt  sind  bei 
den  meisten  der  bekannt  gewordenen  zwittrigen 
Individuen  der  höheren  Metazoen,  so  vor  allem 
der  Säugetiere  und  des  Menschen,  meist  nur  wirk- 
lich funktionsfähige  Gonaden  des  einen  Geschlechts 
gefunden  worden.  Solche  Fälle  von  Zwittertum 
kann  man  im  Gegensatz  zum  echten,  als  unechten 
oder  Schein-Hermaphroditismus  bezeichnen. 
Während  also  der  echte  Hermaphroditismus  durch 
das  Vorhandensein  von  funktionsfähigen  männ- 
lichen und  weiblichen  Gonaden  (oder  von  einer 
einzigen  aus  der  Verschmelzung  dieser  hervor- 
gegangenen Zwitterdrüse)  in  einem  Individuum 
gekennzeichnet  wird,  kommen  bei  pseudoherma- 
phroditischen  Individuen  stets  nur  zur  Reife  befähigte 
Gonaden  des  einen  Geschlechts  (die  des  entgegen- 
gesetzten in  rudimentärem,  funktionslosem  Zustande 
können  noch  nachweisbar  sein  —  es  sei  z.  B.  an 
das  Biddersche  Organ  bei  männlichen  Kröten 
erinnert,  das  nichts  weiter  als  ein  neben  dem 
Hoden  liegendes  Eierstockrudiment  ohne  Funktion 
ist)  und  deutlich  ausgeprägte  sowohl  männliche 
als  auch  weibliche  sekundäre  Geschlechtscharaktere 
vor.  Ja,  es  können  sogar  nur  männliche  Sexual- 
merkmale im  Zusammenhange  mit  einer  weiblichen 
Gonade  und  umgekehrt  auftreten. 

Die  Erklärung  der  Entstehung  solcher  pseudo- 
zwittrigen Formen  bei  normaliter  getrenntge- 
schlechtlichen Arten,  wird  nun  durch  die  eingangs 
hervorgehobene  Annahme,  daß  der  Gonochorismus 
sich  ursprünglich  aus  dem  Hermaphroditismus 
herausgebildet  hat,  sehr  gut  möglich  gemacht. 
Nach  dem  biogenetischen  Grundgesetz  müßte 
dann  die  Keimesanlage  zwittriger  Natur  sein;  und 
wenn  der  Keim  sich  zum  gonochoristischen  In- 
dividuum entwickelt,  bleiben  in  ihm  doch  noch 
kümmerliche,  vielleicht  äußerlich  gar  nicht  nach- 
weisbare, Anlagen  des  anderen  Geschlechts  ver- 
borgen; im  Laufe  der  ontogenetischen  Entwicklung 
können  sie  dann  später  —  aus  bis  jetzt  nicht  mit 
Sicherheit  festgestellten  Gründen  — die  Ausprägung 
der  ihnen  entsprechenden  sekundären  Sexual- 
charaktere fördern,  die  dann  das  betreffende  In- 
dividuum zu  einem  scheinzwittrigen  stempeln. 
Daß  in  einem  getrenntgeschlechtlichen  Organismus 
die  Anlage  des  zweiten  Geschlechts  enthalten  sein 


muß,  ergibt  sich  ferner  aus  den  noch  im  folgenden 
etwas  näher  zu  erörternden  Beobachtungen  an 
Knochenfischen,  sowie  aus  Bastardierungs- 
versuchen. So  gelang  es  bei  der  Kreuzung  ge- 
wisser Schmetterhngsarten  nachzuweisen,  daß  die 
daraus  hervorgegangenen  Bastarde  männliche 
Merkmale  derjenigen  Spezies  bekommen,  die  bei 
der  Paarung  durch  ein  weibliches  Individuum 
vertreten  war.  Weibliche  Tiere  können  in  diesem 
Falle  ausgesprochen  männliche  Charaktere  auf  ihre 
Nachkommen  übertragen.  Ihre  Keimzellen  mußten 
bisexuelle  Anlagen  enthalten  haben,  sie  mußten 
also  hermaphroditischer  Natur  gewesen  sein. 

Von  allen  Wirbeltieren  kommen  normaler- 
weise nur  bei  einigen  Fischen  hermaphroditische 
Fortpflanzungsorgane  vor.  Von  den  Cyclostomen 
ist  das  Zwittertum  bei  J\fyxinc  bekannt;  Fälle  von 
zwittrigen  Knochenfischen  betreffen  einige  wenige 
meeresbewohnende  Acanthopterygier:  stets  herma- 
phrodit  sind  mehrere  Scrraii/is-kr\.en,  ferner 
Oirysophrys  aitrata  L.,  dazu  kommt  noch  der  sehr 
häufig  beobachtete  Hermaphroditismus  bei  Sargus 
und  PagdliiS  hinzu.  Es  scheint  aber  festzustehen, 
daß  alle  diese  Zwitterfische  ■ —  obgleich  sie  Keim- 
drüsen beiderlei  Geschlechts  besitzen  —  ihrer 
Funktion  nach  immer  nur  entweder  Männchen 
oder  Weibchen  sind;  bereits  bei  Alyxiiic  gliitinosa 
L.  sehen  wir,  daß  hier  stets  nur  eine  Gonade 
die  Reife  erlangt. 

Als  Scheinzwittertum  können  wir  auch  die- 
jenigen Erscheinungen  auffassen,  die  unter  dem 
Namen  der  „Hahnenfedrigkeit"  resp.  „Hennen- 
fedrigkeit"  bekannt  sind.  Diese  Bezeichnungen 
rühren  von  alten,  fortpflanzungsunfähigen 
Hennen  oder  Hähnen  her,  die  plötzlich  „bahnen-" 
oder  „hennenfedrig"  werden,  d.  h.  Merkmale  des 
entgegengesetzten  Geschlechts  bekommen.  Diese 
nicht  ganz  selten  zu  beobachtende  Erscheinung 
ist  auch  von  anderen  Tieren,  so  z.  B.  von  anderen 
Vögeln  und  Huftieren  bekannt.  Aber  auch  bei 
einigen  Süßwasserfischen  ist  sie  in  jüngster  Zeit 
vielfach  beobachtet  worden.  So  hat  Mazatis 
festgestellt,  daß  alte  Kärpflingsweibchen  der  Gattung 
Mollienisia  im  Laufe  der  Zeit  den  männlichen 
Tieren  immer  ähnlicher  wurden,  d.  h.  männliche 
Geschlechtsmerkmale  erhalten.  Am  schönsten 
läßt  sich  dieser  Vorgang  bei  anderen  Cyprino- 
dontiden  (Zahnkarpfen),  so  bei  der  Gattung 
Xipliophorus,  verfolgen.  Die  männlichen  Tiere 
des  süßwasserbewohnenden  Schwertkärpflings 
Xipliop/ioriis  sind  bei  den  meisten  Arten  durch 
die  merkwürdige  Form  der  Schwanzflosse,  deren 
unterer  Teil  bei  Männchen  in  einen  langen 
schwertförmigen  Fortsatz  ausgezogen  ist, 
und  durch  leuchtendere  Farben  von  den  weib- 
lichen ausgezeichnet.  Es  ist  nun  von  vielen 
Aquarienliebhabern  beobachtet  worden,  daß  bei 
altenWeibchendieses  prächtigen  südamerikanischen 
Fischchens  die  Schwanzflosse  allmählich  ihre 
Form  abänderte,  indem  an  ihr  ein  langer  Fort- 
satz auszuwachsen  begann;  solche  Fische  lassen 
äußerlich  zunächst  noch  sowohl  männliche  als  weib- 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


685 


liehe  Geschlechtsmerkmale  erkennen.  Der  Schwanz- 
fortsatz wird  aber  immer  länger,  die  Farben  des 
Körpers  lebhafter  und  der  weibliche  Fisch  gleicht 
nun  so  verblüffend  einem  IVIännchen,  daß  die 
Frage  wiederholt  aufgeworfen  wurde,  ob  sich  bei 
einem  solchen  Fisch  auch  gleichzeitig  männliche 
Geschlechtsdrüsen  neben  oder  unter  Verdrängung 
der  weiblichen  herausgebildet  haben;  ja  man  hat 
in  den  Aquarianerkreisen  diesen  Vorgang  als  eine 
richtige  „Geschlechtsumwandlung"  aufzufassen  ver- 
sucht. Alle  diejenigen  Fälle  aber,  mit  denen  ich 
mich  etwas  näher  beschäftigte,  haben  mich  be- 
lehrt, daß  solche  umgewandelte  Tiere  stets  nur 
gynandrisch,  oder  wenn  man  so  will  „hahnen- 
fedrig"  wurden.  Die  gynandrischen  Weibchen 
können  sich  sogar  unter  Umständen  ganz  wie 
echte  Männchen  benehmen;  das  beweist  ein  Bericht 
des  Aquarienvereins  „Ludwigia"  in  Düsseldorf 
(siehe  „Wochenschrift  für  Aquarien-  und  Terrarien- 
kunde" Jahrg.  XIV,  Seite  212):  „Herr  Tr.  berichtet 
über  ein  Xipliophorus  -Weibchen,  das  sich  jetzt, 
nachdem  es  Herbst  und  Winter  1916  verschiedene 
Male  Junge  geworfen,  zum  Männchen  umgebildet 
und  sich  ein  stattliches  Schwert  mit  Kopulations- 
stachel zugelegt  hat.  Es  ist  dies  der  dritte  inner- 
halb von  zwei  Jahren  in  unserem  Verein  festgestellte 
Fall,  der,  obgleich  er  sicher  angezweifelt  wird, 
doch  als  Tatsache  feststeht.  Diese  umgebildeten 
Mäimchen  sind  auch  .  .  .  fortpflanzungsfähig  (?  Ref), 
wenn  auch  in  dem  erwähnten  letzteren  Falle  dies 
Männchen  nicht  so  viel  treibt,  wie  ein  nor- 
males Männchen.  ..."  —  Auf  meine  Bitte  hin 
überließ  mir  Herr  Treiber  dieses  Tier  zwecks 
einer  näheren  Untersuchung;  infolge  unserer  dies- 
jährigen Sommerhitze  ging  das  Tier  jedoch  während 
seiner  mehrtägigen  Reise  von  Düsseldorf  nach 
Leipzig  ein  und  kam  in  einem  derartig  mazerierten 
Zustande  an,  daß  selbst  eine  sorgfältig  ausgeführte 
Sektion  die  Geschlechtsdrüsen  als  solche  nicht 
mehr  erkennen  ließ.  Für  diesen  Fall  bleibt  also 
die  Frage  nach  dem  Geschlecht  noch  offen ;  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  ist  aber  anzunehmen, 
daß  auch  hier  nur  die  Ovarien  —  und  zwar 
sicher  in  einem  stark  rückgebildeten  Zustande, 
wie  man  schon  nach  dem  Habitus  des  Fisches 
beurteilen  konnte  —  vorhanden  waren. 

Wie  wollen  wir  nun  diese  eigentümlichen  Er- 
scheinungen physiologisch  erklären  ?  Wiederum 
von  der  Voraussetzung  ausgehend,  daß  die  Keim- 
zellen ursprünglich  Anlagen  beiderlei  Ge- 
schlechts enthalten,  können  wir  annehmen,  daß, 
wenn  bei  einem  gonochoristischen  Fisch  nur  die 
Anlage  des  einen  Geschlechts  —  in  unserem  Falle 
des  weiblichen  —  zur  Reife  befähigt  ist,  die  ent- 
gegengesetzte Geschlechtsanlage  doch  noch,  äußer- 
lich unmerklich,  dem  Tiere  erhalten  bleibt.  Die 
weiblichen  Geschlechtsdrüsen  lassen  durch  innere 
Sekretion  nur  die  ihnen  entsprechenden,  also  weib- 
lichen, Geschlechtsmerkmale  zur  Ausbildung  ge- 
langen. Wird  aber,  als  Zeichen  der  Altersschwäche 
oder  aus  anderen  Gründen,  die  weibliche  Gonade 
in  ihrer  Funktion   gehemmt   und  beginnt  sie  all- 


mählich zu  verkümmern,  so  kann  sie  auch  die 
Geschlechtsmerkmale  nicht  im  normalen  Umfange 
beeinflussen;  die  Zufuhr  der  für  ihre  Erhaltung 
notwendigen  Stoffe  (der  sog.  Hormone)  muß  nun- 
mehr gänzlich  aufhören.  Jetzt  kann  die  bis  dahin 
verborgene  männliche  Anlage  der  Keimdrüsen 
zur  lebhaften  Bildung  der  Hormone  gelangen 
und  die  ihnen  zukommenden,  also  männlichen 
Sexualcharaktere  zur  Entfaltung  bringen.  Der 
Habitus  des  weiblichen  Fisches  ließ  in  unserem 
Falle  zunächst  beiderlei  Geschlechtsmerkmale  er- 
kennen; es  gewannen  aber  bald  die  männlichen 
die  Überhand,  bis  sie  die  weiblichen  verdrängt 
hatten.  Der  Fisch  ist  äußerlich  zu  einem 
Männchen  geworden;  er  ist  aber  nur  ein  Schein- 
zwitter, denn  bei  ihm  ist  nur  eine  —  vielleicht 
stark  zurückgebildete  —  weibliche  Geschlechts- 
drüse mit  jetzt  männUchen  Geschlechtsmerkmalen 
ausgebildet. 

Ein  entschieden  größeres  Interesse  verdienen 
aber  andere  Beobachtungen  an  Knochenfischen, 
die  man  wohl  mit  Recht  ebenfalls  in  das  Gebiet 
der  scheinhermaphroditischen  Erscheinungen 
rechnen  kann.  Sie  betreffen  nämlich  nicht  so  sehr 
die  Neigung  der  Tiere  äußere,  morphologische 
Merkmale  des  entgegengesetzten  Geschlechts  an- 
zulegen, als  vielmehr  das  Benehmen  und  die 
Gewohnheiten  des  anderen  Geschlechts  in 
oft  sehr  verblüffender  Weise  nachzuahmen.  In 
allen  mir  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Fällen 
waren  es  weibliche  Fische,  die  verschiedene,  im 
engsten  Zusammenhange  mit  dem  Geschlechts- 
leben  stehende  Gewohnheiten  der  Männchen 
annahmen. 

Das  Benehmen  von  zwei  schönen  Exemplaren 
des  in  Afrika  von  Ägypten  bis  zur  Kongomündung 
beheimateten  Hcmicliromis  bimacidatus  Gill.,  die 
ich  im  Sommer  1916  im  Zoologischen  Institut 
der  Leipziger  Universität  zwecks  Studiums  ihres 
Farbkleides  hielt,  war  mir  so  auffällig,  daß  ich 
die  Tiere  einer  näheren  Beobachtung  unterzog. 
Zuvor  sei  aber  der  Leser  daran  erinnert,  daß  diese 
wunderschön  gefärbten  Cichliden  keine  besonders 
intensiv  ausgeprägten  Geschlechtsmerkmale  be- 
sitzen. Das  Alltagskleid  dieses  Fisches  ist  nur 
recht  unscheinbar  bräunlich  mit  einem  dunkel 
braunschwarzen  Streifen  längs  der  Rumpfseiten 
und  zwei  Flecken:  einem  am  hinteren  Rande  des 
Kiemendeckels  und  einem  an  der  Körperseite, 
mehr  dem  Schwänze  als  dem  Kopfe  genähert.  Wie 
ganz  anders  wird  aber  die  Färbung  unseres 
Hcmicliromis,  wenn  er  sein  Hochzeitskleid  anlegt! 
Die  Tiere  erstrahlen,  namentlich  an  der  Unterseite 
im  leuchtenden  Dunkelrot;  der  Rücken  behält 
meist  seine  dunkel  braungrünliche  Färbung.  Die 
Körperseiten  und  die  Kiemendeckel  erhalten  einen 
Schmuck  in  Form  von  blauen,  goldig  glänzenden 
Tüpfeln,  bunten  Diamanten  vergleichbar.  Die 
Flossen  sind  helloliv;  die  Rückenflosse  weist  einen 
roten  Rand  auf,  die  Schwanzflosse  ist  oben  rot, 
unten  schwarz  gesäumt.  Das  Weibchen  läßt  sich 
an  der  etwas   kürzeren  Rückenflosse,   an  weniger 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


intensiv  blauen  Flecken  und  an  dem  stärkeren 
Körperumfang  nur  für  den  Spezialisten  gut  er- 
kennen. 

Meine  beiden  Weibchen,  die  in  den  schönsten 
Farben  prangten,  versetzten  mich  vor  allem  da- 
durch in  Erstaunen,  daß  das  eine  und  zwar  das 
kleinere,  sich  offenbar  die  Mühe  gab,  das  Männ- 
chen zu  spielen.  Es  benahm  sich  dem  größeren, 
deutlich  mit  Laich  erfüllten,  gegenüber  wie  ein 
echtes  Männchen,  indem  es  stets  hinter  ihm  her- 
schwamm, es  zuerst  mit  sanften  Püffen  vor  sich 
her  trieb,  dann  zu  den  bei  Cichliden  so  häufigen 
Beißereien  überging,  bis  ich  es  eines  Morgens  tot 
mit  stark  lädierten  Flossen  im  Aquarium  vorfand. 
Es  wurde  sicher  vom  größeren  Tier,  das  schließ- 
lich in  ihm  einen  gleichgeschlechtlichen  Art- 
genossen erkannte,  über  Nacht  umgebracht.  Die 
Untersuchung  des  toten  Fisches  ergab,  daß  das 
Tierchen  ein  wohlentwickeltes  Ovarium  besaß. 
Auch  der  andere  Hemichroniis,  der  um  Weih- 
nachten 1916  infolge  Aussetzens  der  Heizung  im 
Institut  einging,  war  ein  Weibchen. 

Als  Parallele  zu  meinen  Beobachtungen  kann 
ich  ein  Zitat  aus  dem  Bericht  eines  Aquarien- 
vereins und  zwar  wiederum  der  „Ludwigia"  in 
Düsseldorf  bringen  (siehe  „Wochenschrift  für 
Aquarien-  und  Terrarienkunde"  Jahrgang  XIll, 
Seite  223):  „Ein  großes  Weibchen  von  Haiiic/ironiis 
bimaculafus,  welches  mit  einem  zweiten  Tiere, 
anscheinend  einem  Männchen,  zusammen- 
gehalten wurde,  laichte  ab,  wobei  sich  das  Männ- 
chen gebärdete,  als  wenn  es  die  Eier  befruchten 
wollte;  die  Eier  verpilzten  jedoch  und  es  scheint 
sich  um  kein  Männchen  zu  handeln,  trotzdem 
das  Tier  als  solches  gefärbt  ist  und  sich  als 
solches  gebärdet.  .  .  ." 

Am  bemerkenswertesten  ist  aber  der  Bericht 
von  Aubry')  über  das  Verhalten  seiner  beiden 
Hcmtchroiiiis  lu'imuNlatus-V^cihchtn;  doch  ehe 
wir  darauf  eingehen,  seien  zuvor  die  nicht  minder 
interessanten  Erfahrungen  von  Brüning,-')  dem 
Redakteur  der  „Wochenschrift  für  Aquarien-  und 
Terrarienkunde",  mit  einem  südamerikanischen 
Cichliden  Acara  himacnlata  J.  u.  S.  hier  mit- 
geteilt. Nach  Landeck  („Geschlechtsunterschiede 
der  Zierfische"  im  Beilageheft  zu  „Blätter  für 
Aquarien-  und  Terrarienkunde"  1914)  ist  das  brut- 
pflegende Männchen  dieses  Fisches  dunkler  gefärbt 
als  das  Weibchen;  bei  ihm  ist  auch  die  Zeichnung 
(dunkler  Längsstreifen  und  je  ein  Fleck  in  der 
Körpermitte  und  an  der  Schwanzwurzel)  deutlicher 
ausgeprägt.  Brüning  brachte  nun  zwei  Exemplare 
der  Acara  biniacitlata  in  ein  Aquarium,  die  man 
unbedingt  für  ein  Pärchen  halten  mußte,  denn 
„sie  paßten  nach  der  Größe  vorzüglich  zusammen 
und  waren  auf  den  ersten  Blick  als  Männchen 
und  Weibchen  zu  unterscheiden,  denn  das  Weib- 
ehen war  sichtlich  „in  anderen  Umständen",   also 


')  Wochenschr.  f.  Aquarien-  und  Terrarienkunde  XIV 
S.   189. 

^)  Wochenschr.  f.  Aquarien-  und  Terrarienkunde  XIII 
S.  521. 


dicker  als  das  Männchen  und  seine  Rücken-  und 
Afterflosse  waren  kürzer  und  stumpfer,  während 
dieselben  beim  Männchen  lang  ausgezogene  Spitzen 
hatten,  die  bis  über  die  Außenkanten  der  Schwanz- 
flosse hinausragten."  Nur  kurze  Zeit  herrschte 
Friede  im  Aquarium;  bald  aber  beobachtete 
Brüning,  wie  das  vermutliche  Männchen  plötz- 
lich das  Weibchen  mit  Püffen  recht  unsanft  zu 
traktieren  begann.  Die  beiden  Tierchen  erstrahlten 
in  prachtvollsten  Hochzeitsfarben:  „Der  gelbe 
Brillenstreifen  leuchtet  bei  beiden  Tieren  förmlich. 
Die  Kiemendeckel  glänzen  meergrün,  der  schwarze 
Punkt  unter  dem  Auge  ist  verschwunden,  statt 
des  großen  schwarzen  Punktes  auf  der  Mitte  der 
Körperseiten  findet  sich  nur  ein  fahler,  mißfarbener 
P'Jeck.  Die  Bauchflossen  sind  pechschwarz  mit 
hellen  Spitzen.  .  .  .  Das  Männchen  geht  wiederholt 
mit  Püffen  auf  das  Weibchen  los." 

Die  Fische  wurden  daraufhin  voneinander  ge- 
trennt; nach  Verlauf  von  14  Tagen  schien  das 
Laichgeschäft  bald  zu  erfolgen.  Brüning  ließ 
die  Fische  wieder  zusammen.  „Die  wunder- 
barsten Liebesspiele  begannen.  Dabei 
nimmt  das  Weibchen  oft  die  halbliegende  Schwimm- 
stellung ein  und  das  Männchen  umkreist  es.  Die 
Geschlechtspapille  wird  immer  stärker  und  seine 
Ungeduld  wächst  ebenfalls.  Jetzt  ist  es  das 
Männchen,  welches  die  Prügel  bekommt,  und  seine 
Flossen  sind  bald  jämmerlich  zerschlissen.  Dann 
löst  zärtliches  Liebeswerben  wieder  den  Zank  auf. 
Das  Pärchen  umkreist  einen  Stein  und  sucht 
augenscheinlich  den  Platz  für  die  Eier  aus.  .  .  . 
So  geht  es  fast  jeden  Tag.  ..."  Da  es  B  r  ü  n  i  n  g 
nicht  gelingen  wollte,  die  Fische  zur  Laichablage 
zu  bringen,  wurden  die  Tiere  konserviert  und 
präpariert.  Es  zeigte  sich  nun,  daß  das  Weibchen 
sehr  große  Eierstöcke  hatte;  in  einem  Ovarium 
wurden  nicht  weniger  als  397  Eier  gezählt.  Aber 
auch  das  vermeintliche  Männchen  entpuppte  sich 
bei  der  Präparation  als  ein  richtiges  Weib- 
chen! Seine  Ovarien  waren  nicht  so  groß  und 
die  Eier  etwas  kleiner  als  beim  anderen  Weibchen. 

Werfen  wir  jetzt  einen  Blick  auf  die  Beob- 
achtungen von  Aubry  an  HcDiicJirumis  bima- 
ciilatiis.  Zwei  junge,  kaum  4  cm  große  F"ischchen 
dieser  Art  wurden  von  Aubry  großgezogen. 
Als  sie  geschlechtsreif  wurden,  schien  es  sich  um 
ein  Pärchen  zu  handeln:  „In  hellem,  leuchtendem 
Rot  pr.mgte  das  eine  Tierchen,  dunkler  war  das 
andere  gefärbt  und  zeigte  leuchtend  goldige  Punkte. 
Das  erstere  hatte  unzweifelhaft  Laichansatz,  es 
war  also  das  Weibchen."  Vermutlich  war  das 
andere  ein  Männchen,  obgleich  der  Körper 
von  den  leuchtenden  Tüpfeln  nicht  so  dicht  besät 
war,  wie  es  sonst  für  männliche  Tiere  dieser 
Plschart  charakteristisch  ist.  Auch  der  Habitus 
war  für  ein  Männchen  nicht  schlank  genug.  „Aber 
die  Liebesspiele  begannen,  die  Treibereien 
und  Beißereien,  also  trennte  ich  die  Fischchen." 
Nachdem  die  Fische  nach  kurzer  Zeit  zusammen- 
gebracht wurden,  erfolgte  die  Laichablage;  die 
Eier  gingen   aber  bereits  schon  nach  zwei  Tagen 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


687 


zugrunde.  Wiederum  „begannen  die  Liebes - 
spiele  von  neuem,  wieder  prangte  das  Weibchen 
in  leuchtendem  Rot  und  der  dunkle  Ehemann 
grub  eifrig  Kinderwiegen.  Der  zweite  Laichakt 
wurde  vollführt.  Im  herrlichsten  Hochzeitskleide 
strahlend,  schwamm  das  Weibchen  im  Blumentopf 
hin  und  legte  Eichen  neben  Eichen.  Das  Männ- 
chen kam  hinterher  und  gab  sich    ersichtlich  alle 

Mühe  auch  seine  Pflichten  getreulich  zu  erfüllen 

Aber  das  Männchen  war  ein  Weibchen,  denn 
sein  Geschlechtsorgan  war  nicht  die  kleine,  etwas 
zugespitzte  Genitalröhre  eines  Männchens,  sondern 
eine  ausgesprochen  wulstige,  dicke  weibliche  Lege- 
röhre. .  .  .  Das  Weibchen  wußte  wie  sich  ein 
Männchen  beim  Laichakt  benimmt,  trotzdem  es 
niemals  mit  einem  Männchen  zusammengelebt, 
oder  einen  Laichakt  gesehen  hatte."  Bei  diesen 
beiden  Weibchen  von  Heiinchfornis  bimaculatus 
war     der     Geschlechtsapparat    in     einem    völlig 


funktionsfähigen  Zustande,  denn  beide  er- 
gaben, nachdem  sie  mit  männlichen  Tieren  zu- 
sammengehalten wurden,  eine  reichliche  Nachzucht. 
Dieses  auffallende  Benehmen  von  weiblichen 
Fischen  dürfte  sicher  auch  noch  bei  anderen 
Tiergruppen  vorkommen.  Die  in  unseren  Fällen 
in  Frage  kommenden  Tiere  unterscheiden  sich 
wesentlich  von  den  zuerst  erörterten  gynan- 
drischen  Weibchen.  Während  diese  letzteren, 
wie  wir  sahen,  stets  an  Fischen  beobachtet 
wurden,  deren  Geschlechtsapparat  zu  verküm- 
mern begann,  handelt  es  sich  hier  um  noch 
völlig  fortpflanzungsfäh  ige  Tiere.  —  Versteht 
man  unter  Homosexualität  (Gleichgeschlechtlich- 
keit) eine  Form  des  psychischen  Scheinherma- 
phroditismus, so  wird  man  hierher  vielleicht  auch 
diese  Beobachtungen  an  Fischweibchen  zu  rechnen 
haben. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Magenuntersuchungen  an  Wespen: 
Im  Referate  „Neue  Untersuchungen  über  die 
Nahrung  des  Ohrwurmes"  (S.  291  des  laufenden 
Jahrganges)  war  auf  das  Verfahren  der  Magen- 
untersuchungen an  Insekten  als  eine  neue,  zuver- 
lässige und  oft  sehr  vorteilhafte  Llntersuchungs- 
methode  hingewiesen,  um  die  Art  der  Nahrung 
von  Insekten  sicher  festzustellen  und  damit  oft 
die  Frage  nach  Nutzen  und  Schaden  leichter  als 
bisher  zu  entscheiden. 

Im  Bericht  der  König  1.  Lehranstalt 
für  Wein-,  Obst-  und  Gartenbau  zu 
Geisenheim  1915  werden  nun  von  Prof  Dr. 
G.  L  ü  s  t  n  e  r  -  Geisenheim  weitere  Beispiele  solcher 
von  ihm  vorgenommener  Magenuntersuchungen 
an  Gartenschädlingen  veröffentlicht,  unter  denen 
die  an  der  gemeinen  Wespe  (Vespa  vul- 
garis. L.)  gewonnenen  Untersuchungsergebnisse 
S.    207  ff    allgemeineres    Interesse    beanspruchen 

Wie  beim  Ohrwurm  haben  wir  in  der  Wespe 
ein  Insekt,  das  trotz  seines  allgemeinen  Vor- 
kommens doch,  was  seine  eigene  und  die  Er- 
nährung seiner  Brut  angeht,  vielfach  umstritten 
ist.  Das  zeigen  deutlich  die  Angaben  in  der 
Literatur.  Die  Wespen  werden  hier  als  Fleisch- 
und  Pflanzenfresser  bezeichnet.  Nach  Reh  (So- 
rauer:  Handbuch  der  Pflanzenkrankheiten.  III.  Bd. 
S.  614)  fressen  sie  in  erster  Linie  tierische  Stoffe: 
Insekten  (Blattläuse?),  Spinnen,  tote  Wirbeltiere. 
Sie  sind  also  zu  einem  gewissen  Grade  nützlich. 
Aber  andererseits  gehören  sie  zu  den  gefährlichsten 
Feinden  von  süßem  Obst,  daß  sie  anfressen  und 
ansaugen.  Die  Nahrung  wird  nicht  eigentlich 
gefressen,  sondern  sie  saugen  die  zerkauten  Stoffe 
nur  aus  und  lassen  den  Rest  ungefressen  liegen. 
Seh  m  eil  (Lehrbuch  der  Zoologie.  6.  Aufl. 
S.  329)  hält  sie  auch  in  erster  Linie  für  Fleisch- 
fresser: „Zwar  na^chen  sie  gerne  an  reifen  Früchten 
und  am  Honig  der  Blüten.  . .;  in  erster  Linie  aber 


sind  sie  Fleischfresser.  Im  Fluge  überfallen  sie 
die  Beute  (Bienen,  Fliegen),  töten  sie  mit  Hilfe 
ihres  Stachels,  verzehren  sie  oder  legen  sie  fein 
zerkaut  ihren  Larven  vor."  Fleischer  (Lehrbuch 
der  Zoologie.  2.  Aufl.  S.  226)  bezeichnet  als  ihre 
Nahrung  Insekten,  Fleisch,  Honig  und  reife  Früchte. 
Die  Brut  soll  ebenfalls  mit  diesen  Stoffen  genährt 
werden,  und  zwar  nachdem  die  fütternde  Wespe 
sie  wieder    aus   dem  Magen    hervorgewürgt    habe. 

Um  hier  zu  einem  sicheren  Ergebnisse  zu 
kommen,  nahm  Lüstner  an  den  Bewohnern  von 
drei  großen  Nestern,  an  Wespen  und  Wespen- 
larven, über  100  Magenuntersuchungen  vor.  Das 
Ergebnis  war  immer  dasselbe:  Im  Magen  der 
Wespen  fanden  sich  niemals  feste  Stoffe,  sondern 
er  war  stets  prall  gefüllt  mit  einer  wasserhellen 
Flüssigkeit,  die  mit  F  e  h  1  i  n  g  'scher  Lösung  starke 
Zuckerreaktion  zeigte.  Sie  nehmen  also  keine 
feste  Nahrung  auf,  sondern  saugen  nur  die 
darin  enthaltene  Flüssigkeit  aus.  Der  große 
Zuckergehalt  weist  auf  reife  Früchte  als  wichtiges 
Nahrungsmittel  hin.  Pflanzliche  Gewebe,  auch 
Holzteile,  aus  denen  sie  bekanntlich  ihre  lösch- 
papierähnlichen Waben  bauen,  werden  im  Magen 
ebenfalls  nicht  angetroffen.  Das  an  Holzgelände, 
Fensterläden  usw.  gewonnene  Bauholz  wird  viel- 
mehr, wie  die  Beobachtung  auch  zeigt,  mit  einer 
aus  dem  Maule  austretenden  Flüssigkeit  über- 
speichelt, dann  abgenagt  und  im  Maule  zum  Neste 
getragen,  und  hier  weiter  verarbeitet. 

Ganz  anders  waren  die  Befunde  an  den 
Wespenlarven.  Ihr  Mageninhalt  bestand  zur  Haupt- 
sache aus  großen  Mengen  von  Iiisektenresten  in 
feinster  Zerkleinerung.  Chitinstückchen,  Chitin- 
haare, Fühlerteile,  Beine,  Fazettenaugen,  F"lügel, 
Schmetterlingsschuppen  u.  a.  wurden  festgestellt. 
Daneben  füllte  den  Magen  prall  eine  stark  auf 
Zucker  reagierende  Flüssigkeit.  Referent  konnte 
bei    einer    vor    kurzem     unternommenen    Unter- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


suchung  von  etwa  30  Larven  der  Vespa  media 
L.  ganz  ähnliches  feststellen.  Neben  allerhand 
Chitinresten,  unter  denen  Tracheenreste,  Hautstücke 
mit  Stigmen,  Schmetterlingsschuppen  (2  mal)  auf- 
fallend häufig  Teile  aus  den  Fazettenaugen  u.  a. 
identifiziert  wurde,  fanden  sich  auch  Reste  von 
anscheinend  ganz  frischen  Muskel-  und  Fettge- 
weben und  Blutelementen,  was  jedenfalls  darauf 
hinweist,  daß  die  Stoffe  von  frischgetöteten  Insekten 
stammten.  Dies  schließt  natürlich  nicht  aus,  daß 
auch  tote  Tiere  verfüttert  werden.  Der  ganze 
Brei  war  violett-rot,  in  der  Farbe  an  Bickbeersaft 
erinnernd,  so  daß  der  Magen  nach  außen  schwarz- 
rot durchschimmerte.  Zuckerreaktion  war  eben- 
falls deutlich  erkennbar.  Bienenreste,  auf  die  be- 
sonders geachtet  wurden,  konnten  nicht  festgestellt 
werden;  doch  mag  das  daran  liegen,  daß  das  Nest 
aus  einen  Garten  mitten  in  Hamburg  stammte. 
Es  wurden  ganz  kleine,  nur  wenige  Millimeter 
große  und  ganz  ausgewachsene,  schon  einge- 
sponnene Larven  untersucht.  Ein  Unterschied 
aber  in  der  Art  der  Nahrung  war  in  keiner  Weise 
erkennbar.  , 

Hält  man  die  beiden  Befunde,  Wespen  und 
Wespenlarven,  nebeneinander,  so  ergibt  sich  jeden- 
falls, daß  die  Larven  mit  zuckerhaltiger  Flüssig- 
keit, hauptsächlich  aber  mit  Insekten,  gefüttert 
werden,  die  aber  nicht  von  den  Imagines  im 
Magen,  sondern  fein  zerkaut  im  Maule  den  Larven 
zugetragen  und  verabreicht  werden.  Von  einem 
Hervorwürgen  dieser  Art  Nahrung  aus  dem  Magen 
kann  jedenfalls  keine  Rede  sein,  denn  die  Wespe 
nimmt  keine  feste  Nahrung  zu  sich.       Olufsen. 

Die  Zucht  des  Seidenspinners  im  Freien.  Prof. 
Dr.  J.  Dewitz  {Metz),  hatte,  wie  ich  an  dieser 
Stelle  schon  berichtete,^)  in  den  Jahren   191 5  und 

1916  mit  dem  Versuch  begonnen,  die  Raupen  des 
Seidenspinners  {Büinhyx  mori  L.)  im  Freien  zu 
züchten.  Er  hat,  wie  er  schon  damals  ankündigte, 
seine  Versuche  heuer  erneut  aufgenommen  und 
teilt  nun  seine  diesjährigen  Erfahrungen  in  der 
Entomologischen    Rundschau    (34.   Jahrg. 

191 7  Nr.  7)  mit.  Von  einem  der  Maulbeerbäum- 
chen hatte  Prof.  Dewitz  die  von  den  Seiden- 
raupen im  Sommer  1916  gesponnenen  Kokons 
nicht  abgesammelt.  Im  Spätsommer  schlüpften 
die  Falter  aus,  kopulierten  alsbald  und  legten  dann 
ihre  Eier  an  den  Blättern,  am  Stamm  oder  an  den 
leeren  Kokons  ab.  Die  Eier  überstanden  trotz 
der  grimmigen  Kälte  den  Winter  gut,  am  17.  Mai 
bemerkte  Dewitz  die  ersten  Räupchen,  deren 
Zahl  sich  in  den  nächsten  Tagen  stark  vermehrte. 
Nach  etwa  14  Tagen  waren  die  Räupchen  etwa 
1^/2  cm  lang.  Das  Ausschlüpfen  der  Raupen  be- 
gann erst,  als  die  Maulbeerbäume  und  -Sträucher 
schon  einigermaßen  belaubt  waren.  Diese  zeit- 
liche Übereinstimmung  zwischen  der  Entwicklung 
des  Parasiten  und  seiner  Nährpflanze,  für  die  Prof. 
Dewitz  den  Begriff  „Synchronismus"  prägt. 


»)  Vgl.Nalurw.Wochenschr.  N,  K.  16. 13d.  Nr.  17,  S.  236/37. 


ist  für  die  Freilandzuchten  des  Seidenspinners  von 
größtem  Vorteil,  nicht  minder  als  die  Tatsache, 
daß  die  Eier  selbst  diese  harten  Wintermonate 
unbeschadet  hatten  überdauern  können.  „Wenn 
man  daher  die  früher  erwähnte  Schwierigkeit, 
schließt  Prof.  Dewitz,  die  die  Trägheit  der  er- 
wachsenen Raupen  verursacht,  überwinden  oder 
wenn  man  bewegliche  Varietäten  finden  würde, 
könnte  man  an  umfangreiche  Versuche,  Bombyx 
mori  im  Freien  zu  ziehen,  herangehen". 

H.  W.  Frickhinger. 

Massenhaftes  Auftreten  des  Gartenlaubkäfers 
in  einigen  Bezirken  Oberbayerns.  Der  kleine 
Rosenkäfer  oder  Gartenlaubkäfer  {P/iyllo- 
pcrflia  Iwrticola  L.)  tritt  in  Deutschland  in  manchen 
Jahren  so  massenhaft  auf,  daß  er  schwere  Schäden 
an  Eichen  und  anderen  Laubbäumen  des  Waldes 
und  in  den  Nutz-  und  Ziergärten  an  Rosen- 
pflanzungen und  Obstbäumen,  vor  allem  an  Apfel- 
bäumen, verursacht.  So  scheint  der  Käfer  heuer 
in  Massenschwärmen  vorzukommen:  anläßlich 
einer  Besteigung  des  Zwiesels  in  den  bayerischen 
Vorbergen  oberhalb  Bad  Heilbrunn  am  19.  Juni 
konnte  ich  auf  dem  1335  m  hohen  Gipfel  des 
Berges  in  den  Mittagsstunden  Massen  des  Käfers 
beobachten,  die  gleich  Bienenschwärmen  umher- 
summten. Da  der  Gipfel  des  Zwiesels  nur  mit 
einer  kurzen  Grasnarbe  bestanden  und  nicht  be- 
waldet ist  und  die  Hänge  des  Berges  fast  aus- 
schließlich Nadelholz  aufweisen,  konnte  ich 
keinerlei  Beschädigungen  durch  den  Käfer  kon- 
statieren. Auch  auf  meiner  weiteren  Wanderung 
auf  den  Blomberg  oberhalb  Bad  Tölz  konnte  ich 
nirgends  Fraßschäden  entdecken.  In  einem 
anderen  oberbayerischen  Bezirk,  in  der  Nähe  von 
Rosenheim,  scheinen  die  Käfer  aber  infolge 
ihres  massenhaften  Auftretens  zu  argen  Schädlingen 
geworden  zu  sein.  In  den  ersten  Tagen  des  Juni, 
so  wird  aus  der  dortigen  Gegend  berichtet,  traten 
die  Käfer  zum  erstenmal  auf.  In  dichten  Schwärmen 
suchten  sie  auf  weite  Strecken  hin  alle  die  Land- 
straßen flankierenden  Bäume  —  zumeist  Obst- 
bäume —  heim  und  schädigten  vor  allem  die 
Apfelbäume  schwer :  sie  fraßen  sie  vollkommen  kahl. 
Die  Käfer  vertilgten  dabei  nicht  nur  das  Laub, 
sondern  auch  die  Blüten  und  benagten  selbst  die 
jungen  F'rüchte.  Auch  in  den  Waldungen,  durch 
die  eine  der  befallenen  Straßen  führt,  machten 
sich  die  Käfer  bald  breit.  Die  Bekämpfung 
der  Schädlinge  stützt  sich  vor  allem  auf  die 
technische  Methode,  wie  ich  sie  im  ver- 
gangenen Jahre  an  dieser  Stelle  vom  Kampf 
gegen  den  Maikäfer  schilderte: ')  in  den  frühesten 
Morgenstunden,  wenn  die  Käfer  noch  schlaftrunken 
in  Massen  auf  den  Bäumen  hängen,  müssen  diese, 
nachdem  zuerst  Tücher  unter  ihrer  Krone  aus- 
gebreitet worden  sind,  abgeschüttelt  werden.  Die 
erbeuteten  Käfer  werden  dann  vernichtet,    indem 

')  Vgl.  meinen  Bericht  „Maikäferbekämpfung"  in  Naturw. 
Wochenschr.,  N.  F.  15.  Bd.,  S.  509/10. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sie  z.  B.  in  vorher  ausgehobene  Löcher  geworfen, 
mit  Erde  bedeckt  und  so  erstickt  werden.  Dabei 
wäre  zu  erwägen,  wie  Prof.  Eckstein  im  vorigen 
Jahre  anläßhch  der  „Maikäferstrecke"  vorschlug, 
ob  die  Käfer  nicht  als  Hühnerfutter  Verwendung 
finden  könnten.  In  der  jetzigen  Zeit  der  akutesten 
Körnerknappheit  wären  die  gesammelten  Käfer- 
mengen sicher  für  viele  Geflügelhalter  ein  will- 
kommenes Ersatzfutter.  Das  Abklopfen  des 
Gartenlaubkäfers  ist  nicht  so  einfach,  wie  das  des 
Maikäfers,  da  der  Gartenlaubkäfer  viel  beweglicher 
ist  als  der  relativ  schwerfällige  Maikäfer.  Des- 
halb empfiehlt  Prof.  Dr.  L.  Reh  (Sorauer's  Hand- 
buch der  Pflanzenkrankheiten,  III.  Bd.  „Die  tie- 
rischen F'einde"  ')  zu  ihrer  Bekämpfung  vor  allem 
das  Bespritzen  der  befallenen  Bäume 
mit  Arsenmitteln.  Die  Käfer  vergiften  sich 
dann,  wenn  sie  das  bespritzte  Laub  fressen.  Ob 
freilich  jetzt  im  Kriege  Arsenmittel  genügend  zur 
Hand  sein  werden,  um  auf  dieser  chemischen 
Methode  eine  eingehende  Bekämpfung  des  Schäd- 
lings auf  weitere  Strecken  hin  aufbauen  zu  können, 
muß,  abgesehen  von  dem  hohen  Kostenpunkt 
des  Verfahrens,  fraglich  erscheinen.  Eine  ener- 
gische Bekämpfung  des  Käfers  ist  aber  schon 
deshalb  dringendst  geboten,  weil  die  Kalamität 
sonst  auch  im  nächsten  Jahre  noch  Nachwirkungen 
zeitigen  könnte;  die  Käfer  legen  nämlich  ihre 
Eier  im  Boden  ab  und  ihre  Larven  würden  dann 
im  nächsten  Jahre  dort  durch  Benagen  der  Wurzeln 
von  Getreide  und  Kohl,  wie  von  Nadelhölzern, 
Rosen  und  mancherlei  Zierpflanzen  neuerdings 
sicherlich  viel  Unheil  anrichten. 

H.  W.  Frickhinger. 

Die  Bestäubertätigkeit  der  Insekten  in  Zahlen. 
Bei  nur  etwa  iq'Vo  unserer  heimischen  Blütenpflanzen 
besorgt  der  VVind  die  Polienübertragung,  während 
die  übrigen  81  "  ,j  fast  völlig  auf  Insektenbestäubung 
angewiesen  sind.  Die  wichtigste  Rolle  hierbei 
spielen  die  Hautflügler,  besonders  die  langrüsseligen 
Bienenarten,  aber  allen  weit  voran  die  Honigbiene. 
Dazu  kommen  noch,  aber  viel  weniger  wichtig. 
Fliegen,  Wespen,  Ameisen,  Käfer,  Schmetterlinge 
usw.  Andere  Faktoren  (Schnecken,  Vögel,  Wasser) 
kommen  nur  sehr  wenig  in  Frage.  Ja,  man  neigt 
heute  dazu,  die  Tätigkeit  der  Schnecken  als  Befruchter, 
die  1869  zum  ersten  Male  von  Delpino  als  wahr- 
scheinlich angenommen  wurde,  eine  Meinung,  der 
sich  später  H.  Müller,  Knuth  u.a.  anschlössen, 
überhaupt  als  bedeutungslos  hinzustellen.  In  Frage 
sollten  die  Gattungen  Arum,  Calla,  Colchium,Chryso- 
splenium,  Chrysanthemum  und  Lemna  kommen. 
P.  Ehrmann  (Nachrichtsblatt  d.  deut.  malakoz. 
Gesellschaft.  49.  1916)  kommt  nach  seinen  Ver- 
suchen zu  dem  Ergebnisse,  daß  die  Schnecken 
im  Gegenteil  schädlich  sind,  weil  sie  der  Pflanze 
den  Pollen  rauben  und  mit  ihrem  Schleime  die 
Antheren  derart  verkleben,  daß  die  Insektenbe- 
stäubung unmöglich  wird. 

')  Berlin,  Paul  Parey,  1913. 


Seit  dem  Begründer  der  Blütenbiologie, 
Christian  Konrad  Sprengel  (1793),  und 
seit  den  Tagen  von  Charles  Darwin  und 
Hermann  Müller  hat  sich  eine  Unmenge 
Material  zu  dem  Probleme  der  Insektenbestäubung 
angehäuft.  Es  fehlen  bei  diesen  Studien  auch 
nicht  Schätzungen  oder  Vermutungen  über  den 
wirtschaftlichen  Nutzen,  den  die  Insekten 
bei  ihrer  Bestäubertätigkeit  stiften,  ohne  daß  man 
scheinbar  bisher  ernstlich  darangegangen  wäre  zu 
dieser  besonderen  Seite  der  P>age  ein  allgemeines 
exaktes  Zahlenmaterial  herbeizuschaffen.  Ansätze 
hierzu  sind,  besonders  was  den  mittelbaren  Nutzen 
der  Biene  angeht,  öfter  gemacht.  So  schreibt 
Prof.  Zander  (Zukunft  der  deutschen  Bienenzucht. 
S.  15 — 16):  „Es  ist  durchaus  nicht  übertrieben, 
wenn  man  den  durch  die  Blütenbestäubung  dem 
deutschen  Volksvermögen  jährlich  zugeführten 
Gewinn  5  mal  höher  als  den  Ertrag  an  Wachs 
und  Honig  ansetzt.  Da  der  letztere  20 — 30  Mill.  M. 
ausmacht,  beziffert  sich  der  mittelbare  Nutzen  aus 
der  deutschen  Imkerei  in  jedem  Jahre  auf 
100—150  Mill.  M.  Davon  entfallen  auf  jedes 
Bienenvolk  38,5  bis  58  M  .  .  ."  Auch  von  anderer 
Seite  sind  solche  Versuche  unternommen.  Der 
amerikanische  Bienenforscher  Philipps  schätzt 
(nach  Bern  er)  den  unmittelbaren  Nutzen  (Honig 
und  Wachs)  der  Biene  für  die  Vereinig.  Staaten 
auf  22  Mill.  Dollar  und  hebt  dabei  hervor,  daß 
der  mittelbare  Nutzen  noch  bedeutend  größer  sei. 
Andere  Überlegungen  von  anderer  Seite  schätzen 
auf  Grund  recht  willkürlicher  Berechnungen  den 
Wert,  den  ein  Bienenstock  in  Deutschland  durch 
Befruchtung  schafft,  auf  40  M.  Das  ergibt  bei 
2600000  rund  100  Mill.  M.  Überall  fehlt  aber 
bei  diesen  Schätzungen  mehr  oder  weniger  die 
zuverlässige  Zahlengrundlage. 

Eine  solche  zu  geben  unternimmt  neuerdings 
Ulrich  Berner  (Monatshefte  für  d.  naturw. 
Unterricht.  191 7.  S.  184  ff.),  indem  er  aus 
statischen  Quellen  den  Wert  der  Früchte  von 
allen  den  Kulturpflanzen  in  Deutsch- 
land feststellt,  die  hauptsächlich  von 
Bienen  beflogen  werden.  Nach  sorgfältiger 
Herbeiziehung  von  viel  Material  und  nach  oft 
mühsamen  Rechnungen  und  Erwägungen  kommt 
er  zu  folgenden  Gesamtsummen  für  Deutschland, 
die  nebenher  recht  interessante  Einblicke  in  viele 
Zweige  unserer  Land-  und  Gartenwirtschaft  ge- 
statten : 

Gesamtobsternte 1 60  000  000  M 

Raps  und  Rübsen 1 2 737 000  M 

Buchweizen 7674000  M 

Luzernen  zur  Samengewinnung    .  1653  000  M 

Klee    zur    Samengewinnung    (mit 

Ausnahme  des  Rotklees).  .  .  1 6 020 000  M 
Wicken  zur  Körnergewinnung  .  34076000  M 
Mischfutter  (besonders  Sandwicken 

im  Gemisch  mit  Johannisroggen )  32415  000  M 
Senf  zur  Körnergewinnung.     .     .  749 000  M 

Anis,  Fenchel,  Koriander,  Kümmel    .     2  575  000  M 
„alles   andere"  (Leindotter,    Mohn, 


690 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Esparsette,    Seradella,    Gemüse- 

und  Blumensamen,  Waldbeeren        20  000  000  M 

Das  ergibt  für  alle  deutschen,  besonders  durch 
Bienenbestäubung  erzeugten  PYüchte  eine  Ge- 
samternte von  287889000  M,  denn  die  er- 
wähnten Pflanzen  sind  überwiegend  selbststeril, 
oder  sie  bringen  doch  bei  Selbstbefruchtung  nur 
wenige  oder  minderwertige  Früchte  hervor.  Wie 
sehr  das  z.  B.  für  unsere  wichtigsten  Obstbäume 
zutrifft  hat  Referent  schon  früher  in  dieser 
Zeitschrift  (Heft  Nr.  24,  1917.  S.  331)  genauer 
durch  Zahlen  belegt.  Andere  Kulturpflanzen,  die 
in  größerem  Maße  die  Möglichkeit  einer  erfolg- 
reichen Selbstbefruchtung  haben,  wie  Hülsenfriichte, 
Lein  u.  a.  hat  Berner  absichtlich  in  seiner  Über- 
schlagrechnung überhaupt  unberücksichtigt  ge- 
lassen. 

Wir  haben  also  in  der  oben  zitierten  Gesamt- 
summe eine  wertvolle  feste  Grundlage  für  weitere 
Überlegungen  und  Schlüsse. 

Um  zunächst  den  mittelbaren  Nutzen  der 
Honigbiene  (Apis  mellifica)  zu  berechnen,  eine 
Aufgabe,  die  aus  vielen  Gründen  von  erheblichem 
Interesse  ist,  muß  entschieden  werden,  welchen 
Anteil  dies  Insekt  an  der  Bestäubung  obiger 
Pflanzen  hat.  Bern  er  schätzt,  daß  auf  seinen 
Anteil  -,'3  fallen,  sodaß  sich  der  Nutzen  auf 
192  Mill.  M  stellt.  Daß  diese  Zahl  keineswegs 
zu  hoch  gegriffen  ist,  geht  unzweifelhaft  aus  früher 
gebrachten  (Heft  24.  S.  331),  durch  genauere 
Zählungen  gewonnene  Zahlen  hervor.  Nach  diesen 
wurden  (Blätter  für  Kleingartenbau)  an  den  Blüten 
eines  Obstbaumes  gezählt :  88  "Ig  Bienen,  5  ^/^  "/j, 
wilde  Bienen  und  Hummeln,  ö'/»  "0  Fliegen,  Wespen, 
Ameisen,  Käfer  u.  a.  Insekten,  und  nach  der 
Internationalen  agrartechnischen  Rundschau  sind 
von  den  blütenbesuchenden  Insekten  überhaupt: 
73  "/q  Bienen,  21  "/„  Hummeln  und  einzeln  lebende 
Hautflügler  und  nur  6  "/g  andere  Insekten.  Nach 
diesen  Beobachtungen  würde  sich  also  der  Anteil 
der  Biene  sogar  auf  %^Vn  stellen.  Jedenfalls  ist 
die  überragende  Bedeutung  der  Hautflügler  und 
unter  diesen  besonders  der  Biene  als  ßestäuber 
vor  allen  anderen  Insekten  klar  erwiesen. 

Um  nun  den  Gesamtnutzen  aller  Besfäuber 
zusammen  weiter  auf  Grund  des  obigen  Zahlen- 
materials feststellen  zu  können,  muß  noch  dieses 
ergänzt  werden,  da  es  auf  die  Biene  zugeschnitten 
ist.  Vor  allem  kommt  noch  der  von  Bienen  wenig, 
dagegen  besonders  aber  von  Hummeln  beflogene 
Rotklee  dazu,  dessen  Samenertrag  auf  26  299000  M 
anzusetzen  ist.  Wie  nützlich  die  in  weiteren 
Kreisen  vielfach  verkannten  Hummelarten  sind, 
erläutert  diese  Zahl  nebenher  I 

Der  Gesamtnutzen  der  Insekten  als 
Bestäuber  stellt  sich  also  mithin  für 
Deutschland  auf  rund  300  Mill.  M. 

Bern  er  glaubt  nun  mit  Hilfe  dieses  Zahlen- 
materials wie  folgt  weiter  schließen  zu  dürfen. 
Setzt  man  für  Rußland,  Österreich-Ungarn,  Frank- 
reich und  die  übrigen  europäischen  Staaten  je 
ebensoviel  an,  ergibt  sich  für  Europa  eine  Summe 


von  1800  Mill.  M,  und  setzt  man  für  die  übrigen 
Erdteile  nur  das  Doppelte,  würde  sich  der  Ge- 
samtnutzen der  Insekten  als  Bestäuber 
fürdie  ganzeErde  auf  rund  5  MilliardenM 
das  Jahr  stellen.  Olufsen. 

Ein  Beitrag  zur  Biologie  der  Schwebefliegen. 
Die  Schwebefliegen  oder  Syrphideii,  deren  Larven 
als  Blattlausfeinde  oder  als  Vertilger  der  Larven 
zahlreicher  Schadinsekten  aus  der  Familie  der 
Hautflügler  {Hyiitcnoptercii)  nützlich  wirken, 
müssen  wohl  als  die  besten  Flieger  unter  allen 
Zweiflüglern  (Dipteren)  bezeichnet  werden.  Sie 
an  heißen  Sommertagen  in  der  Luft  sekundenlang 
an  ein  und  derselben  Stelle  nach  Art  eines  Falken 
„rüttelnd"  stehen  zu  sehen  oder  sie  bei  ihrem 
eifrigen  Getümmel  auf  Blüten  zu  beobachten, 
bietet  für  jeden  Naturfreund  hohen  Reiz,  um  so 
mehr  als  viele  Vertreter  der  Schwebefliegen  höchst 
farbenprächtig  gefärbt  sind  und  treffliche  Beweise 
einer  meisterlichen  Mimikry  darstellen.  So  ähnelt 
das  sog.  „Fleckfell"  oder  wie  der  alteBrehm 
sie  nannte,  die  „Durchscheinende  Flatter- 
fliege" {Voliicella  pell/icciis  L.)  sehr  der  Erd- 
hummel [Buiiibiis  terrestris  L.)  und  unterscheidet 
sich  von  ihr  eigentlich  nur  dadurch,  daß  sie 
weniger  eilig  umherfliegt,  wie  die  eifrig  ihrer 
Sammeltätigkeit  obliegende  Hummel.  Das  Fleck- 
fall nährt  sich  vom  Blütenhonig,  den  sie  mit 
ihrem  langen  Rüssel  saugt.  Diese  SyrpJiide  legt 
ihre  Eier,  wie  neuerdings  Wilhelm  Schuster 
(Heilbronn)  beobachten  konnte  (Entomolo- 
gische Zeitschrift  Frankfurt  a. M.  31. Jahrg. 
1917  Nr.  I,  2  und  4),  in  Wespennester,  wo 
die  mit  Stacheln  bewehrten  gelblichweißen  Larven 
die  Wespenbrut  vertilgen.  Daneben  sollen  die 
Fleckfell  Larven  auch  noch  in  den  Nestern  der 
Hornisse  ( Vespa  crabro  L.),  ja  nach  Schuster 's 
Annahme  auch  in  denen  ihrer  Doppelgängerin 
der  Erdhummel,  schmarotzen.  Das  ausge- 
wachsene Insekt  ist  schön  schwarz  gefärbt  mit 
einem  milchweißen  Band  am  Hinterleib  und  hält 
sich  vornehmlich  an  sonnigen,  geschützten  Wald- 
rändern auf,  wo  es  gern  auf  einer  Blüte  oder  auf 
einem  Blatte  sitzt  und  nur  von  Zeit  zu  Zeit  seinen 
Standort  wechselt.  Als  Feinde  der  Flatterfliege 
kommen  wohl  nur  Vögel  in  Betracht,  die  auch 
Hummeln  und  Wespen  nicht  verschmähen:  das 
wären  vornehmlich  die  Würgerarten,  vor  allem 
der  rotrückige  Würger!  Lanius  collurio)  und 
derWespenbussardI Pcnih apivoriis Gray).  Die 
Mimikry  des  Pleckfells  schützt  die  Tiere  demnach  sehr 
vor  Nachstellungen,  da  es  ja  unter  der  Vogelwelt  zahl- 
reiche Fliegenfänger  eibt.  In  den  Weinbergen  ist  die 
Flatterfliege  durch  die  Befruchtung  der  Weinblüte 
wie  alle  Fliegen  ein  ausgesprochen  nützliches  In- 
sekt. Noch  eine  2.  Schwebefliege  hat  Schuster 
in  den  Kreis  seiner  Untersuchungen  einbezogen: 
die  gebänderte  Seh  webe  fliege  [Syrphus 
pyras/n'h.).  Diese  Schwebefliege  ist  von  weniger 
gedrungenem  Bau  wie  das  Fleckfell,  ihre  Grund- 
färbung  ist  schwarzblau  glänzend  „mit    6   weiß- 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


691 


liehen  mondförmigen  Flecken  an  den  Hinterleibs- 
seiten". Ihr  ist  das  sogenannte  Rütteln  besonders 
eigen;  dabei  ist  ein  ausgesprochener  Anemo- 
tropismus  (Wind wendigkeit)  zu  erkennen :  „beim 
Schweben  werden  die  Flügel  überaus  rasch  auf 
und  nieder  bewegt,  der  wagerecht  stehende  Körper 
dabei  aber  so  gerichtet,  daß  der  Kopf  gegen  den 
Luftstrom  gerichtet  ist".  Einen  besonderen  Zweck 
scheint  das  Insekt  dabei  aber  nicht  zu  verfolgen, 
das  Erspähen  einer  Beute  scheidet  bei  der  Lebens- 
weise der  Schwebefliegen  von  vornherein  aus. 
Die  Larven  dieser  Syrp/iiJc  zählen  zu  den  Blatt- 
lausfeinden. Um  deswillen  übertrifft  die  Nützlich- 
keit von  Syrphus  pyrastri  diejenige  von  Voliicella 
pellucens  um  ein  Bedeutendes. 

H.  W.  Frickhinger. 

Physik.  Wird  reine  mit  Wasserdampf  gesättigte 
Luft  abgekühlt  am  besten  dadurch,  daß  man  plötz- 
lich ihr  Volumen  vergrößert,  dann  tritt  in  den 
meisten  Fällen  keine  Kondensation  des  über- 
schüssigen Dampfes  ein;  das  Wasser  bleibt  viel- 
mehr dampfförmig,  die  Luft  ist  dann  mit  Dampf 
übersättigt.  Für  den  Übergang  in  den  flüssigen 
Zustand  ist  das  Vorhandensein  von  Konden- 
sationskernen nötig,  die  als  Ansatzstellen  für 
die  sich  bildende  Flüssigkeit  dienen.  Sind  diese 
vorhanden,  dann  wird  der  Grad  der  Übersättigung 
herabgesetzt  und  zwar  um  so  mehr,  je  größer  die 
Kerne  sind.  Lenard  hat  in  einer  Untersuchung 
über  die  Probleme  komplexer  Moleküle^) 
die  Ansicht  ausgesprochen,  daß  die  Nebelkerne 
komplexe  Moleküle  seien,  also  Zusammen- 
lagerungen von  Molekülen  des  Gases  bzw.  vor- 
handener Dämpfe,  die  sich  bei  den  Zusammen- 
stößen bilden  und  die  durch  die  Molekularkräfte 
so  fest  zusammengehalten  werden,  daß  sie  u  n  - 
verdampfbar  sind.  Eine  in  den  Ann.  d.  Phys.  52 
(191 7)  S.  I — 71  veröffentlichte  Arbeit  von  L. 
Andren  beschäftigt  sich  mit  der  Zählung  und 
Messung  der  komplexen  Moleküle  einiger  Dämpfe 
nach  der  neuen  (Lenard'schen)  Kondensations- 
theorie. 

In  einer  Glaskugel  befindet  sich  die  mit 
Wasserdampf  gesättigte  Luft,  durch  plötzliche 
Druckverminderung  wird  sie  expandiert.  Das 
durch  eine  Linse  gesammelte  Licht  einer  kräftigen 
Bogenlampe  dringt  von  der  Seite  her  in  die  Kugel 
und  beleuchtet  hell  die  Nebeltröpfchen;  senkrecht 
in  den  Lichtstrahlen  wird  durch  eine  Lupe  be- 
obachtet. Durch  Anbringung  je  einer  Blende  an 
den  beiden  Linsen  wird  ein  kleiner  Beobachtungs- 
raum von  meßbarer  Größe  ausgesondert.  In  diesem 
werden  die  Nebeltröpfchen  gezählt  und  ihre  Zahl 
auf  den  Kubikzentimeter  umgerechnet.  Ist  die 
Nebelwolke  so  dicht,  daß  eine  Zählung  unmöglich 
ist,  dann  wird  die  Fallgeschwindigkeit  des  Nebels 
gemessen  und  aus  ihr    nach  dem  Stokes'schen 


Gesetz  der  Radius  des  Nebeltröpfchens  bestimmt. 
Aus  dem  Volumen  desselben  und  der  Gesamt- 
menge des  abgeschiedenen  Nebels,  die  sich  be- 
rechnen läßt,  wird  dann  die  Zahl  der  l'röpfchen 
bestimmt.  Die  folgende  Tabelle  gibt  im  Auszug 
eine  Beobachtungsreihe  wieder,  die  an  Wasserdampf 
in  Luft  erhalten  wurde. 


E 

ü 

Ro-io«cm 

N 

1,253 

4,12 

I         8,09 

<  I 

1.314 

5,89 

6,67 

470 

1.365 

7,74 

5,82 

2050 

1,397 

9,12 

5.43 

29700 

1,417 

9,94 

5,26 

41200 

1,436 

11,20 

5,01 

102000 

1,508 

15,34 

4,48 

99200 

')  Vgl.    das    Refc 
(1915)  S.  716. 


der   Naturw.    Wochenschr.    XIV 


Die  erste  Spalte  enthält  die  Expansion  E.,  d.  i. 
das  Verhältnis  der  Volumina  nach  und  vor  der 
Expansion,  die  zweite  die  Übersättigung,  die  nächste 
den  nach  einer  von  W.  Thomson  aufgestellten 
Formel  (s.  u.)  berechneten  Radius  der  Nebeltröpf- 
chen und  die  letzte  die  Zahl  der  Tröpfchen  in 
I  cm^.  Aus  der  Tabelle  geht  hervor,  daß  wenn 
die  Luft  weniger  als  viermal  mit  Wasserdampf 
übersättigt  ist,  eine  Nebelbildung  nicht  eintritt; 
mit  wachsender  Übersättigung  steigt  die  Tröpfchen- 
zahl anfangs  allmählich,  dann  von  der  Übersättigung 
7  an  schnell  an,  um  schließlich  bei  Übersättigungen 
von  1 1  und  darüber  sich  einem  konstanten  Wert 
zu  nähern.  Die  Radien  der  Tröpfchen  nehmen 
allmählich  ab,  der  abgeschiedene  Nebel  wird  also 
immer  feiner.  Daraus  daß  das  N  nicht  über  1 00  000 
steigt,  geht  hervor,  daß  dies  die  Höchstzahl  der  im 
Kubikzentimeter  enthaltenen  Anzahl  von  Kernen  ist. 

Um  über  die  Natur  der  Kerne  Aufschluß  zu  gewin- 
nen, wird  eine  in  dem  oberen  Teil  des  Kondensa- 
tionsgefäßes angebrachte  Platinplatte  mit  dem  posi- 
tiven Pol  einer  Akkumulatoren  Batterie  verbunden, 
während  der  negative  mit  dem  in  unterm  Teil  des 
Gefäßes  vorhandenenWasser  inVerbindunggebracht 
wird.  Die  Spannung  variiert  zwischen  i  u.  300  Volt. 
Die  Versuche  ergeben,  daß  jetzt  erst  bei  Über- 
sättigungen von  5  die  ersten  Tröpfchen  vom  Radius 
R  =  7,14- 10"""  cm  sich  bilden  und  daß  ihre  Zahl 
erst  langsam,  dann  schneller  steigt.  Das  Feld  hat 
mithin  sämtliche  größeren  Kerne  entfernt,  diese 
müssen  also  elektrisch  geladen  sein,  während 
der  Rest,  der  nicht  durch  das  F"eld  eingefangen 
wird,  unelektrisch  ist.  —  Wiederholt  man  die  Ver- 
suche, deren  Ergebnis  in  der  Tabelle  oben  dar- 
gestellt sind,  nachdem  der  gebildete  Nebel  und  mit 
ihm  die  Kerne  sich  gesenkt  haben,  dann  findet 
man  immer  wieder  nahezu  dieselbe  Anzahl  von 
Kernen.  Daraus  geht  hervor,  daß  sehr  schnell 
eine  Neubildung  stattfinden  muß.  Diejenigen  Kerne, 
die  elektrische  Ladung  tragen,  bilden  sich  unter 
dem  Einfluß  der  durchdringenden,  überall  auf  der 
Erde  nachweisbaren  radioaktiven  Strahlung.  Ihre 
Zahl  ergibt  sich  aus   den  Versuchen   zu  900  pro 


692 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Kubikzentimeter,  sie  haben  positives  und  negatives 
Vorzeichen.  Es  müssen  sich  pro  Sekunde  und 
Kubikzentimeter  etwa  0,4  bilden,  was  der  Größen- 
ordnung nach  mit  dem  in  der  freien  Atmosphäre 
beobachteten  Wert  übereinstimmt.  Erhöht  man 
künstlich  die  Kernzahl  dadurch,  daß  man  die 
Luft  von  außen  mit  radioaktiven  Präparaten  (es 
wurden  drei  von  verschiedener  Stärke  benutzt) 
bestrahlt,  dann  hat  dies  eine  starke  Vermehrung 
der  Tröpfchen  auch  bei  niedrigeren  Übersättigungen 
zur  Folge.  Es  ist  anzunehmen,  daß  nebenden  elek- 
trisch geladenen  Strahlen  wenigstens  ein  Teil  der- 
selben aus  unelektrischen  chemischen  Reaktions- 
produkten der  Strahlung  etwa  O..  oder  H.,0.,  be- 
steht; doch  sind  es  nicht  mehr  als  0,1  "/,,.  Daß 
die  elektrisch  geladenen  Kerne,  auch  Träger  ge- 
nannt, besonders  groß  sind,  erklärt  sich  aus  den 
elektrischen  Anziehungskräften,  die  sie  auf  die  be- 
nachbarten Moleküle  ausüben. 

Eine  Wiederholung  der  Versuche  mit  Wasser- 
dampf in  Kohlensäure  und  in  Wasserstoff  ergibt 
das  gleiche  Resultat  wie  in  Luft;  das  Gas  hat 
also  auf  die  Natur  der  Kerne  keinen 
Einfluß.  Expandiert  man  dagegen  Alkohol-  oder 
Benzoldampf  in  Luft,  dann  ergeben  sich  wesent- 
lich andere  Werte.  Zahl  und  Größe  der  Kerne 
ist  eine  Funktion  des  Dampfes;  sie  bestehen 
demnach  aus  aneinandergelagerten  — 
komplexen  —  Molekülen    des    Dampfes. 

Legt  man  sich  nun  die  Frage  vor,  warum  es 
überhaupt  der  Kerne  bedarf,  damit  eine  Nebel- 
bildung stattfindet,  ferner  warum  die  Kondensation 
an  größeren  Kernen  eher  d.  h.  bei  geringerer 
Übersättigung  erfolgt  als  an  kleineren,  dann  gibt 
darüber  die  I3etrachtung  der  Dampfspannung 
Aufschluß.  Damit  eine  Flüssigkeit  verdampft,  ist 
es  nötig,  daß  die  Spannkraft  ihres  Dampfes  gleich 
dem  auf  der  Flüssigkeit  lastenden  Druck  ist.  Um- 
gekehrt findet  Kondensation  von  Dampf  an  einer 
Flüssigkeitsoberfläche  nur  dann  statt,  wenn  die 
Dampfspannung  der  Flüssigkeit  nicht  größer  ist 
als  die  des  Dampfes.  Denn  ist  die  erstere  größer, 
dann  findet  ja  Verdampfen  der  Flüssigkeit  statt. 
Nun  zeigt  es  sich,  daß  die  Krümmung  der 
Flüssigkeitsoberfläche  von  großem  Einfluß  auf  die 
Spannkraft  des  Dampfes  ist;  an  einer  konkaven 
Oberfläche  ist  die  Spannkraft  kleiner, 
an  einer  konvexen  größer  als  als  einer 
ebenen  Oberfläche.  Durch  folgenden  Ge- 
dankenversuch läßt  sich  das  nachweisen :  Taucht 
ein  Kapillarrohr  in  Wasser,  dann  steigt  die  Flüssig- 
keit in  ihm  in  die  Höhe  und  bildet  einen  nach 
oben  konkaven  Meniskus.  Da  der  Luftdruck  an 
der  gehobenen  Oberfläche  kleiner  ist  als  an  der 
tiefer  liegenden  ebenen,  müßte,  wenn  in  beiden 
Oberflächen  die  Dampfspannungen  gleich  wären, 
ein  stärkeres  Verdampfen  in  der  Kapillare  statt- 
finden. Denkt  man  sich  den  Versuch  in  einem 
kleinen  verschlossenen  Raum  ausgeführt,  dann 
würde  eine  fortwährende  Destillation  stattfinden, 
indem  Flüssigkeit  oben  verdunstet  und  sich  an 
der  ebenen  Oberfläche   wieder   kondensiert.     Das 


ist  aber  nach  dem  Energiegesetz  nicht  möglich. 
Es  darf  also  an  der  konkaven  Oberfläche  kein 
stärkeres  Verdunsten  stattfinden,  folglich  muß  hier 
die  Spannkraft  kleiner  sein  als  an  der  ebenen.  An 
einer  kleinen  Kugel  erfolgt  also  wegen  der  ge- 
steigerten Spannkraft  des  Dampfes  eine  Konden- 
sation schwerer  als  an  einer  ebenen  Wasserober- 
fläche und  zwar  um  so  schwerer,  je  kleiner  die 
Kugel  ist.  Die  von  William  Thomson  schon 
vor  längerer  Zeit  ausgeführte  theoretische  Berech- 
nung ergibt  für  die  Dampfspannung  an  der  Ober- 
fläche einer  Kugel  vom  Radius  R  den  Wert 

p'  =  p-e — ^,  wo  ß  die  Konstante  der  Ober- 
'        ^     p.  R 

Oberflächenspannung,  e  die  Basis  der  natürlichen 
Logarithmen,  h  eine  Konstante  und  p  die  Dampf- 
spannung an  ebener  Oberfläche  bedeutet.  Man 
sieht,  daß  für  R  =  00  (ebene  Oberfläche)  p'  =  p, 
dagegen  R  =  O  p'  =  c»  wird. 

Diese  Formel  stellt  nun  die  Verhältnisse  nicht 
richtig  dar;  sie  bedarf  an  zwei  Stellen  der  Ver- 
besserung. Nach  den  Lenard'schen  Anschau- 
ungen, die  durch  die  mitgeteilten  Versuche  eine 
wertvolle  Stütze  erhalten  haben,  sind  Nebelkerne 
komplexe  Moleküle  des  Dampfes,  die  unverdampf- 
bar  sind.  Schlagen  sich  an  dem  Kern  Wasser- 
moleküle nieder,  so  erfahren  dieselben  durch  die 
von  dem  kompakten  Kern  ausgeübten  Kräfte  eine 
besonders  kräftige  Anziehung,  die  sicher  größer 
ist  als  in  einer  ebenen  Oberfläche,  in  der  die 
komplexen  Moleküle  sehr  selten  sind.  Die  Folge 
ist,  daß  nicht  die  Oberflächenspannung  a,  sondern 
ein  größerer  Wert  n«  (n  >  i)  einzusetzen  ist. 
Die  Größe  von  n  hängt  u.  a.  von  der  Dicke  der 
den  Kern  umgebenden  Molekülschicht  ab.  Ist 
der  Kern  nicht  vollkommen  von  Molekülen,  die 
sich  an  ihm  kondensiert  haben,  umgeben,  dann 
ist  ein  Teil  Oj  seiner  Gesamtoberfläche  O  unver- 
dampfbar,  da  sie  ja  von  dem  unverdampfbaren 
Kern  gebildet  wird.  Das  wirkt  verkleinernd  auf  die 
Dampfspannung     und     zwar     wird    sie    um    den 

Faktor   ^    verkleinert.      Die    verbesserte    Formel 


lautet    demnach  p' 


■  p-e 


Daß    sie    in 


sehr  befriedigender  Überstimmung  mit  der  Erfah- 
rungist, wird  in  der  And  ren'schen  Arbeit  gezeigt. 
Als  Ergebnis  kann  zusammenfassend  hervor- 
gehoben werden:  In  jedem  Dämpfe  enthaltenden 
Gase  sind  Kerne  vorhanden,  die  ganz  vorwiegend 
aus  Molekülen  des  Dampfes  bestehen.  Sie  zeigen  eine 
kontinuierliche  Größenverteilung.  Die  größten  sind 
elektrisch  (-|- und — )  geladen,  sie  entstehen  unter 
dem  Einfluß  der  durchdringenden  Strahlung;  ihre 
Zahl  beträgt  im  Gleichgewicht  etwa  900  pro  cm*. 
Es  finden  sich  auch  große  unelektrische  Kerne 
(etwa  90  im  cm*),  die  als  chemische  Reaktions- 
produkte   der    durchdringenden    Strahlung    anzu- 


')   Mittels  dieser  Formel  sind  die  in  der  oben  angeführten 
l'abelle   enthaltenen  Radien  der  Tröpfchen  berechnet. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


693 


sprechen  sind.  Die  überwiegende  Zahl  der  Kerne 
ist  unelektrisch  und  kleiner,  sie  bestehen  meistens 
aus  2  oder  3  normalen  Dampfmolekülen.  Ihre 
Anzahl  ist  bei  jeder  Temperatur  für  jeden  Dampf 
fest  bestimmbar.  Sie  beträgt  bei  Wasser  ca. 
1,9- 10-"  ",'(,,  bei  Alkohol  ca.  2,5-10-"%  und  bei 
Benzol  ca.  0,8  •  lO""  %  der  überhaupt  vorhandenen 
Dampfmolekülzahl,  ist  also  prozentisch  sehr  gering, 
absolut  jedoch  ziemlich  groß,  nämlich  noooo 
bzw.  340000,  190000  im  Kubikzentimeter.  Die 
unelektrischen  komplexen  Moleküle  sind  —  auch 
beim  Fehlen  der  durchdringenden  Erdstrahlung 
—  stets  im  Dampf  vorhanden;  sie  sind  demnach 
jeweils  für  den  betreffenden  Dampf  charakte- 
ristisch. K.  Seh. 


Geologie.  Die  Beschaffung  von  Rohstoffen 
des  Bodens  für  militärische  Erfordernisse  bespricht 
Major  z.  D.  W.  Kranz  in  der  Zeitschr.  f.  prakt. 
Geologie  1917,  Heft  4. 

Infolge  längerer  Dauer  des  Krieges  ist  man 
zum  Abbau  mancher  im  Frieden  brachliegender, 
nicht  wettbewerbfähiger  Erzlagerstätten  genötigt 
worden.  Alte  Halden  tut  man  bisweilen  noch- 
mals umschmelzen. 

Eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  Kriegs- 
geologen ist  es,  nach  erfolgter  Besetzung  eines 
Landstriches  denselben  auf  Nutzung  und  Auf- 
schließung seiner  Bodenschätze  zu  untersuchen. 
Für  den  Ausbau  der  Kampffronten  des  Stellungs- 
krieges sind  die  zum  Betonieren,  Stellungs-, 
Straßen-,  Wege-  und  Bahnbau  erforderlichen 
Rohstoffe  wie  Kies,  Sand,  Steinschlag,  Bruch- 
steine aus  möglichster  Nähe  zu  beschaffen,  wobei 
Vollbahnen  tunlichst  gemieden  werden  sollen. 
Zement  und  gebrannter  Kalk  müssen  in  fertigem 
Zustande  den  Truppen  geliefert  werden.  Eine 
Bevorzugung  bestimmter  Gesteine  oder  Kiessande, 
wie  es  im  Frieden  der  Fall  war,  ist  zu  unter- 
lassen. Maßgebend  sind  die  Eigenschaften,  die 
im  Festungs-  und  Stellungsbau  von  Beton  verlangt 
werden.  Beton  hat  im  F'elde  hauptsächlich  den 
aufschlagenden  Geschossen  Widerstand  zu  leisten. 
Die  Betonstärke  auf  Geschoßwiderstand  ist  aus  der 


Erfahrung  abzuleiten.  Güte  und  Brauchbarkeit 
des  Betons  läßt  sich  nach  seiner  Druckfestigkeit 
beurteilen. 

Straßenschotter  soll  möglichst  zäh  und 
wetterbeständig  sein.  Allzu  große  Härte  ist  zu 
vermeiden,  da  Fahrzeuge  und  Zugtiere  auf  harten 
Straßen  leiden.  Basalt,  Diabas,  Melaphyr  und  Gabbro 
wird  man  nur  im  Notfalle  verwenden,  ebenso  Kalk 
und  Dolomit  wegen  Schlamm-  und  Staubentwick- 
lung, sowie  geringer  Härte. 

Pflasterungen  wendet  man  auf  Truppen- 
übungsplätzen und  Kasernen  an,  nicht  dagegen  im 
Stellungskriege,  wo  Pflastersteine  die  Wirkung 
einschlagender  Granaten  erhöhen. 

Zur  Herstellung  von  Kriegergrabmalen 
bedarf  man  Gesteinsarten,  die  neben  gefalligem 
Aussehen  auch  wetterbeständig  sein  müssen. 
Zweckmäßig  wendet  man  beim  Fehlen  entsprechen- 
der Gesteine  Beton  an.     (G^C.)    V.  Hohenstein. 

Heilkunde.  Der  Spargel  als  Heilmittel.') 
Stabsarzt  Dr.  May  halte  als  Chefarzt  eines  Re- 
servelazarettes Gelegenheit,  zu  Anfang  des  Jahres 
1916  in  vier  Monaten  etwa  lOO  Fälle  von  Nieren- 
entzündung zu  beobachten.  Etwa  80%  wiesen 
Blut  im  Urin  auf,  die  Eiweißausscheidung  war  zum 
Teil  bedeutend.  Die  Krankheit  zeigte  sich  ziem- 
lich hartnäckig,  jedes  Aufstehen  nach  anscheinender 
Besserung  brachte  neue  Blutungen  und  erneute 
Eiweißausscheidung.  Da  gelang  es,  für  das  La- 
zarett größere  Abschlüsse  auf  billigen  Spargel  zu 
machen.  Jeder  Kranke  erhielt  jetzt  zweimal  täg- 
lich je  Y  Pfund  in  verschiedener  Zubereitung. 
Schon  nach  kurzer  Zeit  zeigte  sich  die  wohltätige 
Wirkung.  Die  Eiweißausscheidung  ging  zurück, 
die  Blutungen  hörten  auf,  und  beide  Erscheinungen 
stellten  sich  auch  nach  dem  Aufstehen  nicht 
wieder  ein.  .Spargelkonserven  wirkten  in  derselben 
Weise,  wenn  auch  nicht  so  schnell.  Wie  der 
Spargel  wirken  an  frischem  Gemüse  der  Spinat 
und  Salat,  ferner  Bohnen-  und  Erdbeerblättertee 
und  Wacholdersirup.  Heycke. 


')  Münch.  mediz.  Wochenschrift  1917.  Nr.  26. 


Bticherbesprechungen. 


Sarasin,  Fritz,  Streiflichter  ausderErgo- 
logie  der  Neu-Kaledonier  und  Loyalty- 
Insulaner    auf    die    europäische    Prä- 
historie.    26   S.   mit    23    Abb.     Basel  1916. 
Birkhäuser. 
Die  Tatsache  ist  bereits  allgemein  anerkannt, 
daß  der  Schlüssel  zum  Verständnis  sehr  vieler  in 
der  europäischen  Prähistorie    uns  entgegentreten- 
der Erscheinungen   nur   durch    Vergleichung   mit 
den  Sitten  und  Geräten  noch  lebender  primitiver 
Völker    gefunden    werden    kann.       Deshalb     hat 
Sarasin    während    seines   Aufenthaltes   auf  Neu- 


Kaledonien  und  den  Loyalty-Inseln  im  Stillen  Ozean 
mit  besonderer  Sorgfalt  auf  ergologische  Analogien 
mit  prähistorischen  Erscheinungen  geachtet  und 
er  macht  in  der  vorliegenden  Abhandlung  auf 
einige  solche  aufmerksam,  deren  Kenntnis  für  den 
Urgeschichtsforscher  lehrreich  sein  dürfte.  Aus 
den  von  dem  Autor  behandelten  Fällen  seien  hier 
zwei  als  Beispiele  kurz  erwähnt.  Im  Delta  des 
Diahotflusses  auf  Neu-Kaledonien,  auf  grauem, 
halbhartem  Boden,  ist  rechtsuferig  eine  St  ein- 
reihe von  etwa  220  Meter  Länge  zu  sehen.  Die 
Steine  folgen  sich  in  Abständen  von  etwa 4-  5  Metern. 


694 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Es  sind  formlose,  aufgelesene  Feldsteine,  aus  Quarz 
oder  alten  Schiefern  bestehend,  mit  Ausnahme  eines 
einzigen,  des  vierten,  vom  Südende  der  Reihe  an 
gerechnet,  der  wie  ein  Meilenstein  oder  kleiner 
Menhir  gestaltet  ist,  und  auch  mehr  als  die  übrigen 
über  den  Schlammboden  hervorragt.  Die  Ein- 
geborenen kennen  die  Bedeutung  dieser  Steinreihe: 
Nach  ihrer  übereinstimmenden  Aussage  ist  es  ein 
Siegesdenkmal  und  jeder  Stein  bedeutet  einen  ge- 
fallenen oder  verspeisten  Feind,  der  größte,  menhier- 
artige,  den  Häuptling.  Ein  zweites,  viel  ausge- 
dehnteres Denkmal  derselben  Art  befindet  sich 
in  der  Gegend  von  Bonde,  wo  142  in  einer  Reihe 
stehende  Blöcke  die  Zahl  der  durch  den  Stamm 
der  Bonde  in  einer  Schlacht  gegen  die  Leute  von 
Gomen,  Koumac  und  Arama  darstellen.  Das  Alter 
dieser  Steinreihen  ist  nicht  mehr  genau  zu  be- 
stimmen, dasjenige  des  Denkmals  am  Diahot  kann, 
angesichts  der  geologischen  Verhältnisse  des  Ortes, 
kein  hohes  sein.  Diese  Steinreihen  scheinen 
Sarasin  eine  unverkennbare  Analogie  zu  bilden 
zu  den  in  weit  größeren  Dimensionen  auftretenden 
„Alignements"  der  Bretagne.  Die  Übereinstim- 
mung ist  in  die  Augen  springend,  wenn  auch  die 
Zahl  der  Blöcke  in  den  französischen  Monumenten 
eine  viel  größere  ist  und  die  Maße  der  Blöcke 
bedeutendere  sind.  Es  ist  nicht  allzukühn  den 
französischen  Steinreihen,  über  deren  Bedeutung 
so  viel  gestritten  worden  ist,  denselben  Sinn  zu- 
zuschreiben wie  den  kaledonischen  und  sie  gleich- 
falls als  Siegesdenkmäler  aufzufassen.  Sarasin 
bemerkt  weiter,  daß  die  französischen  Steinreihen 
häufig  in  Verbindung  sind  mit  besonderen  Stein- 
setzungen von  runder,  seltener  rechteckiger  Form, 
den  Cromlechs.  Es  ist  denkbar,  daß  diese  aus 
verhältnismäßig  wenigen  Blöcken  bestehenden 
Setzungen,  auf  welche  die  Steinreihen  zuführen, 
ursprünglich  das  Andenken  an  gefallene  Häupt- 
linge festhalten  sollten  und  daß  aus  diesen  erst 
später  die  runden  Tempelbauten  ohne  begleitende 
Sieinreihen,  wie  der  berühmte  Stonehenge  und 
viele  andere,  hervorgegangen  sind. 

In  Neu-Kaledonien  spielen  Zaubersteine 
eine  außerordentlich  große  Rolle.  Fast  jeder  auf- 
fallend geformte  Stein  erscheint  dem  Kaledonier 
als  etwas  mit  besonderen  Kräften  begabtes,  wobei 
gedacht  wird,  daß  solche  Gebilde  von  Dämonen 
oder  Ahnengeistern  hergestellt  und  von  diesen 
dem  glücklichen  Finder  übermittelt  worden  sind. 
Die  mit  diesen  Steinen  ausgeführten  Zauberhand- 
lungen werden  denn  auch  unter  Anrufung  der 
Ahnengeister  und  Darbietung  von  Opfergaben  an 
den  heiligen  Stätten  vorgenommen.  In  Verbindung 
damit  weist  Sarasin  auf  die  in  sehr  vielen 
Stationen,  vornehmlich  in  denen  des  Magdalenien 
anzutreffenden  Versteinerungen,  Ammoniten, 
Muscheln  usw.,  als  auch  seltsam  geformten  oder 
durch  Material  und  Farbe  auffallenden  Steine  hin. 
Diese  wurden  bisher  immer  als  Kuriositäten  oder 
als  Schmuckgegenstände  aufgefaßt.  Doch  ist  es 
nach  Analogie  mit  den  neukaledonischen  Verhält- 
nissen mehr  als  wahrscheinlich,  daß  diese  Fossilien 


und  fremdartig  geformten  oder  gefärbten  Steine 
von  Leuten  gesammelt  wurden,  weil  sie  ihnen 
übernatürliche  Kräfte  zuschrieben  und  daß  diese 
Annahme  den  Grund  zu  ihrer  Aufbewahrung 
bildete.  —  Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  wenn 
reisende  Völkerforscher  mehr,  als  dies  bisher  ge- 
schehen ist,  ihr  Augenmerk  auf  ergologische 
Parallelen  zwischen  primitiven  Völkern  und  unseren 
eigenen  Paläo-  und  Neolithikern  richten.  Es  ist 
von  dieser  Seite  ohne  jeden  Zweifel  noch  sehr 
viel  zur  Erhellung  unserer  Urgeschichte  zu  er- 
warten. H.  Fehlinger. 

Keibel,  Franz,  Über  experimentelle  Ent- 
wicklungsgeschichte. Rede,  gehalten  am 
27.  Januar  1917  zur  Feier  des  Geburtstages  Sr. 
Majestät  des  Kaisers  in  der  Aula  der  Kaiser 
Wilhelms-Universität  Straßburg.  30  S.  Straß- 
burg 1917,  Verlag  von  J.  H.  Ed.  Hehz.  Preis: 
geh.  1  M. 
Keibel  bespricht  in  seinem  Vortrage  an  der 
Hand  einiger  entwicklungsgeschichtlicher  Experi- 
mente —  Aufzucht  mehrerer  Individuen  aus  künst- 
lich getrennten  Blastomeren  eines  Eies,  Transplan- 
tation der  Retinaanlage,  Regeneration  der  Linse 
—  die  allgemeineren  und  wichtigeren  Folgerungen, 
die  sich  aus  ihnen  ergeben.  Die  Resultate  der 
experimentellen  Entwicklungsgeschichte  harmo- 
nieren nicht  mit  Weismann's  Präformations- 
und Derminantenlehre,  sie  sprechen  gegen  dieLehre 
von  der  erbungleichen  Teilung  der  Erbmasse. 
Wenn  nun  aber  alle  Zellen  des  Organismus  die 
gesamte  Erbmasse  erhalten,  so  erhebt  sich  die 
Frage,  welche  Faktoren  die  Differenzierung  der 
Zellen  in  der  Weise  regulieren,  daß  als  Produkt 
der  Entwicklung  ein  in  sich  harmonischer  höherer 
Organismus  zustande  kommt.  Und  weiterhin  müssen 
wir  uns  fragen,  warum  nicht  wieder  aus  jeder 
Zelle,  wie  aus  den  Keimzellen,  ein  ganzer  Orga- 
nismus entstehen  kann.  Ist  uns  auch  eine  volle 
Antwort  auf  diese  beiden  Fragen  heute  noch 
nicht  möglich,  so  glaubt  Keibel  doch,  daß  wir 
bereits  einige  Andeutungen  geben  können,  in 
welcher  Richtung  beide  Fragen  zu  lösen  sind.  Bei 
der  Entwicklung  der  Tiere  wirken  äußere  und 
innere  Faktoren  zusammen.  Zu  den  äußeren 
Faktoren  zählen  unter  anderen  die  Temperatur, 
der  Sauerstoffgehalt  der  Luft,  die  Nahrung.  Bei 
den  inneren  Faktoren  können  wir  innerhalb 
des  Kernes  und  außerhalb,  im  Zytoplasma 
gelegene  Bedingungen  unterscheiden.  Im  Kern 
ist  die  eigentliche  Erbmasse  lokalisiert.  Von 
dieser  hängt  es  in  erster  Linie  ab,  was  aus  einem 
Ei  entsteht,  jedoch  spielen  sicherlich  auch  die 
außerhalb  des  Kernes  gelegenen  Bildungen  bei 
der  Entwicklung  eine  große  Rolle.  Sie  bilden  zum 
Teil  wenigstens  die  Grundlage  für  die  funktionelle 
Differenzierung  der  Zellen.  Diese  funktionelle 
Differenzierung  hinwiederum  ist  wohl  der  Haupt- 
grund, daß  den  Somazellen  in  der  Regel  die 
Möglichkeit  zur  Erzeugung  neuer  Organismen 
verloren    geht.      Die   Somazellen    nutzen   sich  ab, 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


695 


sie  altern.  Keibel  beschließt  seine  Ausfüh- 
rungen mit  einigen  Reflexionen  über  die  mecha- 
nistische und  die  vitalistische  Betrachtungsweise 
in  der  Biologie.  Gegenüber  Roux's  Mechanismus 
betont  er  den  prinzipiellen  Unterschied  zwischen 
belebter  und  unbelebter  Natur,  ohne  jedoch  anderer- 
seits den  Weg  zu  gehen,  den  Driesch  mit  seiner 
Entelechienlehre  der  Biologie  zu  weisen  sucht. 
Nachtsheim. 

Dessoir,  Max,  Vom  Jenseits  derSeele.  Die 
Geheimwissenschaften  in  kritischer  Betrachtung. 
Stuttgart  191 7.  II  M. 
In  einer  Reihe  von  Aufsätzen  rückt  der  Ver- 
fasser das  merkwürdige  und  seltsam  bunte  Gebiet 
der  sogenannten  Geheimwissenschafien  in  die 
helle  Beleuchtung  seiner  auf  ausgedehnte  Erfahrung 
gegründeten  Kritik,  jenes  Gebiet  menschlicher 
Geistestätigkeit  (oder  auch  ganz  und  gar  ungeistiger 
Betätigung),  das  je  nach  dem  Standpunkte  als 
Quelle  tietster  Offenbarungen  oder  als  ärgste  Ver- 
irrung,  ungesunde  Phantasterei  oder  glatter  Schwin- 
del bezeichnet  wird.  Seine  Bemühungen  bleiben 
nicht  bei  der  negativen  Seite  des  Widerlegens  und 
der  kritischen  Analyse  der  angeblichen  okkulten 
Tatsachen  stehen,  sondern  als  Forscher  sucht  er 
in  den  psychologischen  Untergrund  hineinzudringen, 
aus  dem  ihre  so  merkwürdig  verdeutete  Form 
hervorwächst,  soweit  sie  dazu  überhaupt  einen 
Anlaß  bieten.  So  sucht  er  gleich  in  der  Einleitung 
diese  prinzipiellen  Dinge  an  dem  Beispiel  der 
Amerikanerin  Piper  zu  klären,  indem  er  eine 
allgemeine  Auseinandersetzung  über  die  im  Unter- 
bewußtsein verlaufenden  psychischen  Vorgänge 
gibt,  die  er  seinerzeit  als  parapsychische  bezeichnet 
hat.  Sie  liegen  vielen  Phänomen  okkulter  Natur 
als  auch  anderen,  zu  verschiedenen  Zeiten  und  in 
verschiedenem  Milieu  sich  verschieden  gebärdenden 
magischen,  übersinnlichen  Äußerungen,  Inspira- 
tionen usw.  zugrunde.  Daneben  sind  es  aber 
auch  ganz  allgemein  und  tief  im  Menschen,  nament- 
lich im  naiven,  wurzelnde  bewußte  seelische 
Elemente,  die  immer  wieder  zur  Magie  hindrängen, 
wie  z.  B.  der  Wunsch,  von  der  physikalischen  Ge- 
setzlichkeit der  Umwelt  befreit  zu  sein.  Die  fol- 
genden Kapitel  sind  nun  im  einzelnen  der  Para- 
psychologie,  d.  h.  der  Lehre  von  den  seelischen 
Erscheinungen,  die  hinter  der  Oberfläche  des  Be- 
wußtseins verlaufen,  und  der  Aufzeigung  der  Ver- 
bindung parapsychischer  Phänomene  mit  den  ver- 
schiedenen okkulten  Problemen  gewidmet.  Traum 
und  Hypnose,  seelischer  Automatismus,  seelisches 
Doppelleben,  Fernwirkung  und  Fernsehen,  diese 
Stichworte  mögen  auf  den  äußerst  interessanten 
Inhalt  hinweisen.  In  dem  folgenden  Abschnitt  teilt 
dann  der  Verfasser  seine  Erfahrungen  über  den  Spiri- 
tismus mit,  wie  er  sie  in  Sitzungen  mit  Henry 
Slade,  der  Eusapia  Palladino  und  ihrer 
deutschen  Kollegin  Anna  Rothe  gewonnen  hat, 
und  fügt  eine  besondere  Auseinandersetzung  über 
spiritistische  Täuschungen  bei.  Hier  ist  auch  ein 
Versuch     über     die     Psychologie     der     Taschen- 


spielerkunst zu  finden,  sowie  die  Technik  der 
Medien  beschrieben.  Im  nächsten  Abschnitt  wird 
der  Leser  in  das  krause  Gebiet  der  Kabbalistik 
geführt,  das  Reich  der  schnurrigen  theologischen 
und  philologischen  Wortdeuter,  woran  sich  dann 
eine  Auseinandersetzung  mit  den  Theosophen, 
Rassenmystikern,  Gesundbetern,  Neubuddhisten 
usw.  schließt. 

Der  Schlußteil  des  Buches  ist  dann  wieder 
allgemein  theoretischer  Natur;  der  Verfasser  führt 
hier  den  geschichtlichen  Nachweis,  daß  der  Ge- 
dankenkreis aller  Geheimwissenschaften  sich  mit 
ursprünglichen  Versuchen  zu  einer  idealistischen 
Weltanschauung  deckt,  die  als  eine  Art  atavistischen 
Relikts  neben  der  reineren  fortgeschrittenen  Form 
des  Idealismus  erhalten  geblieben  ist,  und  behandelt 
ferner  die  methodischen  Grundlagen  der  primitiven 
Geheimwissenschaften. 

Die  Untersuchungen  des  Verfassers  führen, 
nach  seinen  eigenen  Worten,  zu  der  Überzeugung, 
daß  „die  Geheimwissenschaft  eine  Mischung  aus 
falschen  Deutungen  gewisser  seelischer  Vorgänge 
und  falsch  gewerteten  Überbleibseln  einer  ver- 
schwundenen Weltanschauung"  ist.  Fruchtbare 
Ansätze  zu  neuen  Forschungsgebieten  oder  zur 
Erweiterung  vorhandener  bietet  ihr  materieller 
Inhalt  nicht,  wohl  aber  ist  der  Okkultismus  ein 
belangreiches  kulturhistorisches,  psychologisches 
und,  wie  man  wohl  noch  hervorheben  könnte, 
auch  psychiatrisches  Untersuchungsobjekt.  Die 
kritische  Analyse,  historische  Einordnung,  psycho- 
logische Fundamentierung,  kurz  die  Erhellung  des 
gesamten  schwülen  und  dunstigen  okkulten  Hori- 
zontes, ist  aber  überdies  von  praktischer  Bedeutung 
auf  dem  Gebiete  der  geistigen  Hygiene.  Zwar 
haben  sich  viele  infolge  ihrer  eigenartigen  seelischen 
und  geistigen  Verfassung  so  tief  in  die  Welt 
des  Mystik  verstrickt,  daß  sie  auch  die  Fackel  der 
kritischen  Forschung  nicht  wieder  in  die  Wirk- 
lichkeit zurückzuführen  vermag,  bei  vielen  anderen 
ist  es  aber  nur  der  Mangel  eigenen  Urteils,  oder 
auch  eine  gewisse  Halbbildung,  oft  aber  auch  eine 
redliche,  wenn  auch  verschroben-übertriebene  Ob- 
jektivität, die  sie  der  starken  suggestiven  Kraft 
der  Magie  erliegen  läßt.  Solchen  sei  das  Dessoir- 
sche  Buch  besonders  empfohlen.  Insbesondere  ist 
es  dankbar  zu  begrüßen  und  durchaus  nicht  über- 
flüssig, wenn  das  große  Publikum  immer  wieder 
Gelegenheit  bekommt,  den  Wert  wahrer  Wissen- 
schaftlichkeit und  wissenschaftlich- kritische  Denk- 
weise kennen  zu  lernen.  Denn  das  große  PubHkum 
ist  oft  sehr  undankbar,  es  genießt  die  tausend- 
fältigen Segnungen,  die  die  entsagungsvolle,  müh- 
same Arbeit  ganzer  Generationen  von  Jüngern 
der  echten  Wissenschaften  ihnen  geschenkt  hat, 
und  erliegt  doch  gar  zu  leicht  und  leider  auch 
zu  gerne  dem  Einfluß  falscher  Propheten,  ja  be- 
teiligt sich  dann  oft  und  unbedenklich  an  ihren 
typischen  Ausfällen  gegen  angebliche  Rückständig- 
keit, Einbildung  und  brutale  Herrschsucht  der 
legitimen  Wissenschaft.  Miehe. 


696 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  49 


Emil  Abderhalden,  DieGrundlagen  unserer 
Ernährung  unter  besonder  er  Berück- 
sichtigung der  Jetztzeit.  Mit  2  Text- 
figuren. Berlin  191 7.  J.  Springer.  2,80  M. 
Über  die  Grundlagen  unserer  PIrnährung  und 
demgemäß  über  ihre  zweckmäßige  Regelung 
herrschen  im  allgemeinen  nur  sehr  unklare  An- 
schauungen. Äußerte  doch,  nebenbei  bemerkt, 
neulich  ein  gebildeter  Mann  mir  gegenüber,  Zucker 
wäre  doch  gar  kein  Nährstoff,  sondern  ein  Genuß- 
mittel 1  Desgleichen  kann  der,  der  einmal  als 
Naturforscher  die  Geheimnisse  der  Küche  zum 
Forschungsobjekt  macht,  mancher  Sinnlosigkeit 
und  manchem  Aberglauben  begegnen.  In  normalen 
Zeiten  spielen  diese  freilich  keine  allzugroße  Rolle, 
mit  reichlichen  Mitteln  kann  jeder  schließlich  etwas 
ausreichendes  zusammenkochen,  wohl  aber  fordern 
Zeiten  der  Knappheit  und  des  genauesten  Ein- 
teilens  die  Hilfe  solider  Kenntnisse  und  vernünf- 
tiger Grundbegriffe.  Diese  zu  vermitteln,  ist  der 
Physiologe  der  berufene  und  wir  müssen  einem  so  her- 
vorragenden, wie  es  Abderhalden  ist,  dankbar 
sein,  daß  er  einem  weiteren  Publikum  in  der  vor- 
liegenden Schrift  über  die  Prinzipien  der  Ernäh- 
rungsphysiologie Aufklärung  gibt.  Er  kennzeichnet 
die  verschiedenen  Nahrungsstoffe,  erörtert  ihre 
Herkunft,  ihr  Schicksal,  wenn  sie  unseren  Ver- 
dauungskanal passieren,  ihre  notwendigen  Mengen, 
ihre  Bedeutung  als  Zellbaustoffe,  ihre  Ausnutzbar- 
keit und  vieles  andere  mehr.  Vielfach  wird,  be- 
sonders dann  im  .Schlußkapitel,  an  die  Bedürfnisse 
der  Zeit  angeknüpft.  Besonders  interessant  und 
für  viele  beruhigend  ist  das  Kapitel  über  den  Ei- 
weißbedarf, in  welchem  gezeigt  wird,  daß  der 
Organismus  sich  mit  verschiedenen  Eiweißmengen 
ins  Gleichgewicht  setzen  kann  und  dabei  die  Art 
und  Menge  der  stickstofffreien  Nahrungsmittel  von 
großer  Bedeutung    ist.     Mit  Nachdruck   weist  der 


Verf  auf  die  Notwendigkeit  hin,  in  erster  Linie 
die  Produktion  der  pflanzlichen  Nahrungsmittel 
zu  steigern;  die  Ernährung  mit  pflanzlichen  Stoffen 
sei  wirtschaftlich  meist  der  geradeste  und  spar- 
samste Weg,  Steigerung  des  Fleischgenusses  und 
der  Fleischerzeugung  im  allgemeinen  ein  Umweg 
und  eine  Verschwendung.  Miehe. 

Junge,    Prof.    Dr.    G.,     Unsere    Ernährung. 

Nahrungsmittellehre   für   die  Kriegszeit.     Berlin 

1917.     O.  Salle.     1,50  M. 

Ging  das  vorige  Buch  von  den  Ergebnissen 
der  wissenschaftlichen  Ernährungsphysiologie  aus 
und  suchte  es  diese  in  erster  Linie  allgemeiner 
bekannt  zu  machen,  so  hält  sich  dieses,  von  Prof. 
Eltzbacher  mit  einem  Vorwort  versehene  Heft 
nach  kurzer  Skizzierung  der  allgemeinen  Grund\ 
lagen  der  Ernährung  an  die  einzelnen  Nahrungs- 
mittel, zeigt  ihre  Herkunft,  ihre  Zusammensetzung, 
ihren  Nährwert,  ihre  beste  Ausnutzung  usw.  Dabei 
knüpft  Verf  immer  an  die  Praxis  des  alltäglichen 
Lebens  an  und  streut  auch  manche  allgemeinere 
naturwissenschaftliche  Belehrung  ein.  In  der  Dar- 
stellungsweise tritt  die  auch  in  der  Vorrede  an- 
gedeutete Absicht  hervor,  möglichst  verständlich 
zuschreiben.  Das  ist  Junge  sehr  hübsch  geglückt. 
Dabei  ist  der  in  angenehmer  Form  mitgeteilte 
Tatsachenbestand  gewissenhaft  und  kundig  ver- 
arbeitet. Wir  können  dem  mit  etlichen  guten  und 
klaren  Bildern  ausgestatteten  Büchlein  die  beste 
Empfehlung  mitgeben,  möchten  insbesondere  die 
Hausfrauen  und  die  Lehrer  darauf  aufmerksam 
machen.  Es  wird  auch  nach  dem  Kriege  seinen 
Wert  behalten,  einmal  weil  unsere  Kriegswirtschaft 
noch  lange  andauern  wird,  und  dann,  weil  es  eine 
treffliche  Ergänzung  zu  den  Kochbüchern  darstellt, 
die  in  diesem  Punkte  meist  nicht  ihre  stärkste 
Seite  haben.  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zu  der  Antwort  über  Zwergwuchs  in  Nr.  35  der  Naturw. 
Wochenschr.  möchte  ich  mir  eine  Bemerkung  erlauben. 

Der  Satz,  daß  die  Samen  von  Kürp*nerformen,  bei  sorg- 
samer Pflege  zur  Entwicklung  gebracht,  wieder  Pflanzen  ganz 
normaler  Größe  geben  würden,  bedarf  einer  Einschränkung 
mit  Rücksicht  auf  gewisse  Erfahrungen  der  forstlichen  Versuchs- 
anstalten, wie  sie  z.B.  Professor  Arnold  Engler  in  Zürich 
kürzlich  (10.  Sept.)  anläßlieb  der  Schweizerischen  Naturforscher- 
Tersammlung  in  seinem  Versuchsgarten  auf  dem  .■\dlisberg  bei 
Zürich  den  Teilnehmern  in  eindrucksvoller  Weise  vor  Augen 
geführt  hat.  Werden  nämlich  Waldbäume,  z.  B.  Fichten,  aus 
von  der  Ebene  stammenden  Samen  im  Gebirge  gezogen,  so 
entstehen    nicht    nur    kleinwüchsige    Individuen,    sondern    die 


Samen  derselben  liefern,  in  der  Ebene  unter  normalen  Ver- 
hältnissen zum  Keimen  gebracht,  Bäume,  die  im  Wuchs  hinter 
den  aus  Ebenen-Saatgut  gezogenen  Kontrollpflanzen  erheblich 
zurückbleiben.  Natürlich  darf  diese  Tatsache  nicht  ohne 
weiteres  zugunsten  der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften 
gebucht  werden;  denn  der  Keimling  der  in  der  Ebene  er- 
wachsenen Zwergform  bildete  sich  ja  im  Samen  an  der  Mutter- 
pflanze im  Gebirge  unter  den  dortigen  (ungünstigen)  Lebens- 
bedingungen aus  und  kann  auf  diese  Weise  sehr  wohl  eine 
Beeinflussung  erfahren  haben,  deren  Wirkung  sich  im  ganzen 
Leben  des  Individuums  fühlbar  macht.  Leider  steht  die  Fort- 
setzung des  Experimentes,  die  das  vor  allem  wichtige  Verhalten 
der  Nachkommenschaft  dieser  Ebenen-Zwergformen  aufzuklären 
hätte,  zur  Zeit  noch  aus.  Dr.  A.  Thellung,  Zürich. 


Inhalt:  Karl  Sudhoff,  Ein  Alkoholrezept  aus  dem  8.  Jahrhundert?  S.  681.  Robert  Hertens,  Über  einige  Fälle  des 
Scheinhermaphroditismus  bei  Fischen.  S.  683.  —  Einzelberichte;  G.  Lüstn  e  r,  Magenuntersuchungen  an  Wespen.  S. 687. 
D  e  w  i  t  z ,  Die  Zucht  des  Seidenspinners  im  Freien.  S.  688.  H.  W.  F  r  i  c  k  h  i  n  g  e  r ,  Massenhaftes  Auftreten  des  Gartenlaubkäfers 
in  einigen  Bezirken  Oberbayerns.  S.  688.  Ulri  c  h  Be  rn  er ,  Die  Bestäubertätigkeit  der  Insekten  in  Zahlen.  S.  688. 
Wilh.  Schuster,  Ein  Beitrag  zur  Biologie  der  Schwebefliegen.  S  690.  L.  Andren,  Zählung  und  Messung  der  kom- 
plexen Moleküle  einiger  Dämpfe  nach  der  neuen  (Lenard'schen)  Kondensationstheorie.  S.  691.  W.  Kranz,  Die  Be- 
schaffung von  Rohstofi'en  des  Bodens  für  militärische  Erfordernisse.  S.  693.  May,  Der  Spargel  als  Heilmittel.  S.  693. 
—  Bücherbesprechungen:  Fritz  Sarasin,  Streiflichter  aus  der  Ergologie  der  Neu-Kaledonier  und  Loyalty-Insulaner 
auf  die  europäische  Prähistorie.  S.  693.  Franz  Keibcl,  Über  experimentelle  Entwicklungsgeschichte.  S.  694.  Max 
Dessoir,  Vom  Jenseits  der  Seele.  S.  695.  Emil  Abderhalden,  Die  Grundlagen  unserer  Ernährung  unter  besonderer 
Berücksichtigung  der  Jetztzeit.  S.  696.  G.  J  unge,  UnsereErnährung.  S.  696.  —  Anregungen  und  Antworten :  Zwergwuchs. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  1 
Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a  d.  S. 


strafle  42,  erbeten. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  i6.  Dezember  1917. 


Nummer  50. 


Neuere  Ergebnisse  der  Kanalstrahlenforschung. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Karl  Kuhn. 

Mit  I   Abbildung. 


Verbindet  man  die  Elektroden  eines  genügend 
evakuierten  Glasrohres  von  der  Form  Fig.  I  mit 
einer  Hochspannungsquelle,  z.  B.  einem  Funken- 
induktor, Hochspannungsakkumulator  oder  einer 
Influenzmaschine,  so  gehen  bekanntlich  von  der 
negativen  Elektrode  K  (der  Kathode)  nach  links 
Kathodenstrahlen  ß  aus,  die  sich  geradlinig  aus- 
breiten, völlig  unabhängig  von  der  Lage  der  posi- 
tiven Elektrode  A  (der  Anode).  Die  Kathoden- 
strahlen sind  äußerst  rasch  bewegte,  sehr  kleine 
freie  negativ  elektrische  Ladungen  (Elektronen), 
welche  beim  Aufireffen  auf  die  Glaswand  des 
Entladungsraumes  ein  grünes  Leuchten  hervor- 
rufen. Eine  andere  sehr  wichtige  Eigenschaft  der 
rasch  bewegten  Kathodenstrahlteilchen  ist  die, 
daß  sie  ein  Gas,  das  sie  durchdringen,  in  hohem 
Grade  leitend  für  die  Elektrizität  machen.  Das 
Leitendwerden  der  Luft  ist  so  zu  denken,  daß  die 
Luftmoleküle,  welche  auch  in  einem  Vakuum  noch 
reichlich  vorhanden  sind,  durch  den  heftigen  Stoß 


< 


der  Kathodenstrahlen  in  positiv  und  negativ  ge- 
ladene Teilchen  zerfallen.  Die  positiven  Gas- 
moleküle (Ionen)  werden  nun  von  der  negativen 
Elektrode  K  angezogen  und  erhalten  dadurch  eine 
solche  Geschwindigkeit,  daß  sie  durch  den  Kanal 
der  Kathode  K  nach  der  anderen  Seite  hindurch- 
fliegen und  dort  als  sogenannte  Kanalstrahlen  « 
zum  Vorschein  kommen.  Die  Kanalstrahlen  wer- 
den nicht  zur  Kathode  zurückgezogen,  weil  sich 
das  elektrische  Feld  ausschließlich  links  von  der 
Kathode  befindet.  Dies  ist  die  moderne  Theorie 
von  der  Entstehung  der  Kanalstrahlen,  welche 
1886  von  E.  Goldstein  entdeckt  wurden.  Falls 
unser  Entladungsrohr  mit  Luft  gefüllt  war,  sind 
die  Kanalstrahlen,  wie  Goldstein  fand,  ein  gelb- 
lich leuchtendes  Bündel,  das  die  Glaswand  zu 
schwachem  grünen  Leuchten  (kontinuierliches 
Spektrum)  erregt.  Außerdem  ist  aber  nachGold- 
stein  auf  der  inneren  Oberfläche  der  Glaswand 
noch  ein  gelbes  Leuchten  zu  beobachten,  das  von 
einer  äußerst  dünnen  Gasschicht  von  Natrium  her- 
rührt, welches  aus  der  natriumsalzhaltigen  Glas- 
wand frei  wird  und  im  Spektroskop  die  gelben 
D-Linien  zeigt. 


Die  Erforschung  der  Kanalstrahlen  hat  nicht 
nur  über  den  Elektrizitätsdurchgang  in  Gasen 
wichtige  Aufschlüsse  geliefert,  sondern  sie  hat  auch 
grundlegende  Bedeutung  für  die  Spektralanalyse 
gewonnen.  Überdies  wurden  bei  der  Kanalstrahlen- 
analyse eine  ganze  Reihe  für  die  Chemie  neu- 
artiger Moleküle  aufgefunden  und  dann  liegt  hier 
ein  neues  analytisches  Hilfsmittel  von  einer  Fein- 
heit vor,  wie  es  die  Spektralanalyse  bei  weitem 
nicht  liefern  kann. 

Die  weitestgehende  Aufklärung  über  das  Wesen 
der  Kanalstrahlen  und  die  vollständige  Ausbildung 
der  Kanalstrahlentechnik  verdanken  wir  Wilhelm 
Wien.')  Im  Jahre  1898  wies  Wien  die  Ab- 
lenkung der  Kanalstrahlen  durch  sehr  starke  ma- 
gnetische und  elektrische  Kräfte  nach.  Zur  Be- 
obachtung der  magnetischen  Ablenkung  ist  es 
notwendig,  den  Entladungsraum  E  zwischen  K 
und  A  durch  einen  eisernen  Schutzmanlei  vor 
den  Kraftlinien  der  starken  magnetischen  Pole  zu 
schützen,  die  nur  auf  die  Kanalstrahlen  wirken 
sollen.  In  einem  Magnetfeld  von  3250  Gauß 
Stärke  wurden  die  Kanalstrahlen  nur  um  6  mm 
abgelenkt.  Eine  gleich  große  Ablenkung  bewirkte 
auch  ein  elektrostatisches  Feld  von  2000  Volt. 
Die  Kanalstrahlen  werden  von  der  negativen  Elek- 
trode angezogen  und  verhalten  sich  auch  im 
Magnetfeld  ganz  wie  ein  Strom  positiv  geladener 
Teilchen.  Wien  fand  auch,  daß  die  Kanalstrahlen 
einer  Metallplatte,  auf  welche  sie  auftreffen,  eine 
positive  Ladung  erteilen. 

Je  größer  die  Geschwindigkeit  der  Kanalstrahlen- 
teilchen ist,  desto  kürzer  werden  sie  der  Wirkung 
eines  magnetischen  und  elektrischen  Feldes  aus- 
gesetzt sein  und  um  so  geringer  wird  ihre  Ab- 
lenkung sein.  Die  Wirkung  der  ablenkenden 
Felder  wird  auch  mit  der  Schwere  der  Teilchen 
abnehmen.  Je  größer  aber  die  elektrische  Ladung 
eines  Kanalstrahlenteilchens  ist,  desto  stärker  wird 
es  von  dem  elektrischen  und  magnetischen  Kraft- 
feld beeinflußt  werden.  So  kann  man  aus  der 
genauen  Messung  der  Ablenkungsgröße  im  ma- 
gnetischen und  elektrischen  Feld  die  Geschwindig- 
keit der  Kanalstrahlen  bestimmen  und  Aufschluß 
über  die  Größe  der  Masse  und  elektrischen  Ladung 
eines  Kanalstrahlenteilchens  bekommen.  Bei 
Wien 's  erstem  Versuch  war  die  elektrische  La- 
dung und  Masse  der  Kanalstrahlenteilchen  etwa 
gleich  der  eines  Wasserstoffions  und  so  kam 
Wien  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  untersuchten 
Kanalstrahlen  aus  positiv  geladenen  Wasserstoff- 
atomen  bestanden. 

Die    Geschwindigkeit    der    Kanalstrahlen    läßt 


698 


Naturwissenschaftlich  e  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5o 


sich  durch  magnetische  und  elelitrische  Ablenl<ung 
nur  auf  indirtl<tem  Wege  messen.  Es  ist  jedoch 
W.  Hammer  gelungen,  an  einem  Kanalstrahl 
von  etwa  50  cm  Länge  eine  direkte  Geschwindig- 
keitsmessung durchzuführen,  welche  eine  sehr  er- 
wünschte Bestätigung  für  die  Richtigkeit  der 
Messung  durch  indirekte  Methoden  darstellt.  Die 
Wasserstoffkanalstrdhien  Hammer's  hatten  eine 
Geschwindigkeit  von  2510  km  in  der  Sekunde. 
Die  sehr  großen  Schwierigkeiten  dieses  Versuches 
sind  vielleicht  aus  der  Tatsache  zu  ersehen,  daß 
die  benuizie  Kanalstrahienröhre  einen  Hahn,  ein 
Hochvakuumkugelgelenk,  12  Schliffe  und  18  Kitt- 
stellen trug. 

Um  Kanalstrahlen  auf  längere  Strecken  hin 
untersuchen  zu  können,  muß  man  sie  in  einem 
möglich.st  hohen  Vakuum  verlaufen  lassen.  Dieses 
ist  aber  für  deren  Erzeugung  wieder  sehr  ungünstig. 
Deshalb  machte  W_i  e  n  den  Kanal  in  der  Kathode  K 
sehr  lang  und  sehr  dünn.  Pumpt  man  nun  den  Be- 
obachtungsraum B  fortwährend  aus  und  läßt  in  den 
Entladungsraum  E  immer  Gas  einströmen,  so 
kann  man  zwischen  beiden  Räumen  eine  beträcht- 
liche Druckdifferenz  herstellen,  da  durch  die  lange 
Kapillare  in  K  das  Gas  nur  sehr  langsam  nach 
B  diffundiert.  Hammer  ließ  z.  B.  seine  Kanal- 
strahlen in  einem  Vakuum  von  0,00002  mm  Queck- 
silberdruck verlaufen.  Auch  kann  man  etwa  einen 
Wasserstoffkanalstrahl  im  Beobachtungsraum  in 
Sauerstoff  verlaufen  lassen  usw. ") 

Kanalstrahlen  haben  eine  Geschwindigkeit  von 
etwa  ICO  bis  3000  km  in  der  Sekunde.  Treffen 
sie  auf  fe^te  Körper,  z.  B.  auf  Glas  oder  Willemit 
(Kieselzink),  so  erregen  sie  lebhafte  Phospho- 
reszenz. Leuchtschirme  waren  zuerst  die  einzige 
Methode  für  die  Kanalstrahlenbeobachtung.  Wien 
wies  damit  neben  Wasserstoffkanalstrahlen  auch 
Sauerstoffkanalstrahlen  nach;  J.  J.  Thomson 
aber  behauptete  (1907 — 1910),  urabhängig  von 
der  Gasfüllung  der  Entladungsrohre,  immer  nur 
Wasserstoffteilchen  beobachtet  zu  haben  und  stellte 
daher  die  kühne  Hypothese  auf  alle  Gase  würden 
in  den  Kanalstrahlen  zu  Wasserstoff  umgewandelt. 
Erst  später  ist  es  mit  großer  Mühe  gelungen,  die 
Verunreinigung  mit  Wasserstoffspuren  soweit  zu 
vermeiden ,  daß  auch  schwerere  Teilchen  zum 
Vorschein  kamen.  Es  stellte  sich  heraus,  daß  die 
Phosphoreszenzschirme  sehr  empfindlich  für  die 
leichten  schnellen  Wasserstoffatome  sind,  während 
sie  auf  größere  Teilchen  wie  Sauerstoff  sehr 
schwer  ansprechen.  Mit  Leichtigkeit  kann  man  in 
allen  Gasen  Wasserstoffkanalsuahlen  nachweisen, 
in  welchen  Wasserstoff  weder  chemisch  noch 
spektroskopisch  zu  entdecken  ist.  Heute  benutzt 
man  häufig  zum  Nachweis  der  Kanalstrahlen  die 
Phosphoreszenzerregung  nicht  mehr;  Wien  be- 
dient sich  der  Wärmewirkung  auf  die  Thermo- 
säule,  J.J.Thomson  benutzt  die  positive  Ladung 
der  Kanalstrahlen  zu  deren  Nachweis  und 
Königsberger  die  photographische  Wirkung. 
Die  photographische  Methode  ist  aber  ähnlich  wie 


die  Phosphoreszenz  gerade  für  die  schnellen  leichten 
Wasserstoffteilchen  besonders  empfindlich.") 

W.  Wien  beobachtete  schon  bei  seinen  ersten 
Versuchen,  daß  die  Kanalstrahlen  durch  ein  ma- 
gnetisches oder  elektrisches  Feld  nicht  gleichmäßig 
abgelenkt  werden;  ein  Teil  der  Strahlen  bleibt 
völlig  unbeeinflußt  und  verhält  sich  wie  ein  Bündel 
unelektrischer  Teilchen;  die  positiv  geladenen 
Teilchen  erfahren  keine  einheitliche  gleich  starke 
Änderung  ihres  Weges,  sondern  sie  werden  zu 
einem  Fächer  verschieden  ablenkbarer  Strahlen- 
arten (sog.  Spektrum)  ausgebreitet.  Unter  ge- 
wissen Umständen  kommen  auch  negative  Teil- 
chen in  einem  Kanalstrahl  vor.  Der  Ladungs- 
zustand der  positiven  Strahlen  erfährt  also  auf 
ihrem  Weg  hinter  der  Kathode  fortwährende 
Änderungen:  beim  Zusammenstoß  eines  Kanal- 
strahheilchens  mit  einem  ruhenden  Gasmolekül 
werden  von  diesem  Elektronen  abgespalten  und 
wenn  z.  B.  ein  rasch  bewegtes  H+- Wasserstoffion 
ein  Elektron  aufnimmt,  so  wird  es  zu  einem  neu- 
tralen, elektrisch  und  magnetisch  unablenkbaren 
Kanalstrahlenteilchen;  nimmt  es  aber  2  Elektronen 
auf,  so  wird  es  sogar  zu  einem  negativen  Teilchen: 
H~.  Umgekehrt  können  neutrale  Strahlen  durch 
Stoß  auf  ruhende  Gasmoleküle  wieder  eine  Ladung 
annehmen  und  so  ändert  in  einem  Kanalstrahl 
jedes  Teilchen  fortwährend  in  buntem  Wechsel 
seinen  Ladungszustand.  Man  erkennt  sogleich:  je 
höher  der  Druck  im  Beobachlungsraum  ist,  desto 
häufiger  finden  Zusammenstöße  mit  ruhenden 
Gasteilchen  statt  und  desto  öfter  kommt  es  zu 
Umladungen  eines  Teilchens.  Es  eikläit  sich  auch 
das  Auftreten  von  negativen  Kanalsirahlen.  Läßt 
man  den  Kanalstrahl  eines  elektronegativen 
[=  begierig  Elektronen  aufnehmenden]  Elements 
z.  B.  Sauerstoff  im  Beobachtungsraum  in  einer 
Atmosphäre  eines  elektropositiven  [=  leicht  Elek- 
tronen abspaltenden]  Gases  z.  B.  Ouecksiiberdampf 
verlauft  n,  so  wird  natürlich  ein  Sauersioffion  beim 
Zusammenstoß  mit  Quecksilberteilchen  diesen  un- 
schwer ein  oder  zwei  negative  Elementarladungen 
[=  Elektronen]  rauben  und  so  finden  sich  denn 
auch  beim  Verlauf  von  Sauerstoffkanalstrahlen 
im  Quecksilberdampf  neutrale  und  auch  ein 
recht  erheblicher  Prozentsatz  negativer  Strahlen 
[Stark].*)  Die  Umladungserscheinungen  wurden 
von  W.  Wien  theoretisch  und  experimentell 
völlig  aufgeklärt.  Wien  setzte  ein  Kanalstrahlen- 
bündel einem  starken  Magnetfeld  aus  und  lenkte 
alle  positiven  Strahlen  daraus  ab.  Wurde  nun 
der  Teil  der  Strahlen,  der  in  seiner  Richtung 
vei  blieb,  einem  2.  Magnetfeld  ausgesetzt,  so  be- 
kam Wien  wiederum  ein  abgelenktes  Strahlen- 
bündel zum  Zeichen  dafür,  daß  ein  Teil  der  neu- 
tralen Strahlen  seine  Ladung  wieder  angenommen 
hatte. 

In  den  Kanalstrahlen  fand  Wien  1898  durch 
die  elektromagnetische  Analyse  positive  Wasser- 
stoffatomteilchen H+  und  bald  konnte  Wien 
auch  Sauerstoffatomionen  0+  auffinden.  Später 
gelang  es  Wien,    Stark,  von   Dechend    und 


N.  F.  XVI.  Nr.  So 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


699 


Hammer,')  Koenigsberger  und  seine  Mit- 
arbeiter, J.  J.  Thomson,*)  Gehrcke  und 
Reichenheim  ^)  eine  große  Anzahl  von  Elementen 
in  Kanalstrahlenform  überzuführen.  Füllt  man  in 
den  Entladungsraum  Helium  oder  Argon  ein,  so 
erhält  '  man  im  Kanalstrahl  He~-  und  Ar+- 
Atomionen;  füllt  man  ihn  mit  Salzsäuregas  HCl, 
so  bekommt  man  H+-  und  Cl'i-Ioncn  usw. 
Daß  die  Wasserstoff-,  Sauerstoff-  oder  Stickstoff- 
moleküle H.,,  O2,  N.,  in  den  Kanalstrahlen  in 
Atome  zersplittert  werden,  ergibt  auch  deren  große 
chemische  Reaktionsfähigkeit,  welche  nur  freien 
Atomen  zukommt.  So  reagiert  z.  B.  ein  Sauer- 
stoft  kanalstrahl  sofort  mit  Quecksilber  unter 
Bildung  vonOuecksilberoxydund  auch  der  chemisch 
träge  Stickstoff  wird  durch  die  Dissoziation  des 
Ng-Moleküls  in  X-Atome  so  aktiviert,  daß  sich  so- 
fort Oaecksilbernittit  bildet  [Stark].') 

Als  J.  J.  Thomson  die  Entladungsröhre  mit 
sehr  reinem  Neon  füllte,  beobachtete  er  bei  der 
elektrischen  und  magnetischen  Zerlegung  des 
Kanalbtrahls  ganz  in  der  Nähe  der  Strahlen,  welche 
dem  Neon  entsprechen,  noch  einen  weiteren,  der 
nach  der  Größe  der  Ablenkung  einem  Elemente 
vom  Atomgewicht  22  zugehören  mußte.  Die 
Linie  dieses  unbekannten  Stoffes  ist  in  den  Kanal- 
strahlen sehr  viel  schwächer  wie  die  Neonlinie 
und  so  kommt  dieses  neue  Gas  wohl  nur  in  sehr 
geringer  Menge  vor.  Thomson  und  Aston 
versuchten  das  neue  Gas  von  dem  etwas  leichteren 
Neon  (Atomgewicht  20)  durch  Diffusion  zu  trennen 
und  fanden,  daß  der  langsamer  diffundierende  Teil 
des  Neons  ein  etwas  höheres  spezifisches  Gewicht 
hatte.  Nach  Leduc  rührt  dies  aber  nicht  von 
der  Anreicherung  des  neuen,  schweren,  langsamer 
diffundierenden  Gases  her,  sondern  von  einer  sehr 
geringen  Menge  beigemischten  Stickstoffs,  der 
sich  als  Verunreinigung  sehr  schwer  ganz  ver- 
meiden läßt.  Weitere  Untersuchungen  sind  not- 
wendig. 

Wir  sehen  hier  wie  die  Kanalstrahlenanalyse 
zur  Auffindung  neuer  Elemente  dienen  kann  und 
sie  ist  so  empfindlich,  daß  wir  mit  ihrer  Hilfe 
Mengen  eines  fremden  Gases  entdecken  können, 
die  zu  winzig  sind,  um  im  Spektroskop  irgend- 
welche Andeutungen  hervorzurufen.  '/loo  Milli- 
gramm einer  Substanz  genügt  nach  J.  J.Thomson'') 
um  nicht  nur  ihre  Anwesenheit  im  Kanalstrahl 
festzustellen,  sondern  auch  um  aus  der  Größe  der 
Ablenkung  des  Strahles  im  magnetischen  und 
elektrischen  Feld  zugleich  das  Atomgewicht  des 
Stoffes  zu  bestimmen.  Ein  sehr  großer  Vorteil 
der  Methode  besteht  noch  darin,  d.iß  sie  von  der 
Reinheit  des  Materials  unabhängig  ist;  wenn  das 
Füilgas  verunreinigt  ist,  so  erscheinen  in  den  ab- 
gelenkten Kanalstrahlen  die  Verunreinigungen  nur 
als  neu  hinzutretende  Linien,  ohne  die  der  zu 
untersuchenden  Substanz  zu  beeinflussen  oder  die 
Atomgewichtsbestimmung  fehlerhaft  zu  machen. 
Durch  Präzisionsmessungen  wird  die  neue  Methode 
wohl  bald  sehr  genaue  Atomgewichtsbestimmungen 
erlauben    und    dann    wird    man    mit    Erfolg    viele 


wichtige  chemische  Probleme  angreifen  können, 
wie  die  Durchmusterung  aller  Elemente  auf  Isotope, 
die  Atomgewichtsbestimmung  des  Actiniums,  die 
.Aufsuchung  neuer  leichter  Gase  usw. 

Bei  hohen  Entladungsspannungen  wird  von 
den  Atomen  häufig  nicht  nur  ein  Elektron  durch 
Stoß  abgespalten,  sondern  mehrere  und  so  findet 
man  z.  B.  in  einem  Stickstoffkanalslrahl  nicht  nur 
einwertige  N"i"-Ionen,  sondern  gleichzeitig  auch 
mehrwertige  wie  N++  und  N"H-r.  J.  J.  Thomson 
hat  sogar  ein  Ouecksilberatom  mit  8  positiven 
Ladungen  im  Kanalslrahl  aufgefunden.  L^nter  den 
schon  besprochenen  Bedingungen  erscheinen  in 
einem  Kanalstrahl  auch  negative  Teilchen,  welche 
dann  vom  elektromagnetischen  Feld  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  wie  die  positiven  Kanalstrahlen 
abgelenkt  werden.  Negative  Teilchen  wurden  bei 
den  Atomen  von  H.,,  C,  Oj,  S  und  Cl  gefunden, 
also  —  vom  H  abgesehen  —  bei  elektronegativen 
Elementen,  welche  sehr  gern  Elektronen  und 
damit  eine  negative  Ladung  aufnehmen.'') 

Ist  der  Druck  in  einer  Kanalstrahlenröhre  sehr 
tief,  so  erleidet  ein  Ion  im  allgemeinen  auch  selten 
Zusammenstöße  mit  anderen  Teilchen;  wenn  das 
Ion  also  ein  Molekül  ist,  so  wird  es  nicht  häufig 
in  seine  Atome  zertrümmert  und  deshalb  finden 
sich  in  einem  Kanalstrahl  auch  Molekülstrahlen 
und  Verbindungsstrahlen.  W.  Wien  fand  als 
erster  in  den  Kanalstrahlen  die  Wasserstoff- 
molekülionen U^'~.  Später  wurden  zahlreiche 
Verbindungsstrahlen  beobachtet.  J.  J.Thomson 
entdeckte  z.  B.  0,+-,  C0+  ,  CO./i  -,  NH,+-,  CH,' - 
Ionen.  Andere  Forscher  stellten  Oj  ■  -,  0.^~-,  CN~f--, 
CN "-Ionen  usw.  fest.  Geht  die  Entladung  durch 
Kohlenstoffverbindungen  hindurch,  so  erscheinen 
in  manchen  Phallen  folgende  Ionen  im  Kanalstrahl : 
C~,  Cj  ,  C.j"~  und  C,  .  Bemerkenswert  ist  ein 
Ion,  welches  Thomson  in  Gasen  fand,  welche 
Spuren  von  Wasserstoff  enthalten.  Es  hat  das 
Atomgewichts  und  Thomson  glaubte  zunächst  ein 
neues  Gas,  welches  er  X^  nannte,  entdeckt  zu  haben. 
X.  ist  wegen  der  geringen  Menge,  in  welcher  es 
vorkommt,  nur  durch  die  Kanalstrahlenanalyse 
nachweisbar.  Thomson  stellte  verschiedene 
Eigenschaften  von  X3  fest  und  fand  schließlich, 
daß  es  kein  neues  Element,  sondern  ein  neues 
Molekül  des  Wasserstoffs,  H.^,  ist,  das  sich  bis  jetzt 
nur  in  den  Kanalstrahlen  spurenweise  darstellen 
läßt  und  eine  positive  Elementarladung  trägt 
(H3+).  Geht  die  Entladung  durch  Sumpfgas  CH4, 
so  fand  Thomson  in  den  Kanalstrahlen  unter 
anderem  folgende  Ionen:  CH"^,  CHo+,  CH.j+  und 
CH4"  .  Verbindungen  wie  CH™,  CH.,  und  CH  sind 
der  Chemie  bisher  in  freiem  Zustand  völlig  fremd 
gewesen  und  Thomson  hat  noch  eine  Reihe 
sonst  unbekannter  Verbindungen  und  lonenarten 
in  den  Kanalstrahlen  aufgefunden,  die  vielleicht 
einen  völlig    neuen  Zweig  der  Chemie    anbahnen. 

Füllt  man  die  Kanalstrahlenröhre  mit  Wasser- 
stoff, so  finden  sich  in  den  Kanalstrahlen  folgende 
Teilchen:  H+,  H2+  und  H^,  manchmal  auch  noch 
H.j-!-;  bei  Cyangasfüllung:  CN+,  CN"    und  C+;  bei 


7O0 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  50 


Salzsäuregasfüllung:  H+,  H2+,  C1+  und  Cl-;  bei 
Heliumgasfüllung:  He+  und  He  1"+.  Ein  Kanal- 
strahlbündel  besieht,  so  läßt  sich  zusammenfassend 
sagen,  aus  einem  Gemisch  von  Teilchen  mit  ver- 
schiedenen Massen,  verschiedener  Anzahl  der 
elektrischen  Ladungen  und  verschiedener  Ge- 
schwindigkeit. 

Kanalstrahlen  haben  in  Luft  eine  goldgelbe 
Farbe;  in  Wasserstoff  bilden  sie  ein  rosarotes 
Sirahlenbündel.  Wie  Goldstein  fand,  stimmt 
das  Spektrum  des  Kanalstrahlenlichts  im  wesent- 
lichen mit  dem  des  verwendeten  Gases  überein. 
Die  Emission  des  Lichtes  erfolgt  durch  zahlreiche 
Zusammensiöße  der  Kanalsirahlenteilchen  mit 
ruhenden  Gasmolekülen.  Ist  dies  richtig,  so  kann 
ein  Kanalstrahlenbündel  bei  sehr  niedrigem  Gas- 
druck auf  seinem  Wege  der  geringen  Zahl  der 
Zusammenstöße  halber  keine  merklicheLichtemission 
mehr  hervorbringen,  wie  dies  auch  von  Dechend 
und  Hammer  sowie  Koenigsberger  und 
Kutschewski  beobachteten.  Wird  das  Kanal- 
strahlenlicht von  schnell  bewegten  Ionen  emittiert, 
so  müssen  die  von  ihnen  au^gesandien  Spektral- 
hnien  eine  Veränderung  gegen  die  sonst  erzeugten 
Linien  des  beireffenden  Gases  aufweisen.  Denn 
die  raschen  Kanalstrahlenteilrhen  stellen  eine 
schnell  bewegte  Lichtquelle  dar  und  eine  solche 
muß  den  sogenannten  Doppler-Effekt  zeigen.  Das 
heißt:  beobachtet  man  einen  leuchtenden  Kanal- 
strahl mit  dem  Spektroskop  von  vorn,  sodaß  die 
Kanalstrahlen  auf  den  Spektroskop-palt  zueilt  n,  so 
zeigt  sich  neben  jeder  normalen  ruhenden  Spektral- 
linie eine  zweite  oder  genauer  ein  ziemlich  breiter 
Streifen,  welcher  nach  violett  verschoben  ist; 
visiert  man  den  Kanalstrahl  von  hinten  an,  so 
müssen  die  Spektrallinien  der  bewegten  Kanal- 
strahlenteilchen nach  dem  roten  Ende  des  Spek- 
trums hin  verschoben  sein.  Bei  Beobachiung 
senkrecht  zum  Kanalstrahl  darf  nach  Doppler 's 
Prinzip    keine    verschobene  Linie    vorhanden   sein. 

Diese  Folgerung  hat  Johannes  Stark  be- 
rehs  im  Jahre  1902  in  seinem  Buche:  Die  Elek- 
trizität in  Gasen  S.  457  (J.  A.  Barth-Leipzig) 
gezogen  und  hat  dann  auch  im  Jahre  1905  das 
vorausgesagte  Verhalten  der  Spektrallinien  ex- 
perimeniell  bestätigt.  Die  Entdeckung  des  Doppier- 
Effekts  an  den  Kanalstrahlen  durch  J.  Stark,'') 
einem  der  erlolgreichsten  Experimentalphysiker, 
ist  eine  glänzende  Bestätigung  für  unsere  An- 
schauung vom  Wesen  der  Kanalstrahlen. 

Daß  beim  Stark- Doppler-Effekt  statt  einer 
einzigen  scharfen  verschobenen  Spektrallinie  ein 
breiter  Streifen  erscheint,  erklärt  sich  leicht  aus 
dem  Vorkommen  einer  kontinuierlichen  Reihe 
von  Kanalstrahlengeschwindigkeiten  (Stark).  Aus 
der  Größe  der  Spekirallinienverschiebung  läßt  sich 
unmittelbar  die  Geschwindigkeit  des  leuchtenden 
Kanalstrahlenteilchens  berechnen.  Auffällig  ist  die 
Erscheinung,  daß  indemKanaKtrahlenspektrogramm 
neben  den  bewegten  Spektralstreifen  auch  noch 
die  ruhenden  Linien  auftreten.  Nach  Stark 
werden    diese  von    solchen  Atomen  emittiert,    die 


sich  nicht  im  Kanalstrahlenbündel  mitbewegen, 
die  aber  infolge  des  Stoßes  der  Kanalstrahlen  zum 
Leuchten  kommen,  ohne  dabei  eine  merkliche 
Geschwindigkeit  zu  erhalten.  Folgende  Beobach- 
tungen zeigen  dies  unmittelbar:  bringt  man  in 
den  Entladungsraum  E  Wasserstoff  und  läßt  im 
Beobachtungsraum  B  die  Wasserstoffkanalstrahlen 
in  einer  Sauerstoff-  oder  Stickstoffatmosphäre  ver- 
laufen, so  findet  man  imSpekirogramm  verschobene 
Wasserstofflinien  und  nur  ruhende  Linien  von 
Sauerstoff  oder  Stickstoff. 

Von  großer  Bedeutung  ist  die  Erforschung 
des  Kanalstrahlenlichtes  durch  J.  Stark  für  die 
grundlegenden  Probleme  der  Spektralanalyse  ge- 
worden. Bekanntlich  liefern  die  chemischen  Ele- 
mente, je  nachdem  sie  zum  Leuchten  erregt  werden 
lin  der  Bunsenflamme,  im  elektrischen  Lichtbogen 
und  Funken],  recht  verschiedene  Spektra,  und 
Norman  Lock y er")  stellte  z.  R.  die  kühne 
Behauptung  auf,  daß  beim  Übergang  von  einem 
Spektrum  zum  anderen  ein  Element  in  Teile  zer- 
falle, welche  die  verschiedenen  Linienspektra  liefern 
sollten.  Nach  Stark  löst  sich  jene  große  spektral- 
analytische Frage  ganz  anders:  je  nachdem  ein 
Atom  eine  oder  mehrere  elektrische  Elementar- 
ladungen trägt,  hat  es  verschiedene  Spektra.  .„Das 
Linienspektrum  des  einwertigen  Atomions  ist  ver- 
schieden von  dem  des  zweiwertigen  Atomions  und 
dieses  wieder  verschieden  von  dem  Spektrum  des 
dreiwertigen  Atomions.  Die  Änderung  des  Zu- 
Stands  der  positiven  Ladung  eines  chemischen 
Atoms  ist  also  verbunden  mit;  einer  Änderung 
der  optischen  Dynamik  des  Atoms"  (Stark.*) 
Kommen  in  einem  Kanaistrahl  z.  B.  N+-,  N+^'- 
und  N+++-Stickstoffatomionen  vor,  so  werden  die 
Spektrallinien  der  zweiwertigen  Stickstoffionen 
einen  viel  größeren  StarkDoppler-Effekt  zeigen 
wie  die  einwertigen,  da  sie  infolge  ihrer  doppelt 
so  großen  Ladung  auch  viel  stärker  von  der 
Kathode  angezogen  werden  und  noch  größer  wird 
die  Geschwindigkeit  und  der  Doppler-Effekt  der 
N++T"  Ionen  sein.  Aus  der  Messung  der  Größe 
des  Stark  Doppler- Effekts  ist  die  Zugehörigkeit 
vieler  Spektrallinien  zu  bestimmten  Aiomionen*) 
festgestellt  worden.  Erschwert  wird  die  Deutung 
der  Kanalstrahlenspekiralbilder  durch  die  Um- 
ladungen, welche  ein  leuchtendes  Teilchen  erleiden 
kann  und  so  stimmen  auch  die  Meinungen  nicht 
aller  Forscher  [z.  B.  Wien  und  Lenard]  mit 
S  tark 's  Anschauungen  völlig  überein.  Es  stellen 
diese  aber  doch  ein  bestechend  einfaches  Bild 
über  die  Natur  der  verschiedenen  Spektra  ein  und 
desselben  Elements  dar.  Erwähnt  sei  noch,  daß 
auch  ein  neutrales  Atom  und  positive  Molekül- 
kanalstrahlen [z.  B.  positive  O3-  oder  Sjlonen] 
besondere  Spektra  aufweisen. 

Auf  eine  glänzende  P-ntdeckung  J.  Stark's 
muß  hier  noch  hingewiesen  werden,  wenn  sie  mit 
den  Kanal^trahlen  auch  nicht  unmittelbar  zu- 
sammenhängt. Nach  der  Entdeckung  der  ma- 
gnetischen Zerlegung  der  Spektrallinien  durch 
Zeemann   (1896)    wurde    öfters   die   P'rage    auf- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


;or 


geworfen,  ob  nicht  auch  durch  eine  äußere  elel<- 
trische  Kraft  die  Bewegung  der  Elektronen  in 
einem  leuchtenden  Atom  beeinflußt  und  damit 
eine  Zerlegung  der  Spektrallinien  bewirkt  werden 
könnte.  Stark^")  gelang  es  im  Jahre  1913,  in- 
dem er  Kanalstrahlen  zur  Anregung  der  Licht- 
emission benützte,  ein  leuchtendes  Gas  einem  sehr 
starken  elektrischen  Felde  auszusetzen  und  er  be- 
obachtete nun  wirklich,  wie  jede  Spektrallinie  in 
eine  große  Reihe  polarisierter  Komponenten  zerlegt 
wurde.  Es  führt  hier  also  ein  Weg  ins  Innere 
des  Atoms,  über  dessen  Aufbau  uns  die  Spektral- 
analyse der  Kanalstrahlen  noch  manchen  wichtigen 
Aufschluß  geben  wird. 

Weitgehende  Erkenntnisse  über  die  Struktur 
der  Atome  liefert  auch  das  Studium  des  Durch- 
gangs von  Kanalstrahlen  durch  feste  Körper.  Vor 
noch  nicht  langer  Zeit  dachte  man  sich  das  Innere 
der  chemischen  Atome  beinahe  zusammenhängend 
mit  Sfoff  erfüllt  und  für  andere  Atome  undurch- 
dringlich. Diese  einfache  Anschauung  wurde  er- 
schüttert durch  Lenard's  Beobachtungen  über 
den  Durchgang  schneller  Kathodenstrahlen  durch 
ziemlich  dicke  Substanzschichten,  mithin  zweifellos 
durch  die  chemischen  Atome  selbst.  Da  die 
Elektronen  eines  Kathodenstrahls  eine  sehr  kleine 
IVlasse  [rund  Vjono  ^^^  Wasserstoffatoms]  haben, 
so  läßt  sich  bei  ihrer  Durchquerung  eines  chemischen 
Atoms  nicht  sicher  entscheiden,  ob  im  Atom- 
gefüge  nur  enge  Lücken  für  den  Durchgang  vor- 
handen sind  oder  ob  ein  chemisches  Atom  aus 
einzelnen  untersch  edlichen  Teilchen  in  einem 
weitmaschigen  Gefüge  besteht  (Stark  ^).  Es 
ließ  sich  nun  nachweisen,  daß  auch  Kanalstrahlen, 
z.  B.  rasche  Wasserstoffstrahlen  dünne  Schichten 
eines  festen  Körpers  zu  durchfliegen,  d.  h.  also 
chemische  Atome  sogar  längs  ihres  größten  Durch- 
messers zu  durchdringen  vermögen.  I.  K  o  e  n  i  g  s  - 
berger  beobachtete  bereits  im  Jahre  1910,  daß 
Kanalstrahlen  durch  eine  Lackschicht  von  einigen 
(i  [=  0,001  mm]  Dicke  noch  eine  photographische 
Wirkung  hervorbringen.  K.  Glimme  und 
LKoenigsberger  fanden,  daß  Wasserstoff  kanal- 
strahlen von  1 500  km  Geschwindigkeit  in  der 
Sekunde  durch  Aluminiumfolie  von  0,38  ,«  Dicke, 
die  fast  lochfrei  war,  nicht  hindurchflogen  ;  dagegen 
gingen  von  einer  Strahlung  von  2700  km  Ge- 
schwindigkeit die  positiven  und  neutralen  Wasser- 
stoffatome hindurch.  H.  Rausch  vonTrauben- 
berg  stellte  fe.-,t,  das  H+-,  H2+ ,  0+-  bzw.  N+- 
Kanalstrahlen  nach  dem  Durchgang  durch  eine 
Goldfolie  von  0,0733  /'  Dicke  noch  einen  Fiuores- 
zenzschirm  erregten.  Wasserstoffatome  von  2610  km 
Geschwindigkeit  in  der  Sek.  machten  sich  durch 
eine  Schicht  von  5  Goldfolien  auf  dem  Fluoreszenz- 
schirm bemerkbar.  Bei  kleineren  Geschwindig- 
keiten mußte  auch  die  Dicke  des  Goldes  entsprechend 
kleiner  gewählt  werden.^) 

Interessante  Versuche,  welche  einen  schlagen- 
den Beweis  für  die  materielle  Natur  der  Kanal- 
strahlen liefern,  hat  A.  N.  Goldsm  it  h  angestellt. 
Er  ließ  Kanalstrahlieilchen  durch  Glimmerplatten 


von  2  —  6  /<  Dicke  in  eine  Vakuumröhre  eintreten, 
wo  sie  in  einem  seitlich  angebrachten  kleinen 
Geißlerrohr  komprimiert  und  spektroskopisch  unter- 
sucht werden  konnten.  „Es  wurde  die  Zeit  be- 
obachtet, die  von  Anfang  der  Entladung  verstreichen 
muß,  ehe  ein  Wasserstoff-  eventuell  Heliumspek- 
trum in  der  Geißlerröhre  erscjieint.  Es  konnte 
keine  phosphoreszenzerregende  Wirkung  der  durch- 
gegangenen Kanalstrahlenteilchen  festgestellt  wer- 
den." Enthielt  die  Entladungsröhre  eine  Luftfüllung 
mit  0,1  "/(,  Wasserstoff,  so  dauerte  es  900  Sek. 
bis  genügend  Wasserstoffkanalstrahlenteilchen  durch 
das  Glimmerfenster  getreten  waren,  um  in  der 
Geißlerröhre  spektro^kopisch  nachgewiesen  zu 
werden.  Bei  Zusatz  von  1  "/q  Wasserstoff  dauert 
es  200  Sek..  bei  io°/o  100  Sek.  und  bei  50% 
60  Sek.  „Wird  die  Entladungsröhre  statt  mit  Luft, 
mit  Kohlensäure  oder  Argon  gefüllt,  so  gehen  auch 
nur  Wasserstoffteilchen  durch  die  Glimmerplatte 
hindurch.  IVlit  Heliumfüllung  in  der  Entladungs- 
röhre bemerkt  man  nach  einiger  Zeit  auch  Helium- 
linien in  der  Geißlerröhre.  Es  können  also  außer 
Wasserstoffteilchen  auch  Heliumteilchen  die  Glim- 
merplatte durchdringen.'"*) 

Stößt  z.  B.  ein  Wasserstoffkanalstrahl  auf  ein 
ruhendes  Helium-  oder  Argongasatom,  so  wird  er 
auf  das-^elbe,  wenn  er  es  nicht  quer  durchdringt, 
eine  gewisse  Geschwindigkeit  übertragen  und  dank 
dieser  werden  dann  die  vom  gestoßenen  Helium- 
oder Argonatom  als  bewegter  Lichtquelle  ausge- 
sandten Spektrallinien  einen  Doppler- Effekt  auf- 
weisen. Durchquert  dagegen  das  Kanalsirahlen- 
atom  das  ruhende  Gasatoni,  wenn  auch  meistens 
nicht  zentral,  sondern  nur  in  den  äußeren  Atom- 
schichten, so  wird  es  dasselbe  zwar  ionisieren  und 
zum  Leuchten  bringen,  ihm  aber  hierbei  keine 
merkliche  Geschwindigkeit  erteilen;  es  werden  in 
diesem  Fall  die  Helium-  oder  Argonlinien  in  ihrer 
ganzen  Intensität  ruhend  erscheinen.  DasExperiment 
zeigte  Stark,*)  daß  hier  und  in  vielen  anderen 
Fällen  die  gestoßenen  Helium-,  Argon-  usw.  Atome 
nur  ruhende  Serienlinien  aussenden,  daß  also 
immer  Kanalstrahlenatom  und  gestoßenes  Atom 
während  ihres  Zusammenstoßes  sich  wechselseitig 
durchqueren.  Nur  wenn  die  schweren  Schwefel-, 
Argon-  oder  Quecksilberkanalstrahlenteilchen  auf 
die  leichten  Aluminiumgasatome  stoßen,  werden 
diese  nicht  durchquert,  sondern  es  wird  Bewegungs- 
energie auf  sie  übertragen ,  was  sich  an  dem 
schwachen  Doppler- Effekt  ihrer  Spektiallinien  zeigt. 
Auch  die  Alphastrahlen  [=  He '+- Atomionen]  radio- 
aktiver Substanzen  übertragen  auf  die  leichten 
Wasserstoffatome  recht  erhebliche  Geschwindig- 
keiten, i') 

Demnach  darf  der  Physiker  die  Atome  nur 
bei  kleinen  Geschwindigkeiten  als  elastische  Körper 
bei  Zusammenstößen  behandeln  und  auch  „der 
Chemiker  darf  sich  seine  Atome  nicht  als  loch- 
freie Verkettung  unterschiedlicher  Teilchen  vor- 
stellen, sondern  hat  sie  als  zwar  sehr  feste,  aber 
doch  weitmaschige  Strukturen  aufzufassen,  die  sich 
bei  großer  Geschwindigkeit  wechselseitig  zu  durch- 


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queren  vermögen,  während  sie  bei  kleiner  Ge- 
schwindigkeit wie  undurchdringlich  sich  verhalten 
und  nur  mit  ihren  Oberflächen  in  eine  wechsel- 
seitige Reaktion  treten".  *) 

Hier  sei  der  Hinweis  erlaubt,  daß  es  vielleicht 
noch  gelingen  wird  nicht  nur  Durchquerungen 
von  Atomen  zu  erzielen,  sondern  daß  es  bei  dieser 
Gelegenheit  unter  Um'-tänden  auch  zu  einer  Zer- 
trümmerung des  durchquerten  Atoms  kommen  mag. 
Bei  sehr  großen  Kanalstrahlengeschwindigkeiten  ist 
demnach  die  Zerlegung  und  Umwandlung  chemi- 
scher Elemente  durchaus  nicht  außer  dem  Bereich 
jeder  Möglichkeit. 

Wenn  ein  elektrisch  geladenes  Kanalstrahten- 
teilchen  mit  seiner  riesigen  Geschwindigkeit  von 
einigen  tausend  Kilometern  in  der  Sek.  auf  einen 
festen  Körper  aufprallt,  so  muß  es  notwendig  eine 
explosionsartige  elektrische  Welle  in  den  Raum 
hinaiissenden,  genau  wie  ein  aufschlagendes  Ge- 
schoß eine  Schallwelle.  Bei  der  plötzlichen  Brem- 
sung der  Kathodenstrahlen  sind  solche  Störungen 
und  Schwingungen  des  Äthers  [hypothesen freier: 
des  Dielektrikums' .--chon  längst  nachgewiesen:  es 
sind  dies  die  Röntgenstrahlen.  Bei  Heliumatomionen 
mit  2  positiven  Ladungen  He++  [=  «Strahlen 
radioaktiver  Stoffe]  von  15  000  km  Geschwindig- 
keit in  der  Sek.  wurde  das  Auftreten  von  schwachen 
y-Strahlen  [=  Röntgenstrahlen]  bei  der  Absorption 
durch  J.  Chadwick''^)  1912  beobachtet.  Beider 
Bremsung  von  gewöhnlichen  Kanalstrahlen  hat  bis 
jetzt  nur  J.  J.  Thomson'^)  Anzeichen  für  das 
Auftreten  einer  sehr  weichen,  d.  h.  äußerst  wenig 
durchdringungs'"ähigen  Röntgenstrahlung  gefunden. 

Nicht  nur  in  den  Vakuumröhren  kommen 
Kanalstrahlen  vor,  sondern  auch  in  der  freien 
Natur  spielen  Strahlen,  die  ihrem  Wesen  nach 
völlig  mit  den  Kanalstrahlen  übereinstimmen,  eine 
Rolle.  Ks  sind  dies  die  von  den  radioaktiven 
Stoffen  ausgesandten  «-Strahlen,  >-)  welche  nichts 
anderes  wie  Heliumatomionen  mit  2  positiven 
Elementarladungen  [He++]  von  einer  allerdings 
sehr  hohen  Geschwindigkeit  [13000  bis  20000  km 
in  der  Sek.]  darstellen.  IVlächiige  positive  Ionen- 
Strahlen*^")  haben  wir  höchstwahrscheinlich  auch 
in  den  seit  langem  bekannten  Protuberanzen  zu 
sehen,  welche  schnell  bewegte  leuchtende  Gas- 
massen sind,  die  von  der  Sonne  aufsteigen.  Die 
Spektren  derselben  sind  wie  die  der  leuchtenden 
Kanalstrahlen    durch    besondere    Einfachheit    aus- 


gezeichnet und  stimmen  weitgehend  mit  den 
Spektrallinien  der  Wasserstoff-Helium-  und  Calcium- 
kanalstrahlen  ^°)  überein.  Überdies  ist  die  direkt 
beobachtete  wie  die  aus  dem  Doppler- Effekt  be- 
rechnete Geschwindigeit  der  Proiuberanzen  von 
der  gleichen  Größenordnung  wie  diejenige  der  in 
Entladungsröhren  hergestellten  Kanalsirahlen. 
Neuere  Untersuchungen  von  Vegard")  haben 
es  auch  nahe  gelegt,  daß  das  Polarlicht  nicht  durch 
von  der  Sonne  ausgehende  Kathodenstrahlen  in 
den  höchsten  Schichten  der  Atmosphäre  hervor- 
gerufen wird,  sondern  daß  Wasserstoff-  oder  Helium- 
ionenstrahlen der  Sonne  von  gewaltiger  Ausdehnung 
die  Ursache  sind. 

Zusammenfassende  Literatur: 

I)  Vgl.  die  vorzügliche  ausführliche  Darstellung  der  posi- 
tiven Strahlen  durch  W.  Wien  im  IV.  Bd.  des  Handbuches 
der  Radiologie  (Akademische  Verlagsgesellschaft,  Leipzig  1917). 

3)  H.  V.  Dechend  und  W.  Hammer,  Bericht  über  die 
Kanalatrahlen  im  elektrischen  und  magnetischen  Feld.  Jahr- 
buch der  Radioaktivität  und  Elektronik  S.  34 — 91  Bd.  8 
(S.   Hirzel,  Leipzig    1911). 

3)  T.  Relschinsky,  Bericht  über  die  elektromagnetische 
Analyse  der  Kanalstrahten.  1910 — 1915.  Jahibuch  der  Radio- 
aktivität und   tClektronik  S.  66 — 125   Bd.   13  (1916). 

4)  J.  Stark,  Die  Träger  der  Spektren  der  chemischen 
Elemente.  Jahrbuch  der  Radioaktivität  und  Elektronik  S.  139 
bis  247  Bd.  14  (1917)- 

5)  J.  J.  Thomson,  Rays  of  positive  electricity  and  their 
applikalion  to  chemical  analysis  (Longmans  Green  and  Co. 
London   1913). 

6a)  Gehrcke  und  Reichenheim,  Die  positiven 
Strahlen.  Physik  S.  458 — 466  der  „Kultur  der  Gegenwart" 
(Teubner,  Leipzig   19:51. 

6b;  Gehrcke,  Die  korpuskulare  Strahlung  in  verdünnten 
Gasen.  S.  277 — 350  des  „Handbuchs  der  Elektrizität  und  des 
MagneiismusvonL.  Graetz"  Bd.  III  (J.  A.Barth,  Leipzig  1915). 

De)  Gehrcke,  Die  Strahlen  der  positiven  Elektrizität 
IS.  Hirzel,  Leipzig   1909). 

7)  J.  Stark,  Ionisierung  der  chemischen  Elemente  durch 
Elektronenstofl.  Jahrbuch  der  Radioaktivität  und  Elektronik 
S.  395-452  Bd.   13  (1916). 

Ü)  J.  Stark,  Die  Atomionen  chemischer  Elemente  und 
ihre  KanaUtrahlenspektra  (J.  Springer,  Berlin   1913). 


9)  Norman    Lockyer 


Studien 


Spektralanalyse 


Brockhaus,  Leipzig  1S79). 

10)  J.  Stark,  Elektrische  Spektralanalyse  chemischer 
Atome  (S.  Hirzel,   Leipzig   1914). 

11)  E.  Marsden,  Phil.  Mag.  27,  S.  824  (1914)- 

12)  Meyer  und  v.  Schweidler,  Radioaktivität. 
S.    136  (^Teubner,  Leipzig   I9I7)- 

13)  J.  J.  Thomson,  Phil.  Mag.  (6)  28,  S.  620—625 
(1914). 

14)  Vegard,  Über  die  physikalische  Natur  der  kosmischen 
Strahlen,  die  das  Nordlicht  hervorrufen.  Annalen  der  Physik 
S.  853—900  Bd.   50  Nr.   16  (J.  A.  Barth,  Leipzig  1916). 


Wegetiers  Verscliiebuiigstheorie. 

Von  Dr.  Ernst  Kelhofer,  Schafthausen. 
[Nachdruck  verboten!  Mit  3   Abbildungen   im  Text. 

Über  die  Entstehung  der  Kontinente  und  öffentlichungen  erfolgten  bereits  1912.  ^)  Seilher 
Ozeane  hat  der  junge  deutsche  Geophysiker  Dr.  erschien  eine  ausführlichere  Darstellung  der  Theorie 
Alfred  Wegener,    z.  Z.    im  Felde,    eine    neue  ;r~z — ~„     ,    ,    ,„       c-     ^-cr      jn.        ..-../    ,   , 

T.,  .  c  u^     1-  11     .     1    xr  .  •    1  )  Geol.  Rundsch.  III,  4  S.  267  ff.  und  Peterm.  Mi«.  (1912 

Theorie  aufgestellt,  die  er  selbst  als  Verschiebungs-      y.  ,s^ff.^  253  ff.  „„a  305  «f..  an  beiden  Orten  »mer  dem  Titel : 
theorie  bezeichnet.     Die  ersten  skizzenhaften  Ver-      nie  Entstehung  der  Kontinente. 


N.  F.  XVI.  Nr.  so 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


703 


als  Frucht  eines  dem  Verfasser  weg^en  Verwundung 
gewährten  Erholungsurlaubs.  ^)  Wegen  er  bringt 
darin  neue  Stützen  für  die  Richtigkeit  seiner 
Hypothesen. 

Daß  zwischen  weit  voneinander  entfernten, 
jetzt  durch  Ozeane  getrennten  Festlandsmassen 
ehedem  direkte  Verbindungen  bestanden  haben 
müssen,  das  ist  eines  der  sichersten  Ergebnisse 
wissenschaftlicher  Forschung,  gegen  welches  die 
von  amerikanischen  Geologen  neuerdings  vertretene 
Lehre  von  der  „Permanenz  der  Ozeane"  niemals 
wird  aufkommen  können.  Ein  ständig  wachsendes 
Beweismaterial  in  Form  zahlreicher  paläontologi- 
scher Funde  spricht  unzweideutig  dafür,  daß  sich 
Tier-  und  Pflanzenwelt,  jetzt  völlig  getrennte  Kon- 
tinente, einst  in  einem  durchaus  ungehinderten, 
auf  festem  Boden  sich  vollziehenden  Austausch 
befunden  haben  muß.  Diese  Talsachen  haben  zu 
der  noch  fast  aligemein  verbreiteten  Lehre  geführt, 
an  Stelle  der  heutigen  Tiefseen  hätten  früher 
Landverbindungen  bestanden,  die  dann  durch  ge- 
waltige Einbrüche  verschwunden  seien.  Solche 
breite  Landbrücken  dachte  man  sich  z.  B.  zwischen 
Afrika  und  Südamerika,  zwischen  Europa  und 
Nordamerika.  Durch  den  Zusammenbruch  uralter 
ausgedehnter  Kontinente  und  das  Absinken  von 
grofäen  Schollen  derselben,  sollen  die  Ozeane  ent- 
standen sein,  und  zwar  wurden  diese  Vorgänge 
alle  auf  den  sogenannten  Schrumpfungsprozeß  der 
Erdrind^  und  dieser  wieder  auf  die  fortschreitende 
.«Xbkühlung  der  Erdrinde  zurückgeführt. 

Gerade  diese  Kontraktionstheorie  ist  nun  aber 
schon  lange  nicht  mehr  von  allen  Fachleuten  an- 
erkannt, und  insbesondere  sind  aus  den  Kreisen 
der  Geophysiker  immer  neue  Bedenken  und  Ein- 
würfe gegen  sie  laut  geworden.  Wegen  er  faßt 
alle  diese  Einwände  zusammen  und  beweist  damit, 
daß  die  Kontraktionstheorie  heute  unhaltbar  ge- 
worden ist.  Es  ist  schon  sehr  fraglich,  ob  sich 
die  Erde  wirklich  abkühlt,  nachdem  die  wahr- 
scheinlich bedeutende  Energiequelle  bekannt  ge- 
worden ist,  die  die  Erde  in  den  radioaktiven  Stoffen 
besitzt,  durch  deren  Zerfall  fortgesetzt  Wärme  frei 
wird.  Es  ist  sehr  wohl  denkbar,  daß  der  Wärme- 
haushalt der  Erde  durch  diese  Energiequelle  völlig 
ausbalanziert  wird.  Aber  wenn  wir  auch  starke 
Temperaturänderungen  zugeben,  so  ist  doch  nicht 
zu  verstehen,  wie  sich  aus  ihnen  Faltungen  und 
Überschiebungen  von  so  riesigem  Ausmaß  erklären 
ließen,  wie  sie  erst  in  letzter  Zeit  festgestellt  worden 
sind.  Dazu  haben  die  Schweremessungen  ergeben, 
daß  unter  den  Ozeanen  schwereres  Gestein  liegt 
als  unter  den  Festländern,  während  das  Gegenteil 
zu  erwarten  war.  Also  können  die  Tiefseeböden 
nicht  abgesunkene  Festländer  sein.  Anderseits 
hat  Wallace  zuerst  erkannt,  „daß  auch  die 
heutigen  Kontinente  früher  keineswegs  den  Boden 
der  Tiefsee  gebildet  haben  können",  daß  sie  viel- 
mehr immer  nur  verhältnismäßig  wenig  tief  über- 


flutet gewesen  sind;  zahlreiche,  bis  jetzt  als  Tief- 
seeablagerungen betrachtete  Bildungen  sind  neuer- 
dings als  Flachseebildungen  erkannt  worden.  Eine 
weitere,  nicht  zu  übersehende  Schwierigkeit,  auf 
die  neben  anderen  besonders  Penck  hingewiesen 
hat,  besteht  bei  Annahme  früherer  riesiger  Konti- 
nente in  der  Frage:  Wo  waren  denn  damals  die 
ozeanischen  Wassermassen? 

Allen  diesen  Schwierigkeiten  will  nun  Wege  n  ers 
Verschiebungstheorie  entgehen.     Was  sagt  sie? 

Die  Kontinentalschollen  lagen  nach  Wegen  er 
früher  dicht  nebeneinander  und  bildeten  eine 
einzige  Tafel.  Diese  Tafel  wurde  später  durch 
Spalten  in  wenige  große  und  zahlreiche  kleinere 
Teile  voneinander  getrennt,  und  diese  sind  dann 
im  Verlaufe  der  geologischen  Zeiträume  auf  dem 
unter  ihnen  liegenden,  schwereren  Material  foit- 
geschoben  worden,  so  weit,  als  sie  heute  nunmehr 
voneinander  getrennt  sind. 


'-)  Sammlung  Viewe;;  (1915)  Heft  23:   Die  lintstelumg  de 
Kontinente  und  Ozeane. 


Hypsometrische  Kurve  der  Erdoberfläche.     Nach  Krümme! 

Die  geophysikalische  Begründung  muß  im 
einzelnen  bei  W  e  g  e  n  e  r  selbst  nachgelesen  werden. 
Hier  sei  nur  bemerkt,  daß  die  Beobachtungen  über 
die  Isostasie  (dns  Druckgleichgewicht)  der  festen 
Erdrinde  wichtige  Unterlagen  bilden.  Während 
die  bisherige  Lehrmeinung  die  feste  Lithosphäre 
in  allerdings  wechselnder  IVlächtigkeit  als  ge- 
schlossene Hülle  um  die  magmalische  Barysphäre 
herumgehen  läßt,  sind  nach  der  Verschiebungs- 
theorie „nur  noch  zusammengeschobene  Reste" 
derselben  in  Gestalt  der  Kontinente  da;  dagegen 
bestehen  die  Tiefseeböden  schon  aus  dem  magma- 
tischen Material  der  Barysphäre.  Einige  Tatsachen, 
die  für  diese  Annahme  sprechen,  seien  kurz  er- 
wähnt. Das  mittlere  Krustenniveau,  das  2300  m 
unter  dem  Meeresspiegel  liegt,  weist  keineswegs 
die  größte  Häufigkeit  auf  Das  müßte  aber  der 
Fall  sein,  wenn  Ozeane  und  Kontinente  nur  durch 
Senkung  und  Hebung  entstanden  wären.  In  Wirk- 
lichkeit besteht  jedoch  deutlich  ein  doppeltes 
Niveau,  wie  dies  aus  K  r  ü  m  m  e  1  s  hypsometrischer 


704 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  SO 


Kurve    der    Erdoberfläche     deutlich     hervorgeht, 
(vgl.  Abb.  I). 

Eine  befriedigende  Erklärung  ergibt  sich,  wenn 
man  mit  W  e  g  e  n  e  r  annimmt,  ,.daß  die  Kontinental- 
tafeln nur  noch  die  zerstückelten  und  durch  Zu- 
sammenschub stark  verkleinerten  Reste"  der  ehe- 
mals die  ganze  Erde  umschließenden  Lithosphäre 
sind.  Die  Böden  der  Ozeane  bestehen  also  nicht 
aus  dem  Material  der  Lithosphäre,  sondern  werden 
direkt  von  der  Barysphäre  gebildet,  und  in  dem 
schweren  Material  derselben  schwimmen  die  leichten 
Kontinentalschollen  ganz  ähnlich  wie  Eisschollen 
im  Wasser. 


Abb. 


getreuen 


Schnitt  im  größten  Kreis  durch  Südamerika  und  Afrik 
Größenverhältnissen. 
Gebirge,  Kontinente  und   ozeanische  Vertiefungen  bilden  so  geringfügige  Un- 
ebenheiten,   daß    sie    sich    innerhalb    der  Kreislinie    abspielen,    welche    in  der 
Figur    die    Erdoberfläche    bezeichnet.     Zum  Vergleiche    sind    auch  die  Haupt- 
schichten der  Atmosphäre  eingetragen. 

Dafür,  daß  das  Material  der  Meeresböden  ein 
anderes  ist  als  das  der  Festländer,  lassen  sich 
wohl  keine  direkten  Beweise  erbringen;  allein 
schon  das  Relief  der  Tiefseeböden  scheint  für  die 
Richtigkeit  einer  solchen  Annahme  zu  sprechen. 
Man  weiß  seit  geraumer  Zeit,  daß  der  Tiefsee- 
boden auf  große  Strecken  hin  ganz  auffällig  ge- 
ringe Höhenunterschiede  aufweist.  Das  war  aus 
Gründen  der  Isosta«ie  nicht  zu  erwarten.  Die 
Tatsache,  daß  der  Meeresboden  unerwartet  eben 
ist,  machte  es  wahrscheinlich,  daß  er  eine  größere 
Plastizität  besitzt  als  die  Kontinentaltafeln.  Auch 
das  Fehlen  von  Faltengebirgen  auf  den  Ozean- 
böden spricht  dafür,  daß  hier  die  schwere,  mag- 
matische Barysphäre  entblößt  ist. 

Die  Lithosphäre  ist  somit  auf  die  Kontinente 
beschränkt.  Diese  bestehen  jedoch  in  der  Haupt- 
sache aus  Gneis  und  gneisähnlichem  Material;  die 
im  Durchschnitt  nur  2400  m  mächtige  Sediment- 
decke kann  als  eine  Art  oberflächlicher  Verwitte- 
rungsschicht betrachtet  werden.  Nach  dem  Vorgang 
von  Süeß  bezeichnet  nun  Wegen  er  die  Ge- 
samtheit der  gneisartigen  Urgesteine  der  Konti- 
nentalschollen als  „Sal",  nach  den  Anfangsbuch- 
staben der  Hauptbestandteile  Siliciimi   imd  Alumi- 


nium. Das  Material  der  Tiefseeböden  benennt  er 
im  Gegensatz  zu  Sal  mit  „Sima",  welchen  Aus- 
druck Süeß  für  die  vulkanischen  Erupti^/gesteine 
(nach  den  Bestandteilen  Silicium  und  Magnesium) 
eingeführt  hat. 

Die  Kontinentaltafeln,  die  salischen  Schollen, 
bestehen  aus  kristallisiertem  Material,  dem  jedoch 
eine  gewisse  Plastizität  zugesprochen  werden  muß, 
was  sich  aus  der  Tatsache  des  gebirgsbildenden 
Zusammenschubes  und  der  Fältelung  im  einzelnen 
ergibt.  Diese  Plastizität  nimmt  nach  unten  unter 
der  Wirkung  der  Druck-  und  Temperatursteigerung 
zu.  Die  Mächtigkeit  wird  zu  100  km  angenom- 
men. Dieser  Wert  beruht  nicht  nur 
auf  bloßen  Schätzungen.  Er  hat  sich 
aus  Lotabweichungen  in  Nordamerika 
berechnen  lassen  und  steht  in  be- 
friedigendem Einklang  mit  Pendelbe- 
obachtungen und  Ergebnissen  der 
Erdbebenforschung.  Die  Salschollen 
sind  leichter  als  das  Sima.  Sie 
schwimmen  auf  diesem.  Sie  können 
sich  auf  ihm  verschieben.  Der  Schmelz- 
punkt der  salischen  Gesteine  liegt 
allgemein  etwa  200 — 300"  C  höher 
als  der  dersimischen.  An  der  Unter- 
seite der  Kontinentalschollen  darf 
dieses  Verhältnis  vollends  angenom- 
men werden.  Bei  einer  bestimmten 
Temperatur  ist  also  das  Sal  Ijier  fest, 
das  Sima  flüssig.  Es  sind  auch  ge- 
wisse Anzeichen  dafür  da,  daß  das 
Sal  bisweilen  an  der  Unterseite 
von  KonlinentalschoUen  geschmolzen 
wird. 

Das  Sima  haben  wir  uns  zäh- 
flüssig, jedoch  etwa  im  Sinne  der 
hohen  Plastizität  des  Gletschereises,  vorzustellen. 
Auf  resp.  in  ihm  schwimmt  das  Sal  nicht  nur, 
die  leichteren  Salschollen  können  im  schwereren 
Sima  auch  Verschiebungen  erfahren. 

Die  Entwicklung  der  Erdrinde  denkt  sich 
Wegener  wie  folgt:  Das salische  Material  bildete 
ursprünglich  wohl  eine  geschlossene  Haut  um  das 
Sima  herum,  das  seinerseits  in  etwa  lOOO  km  Mäch- 
tigkeit den  hauptsächlich  aus  Nickel  und  Eisen 
bestehenden  Kern  der  Erde  umschließt,  der  nach 
Süeß  den  Namen  Nife  trägt  (Abb.  2).  Diese  ge- 
schlossene salische  Haut,  wies  eine  bedeutend 
geringere  Mächtigkeit,  von  etwa  35  km,  auf.  Im 
Verlaufe  der  Zeit  müßte  sie  sich  dann  allerdings 
bis  auf  ein  Drittel  ihrer  früheren  Ausdehnung 
zusammengeschoben  haben,  denn  die  Kontinental- 
scholen  machen  heute  35  "/,,  der  ganzen  Erdober- 
fläche aus.  Diese  Annahme  läßt  sich  jedoch  sehr 
wohl  stützen;  denn  ein  Zusammenschub  auf  ein 
Drittel  ist,  wie  es  scheint,  ein  normaler  Wert  für 
die  Gebirgsfaltung.  Wir  hätten  somit  nur  anzu- 
nehmen, daß  alle  salischen  Schollen  schon  einmal 
durchgefaltet  wurden,  wofür  Anhaltspunkte  vor- 
handen sind.  —  Die  ozeanischen  Wassermassen 
hätten  im  Anfang  als  eine  „Panthalassa"  von  etwa 


N.  F.  XVI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


7or 


3  km  Tiefe  der  ganzen  Erde  bedeckt.  Damit 
stimmen  die  paläontologischen  Tatsachen  überein, 
daß  es  vor  dem  Devon  noch  keine  Landpflanzen, 
vor  dem  Silur  noch  keine  lungenatmenden  Tiere 
gab.  —  Dann  folgte  das  Aufreißen  der  salischen 
Rinde  und  Scheidung  des  Meeres  in  F"lach-  und 
Tiefsee;  weiterhin  Zusammenschub  der  salischen 
Kruste  und  damit  Auftauchen  der  Kontinental- 
massen, die  zunächst  eine  große  Tafel  bilden. 
In  dieser  kommt  es  in  der  Folge  zu 
riesigen  Abspaltungen.  So  haben  wir  uns 
z.  B.  „den  Atlantik  als  eine  erst  im  Tertiär 
aufgerissene  riesenhafte  Spalte"  vorzustel- 
len. Die  dadurch  voneinander  getrennten 
Tafelstücke  lagen  zunächst  noch  nahe  an- 
einander, wurden  aber  im  Verlauf  der 
geologischen  Zeiträume  durch  einstweilen 
noch  unbekannte  Kräfte  immer  weiter  von- 
einander geschoben.  So  wurde  die  neu- 
wehliche  Kontinentalscholle  immer  mehr 
von  der  altweltlicheu  abgetrieben,  wobei 
„am  Westrande  der  amerikanischen 
Schollen  die  langen  Gebirgsketten  der 
Anden  aufgestaut  wurden",  während  sich 
die  gewaltige,  nordsüdliche  Spalte  all- 
mählich zur  heutigen  Ausdehnung  des 
Atlantiks  erweiterte  —  alles  Prozesse,  die 
auch   jetzt    noch  im  Gang  sind. 

Nehmen  wir  nunmehr  den  Atlas  zur 
Hand,  so  wird  uns  die,  übrigens  schon 
früher  beobachtete,  unverkennbare  Paralle- 
lität der  atlantischen  Küstenlinien  sofort  in 
die  Augen  fallen.  Sie  allein  schon  spricht 
dafür,  daß  diese  Küsten  die  Ränder  einer 
ungeheuer  erweiterten  Spalte  darstellen. 
Verfolgt  man  die  Linien,  so  zeigt  sich,  daß 
jeder  Vorsprung  auf  der  einen  Seite  in  eine 
Ausbuchtung  der  anderen  paßt.  Durch 
Einbruch  des  Zwischenlandes,  das  ca. 
50CO  km  Breite  besessen  haben  müßte, 
kann  keine  derartige  Kongruenz  entstehen. 
Man  darf  darum  auch  die  großzügige 
Parallelität  der  atlantischen  Küsten  als 
eine  der  Stützen  (wenn  auch  nicht  die 
bedeutsamste)  der  Verschiebungstheorie 
betrachten. 

Wichtiger  ist,  daß  sich  beim  Zusam- 
menfügen der  Schollen  auch  keine  Un- 
stimmigkeiten der  Struktur  ergeben.  Das 
müßte  doch  offenbar  der  Fall  sein,  wenn 
die  Schollen  stets  in  dem  heutigen  Ab- 
stand von  4— 5000  km  voneinander  ab- 
gelegen hätten.  Nun  erscheint  aber  in 
der  i'at  auf  der  ganzen  Linie  die  Struk- 
tur der  einen  Seite  als  die  genaue  Verlängerung 
der  entsprechenden  der  anderen  Seite.  Nur 
zwei  markante  Beispiele  seien  erwähnt.  Das 
sogenannte  armorikanische  Gebirge  der  nord- 
westeuropäischen Kohlenlager  bricht  bekannt- 
lich gegen  den  atlantischen  Ozean  mit  einer 
steilen  Riasküste  ab,  die  aber  unmöglich  das 
natürliche    Ende    dieses  Gebirgsbaues    sein    kann. 


Nach  der  Verschiebungstheorie  findet  es  seine  un- 
mittelbare Fortsetzung  in  den  Kohlenlagern  Nord- 
amerikas, wo  ebenfalls  ein  karbonisches  Falten- 
gebirge vorliegt,  das  wie  das  europäische  nach 
Norden  gefaltet  ist  und  wie  dieses  jäh  in  Gestalt 
einer  typischen  Riasküste  am  Meer  ausstreicht. 
Und  Hauptsache:  Fauna  und  Flora  nicht  nur  der 
karbonischen  sondern  auch  der  älteren  Schichten 
zeigen    eine   unzweifelhafte    Identität,    die    immer 


deutlicher  wird,  je  mehr  das  Beobachtungsmaterial 
hüben  und  drüben  anwächst.  —  Und  ein  zweites 
Beispiel :  Das  höchst  eigenartige,  gegen  das  übrige 
Afrika  scharf  abstechende  Kapgebirge  setzt  sich, 
wie  Keidel  I9i4ganz unabhängig  von  Wegener 
nachwies,  nach  Südamerika  in  Gestalt  der  Sierren 
südlich  von  Buenos  Aires  fort,  welche  in  Bau  und 
Geschichte    vollständig    mit   ihm    übereinstiminen. 


7o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  so 


„Hier  müßte  man  bei  unveränderlicher  Entfernung 
der  Kontinente  annehmen,  daß  eine  Verbindungs- 
strecke von  6700  km  Länge  versunken  sei,  um 
die  beiden  Stümpfe  im  Osten  und  Westen  mit- 
einander zu  verbinden!  Bei  dem  rekonstruktiven 
Zusammenfügen  der  südamerikanischen  und  afrika- 
nischen Scholle  werden  dagegen  die  beiden  Partien 
gerade  zur  Berührung  gebracht"  (vgl.  Abb.  3). 

Eine  Gruppe  von  Erscheinungen  liefert  eine 
besonders  starke  Stütze  für  die  Richtigkeit  der 
Verschiebungshypothese,  nämlich  die  permisch - 
karbonische  Eiszeit.  Spuren  derselben 
finden  sich  in  Südamerika,  Südafrika,  Vorderindien 
und  Australien,  also  in  räumlich  sehr  weit  von- 
einander abliegenden  Gebieten.  Sie  zu  erklären, 
hat  man  Pohvanderungen  angenommen.  Allein 
wenn  man  auch  den  Pol  an  die  günstigste  Stelle 
verlegte,  nämlich  mitten  in  den  Indischen  Ozean, 
so  erhielten  die  fernsten  Gebiete  mit  Inlandeis 
immer  noch  geographische  Breiten  von  30—35  Grad, 
so  daß  z.  B.  die  Eisfelder  Indiens  so  weit  von  ihm 
ablägen  wie  Algier  und  Tunis  vom  heutigen 
Nordpol.  Man  müßte  sich  also  die  ganze  Süd- 
halbkugel  mit  Inlandeis  überdeckt  vorstellen, 
während  die  ganze  entsprechende  Nordhalbkugel, 
wie  die  Tatsachen  es  dartun,  eisfrei  war.  Daß 
eine  solche  Vereisung  nur  der  einen  Erdhälfte  in 


astronomischer  wie  in  klimatologischer  Hinsicht 
ein  Unding  ist,  kann  kaum  zweifelhaft  sein.  Gerade 
hier  liefert  nun  die  Wegene rsche Verschiebungs- 
theorie den  einzig  völlig  befriedigenden  Erklärungs- 
versuch. Nach  ihr  rücken  Südamerika  (samt  den 
Falklandsinseln),  Vorderindien  und  Australien  (samt 
Neuseeland)  konzentrisch  auf  Südafrika  zusammen. 
DerSüdpol  lag  inmitten  seiner  Glazialerscheinungen, 
in  Südafrika.  Die  um  ihn  lagernde  Eiskappe 
hatte  eine  Ausdehnung,  die  ungefähr  derjenigen 
der  diluvialen  Nordpoleiskappe  entpricht,  so  daß 
keine  abenteuerliche  Vereisung  der  ganzen  Süd- 
halbkugtl  mehr  angenommen  werden  muß.  Aber 
auch  der  permkarbonische  Nordpol  macht  jetzt 
keine  Schwierigkeiten  mehr,  denn  er  kommt  nach 
der  Verschiebungstheorie  auf  heute  20  Grad  Nord- 
breite mitten  in  den  Pazifik  zu  liegen,  wo  keine 
Glazialbiidungen  erzeugt  werden  konnten. 

So  ist  die  We  gener 'sehe  Hypothese  sehr 
wohl  und  mannigfach  begründet.  Es  darf  ihr 
zum  mindesten  jetzt  schon  der  Wert  einer  Arbeits- 
hypothese zugesprochen  werden.  Sie  wird  zweifel- 
los zu  einer  Reihe  neuer  Fragestellungen  auf  den 
verschiedensten  Gebieten  Veranlassung  geben,  vor 
allem  natürlich  in  der  Geologie  und  ihren  Nach- 
bardisziplinen, aber  auch  in  Tier-  und  Pflanzen- 
geographie. 


Einzelberichte. 


Meteorologie.  Mit  dem  Einfluß  des  Geschütz- 
feuers und  der  Minensprengungen  auf  die  Witterung 
beschäftigte  sich  abermals  die  Pariser  Akademie  der 
Wissenschaften  in  ihrer  Sitzung  vom  6.  August  1917 
(Hildebrandson  H.,  Quelques  motssur  l'influence 
possible  des  grands  canonnades  sur  la  pluie. 
C.  R.  t.  165  Nr.  6).  Wie  man  wisse,  sei  die  älteste 
Theorie  über  die  Ursache  des  Regens  jene  von 
JamesHutton(i  784).  Danach  sei  das  Zusammen- 
treffen von  zwei  Luftmassen,  die  entweder  ganz 
oder  fast  ganz  mit  Wasserdampf  gesättigt  smd, 
stets  von  einer  Kondensation  oder  von  einem 
Niederschlag  begleitet.  Man  wisse  jetzt  aber,  daß 
eine  solche  Vermischung  niemals  einen  heftigen 
Regenfall  veranlassen  könne,  sondern  höchstens 
Wolken-  und  Nebelbildung  begünstigte.  1867  habe 
als  erster  Peslin  die  Formeln  der  Thermodynamik 
auf  die  atmosphärischen  Erscheinungen  in  An- 
wendung gebracht  in  seinem  Werk:  Sur  les 
mouvementsgcneraux  de  l'atmosphere  (veröffentlicht 
im  Atlas  meteorologique  des  Pariser  Observato- 
riums). Er  untersuche  darin  die  Temperaturver- 
änderung einer  mit  Wasser  gesättigten  und  einer 
nicht  gesättigten  Lufimenge,  welche  in  höhere 
oder  tiefere  Schichten  der  Atmosphäre  gelangen, 
und  weise  nach,  daß  eine  Hauptursache  des  Regens 
in  der  dynamischen  Abkühlung  einer  aufsteigenden 
Lufimasse  zu  suchen  sei.  Durch  das  Sinken  werde 
dagegen  die  Luft  erwärmt  und  könne  deshalb 
keine  Verdichtung  des  Wasserdampfes  hervorrufen. 


Bekanntlich  bauten  später  Hann,  vonBezold 
u.  a.  auf  diesen  Ergebnissen  Peslin's  weiter,  und 
gegenwärtig  seien  folgende  Sätze  zu  allgemeiner 
Gültigkeit  gelangt: 

1.  Die  Vermischung  von  zwei  mit  Wasserdampf 
gesättigten  Luftmengen  kann  niemals  heftigen  Regen 
hervorbringen. 

2.  Eine  herabsinkende  Luftmasse  kann  nie 
Regen  veranlassen,  wohl  aber  die  Temperatur 
steigern  und  die  in  den  oberen  Luftschichten 
herschende  Trockenheit  erhöhen. 

3.  Die  Hauptursache  des  Regens  ist  in  der 
Abkühlung  eines  aufsteigenden  Luftstroms  zu 
suchen. 

Längere  Zeit  glaubte  man,  daß  die  Verdünnung 
der  mit  Wasserdampf  gesättigten  Luft  genüge,  um 
die  Bildung  von  Regen  zu  veranlassen.  Neue 
Versuche  hätten  indessen  gezeigt,  daß  dies  nicht 
zutreffe.  Schon  1875  habe  C  ou Her  nachgewiesen, 
daß  das  Vorhandensein  von  in  der  Luft  suspen- 
dierten Staubteilchen  zur  Kondensation  notwendig 
sei.  Coulier's  Ergebnisse  wurden  durch  die 
verschiedenartigsten  Versuche  bestätigt  von 
Mascart,  Vueßling,  Helmholiz  Aitken 
und  Melander.  Wie  später  Wigand  zeigte, 
gäbe  es  gewisse  Staubarten,  welche  keine  Konden- 
sation veranlassen,  so  z.  B.  der  reine  Kohlenstaub. 
Hygroskopischer  Staub  dagegen  veranlasse  eine 
solche  sehr  leicht;  so  wäre  der  Rauch  z.  B.  sehr 
wirksam     wegen    der    hygroskopischen    Teilchen, 


N.  F.  XVI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


1^1 


die  mit  dem  reinen  Kohlenstaub  gemischt  sind . 
Endlich  hätten  Thomson.Aitken.Langevin, 
Chauveau,  Frau  Curie  u.  a.  bewiesen,  daß 
Ionen  oder  ionisierte  Teilchen,  besonders  negative, 
am  wirksamsten  den  Wasserdampf  kondensieren. 
Es  stehe  nun  außer  Zweifel,  daß  das  häufige  und 
lang  andauernde  Geschützfeuer  einen  Einfluß  auf 
den  Regenfall  haben  könne.  Die  erste  Bedingung 
allerdings  sei,  daß  die  Luft  Wasserdampf  bis  zur 
Sättigung  erhalte.  Das  Geschützfeuer  könne  dann 
lediglich  den  Regenfall  beschleunigen,  der  auch 
sonst  eingetreten  wäre. 

Ein  diesbezüglicher  Versuch  sei  in  Amerika 
angestellt  worden.  Es  war  eine  große  Summe 
ausgesetzt,  um  Mittel  ausfindig  zu  machen,  durch 
v/elche  Regenfall  entstehen  könne.  Die  Versuche 
wurden  1892  ausgeführt  in  der  Gegend  von  San 
Antonio  (Californien),  da  man  dort  sehr  unter 
trockener  Witterung  zu  leiden  halte.  Es  wurden 
2000  kg  bzw.  2270  kg  eines  Sprengmiltels  (Rosselit) 
zur  Explosion  gebracht;  außerdem  ließ  man  je 
150  Bomben  platzen  und  8  bzw.  12  Ballone 
explodieren,  welche  nur  Rauchgas  enthielten  und 
gegen  die  Wolken  aufgestiegen  waren.  Im  Norden 
herrschte  tiefer,  im  Süden  hoher  Druck;  die  Tem- 
peratur war  22.2  ^  C,  der  Taupunkt  l6,i  "  C.  Die 
Versuche,  welche  zwei  Tage  dauerten,  verliefen 
gänzlich  erfolglos,  was  nach  dem,  was  wir  von 
der  Bildung  des  Regens  wissen,  auch  selbverständlich 
war.  Es  bestehe  also  die  Ansicht  von  Deslandres 
zurecht,  daß  ein  Einfluß  des  Artilleriefeuers  auf 
den  Regenfall  nur  unter  gewissen  Bedingungen 
stattfindet,  besonders  insoweit  es  sich  um  lokale 
Niederschläge  handelt.  Sehr  reichliche  und  an- 
dauernde Regenfälle  dagegen  können  nach  Lemoine 
nur  durch  starke  Lufiströme  und  durch  Gewitter 
veranlaßt  werden. 

Die  von  S  e  b  e  r  t  aufgeworfene  Frage,  ob  das 
Geschützfeuer  auch  in  weiter  Entfernung  vom 
Schlachtfelde  Regen  veranlassen  könne,  stoße  auf 
größere  Schwierigkeiten.  Es  müsse  vorausgesetzt 
Werden,  daß  große  Luftmassen  am  Oite  der  Ex- 
plosionen sich  erheben  und  in  der  Höhe  auf  Luft- 
schichten stoßen,  welche  mit  Wasserdampf  gesättigt 
seien ;  erst  dann  sei  es  möglich,  daß  sie  Regen- 
fälle verursachen.  Nur  durch  Versuche  könne 
diese  Frage  gelöst  werden;  es  sei  auch  wenig 
wahrscheinlich,  daß  eine  solche  Beeinflussung  der 
Wetterlage  auf  große  Entfernung  hin  stattfinde. 
Man  könne  nicht  annehmen,  daß  die  während  des 
Krimkrieges  in  Frankreich  beobachteten  Regenfälle 
durch  die  Schlachten  im  Süden  Rußlands  ver- 
anlaßt worden  wären.  Es  konnten  ofifenbar  keine 
großen  Luftmassen  der  Erdoberfläche  entlang  über 
hohe  Gebirge  und  durch  tiefe  Täler  sich  bewegen. 
Je  höher  man  sich  in  der  Atmosphäre  erhebe, 
um  so  mehr  stoße  man  auf  eine  von  West  nach 
Ost  gerichtete  Luftströmung,  welche  von  den 
wärmeren  Gegenden  komme  und  immer  beständiger 
werde.  Die  Ständigkeit  dieses  in  der  Höhe  der 
Cirruswolken  (7 — 10  km)  herrschenden  Windes 
sei    i^gestellt    durch    Beobachtung    von    Wolken 


und  Luftballonen.  Die  Verschiebung  großer  Luft- 
massen von  Ost  nach  West  sei  wegen  dieser 
regelmäßig  herrschenden  Windrichtung  unmöglich. 
S  e  b  e  r  t  berichtet,  daß  vulkanischer  Staub  oft  lange 
Zeit  in  den  höchsten  Schichten  der  Atmo'^phäre 
schweben  bleibe  und  einen  grauen,  den  Himmel 
bedeckenden  Schleier,  ja  sogar  trockenen  Nebel 
und  rote  Dämmerungserscheinungen  hervorrufe, 
beim  Ausbruch  des  Aetna  (1723),  auf  Island  (1783), 
des  Krakatau  (1883)  und  des  Viatmai  (19 12);  bei 
dem  des  Krakatau  blieben  ungeheure  Massen 
feinsten  Staubes  während  mehrerer  Jahre  in  den 
höchsten  Luftschichten  schwebend;  noch  1890 
sah  man  sie  in  hellen  Nächten  als  „Silberwolken", 
deren  mittlere  Höhe  Jesse  zu  82  km  bestimmte. 
Dieser  Staub  habe  also  die  Stratosphäre  erreicht, 
wo  senkrechte  Bewegungen  nicht  mehr  vorkommen 
und  wo  die  Temperatur  (—  60  "^j  fast  unveränderlich 
bleibe.  Dieser  Staub  sei  also  sehr  langsam  und 
in  sehr  kleinen  Mengen  in  die  tieferen  Luftregionen 
heruntergefallen  und  habe  keinen  Regen  in  den 
sehr  trockenen  Luftschichten  verursachen  können. 
Übrigens  erreiche  auch  der  stärkste  von  Minen 
herrührende  Rauch  eine  solche  Höhe  nicht. 

Kathariner. 

Um  die  äußere  Zone  abnormer  Hörbarkeit,  die 
während  des  Krieges  häufig  beobachtet  worden 
ist,  zu  erklären,  hat  v.  d.  Borne  angenommen, 
daß  die  schräg  nach  oben  dringenden  Schall- 
strahlen an  der  Grenze  der  in  70  bis  100  km 
Höhe  befindlichen  Grenze  der  Stickstoff-,  Sauer- 
stoff- und  der  Wasserstoft'- Atmosphäre  wieder 
nach  unten  gebogen  werden  und  so  zur  Erde 
zurück  gelangen.  E.  Schrödinger  (Wien) 
kommt  in  der  Physik.  Zeitschr.  XVIII  (191 7) 
S.  445  auf  Grund  seiner  Untersuchungen  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  Dämpfung  der  Schallwellen 
durch  Wärmeleitung  und  innere  Reibung  so  be- 
trächtlich ist,  daß  V.  d.  Borne's  Theorie 
höchst  unwahrscheinlich  ist.  Die  Dämp- 
fung der  Schwingung  der  Luftmoleküle  einer 
ebenen  Schallwelle  ist  in  Luft  von  Almosphären- 
druck  gering,  jedoch  nimmt  sie  nach  den  Unter- 
suchungen von  Stockes,  Kirch  ho  ff  und 
Rayleigh  mit  wachsender  Verdünnung  zu,  um 
sich  allmählich  stark  bemerkbar  zu  machen.  Die 
Beobachtung,  daß  durch  größere  Entfernungen 
hin  fortgepflanzten  Tönen  und  Geräuschen  auf 
hohen  Bergen  alles  Harte  fehlt,  daß  es  bei  Hoch- 
fahrten im  Ballon  schwierig  ist,  sich  über  weitere 
Strecken  zu  verständigen,  bestätigen  dieses  Resultat. 
Daß  eine  stärkere  Dämpfung  mit  abnehmendem 
Druck  eintreten  wird,  kann  man  ohne  alle  mathe- 
matischen Hilfsmittel  auf  folgende  Weise  plausibel 
machen:  Während  bei  Atmosphärendruck  die 
freie  Weglänge  —  d.  i.  die  Strecke,  die  ein  Molekül 
im  Mittel  zwischen  zwei  Zusammenstößen  zurück- 
legt —  außerordentlich  klein  ist,  nimmt  sie  bei 
kleiner  werdendem  Druck  (Dichte)  zu.  Nähert  sie 
sich  der  Wellenlänge  der  Schallwellen,  dann 
findet,   da   Schallgeschwindigkeit    und    Molekular- 


7o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  so 


geschwindigkeit  von  derselben  Größenordnung 
sind,  ein  Austausch  zwischen  den  Stellen  ver- 
schiedener Dichte  und  Temperatur  und  den  Orten 
verschiedener  Massengeschwindigkeit  der  Schall- 
welle statt;  es  wird  ein  Transport  von  Wärme 
und  Bewegungsgröße  zwischen  den  verschiedenen 
Teilen  der  Welle  vermittelt,  so  daß  eine  Störung 
der  regelmäßigen  Wellenausbreitung,  der  mit 
steigender  Verdünnung  wächst,  eintritt.  Schließ- 
lich wird  die  Wellenbildung  überhaupt  unmöglich. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  Dämpfung  für 
kurze  Wellen  größer  ist  und  schon  bei  höheren 
Drucken  eintritt  als  für  lange.  Töne,  deren 
Wellenlänge  kleiner  als  lO  m  ist,  werden  schon 
in  verhältnismäßig  tiefen  Schichten  der  Atmo- 
sphäre vollkommen  ab^^orbiert.  Es  ist  ausge- 
schlossen, daß  längere  Wellen  (die  tiefsten  in  der 
Musik  verwendeten  haben  eine  Wellenlänge  von 
etwa  30  m)  bis  zu  einer  Höhe  von  80  km  in 
der  Luft  von  o"  senkrecht  nach  oben  dringen. 
Da  nun  einerseits  die  Temperatur  mit  der 
Höhe  abnimmt  und  andererseits  die  Wellen 
schräg  nach  oben  verlaufen,  wird  die  Sachlage 
noch  ungünstiger.  Es  ist  demnach  sehr  unwahr- 
scheinlich, daß  Schallenergie  von  merklicher  Inten- 
sität bis  an  die  etwa  in  dieser  Höhe  anzunehmende 
Grenze  der  Wasserstoffatmosphäre  hinaufdringt. 
K.  Seh. 


Mikrotechnik.  Färbung  mikroskopischer  Prä- 
parate mit  Farbstiften.  In  seiner  Eigenschaft  als 
Korpshygieniker  fand  E.  Friedberg  er  (Münch. 
med.  Wochenschr.  1916.  S.  1675  ff.),  als  er  einmal 
im  Felde  Ausstrichpräparate  schnell  durchzusehen 
und  gerade  keine  Farblösung  zur  Hand  hatte,  daß 
eine  intensive  und  distinktive  Färbung  der  Präparate 
mit  Hilfe  eines  Tintenstiftes  (Kopierstiftes)  möglich 
ist.  —  Der  eigentliche  Farbbestandteil  des  Tinten- 
stiftes ist  das  Methylviolett,  d.  Ref.  —  Es  ge- 
nügte etwas  Wasser  auf  das  vorher  in  der  Flamme 
fixierte  Präparat  zu  tupfen  und  in  dieses  etwas 
Farbmasse  zu  bringen,  was  sich  durch  sekunden- 
langes Hin-  und  Herschwenken  des  Stiftes  im 
Wasser  bewerkstelligen  ließ. 

Dieser  Verlegenheits  versuch  brachte  nun  P'ried  - 
berger  auf  den  Gedanken,  der  unterdessen  in  die 
Tat  umgesetzt  ist,  die  für  mikroskopische  Färbungen 
am  häufigsten  benutzten  Farbstoffe  und  Mischungen 
in  Form  derartiger  Stifte  herstellen  zu  lassen.  Die 
HerstellungübernahmdieFirma  Paul  Altmann, 
Berlin  N.W.  6. 

Der  Vorteil  liegt  auf  der  Hand.  Die  Stifte 
machen  das  lästige  Mitführen  der  verderbenden 
und  eintrocknenden  I-'arblösungen  überflüssig 
(Feld,  Expeditionen,  Tropen  usw.).  Dem  prak- 
tischen Ärzie,  der  nur  selten  zu  färben  hat, 
sind  sie  schnell  zur  Hand.  In  bakteriologischen 
Kursen,  namentlich  für  Anfänger,  gestatten  sie  ein 
sauberes  Arbeiten.  Bei  jedem  Präparat  lassen  sich, 
mit  ganz  schwachen  Konzentrationen  beginnend, 
die   jeweils  erwünschten  Lösungen  erzielen,    ohne 


daß  vorher  im  Glase  die  brauchbaren  Verdün- 
nungen hergestellt  werden  müssen.  Durch  Zusatz 
von  entsprechenden  Chemikalien  zu  der  Stiftmasse 
kann  man  auch  fertige  zugleich  beizende,  difteren- 
zierende  usw.  Farblösungen  erhalten.  Der  Material- 
verbrauch ist  minimal  und  sehr  sparsam;  die 
Stifte  selbst  sehr  billig.  Zu  den  Stiften  wird  ein 
praktischer  Halter  geliefert. 

Zunächst  sind  folgende  sechs  „Farbstifte  nach 
E.  F  r  i  e  d  b  e  r  g  e  r"  hergestellt  worden :  Universal- 
stift, Rotstift,  Blaustift,  Karbolfuchsinstift,  Chrysoi- 
dinstift  und  Giemsastift,  von  denen  allerdings  der 
Kriegsverhältnisse  wegen  nur  die  ersten  drei  augen- 
blicklich geliefert  werden.  Auf  diese  Weise  her- 
stellbar sind  aber  fast  alle  gebräuchlichen  Farb- 
lösungen und  Kombinationen. 

Der  Universalstift  (violett)  z.  B.  eignet  sich  für 
fast  alle  notwendigen  Färbungen  von  Mikroorga- 
nismen. Ein  einmaliges,  kurzes  Eintauchen  und 
Umrühren  des  Stiftes  in  dem  auf  dem  fixierten 
Objektträger-  oder  Deckglaspräparate  befind- 
lichen Wasser  genügt,  um  sehr  distinkte  Färbungen 
von  Bakterien  (Eiter,  Gonokokken  usw.)  zu  er- 
halten. Er  liefert  auch  vorzügliche  Gramfärbungen. 
Die  Narhfärbung  geschieht  mit  dem  Rotstift.  Auf 
dem  Deckglase  aufgeklebte  Organschnitte  lassen 
sich  so  gut  wie  Ausstrichpräparate  nach  Gram 
färben.  Die  gefärbt^  Ausstriche  und  Schnitte 
halten  sich  mindestens  5  Monate. 

Neuerdings  teilt  Hans  Lipp  (Münch.  med. 
Wochenschr.  1917.  S.  702  ff.)  seine  unterdessen  an 
etwa  1000  Farbstiftfärbungen  gewonnenen  Er- 
fahrungen mit.  Er  ist  angenehm  überrascht  von 
den  tadellosen  Färbungen,  die  mit  den  Stiften 
erzielt  werden  und  empfiehlt  sie  besonders  den 
Feldlazeretten  und  Ärzten  im  Felde,  denn  „sie 
sind  in  jeder  Westentasche  wie  Bleistifte  mitzu- 
nehmen. Sie  benötigen  zur  Auflösung  lediglich 
Brunnen-  oder  Regenwasser.  Der  Verbrauch  der 
F"arbstiftmasse  ist  sehr  gering;  der  Preis  sehr  mäßig. 
Sie  liefern  tadellose  Bilder,  die  den  durch  Farb- 
lösungen in  nichts  nachstehen."  Besonders  hebt 
er  hervor,  daß  die  Spirochäten  mühelos  nach  einer 
halbstündigen  Färbung  mit  etwas  intensiverer 
Lösung  des  Universalstiftes  zu  erblicken  sind.  Eine 
Tatsache,  die  besonders  im  Felde  von  hoher  prak- 
tischer Bedeutung  ist.  Olufsen. 

Paläontologie.  „Die  Fährten  von  Chirothe- 
rium"  untersuchte  Karl  Willruth  in  einer 
Hallenser  Dissertation  1917  (Geolog.-Paläont.Institut, 
Geheimrat  Dr.  J.  Walt  her). 

Die  ersten  Chirotherium  Fährtenabdrücke 
wurden  1833  von  Gymnasial-Direktor  Sirkler 
in  Hildburghausen  entdeckt  und  1835  von  Kaup 
als  Chirotherium  Barthi  beschrieben.  Im  J.  1841 
fand  der  Pharmaziestudierende  P'eldmann  Chirothe- 
riumfährten  am  Saaleufer  zwischen  Jena  und  Kunitz 
und  ebenso  im  September  desselben  Jahres  der 
damalige  Pfarrer  Vorbeck  zu  Aura  a.  S.  in  den 
Steinbrüchen    der    Gegend    \-on    Kissingen.      Be- 


N.  F.  XVI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


;uy 


sonders  reich  ist  die  Umgebung  von  Kulmbach 
(Eggenreuth,  Kauerndorf,  Blaich,  Purbach,  Ködnitz), 
deren  Fährten  1847  eingehend  beschrieben  wurden 
und  noch  heute  von  dem  eifrigen  Lokalforscher 
Drogist  Hesse  gesammelt  werden  (Sammlung  im 
Stadtmuseum  in  Kulmbach).  Im  August  1851 
wurden  zahlreiche  Chirotheriumfährten  ver- 
schiedener Altersstufen  im  Reinstädter  Grund  bei 
Gumperda  unweit  Kahla  a.  S.  gesammelt,  denen  sich 
1860  charakteristische  Funde  in  der  Nähe  Fuldas, 
1875  bei  Istergiesel  und  1891  bei  Weißenfels  an- 
reihen. Alle  diese  F'ährten  entstammen  den  oberen, 
zumeist  „Chiroiheriumsandstein",  genannten  Lagen 
des  Minieren  Buntsandsteins,  die  durch  weißliche 
Farbe,  kalkiges  Bindemittel,  feines  bis  mittleres 
Korn,  Dünnplattigkeit  von  den  mehr  dickbankigen 
Lagen  des  übrigen  Mittleren  Bunisandsteins  gut 
zu  unterscheiden  sind. 

Weitere  F'ährten  beschreibt  Sand  berger  aus 
dem  etwas  höher  liegenden  „Fränkischen  Chiro- 
theriumsandstein"  des  Rots. 

Heute  besitzt  wohl  jede  deutsche  Universitäts- 
sammlung, sowie  manche  große  Sammlung  des 
Auslandes  Exemplare  der  charakteristischen  F'ährten 
von  Hildburghausen,  ebenso  die  Lokalsammlungen 
zu  Altenburg,  Coburg,  Kulmbach,  F"ulda,  Gotha, 
Hildburghausen  und  Meiningen  Funde  aus  ihrer 
Nachbarschaft. 

Zum  besseren  Studium  der  Fährten,  die  als 
Ausfüllung  der  Fährteneindrücke  mit  Sandstein 
vorliegen  und  deshalb  stets  nur  die  Unterseite, 
also  das  Liegende  der  Platte  bedecken,  wurden 
diese  nach  einem  schon  länger  bekannten  'Verfahren 
abgeklatscht.  Man  benetzt  ungeleimtes  Papier 
(Filtrierpapier,  das  im  Notfalle  auch  durch  unbe- 
drucktes Zeitungspapier  gestreckt  werden  kann), 
legt  es  auf  die  vorher  abgewaschene  Fährte  und 
drückt  es  mit  einer  weichen  Bürste  durch  fort- 
währendes Klopfen  fest  an  die  Fährte  an.  Das- 
selbe macht  man  mit  einer  weiteren  Lage  nassen 
Filtrierpapiers  und  wiederholt  je  nach  der  Höhe 
des  Reliefs  den  'Vorgang  3—5  mal.  Je  sorgiältiger 
das  feuchte  Papier  angepreßt  wird,  um  so  schärfer 
und  naturgetreuer  wird  der  Abdruck.  Nach 
3 — 4  Tagen,  wenn  das  Papier  vollständig  trocken 
ist,  läßt  sich  nun  die  wirkliche  Fährte  als  steifes 
Gebilde  abnehmen  und  daran  die  verschiedenen 
Studien  anstellen.  Durch  Aneinanderkleben  ent- 
sprechender Abklatsche  derselben  Fährte  kann 
ein  Spursystem  beliebig  vergrößert  werden,  was 
für  übersichtliche  Studien  von  'Vorteil  ist. 

Unter  all  den  vielen  Fährten,  an  denen  der 
Buntsandstein  infolge  seiner  terrestrischen  Ent- 
stehung reich  ist,  fällt  sofort  die  Chirotheriumfährte 
durch  ihre  wohlcharakterisierte  unverkennbare 
Form  auf     Die  wichtigsten  Hauptmerkmale  sind: 

Hinterfuß  bandförmig,  'Vorderfuß 
nur  halb  so  groß  und  stets  unmittelbar 
vor  den  Hinterfuß  gesetzt. 

Es  werden  in  Deutschland  2  Arten  unter- 
schieden: Chirotherium  Barthi  und  das 
kleinere  in  manchem  abweichende  Chirotherium 


Borne m_anni,  das  vielleicht  nur  eine  Jugend- 
form der  erstgenannten  Art  ist.  Dazu  kommt 
Ch.  gallicum  aus  dem  französischen  Buntsand- 
stein von  Saint  'Valbert  bei  Luxeuil,  HauteSaone 
und  von  Lodeve,  sowie  Ch.  Herculis  aus  dem 
englischen  Buntsandstein  von  Tarporley.  Uns 
interessieren  hier  die  deutschen  "Vorkommen. 

Chirotherium  Barthi  Kaup: 

Der  bandförmige  Hinterfuß  zeigt  4  plumpe, 
vorn  spitz  endigende  und  mit  Nägeln  besetzte, 
aus  3  Gliedern  bestehende  Zehen.  Die  bei  Jugend- 
formen gewölbte  Flußsohle  wird  im  Alter  platt- 
fußartig. Die  Ferse  des  Hinterfußes  ist  bei  mittleren 
Formen  schlank,  wird  aber  im  Alter  plump.  Ganz 
besonders  charakteristisch  ist  der  seitlich  gerichtete 
fleischige  Anhang  der  Ferse,  der  ungegliedert  ist, 
spitz  endigt  oder  etwas  umgebogen  ist.  In  der 
bisherigen  Literatur  wurde  er  als  „Daumen"  in- 
folge der  ähnlichen  Lage  bei  der  Hand  bezeichnet. 
Die  abgeklatschten  Spursysteme,  sowie  vor  allem 
ein  nach  den  Maßen  der  Fährte  gebautes  Re- 
konstruktionsmodell desChirotheriumtieres,  mit  dem 
die  P'ährte  abgeschritten  werden  konnte,  haben 
ergeben,  daß  der  bisherige  „Daumen"  —  jetzt 
„Ballen"  genannt  —  ein  externer  fleischiger  un- 
gegliederter nagelloser  Anhang  der  Ferse  ist. 
Möglicherweise  ist  der  Ballen  ein  Organ,  das 
hauptsächlich  zum  Aufhalten  (Bremsen)  auf 
der  glitschigen  feuchten  Tonunterlage  diente, 
wofür  vor  allem  das  meist  umgebogene  Ballen- 
ende spricht.  Daß  die  Tiere  tatsächlich  auf  einer 
feuchten  Tonunterlage,  wahrscheinlich  in  einer 
Oase  der  Buntsandsteinwüste  gewandert  sind,  das 
beweist  der  stets  die  Fährten  bedeckende  grüne 
Tonbelag.  Die  Breite  des  Hinterfußes  beträgt 
etwa  die  Hälfte  der  Länge. 

Unmittelbar  vor  den  Hinterfuß,  in  derselben 
Linie  liegend  und  etwas  nach  außen  übergreifend, 
ist  der  dazugehörige  Vorder  fuß  geseizt,  der 
nur  etwa  halb  so  groß  wie  der  Hinterfuß  und 
'%  bis  ^j^  so  breit  als  lang  ist.  Die  Zehen  sind 
plump  und  endigen  spitz.  Der  Ballen  ist  selten 
ganz  abgedrückt,  endigt  spitz  und  ist  selten  um- 
gebogen. Unvollständig  abgedrückte  Vorderfüße 
zeigen  manchmal  nur  3  Zehen. 

Beim  Gehen  erfolgte  der  Hauptdruck  auf  die 
Zehen  und  den  Zehenballen.  Die  Haut  ist  vielfach 
runzlig,  warzenförmig. 

Die  Entfernung  des  Vorderfußes  vom  Hinter- 
fuß ist  etwa  halb  so  lang  als  der  Hinterfuß.  Die 
einseitige  Schrittlänge  ist  bei  mittleren  Individuen 
etwa  4  mal,  bei  kleineren  6—7  mal  so  groß  wie 
die  Länge  des  Hinterfußes.  Daraus  kann  man 
schließen,  daß  ältere  Tiere  dickleibiger  und  schwer- 
fälliger waren.  Der  Hinterfuß  der  größten  be- 
kannten Fährte  (Reinstädter  Grund  bei  Gumperda) 
ist  31  cm  lang  und  17  cm  breit,  während  das 
als  Normalform  betrachtete  Stück  der  Sammlung 
des  GeologischPaläontologischen  Instituts  der 
Universität  Halle,  dessen  Maße  für  das  Holzmodell 
verwendet  wurden,  folgende  Größenverhältnisse 
zeigt : 


71Ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Hinterfuß:    23  cm  lang,    10  cm  breit 
Vorderfuß:    nicht  genau  bestimmbar 
Schrittlänge:    59  cm 
Nach  dem  Holzmodell    zu    schließen,    war  Ch. 
Barthi  etwa  von  Wolfsgröße    und  besaß    eine  un- 
gefähre 

Rumpf  länge  von  76  cm 
Schrittlänge  von  60,5  cm 

'^°''^^'  von  ^3  cm 
72 
Es  kommt  in  3  Gebieten  in  Deutschland  vor: 

1.  nördlich  des  Thüringer  Waldes  (Jena,  Gum- 
perda,  Bockedra,  Waldeck,  Weißenfels), 

2.  südlich  des  Thüringer  Waldes  (Hildburg- 
hausen, Wasungen,  Kulmbach), 

3.  Gegend  von  Fulda  bis  Aura  bei  Kissingen. 
Chirotherium  Bornemanni  Willruth: 
Unter    dem    von    Bornemann    gesammehen 

Material  befand  sich  auch  eine  kleinere  Fährtc 
von  Harras,  welche  durch  andere  Gangart,  andere 
Größenverhältnisse,  größere  Entfernung  des  Vorder- 
fußes vom  Hinterfuße,  weit  größere  Schrittlänge 
(bei  4—5  cm  Länge  des  Hinterfußes  bis  zu  19,7  cm) 
und  schlankere  Form  der  Zehen  von  Ch.  Barthi 
unterschieden  ist.  Auch  folgen  die  Schritte  nicht 
genau  parallel,  sondern  stehen  in  einem  spitzen 
Winkel  zur  Mittellinie.  Der  Hinterfuß  ist  4,8  cm 
lang,  2  cm  breit.  Vielleicht  i.st  es  nur  eine 
Jugendform  von  Ch.  Barthi. 

Ch.  Barthi  und  Bornemanni'  kommen  nur  in 
den  hangenden  Lagen  des  Mittleren  Buntsandsteins 
vor,  die  auch  „Thüringer  Chirotherium- 
sandstein"  genannt  werden.  Sie  sind  ein  gutes 
Leitfossil  für  diesen  Horizont.  Der  Chirotherium- 
sandstein  bedeckt  einen  großen  Teil  Norddeutsch- 
lands, erstreckt  sich  bis  Südhannover  und  geht  süd- 
wärts bis  über  die  Mainlinie. 

In  Franken  wurden  50  m  über  dem  Thüringer 
Chirotheriumhorizont  in  dem  sogenannten  „Frän- 
kischen Chiroiheriumsandstein"  bei  Thüngersheim 
und  Gambach  Fußabdrücke  gefunden,  die  nicht 
dem  Ty()us  Chirotherium  Barthi  angehören.  Eine 
genauere  Diagnose  war  wegen  schlechter  Erhaltung 
nicht  zu  geben. 

Die  interessanten  Untersuchungen  von  Will- 
ruth  haben  viel  Klarheit  in  das  Fährtenproblem 
des  Buntsandsteins  gebracht  und  haben  unzwei- 
deutig die  richtige  Gangart  von  Chirotherium  er- 
wiesen. V.  Hohenstein,  Halle. 

Physik.  Zerlegt  man  die  von  der  Antikathode 
ausgehende  Röntgenstrahlung  mittels  einer  geeig- 
neten Kristallplatte,  dann  findet  man,  daß  sie  aus 
zwei  Teilen  besteht:  einem  kontinuierlichen  Spek- 
trum, das  alle  Wellenlängen  enthält,  ist  ein  dio- 
kontinuierliches  überlagert.  Die  Wellenlängen  des 
Linienspektrums  ändern  sich,  wenn  man  das  Meiall 
der  Antikathode  durch  ein  anderes  ersetzt.  Man 
stellt  sich  vor,  daß  beim  Aufprall  der  Elektronen 
auf  die  Antikathode  Bausteine  der  Atome  des 
Antikaihodenmctalls  in  äußerst  schnelle  Schwin- 
gungen geraten  und  dabei   die  „charakteristische" 


Strahlung  aussenden  (das  kontinuierliche  Spektrum 
entsieht  bei  der  Bremsung  der  Elektronen).  Von 
der  Erforschung  der  Hochfrequenzspekiren  der 
Elemente  dürfen  wir  wichtige  Aufschlüsse  über 
den  inneren  Bau  der  Atome  erwarten,  eine  Frage, 
die  in  der  modernen  Physik  eine  große  Rolle 
spielt.  Es  ist  darum  von  großer  Bedeutung,  daß 
anscheinend  ein  zweiter  Weg  gefunden  ist,  um 
die  .Atome  eines  Elementes  zur  Aussendung  ihres 
Hochfrequenzspektrums  zu  veranlassen.  In  der 
Physikal.  Zeitschr.  (XVIIl  (1917)  S.  479)  veröffent- 
licht M.  Wolfke  eine  Arbeit  über  eine  neue 
Sekundärstrahlung  der  Kanahtrahlen.  In  dieser 
wird,  um  das  Ergebnis  vorweg  zu  nehmen,  nach- 
gewiesen, daß  Zinn  und  Blei  unter  Ein- 
wirkung von  Kanalstrahlen  eine  ziem- 
lich intensive  durchdringende  Strah- 
lung aussenden,  die  vermutlich  ihre 
charakteristischeRöntgenstrahlung  ist. 
Schon  J.  J.  Thomson  hat  Blei  mit  Kanalstrahlen 
idas  sind  mit  positiver  Elektrizität  beladene  Gas- 
atome (Atomionen),  die  sich  in  Entladungsröhren 
auf  die  Kathode  zu  bewegen  und  zuerst  von 
Goldstein  beobachtet  wurden,  der  sie  durch 
in  die  Kathode  gebohrte  Kanäle  hindurchgehen 
ließ)  bestrahlt  und  gefunden,  daß  von  dem  Blei 
eine  äußerst  reiche  Strahlung  ausgeht;  das  ist 
wahrscheinlich  die  Bremsstrahlung  der  Kanal- 
strahlen. Für  die  Emission  der  charakteristischen 
Röntgenstrahlung  unter  der  Einwirkung  von  Elek- 
tronen gilt  nämhch  die  von  Einstein  aufge- 
stellte Beziehung,  daß  die  kinetische  Energie  der 
Elektronen  größer  sein  muß  als  h-n,  wo  h  das 
Planck'sche  Elementarquantum  und  n  die  Frequenz 
der  kürzesten  Wellenlänge  der  charakteristischen 
Röntgenstrahlung  des  betreffenden  Metalls  ist. 
Diese  Beziehung  ist  neuerdings  durch  Untersuchung 
an  Coolidge  Röhren  weitgehend  bestätigt  worden. 
Es  ist  nun  wahrscheinlich,  daß  die  Einst ein'sche 
Gleichung  auch  für  den  in  Rede  stehenden  Vor- 
gang gültig  ist.  Das  heißt  aber,  daß  die  Ge- 
schwindigkeit der  betreffenden  Kanal^trahlen 
größer  sein  muß  als  ein  ganz  bestimmter  Betrag, 
damit  eben  ihre  Wucht  den  erforderlichen  Wert, 
bei  dem  die  charakteristische  Strahlung  einsetzt, 
übertrifft.  Das  scheint  bei  den  Versuchen  von 
Thomson  nicht  der  Fall  gewesen  zu  sein;  die 
Wasserstoffkanalsirahlen  waren  wahrscheinlich  zu 
langsam. 

W  o  1  f  k  e  benutzt  zur  Untersuchung  die  Methode 
von  Chadwik.  Eine  kreisförmige  Blende  ist  in 
ihrer  oberen  Hälfte  mit  Blei-,  in  der  unteren  mit 
Aluminiumfolie  bedeckt.  Hinter  der  Blei-  liegt 
Aluminium-,  hinter  der  Aluminium-  dagegen  Blei- 
folie. Falk  auf  die  so  hergerichtete  dünne  Platte 
Kanalstrahlung,  so  trifft  sie  oben  Blei,  es  wird  eine 
intensive  und  harte  Röntgenstrahlung  entstehen, 
die  das  dahinter  liegende  Aluminium  fast  unge- 
snh wacht  durchdringt.  In  der  unteren  Hälfte 
prallen  die  Kanalstrahlen  dagegen  zunächst  auf 
das    leichte    Aluminium;    es    wird    eine    schwache 


N.  F.  XVI.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


und  weiche  Strahlung  entstehen,  die  durch  die 
dahinterliegendc  Bleifolie  weitgehend  verschluckt 
wird.  Eine  phoiographische  Platte,  die  in  ge- 
ringem Abstände  hinter  der  Blende  liegt,  wird 
demnach  oben  eine  kräftige  und  unten  nur  eine 
schwache  Schwärzung  zeigen.  Zur  Erzeugung  der 
Kanalstrahlen  wird  ein  kugelförmiges  Rohr  benutzt, 
in  dessen  längerem  seitlichen  Ansatz  die  durch- 
bohrte Kathode  liegt.  Mit  peinlicher  Sorgfalt  wird 
sowohl  sichibares  wie  ultraviolettes  Licht  von  der 
Platte  ferngehalten.  Da  ja  auch  Kanalstrahlen 
die  Platte  schwärzen  würden,  werden  die  Folien 
dicker  als  0,02  mm  gewählt;  diese  Dicke  ver- 
mögen Kanalstrahlen  nicht  zu  durchdringen.  Ein 
krältiges  Magnetfeld  hält  die  von  der  Kathode 
ausgehenden  Kaihodenstrahlen  von  der  Platte  fern, 
während  dieselbe  durch  einen  Schirm  vor  direkten 
Röntgenstrahlen  geschützt  ist.  Untersucht  wird, 
wie  schon  erwähnt,  Blei  und  Zinn,  ersteres  hat 
eine  Dicke  von  0,028  mm,  letzteres  von  0,016  mm. 
Die  Aluminiumfolie,  die  in  beiden  Fällen  verwendet 
wird,    ist  0,007  "^i"   dick.     Die  Belichtungsreihen 


betragen  2,5  bis  22  Minuten,  der  Druck  in  der 
Röhre  0,004  bis  0.007  mm.  Die  Untersuchung 
der  Sekundärstrahlung  des  Zinn  ergibt  einen  starken 
Kontrast  zwischen  den  beiden  Hälften  des  be- 
lichteten Teils  der  Platte.  Beim  Blei  ist  bei  nied- 
rigen Potentialen  des  die  Röhre  speisenden 
Induktoriums  (bzw.  Influenzmaschine)  kein  Unter- 
schied wahrzunehmen.  Erst  bei  einem  Potential, 
das  einer  Funkenstrecke  von  45  mm  entspricht, 
zeigt  sich  ein  deutlicher  Kontrast.  Dieses  Resultat 
dürfte  so  zu  deuten  sein,  daß  erst  bei  die^em 
Potential  der  von  Einstein  geforderte  Schwellen- 
wert für  die  kinetische  Energie  der  Kanalstrahlen 
überschritten  wird.  Erweisen  weitere  Versuche, 
daß  die  neue  Methode  zur  Erregung  der  charak- 
teristischen Strahlung  brauchbar  ist,  dann  haben 
wir  ein  wertvolles  Mittel,  den  Erregungsvorgang 
der  Hochfrequenzstrahlung  zu  untersuchen,  da  wir 
durch  Veränderung  der  Gasfüllung  des  Rohres 
sowohl  die  Natur  als  auch  den  Ladungszustand 
der  Kanalstrahlen  variieren  könnten.     K.  Seh. 


Anregungen  und  Antworten. 


KronUiere  und  Etappenliere,  so  möchte  ich  diesmal  kurz 
und  bündig  den  Gegenstand  bezeichnen,  der  öfter  unter  Über- 
schriften wie  „Über  das  Verhalten  der  Tiere  im  Kanipfgebict" 
behandelt  wurde.  Schon  in  den  ersten  derartigen  Berichten 
von  191+  oder  Anfang  1915,  die  von  den  Abwanderungen  von 
Wild  aus  den  kaniplduichtobten  Landsireifen  sprachen,  kam 
es  zum  Ausdruck,  daß  viele  größere  Tiere  durch  das  Kampf- 
getöse verscheucht  wcrdrn,  während  kleinere  ihr  Gcbirt  be- 
haupten. Ua  diese  einfache  Erkeuntnis  uns  einen  bestimmten 
Einblick  in  die  Tierserle  gewährt,  wie  wir  ihn  früher  in 
gleichem  Maße  nicht  halten,  habe  ich  ihr  stets  .Aufmerksamkeit 
gewidmet  und  gefunden,  daß  sie  sich  immer  wieder  bestäiigle 
bis  auf  solche  Ausnahmen,  die  besonders  zu  erklären  sind. 
Folgende  Reihen  kann  man  nämlich  aufstellen :  Die  größeren 
Tiere,  die  von  Anlang  an  das  Kampfgebiet  meiden,  sind  unter 
den  Haartieren  Woli,  Edelhirsch,  Damhirsch,  Reh  und  Wild- 
schwein, unter  den  Vögeln  Seeadler,  Storch,  Auer-  und  Birk- 
huhn, Wildgans,  Wildenten  und  Kolkrabe.  Aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  gehörten  auch  Braunbär,  Luchs  und  Elch  in 
diese  Reihe,  ja  die  vorliegenden  Beobachtungen  sprechen  da- 
für, doch  wurde  es  mit  Bestimmtheit  noch  nicht  angegeben. 
Der  Wisent  dagegen,  der  sich  nicht  vertreiben  lieB,  ist  als 
gehegtes  und  an  den  Menschen  gewöhntes  Großiier  ganz  anders 
zu  beurteilen.  Den  „Etappentieren"  kann  man  als  „Front- 
tiere" diejenigen  gegenüberstellen,  welche  auch  in  der  be- 
schossenen Zone  sich  halten;  es  sind:  Fuchs,  Dachs,  Hase, 
Karnickel,  Wiesel,  Wanderratte  und  Mäuse  unter  den  Haar- 
tieren, unter  den  Vögeln  Zwergtrappe,  Kornweihe,  Krähen, 
Elster,  Turm-  und  Baumfalke,  Rebhuhn,  Kiebitz,  Triel,  Grün- 
füßiges  Ttichhuhn,  Ei-vogel,  Wachtel,  Sperlingsvögel  von  der 
Amsel  ab.  Nur  um  Warmblüter  handelt  es  sich  bei  der  ganzen 
Frage,  denn  von  keinem  kaltblütigen  Tiere  ist  bekannt,  daß 
es  aus  dem  Kampfgebiet  gewichen  wäre.  Man  sieht,  es  geht 
in  obigen  Reihen  ziemlich  genau  nach  der  Größe,  nur  bei 
den  Vögeln  überschneiden  sich  beide  Reihen  etwa  im  Größcn- 
gebiet  von  Zwergtrappe  bis  Rebhuhn. 

Die  Ursache  dieser  Erscheinung,  die  man  kurz  die  Größen- 
regel  nennen  kann,  ist  natürlich  so  wenig  einheitlich  wie  die 
Erscheinung  selbst.  Vielmehr  handelt  es  sich  um  eine  Viel- 
zahl von  starken  Reizwirkungen  auf  die  Tiere,  besonders  von 
optischen,  akustischen  und  mechanischen,  wie  Knall-,  Staub- 
und Kauchwirkungen,  gelegentlichen  Bränden,  Durchfurchung 
des  Geländes  mit  Gräben,  seine  Durchlöcherung  mit  Gianat- 
trichtrrn,  lebhafter  Verkehr  in  ihm.  Davon  werden  eine  solche 
Vielzahl  von  Sinnespforten  getroffen,  daß  Tiere  sehr  ver- 
schiedener Lebensweise,    wie    Fuchs    und   Hase,    der  Höhlen- 


bewohner und  die  Feldschläfer,  sich  gleichartig  ver- 
halten können.  Das  verschiedene  Verhallen  der  größeren 
und  kleineren  Tiere  ist  dagegen  etwas,  was  man  nicht  un- 
bedingt erwarten  konnte,  und  es  lehrt,  wie  ich  wiederhole, 
deutlich,  daß  die  kleineren  Tiere  in  einer  ganz  anderen  Sinnes- 
umwelt leben  als  die  größeren  und  wir,  oder  daß  es  bti  den 
warmblütigen  Tieren,  so  verschieden  sie  sonst  auch  organisiert 
sind,  wesentlich  von  der  Größe  eines  Tieres  abhängt,  welcher 
Art  seine  Umwelt,  und  ob  sie  der  des  Menschen  ähnlich  ist 
oder  nicht. 

Überaus  scharf  fällt  die  Größengrenze  bei  den  Hühner- 
vögeln aus,  denn  Wachlei  und  Rebhuhn  gehören  zu  den 
Kamplbarten,  Auer-  und  Birkhuhn  stehen  in  der  Li-te  der 
Kamplflüchter.  -Ähnlich  scheint  die  Grenze  bei  den  Corviden 
zwischen  dm  Krähen  und  dem  Kolkraben  zu  liegen.  Den 
Storch  nahm  ich  in  die  Liste  der  Kampf  flüchtenden  auf,  da 
unlängst  in  dieser  Zeitschrift  seine  besondere  Empfindlichkeit 
gegenüber  der  Kriegseinwirkungen  erwähnt  wurde,  nicht  ver- 
wunderlich bei  einem  Vogel  von  dieser  Größe. 

Nun  kann  sich  jedoch  das  Verhalten  von  Tieren 
gegenüber  neuen  Reizeinwirkungen  mit  der  Zeit 
ändern,  und  dieser  Fall  i^t  beim  Wild  mehrfach  eingetreten. 
Das  scheue  Rehwild,  das  anfangs,  wo  es  nur  konnte,  aus  dem 
Kampfgebiet  schnell  wich,  kthrie  stellenweise  auch  am  ehesten 
wieder  zurück  und  gewöhnte  sich  an  den  Lärm  der  Be- 
schießungen, die  ihm  zwar  wohl  einmal  gefährlich  werden 
können,  aber  doch  jedenfalls  ihm  nicht  gelten.  Wenn  ferner 
einmal  ein  Hirsch  vorm  Drahtverhau  geschossen  wurde  — 
nicht  in  der  Zeit  nach  eben  beendeten  Bewegungskämpfen, 
wo  es  auf  andern  Gründen  beruhen  würde  —  so  mag  das 
ein  Anzeichen  sein,  daß  diese  Tierart  gleichfalls  zurückwandert. 
Bestimmter  und  zahlreicher  ist  das  beim  Schwarzwild  der  Fall, 
wie  immer  mehr  sich  häufende  Berichte  lehren,  und  unter  den 
Vögeln  beim  Birkwild,  welches  sogar  Halzplätze  im  Granat- 
feuer bezogen  hat,  sodann  stellenweise  bei  Wildenten  und 
vielleicht  Schnepfen.  Als  ich  in  diesem  Sinne  die  Tatsachen 
in  der  Deutschen  Jägerzeitung  zusammenstellte  mit  der  Bitte 
um  etwaige  weitere  Beiträge  zur  Frage,  wurde  mir  im  allge- 
meinen durchaus  beigepflichtet.  Ein  Einsender  wollte  als  seine 
abweichende  Ansicht  hinstellen,  daß  das  Auerwild  nicht  zu 
den  Kampfflüchtern  gehört.  Hier  wird  sicher  nur  wieder  die 
nachträgliche  Umgrwöhnung  vorliegen,  denn  anfangs  war  es 
ganz  sicher  anders.  Möglichenfalls  aber  halte  derjenige  Recht, 
der  eine  von  der  meinigen  abweichende  Auffassung  vom  Fasan 
gewonnen  haUe.  Ich  habe  den  Fasan  allerdings  nur  hinter 
der   Front    beobachtet    und    ihn    in    der  Front  vermißt,    durfte 


?1Z 


Nalurwissetischaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  50 


das    aber,    da    anderweitige    Mitteilungen    übei    ihn    mir    nicht 
bekannt  waren,  vielleicht  nicht  verallgemeinern. 

Unter  den  „Frunttieren"  haben  sich  viele  die  Fluchtrefle.xe 
bei  näheren  oder  ferneren  Abschüssen  oder  Einschlägen  nicht 
abgewöhnt,  Singvögel  fliegen  erschreckt  auf,  Krähen  kreisen 
dann  eine  Weile  krächzend  umher,  Teichhiihner  tauchen,  aber 
sie  alle  verlassen  das  Gebiet  nicht.  Ja  man  muß  sagen,  diese 
Reaktionen  sind  keine  anderen,  als  wie  man  sie  aucli  in  der 
Heimal  auf  viel  geringere  Ursachen  hin  beobachtet. 

Bekannt  ist,  daß  das  Amsellied  nur  bei  heftiger  Kanonade, 
das  Lerchenlied  nicht  einmal  in  diesem  Falle  verstummt. 
Nachts  um  1  Uhr  —  etwa  2  Uhr  nach  Ortszeit  —  weckte 
sogar  eine  Explosion  das  Lied  der  Lerchen.  Das  Rebhuhn 
reagiert  dort,  wo  oft  Infanteriekugeln  pfeifen,  auf  das  Vorbei- 
sausen von  ihm  geltenden  Gewehr-  oder  Revolverkugeln  oft- 
mals gar  nicht  mehr.  Zu  dieser  seiner  Gewöhnung  mag  es  bei- 
tragen, daß  dieses  Tier  nebit  manchen  anderen,  Zwergtrappe 
und  Triel,  Hase  und  Fasan,  in  der  von  Pllug  und  Sense  ver- 
schonten Zone  besonders  gute  Deckung  und  Äsuog  finden. 

Bei  der  Aufzählung  der  Einwirkungen,  die  das  Tierleben 
imKampfgebiet  stören  können,  wurde  der  chemischen  Ein- 
wirkungen nicht  gedacht.  Die  Gasentwicklung  der  Geschütze  und 
gewöhnlichen  Granaten,  der  Pulvergeruch,  der  dicht  bei  der 
Einschlagstelle  merklich  mit  Schwefelwassergeruch  vermengt 
sein  kann,  dürfte  kaum  jemals  nennenswerte  Einwirkungen  bei 
der  Tierwelt  zurücklassen,  da  er  nur  an  eng  umschiiebenen 
Punkten  für  kürzeste  Zeit  hinreichende  Stärke  haben  konnte. 
Denn  daß  über  dem  ganzen  Blachfelt  an  bewegten  Fronten 
ständig  eine  Rauchwolke  lagert  wie  über  Großstädten,  beein- 
trächtigt natürlich  das  Tier  so  wenig  wie  den  Menschen.  Viel 
schwerer  wiegen  jedoch  starke  Gasangriffe;  leider  liegen 
mir  darüber  erst  sehr  wenige  zoologische  Erfahrungen  vor, 
nämlich  seit  langer  Zeit  nur  ein  Bericht  in  der  Frankfurter 
Zeitung,  einer  im  , .Fränkischen  Kurier'',  Nürnberg,  und  einige 
Notizen  in  der  Zeitschrift  „Wild  uud  Hund".  Es  handelt 
sich  dabei  um  so  starke  Gasangriffe,  daß  auch  die  Pflanzen- 
leben schwer  geschädigt  und  das  Kleintierleben  fast  völlig  ver- 
nichtet wurde,  während  schwächere,  bei  denen  der  Mensch 
unbedingt  die  Gasmaske  aufsetzen  muß,  die  Tierwelt  oft  nicht 
merklich  beeinträchtigen.  Bei  starken  Gasangriffen  wurde  an 
natürlichen  Reflexen  oder  Instinkten  außer  Unruhe,  Heulen 
oder  Kreischen  beobachtet,  daß  Hunde  die  Augen  schlössen 
und  sich  zu  verkriechen  suchten,  eine  Katze  ihre  Jungen  tief 
in  Holzwolle  barg  und  dann  über  ihnen  verreckte,  auch  ein 
Meerschweinchen  steckte  den  Kopf  in  eine  Ecke,  nachdem  es 
eine  Zeillang  unruhig  umhergelaufen  war,  während  Rallen  und 
Mäuse  aus  ihren  Löchern  hervorkamen  und  dann  gleichfalls 
elend  zugrundegingen.  Pferde  suchten  auf  die  nächsten  Höhen 
davonzukommen,  ebenso  suchte  eine  Eule  nach  ihrer  Befreiung 
aus  dem  Käfig  schleunigst  das  Weite,  indem  sie  mit  dem  Winde 
davonflog,  der  Gaswolke  vorauseilend.  In  anderen  Fällen 
gruben  Pferde  ihre  Nüstern  und  Augen  heftig  in  den  Sand  ein. 
Schwerer  zu  erklären  ist  es,  daß  das  Gas  auf  die  verschiedenen 
Tierarten  sehr  ungleich  stark  wirkte.  Die  meisten  Haartiere 
verenden,  ebenso  das  Kerbtierleben,  auch  eine  Kreuzotter  fand 
man  erstickt.  Schon  geringer  ist  die  Wirkung  auf  Haushühner, 
da  meist  nur  alte  Hennen  starben,  noch  geringer  die  auf 
Spatzen,  die  nur  mit  gesträubtem  Gefieder  und  unter- 
geslecktem  Kopf  da.saßen,  bis  das  Gas  vorüber  war.  Aller- 
dings werden  die  Sperlinge  hoch  gesessen  haben;  aber  be- 
sonders merkwürdig  ist,  daß  an  Rebhühnern,  nach  ,,Wild  und 
Hund",  das  Gas  völlig  wirkungslos  vorübergegangen  ist. 
Schließlich  möchte  ich  erwähnen,  daß  die  Wirkung  auf  Pferde 
geringer  sein  soll  als  die  auf  Menschen,  weshalb  man  bei  uns 
für  Pferde  keine  Gasmaske  verwendet,  obschon  auch  mit- 
unter Pferde  im  Gaskampf  verendeten.     Nun  werden  ja  aller- 


dings Pferde  im  SteUungskampf  auch  nie  so  weil  nach  vorn 
gebracht  wie  Soldaten,  und  so  weit,  wie  es  nötig  ist,  nur  lüi 
möglichst  kurze  Zeil.  Sie  sind  der  Gaswirkung  also  von  vorn- 
herein weniger  ausgesetzt  als  der  Mensch.  Man  sieht,  die 
Beurteilung  der  Gaswirkungen  auf  Tiere  ist  noch  sehr  un- 
sicher, auch  darin,  daß  meist  nicht  bekannt  geworden  ist,  welche 
Art  Gas  verwendet  wurde.  Für  einige  Fälle  wird  Chlorgas  erwähnt. 
Im  ganzen  spielen  die  Gaswirkungen  wegen  ihrer  örtlichen  Be- 
grenztheit nur  eine  geringe  Rolle  für  das  Tierleben,  sie  sind 
nicht  wesentlich  bestimmend  für  die  Vorstellung,  die  man  sich 
vom  Tierleben  im  Feuerbereich  bilden  muß,  und  die  in  der 
Aufstellung  der  Größenrcgel  und  in  der  Feststellung  nachträg- 
licher Gewöhnungen  zum  Ausdruck  kommt.  Wo  ihnen  aber 
etwa  höhere  Bedeutung  zukäme,  da  würde  die  Größenregel 
nicht  mehr  Geltung  haben,  denn  sie  spricht  nur  von  Wirkungen 
der  gewöhnlichen  Kampfweise,  den  Beschießungen  und  ihren 
Begleiterscheinungen  und  F'olgen.  V.   Kranz. 


Der  Zug  des  Kohlweißlings  (Pieris  brassicaej 
1917   war  der  Kohlweißling  in  der  Schwei; 


Jahr 


wahre  Plage, 
nicht  nur  in  den  Ebenen  sondern  auch  auf  den  Bergen  und  in 
den  hochgelegenen  Tälern.  In  einigen  Gegenden  sind  nur  die 
Rippen  der  Blätter  geblieben  I  Am  Ufer  des  Neuenburgersees 
waren  die  Schwärme  von  Kohlweißlingen  so  zahlreich,  daß  die 
Schmetterlinge  Schneeflocken  glichen.  In  einigen  Orten  habe 
ich  auf  den  Straßen  ganze  Prozessionen  von  Kaupen  des  Kohl- 
weißlings gesehen.  Aber  was  die  Leser  interessieren  kann, 
das  ist,  daß  ich  bei  meinen  Wanderungen  in  den  Alpen  be- 
merkt habe,  daß  die  Kohlweißlinge  sehr  hoch  flogen  und 
einen  wahren  Zug  über  die  Berge  machten. 

Man  hat  gesagt,  daß  die  Schmetterlinge,  die  man  sehr  oft 
auf  den  Hochalpen  (Gletscher  und  Spitze)  findet,  dorthin  von 
dem  Winde  getrieben  wurden.  Ich  bin  jetzt  ganz  sicher,  daß 
in  der  Mehrheit  der  Fälle,  die  Schmetterlinge  selber  auf  die 
Hochalpen  fliegen.  Im  Gegenteil,  die  starken  Winde  spielen 
eine  sehr  schlechte  Rolle:  sie  stören  und  töten  die  Schmelter- 
linge,  die  auf  die  Berge  fliegen. 

Die  Untersuchungen,  die  ich  dieses  Jahr  über  die  Wande- 
rungen des  Kohlweißlings  angestellt  habe,  sprechen  sehr  für 
einen  wahren  Zug  der  Schmetterlinge,  der  etwas  an  den  Vogel- 
zug erinnert.  In  der  Tat  ging  der  Kohlweißling  in  seinen 
Wanderungen  nicht  von  Blume  zu  Blume,  sondern  er  flog  sehr 
hoch  über  Täler,  Gletscher,  Grate  und  Spitzen,  immer  in  einer 
Richtung  und  ein  Schmetterling  nach  dem  andern.  Die 
Kohlweißlinge  flogen  in  einer  Richtung  von  NW.  nach  SO. 
So  ging  z.  B.  am  II.  Sept.  ein  Zug  von  Trient  über  den 
Trientgletscher  und  Fenclre  d'Arpctte  (2683  m)  nach  Val 
d'Arpette.  Am  16.  Sept.  in  Val  Ferret  habe  ich  ähnliche  Züge 
über  Chasse  (1973  m)  und  über  Bec  Rond  (2564  m)  bemerkt. 
Am  23.  und  24.  Sept.  habe  ich  andere  Züge  in  Val  de  Bagnes 
geschm:  der  eine  ging  über  Fionnay  (1497  m)  und  der  andere 
über  den  Gletscher  vom  Grand  Deseil  (2970  m)  und  über  die 
Rosa  blanche  (3348  m).  Wegen  starken  Windes  von  NW. 
sind  viele  Kohlweißlinge  auf  dem  Grand  Desert  gestorben,  und 
ich  habe  sie  auf  dem  Gletscher  gefunden.  Am  30.  Oktober 
habe  ich  nochmals  einen  Zug  von  P.  brassicae  über  den 
Rochers  de  Naye  (2045  m)  bemerkt. 

In  jedem  Fall  flogen  die  Kohlweißlinge  sehr  hoch  über 
solche  Pässe,  Grate,  Gletscher  und  Spitzen.  Warum  flogen 
diese  Schmetterlinge  so  hoch,  da,  wo  kein  Kohl  mehr  zu  finden 
war?  Suchten  sie  vielleicht  andere  Täler  und  Ebenen,  um 
Eier  abzulegen?  Ich  weiß  es  nicht,  aber  um  die  Kohlweißling- 
wie  andere  Schmetierlingsplagen  zu  bekämpfen,  ist  es  wahr- 
scheinlich sehr  nützlich,  ihre  Züge  zu  untersuchen  und  zu  studieren. 
B.  Galli-Valerio,  Lausanne  (Schweiz). 


Karl  Kuhn,  Neuere  Ergebnisse  der  Kanalstrahlenforschung,  (i  Abb.)  S.  697.  Ernst  Kelhofer,  Wegeners 
Verschiebungstheorie.  (3  Abb.)  S.  702.  —  Einzelberichte:  H.  Hil  d  eb  randson ,  Einfluß  des  Geschülzfcuers  und  der 
Minensprengungen  auf  die  Witterung.  S.  706.  E.  Schrödinger,  Äußere  Zone  abnormer  Hörbarkeit  S.  707.  E.  Fried - 
berger,  Färbung  mikroskopischer  Präparate  mit  Farbstiften.  5.  708.  Karl  Willruth,  „Die  Fährten  von  Chirothe- 
rium"  S.  70S.  M.  Wolfke,  Über  eine  neue  Sekundärstrahlung  der  Kanalstrahlcn.  S.  710.  —  Anregungen  und  Ant- 
worten:  Fronttiere  und  Etappenticre.  S.  711.     Der  Zug  des  Kohlweißlings  (Pieris  brassicae).  S.  712. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lipperl  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  23.   Dezember  1917. 


Nummer  51. 


[Nachdruck  verbo 


Die  Reduktionsteilung  im  Pflanzenreich. 

Von  M.  Möbius,  Frankfurt  a.  M. 


Der  Vorgang  der  Befruchtung  besteht  bei  allen 
Organismen  in  der  Vereinigung  zweier  Zellen. 
Die  dadurch  neu  gebildete  Zelle  nennen  wir  Zygote, 
da  es  sich  nicht  immer  um  ein  befruchtetes  Ei 
handelt,  sondern  auch  gleichwertige,  nicht  als  Ei 
und  männliche  Zelle  unterscheidbare  Zellen  sich 
bei  der  Befruchtung  vereinigen  können.  Das 
Wesentliche  bei  dieser  Vereinigung  ist  aber  die 
Verschmelzung  der  Kerne,  des  männlichen  und 
weiblichen  Kerns,  was  wir  schon  daraus  erkennen, 
daß  wenigstens  die  männliche  Zelle  ganz  auf  den 
Kern  reduziert  sein  kann.  Jeder  Kern  aber  be- 
sitzt eine  bestimmte  Anzahl  sog.  Chromosomen, 
d.  h.  der  das  eigentliche  Kerngerüst  bildende  Faden 
zerfällt  bei  den  vorbereitenden  Schritten  zur  Kern- 
teilung in  eine  bestimmte  Anzahl  von  Fadenstücken, 
und  diese  Zahl  ist  von  der  Xatur  für  jede  Pflanzen- 
art festgesetzt.  Wenn  nun  also  z.  B.  der  Kern 
12  Chromosomen  besitzt  und  sich  bei  der  Be- 
fruchtung mit  einem  anderen  Kern  derselben  Art 
vereinigt,  so  besitzt  letzterer  natürlich  auch 
12  Chromosomen,  aber  der  bei  der  Befruchtung 
durch  die  Vereinigung  neugebildete  Kern  erhält 
dann  24  Chromosomen.  Alle  aus  dem  befruchteten 
Ei  hervorgehenden  Zellen,  also  alle  Zellen  des  neuen 
Organismus  werden  nun  24  Chromosomen  in  ihren 
Kern  führen,  so  daß  bei  der  nächsten  Befruchtung 
eine  Zygote  mit  48  Chromosomen  iin  Kern  ent- 
stehen und  so  weiter  immer  eine  Verdoppelung 
der  Chromosomenzahl  eintreten  müßte,  wenn  nicht 
an  irgendeinem  Punkt  der  Entwicklung  eine 
Reduktion  auf  die  Hälfte  vollzogen  würde.  So 
ergibt  sich  die  Reduktion  der  Chromosomen  als 
ein  durchaus  notwendiger  Prozeß,  ohne  den  sich 
in  den  aufeinander  folgenden  Generationen  die  Zahl 
der  Chromosomen  ins  Unendliche  vermehren  müßte. 
Es  hat  sich  nun  herausgestellt,  daß  die  Reduktion 
durch  eine  besondere  Art  der  Kernteilung  erfolgt, 
bei  der  nicht  wie  bei  der  gewöhnlichen  die  beiden 
Tochterkerne  ebensoviel  Chromosomen  erhalten, 
wie  der  sich  teilende  Kern  besaß,  und  die  des- 
wegen typische  oder  Äquationsteilung  genannt  wird, 
sondern  jeder  Tochterkern  nur  die  Hälfte  der  ur- 
sprünglichen Zahl  erhält.  Der  Vorgang  der  Kern- 
teilung selbst  verläuft  etwas  anders  als  bei  der 
Äquationsteilung,  so  daß  die  Reduktionsteilung  der 
typischen  als  atypische  gegenübergestellt  werden 
kann.  Was  die  Einzelheiten  betrifft,  so  verweisen 
wir  auf  die  Lehrbücher  und  auf  die  Darstellung, 
die  früher  F.  Rawitscher*)  in  dieser  Zeitschrift 
von  dem  Prozeß  gegeben  hat,  wir  wollen  nur  er- 


')  Die  Reduktion  der  Chr 
irw.  Wochenschr.  N.   F.  B 


enzahl  in  den  Pfla 
1908,  S.   577.1 


wähnen,  daß  sich  die  Reduktionsteilung  in  zwei 
Schritten  vollzieht,  von  denen  der  erste  als  hetero- 
typische, der  zweite  als  homöotypische  Teilung 
bezeichnet  wird.  Daraus  geht  schon  hervor,  daß 
bei  der  Reduktionsteilung  aus  einem  Kern  vier 
Kerne  oder  aus  einer  Zelle  vier  Zellen  gebildet 
werden,  und  so  wird  uns  diese  Tetradenbildung 
häufig  als  eine  charakteristische  Begleiterscheinung 
bei  der  Reduktionsteilung  entgegentreten. 

Während  nun  bei  den  Tieren  der  Regel  nach 
die  Reduktion  bei  der  Bildung  der  Reproduktions- 
zellen, also  fast  unmittelbar  vor  der  Befruchtung 
erfolgt,  verhallen  sich  die  Pflanzen  merkwürdiger- 
weise hierin  ganz  verschieden:  die  Reduktion  kann 
direkt  vor  oder  direkt  nach  der  Befruchtung  oder 
aber  auch  in  einer  anderen  Phase  der  Entwicklung 
eintreten.  Ja  sogar  in  derselben  Pflanzengruppe 
können  sich  die  Untergruppen  hierin  verschieden 
verhalten,  so  daß  es  noch  nicht  möglich  ist,  eine 
Gesetzmäßigkeit  in  dieser  Hinsicht  für  die  Pflanzen 
festzustellen.  Vielleicht  erscheint  es  auch  noch 
verfrüht,  eine  solche  Zusammenstellung  zu  geben, 
da  für  viele  Gruppen  überhaupt  noch  nicht  bekannt 
ist,  wo  und  wie  die  Reduktion  eintritt.  Dies  gilt 
besonders  für  die  niederen  Pflanzen,  denn  bei  den 
höheren  steht  sie  in  Beziehung  zu  dem  hier  vor- 
handenen Generationswechsel,  der  darin  besteht, 
daß  nus  dem  befruchteten  Ei  eine  Generation  ent- 
steht, die  ungeschlechtliche  Sporen  erzeugt  und 
deshalb  Sporophyt  genannt  wird,  während  aus  der 
Spore  die  Generation  entsteht,  welche  die  Ge- 
schlechtsorgane bildet  und  daher  Gametophyt  heißt. 
Die  Reduktion  tritt  dann  beider  Bildung  der  Sporen 
ein,  so  daß  der  ganze  Gametophyt  die  einfache 
(haploide)  Anzahl  der  Chromosomen  bei  seinen 
Kernteilungen  aufweist,  während  nach  der  Befruch- 
tung natürlich  die  doppelte  (diploide)  Zahl  von 
Chromosomen  gebildet  wird,  der  Sporophyt  also 
diese  auch  während  seines  ganzen  Entwicklungs- 
ganges besitzt.  Man  kann  auch  die  erstere  Gene- 
ration die  haploide  oder  x-,  die  letztere  die  diploide 
oder  2x-Generation  nennen,  muß  aber  dabei  im 
Auge  behalten,  daß  es  sich  nur  um  ein  zeitliches 
Zusammenfallen  von  zwei  Vorgängen  handelt,  die 
im    Grunde    nichts   miteinander    zu    tun    haben.  ^) 

Der  Entwicklungsgang  der  einen  Generation 
kann  sich  nun  außerordentlich  verkürzen,  und  so 
kann  sowohl  die  haploide  als  auch  die  diploide  auf 
wenige  Zellen,  ja  auf  eine  einzige  Zelle  beschränkt 
werden,  und  die  eigentliche  Pflanze  kann  entweder 


')  Vgl.  hierzu  J.  Buder,  Zur  Frage  des  Generation! 
wechseis  im  Pflanzenreich.  (Berichte  der  deutschen  botanische 
Gesellschaft   1916,  Bd.  34,  S.  559—576.) 


714 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  51 


die  eine  oder  die  andere  Generation  repräsentieren. 
Wir  werden  die  Sache  vielleicht  am  besten  so  dar- 
stellen, daß  wir  von  den  Pflanzen  ausgehen,  bei 
denen  ein  deutlicher  Generationswechsel  vorhanden 
ist  und  die  eine  Generation  dem  haploiden  Zustand, 
die  andere  dem  diploiden  entspricht.  Geeignet  er- 
scheinen deshalb  die  Pflanzen,  die  an  dem  unteren 
Ende  der  sog.  Reihe  der  Archegoniaten 
stehen,  zu  der  von  den  Moosen  an  aufwärts  alle 
höheren   Pflanzen  gehören. 

Bei  den  Moosen  also  ist  die  Moospflanze  der 
Gametophyt  und  zugleich  die  haploide  Generation, 
sie  erzeugt  die  Geschlechtsorgane.  Bei  der  Be- 
fruchtung vereinigen  sich  naturgemäß  die  zwei 
Kerne,  der  des  Antherozoids,  der  männlichen,  hier 
beweglichen  Befruchtungszelle,  mit  dem  Kern  des  im 
Archegonium  ruhenden  Eies.  Aus  dem  befruchteten 
Ei  entsteht  die  ungeschlechtliche,  Sporogonium 
genannte  Generation,  die  als  Mooskapsel  bekannt 
ist  und  in  ihrem  Innern  das  sporenbildende  Gewebe 
(Archesporium)  differenziert.  Die  Archesporzellen 
teilen  sich  zweimal,  die  erste  Teilung  ist  die  hetero- 
typische, die  zweite  die  homöotypische,  beide  zu- 
sammen machen  also  die  Reduktionsteilung  aus 
und  geben  vier  .Sporenzellen,  deren  Kerne  schon 
haploid  sind.  Die  Sporen  liefern  bei  der  Keimung 
die  Moospflanze,  von  der  wir  ausgegangen  sind. 
Alle  Kernteilungen  also,  die  bei  der  Entwicklung 
der  Moospflanze  auftreten,  zeigen  die  halbe  Chro- 
mosomenzahl von  derjenigen,  die  den  Kernteilungen 
bei  der  Entwicklung  des  Sporogons  zukommt :  die 
Zahlen  sind  beispielsweise  bei  Atitlwceros  und 
Blyttia  4  und  8,  bei  Polytrichum  6  und   12. 

Dasselbe,  nur  scheinbar  umgekehrt,  ist  bei  den 
Farnen,  Schachtelhalmen  und  Bär  läpp - 
gewachsen  der  Fall.  Hier  ist  die  beblätterte 
Pflanze,  also  z.  B.  das  Farnkraut,  die  ungeschlecht- 
liche Generation,  der  Sporophyt.  In  den  Sporangien 
findet  bei  der  Bildung  der  Sporen  die  Reduktions- 
teilung statt,  jede  Archesporzelle  liefert  wie  bei 
den  Moosen  vier  Sporen  mit  haploider  Anzahl  der 
Chromosomen  in  ihren  Kernen.  Aus  der  Spore 
entsteht  das  sog.  Prothallium,  das  die  Geschlechts- 
organe produziert,  also  die  geschlechtliche  und 
zugleich  haploide  Generation  ist.  Durch  die  Be- 
fruchtung des  Eies,  die  im  wesentlichen  durch 
ähnliche  Zellen  erfolgt  wie  bei  den  Moosen,  ver- 
doppelt sich  natürlich  die  Chromosomenzahl.  Das 
befruchtete  Ei  aber  liefert  den  Sporophyt  oder  die 
ungeschlechtliche  Generation,  von  der  wir  ausge- 
gangen sind,  z.  B.  also  die  Farnpflanze.  So  zeigen 
z.  B.  beim  Königsfarn,  Osmtmda  regalis,  die  Kern- 
teilungen im  Prothallium  12,  solche  im  Sporophyten 
aber  24  Chromosomen. 

Vergleichen  wir  Moose  und  Farnpflanzen,  so 
finden  wir  bei  letzteren  die  geschlechliche,  die 
haploide  Generation  bedeutend  reduziert  gegen- 
über den  ersteren.  Noch  mehr  ist  dies  der  Fall 
bei  den  höheren  Farnen  und  Bärlappgewächsen 
wie  Salvinia  und  Selaghiella  nebst  ihren  Verwandten, 
besonders  bei  letzterer.  Hier  ist  die  geschlecht- 
liche Generation  diöcisch,  d.  h.  die  einen  Prothallien 


sind  nur  männlich,  die  anderen  nur  weiblich,  und 
die  männlichen  und  weiblichen  sind  nicht  nur 
recht  verschieden  voneinander,  sondern  entstehen 
auch  schon  aus  verschiedenen  Sporen,  die  männ- 
lichen aus  kleineren,  die  weiblichen  aus  größeren, 
so  daß  man  schon  beim  Sporophyt  Mikro-  und 
Makrosporangien  mit  Mikro-  und  Makrospot  en 
unterscheiden  kann.  Ganz  besonders  das  männ- 
liche Prothallium,  also  die  haploide  Generation  im 
männlichen  Geschlecht,  ist  so  verkümmert,  daß 
sie  nur  aus  wenigen  Zellen  besteht  und  nicht 
einmal  die  Spore,  aus  der  sie  entstanden  ist,  ver- 
läßt. Wenn  nun  auch  die  Spore  in  Verbindung 
mit  der  sie  erzeugenden  Pflanze  —  das  ist  natür- 
lich die  diploide,  ungeschlechtliche  Generation  — 
bleibt,  so  ist  scheinbar  die  geschlechtliche  Genera- 
tion ganz  ausgeschaltet.  Zu  einem  solchen  Zustand 
sind  die  Blütenpflanzen  oderPhanerogamen  gelangt. 

Eine  Blütenpflanze,  sei  sie  ein  einjähriges 
Kraut  oder  ein  viele  Jahre  alter  Baum,  ist  die  un- 
geschlechtliche Generation,  ist  also  diploid  wie  die 
höheren  Tiere.  Die  Reduktion  der  Chromosomen 
muß  daher  vor  der  Bildung  der  Geschlechtszellen 
erfolgen,  aber  diese  werden  bei  den  Blütenpflanzen 
nicht  direkt  gebildet,  sondern  es  schaltet  sich  eine 
rudimentäre  haploide  Geschlechtsgeneration  ein  in 
Übereinstimmung  mit  den  schon  erwähnten  Moosen 
und  Farnpflanzen.  Und  wie  bei  diesen  entsteht 
die  genannte  Generation  aus  Sporen  und  tritt  bei 
der  Bildung  der  Sporen  die  Reduktion  ein.  Die 
Sporen  sind  aber  hier  auch  in  Mikro-  und  Makro- 
sporen unterschieden.  Ganz  deutlich  ist  die  Ana- 
logie zwischen  den  Mikrosporen  der  höheren  Ge- 
fäßkryptogamen und  den  Pollenkörnern,  die  immer 
ebenfalls  zu  viert  aus  einer  Mutterzelle  entstehen, 
wobei    die    Reduktion    der  Chromosomen    erfolgt. 

Weniger  deutlich  ist  die  Analogie  zwischen 
der  Makrospore  und  dem  Embryosack,  allein  eine 
eingehende  Erklärung  würde  uns  zu  weit  führen. 
Es  sei  deshalb  bloß  erwähnt,  daß  in  den  meisten 
Fällen  in  der  Samenanlage,  dem  sog.  Eichen  im 
Fruchtknoten,  nur  eine  Archesporzelle  entsteht, 
die  unter  Reduktionsteilung  vier  Zellen  bildet,  und 
daß  nur  eine  dieser  Sporenzellen  zum  Embryosack 
wird,  während  die  drei  anderen  zugrunde  gehen. 
Die  Zellteilungen  bei  der  Keimung  der  Pollen- 
körner bis  zur  Entstehung  der  männlichen  Sexual- 
kerne und  ebenso  die  Zellteilungen  innerhalb  des 
Embryosacks  bis  zur  Entstehung  des  Eies  bilden 
die  geschlechtliche  Generation  und  gehören  so- 
mit der  haploiden  Phase  an. 

Bei  der  Bildung  der  Pollenkörner  oder  Mikro- 
sporen und  des  rudimentären  männlichen  Prothal- 
liums, das  aus  ihnen  entsteht  (des  PoUenschlauchs), 
bleibt  die  Sache  auch  in  Ordnung,  d.  h.  die  Keduk- 
tionsteilung  findet  immer  bei  der  Bildung  der 
Pollentetraden  statt.  Bei  der  Entstehung  der 
weiblichen  Geschlechtsgeneration  aber  treten  Ab- 
weichungen von  dem  oben  als  Typus  geschilderten 
Verhalten  auf  Man  möchte  sagen,  daß  die  Pflanze 
nur  noch  daran  denkt,  daß  sie  eine  Redukiions- 
teilung  vornehmen  muß,    daß    sie  aber   vergessen 


N.  F.  XVI.  Nr.  5 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


715 


hat,  an  welchem  Punkt  der  Entwicklung  dies  der 
Phylogenie  nach  zu  erfolgen  hat.  Und  so  kommt 
es  vor,  daß  die  Reduktionsteilung  in  den  Embryosack 
selbst  verschoben  wird,  statt  bei  seiner  Entstehung 
vor  sich  zu  gehen,  d.  h.  es  entsteht  hier  gar  keine 
Tetrade,  sondern  eine  Zelle  des  Knospenkerns  in 
der  Samenknospe  wächst  direkt  zum  Embryosack 
aus,  und  die  ersten  Teilungen  ihres  Kerns  sind 
eine  heterotypisclie  und  eine  homöotypische,  be- 
sorgen also  die  Reduktion.  Ja  es  kommt  sogar 
eine  Zwischenstufe  vor,  insofern  als  die  Archespor- 
zelle sich  nur  einmal  teilt  (heterotypisch),  eine 
der  Tochterzellen  zum  Embryosack  wird,  und  dessen 
erste  Kernteilung  dann  die  noch  zur  Reduktions- 
teilung gehörende  homöotypische  ist. 

Immer  aber  ist  das  unbefruchtete  Ei  haploid 
wie  der  männliche  Kern,  der  es  befruchtet,  und 
so  wird  die  Zygote  diploid  und  liefert  eine  diploide 
Generation,  den  Sporophyten,  der  in  der  Gestalt 
einer  Phanerogamenspezies  auftritt.  Nebenbei  be- 
merkt kann  bei  der  Befruchtung  der  Angiospermen 
auch  ein  triploides  Gewebe  entstehen,  wenn  ein 
zweiter  männlicher  Kern  mit  zwei  freien  Kernen 
des  Embryosacks  verschmilzt,  denn  aus  dieser 
dreifachen  Zygote  geht  durch  weitere  Zellteilungen 
das  als  Nährgewebe  fungierende  Endosperm  her- 
vor. Da  dieses  aber  nur  bei  der  Keimung  eine 
passive  Rolle  spielt,  niemals  seinerseits  wieder 
Fortpflanzungszellen  erzeugt,  so  kommt  dieser 
triploide  Zustand  für  die  weitere  Entwicklung  nicht 
in  Betracht  und  bietet  keine  Veranlassung  zu 
einer  Ausgleichung  oder  Reduktion. 

Nachdem  wir  so  in  der  Archegoniatenreihe  bis 
an  das  obere  Ende,  zu  den  Angiospermen  gekom- 
men sind,  wollen  wir  nun  sehen,  wie  sich  an  ihr 
unteres  Ende  andererseits  die  Algen  anschließen 
lassen.  Die  größte  Analogie  mit  den  Moosen  zeigt 
eine  braune  Meeresalge,  Dictyota,  deren  etwa  hand- 
langer Thallus  aus  wiederholt  gabelig  geteilten, 
schmalen  Bändern  besteht.  Sie  zeigt  einen  Gene- 
rationswechsel, der  mit  dem  Wechsel  der  haploiden 
und  diploiden  Entwicklungsphase  zusammenfällt, 
und  in  dem  die  beiden  Generationen  äußerlich 
vollkommen  gleich  sind.  Wir  finden  zu  einer  ge- 
wissen Periode  äußerlich  gleiche  männliche  und 
weibliche  Exemplare,  die  haploid  (mit  16  Chromo- 
somen) sind.  Aus  der  befruchteten  Eizelle  entsteht 
eine  neue  Generation,  die  im  Aussehen  von  der 
geschlechtlichen  nicht  verschieden,  aber  diploid 
(mit  32  Chromosomen)  ist  und  ungeschlechtliche 
Sporen  erzeugt,  die  unter  Reduktionsteilung  zu 
viert  in  oberflächlich  und  einzeln  sitzenden  Sporan- 
gien  entstehen.  Jede  dieser  nun  haploiden  Sporen 
liefert  bei  der  Keimung  wieder  eine  männliche 
oder  weibliche  haploide  Pflanze. 

Das  ist  also  das  Verhalten,  von  dem  man 
eigentlich  ausgehen  sollte,  denn  nach  der  einen 
Seite  wird  die  haploide  geschlechtliche,  nach  der 
anderen  die  diploide  ungeschlechtliche  Generation 
überwiegend,  und  zwar  stellen  sich  die  Moose  auf 
jene,  die  F"arne  und  höheren  Pflanzen  auf  die  andere 


Seite.  Die  Algen  aber  schließen  sich  größtenteils 
den  Moosen  an  unter  immer  stärkerer  Verkürzung 
des  diploiden  Zustandes,  während  einige  von  ihnen 
sich  gerade  umgekehrt  verhalten. 

Da  sind  zunächst  die  Cutleriaceen  zu  er- 
wähnen, die  wie  Dictyota  zu  den  kleineren  Braun- 
algen gehören  und  ihre  Entwicklung  normaler- 
weise in  zwei  auch  äußerlich  verschiedenen  Gene- 
rationen vollziehen.  Die  ungeschlechtliche  Gene- 
ration (die  Aglaozonia-V oxm)  bildet  einen  flachen, 
scheibenförmigen  Thallus  und  ist  diploid,  ihre  Fort- 
pflanzungsorgane sind  Schwärmsporen,  die  in 
größerer  Zahl  in  schlauchförmigen  Sporangien 
entstehen  und  bei  deren  Bildung  die  Reduktion 
eintritt,  indem  die  beiden  ersten  Teilungen  im 
Sporangium  die  Zahl  der  Chromosomen  von  48 
auf  24  herabsetzen.  Die  haploiden  Schwärmsporen 
lassen  eine  aufrecht  wachsende,  band-  bis  faden- 
förmige Pflanze  (die  Cutler iaVoxvcC)  hervorgehen, 
die  sowohl  männliche  als  auch  weibliche  Gameten 
bildet.  Diese  sind  natürlich  auch  noch  haploid, 
und  erst  die  Zygote  wird  wieder  diploid  und 
liefert  die  ungeschlechtliche  Generation,  von  der 
wir  ausgingen.  Auf  die  abweichenden  Verhältnisse, 
die  durch  Ausschaltung  einer  Generation  eintreten 
können,  wollen  wir  hier  nicht  eingehen. 

Ähnlich  wie  Dictyota  verhalten  sich  gewisse 
F I  o  r  i  d  e  e  n  (Rotalgen),  weil  sie  einen  regelmäßigen 
Generationswechsel  mit  äußerlich  gleichen  Gene- 
rationen besitzen,  und  weil  die  ungeschlechtliche 
Generation  die  Sporen  unter  Reduktionsteilung  zu 
viert,  als  sog.  Tetrasporen  ausbildet.  Die  haploiden 
Tetrasporen  entwickeln  sich  teils  zu  männlichen, 
teils  zu  weiblichen,  sonst  aber  einander  gleichen 
Pflanzen.  Nun  aber  entsteht  aus  der  Zygote  nicht 
gleich  die  Tetrasporenpflanze,  sondern  das  Gebilde, 
das  man  als  die  Frucht  der  Florideen,  den  Sporen- 
haufen oder  Glomerulus  zu  bezeichnen  pflegt  und, 
wenn  es  von  einer  besonderen  Hülle  umgeben  ist, 
Cystocarp  nennt.  Aus  der  befruchteten  Eizelle 
oder  anderen  Zellen,  mit  denen  jene  in  eine  enge 
Verbindung  tritt  (man  nennt  sie  deshalb  Auxiliar- 
zellen),  sprossen  nämlich  erst  Fäden  aus,  deren 
Glieder  zu  den  als  Carposporen  bezeichneten,  sich 
ablösenden  Fortpflanzungszellen  werden.  Natürlich 
sind  die  Carposporen  auch  schon  diploid  und  man 
könnte  den  Fruchtkörper  der  Florideen  mit  dem 
Sporogonium  der  Moose  vergleichen,  aber  der 
Unterschied  liegt  nun  darin,  daß  nicht  an  diesem 
Organ,  sondern  erst  an  der  Pflanze,  die  aus  den 
Carposporen  entsteht,  die  Reduktion  der  Chromo- 
somen sich  vollzieht,  nämlich,  wie  oben  gesagt, 
an  der  den  Geschlechtspflanzen  gleichenden  Form 
bei  der  Bildung  der  Tetrasporen.  Äußerlich  be- 
trachtet haben  wir  hier  also  eigentlich  drei 
Generationen:  die  geschlechtliche  Pflanze,  die 
Sporenfrucht  und  die  Tetrasporenpflanze:  die 
ersteren  beiden  sind  morphologisch  miteinander 
verbunden,  die  letzteren  beiden  sind  zwar  getrennt, 
bilden  aber  zusammen  die  diploide  Entwicklungs- 
phase, während  die  haploide  nur  durch  die  erste 
dargestellt  wird.     Der  geschilderte  Entwicklungs- 


7i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gang  ist  bekannt  für  Arten  von  Polysiphonia, 
Rhodoincla,  Griffitksia  und  Delcsseria. 

Wie  sich  die  Sache  bei  denjenigen  Florideen 
verhält,  bei  denen  die  Tetrasporen  auf  den  Ge- 
schlechtspflanzen entstehen ,  werden  bald  neue 
Untersuchungen  lehren.  Andere  Arten  wie  Nito- 
phyllian  piinctatum  bilden  neben  den  Geschlechts- 
organen auf  derselben  Pflanze  statt  der  Tetra- 
sporen Monosporen,  die  ohne  Reduktionsteilung 
entstehen,  wo  letztere  aber  stattfindet,  ist  noch 
fraglich.  Solche  Arten,  die  keine  Tetrasporen 
bilden,  sind  in  der  geschlechtlichen  Generation 
haploid,  die  befruchtete  Eizelle  ist  natürlich  diploid 
und  erfährt  eine  Reduktionsteilung,  bevor  aus  ihr 
der  Fruchtkörper  entsteht.  S  ve  de  li  us,  ^)  dem 
wir  diese  Kenntnisse  großenteils  verdanken,  nennt 
solche  Formen  haplobiontische  im  Gegensatz  zu 
den  zuerst  erwähnten  und  als  diplobionlische 
bezeichneten. 

Unter  den  braunen  Algen  kennen  wir  nun 
noch  zwei  Gruppen,  die  sich  gewissermaßen  in 
entgegengesetzter  Richtung  entwickelt  haben,  so 
nämlich,  daß  bei  den  einen  die  ungeschlechtliche 
Generation  die  eigentliche  Pflanze  vorstellt,  bei 
den  anderen  die  geschlechtliche,  in  beiden  Fällen 
aber  die  diploide  Phase  (höchst  wahrscheinlich 
wenigstens).  Die  erste  Gruppe  bilden  gewisse 
Lamhiaria- hvien,  an  denen  erst  neuerdings  ent- 
deckt worden  ist,-)  daß  aus  ihren  Schwärmsporen 
winzige,  rasch  vergängliche,  männliche  und  weib- 
liche Prothallien  entstehen,  ähnlich  wie  bei  höheren 
Farnpflanzen.  Das  Ei  muß  diploid  sein,  demnach 
auch  die  daraus  sich  bildende  große  Laminaria. 
Daß  bei  der  Bildung  ihrer  Schwärmsporen  wie 
bei  denen  von  Aglaozonia  die  Reduktion  erfolgt, 
braucht    kaum    in    Zweifel    gezogen     zu    werden. 

Die  andere  Gruppe  bilden  der  Blasentang, 
Fiicus,  und  verwandte  Formen.  Die  Pflanze  ist 
diploid,  denn  ihre  vegetativen  Teilungen  zeigen 
dieselbe  Zahl  von  Chromosomen  wie  die  erste 
Teilung  des  befruchteten  Eies,  die  Reduktion  der 
Chromosomenzahl  erfolgt  demnach  bei  der  Ent- 
stehung der  Eier  und  Spermatozoiden,  wie  bei 
den  Tieren,  also  mit  vollständiger  Ausschaltung 
einer  ungeschlechtlichen  Generation.  Bemerkens- 
wert ist  dabei,  daß  nach  den  Beobachtungen  von 
Strasburger  nach  der  ersten  Vierteilung  im  Ei- 
behälter  (nach  den  2  Reduktionsteilungen)  eine 
Ruhepause  eintritt,  und  dann  erst  die  weiteren 
Teilungen  einsetzen,  die  zur  Bildung  von  acht  Eiern 
(bei  Fuchs  wenigstens)  führen,  daß  ferner  die  vier 
ersten  Kerne,  die  im  Antheridium  entstehen,  tetra- 
edrisch  angeordnet  sind,  wie  die  der  Sporenanlagen 
im  Sporangium,  wenn  Sporentetraden  entstehen. 
Daß  die  Oogonien-  und  Antheridienanlagen  aber 
eine  „Zusammenziehung  von  Tetrasporangien  und 
Gametangien"  darstellen  sollen,  wie  Strasburger 


')  Das  Problem  des  Gencialionswechsel.s  bei  den  Florideen. 
(NTaturw.   Wochenschr.  N.  F.  XV.  Bd.,   1916,  Nr.  25  u.  36.) 

■-)  Vgl.  N.iturw.  Wochenschr,  N.  F.  Bd.  XVI,  1917, 
S.  578. 


will,  scheint  doch  eine  etwas  zu  weit  gegangene, 
künstliche  Deutung  zu  sein. 

Es  ist  aber  nicht  nötig,  daß  bei  der  Ausschal- 
tung oder  Verkümmerung  der  ungeschlechtlichen 
Generation  die  Reduktionsteilung  bei  der  Bildung 
der  Geschlechtszellen  erfolgt,  sondern  sie  kann  auch 
bei  der  Keimung  des  Eies  eintreten,  und  dann  ist 
die  geschlechtliche  Pflanze  haploid!  Von  dieser 
Möglichkeit  machen  die  grünen  Algen  (Chloro- 
phyceen)  und  Characeen  Gebrauch,  deren 
gegenseitige  Verwandtschaft  durch  Übereinstim- 
mung in  diesem  Punkte  eine  größere  Wahrschein- 
lichkeit erhält. 

Die  Characeen,  auch  Armleuchteralgen  ge- 
nannt, besitzen  nur  geschlechtliche  Fortpflanzung. 
Wenn  die  Zygote  von  Cliara,  das  befruchtete  Ei, 
keimt,  so  teilt  sich  zunächst  ihr  Kern  zweimal, 
aber  von  den  vier  gebildeten  Kernen  degenerieren 
drei  und  werden  von  dem  obersten,  vierten  durch 
eine  Querwand  abgetrennt.  Der  übrig  bleibende 
teilt  sich  weiter,  indem  nur  aus  der  oberen  Zelle 
der  Keimling  entsteht.  Offenbar  tritt  die  Reduk- 
tionsteilung bei  der  Teilung  des  Kernes  der  keimen- 
den Zygote  ein,  was  ja  auch  gut  mit  der  Tatsache 
übereinstimmt,  daß  es  sich  dabei  um  eine  Art 
Tetradenteilung  handelt.  Die  diploide  Phase  be- 
schränkt sich  also  bei  C/iara  auf  d\e  ruhende  Zygote. 

Reste  der  ungeschlechtlichen  Generation  können 
wir  noch  bei  Coleochaete  und  OeJogoniiDii  finden, 
die  mikroskopisch  kleine  grüne  Algen  des  Süß- 
wassers sind.  Bei  ersterer  erfolgt  nachweislich 
die  Reduktionsteilung  bei  der  ersten  Teilung  des 
befruchteteu  Eies,  aus  dem  ein  kleiner  scheiben- 
förmiger Körper  entsteht,  dessen  Zellen  zu  Schwärm- 
sporen werden.  Daraus  aber  ergibt  sich,  daß  auch 
diese  ungeschlechtliche  Generation  schon  haploid 
geworden  ist,  daß  also  haploide  und  diploide 
Phase  nicht  mit  geschlechtlicher  und  ungeschlecht- 
licher Generation  zusammenfällt,  denn  ein  diploider 
Kern  ist  nur  während  des  Zygotenzustandes  vor- 
handen. 

Noch  einfacher  liegt  die  Sache  bei  Oedogonium, 
allerdings  nur  der  Vermutung  nach,  denn  die  recht 
schwierig  zu  beobachtende  Keimung  der  Zygote 
ist  noch  nicht  cytologisch  untersucht  worden.  Was 
liegt  aber  näher,  wenn  die  Zygote  bei  der  Keimung 
vier  Schwärmsporen  liefert,  als  anzunehmen,  daß 
wir  hier  eine  Tetradenteilung  vor  uns  haben,  bei 
der  die  Reduktion  der  Chromosomen  erfolgt? 

Bei  Ulothrix,  der  Kraushaaralge,  die  wie  Oedo- 
gcmiinn  aus  einfachen  Zellfäden  besteht  und  durch 
Kopulation  von  Schwärmsporen  sich  geschlechtlich 
fortpflanzen  kann,  teilt  sich  nach  Klebs  der 
Protoplast  der  Zygote  bei  der  Keimung  in  vier 
Zellen,  deren  jede  für  sich  in  einen  neuen  Faden 
auswächst.  Hierbei  wäre  also  die  Reduktionstei- 
lung zu  vermuten,  doch  bedarf  die  Sache  noch 
weiterer  Untersuchung,  da  nach  anderen  Angaben 
sich  aus  der  Zygote  2 — 14  Schwärmsporen  bilden 
können.  Möglich,  daß  auch  bei  ihrer  Entstehung 
die  Reduktion  vollzogen  wird. 

Von  den  zuletzt  erwähnten  Algen  können  wir 


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leicht  zu  den  Conjugaten  übergehen,  bei  denen 
die  Zygote  durch  Verschmelzung  von  zwei  gleich- 
artigen, nicht  frei  beweglichen  Geschlechtszellen 
(Gameten)  gebildet  wird.  Sie  sind  teils  einfache 
Zellfäden,  teils  einzeln  lebende  Zellen.  Letztere 
bilden  die  durch  ihre  zierlichen  Formen  bekannten 
Desmidiaceen,  bei  denen  sich  zwei  Gruppen 
unterscheiden  lassen : 

1.  Bei  Cylhidrocystis,  dem  sich  wahrscheinlich 
Mesotaeniuni  anschließt,  ist  die  Zygote  dipioid, 
keimt  nach  einer  Ruhepause  und  teilt  sich  bei  der 
Keimung  in  vier  gleiche  Zellen,  die  alle  zu  neuen 
Pflanzen  werden;  bei  der  Vierteilung  tritt  die 
Reduktion  ein. 

2.  Bei  Closleriuin,  Costnarium  und  wahrschein- 
lich auch  anderen  Arten  ist  das  Verhalten  der 
Zygote,  die  Reduktion  und  die  Keimung  nach 
einer  Ruhepause  wie  bei  i  beschaffen ,  aber  es 
entstehen  nicht  vier  gleiche  Kerne,  sondern  zwei 
große  und  zwei  kleine  und  nur  zwei  Keimlinge, 
deren  jeder  einen  Großkern  und  einen  Kleinkern 
besitzt.  Indem  der  Kleinkern  degeneriert,  bekommt 
jede  Zelle  wieder  einen  haploiden  Kern.  ') 

Aus  den  fadenförmigen  Conjugaten  sind  ver- 
schiedene Spirogyra-  und  Zygne}na-kx\.itx\  unter- 
sucht und  in  ihrem  Verhalten  verschieden  befunden 
worden,  so  daß  wir  wiederum  zwei  Gruppen  unter- 
scheiden können.  Bei  der  einen  macht  die  diploide 
Zygote  eine  Ruhepause  durch  und  erst  bei  der 
Keimung  tritt  eine  Reduktionsteilung  ein  unter 
Bildung  von  vier  Kernen,  von  denen  aber  nur 
einer,  der  sog.  Großkern,  erhalten  bleibt,  die 
drei  anderen,  die  Kleinkerne,  degenerieren,  so  daß 
der  Keimling  wiederum  nur  einen  haploiden  Kern 
besitzt  und  diesen  Zustand  auf  alle  Zellen  des 
Fadens  vererbt.  Bei  der  anderen  Gruppe  erfolgt 
die  Reduktionsteilung  sofort  nach  der  Kernver- 
schmelzung bei  der  Kopulation,  und  von  den  vier 
dabei  entstehenden  Kernen  bleibt  nur  der  Groß- 
kern in  der  Zygote  erhalten,  da  die  drei  Klein- 
kerne degenerieren.  Es  ist  also  schon  die  ruhende 
Zygote  haploid,  der  diploide  Zustand  auf  die  denk- 
bar kürzeste  Periode  eingeschränkt. 

Den  Desmidiaceen  sind  die  Diatomaceen 
oder  Kieselalgen  in  der  Zierlichkeit  der  Gestalt, 
der  Koloniebildung  und  der  Vermehrung  durch 
Teilung  ähnlich,  auch  in  der  Kopulation  zeigen 
sich  gewisse  Analogien,  merkwürdigerweise  aber 
verhalten  sich  in  Hinsicht  auf  die  Reduktionsteilung 
die  beiden  Familien  recht  verschieden.  An  das 
vorhin  erwähnte  Clostcrinm  schließen  sich  viel- 
leicht noch  am  ehesten  gewisse  zentrisch  gebaute 
Formen  der  Diatomeen  an,  doch  sind  die  Vorgänge 
im  einzelnen  noch  zu  wenig  erforscht.  Bei  der 
marinen  Art  Corctliron  Valdiviae  scheinen  die 
vegetativen  Zellen  haploid  zu  sein  und  ebenso  die 
kleinen  Schwärmsporen,  die  in  größerer  Zahl  aus 
einer  Zelle  entstehen  und  sich  paarweise  zu  einer 


')  Vgl.    H.    Kauffmann,    Über    den    Entwicklungsgang 
von  Cylindrocystis  (Zeitschr.  f.  Bot.  VI.   1914.    S.  72?— 774.). 


diploiden  Zygote  vereinigen.  Bei  deren  Keimung 
vollzieht  sich  die  Reduktionsteilung  ähnlich  wie 
bei  Closteruuii  und  bilden  sich  vier  Kerne,  zwei 
Großkerne  und  zwei  Kleinkerne,  aber  nur  zwei 
Keimlinge,  in  denen  je  ein  Großkern  erhalten  bleibt. 
Bei  den  nicht  strahlig  gebauten  Diatomeen,  der 
sog.  Gruppe  der  Pcnnalae,  sind  im  Gegensatz 
zu  den  vorigen  und  den  Conjugaten  die  sich  vege- 
tativ teilenden  Zellen  dipioid  und  erfolgt  die 
Reduktionsteilung  bei  der  Kopulation,  durch  welche 
aber  hier  nicht  eine  ruhende  Zygote,  sondern  nur 
größere  Zellen  gebildet  werden,  sog.  Auxosporen, 
die  sich  wieder  in  immer  etwas  kleiner  werdende 
Zellen  teilen.  Hier  hat  man  drei  Fälle  unter- 
scheiden können: 

1.  Bei  Rlwpalodia  gihba  legen  sich  zwei  Zellen 
aneinander,  in  jeder  entstehen  vier  Kerne  unter 
Reduktionsteilung,  zwei  Groß-  und  zwei  Kleinkerne, 
und  indem  jene  Zellen  sich  teilen,  bilden  sich  zwei 
Gametenpaare  mit  je  einem  Groß-  und  einem 
Kleinkern  in  einem  Gameten.  Bei  der  Verschmel- 
zung der  Gameten,  wodurch  also  zwei  Zygoten 
entstehen,  vereinigen  sich  nur  die  Großkerne,  die 
Kleinkerne  verschwinden. 

2.  Bei  Surirella  saxonica  teilen  sich  die  Zellen, 
die  zusammentreten,  nicht,  vielmehr  entstehen  in 
jeder  unter  Reduktionsteilung  vier  Kerne,  und 
diesmal  ein  Großkern  und  drei  Kleinkerne.  Bei 
der  nun  erfolgenden  Kopulation  der  Zellen  ver- 
einigen sich  nur  die  Großkerne,  während  die  kleinen 
verschwinden. 

3.  Bei  Cocconeis  vereinfacht  sich  die  Sache 
noch  mehr,  indem  die  Tetradenteilung  nicht  mehr 
vollständig  ausgeführt  wird,  sondern  nach  der 
ersten  Teilung  ein  Tochterkern  degeneriert  und 
nur  der  andere  sich  teilt  und  zwar  in  einen  Groß- 
und  einen  Kleinkern.  Die  kopulierenden  Zellen 
enthalten  dann  also  je  zwei  ungleiche  Kerne;  in 
der  Zygote,  die  zur  Auxospore  wird,  bleiben  zu- 
nächst nur  die  zwei  Großkerne  erhalten,  da  die 
Kleinkerne  zugrunde  gehen,  schließlich  ver- 
schmelzen auch  die  ersteren. 

Die  Diatomeen  der  Pennatae-Gruppe  bilden 
eine  Ausnahme  unter  den  Algen  insofern,  als 
ihre  Zellen  bei  der  Äquationsteilung  dipioid  sind 
wie  die  der  Tiere  und  höheren  Pflanzen,  die 
Reduktionsteilung  daher  vor  der  Kopulation 
stattfindet,  während  bei  den  anderen  einfach 
gebauten  Algen  die  Zellen  des  Thallus  haploid 
sind  und  die  Reduktion  nach  der  Kopu-lation, 
also  bei  der  Keimung  erfolgt.  Nur  Fucus 
verhält  sich  wie  die  Tiere,  während  Dictyota  und 
gewisse  Florideen  mit  ausgesprochenem  Gene- 
rationswechsel noch  eine  besondere  Gruppe 
bilden. 

Was  schließlich  die  Pilze  betrifft,  so  ist  über 
die  niederen  Formen  so  wenig  bezüglich  der 
Reduktionsteilung  ermittelt,  daß  wir  auf  sie  nicht 
eingehen  wollen.  Um  so  interessanter  liegen  die 
Verhältnisse     bei     den     höheren     Formen,     den 


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Schlauchpilzen  oder  Ascomycetcn  und 
den  Basidiomyceten. ') 

Bei  den  ersteren  erfolgt  die  Reduktionsteilung 
im  Schlauch,  in  dem  die  Sporen  gebildet  werden. 
Der  junge  Schlauch,  eine  längliche  Zelle  am  Ende 
eines  Fadens,  enthält  bei  allen  bisher  genauer 
untersuchten  Ascomyceten  zwei  Kerne ,  die 
miteinander  verschmelzen.  Dieser  diploide  Kern 
teilt  sich  nun,  und  zwar  ist  die  erste  Teilung 
heterotypisch,  also  eine  Reduktionsteilung.  Die 
durch  die  zweite  Teilung  entstehenden  vier  Kerne 
teilen  sich  aber  meistens  noch  einmal,  so  daß  acht 
Kerne  und  aus  ihnen  acht  Sporen  entstehen,  die 
haploid  sind  und  ein  haploides  Mycelium  liefern. 
An  diesem  entwickeln  sich  die  Sexualorgane,  die 
allerdings  nur  bei  einigen  Arten  bekannt  sind  (viel- 
leicht auch  nicht  überall  vorkommen),  und  von 
denen  die  eigentliche  Fruchtbildung  ausgeht.  Wenn 
nun  die  Kopulation,  die  Befruchtung,  stattfindet, 
verschmilzt  der  männliche  Kern  nicht  mit  dem 
weiblichen,  sondern  die  Kerne  legen  sich  nur  an- 
einander, und  diese  Paare  gehen  auf  die  sich  weiter 
aus  der  Zygote  bildenden  Zellen  über,  sie  teilen 
sich  „konjugiert"  weiter.  Was  jetzt  entsteht, 
können  wir  also  als  diploide  und  ungeschlechtliche 
Generation  betrachten:  es  sind  die  Hyphen,  die 
schließlich  die  Schläuche  liefern  und  daher  ascogene 
Hyphen  genannt  werden.  So  kommt  es,  daß  der 
junge  Schlauch  mit  zwei  Kernen  ausgestattet  ist, 
von  welchem  Zustand  wir  oben  ausgegangen  sind. 

Dem  Ascus  ist  die  Basidie  homolog.  Auch  sie 
enthält  in  einem  gewissen  jugendlichen  Zustand 
zwei  Kerne,  die  dann  verschmelzen,  und  bei  der 
Teilung  dieses  neu  gebildeten  Kernes  erfolgt  die 
Reduktion  der  Chromosomen.  Damit  können  wir 
uns  aber  nicht  begnügen,  wenn  wir  wissen  wollen, 
woher  die  beiden  Kerne  der  Basidie  stammen,  und 
wie  sich  der  haploide  und  diploide  Zustand  zu 
den  morphologischen  Entwicklungsformen  verhält. 
Zum  Verständnis  dieser  Verhältnisse  müssen  wir 
sogar  die  ver.>-chiedenen  Abteilungen  der  Basi- 
diomyceten  einzeln  betrachten  und  werden  am 
besten  von  den  Rostpilzen  ausgehen.  Bei  ihnen 
entsteht  die  Basidie  als  Keimprodukt  der  sog. 
Winterspore,  und  die  letztere  ist  es,  in  der  die 
oben  erwähnte  Kernverschmelzung  stattfindet.  Aus 
ihr  sproßt  ein  kurzer  Zellfaden  aus  (eben  die 
Basidie),  der  aus  vier  Zellen  besteht.  Vermutlich 
sind  diese  vier  Zellen  eine  solche  Tetrade,  wie  wir 
sie  in  Verbindung  mit  der  Reduktionsteilung  auf- 
treten sehen,  vermutlich  also,  mit  anderen  Worten, 
tritt  bei  der  Teilung  der  Basidie  in  vier  Zellen 
die  Reduktion  ein.  jede  Zelle  der  Basidie  schnürt 
eine  Spore  (Sporidie)  ab,  und  wenn  diese  keimt, 
entsteht  bei  gewissen  Formen  eine  andere  Gene- 
ration, deren  Fruchtform  als  Aecidium  bezeichnet 
wird.  Seiner  Anlage  aber  geht  ein  Sexualakt  vor- 
aus, wie  bei  der  Fruchtbildung  gewisser  Ascomy- 

')  Vgl.  hierzu  die  übersichtliche  Zusammenstellung  über 
die  Sexualität  der  Pilze  von  H.  .Sierp,  in  „Die  Natur- 
wissenschaften"  1915  Heft   17. 


ceten,  der  jedoch  auch  nur  in  einigen  Fällen  be- 
obachtet worden  ist.  Und  wie  bei  den  Ascomy- 
ceten verschmelzen  die  Kerne  nicht,  sondern  legen 
sich  nur  aneinander  und  teilen  sich  konjugiert 
weiter.  So  entstehen  schon  zweikernige  Sporen 
im  Aecidium  und,  wenn  diese  keimen,  entsteht  ein 
Mycelium  mit  zweikernigen  Zellen,  das  der  diploiden 
Phase  entspricht.  An  ihm  werden  dann  Sommer- 
und  Wintersporen  gebildet,  erstere  sind  auch  zwei- 
kernig, in  letzteren  aber  tritt  die  oben  schon  er- 
wähnte Kernverschmelzung  ein.  Freilich  spielt 
sich  der  Entwicklungsgang  nicht  immer  in  solcher 
Weise  ab,  doch  müssen  wir  uns  mit  diesem 
Typus  begnügen. 

Bei  den  Brandpilzen  gehen  wir  auch  von 
der  Spore,  der  sog.  Brandspore  aus,  in  der  zwei 
Kerne  zu  einem  verschmelzen,  und  aus  der  die 
Basidie  auskeimt.  Diese  besteht  bei  l'stilago  aus 
vier  Zellen  und  schnürt  vier  Sporidien  ab:  es  ist 
also  soweit  alles  ganz  ähnlich  wie  bei  den  Rost- 
pilzen. Hier  wäre  dann  auch  die  Reduktion  der 
Chromosomen  bei  der  Teilung  der  Basidie  zu 
suchen.  Bei  den  Tilletia-hritn  aber  ist  die  Basidie 
einzellig  und  erzeugt  zahlreiche  Sporidien:  die 
Reduktion  wird  also  erst  bei  deren  Entstehung 
vor  sich  gehen.  Die  haploide  Phase  ist  nun  aber 
sehr  beschränkt,  denn  die  Sporidien  kopulieren, 
und  nun  legen  sich  die  Kerne  wieder  aneinander, 
und  bei  der  Keimung  entsteht  ein  Mycelium  mit 
diploiden,  aber  zweikernigen  Zellen,  die  später 
direkt  zu  den  Brandsporen  werden  und  erst  in 
ihnen  die  Kerne  wirklich  verschmelzen  lassen.  Die 
Bildung  und  Kopulation  der  Sporidien  kann  auch 
ersetzt  werden  dadurch,  daß  an  dem  auswachsen- 
den Mycel  Schnallen  auftreten  und  durch  diese 
Anastomosen  hindurch  der  Übertritt  der  Kerne 
und  ihre  Paarung  ermöglicht  wird.  Schließlich 
können  die  Kernpaare  auch  dadurch  erzielt  werden, 
daß  die  Wände  zwischen  zwei  benachbarten  Zellen 
sich  auflösen.  Hinsichtlich  der  Einzelheiten  muß 
auf  die  Lehrbücher  verwiesen  werden. 

Die  höheren  Basidiomyceten,  zu  denen 
die  meisten  unserer  sog.  Schwämme  gehören, 
verhalten  sich  weit  einfacher.  Ihre  Basidie  ent- 
steht nicht  durch  die  Keimung  einer  Dauerspore, 
sondern  ist,  wie  bei  den  Ascomyceten  der  Ascus, 
einfach  das  Endglied  eines  Fadens  im  fruktifizieren- 
den  Gewebe  (Hymenium).  Die  Kernverschmelzung 
und  die  Reduktionsteilung  des  Zygotenkerns  finden 
in  dieser  Basidie  statt.  Es  entstehen  hier  in  der 
Regel  nur  diese  vier  Kerne  und  sie  begeben  sich 
in  die  am  oberen  Ende  der  Basidie  gebildeten 
Sporenanlagen.  Wenn  sich  aber  aus  diesen  die 
reifen  Sporen  entwickeln,  teilen  sich  die  Kerne 
wieder  und  dadurch  werden  die  reifen  Sporen 
zweikernig.  Keimen  nun  die  Sporen,  so  liefern 
sie  ein  Mycel  mit  zweikernigen  Zellen,  und  dieses 
bleibt  so  bis  zur  Bildung  der  Basidien,  in  denen 
erst  die  eigentliche  Verschrrielzung  der  Kerne, 
also  die  Befruchtung,  eintritt.  Überall  erfolgt  gleich 
darauf  bei  der  nächsten  Kernteilung  in  der  Basidie 
die    Reduktion,    aber    die    anderen  Vorgänge  sind 


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verschieden  je  nach  den  Arten.  Haben  wir  vorhin 
die  Entwicl<lung  geschildert,  wie  sie  Kniep  für 
Hypoclinus  beobachtet  hat,  so  zeigt  Copfinus  nach 
desselben  Autors  Untersuchungen  keine  solche 
Regelmäßigkeit  mehr.  Hier  geht  vielmehr  aus 
der  Spore  ein  Mycel  hervor,  dessen  Zellen  teils 
ein-  teils  mehrkernig  sind  und  nur  von  den  Frucht- 
körperanlagen an  immer  zweikernig  bleiben,  wo- 
durch dann  auch  die  junge  Basidie  regelmäßig 
zwei  Kerne   erhält.     In    ihr   tritt    die  Befruchtung 


durch  Verschmelzung  der  Kerne  ein,  wenn  man 
überhaupt  von  Befruchtung  da  sprechen  kann, 
kann,  wo  gar  keine  Geschlechtsorgane  gebildet 
werden.  Geschlechtliche  und  ungeschlechtliche 
Generation,  haploide  und  diploide  Phase  lassen 
sich  nicht  mehr  abgrenzen,  sie  fließen  sozusagen 
ineinander  über,  und  das  ist  auch  der  Grund, 
warum  wir  diese  Form  an  das  Ende  unserer  Be- 
trachtungen über  den  Reduktionsprozeß  gestellt 
haben. 


Einige  Bemerkuiigeii  zur  Gescliiclite  der  Geolosie,  insbesondere  der  „pliantastisclien 
Periode"  der  Paläontologie. 

Von  Professor  Dr.  K.  Andree  zu  Königsberg  i.   Pr. 
]  Mit  3  Abbildungen  im  Text. 


[Nachdruck  verboten.] 

In  einem  der  ersten  Abschnitte  seiner  ausge- 
zeichneten „Geschichte  der  Geologie  und  Palä- 
ontologie bis  Ende  des  19.  Jahrhunderts"  (München 
und  Leipzig,  R.  Oldenbourg,  1899)  behandelt  Karl 
Alfred  von  Zittel  u.  a.  jenen  Zeitraum  vor 
etwa  200  Jahren  und  früher,  in  welchem  zahlreiche 
Naturforscher  in  ihren  Schriften  der  Meinung  Aus- 
druck   verliehen,    daß    die  Versteinerungen  Natur- 


„Den  tragikomischen  Abschluß  dieser  Literatur 
bildet  die  Lithographia  Wirceburgensis 
von  Joh.  Barth.  B  er  i  nge  r  (17261,  worin  neben 
einer  Anzahl  von  echten  V^ersteinerungen  aus  dem 
Muschelkalk  von  VVürzburg  eine  Menge  angeb- 
licher Versteinerungen  abgebildet  und  beschrieben 
sind,  welche  von  Studeiuen  fabriciert  und  dem 
leichtgläubigen  Professor  in  die  Hände  gespielt 
wurden.      Auf  den    Foliotafeln    sieht    man    Bilder 


LITHOGRAPHIE 

WIRCEBURGENSIS, 

DUCEf^nS  LAPinilM  FIGURATORUM.A  POTIOEU 

TpeTimen^primum.'* 

IN  DBSERTATIGN'E  1MAUC;11RAL!  PHYMCO  HISTQRI. 

AUTHOHnAH    IT    fO.VSf.VSU 

INCLYT*   FACULTATIS   MEDIC/E. 

IN  ALMA  EOO  KRANCICA  « IRCIJJUKCENilUM 

PR.f.SipE 

D.  JOANNF.   BARTHOIOM^O 

AD  \M'^   "■  ■'r,":rK, 


D.  JOANMS  RARTHOLOM/El 

ADAMI  15KKI\f;KR. 


LITHOGRAPHIA 

WIRCEBURGENSIS. 

DUCENTIS  LAPIDUM  FICURATORUM, 


I  CONSUnO    AUDITORIO   AIEÜICO. 


Abb.  2. 


spiele,  „lusus  naturae",  darstellten  und  auf  irgend- 
eine geheimnisvolle  Weise  direkt  im  Erdboden 
entstanden  seien;  so  z.  B.  angesehene  Vertreter 
der  Medizin,  wie  der  Engländer  List  er  (1638 — 
171 1),  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  Leibarzt 
der  Königin  Anna,  und  der  Luzerner  Arzt  und 
Ratsherr  Karl  Nikolaus  Lang  (1670— 1 741); 
dieses  aber,  obwohl  ihnen  die  Beziehungen  mancher 
Versteinerungen  zu  heute  lebenden  F'ormen  durch- 
aus nicht  unbekannt  geblieben  waren. 


von  Nacktschnecken,  Insekten,  Salamandern 
Fröschen,  ja  sogar  von  Sonne,  Mond,  Sternen  und 
hebräischen  Schriftzeichen.  Als  schließlich  auch 
der  eigene  Name  Beringer  zum  Vorschein  kam, 
konnte  die  Mystificalion  nicht  länger  verborgen 
bleiben.  Beringer  suchte  sein  bereits  veröffent- 
lichtes Werk  aufzukaufen  und  zu  vernichten,  allein 
durch  eine  spätere  Auflage  (1767)  wurde  die 
bibliographische  Curiosität  erhalten.  Von  den 
„Lügensteinen"    befindet    sich    eine    reiche  Samm- 


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Naturwissenschaftliche  Woch  enschrift. 


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lung  im  Xaturaliencabinett  von  Bamberg,  einige 
auch  in  den  Universiiätssammlungen  von  Würz- 
burg, München  und  an  anderen  Orten".  ^)  Ähn- 
liches ist  auch  in  späteren  Büchern,  so  inO.  Abel's 
„Paläobiologie"  (19 12)  in  dem  Abschnitt  über  die 
„Phantastische  Periode''  der  Paläontologie,  zu  lesen 
und  wird  einleitend  wohl  in  den  Vorlesungen 
unserer  Wissenschaft  berichtet. 

Die  Bibliothek  des  Geologisch- paläontologischen 
Instituts  und  der  Bernsteinsammlung  der  Universität 
Königsberg  i.  Pr. -)  besitzt  nun  ein  ausgezeichnet 
erhaltenes  Exemplar  jener  ersten,  angeblich  ver- 
nichteten Auflage  von  1726,  bei  dessen  Durch- 
sicht ich  zu  meiner  Überraschung  feststeUte,  daß 
die    allgemein    Beringer    selbst    zugeschriebene 


Abb.   3. 

,,I.ithographia  Wirceburgensis"  in  Wirklichkeit  die 
Doktordissertation  des  Georg  Ludwig  Hueber 
darstellt,  während  Johann  Bartholomaeus 
Adam  Beringer,  Dr.  phil.  et  med.,  öffentlicher 
ordentlicher  Professor  der  Medizin,  nur  als  Senior 
und  Dekan  der  medizinischen  Fakultät  beteiligt 
ist.  Zum  Beweise  hierfür  gebe  ich  in  der  neben- 
stehenden Abb.  I  das  Titelblatt  jener  ersten  Auf- 
lage des  Buches  wieder.  Wenn  damit  nun  die 
Autorschaft  Beringer's  selbst  künftig  in  Wegfall 
zu  kommen  hat,  so  ist  derselbe  natürlich  doch 
nicht  gleichzeitig  von  der  Verantwortung  für  Inhalt 
und  Herausgabe  des  Werkes  freigesprochen;  denn 
noch  mehr  als  heute  dürften  in  damaligen  Zeiten 
die  Dissertationen  die  Anschauungen  der  anregen- 
den Professoren  wiedergegeben  haben.  Nach  einer 
im    Verlauf   eines    diesbezüglichen    Briefwechsels 


')  Geologisch -paläontologisches  Institut  der  Universität 
Göttingen  I 

"j  Wie  ich  nachträglich  feststellte,  auch  das  Würzburger 
Mineralogisch-geologische  Institut,  so  dal3  die  Vernichtung  des 
Werkes  doch   offenbar  nicht  gründlich   genug  erfolgt  sein  muß. 


mir  zugegangenen  gütigen  Mitteilung  des  heutigen 
Vertreters  für  Mineralogie  und  Geologie  in  Würz- 
burg, Herrn  Professor  Dr.  J.  Beckenkamp, 
scheint  übrigens  der  Kandidat  Hueber  selbst 
dem  Dekan  Beringer  jenen  üblen  Streich  ge- 
spielt zu  haben ;  doch  wird  vermutet,  daß  hinter 
Hueber  die  Kollegen  Beringer's  gesteckt 
haben. 

Die  irrtümliche  Angabe  von  Zittel's  von  der 
Autorschaft  Beringer's  erklärt  sich  offenbar  da- 
durch, daß  jenem  nur  die  2.  Auflage  des  Buches 
vorgelegen  hat;  denn  diese  unterdrückt  in  der 
Tat,  wie  ich  an  dem  Exemplar  der  Berliner 
Universitätsbibliothek  feststellen  konnte,  den  Namen 
Hueber's  und  die  Talsache,  daß  es  sich  um 
dessen  Dissertation  handelte,  vollkommen,  wovon 
eine  Wiedergabe  des  Titelblattes  (Abb.  2)  über- 
zeugen mag. 

Da  die  „Lithographia  Wirceburgensis"  immer- 
hin einiges  Interesse  beanspruchen  darf,  füge  ich 
in  Abb.  3  noch  eine  Wiedergabe  der  Tafel  XXI 
bei,  auf  welcher  neben  verschiedenen  „Lügen- 
steinen" auch  echte  Versteinerungen  aus  dem 
Muschelkalk  (wohl  Gervillia  socialis)  dargestellt 
sind. 

Welche  unklaren  Vorstellungen  bezüglich  der 
Versteinerungen  in  damaligen  Zeiten  überhaupt 
allgemeiner  verbreitet  waren,  zeigt  auch  ein  Blick 
in  das  reichhaltige  Buch  von  Georg  Anton 
Volkmann,  „Silesia  subterranea"  (Leipzig  1720), 
oder  in  die  erste  monographische  Beschreibung 
ostpreußischer  Versteinerungen,  welche  Georg 
Andreas  Helwing,  Pastor  in  Angerburg,  1717 
in  Königsberg  hat  erscheinen  lassen,  nämlich  die 
„Lithographia  Angerburgica '.  Beide  Autoren 
müssen  sehr  eifrige  Sammler  gewesen  sein; 
Volk  mann,  dem  der  schlesische  Boden  viel- 
seitigere Anregungen  gab,  als  Helwing  in  Ost- 
preußen empfangen  konnte,  bildet  u.  a.  zahlreiche 
karbonische  Pflanzenreste  ab.  Im  übrigen  werden 
von  ihm  vielfach  die  gleichen  ( )bjekte  beschrieben, 
wie  in  dem  Buche  Helwing 's  —  in  der  Haupt- 
sache Versteinerungen  aus  nordischen  Glazial- 
geschieben, z.  B.  silurische  Korallen.  Bei  Hel- 
wing finden  wir  außer  solchen  auch  Kreide- 
spongien  und  -Seeigel,  sowie  Haifischzähne  aus 
der  tertiären  Bernsteinformation.  U.  a.  ist  der  als 
Geschiebe  und  an  der  Küste  des  Samlandes  von 
der  Ostsee  ausgeworfen  am  häufigsten  anzutreffende 
Kieselschwamm  der  oberen  Kreide,  Rhizopoterion 
cervicorne,  welcher,  wenn  in  Bruchstücken  vor- 
liegend, noch  heute  von  Laien  vielfach  für  ver- 
steinerter Knochen  gehalten  wird,  in  sehr  deutlichen 
Abbildungen  vertreten;  dazwischen  aber  sehen 
wir  —  außer  Konkretionen  und  den  beliebten 
Dendriten  —  nicht  nur  Steinbeile,  Münzen,  Arm- 
spangen, Fibeln  und  andere  menschliche  Artefakte, 
sondern  auch  Gesteiiisbruchstücke  mit  mensch- 
lichen Köpfen  und  Gesichten  abgebildet,  wo  ent- 
weder die  Phantasie  dem  Stift  des  Zeichners  einen 
Streich  gespielt    hat    oder  ebenfalls,    wie    bei  den 


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Ibst 


Würzburger    „Lügensteinen",     am     (  )bjel<t 
künstlich  mindestens  nachgeholfen  war. 

Von  der  „Liihographia  Angerburgica"  is 
übrigens  im  Jahre  1720  ein  von  von  Zitte 
nicht  zitierter  zweher  Teil  in  Leipzig  erschienen 
derselbe  umfaßt   132  S.  und  6  Tafeln. 


V  o  1  k  m  a  n  n  und  H  e  1  w  i  n  g  waren  offenbar 
beide  sehr  belesene  Herren,  umfaßt  doch  z.  B. 
das  dem  ersten  Teile  des  Hei  wing'schen  Buches 


beigegebene     Literaturverzeichnis 
als  72  Schriften  von   1532  an. 


nicht 


weniger 


Einzelberichte. 


Meteorologie.  IVlistpoeffer-Erscheinungen  an 
der  holländischen  Küste  inlolge  einernordenglischen 
EjqjTosion."  Aus  Holland  wird  von  einer  neuen 
Erhebung  des  Meteorologischen  Instituts  berichtet, 
das  sich  bereits  im  Oktober  1914  durch  genaue 
Aufnahme  der  Hörbarkeit  des  Kanonendonners 
Die  Antwerpen  große  Verdienste  erworben  hatte.') 
von  neue  Erhebung  betrifft  Begleiterscheinungen 
der  Explosion  einer  nordenglischen  Munitionsfabrik 
am  I.  Oktober  191 7.  Sie  bestanden  in  erdbeben- 
artigen Erschütterungen,  die  an  der  holländischen 
Nordseeküste  und  in  ihrer  nächsten  Nachbarschaft 
am  Abend  jenes  Tages  bemerkt  wurden.  Auch 
der  Erdbebenmesser  des  Instituts  zu  de  Bildt  wurde 
in  Bewegung  gesetzt. 

Gleichwohl  erscheint  dem  Unterzeichneten  eine 
eigentliche  Teilnahme  an  der  Erderschütterung, 
geschweige  denn  ein  durch  die  Explosion  ge- 
wecktes Erdbeben  ausgeschlossen.  In  diesem  Falle 
hätte  die  zwischen  Holland  und  England  flutende 
Nordsee  starke,  der  Schiffahrt  gefährliche  Seen 
aufweisen  müssen.  Gerade  mit  einer  regionalen 
Zusammenstellung  der  Schiffsunfälle  der  letzten 
Monate  für  die  im  Werden  begriftene  Zeitung 
„Seedienst"  beschäftigt,  kann  ich  mit  Bestimmtheit 
feststellen,  daß  in  diesem  Meeresgebiete  und  seiner 
nordeuropäischen  Nachbarschaft  ein  auffälliges 
Auftreten  solcher  Schiffsunfälle  in  den  ersten 
Oktobertagen   191 7  nicht  stattfand. 

Auf  die  wirkliche  Erklärung  führt  die  Beschrän- 
kung der  rätselhaften  und  vielfach  Besorgnis  er- 
regenden Erschütterungen,  die  Fenster  zum  Klirren, 
Türen  zum  Klappen  und  Wandbilder  zum  Pendeln 
brachten,  auf  das  holländische  Küstengebiet  und 
seine  nächste  Nachbarschaft.  Zu  ihr  gehört  die 
flandrische  Küste,  das  klassische  Gebiet  der  auch 
in  Holland  wuhlbekannten  Mistpoeffer.  Ein  solcher 
liegt  vor,  aber  von  Explosionsschwingungen  in  der 
Luft,  die  nicht  mehr  Schallschwingungen  waren. 
Solche  Druckschwankungen  der  Luft  haben 
beim  Krakatau- Ausbruch  des  26./27.  August  1883 
nach  Strachey'-)  sich  auf  Luftdruckkurven  bis 
nach  Toronto  in  Kanada  ausgeprägt.  Sie  haben 
bei  den  Explosionen  von  Dömitz,  am  15.  August 
1907,^)  und  von  Quickborn  am  lO.  Februar 
191 7,*)  nach  meinen  eigenen  Untersuchungen  bis 
auf  Kilometer-Entfernungen  Fenster  zertrümmert 
und  andere  Schäden  an  Gebäuden  angerichtet. 
Sie  sind  am  6.  April  1917,  als  ein  über  eine 
Schrapnellwolke      hinziehender      Zug      fliegender 


Schatten ,    von    V.    F"  r  a  n  z    mit    Augen    gesehen 
worden.  ■') 

Besondere  Hervorhebung  verdient  der  Umstand, 
daß  bei  Dömitz,  wie  auch  bei  Ouickborn,  auf 
größere,  wenn  auch  nur  nach  Einern  zählende 
Kilometer-Entfernungen  ein  deutliches  Einfallen 
der  zerstörenden  Stoßstrahlen  aus  der  Höhe  vor- 
gefunden wurde.  Die  Bahn  dieser  Strahlen  war 
also  bogenförmig.  Krümmung  der  Schallstrahlen, 
besonders  infolge  der  Wärme-  und  Temperatur- 
schichtung der  Atmosphäre,  waren  aber  das  wesent- 
lichste Ergebnis  der  Untersuchung  H.  Mohn's, 
über  die  der  Schiffahrt  dienlichen  Schallsignale 
am  Eingang  des  Kristianiafjords.  °)  In  einem  Buche 
„Schallrätsel  der  Atmosphäre",  das  noch  innerhalb 
191 7,  im  Verlage  des  k.  k.  Osterreichischen  Flug- 
technischen Vereins  zu  Wien  erscheinen  soll,  habe 
ich  sie,  besonders  auch  bei  Nachprüfung  der  Schall- 
versuche John  Tyndall's  von  South  Foreland, 
tatsächlich  als  den  entscheidenden  Schlüssel  zur 
Lösung  jener  Rätsel  erweisen  können. ') 

Durch  Anwendung  auf  die  Hochatmosphäre 
und  die  aus  ihr  folgenden,  schließlich  nach  Hun- 
derten von  Kilometern  zählenden  Hörweiten 
machte  sie  auch  eine  Erklärung  der  Schallrätsel 
der  indirekten  Hörbarkeit  möglich.  Zu  ihnen  ge- 
hören die  Mistpoeffer,  die  ihre  Erklärung  in 
indirekter  Hörbarkeit  fernen  Geschütz-,  Explosions- 
oder Vulkan-Donners  fanden.  '*}  Zu  ihnen  gehört 
nun  auch  die  erschütternde  Luftschwingung  des 
T.  Oktober  1917.  Wilh.  Krebs. 


Literatur. 

')  E.  V.  Everdingen,  The  propagation  of  sound  in 
Ihe  atmosphere  ..Koninklijke  Akademie  van  Wetenschappen 
te  Amsterdam."     Vol.  XVllI,  S.  933— 96o. 

Derselbe,  De  hoorbaarheid  in  Nederland  van  het 
Kanonengebulder  bij  Antwerpen  op  7—9  October  19 14. 
,,Hemel  en  Dampkring"    1914. 

■-)  G.  J.  Symons,  The  Eruption  of  Krakatoa  and  sub- 
sequent  Phenomena,  Report  of  the  Krakatoa  Committee  of 
the  Royal  Society.     London    18S8,  S.  57  ff. 

')  Wilh.  Krebs,  Aus  der  Chronik  der  Explosions- 
kataslrophen  des  Jahres  1907.  „Zeitschrift  für  das  gesamte 
Schieß-  und  Sprengsloffwesen".  111.  Jahrg.  Nr.  5  vom  I.  März 
1908,  S.  87— 88.     München   1908. 

*)  Derselbe,  Hörweiten  des  Donners  von  Kanonaden 
und  E.\plosionen  (noch  nicht  veröffentlicht). 

5)  V.  Franz,  Luftwellen  als  Schlieren  sichtbar.  „Nalurw. 
Wochenschr.  N.  F.  Bd.  16,  Nr.  32  vom  12.  Aug.  1917,  S.  456. 

Derselbe,  Eine  Kriegshimmelserscheinung.  „Weltall" 
Jahrg.   17,  Heft  3/4.    1916/17,   S.  25-28.     Treptow   1916. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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«)  H.  Mohn,  Studien  über  Nebelsignale.  „Annalen 
Hydrographie".     Berlin   1892,  S.  89  ff.,    S.   Ii9ff. 

')  Wilh.  Krebs,  Schalliätsel  der  Atmosphäre.  W 
1917.  Kap.  V,  S.   15—18. 

^)  Wilh.   Krebs,  Schallrätsel,  Kap.   VIll. 


Botanik.  Beiträge  zur  biologischen  Blüten- 
anatomie. (Reinhold  Lange,  in  Beiträge  z. 
Biolog.  d.  Pflanz.  XIII.  1916.  221—283).  Der  im 
September  19 14  gefallene  Verfasser  untersucht  in 
seiner  interessanten  Arbeit  vom  Standpunkte  der 
biologischen  Blütenanatomie  die  Anpassungen  an 
Insektenbestäubung  innerhalb  der  Gattungen  J^ioln 
und  \'cniiiiia.  Seit  Hildebrands  Beschreibung 
der  Bestäubung  von  \'i(ila  fricolur  L.  sah  man 
allgemein  in  dem  lippenförmigen  Anhang  an  der 
Unterseite  der  Narbenöffnung  ein  die  Fremdbe- 
stäubung bedingendes  Organ.  Da  sich  der  Pollen 
in  einer  Rinne  des  untersten  Kronblattes  sammelt, 
hindert  nach  Hildebrand  diese  „Klappe"  die 
Selbstbestäubung.  Dies  geschieht  auch,  wenn  ein 
saugendes  Insekt  den  mit  Blütenstaub  bedeckten 
Rüssel  zurückzieht,  da  der  Fortsatz  dabei  zurück- 
klappt und  die  Xarbenöffnung  verschließt.  In  der 
nächsten  Blüte  bleibt  der  Pollen  an  den  Papillen 
der  Lippe  haften  und  wird  bei  dem  Emporschnellen 
dann  in  die  Narbenhöhle  befördert.  Gegen  diese 
Deutung  machte  Witt  rock  geltend,  daß  die 
Lippe  gar  nicht  biegungsfest  sei  und  von  einem 
Verschluß  der  Narbenöffnung  nicht  die  Rede  sein 
könne.  Er  leugnet  jede  biologische  Bedeutung 
des  P"ortsatzes.  Die  Untersuchung  Langes  sowie 
seine  biologischen  Versuche  erwiesen  aber  nach 
ihm  die  volle  Richtigkeit  der  alten  Hildebrand- 
schen  Auffassung.  Die  Lippe  wirkt  als  ein  Kratz- 
organ, das  den  Pollen  von  dem  Rüssel  des  Insekts 
abschabt,  und  ist  für  das  Zustandekommen  der 
Kreuzbefruchtung  unentbehrlich.  Dieser  eigen- 
artigen I'^unktion  ist  der  anatomische  Bau  der 
Lippe,  die  Bürste  und  Klappe  gleichzeitig  darstellt, 
in  hohem  Grade  angepaßt.  Nur  wenige  Viola- 
arten  zeigen  diese  höchste  I'orm  der  Anpassung, 
deren  allmähliche  Ausbildung  bei  den  übrigen 
Arten  der  Gattung  zu  verfolgen  ist.  Es  ergibt 
sich  eine  morphologische,  anatomische  und  biolo- 
gische übereinstimmende  Entwicklungsreihe  mit 
stetigem  Übergang  von  einfachen  zu  differenzierter 
gebauten  Blüten. 

Die  Arten  der  Gattung  Veroiiica  werden  den 
„Schwebfliegenblumen"  zugerechnet.  Die  seitlich 
auseinandergebogenen  Staubgefäße  besitzen  am 
Grunde  ein  Gelenk,  gegen  das  die  Insekten  beim 
Saugen  stoßen.  Nunmehr  schlagen  die  Antheren 
gegen  den  Bauch  der  Pliegc,  mit  dem  die^e  beim 
Anfliegen  zunächst  die  Narbe  berührt.  Diesen 
vollkommenen  Mechanismus  besitzt  u.  a.  K  Cha- 
macdrys  L.  Die  übrigen  Arten  lassen  sich  nach 
dem  Grade  der  Beweglichkeit  des  h'ilamentgrundes 
in  eine  phylogenetische  Reihe  ordnen,  an  deren 
unterem  Ende  /'  arvciisis  L.  als  ursprünglichste 
Form  steht.  Einige  Arten  sind  sogar  vollständig 
zur  Selbstbestäubung  übergegangen  (f.  alpiiia  L.). 


Der  relativen  Beweglichkeit  des  Staubfadens  ent- 
spricht völlig  sein  morphologischer  und  anatomi- 
scher Bau.  Dieser  steht,  wie  Lange  zeigt,  völlig 
mit  den  physikalischen  Gesetzen  über  Torsion  und 
Biegung  im  Einklang,  nach  denen  sich  die  Be- 
wegung in  jedem  Falle  vollziehen  muß.  Die  beiden 
Beispiele  zeigen,  daß  die  biologische  Blütenanatomie 
sehr  wohl  dazu  beitragen  kann,  die  Stammes- 
geschichte einer  eng  begrenzten  Gruppe  zu  be- 
leuchten. Kr. 

Assimilation  und  Atmung  von  Wasserpflanzen. 
Hilda  Plaetzer  hat  im  botanischen  Institut  der 
Universität  Würzburg  durch  Versuche  ansubmersen 
Wasserpflanzen  festzustellen  gesucht,  welche  Licht- 
intensiiät  nöiig  ist,  um  die  zur  Kompensierung 
der  Atmung  gerade  ausreichende  Assimilation  her- 
vorzurufen. Sie  nennt  diese  Größe  den  „Kom- 
pensationspunkt"; bei  ihm  ist  der  Gasaus- 
tausch gleich  Null.  Zu  seiner  Ermittlung  wurde 
bei  Wasserpflanzen  mit  Interzellularräumen  (Myrio- 
phyllum  spicatum,  Elodea  canadensis,  Cabomba 
caroliniacea)  ein  eigenartiges,  von  K  n  i  e  p  ange- 
regtes Verfahren  verwendet,  dem  folgende  Tat- 
sachen und  Überlegungen  zugrunde  lagen;  Ein 
abgeschnittener  untergetauchter  Sproß  der  Pflanze 
scheidet  im  Lichte  infolge  der  Assimilation  einen 
Blasensirom  aus  der  Schnittfläche  aus,  der  bei 
plötzlicher  Verdunkelung  sofort  aufhört  und  bei 
Wiederbeleuchtung  nicht  unmittelbar  wiedereinsetzt, 
sondern  erst  nach  einiger  Zeit,  wenn  der  (xasdruck 
in  den  Interzellularen  stark  genug  geworden  ist. 
Ersetzt  man  nun  die  Verdunkelung  durch  Beleuch- 
tung mit  schwachem  Licht,  so  hört  der  Blasen- 
strom auch  auf,  aber  er  tritt  nach  Wiederbeginn 
der  vollen  Beleuchtung  etwas  schneller  wieder  auf 
als  bei  vorangehender  Verdunkelung,  ein  Zeichen, 
daß  der  Sproß  bei  der  schwachen  Beleuchtung 
Sauerstoff  gebildet  hat.  Je  geringer  die  Lichtintensiiät, 
desto  länger  dauert  es  bis  zum  Wiederbeginn  des 
Blasenstroms,  und  es  handelt  sich  nun  darum,  die- 
jenige Lichtstärke  zu  finden,  bei  der  die  Zeit  bis 
zum  Wiedereinsetzen  des  Blasenstroms  gerade 
etwas  kürzer  ist  als  nach  Verdunkelung ;  diese  Inten- 
sität liegt  augenscheinlich  dem  Kompensations- 
punkt nahe. 

Von  der  Versuchsanordnung  sei  hier  nur  so 
viel  gesagt,  daß  die  Vollbeleuchtung  durch  eine 
500-kerzige  Metalldrahtlampe  bewirkt  wurde  und 
daß  zur  Erzielung  der  schwachen  Beleuchtung  eine 
auf  95  Meterkerzen  geeichte  Nitralampe  diente, 
deren  Lichtwirkung  mit  Hilfe  einer  davor  einge- 
schalteten, schnell  rotierenden  Scheibe  mit  ver- 
stellbaren Spalten  auf  einen  beliebigen  Bruchteil 
reduziert  werden  konnte.  Die  Temperatur  wurde 
dauernd  konstant  erhalten   (etwa   19—20"  C). 

Bei  Pflanzen  ohne  Interzellularen  (Spirogyra, 
Cladophora,  Pontinalis  antipyretica  und  Cinclidotus 
aquaticus)  wurden  die  Assimilations-  nnd  Atmungs- 
vorgänge durch  Feststellung  des  jeweiligen  COj- 
oder  Oj-Gehaltes  des  Versuchswassers  verfolgt. 
Die  Versuche  wurden  wie  die  andern  im  Dunkel- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


72: 


zimmer  ausgeführt.  Als  Lichtquelle  für  die  Assi- 
milationsversuche diente  elektrisches  Licht  (meist 
I — 2  Wotanlampen  zu  je  So  Kerzen);  durch 
Nähern  und  Entfernen  der  Lampe  konnte  jede 
gewünschte  Lichtstärke  hergestellt  werden.  Vor 
und  nach  dem  Versuch  (der  2  —  3  Stunden  dauerte) 
wurde  der  Sauerstoff  durch  Titrierung  mit  "/j,,,, 
Natriumthiosulfatlösung  bestimmt.  Die  Beleuch- 
tungsstärke, bei  der  der  Titer  sich  annähernd 
gleich  blieb  (und  die  Veränderung  in  CO.,  Gehalt 
gering  war)  ergab  den  Kompensationspunkt. 

Die  Versuchsergebnisse  zeigten,  daß  die 
Lichtansprüche  der  verschiedenen  Pflanzen  sehr 
ungleich  sind.  Elodea,  die  anspruchsloseste, 
verlangte  bei  etwa  20"  in  den  zur  Winterszeit  an- 
gestellten Versuchen  nur  etwa  17  Kerzen  (im 
Sommer  sogar  nur  2),  Cladophora  dagegen  253, 
Cinclidotus  sogar  400  Kerzen;  die  anderen  Pflanzen 
gruppierten  sich  in  allen  möglichen  Abständen 
dazwischen.  Die  Annahme,  daß  das  höhere  Licht- 
bedürfnis durch  stärkere  Atmung  bedingt  sei,  trifl"! 
nicht  zu;  die  P'rage  nach  den  Ursachen  und  der 
ökologischen  Bedeutung  des  verschiedenen  Licht- 
anspruchs bleibt  offen. 

Andere  mit  Cladophora,  Spirogyra,  Fontinalis 
und  Cinclidotus  ausgeführte  Versuche  zeigten,  daß 
die  zur  Erreichung  des  Kompensationspunktes 
nötige  Lichtstärke  mit  Abnahme  der  Temperatur 
geringer  wird.  Die  Pflanzen  können  also  bei  tiefer 
Temperatur  schon  bei  viel  geringerer  Intensität 
mit  StotT-  und  Energiegewinn  arbeiten.  Bei  fallen- 
der Temperatur  nehmen  daher  die  As^imilate  zu, 
wenn  die  Lichtstärke  dieselbe  bleibt  (und  eine 
gewisse  Höhe  nicht  überschreitet).  Biologisch  ist 
dies  von  Bedeutung,  da  im  allgemeinen  die  Fak- 
toren „schwaches  L.icht"  und  „tiefe  Temperatur" 
häufig  zusammenfallen.  Obwohl  jeder  I*"aktor  an 
sich  für  die  Pflanze  nicht  günstig  ist,  ermöglichen 
sie  vereint  einen  Stoffgewinn. 

Weiter  stellte  sich  an  Cladophora  und  Spiro- 
gyra heraus,  daß  die  Lichtintensität,  die  man  an- 
wenden muß,  um  die  Atmung  zu  kompensieren, 
mit  steigender  Temperatur  schneller  zunimmt  als 
die  (im  Dunkeln  beobachtete)  ^Atmung.  Dies 
könnte  dadurch  bewirkt  sein,  daß  das  Licht  die 
Atmung  steigert,  doch  ergaben  die  Versuche  keinen 
Beweis  für  diese  Annahme. 

Endlich  führte  11.  Plaetzer  an  Cladophora 
und  Spirogyra  Versuche  aus  zu  dem  Zwecke,  den 
Verlauf  der  Atmung  in  aufeinanderfolgenden  Zeiten 
festzustellen.  Einige  Zeit,  z.  B.  3  Stunden,  nach 
Beginn  des  Versuchs,  wurde  der  Titer  des  Wassers 
festgestellt,  frisches  Versuchswasser  aufgefüllt,  und 
ein  neuer  Atemversuch  von  derselben  Zeitdauer 
begonnen.  Ein  Vergleich  des  Titers  des  zweiten 
mit  dem  des  ersten  Teilversuchs  zeigte,  ob  die 
Atmung  gestiegen,  gesunken  oder  gleichgeblieben 
war.  Solcher  Versuche  wurden  drei  oder  mehr 
aneinandergereiht.  Die  Versuche  wurden  im  Dunkeln 
ausgeführt,  und  alle  Manipulationen,  die  zwischen 
zwei  Teilversuchen  vorgenommen  wurden ,  voll- 
zogen sich    möglichst    schnell    und    bei    möglichst 


geringer  Beleuchtung.  Während  nun  von  anderer 
Seite  für  (im  Dunkeln  befindliche)  Laubblätter  eine 
Zunahme  der  Atmung  während  des  Tages  angegeben 
worden  ist,  ergaben  die  Würzburger  Versuche,  daß 
die  Atmung  von  Cladophora  und  Spirogyra  während 
des  Tages  dauernd  sank.  Dasselbe  galt  für  Clado- 
phora auch  während  der  Xacht.  Bei  Spirogyra 
dagegen  stieg  die  Atmung  im  Laufe  der  ersten 
Nacht.  Die  Beobachtungen  der  Verfasserin  machen 
es  wahrscheinlich,  daß  diese  nächtliche  Atmungs- 
steigerung mit  der  nachts  stattfindenden  Kern- 
und  Zellteilung  von  Spirogyra  zusammenhängt. 
(Verhandl.  d.  physikalisch-medizin.  Ges.  zu  Wurz- 
burg  1917.  N.  F.  Bd.  43,  S.  31  —  lOi. 

F.  Moewes. 

Stratiobotanik.  Unter  diesem  Namen  (von 
aToaTtä=  Heer,  Kriegszug)  veröffentlicht  A.  Thel- 
1  u  n  g  in  der  Vierteljahrsschrift  der  Naturforschenden 
Gesellschaft  in  Zürich,  Jahrg.  62,  1917,  S.327 — 335 
eine  Zusammenstellung  der  pflanzengeographischen 
Veränderungen,  die  der  Krieg  hervorruft.  Eine 
erschöpiende  Behandlung  des  Stoffes  ist  heute, 
wo  wir  noch  mitten  in  dem  furchtbaren  Weltkriege 
stehen,  naturgemäß  nicht  möglich.  Es  ist  aber 
immerhin  eine  dankbare  und  hochaktuelle  Auf- 
gabe, die  aus  früheren  und  teilweise  auch  schon 
aus  dem  gegenwärtigen  Kriege  bekannt  gewordenen, 
unser  Thema  betreftenden  Tatsachen  zusammen- 
zustellen und  zum  Sammeln  neuer  Beobachtungen 
Anregung  zu  geben.  Thellung  unterscheidet 
drei  Gebiete,  auf  denen  sich  der  Einfluß  des  Krieges 
auf  die  Pflanzenwelt  geltend  macht: 

I.  Der  zerstörende  Einfluß  des  Krieges  auf  die 
Natur-,  Halbkultur-  und  Vollkulturformationen. 

II.  Die  Schaffung  neuer  Nebenkulturformationen 
mit  teilweise  charakteristischer  Flora. 

III.  Der  Einfluß  der  veränderten  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  und  Bedürfnisse  auf  die  Vollkultur- 
formation. 

I. 
Die  Zerstörung  der  Vegetation  unter  dem  Ein- 
fluß des  Krieges,  insbesondere  des  Schützengraben- 
krieges ist  vergleichbar  dem  Eftekt  gewisser  kata- 
strophaler Naturereignisse,  von  Waldbränden,  Berg- 
stürzen oder  Hochwasserschäden,  die  durch  Denu- 
dation, Erosion  oder  Aufschüttung  nackten  Boden 
schatten  oder  mit  der  geflissentlichen  Vernichtung 
der  Pflanzendecke,  die  der  Mensch  seit  Urzeiten 
unausgesetzt  vornimmt.  Als  ein  spezifisches 
Kriegsphänomen  kann  indessen  die  schädigende 
Wirkung  der  beim  Platzen  von  Artilleriegeschossen 
entstehenden  oder  in  anderer  Weise  verwendeten 
giftigen  Gase  auf  gewisse  Pflanzenarten  gebucht 
werden.  K.  Rubner  berichtet  über  ein  Absterben 
der  Fichte  bei  St.  M  i  h  i e  1  in  Lothringen  unter 
dem  t^influß  der  schädlichen  Hitze-,  Gas-  und 
Luftdruckwirkung  der  etwa  in  der  Höhe  der  Baum- 
gipfel krepierenden  Schrapnells  auf  die  jugendlichen, 
empfindlichen  Organe  des  Baumes.  J.P.  Ho  Schede 
beobachtete    als  vermutete  Wirkuns:  der  von  den 


724 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  si 


Deutschen  in  der  Champagne  vorgetriebenen, 
chlorhaltigen  Gaswolken  eine  Rotfärbung  der  ge- 
meinen Kiefer,  während  andere  Nadelhölzer 
nicht  angegriffen  wurden. 

IL 

Der  Krieg  ruft  die  Bildung  neuer  „Nebenkultur- 
formationen"  (im  Sinne  Gradmanns)  hervor, 
d.  h.  von  künstlichen,  durch  den  Menschen  ge- 
schaffenen Standorten,  deren  Besiedelung  jedoch, 
im  Gegensatz  zu  den  „Vollkulturformationen",  der 
Natur  oder  dem  unbeabsichtigten  Einfluß  des 
Menschen  überlassen  bleibt.  E.  fl.  L.  Krause 
berichtet  vom  deutsch-französischen  Kriegsschau- 
platz, daß  im  Frühjahr  um  die  Drahtverhaue 
Papavcr  Rhoeas,  im  Spätsommer  in  den  Schützen- 
gräben Stachys  ai/i/inis  dominiere.  Schließlich 
würden  die  einjährigen  Arten  durch  ausdauernde 
ersetzt,  es  käme  jetzt  hauptsächlich  Cirsiiim 
arvcnse  zum  Vorschein.  Ich  fand  auf  dem  öst- 
lichen Kriegsschauplatz  bei  Kowno  die  Unter- 
stände im  Frühjahr  besonders  häufig  von  Ttissilaoo 
farfara  bewohnt,  von  Annuellen  siedelten  sich 
zuerst  Draba  venia  und  Capsclln  biirsii  pastoris  an. 

Durch  den  Proviant-  und  Fouragetransport 
wurden  zu  allen  Zeiten  Pflanzen  verschleppt,  die 
sich  an  den  Truppenlagersteilen  ansiedelten.  Die 
überwiegende  Mehrzahl  dieser  Fremdlinge  ver- 
schwindet nach  kurzer  Zeit  spurlos,  von  der  ein- 
heimischen Vegetation  überwuchert,  aber  einzelne 
Arten  gelangen  doch  zu  dauernder  Einbürgerung. 
So  wird  das  Vorkommen  der  Kruzifere  E/ir/iidim/i 
syriacitm  im  Prater  von  Wien  auf  Einschleppung 
durch  die  Türken  zurückgeführt,  die  Kruzifere 
Bunias  urieiitalis,  durch  die  Kosaken  verschleppt, 
war  von  1814  — 1860  im  Bois  de  Boulogne  bei 
Paris  eingebürgert,  ebenso  gilt  die  seit  18 14  bei 
Schwetzingen  inBaden vorkommendeChenopo- 
diacee  Corispcniinin  Marscliallii  als  Hinterlassen- 
schaft der  Kosaken.  Großartige  Beispiele  dieser 
Art  boten  die  im  Jahre  1871  in  den  verschiedensten 
Gegenden  Frankreichs  zum  Vorschein  gekommenen 
Kriegsfloren,  von  denen  Gaudefroy  und 
Mouillefarine,  Franchet,  Paillot  und 
Vendrely  berichten. 

So  kamen  in  der  Umgebung  von  Paris  190 
fremde  Arten,  meist  mediterraner  Herkunft,  zur 
Entwicklung,  die  durch  Pferdefutter  für  die  franzö- 
sische Armee,  größtenteils  aus  Algerien,  eingeschleppt 
worden  waren.  An  den  Orten  der  Besetzung  durch 
die  deutsche  Armee  fanden  sich  nur  ganz  wenige 
fremde  Arten :  \  ^icia  villusu,  Lcpidimii  pcrfoliaft/ui, 
sowie  eine  ungewöhnlich  große  Menge  von  Erbsen 
und  Linsen.  Das  zahlreiche  Vorkommen  von 
Erbsen  um  die  Schützengräben  herum  ist  auch 
mir  in  diesem  Kriege  in  der  K  o  w  n  o  e  r  Gegend 
aufgefallen. 

Nach  Thellung  kann  es  auch  „in  neutralen 
Ländern,  die  sich  an  der  Menschenschlächterei 
nicht  beteiligen,  an  Stelle  einer  Kampffrontflora 
zu  einer  analogen  Erscheinung:  einer  Grenzbe- 
setzungsflora kommen".    Thellung  unterscheidet 


hier  ferner  „Mobilisationsfloren"  und  eine  „Pferde- 
musterungs-Florula".  Von  besonderem  Interesse 
ist  die  Einschleppung  indischer  Fremdpflanzen  im 
Parc  Borely  bei  Marseille  im  Jahre  1915. 
Thellung  stellte  hier  die  Gramineen  *Andro- 
pogoii  can'iosiis  subsp.  inolicuiiius ,  *Tlici/icda 
(jnadrivalvis.  CcncJirus  iciniiatiis  und  Diiicbra 
rctrußcxa,  sowie  die  Komposite  *M\riactis  java- 
iiica  fest,  von  denen  drei  (die  mit  *  versehenen 
Arten)  auf  das  ostindische  Florengebiet  beschränkt 
und  neu  für  Europa  sind. 

III. 
Eine  ungeahnt  tief  umgestaltende  Wirkung  übt 
der  Krieg  auf  die  Kulturformationen  aus.  In  den 
kriegführenden  wie  in  den  neutralen  Ländern 
werden  die  Vollkulturformationen  (Gemüse-  und 
Ackerland)  auf  Kosten  der  Nebenkulturformationen 
(des  Ödlandes)  vermehrt.  Aber  auch  in  t|ualita- 
tiver  Hinsicht  macht  sich  der  Einfluß  der  Kriegs- 
lage auf  die  Kulturformationen  geltend,  manche 
vergessene  und  heute  verschmähte  Nutz-  oder  Ge- 
würzpflanze wird  jetzt  wieder  gesammelt  oder 
in  Kultur  genommen. 

W.  Herter  (Berlin-Steglitz). 

Die  Fruchtbildung  einiger  geokarper  Pflanzen 
ist  von  T  h  e  u  n  e  untersucht  worden.  Nachdem 
er  im  speziellen  Teile  der  Arbeit  die  vier  wich- 
tigsten geokarpen  Gewächse,  AracJiis  liypot^aea  L., 
die  Erdnuß,  Kcrsliiigiclla  gcocarpa  Harms,  die 
Kandelabohne,  Okeitia  lixpogaca  Schi,  et  Ch. 
und  Trifolimn  s/il/firrai/cniii  L.,  namentlich  die 
anatomischen  und  biologischen  Verhältnisse  der 
Fruchtentwicklung  beschrieben  hat,  weist  er  ver- 
gleichend nach,  daß  diese  systematisch  ziemlich 
fern  voneinander  stehenden  Pflanzen  sehr  ähnliche 
Einrichtungen  für  die  Versenkung  der  Früchte  in 
den  Boden  besitzen.  Mindestens  die  Seilenzweige 
haben  einen  kriechenden  Wuchs,  so  daß  die  Blüten 
in  der  Nähe  des  Bodens  gebildet  werden.  Der 
Klee  besitzt  kleine,  unscheinbare  Blüten,  die  sich 
selbst  bestäuben,  aber  auch  die  übrigen  groß- 
blütigen  P"ormen  scheinen  nicht  auf  Fremdbestäu- 
bung angewiesen  zu  sein,  denn  ^h-acliis  trägt 
unterirdisch,  Okoiia  auch  oberirdisch  kleistogame, 
normale  Früchte  bildende  Blüten.  Die  in  den 
Boden  eindringenden  Organe  sind  sehr  ähn- 
lich gebaut.  Durch  Streckung  der  Zone  zwischen 
P'rucbtstiel  und  Samenanlage  entsteht  bei  Arachis 
und  Kcrsfiiigiclla  ein  langer,  stengelartiger  Gyno- 
phor,  der  an  der  Spitze  den  Fruchtknoten  trägt. 
Hier  wie  bei  Okoiia  ist  die  Spitze  wurzelähnlich 
gebaut.  Die  dickwandigen  Epidermiszellen  besitzen 
eine  dicke  Kutikula;  Drüsenhaare  sondern  ein 
schleimiges  Sekret  ab,  während  bei  Okciiia  die 
äußersten  Zellschichten  verquellen,  so  daß  eine 
scharfe  Spitze  entsteht.  Die  lückenlos  anein- 
anderstoßenden Zellen  des  inneren  Gewebes 
bilden  einzelne  Zonen.  Bei  Trifolimn  ist  es  da- 
gegen der  Infloreszenzstiel,  der  die  zurückgeklappten 
Blüten  in  den  Boden  drückt,  wobei  durch  die  einen 


N.  F.  XVI.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochcnschriit. 


72s 


Kegel  bildenden  sterilen  Mittelblüten  eine  bohrende 
Spitze  entsieht.  Wie  bei  den  Wurzeln  liegt  die 
Wachstuniszone  dicht  hinter  der  Spitze.  Im  Innern 
weisen  die  Stengel  breite,  durch  dicke  Auflage- 
rungen verholzter  Baststränge  verstärkte  Gefäß- 
bündel auf,  die  einen  ziemlich  geschlossenen  Ring 
bilden.  Erst  wenn  eine  bestimmte  Tiefenlage  er- 
reicht ist,  biegen  sich  die  bis  dahin  kleinen  Früchte 
um  und  entwickeln  sich  nun  sehr  schnell  mit 
Hilfe  der  im  Stiel  gespeicherten  Stärke.  Über 
die  Ursache  des  Umbiegens  der  Stiele  nach  der 
Erdoberfläche  zu  ist  noch  wenig  bekannt.  Werden 
sie  gezwungen,  horizontal  in  die  Erde  zu  dringen, 
so  unterbleibt  die  Krümmung. 

Hinsichtlich  der  Bedeutung  derGeokarpie 
schließt  sich  Theune  der  Ansicht  an,  daß  es  sich 
um  ein  Schutzmittel  gegen  Tierfraß  handelt.  Da- 
für spricht  u.  a.,  daß  die  Früchte  der  Erdnuß  mit 
Hilfe  ihrer  absorbierenden  Haare  und  der  Vorräte 
im  Gynophor  auch  ohne  die  belaubte  Pflanze 
reifen.  Bei  Trifolium  und  namentlich  Okenia 
kommt  hinzu,  daß  sie  auf  diese  Weise  viel  bessere 
Keimungsbedingungen  finden.  Ein  großer  Nach- 
teil für  .Arachia  und  Kerstitigiella  ist,  daß  auf 
einem  sehr  kleinen  Raum  sehr  viele  Samen  keimen 
(bei  K.  80  F"rüchte  auf  einem  Raum  von  40  cm 
Durchmesser!).  Da  sie  aber  Kulturpflanzen  sind, 
ist  dies  offenbar  nicht  das  natürliche  Verhalten. 
Dieses  lassen  die  anderen  beiden  Arten  ei  kennen, 
wo  die  Früchte  an  ausläuferartigen  Seitenzweigen 
in  regelmäßigen  Abständen  versenkt  werden.  So 
findet  eine  langsame,  günstige  Verbreitung  statt. 
Die  Geokarpie  ist  am  stärksten  bei  Aracltis  aus- 
geprägt; denn  während  man  die  anderen  Arten 
experimentell  zur  Bildung  oberirdi.-cher  Früchte 
zwingen  kann,  ist  dies  bei  ihr  nicht  möglich,  viel- 
mehr sterben  alle  Fruchtknoten  ab,  die  den  Erd- 
boden nicht  erreichen. 

(Erich  Theune,  Beiträge  zur  Biologie  einiger 
geokarper  Pflanzen.  Beitr.  z.  Biol.  d.  Pflanzen  XIII. 
1916.  S.  285—346.)  Kr. 

Zoologie.  Die  wirtschaftliche  Bedeutung  der 
Ameisen  für  den  Menschen  behandelt  H.  Stitz  in 
der  „Zeitschr.  f.  angewandte  Entomologie"  (Bd.  IV, 
H.  i).  Während  für  uns  die  Ameisen  ihrer  geringen 
Anzahl  wegen  kaum  in  Betracht  kommen,  ist  ihre 
Bedeutung  für  die  Tropen,  wo  sie  oft  in  unge- 
heurer Zahl  sich  finden  (in  Brasilien  sind  nach 
einem  brasilianischen  Ausspruch  nicht  die  Menschen, 
sondern  die  Ameisen  die  Herren  des  Landes), 
eine  weit  größere.  Hier  werden  sie,  namentlich 
die  Weibchen  der  größeren  Arten  —  es  handelt 
sich  besonders  um  die  Blattschneider-  und  Honig- 
ameisen — ,  von  den  Eingeborenen  eifrig  verzehrt, 
wie  viele  Reisende,  wie  Humboldt,  Durcheil, 
Rengger,  Schomburgk,  Spruceu.  a.,  be- 
richten. Der  mit  Eiern  oder  Nahrung  gefüllte 
Hinterleib  der  Weibchen  soll  roh  wie  Haselnuß, 
geröstet  und  mit  Syrup  übergössen  wie  geröstete 
und  überzuckerte  Mandeln  schmecken,  doch  be- 
richten   andere   Reisende   von    einem  brennenden 


Geschmack.  Diese  Verschiedenheit  in  der  Beur- 
teilung erklärt  sich  vielleicht  dadurch,  daß  die 
Arten  nicht  näher  bekannt  sind.  Aber  auch  in 
Europa  ist  die  Verwendung  der  Ameisen  für  den 
Genuß  nicht  unbekannt.  NachKirby  u.  Spence 
(1823)  wurden  sie  in  Schweden  dazu  benutzt, 
schlechtem  Branntwein  einen  besseren  Geschmack 
zu  geben,  und  nach  Mayr  (1855)  wurden  in  den 
Alpen  bei  Wassermangel  Ameisen  auf  Brot  ge- 
quetscht und  ihr  Saft  so  genossen. 

Allgemein  bekannt  ist  die  Bedeutung  der 
Ameisen  für  die  Medizin.  Der  Ameisenspiritus 
findet  jetzt  noch  häufig  Anwendung  zum  Einreiben 
bei  Rheumatismus,  Verrenkungen,  Verstauchung 
usw.  Nach  Baudouin  (1898)  werden  in  der 
asiatischen  Türkei  gewisse  Ameisen  zum  Ver- 
schließen von  Wunden  benutzt.  Die  Wundränder 
werden  zusammengedrückt,  man  läßt  die  großen 
Kiefer  hineinbeißen  und  schneidet,  wenn  dies  ge- 
schehen, den  Kopf  ab.  Je  nach  der  Länge  der 
Wunde  werden  mehr  oder  weniger  Köpfe  ange- 
setzt. Dasselbe  Verfahren  soll  auch  in  Afrika  und 
Südamerika  geübt  werden. 

Bekannt  ist  ferner  ja  auch  die  Verwendung 
der  Puppen  unsrer  roten  Waldameise,  der  sog. 
Ameiseneier,  als  Vogelfutter. 

Zur  Verbesserung  des  Bodens  tragen  die  in 
der  Erde  lebenden  Arten  bei,  indem  sie  nicht 
nur  die  unteren  Schichten  an  die  Oberfläche 
schaffen,  sondern  auch  durch  ihre  Röhren  und 
Nester  der  Luft  und  dem  Wasser  das  Eindringen 
in  den  Boden  ermöglichen  und  sie  so  den  Wurzeln 
zuführen,  außerdem  aber  auch  dadurch  die  Ver- 
witterung des  Bodens  beschleunigen  helfen.  Wie 
groß  in  den  Tropen  die  von  den  Ameisen  ge- 
leistete Arbeit  werden  kann,  ersieht  man  aus  einer 
Beobachtung,  die  Gonelle  (1896)  in  Südamerika 
machte.  Auf  einem  Raum  von  i  ha  sah  er  fünf 
Hügel  einer  Blattschneiderameise,  deren  einen  er 
mit  300  cbm  berechnete.  Die  fünf  Hügel  würden, 
gleichmäßig  ausgebreitet,  den  Boden  etwa  15  cm 
hoch  bedeckt  haben. 

Im  Kampfe  gegen  die  Schädlinge  der  Garten- 
und  F'orstwirtschaft  haben  wir  in  den  Ameisen 
wertvolle  Helfer.  Besonders  bei  dem  Massenauf- 
treten der  Nonnen-  und  Kiefernspinnerraupen  zeigt 
sich  ihr  Einfluß.  Auch  in  dieser  Beziehung  ist 
ihr  Nutzen  in  den  Tropen  bedeutend  größer  als 
bei  uns.  Zu  Hunderttausenden  gehen  sie  hier, 
wo  sie  eine  ansehnliche  Größe  erreichen,  auf 
Raub  aus,  die  Gegend  auf  weite  Entfernung  hin 
überschwemmend  und  von  allem  schädlichen  Klein- 
getier säubernd.  Diesen  starken  Verbrauch  der 
Ameisen  an  animalischer  Nahrung  macht  man 
sich  nutzbar,  indem  man  sie  da  ansiedelt,  wo  ihre 
Hilfeleistung  gebraucht  wird,  hauptsächlich  in 
Baumwollpflanzungen  und  Obstanlagen. 

Diesem,  wie  wir  sahen ,  recht  bedeutenden 
Nutzen  stehen  aber  auch  schädliche  Wirkungen 
gegenüber.  Jeder  bat  wohl  schon  am  eigenen 
Leibe  empfunden,  wie  schmerzhaft  die  Ameisen- 
bisse   sind.     Der    Stich    einer    südamerikanischen 


726 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  51 


Art  {Faraponcra  clavata,  etwa  2V„  cm  lang)  ver- 
ursacht nach  Schomburgk  Gefühl  der  Lähmung 
und  die  fürchterlichsten  Schmerzen  im  ganzen 
Körper.  Ähnliches  gilt  von  vielen  anderen  tropi- 
schen Arten. 

Auch  an  der  Übertragung  von  Krankheits- 
keimen sollen  die  Ameisen  beteiligt  sein,  doch 
sind  genauere  Untersuchungen  hierüber  wohl  noch 
nicht  angestellt. 

Lästig  werden  die  Ameisen,  wenn  sie  sich  in 
Häusern  einnisten,  durch  ihr  Naschen  von  den 
Speisen,  ebenso  in  Obstgärten  durch  Annagen  der 
reifen  Früchte. 

Bekannt  ist  die  Vorliebe  für  die  Ausscheidungen 
der  Blattläuse,  ihrer  „Milchkühe".  Die  Blattlaus- 
kolonien werden  regelmäßig  besucht  und  gegen 
ihre  natürlichen  Feinde  (Schlupfwespen,  Larven 
verschiedener  Käfer)  verteidigt,  wodurch  die  Blatt- 
läuse ihr  Zerstörungswerk  an  den  Pflanzen  unge- 
stört fortsetzen  können.     Andere  Ameisen  werden 


dadurch  noch  gefährlicher,  daß  sie  Wurzelläuse 
züchten,  die,  da  sie  unterirdisch  leben,  natürlich 
schwer  zu  bekämpfen  sind. 

Die  Blattschneiderameisen  Amerikas,  die  für 
ihre  Pilzgärten  viel  Blattmaterial  gebrauchen, 
richten  in  den  Kulturen  oft  große  Verwüstungen 
an,  da  sie  mit  dem  IVlaterial  recht  verschwenderisch 
umgehen  und  ganze  Bäume  in  kurzer  Zeit  voll- 
ständig entlauben  können.  So  soll  z.  B.  die  Zucht 
der  Orange  in  manchen  Gegenden  det  Ameisen 
wegen  fast  gänzlich  ausgeschlossen  sein.  Auch 
der  Kaffeebaum,  Kakaobaum  und  Baumwollstaude 
sollen  schwer  zu  leiden  haben. 

Endlich  seien  noch  die  sogenannten  Ernte- 
ameisen erwähnt,  die  Getreidekörner  massenhaft 
in  ihre  Nester  einschleppen,  wahrscheinlich  um 
sie,  wie  die  Blattschneiderameisen,  zum  Züchten 
von  Pilzen,  die  ihnen  dann  als  Nahrung  dienen, 
zu  benutzen.  Heycke. 


Bücherbesprechungen. 


Fitting,  Prof.  Dr.  H.,  Die  Pflanze  als  leben- 
der Organismus.  Akademische  Rede  zum 
Geburtstage  Sr.  Majestät  des  Kaisers,  gehalten 
in  der  Aula  der  Rheinischen  Friedrich  Wilhelms- 
Universität  Bonn  am  27.  Januar  1917.  Jena 
191 7.  G.  Fischer. 
„Das  Ganze  und  seine  Teile",  dieses  uralte 
philosophische  Problem  und  Diskussionsobjekt, 
ist,  auf  die  Organisation  und  die  Lebens- 
tätigkeit der  Pflanze  angewandt,  auch  das  Thema 
dieser  akademischen  Rede.  Anfänglich  nur  an  die 
Beziehungen  der  groben  morphologischen  Teile 
untereinander,  der  Organe,  anknüpfend,  gewann 
die  Streitfrage:  was  ist  wichtiger,  das  Ganze  oder 
seine  Teile?  eine  wesentlich  zugespitztere  Form, 
als  der  innere  Bau  der  Pflanze  genauer  bekannt 
wurde,  als  man  Einblick  in  die  wundervolle  Zellen- 
architektur gewann.  Unter  dem  Eindruck  dieser, 
durch  sehr  ausgedehnte  Forscherarbeit  der  jüngst 
verflossenen  anatomischen  oder,  wie  man  auch 
sagen  könnte,  zellulären  Richtung  der  Botanik  ge- 
förderten, in  immer  feinere  Einzelheiten  gehenden 
Ergebnisse  haftete  der  spekulierende  Botaniker 
immer  fester  an  den  Einzelheiten,  den  Zellen,  den 
Teilen,  und  baute  die  mannigfaltigsten  biologischen 
Theorien,  die  das  Leben  und  die  Entwicklung 
der  Pflanze  erhellen  sollten,  mit  Befriedigung  aus 
zellularen  Bausteinchen  auf.  Darüber  ging  der 
Blick  für  das  Ganze  vielfach  gänzlich  verloren, 
obgleich  die  Vorstellung  von  der  einheitlich  ge- 
leiteten Organisation  der  Pflanze  keineswegs  ver- 
schwunden war.  Insbesondere  muß  der  Physiologe 
immer  wieder  die  Unzulänglichkeit  der  über- 
triebenen anatomisch-zellularen  Anschauungsweise 
besonders  lebhaft  empfinden.  Für  ihn  ist  die 
Pflanze  ein  einheitlich  reagierendes  Lebewesen,  das 
sich  aus  bestimmten  Gründen  zellig  aufbaut,  aber 
nicht  von  den  Zellen  gebaut  wird.     Weder  Form- 


bildung noch  physiologische  Leistungen  sind  ein- 
seitig aus  den  zellularen  Teilprozessen  zu  verstehen, 
niemals  ist  das  Ganze  aus  seinen  Teilen  zu  begreifen. ') 
Solche  Fragen  hat  F  i  1 1  i  n  g  durch  den  Wechsel 
der  Zeiten  in  der  vorliegenden  Schrift  verfolgt; 
ihr  Studium  wird  vielen  förderlich  sein,  die  durch 
die  vielfach  nur  zeliulartheoretisch -gerichteten 
Lehrbücher  und  namentlich  durch  die  populären 
Bildungsquellen  eine  einseitige  Voi  Stellung  von 
großen  Grundfragen  der  pflanzlichen  Organisation 
und  des  Lebens  der  Pflanze  erhalten  haben. 
Miehe. 


Boas,  J.  E.  V.,    Zur    Auffassung    der    Ver- 
wandtschaftsverhältnisse   der    Tiere. 
61   Seiten.     Mit  35  Figuren    im  Text.     Kopen- 
hagen   1917,    Verlag    von    A.    Bang.    —  Preis: 
geh.  3  Kronen. 
„Selbst  ein  unsicheres,  ja  ganz  hypothetisches 
Resultat  ist  besser  als  das  reine  Nichts,  und  sollte 
es  sich  später  als  unzutreftend    ergeben,    kann  es 
vielleicht  wenigstens  eineWahrheits  Etappe  werden." 
Erwägungen  dieser  Art  veranlaßten  Boas,  einige 
theoretische  Betrachtungen    anzustellen    über    die 
Verwandtschaftsbeziehungen    einiger  Tiergruppen, 
deren  Phylogenie  trotz    des  Vorliegens  eines  um- 
fangreichen   Tatsachenmateriales    noch    sehr    um- 
stritten ist.    Boas  behandelt  zunächst  die  Abstam- 
mung  der   Echinodermen,    eine  Abteilung,    deren 
Anschluß    an  andere  Stämme    des  Tierreichs  von 
jeher    besondere    Schwierigkeiten     gemacht    hat. 
Man  hat   in  der  Regel   die  bilateral-symmetrische 
Larvenform  der  Echinodermen  zum  Ausgangspunkte 
phylogenetischer    Spekulationen    genommen    und 


')  Einige  Andeutungen  zu  diesen  Fragen  findet  raan  auch 
in  dem  Buchlein  des  Rezensenten  :  Allgemeine  Biologie.  z.Aufl, 
Leipzig  und   Berlin   1915. 


N.  F.  XVI.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


72; 


die  Gruppe  in  stammesgeschichtliche  Beziehungen 
zu  ebenfalls  bilateral-symmetrischen,  wurmartigen 
Formen  gebracht.  Boas  hingegen  sieht  in  der 
bilateralen  Symmetrie  der  Echinodermenlarven 
nur  einen  sekundären  Zustand  von  untergeord- 
neter Bedeutung  und  hält  die  radialsymmetrische 
Gestalt  für  die  Urform.  Den  radiären  Bau  haben 
die  Echinodermen  mit  den  Cölenteraten  gemein- 
sam. Ähnlich  wie  bei  diesen  ist  er  nach  Boas 
auf  eine  festsitzende  Lebensweise  zurückzuführen. 
Zwar  hat  die  Mehrzahl  der  Echinodermen  die 
festsitzende  Lebensweise  aufgegeben,  aber  gerade 
die  ursprünglichsten  Vertreter  der  Gruppe,  die 
Crinoideen,  die  bereits  im  Kambrium  vertreten 
sind,  haben  sie  beibehalten.  Die  den  Cölenteraten 
und  Echinodermen  gemeinsame  radiäre  Symmetrie 
ist  nun  aber  nach  Boas  nicht  bloß  eine  einfache 
Analogie,  sondern  die  vergleichende  Betrachtung 
der  beiden  Stämme  scheint  ihm  für  die  Möglich- 
keit zu  sprechen,  daß  die  Cölenteraten  die  Vor- 
fahren der  Echinodermen  sind,  und  zwar  leitet  er 
die  gestielten  Crinoideen  von  festsitzenden,  polypi- 
formen  Cölenteraten  ab,  über  deren  systematische 
Stellung  in  der  Gruppe  sich  nichts  Näheres 
aussagen  läßt.  Die  bei  den  Cölenteraten  bereits 
vorhandenen  Organe  haben  bei  den  Echinodermen 
eine  weitgehende  Komplikation  erfahren.  Beson- 
ders der  Darmtraktus  ist  davon  betroffen  worden ; 
von  ihm  haben  sich  Cölom,  Wassergefäßsystem 
und  Pseudohämalräume  abgetrennt.  Das  Wasser- 
gefäßsystem ist  auch  bei  den  Cölenteraten  schon 
vorhanden  in  der  Form  der  Hohltentakel,  die  bei 
manchen  Medusen  sogar  mit  Saugscheiben  ver- 
sehen sind  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Saugfüßchen 
der  Echinodermen  ;  bei  den  Cölenteraten  ist  jedoch 
die  Abschnürung  vom  Darmkanal  noch  nicht  er- 
folgt. Von  den  festsitzenden  Crinoideen  sind  dann 
die  freilebenden  Seesterne  abzuleiten,  bei  denen 
aber  die  Radialität  erhalten  blieb.  Der  bei  den 
Cölenteraten  noch  fehlende,  bei  den  Crinoideen 
unabhängig  von  der  radiären  Anordnung  zur  Aus- 
bildung gekommene  After  hat  sich  bei  den  See- 
sternen infolge  Wegfalls  des  Stieles  an  den  abo- 
ralen Pol  verschoben,  und  dadurch  hat  sich  die 
radiäre  Symmetrie  des  Darmkanals  noch  schärfer 
ausgeprägt.  Aus  den  Seesternen  wiederum  sind 
einerseits  die  Ophiuren,  andererseits  die  Seeigel 
entstanden,  welch  letztere  die  Vorfahren  der  Holo- 
thurien  sind.  Bei  den  beiden  letztgenannten 
Klassen  hat  die  freie  Lebensweise  vielfach  eine 
Annäherung  an  bilateral-symmetrische  Formen  zur 
Folge  gehabt,  doch  geht  auch  in  diesen  Fällen 
die  Radialität  nicht  ganz  verloren. 

Im  zweiten  Kapitel  erörtert  B  o  a  s  die  Phylogenie 
der  Würmer.  An  die  Spitze  dieser  bunt  zusam- 
mengesetzten Gruppe  stellt  man  im  allgemeinen 
die  Plathelminthen  und  betrachtet  unter  diesen  die 
Turbellarien  als  die  ursprünglichsten  Formen. 
Boas  sieht  in  den  Turbellarien  rückgebildete 
Formen,  die  von  annelidenähnlichen  Vorfahren 
abstammen.  Diese  den  heutigen  Chätopoden  am 
nächsten  stehenden  Ur-Chätopoden  haben  die  Aus- 


gangsform für  sämtliche  Würmer  gebildet.  Gefäß- 
system, Darmkanal,  Geschlechtsorgane  und  Leibes- 
höhle waren  bei  diesen  Ur  Chätopoden  wahrschein- 
lich bereits  ähnlich  gestaltet  wie  bei  den  jetzt 
lebenden  Anneliden,  während  das  Nervensystem 
dem  der  heutigen  Plattwürmer  entsprach  (größere 
Anzahl  von  Längsnervenstämmen).  Die  beiden 
von  den  Ur-Chätopoden  ausgehenden  Hauptzweige 
führen  zu  den  Anneliden  (Chätopoden  und  Hiru- 
dineen)  einerseits  und  über  die  Nemertinen  zu  den 
Turbellarien,  Trematoden  und  Cestoden  anderer- 
seits. Bei  den  Nemertinen  ist  die  Leibeshöhle 
verloren  gegangen,  bei  den  von  diesen  abzuleiten- 
den rhabdocölen  Turbellarien  sind  weiterhin  Gefäß- 
system und  After  rückgebildet  worden,  der  herma- 
phroditisch gewordene  Geschlechtsapparat  hingegen 
liat  eine  weitgehende  .Ausbildung  und  Komplika- 
tion erfahren.  Als  besondere  Zweige  haben  sich 
von  den  Ur-Chätopoden  aus  die  Enteropneusten, 
die  Chätognathen  und  die  Biachiopoden  entwickelt. 
Was  nun  die  Abstammung  der  Ur-Chätopoden 
anbetrifft,  so  hält  Boas  eine  nähere  Verwandt- 
schaft mit  den  Holothurien,  und  zwar  mit  den 
heutigen  Synaptiden,  bei  denen  die  bilaterale 
Symmetrie  bereits  angebahnt  ist,  für  am  wahr- 
scheinlichsten. Der  Bau  des  Nervensystems,  der 
Muskelschichten  und  des  Blutgefäßsystems  der 
Holothurien  spricht  zugunsten  dieser  Annahme. 
Auch  die  Sinnesorgane  (Statocysten)  und  die  so- 
genannten Wimperorgane  der  Synaptiden  haben 
mit  den  entsprechenden  Organen  der  Anneliden 
große  Ähnlichkeit.  Auffällig  kann  erscheinen,  daß 
das  für  die  Holothurien,  wie  für  die  Echinodermen 
überhaupt,  so  charakteristische  Wassergefäßsystem 
bei  den  Würmern  gänzlich  verschwunden  sein  soll. 
Doch  abgesehen  davon,  daß  das  Fehlen  eines 
Organsystems  in  einer  Tiergruppe  nicht  gegen  die 
X'^erwandtschaft  mit  einer  anderen  Gruppe  zu 
sprechen  braucht,  finden  sich  bei  manchen  Würmern 
auch  noch  Teile,  die  als  Überreste  eines  Wasser- 
gefäßsystems gedeutet  werden  können  (Eichelblase 
des  Balanoglossus,  Tentakularsystem  des  Sipunculus, 
Rhynchocölom  und  Rüssel  der  Nemertinen).  Die 
von  den  Anneliden  neu  erworbene  Metamerie  hat 
nach  Boas'  Ansicht  nicht  die  Bedeutung,  die 
iTian  diesem  Merkmal  im  allgemeinen  beimißt. 
Überall  macht  sich  in  der  organischen  Natur  ein 
„Gesetz  der  Wiederholung"  bemerkbar,  auch  die 
Segmentation  der  Anneliden  ist  „nur  ein  Fall 
unter  vielen  von  einer  metameren  Anordnung  einer 
Anzahl  Organe". 

Zum  Schluß  trägt  Boas  kurz  in  dogmatischer 
Form  seine  Auffassung  der  Keimblätterlehre  vor. 
Er  unterscheidet  nur  zwei  Keimblätter:  Ekto- und 
Entoderm,  die  beiden  Zellenschichten  der  Gastrula 
und  des  Hydroidkörpers.  Bei  den  Hydroiden  bleibt 
das  Entoderm  ein  einfacher  Schlauch,  bei  den 
anderen  Cölenteraten  bildet  es  mehr  oder  weniger 
komplizierte  Ausstülpungen,  jedoch  bleiben  die 
Nebenräume  immer  in  offener  Verbindung  mit  der 
Haupthöhle.  Im  Gegensatz  dazu  schnüren  sich  bei 
den  Echinodermen  und  Bilaterien  die  Ausstülpungen 


728 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  51 


von  der  Entodermhöhle  vollständig  ab.  Bei  den 
einen  entstehen  sie  als  offene  Ausstülpungen,  die 
Cölomsäcke  sind  hier  von  Anfang  an  Hohlorgane, 
bei  anderen  werden  die  Säcke  als  solide  Entoderm- 
auswüchse  angelegt,  und  erst  später  tritt  ein  Hohl- 
raum auf.  Ein  prinzipieller  Unterschied  besteht 
indessen  zwischen  diesen  beiden  Formen  der 
Cölomsackbildung  nicht.  Die  Mesenchymzellen, 
die  in  der  Regel  zusammen  mit  den  Cölomsäcken 
als  ,,Mesoderm"  bezeichnet  werden,  stammen  von 
beiden  Keimblättern  ab.  Xachtsheim. 


Westru^land  in  seiner  Bedeutung  für  die  Ent- 
wicklung Mitteleuropas.  Leipzig  und  Berlin. 
1917.  B.  G.  Teubner.  4,80  M. 
Das  vorliegerde  Buch  stellt  eine  Sammlung 
von  Einzelaufsätzen  dar,  deren  leitende  Gesichts- 
punkte und  inneren  Zusammenhang  Sering  in 
einer  Einleitung  auseinandersetzt,  die  am  besten 
über  Ziel  und  Bedeutung  des  Bandes  unterrichtet. 
Sering  geht  von  der  Tatsache  aus,  daß  das  über- 
kommene, ehemals  leidlich  stabilisierte  Staaten- 
system Europas  durch  die  riesigen  Siedelungen 
innerhalb  der  gemäßigten  Zone  in  Amerika,  in 
Australien,  Nordasien  usw.  in  seinen  Grundfesten 
erschüttert  worden  ist.  Riesenstaatengebilde  euro- 
päischer Zivilisation  sind  entstanden,  welche  die 
unverkennbare  Absicht  zeigen,  alle  die  noch  außer- 
halb dieser  Ringe  befindlichen  Staaten  ihrer  Auf- 
sicht zu  unterwerfen  oder  sie  bis  zur  politischen 
Bedeutungslosigkeit  zu  verkrüppeln.  Damit  ist 
die  große  Gefahr  einer  Verflachung  und  Verödung 
des  in  seiner  Buntheit  so  reichen  und  schöpferischen 
eu.-opäischen  Kuhurlebens  eingetreten,  eine  Gefahr, 
vor  der  nicht  die  Bildung  eines  neuen  Imperiums, 
sondern  nur  ein  Staatenbund  schützen  kann,  der 
in  seiner  festen  Geschlossenheit  jedem  der  Staaten- 
ungeheuer gewachsen  ist,  der  aber  seinen  Mit- 
gliedern genügenden  Spielraum  zur  Entfaltung  der 
ihnen  eigentümlichen  Kräfte  und  F"ähigkeiten  ge- 
währt. Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  muß  auch 
im  Osten  die  Neugestaltung  der  Grenzgebiete  er- 
folgen, die  zu  einem  guten  Teil  von  den  Mittel- 
mächten besetzt  sind.  Ihre  Loslösung  von  Rußland 
und  enge  Angliederung  an  Mitteleuropa  sei  eins 
unserer  wichtigsten  Kriegsziele,  seine  Durchführung 
werde  erleichtert  und  innerlich  gerechtfertigt  durch 
die  Tatsache,    daß    jene    Länder    seit    alters    zur 


kulturellen  Einflußsphäre  Mitteleuropas  gehören. 
Sinngemäß  seien  aber  auch  etliche  der  nicht  be- 
setzten Randländer  Rußlands  in  diesen  Gedanken- 
kreis einzuziehen  und  schließlich  seien  auch  rein 
russische  Verhältnisse  für  unsere  Beziehungen  zu 
unserem  wichtigsten  Nachbarn  bedeutungsvoll,  von 
denen  Sering  annimmt,  daß  sie  bei  festerem  Aus- 
bau vielleicht  imstande  sein  werden,  dem  angel- 
sächsischen Weltherrschaftsblockdie  Wage  zu  hallen. 

Die  folgenden  Einzeldarstellungen  geben  nun- 
mehr bei  völliger  Wahrung  des  politischen  Stand- 
punktes der  einzelnen  Verfasser  das  Material,  aus 
dem  sich  eine  zuverlässige  Einsicht  in  die  für  uns 
so  wichtigen  Verhältnisse  der  westlichen  Grenz- 
länder Rußlands  gewinnen  läßt.  Nacheinander 
werden  Finnland,  die  baltischen  Provinzen,  Litauen, 
Polen,  und  die  Ukraine  behandelt,  indem  die  geo- 
graphischen Grundlagen,  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse, die  Bevölkerung,  die  Geschichte,  kurz 
alles,  was  zur  Kenntnis  dieser  Länder  erforderlich 
ist,  in  knappen  Zügen,  aber  auf  Grund  sorgfältiger 
Studien  und  reichlich  unterstützt  durch  wertvolle 
statistische  Angaben,  geschildert  werden.  Dabei 
wird  überall  die  Frage  erörtert,  inwieweit  in  diesen 
Ländern  die  Grundlagen  zu  einer  selbständigen 
staatlichen  Existenz  gegeben  sind.  Es  folgen  dann 
zwei  Abschnitte,  die  das  deutsche  Kolonistentum 
sowie  die  kulturpolitische  Bedeutung  des  Deutsch- 
tums in  Rußland  zum  Gegenstand  haben,  ferner 
eine  besondere  Behandlung  des  schwierigen,  nach 
dem  Kriege  für  uns  sehr  brennend  werdenden 
Ostjudenproblems.  Mit  diesem  greift  das  Buch 
z.  T.  bereits  auf  eigentlich  russische  Verhältnisse 
über,  denen  dann  der  letzte  Abschnitt  ganz  ge- 
widmet ist,  indem  hier  eine  der  schwierigsten 
Aufgaben  unseres  östlichen  Nachbarn,  nämlich  die 
Agrarreform,  ihre  historischen  Grundlagen  und  ihre 
bisherigen  Erfolge  geschildert  werden. 

Es  ist  unmöglich,  aus  dem  reichen  Inhalt  dieses 
sehr  interessanten  Buches  einzelnes  herauszugreifen. 
Es  bedeutet  einen  wertvollen  Zuwachs  der  geogra- 
phischen Literatur;  sein  aufmerksames  Studium 
ist  aber  auch  für  jeden  anderen  gewinnreich,  der 
den  ungeheuren  Problemen  gegenüber,  die  unsere 
Beziehungen  zum  Osten  in  sich  bergen,  zu  eigener 
Anschauung  und  eigenem  Urteil  gelangen  will. 
Wir  möchten  deshalb  dem  Buche,  dessen  Preis  in 
dieser  Zeit  allgemeinster  „Neuorientierung  der 
Preise"  erfreulich  mäßig  ist,  die  verdiente  weite 
Verbreitung  wünschen.  Miehe. 


Inhaltl  M.  Möbius,  Die  Reduktionsteilung  im  Pflanzenreich.  S.  713.  K.  Andre  e,  Einige  Bemerliungen  zur  Geschichte 
der  Geologie,  insbesondere  der  ,, phantastischen  Periode"  der  Paläontologie.  (3  Abb.)  S.  717.  —  Einzelberictite: 
W.  Krebs,  Mistpoeffer-Erscheiaungen  an  der  holländischen  Küste  infolge  einer  nordenglischen  Explosion.  S.  721. 
R.  Lange,  Beiträge  zur  biologischen  Blüten anatomie.  S.  722.  Hilda  Plaetzer,  Assimilation  und  Atmung  von 
Wasserpflanzen.  S.  722.  TheUung,  Stratiobotanik.  S.  723.  Th  e u  n e ,  Die  Fruchtbildung  einiger  geokarper  Pflanzen. 
S.  724.  H.  Stitz,  Die  wirtschaftliche  Bedeutung  der  Ameisen  für  den  Menschen.  S.  725.  —  Bücherbesprechungen: 
H.  Kittin  g,  Die  Pflanze  als  lebender  Organismus.  S.  726.  J.  E.  V.  Boas,  Zur  Auffassung  der  Verwandtschaftsver- 
hältnisse   der  Tiere.    S.   726.     Westrußland    in    seiner    Bedeutung    für  die  Entwicklung  Mitteleuropas.    S.   728. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Kischer  in  Jena. 

Druck  der  G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sonntag,  den  30.  Dezember  1917. 


Nummer  53. 


Ein  Beitrag  zum  Problem  der  Seidenraupenzucht 
mit  Schwarzwurzelfütterung. 

(Nachdruck  verboten]  Von  Dr.  Horst  Wachs,  Assistent  am  Zool.  Institut  der  Universität  Rostock. 

Mit  4  Abbildungen  im  Text. 


Die  Mitteilungen  von  Dr.  Hans  Walter 
Frick  hinger,  München  über  „Die  Deutschen  Sei- 
denbaubestrebungen und  das  Problem  der  Schwarz- 
wurzelfütterung" in  Nr.  39  dieser  Wochenschrift 
veranlassen  mich,  über  meine  eigenen  in  diesem 
Jahre  hierüber  angestellten  Fütterungsversuche  zu 
berichten. 

Wie  anderorts  im  Reiche  setzten  im  vorigen 
Jahre  auch  in  Rostock  Bestrebungen  ein,  die  Zucht 
derSeidenraupe  wieder  einzuführen.  Dabei  handelte 
es  sich  speziell  für  Mecklenburg  um  nichts  durch- 
aus Neues,  denn  erst  seit  dem  Jahre  1903  war 
die  Seidenraupenzucht  oder,  wie  man  gewöhnlich 
kurzhin  zu  sagen  pflegt,  der  „Seidenbau"  m  hiesiger 
Gegend  fast  ganz  eingeschlafen.  Bis  dahin  wurde, 
vor  allem  seit  den  fünfziger  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts,  vielerorts  in  Mecklenburg  Seiden- 
zucht betrieben.  Maulbeerpflanzungen  größeren 
Umfanges  bestanden  an  mehreren  Stellen  in 
Rostock,  ferner  in  Neustrelitz,  in  Schwaan,  bei 
Laage,  in  Mirow  und  in  Güstrow.  In  dem  Land- 
arbeitshaus in  Güstrow  wurde  die  Zucht  lange 
Zeit  in  großem  Maßstabe  und  mit  gutem  Erfolg 
betrieben. 

Die  gewonnenen  Kokons  wurden  an  die  Spin- 
nerei von  Heese- Berlin  verkauft.  Die  gewonnene 
Seide  war  von  guter  Beschaftenheit,  laut  einem 
Gutachten  dieser  Firma,  das  im  hiesigen  Zoologi- 
schen Institut  der  Universität  aufbewahrt  ist.  Im 
Besitze  des  gleichen  Institutes  befinden  sich  auch 
noch  Kokons  aus  jener  Zeit,  rohe  abgekaspelte 
Seide,  weiß,  von  schönem  Glänze,  schwarzseidenes 
Nähgarn  und  eine  rote  gestrickte  Geldbörse  aus 
mecklenburger  Seide.  Das  schwarzseidene  Näh- 
garn wurde  von  den  Züchtern  großenteils  zurück- 
gekauft und  erfreute  sich  wegen  seiner  Haltbarkeit 
vielfacher  Verwendung. 

Das  allmähliche  Einschlafen  der  hiesigen  Zuchten 
hatte  seinen  Hauptgrund  in  dem  Aufblühen  der 
Imkerei,  von  der  viele  sich  größeren  Gewinn  ver- 
sprachen. Vergleicht  man  Seidenbau  und  Imkerei, 
so  wirft  allerdings  die  Bienenzucht  sicherlich  mehr 
Gewinn  ab,  doch  darf  dabei  nicht  vergessen  werden, 
daß  die  Einrichtung  einer  Imkerei  beträchtliches 
Anlagekapital  erfordert  —  wenigstens  verglichen 
mit  Seidenzucht  I  — ,  daß  die  Hantierung  mit 
Bienen  unvergleichlich  schwieriger  ist  als  die  Pflege 
der  Raupen,  und  daß  die  Arbeit  des  Imkers  sich 
über  das  ganze  Jahr  erstreckt,  der  aus  der  Seidenzucht 
fließende  Gewinn  hingegen  innerhalb  eines  Zeit- 
raumes von  etwa  einem  Monat  erzielt  wird. 

Leider  sind  infolge   baulicher  Erweiterung  der 


Städte  von  den  schönen  Maulbeerpflanzungen  meist 
nur  einzelne  Bäume  zurückgeblieben.  Gleich  hier 
möchte  ich  aber  besonders  betonen,  daß  die  er- 
haltenen Bäume  trotz  gänzlicher  Vernachlässigung 
ihrer  Pflege,  trotz  Raubbaues  einiger  noch  züch- 
tenden jungen  Leute  und  trotz  der  Schädigungen, 
die  sie  im  Herbst  bei  der  rücksichtslosen  Plünde- 
rung der  Beeren  —  der  schwarzen  wie  auch  der 
weißen!  —  durch  die  Kinder  der  Straße  erfahren, 
durchweg  gut  weitergewachsen  sind  und  auch  die 
ganz  ungewöhnlich  strengen  Winter  von  1911/12 
und  1916,17  überstehen  konnten.^) 

Da  die  noch  erhaltenen  Maulbeerbäume  in 
keiner  Weise  ausreichten,  die  Seidenzucht  auf 
breiterer  Grundlage  wieder  aufzunehmen,  wurde 
die  so  vielbesprochene  Heranziehung  der  Schwarz- 
wurzel als  Ersatzfuiter  erwogen.  Ich  entschloß 
mich,  Fütterungsversuche  anzustellen. 

Ich  begann  meine  Versuche  am  6.  Mai  191 7 
mit  mehreren  Hundert  zweitägiger  Räupchen,  die 
ich  aus  der  Zucht  von  Prof.  Damm  er  in  Berlin- 
Dahlem  erhalten  hatte.  Die  Eltern  dieser  Tiere 
waren  mit  Schwarzwurzelfütterung  erzogen.  Ich 
hielt  diese  Zucht  die  ganze  Zeit  in  einem  ge- 
heizten Räume  bei  einer  Temperatur  von  17  bis 
21  "  R.  Einen  Teil  der  gleichen  Raupen  züchtete 
ein  befreundeter  Herr  zum  Vergleich  im  unge- 
heizten Zimmer. 

Die  Raupen  wurden  bei  mir  täglich  sieben- 
mal gefüttert,  und  zwar  stets  mit  frischen  Blättern 
aus  meiner  eigenen  Pflanzung.  Trotz  sorgfältigster 
Pflege  fraßen  die  Tiere  nicht  gleichgut.  Bei  jeder 
Besichtigung  der  Zucht  hatte  sich  eine  Anzahl 
der  jungen  Raupen  vom  P'utter  entfernt.  Um 
ihnen  das  Annehmen  zu  erleichtern,  wurden  nicht 
nur  die  Haare  der  Blätter  durch  sorgfältiges  Ab- 
reiben entfernt,  ich  entfernte  auch  noch  die  Ober- 
haut, indem  ich  sie  in  einzelnen  Stückchen  mit 
einer  spitzen  Pinzette  abzog.  Die  so  freigelegten 
Blattstellen  wurden  sichtlich  bevorzugt,  doch  hatte 
dies  Verfahren  den  Nachteil,  die  Blätter  durch  den 
ungehinderten  Wasserverlust  leichter  welken  zu 
lassen. 

Trotz  aller  aufgewandten  Mühe  kümmerten 
immer  mehr  der  kleinen  Tiere  und  gingen  ein. 
Nach  25  Tagen  waren  nur  noch  16  Raupen  am 
Leben.     Die  Tiere. waren  sehr  ungleich  groß.    Jetzt 

')  Diese  Winter  brachten  hier  außerordentlich  anhaltende 
niedere  Temperaturen,  so  daß  in  beiden  Jahren  die  Ostsee  auf 
viele  Kilometer  hinaus  stark  zugefroren  war.  Hunderte  von 
Spaziergängern  und  Jägern  bevölkerte  von  früh  bis  abends 
die  Eisdecke  bis  mehrere  Kilometer  landab. 


730 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  52 


trennte  ich  sie  in  zwei  Serien,  derart,  daß  jede 
Serie  gleichviele  Raupen  gleicher  Größe  entliielt. 
Die  eine  Serie  erhielt  auch  weiterhin  Schwarz- 
wurzelblätter, die  andere  Serie  erhielt  Maulbeerlaub. 
Die  Raupen  nahmen  das  neue  Futter  sofort  an. 
Nach  siebentägiger  Fütterung  war  ein  deut- 
licher Größenunterschied  erkennbar.  Das  Bild 
zeigt  die  Tiere  zu  diesem  Zeitpunkte  (Abb.  i). 
Gleichzeitig  machte  ich  eine  Vergleichsaufnahme 
der  anderen,  im  ungeheizten  Räume  mit  Schwarz- 
wurzel gefütterten  Raupen.  Die  Tiere  sind  um 
soviel  kleiner,    daß  man  zunächst  sicherlich  nicht 


Die  Eier  dieser  Zucht  stammen  aus  Szekszard 
in  Ungarn,  die  Eltern  haben  reine  Maulbeerfüite- 
rung  erhalten.  Zur  Zucht  wurden  100  Eier  an- 
gesetzt, der  Zuchtraum  wurde  nicht  geheizt,  doch 
hielt  sich  die  Temperatur  während  der  ganzen 
Zucht,  von  Mitte  Rlai  bis  Mitte  Juni,  gleichmäßig 
auf  17 — 21"  R.  Zunächst  erhielten  sämtliche 
Tiere  wieder  Schwarzwurzelfütterung,  wobei  sich 
die  gleichen  ungünstigen  Erscheinungen  wie  bei 
der  ersten  Zucht  zeigten.  Doch  war  der  Prozent- 
satz der  durch  Tod  abgehenden  Tiere  bedeutend 
geringer:  zur  Zeit  der  zweiten  Häutung,  die  2  bis 


meint,  es  hier  mit  gleichalten  Raupen,  im  gleichen 
Abstände  photographiert,  zu  tun  zu  haben ! 

Zum  Einspinnen  kamen  in  jeder  meiner  Serien 
je  6  Raupen,  von  denen  je  eine  während  des 
Spinnens  starb.  Während  die  mit  Maulbeer  nach- 
gefütterten Raupen  in  33 — 38  Tagen  spannen, 
spannen  die  Schwarzwurzelraupen  erst  in  35 — 42 
Tagen.  Die  im  ungeheizten  Räume  gehakenen 
Raupen  haben,  mit  Schwarzwurzelfütterung,  nach 
58  Tagen  noch  nicht  gesponnen! 

Außer  dieser  Zucht  wurden  noch  drei  weitere 
Parallclfüttcrungen  und  vier  reine  Maulbeerzuchten 
mit  verschiedenen  Rassen  durchgeführt.  Nur  von 
einem  Versuch  will  ich  noch  berichten. 


4  Tage    verspätet    eintrat,    waren    noch   50,    nach 
16  Tagen  noch  40  Raupen  am  Leben. 

Jetzt  teilte  ich  sie  in  zwei  Serien  von  je  20 
Raupen.  Die  eine  Serie  erhielt  weiterhin  Schwarz- 
wurzel, die  andere  Maulbeer.  Schon  nach  sieben- 
tägiger Fütterung  hatten  die  Maulbeertiere  einen 
deutliclien  Vorsprung  (Abb.  2).  Das  bessere  Ge- 
deihen der  mit  Morus  gefütterten  Tiere  wurde 
immer  auffallender,  und  nach  13  Tagen  (Abb.  3), 
hätte  man  kaum  eine  einzelne  Morus-Raupe  mit 
einer  Raupe  der  Parallelzucht  verwechseln  können. 
Die  M  Raupen  zeigten  eine  viel  straffere,  glänzen- 
dere Haut  als  die  S  Raupen,  die  Tiere  machten 
einen  sichtlich  gesünderen  Eindruck  und  fraßen 
ohne  Unterlaß,  während  die  SRau[)en  oftmals  vom 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


731 


P'utterblatt  ablassen,  ein  Stück  weiterkriechen  und 
anderswo  wieder  zu  fressen  beginnen. 

Der  auffallendste  Unterschied  zeigt  sich  aber 
zur  Zeit  des  Einspinnens.  Nach  15  Tagen  M- 
Fütterung,  am  31.  Lebenstag,  verlassen  die  drei 
ersten  M-Raupen  das  F~utter,  setzen  sich  alsobald 
an  und  beginnen  zu  spinnen.  Erst  drei  Tage 
später  entschließen  sich  zwei  der  SRaupen  zum 
Spinnen,  während  innerhalb  der  gleichen  Zeit 
sämtliche  20  M-Raupen  mit  dem  Spinnen  der 
Kokons  begonnen  haben. 

Von  den  20  S-Raupen  ist  bis  dahin  noch  keine 
gestorben.  Einige  zeigen  durch  Anschwellen  der 
Seiten,  infolge  Ansammlung  des  Seidensaftes  in 
den  Spinndrüsen,  daß  sie  die  Spinnreife  erreicht 
haben.  Eine  nach  der  anderen  verläßt  das  Futter 
und  kriecht  unstet  umher.  Nur  eine  Raupe  setzt 
sich  noch  an  und  spinnt  einen  Kokon.  Vier 
weitere  Raupen  sterben,  ohne  zu  spinnen.  Am 
37.  Lebenstag  (s.  Abb.  4)  haben  die  20  M  Raupen 
ebensoviele  fertige  Kokons  geliefert,  die  SRaupen 
drei  Kokons,  vier  Raupen  sind  tot,  eine  im  Sterben 
(nicht  auf  dem  Bilde),  12  Raupen  fressen  noch. 
Das  Endergebnis  der  S-Zucht  waren  nur  5  Kokons, 
eine  Raupe  erhielt  noch  Maulbeer,  begann  am 
nächsten  Tage  mit  Spinnen,  starb  aber  vor  der 
Vollendung  des  Kokons.  Die  übrigen  14  Raupen 
starben  nach  Verlassen  des  Futters  nach  langem 
unsteten  Umherirren.  Zwar  war  bei  den  meisten 
die  Bildung  des  Seidensaftes  in  den  Spinndrüsen 
vor  sich  gegangen,  doch  fehlte  den  Tieren  offen- 
bar der  Instinkt,  sich  zum  P^estsetzen  an  bestimmter 
Stelle  zu  entschließen.  Unschlüssig  „verzogen"  sie 
allenthalben  ihre  Seide,  wurden  immer  schwächer 
und  gingen  ein. 

Die  Erfolge  der  reinen  M-Zuchten  waren 
unvergleichlich  besserl  Der  Abgang  durch 
nicht  fressende  und  verkümmernde  Raupen  war 
fast  gleich  Null.  Alle  Raupen  der  vier  im  gleichen 
Zimmer  gehaltenen  M-Zuchten  spannen  nach 
28 — 34  Tagen. 

Als  Ergebnis  der  Versuche  zeigt  sich,  daß 
unter  gleichen  Bedingungen  und  selbst  bei  sorg- 
fältigster Pflege  die  S  Fütterung  in  keiner  Weise 
das  gleiche  leisten  kann  wie  die  M-Fütterung. 
Zunächst  wird  die  Zucht  gleich  zu  Beginn  eine 
starke  Einbuße  durch  große  Sterblichkeit  der 
jungen  Raupen  erleiden.  Diese  Einbuße  betrug 
bei  meiner  Zucht  der  ungarischen  Raupen  aus 
Maulbeereltern  öo'"^,  bei  der  Zucht  der  Berliner 
Raupen  aus  Schwarzwurzeleltern  aber  über  90  "/o- 
Ich  glaube  nicht,  daß  dieser  Unterschied  ein  zu- 
falliger ist,  sondern  sehe  darin  eine  Bestätigung 
der Befundevon  Maas,  daß  die  Schädigung  durch 
.Schwarz Wurzelfütterung  sich  auch  beiden  Nach- 
kommen bemerkbar  macht. 

Eine  abermalige  Einbuße  werden  die  Schwarz- 
wurzel-Zuchten zur  Zeit  des  Einspinnens  erleiden, 
wie  oben  gezeigt  ist.  Diese  Verluste  lassen  sich 
allerdings,  wie  ich  ebenfalls  durch  entsprechende 
Fütterungsversuche  feststellte,  vermeiden,  wenn  man 


einige  Tage  vor  der  Spinnreife  mit 
M-Fütterung  einsetzt! 

Fragen  wir  uns  nun  nach  der  Bedeutung  der 
Schwarzwurzelfütterung  für  die  Praxis,  so  geht 
schon  aus  der  soeben  erwähnten  Notwendigkeit, 
mindestens  zum  Abschluß  der  Zucht  Maulbeer  zu 
füttern,  hervor,  daß  wir  nirgends  zur 
Aufzucht  derSeidenraupe  raten  können, 
wo  dem  Züchter  nicht  wenigstens  für 
die  letzten  Zuchttage  M-Laub  zur  Ver- 
fügung steht!  Hierdurch  verliert  aber  die 
S-Fütterung  ganz  ungemein  an  Bedeutung!  Wäre 
Schwarzwurzellaubein  vollwertiger  Ersatz  gewesen, 
so  hätte  man  nach  einem  Jahre  der  Vorberei- 
tung allenthalben  mit  der  Seidenzucht  beginnen 
können  —  so  aber  ist  das  Vorhandensein  wenigstens 
einiger  Maulbeerbäume  Vorbedingung.  Die 
Rentabilität  der  Zucht  wird  aber  auch  so  bei 
S  Fütterung  dadurch  in  I'rage  gestellt,  daß  aus 
einer  bestimmten  Menge  Eier  stets  viel 
weniger  Kokons  erzielt  werden  als  bei  M- 
F"ütterung.  Dabei  enthalte  ich  mich  noch  jeden 
Urteiles  über  die  Güte  der  erzielten  Kokons! 

Immerhin,  könnte  man  sagen,  kann  vielleicht 
durch  S-Fütterung  eine  Ersparnis  des  vorhandenen 
M-Laubes  eintreten,  dergestalt,  daß  es  bei  einer 
bestimmten  Menge  vorhandenen  M-Laubes  mit 
Unterstützung  durch  Schwarzwurzel  möglich  würde, 
eine  bedeutend  größere  Menge  von  Raupen  durch- 
zufüttern. Hiergegen  muß  zweierlei  eingewendet 
werden.  Beschaft't  sich  der  praktische  Züchter  ein 
Eierquantum,  das  der  vorhandenen  Laubmenge 
entspricht,  so  wird  seine  Berechnung  durch  die 
Verluste,  die  bei  S-Fütterung  eintreten,  vollkom- 
men umgestoßen!  Andererseits  verzehren  die 
Raupen  gerade  in  den  letzten  Tagen  ihres  Lebens, 
während  der  sogenannten  „Fresse",  ganz  unver- 
hältnismäßig große  Mengen  an  Futter.  Mehr 
als  */-,  des  ganzen  P'utterbedarfes  fallen  auf  die 
letzten  9  Tage!  Würde  man  also  21  Tage  mit 
Schwarzwurzel  und  9  Tage  mit  Maulbeer  füttern, 
so  würde  man  hierdurch  kaum  20%  an  Futter 
sparen  —  wohl  aber  60  "/o  oder  noch  mehr  an 
Raupen  verlieren! 

Ich  glaube  nicht  zu  viel  zu  sagen,  wenn  ich 
aus  diesen  Erfahrungen  und  Berechnungen  den 
Schluß  ziehe,  daß  die  Schwarzwurzelfütterung  der 
Seidenraupe  zwar  als  Laboraloriumsversuch  und 
ev.  für  Studien  über  Umgewöhnung  und  über  Ver- 
erbung von  Interesse  ist,  für  die  Praxis  aber  jeg- 
licher Bedeutung  entbehrt!  Ich  möchte  sogar  noch 
einen  Schritt  weiter  gehen  und  behaupten,  daß 
durch  die  Propaganda  für  Schwarzwurzelfütterung 
die  Xeueinführung  des  Seidenbaues  aufs  schwerste 
gefährdet  wird.  Denn  nichts  wird  die  diesbezüg- 
lichen Bemühungen  mehr  diskredhieren  können 
als  die  Mißerfolge  der  Schwarzwurzelzuchten  I 

Wenn  der  Seidenbau  in  Deutschland  wirklich 
im  großen  eingeführt  und  mit  Nutzen  betrieben 
werden  soll,  so  ist  die  erste  Bedingung :  Anpflanzung 
zahlreicher  Maulbeeren!  Da  die  Maulbeere  gut 
bei  uns  gedeiht,    ihr  schönes  Grün    wirklich    eine 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  52 


Zierde  jeden  Gartens  ist,  zumal  keinerlei  Un- 
geziefer ihre  Blätter  angeht,  und  schließlich  auch 
die  Beeren  Verwendung  finden  können,  so  gibt 
es,  will  mir  scheinen,  keinen  vernünftigen  Grund, 
die  Ausbreitung  dieses  Gewächses  als  Baum, 
Strauch  oder  Hecke  nicht  zu  fördern.  Zunächst 
ohne  Rücksicht  auf  Seidenbau  könnte  Morus  alba 
und  Morus    nigra    sehr    wohl    an    Stelle    anderer. 


ganz  nutzloser  Bäume  und  Sträucher  gepflanzt 
werden.  Wird  dies  geschehen  sein,  dann  ist  es 
an  der  Zeit,  mit  den  inzwischen  neu  erworbenen 
Erfahrungen  über  Seidenbau  hervorzutreten  und 
die  inzwischen  als  geeignet  geprüften  Rassen  der 
Allgemeinheit  zur  Wiedereinführung  des  Seiden- 
baues zu  übergeben. 


Einzelberichte. 


Bakteriologie.  Bald  nach  der  Entdeckung 
des  Erregers  der  Rindertuberkulose,  der  Perlsucht, 
erhob  sich  die  Frage,  ob  derselbe  eine  neue  Art 
repräsentiere  oder  nur  eine  Varietät  des  von 
Robert  Koch  gefundenen  Erregers  der  mensch- 
lichen Tuberkulose  darstelle,  dem  er  morphologisch 
und  kulturell  nahe  verwandt  ist;  ob  also  der 
Bazillus  typus  hominis  und  typus  bovis  nur  zwei 
Varietäten  einer  und  derselben  Art,  des  Tuberkel- 
bazillus, wären. 

Die  Frage  rief  deshalb  besonderes  Interesse 
hervor,  weil  es  darauf  ankommt,  ob  beide  Formen 
für  den  Menschen  pathogen  sind.  Wenn  der 
Rinderbazillus  nämlich  auch  ein  Erreger  der 
menschlichen  Tuberkulose  sein  kann,  so  liegt  die 
Gefahr  nahe,  daß  bei  der  Ernährung  von  Kindern 
mit  der  Milch  infizierter  Kühe  der  Krankheitskeim 
auch  auf  den  Menschen  übertragen  wird.  Trotz 
vieljähriger  lebhafter  Diskussion  ist  man  auch 
heute  noch  nicht  zu  einem  abschließenden  all- 
seitig anerkannten  Urteil  gekommen.  Die  einen 
halten  mit  dem  Altmeister  Koch  beide -Bazillen 
für  verschiedenartig,  also  den  Bazillus  typus  bovis 
für  harmlos  für  den  Menschen,  während  die  anderen 
in  ihm  nur  eine  Varietät  des  typus  hominis  er- 
blicken. Endgültig  ist,  wie  gesagt,  die  so  wichtige 
Frage  bis    heute  noch  nicht    entschieden  worden. 

Während  nun  die  Schriftleiterin  der  deutschen 
Zeitschrift  für  Tuberkulose,  Frau  Rabinowitsch, 
sich  auf  den  antikochschen  Standpunkt  stellt,  ver- 
tritt in  einem  Aufsatz:  „Über  die  Bedeutung  der 
Rindertuberkulose  für  den  Menschen"  Fuchs 
v.  Wo  If  ri  n  g-Davos  den  Standpunkt,  daß  der 
Rindertuberkelbazillus  für  den  Menschen  apatho- 
gen ist. 

Durch  den  Versuch  konnte  nachgewiesen 
werden,  daß  zwar  der  menschliche  Bazillus  auch 
für  das  Tier  pathogen  ist,  indem  er  auf,  dasselbe 
übertragen,  schwere  Tuberkulosekrankheit  hervor- 
ruft. Umgekehrt  konnte  natürlich  nicht  erfahren 
werden,  ob  die  Unschädlichkeit  des  Rinderbazillus 
für  den  Menschen  zutrifft.  Wir  sind  in  der  Be- 
ziehung auf  Schlußfolgerungen  aus  unbestreitbaren 
Tatsachen  hingewiesen.  Die  letzteren  haben  nun 
alle  zugunsten  des  Koch'schen  Standpunkts 
gesprochen;  einmal  blieben  die  Menschen  auch 
dort,  wo  Milch  und  Milchprodukte,  die  wie  bei 
den  Sennen  der  Berner  Alpen,  einen  Haupt- 
bestandteil   der    Nahrung     ausmachen,     von    der 


Tuberkulose  großenteils  verschont  und  anderseits 
wieder  trat  die  Tuberkulose  in  Ländern  wie  China, 
die  Türkei,  Zentralafrika  usw.  in  auffallend  großer 
Zahl  auf,  obschon  dort  Kinder  keine  Kuhmilch 
zur  Nahrung  bekommen,  ja,  wie  in  Zentralafrika, 
das  Rindvieh  überhaupt  nicht  als  Haustier  gehalten 
wird.  In  Japan  war  die  Tuberkulose  von  jeher 
eine  der  häufigsten  Krankheiten ,  obschon  die 
Rindertuberkulose  dort  unbekannt  war  und  erst 
mit  der  Einführung  europäischen  Rindviehs  ein- 
geschleppt wurde.  In  einem  englischen  Pensionate 
wurden  beim  Ausbruch  einer  Tuberkuloseepidemie 
gerade  die  Insassen  von  der  Krankheit  verschont, 
welche  nachweislich  Milch  genossen  hatten, 
während  die  anderen  erkrankten.  Die  Milch  von 
tuberkulösen  Kühen  soll  einen  .«Antikörper  enthalten, 
welcher  vor  der  menschlichen  Tuberkulose  schützt. 
Daraus  würde  sich  der  vorher  erwähnte  Unter- 
schied bei  den  Insassen  des  englischen  Pensionates 
erklären  lassen. 

Frau  Rabinowitsch  gelang  es,  aus  20  aus- 
gesuchten Tuberkulosefällen  zehnmal  =  50  "!„ 
Rinderbazillen  zu  züchten. 

Versuche  am  Menschen  mit  Perlsuchtbazillen 
fielen  negativ  aus.  Unter  687  Personen,  von  denen 
mindestens  280  Kinder  waren,  konnte  man  nur 
zweimal,  also  in  0,29 '^/^  das  Auftreten  einer  In- 
fektion mit  dem  typus  „bovinus"  nachweisen, 
trotzdem  alle  diese  Menschen  lange  Zeit  hindurch 
Milch  oder  Milchprodukte  von  eutertuberkulösen 
Kühen  genossen  hatten. 

26  Personen  tranken  längere  Zeit  hindurch 
eine  tuberkulöse  Milch,  welche  sich  bei  der  Ver- 
fütterung  auf  Tiere  als  infektiös  erwies.  Dagegen 
wurde  keine  von  diesen  26  Personen  krank. 

In  Italien  ist  die  Tuberkulose  am  wenigsten 
da  verbreitet,  wo  viel  rohe  Milch  getrunken 
wird,  trotz  des  Vorhandenseins  von  „Perlsucht" 
bei  Rindern.  M öll e rs  hat  die  bis  i.  Januar  1914 
veröffentlichten  Fälle  menschlicher  Tuberkulose, 
die  auf  den  Tuberkelbazillentypus  in  einwandfreier 
Weise  untersucht  worden  sind,  in  einer  Tabelle 
zusammengestellt  und  kommt  darauf  zum  Ergeb- 
nis, daß  sich  ein  boviner  Anteil  von  etwa  1,8  "/^ 
bei  allen  menschlichen  Tuberkulosefällen  ergeben 
würde. 

Ein  widersprechendes  Ergebnis  scheinen  die 
Untersuchungen  auf  Tuberkelbazilleii  in  Deutsch- 
land und  die  in  England  zu  haben.     In  Deutsch- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


733 


land  nämlich  findet  man  den  typus  bovis  nur  in 
1,3  "/„  bzw.  II  "/„,  höchstens  in  28"^  der  Fälle, 
während  er  in  England  in  bis  90  "/„  gefunden 
wurde.  Doch  erklärt  sich  dies  aus  den  verschie- 
denen Kulturmethoden.  In  Deutschland  züchtet 
man  nämlich  auf  einem  Nährboden,  welcher  speziell 
der  Entwicklung  des  typus  hominis  günstig  ist, 
den  typus  bovis  dagegen  nur  kümmerlich  gedeihen 
läßt.  Wurden  nun  bei  der  Aussat  menschliche 
Bazillen  in  die  Kultur  mit  hineingebracht,  so  über- 
wuchern, eventuell  unterdrücken  die  Bazillen  vom 
typus  hominis  diejenigen  vom  typus  bovis  gänz- 
hch,  so  daß  es  scheinen  könnte,  als  ob  letztere 
überhaupt  nicht  vorhanden  gewesen  wären.  Anders 
in  England,  wo  die  dem  bovis-typus  günstigeren 
Kulturmedien  zur  Verwendung  kommen.  Der 
gegenwärtige  Stand  unsers  Wissens  über  die 
Tuberkulose  ist  der,  daß  der  menschlichen  Tuber- 
kulose eine  Mischinfektion  zugrunde  liegt,  und 
zwar  kommen  zwei  typus-hominis-Formen,  der 
longo-humanus-  und  der  typische  Koch'sche 
Bazillus  in  Betracht,  deneben  häufig  der  typus 
bovis.  Alle  drei  Formen  unterscheiden  sich 
morphologisch,  kulturell,  pathognostisch  und  durch 
die  verschiedene  Agglutination. 

Im  Tierversuch  erlagen  Kaninchen  denselben 
innerhalb  8—14  Tagen  unter  schwersten  toxischen 
Erscheinungen.  Der  zweite  ist  die  von  Robert 
Koch  gefundene  Form. 

Wenn  gegenwärtig  die  tuberkulöse  Infektion 
der  Mesenterialdrüsen  häufiger  gefunden  wird, 
so  erklärt  sich  dies  aus  der  infolge  der  schlech- 
teren Lebenshaltung  gesunkenen  Widerstands- 
fähigkeit des  menschlichen  Organismus. 

Kathariner. 

Nach  einem  von  Beintker  erfundenen  Ver- 
fahren können  die  üblichen  zur  Färbung  von 
Bakterien,  Protozoen  und  des  Blutbildes  benutzten 
Farblösungen  in  Trockenform  übergeführt  werden. ') 

Die  Farbstofftabletten  lösen  sich  leicht  und 
liefern  eine  homogene,  klare  Flüssigkeit.  Hierbei 
ist  ein  großer  Vorzug,  daß  die  mit  Tabletten  her- 
gestellten Lösungen  stets  gleich  stark  konzentriert 
sind,  während  bei  der  Herstellung  der  gewöhn- 
lichen Farblösungen  die  Konzentration  derselben 
durch  das  unvermeidliche  Aufwirbeln  des  in  der 
Stammlösung  gebildeten  Bodensatzes  gestört  wird. 
Längere  Zeit  aufbewahrte  Tabletten  behalten  ihre 
leichte  Löslichkeit  und  geben  stets  klare  Flüssig- 
keiten. Auch  im  gelösten  Zustande  zeigen  die 
Bein  tk  er 'sehen    Farben    eine    gute  Haltbarkeit. 

Wie  sich  Baumgaertel")  bei  zahlreichen 
Färbeversuchen  überzeugt  hat,  eignen  sich  die 
Tabletten  für  alle  Bakterienfärbungen.  Ferner  er- 
möglicht ein  nach  Beintker  gefärbter  Blutaus- 
strich mit  Azurblau  Bram  (Giemsa-Färbung)  durch 

')  Solche  Tabletten  werden  von  der  chemischen  Fabrik 
Bram  in  Leipzig  hergestellt  und  in   den  Handel  gebracht. 

-)  Münchener  Medizinische  Wochenschrift  1917,  Nr.  35, 
S.  1138. 


Auftreten  einer  scharf  abstechenden,  roten  Chro- 
matinfärbung  genaue  Untersuchung  des  Blutbildes. 
Verf.  betrachtet  die  Beintker'  sehen  Farbstoff- 
tabletten als  vollwertigen  Ersatz  für  die  üblichen 
Farblösungen.  Sie  besitzen  den  Vorzug  der  leichten 
Anwendbarkeit  auch  unter  außergewöhnlichen  Ver- 
hältnissen (Reise,  Expedition,  Krieg  usw.). 

Baumgaertel. 

Anthropologie.  Die  Psyche  der  Malaien  und 
ihre  Abstammung.  Die  Annahme  einer  poly- 
phyletischen  Abstammung  des  Menschengeschlechts 
scheint  sich  immer  mehr  Bahn  zu  brechen;  und 
für  die  Verfechter  dieses  Gedankens  liegt  es  nahe, 
die  verschiedenen  hypothetischen  Stammformen 
in  Beziehung  zu  setzen  zu  den  heutigen  Menschen- 
affen Orang-Utan,  Schimpanse,  Gorilla  und  Gibbon. 
Natürlich  darf  nicht  daran  gedacht  werden,  in 
diesen  Affen  die  noch  fortlebenden  Stammtypen 
heutiger  Menschenrassen  zu  sehen.  Es  kann  sich 
nur  darum  handeln,  zu  untersuchen,  ob  etwa  die 
eine  Menschenrasse  mit  diesem,  die  andere  mit 
jenem  anthropoiden  Aften  besonders  weitgehende 
Ähnlichkeiten  zeigt.  Daraus  wäre  der  Wahrschein- 
lichkeitsschluß einer  Spaltung  anthropoider  Grund- 
typen in  einem  relativ  frühen  phylogenetischen 
Stadium  abzuleiten. 

Von  M  elchers  und  Horst  ist  auf  die  nahen 
Beziehungen  der  mongoloiden  zu  Orang-Utan  und 
Gibbon  hingewiesen  worden.  Dr.  Alexander 
Sokolowsky  hat  es  nun  versucht,  diesen  Ge- 
danken, dessen  Grundlagen  bisher  naturgemäß 
nur  anatomischer  Art  waren,  auf  das  Gebiet  der 
Psychologie  auszudehnen  (Medizinische  Klinik,  191 7, 
Nr.  25).  Ein  gewagtes  Unternehmen  in  Anbetracht 
der  Schwierigkeit  einer  einwandfreien  Analyse 
der  Rassenpsyche  und  ihrer  Entwicklungsfaktoren. 
Der  Verfasser  ist  der  Überzeugung,  daß  die 
mongoloiden  Menschen  ,orangiden'  Ursprungs  sind, 
und,  um  seine  Anschauung  zu  stützen,  zieht  er 
Parallelen  zwischen  der  Psyche  der  —  von  ihm 
zu  den  mongoloiden  Menschen  gerechneten  — 
Malaien  und  derjenigen  des  Orang-Utan,  welchen 
er  auf  Grund  zahlreicher  Beobachtungen  an  leben- 
den (allerdings  gefangenen!)  Tieren  als  phlegma- 
tisch, verschlagen  und  hinterlistig  charakterisiert. 
Diese  Eigenschaften  sind  dem  Orang-Utan  nach 
seiner  Ansicht  in  viel  höherem  Maße  eigen,  als 
den  anderen  Menschenaffen. 

Unter  Berufung  auf  namhafte  Reisende  und 
Autoren  (Volz,Weule,  Martin,  Zabel, Bock, 
Junghuhn,  Buschan,  Schur tz)  entwirft  der 
Verfasser  dann  ein  Bild  von  der  Rassenpsyche 
der  Malaien.  Er  kommt  zu  dem  Resultat,  daß 
Reizbarkeit,  Grausamkeit,  Tücke  Grundzüge  ihres 
Charakters  sind  und  eine  gewisse  Ähnlichkeit 
mit  dem  des  Orang-Utans  zweifellos  besteht.  Die 
für  unsere  Begriffe  unglaublich  rohe,  bei  den 
Malaien  allgemein  verbreitete  Sitte  der  , Kopf- 
jagden' wird  hierfür  in  erster  Linie  ins  Feld  ge- 
führt. Als  Siegestrophäen  und  als  Objekte  für 
allerhand    religiös    abergläubische    Gewohnheiten 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  52 


und  Bräuche  fungieren  die  Köpfe  erschlagener 
Feinde  und  meuchlings  ermordeter  Weiber  und 
Kinder.  Gerade  in  der  Wahllosigkeit  in  bezug 
auf  Mittel  und  Opfer  liegt  das  psychologische 
Problem.  Auch  Anthropophagie  ist  ja  schon  mehr- 
fach bei  Malaien  beobachtet  worden  (Borneo). 
Besondere  Erwähnung  verdient  auch  die  merk- 
würdige Unsitte  des  auf  Sumatra  und  Borneo  üb- 
lichen , Amoklaufens'  als  Beleg  für  die  uns  Euro- 
päern unverständliche  Grausamkeit  dieser  Rasse. 
Adolf  Zabel  sagt  darüber:  „Wenn  irgend  so 
ein  verlotterter  Kerl  sein  ganzes  Geld,  einschließlich 
Weib  und  Kindern,  im  Spiel  verloren  hat,  wenn 
er  irgendetwas  verbrochen  hat,  wofür  ihm  sichere 
Strafe  winkt,  ja  selbst  aus  anderen  Gründen 
arbeitet  er  sich  sozusagen  nach  der  Landessitte  in 
einen  Tropenkoller  hinein,  ergreift  eine  Waffe, 
läuft  hinaus  auf  die  Straße,  erklärt  laut,  daß  er 
amoklaufen  werde,  und  überfällt  nun  jeden,  der 
ihm  begegnet,  blindlings  mit  der  Waffe."  Wenn 
man  auch  der  Ansicht  sein  kann,  daß  diese  Sitte 
einen  psychopathischen  Einschlag  hat,  so  muß 
man  doch  zugeben,  daß  die  Art  der  Äußerung 
des  dabei  wirksamen  Gemütszustandes  etwas  für 
uns  fremdartig  Boshaftes  und  Grausames  besitzt.') 
Und  der  Umstand,  daß    wir  im  Amoklaufen  eine 


')  Allerdings  sind  auch  bei  uns  schon  gelegentlich 
kriminelle  Handlungen  vorgekommen,  welche  eine  gewisse 
innere  Ähnlichkeit  mit  dem  Amoklaufen  haben.  Aber  solchen 
Handlungen  lag  eine  ungleich  schwerere  Geistesstörung  zugrunde, 
als  dieser  hysterischen  oder  kollerhaften  Sitte. 


verbreitete  „Sitte"  sehen  müssen,  weist  auf  eine 
entsprechende  Rassendisposition  hin. 

Es  sind  vorwiegend  ethische  und  moralische 
Eigentümlichkeiten,  , Defekte'  vom  Standpunkt  des 
Europäers  aus,  aus  welchen  Sokolowsky  das 
Charakterbild  der  Malaien  konstruiert.  Ist  ihre 
ph)-logenetische  Verwertung  erlaubt  ?  Es  ist  nicht 
ersichtlich,  ob  sich  der  Verfasser  diese  Frage  vor- 
gelegt hat.  Ethik  und  Moral  sind  variable  Größen, 
zeillich  und  geographisch.  Sie  sind  Maßstäbe  und 
Richtlinien,  welche  die  Allgemeinheit  dem  ein- 
zelnen aus  Gründen  der  Zweckmäßigkeit  auferlegt. 
Aber  sie  sind  naturgemäß  nur  veränderlich  im 
Rahmen  der  Volkspsyche,  in  welcher  man  ihrer- 
seits ein  Mosaik  von  Erbeigenschaften  sehen  muß. 
Ist  diese  Voraussetzung  richtig,  so  ist  erstens  aus 
ethischen  und  moralischen  Eigentümlichkeiten  ein 
Rückschluß  auf  die  Volkspsyche  erlaubt  und 
zweitens  die  phylogenetische  V^erwertbarkeit  der 
letzteren  wenigstens  theoretisch  denkbar.  Denn 
sobald  wir  in  ihr  etwas  erblich  Festgelegtes  sehen, 
müssen  wir  sie  für  ebenso  konstant  halten,  als  die 
oder  jene  somatische  Eigenschaft. 

Zur  Festigung  der  These  einer  polyphyletischen 
Menschwerdung  mit  engeren  Beziehungen  be- 
stimmter Rassen  mit  bestimmten  anthropoiden 
Affen  wären  vielleicht  serologische  Versuche  von 
Nutzen.  Eine  weitere  Frage,  deren  Beantwortung 
wichtig  wäre,  ob  nämlich  die  Bastarde  anthro- 
poider Affen  fruchtbar  sind,  wie  die  Menschen- 
bastarde, wird  sich  ja  wohl  nicht  lösen  lassen. 
Krieg. 


Bücherbesprechungen. 


Maurer,    Prof.  Dr.  Fr.,    Die    Bedeutung    des 
biologischenNaturgeschehens  und  die 
Bedeutung    der    vergleichenden  Mor- 
phologie.     Rede,    gehalten     zur    Feier    der 
Akademischen  Preisverteilung  in  Jena  am  16.  Juni 
1917.     Jena  1917.     G.  Fischer.     1,80  M. 
Der  Verf.  läßt  den  Entwicklungsgedanken,  wie 
er  am  reifsten  in  der  Abstammungslehre  D  a  r  w  i  n '  s 
zum  Ausdruck  gekommen    ist,    in    seinem  histori- 
schen Werdegang  passieren  und  erörtert  seine  Be- 
deutung, die  er  noch  heute  in  der  Biologie  spielt. 
Er  stellt  in  dem  historischen  Abriß  der  älteren  rein 
spekulativen  Entwicklungslehre,  wie  sie  L  e  s  s  i  n  g , 
Herder,  Schellin g,  Goethe    und  der  durch 
Seh  ellin  g    und  Herder  angeregte  Oken  ent- 
wickelten,   die    neuere    auf  Xaturbeobachtung    ge- 
gründete   gegenüber,    die    mit    den    Namen  C.  F. 
Wolff,  C.  E.  V.  Baer,  J.  Müller,  K.  Gegen- 
bauer, Lamarck,  E.  Haeckel  und  vor  allem 
Ch.  Darwin    verknüpft  ist.     Er  geht  dann  auch 
auf  die  Neueren  ein,  skizziert  kurz  den  Mendelismus, 
sowie  die  Rou  x'sche  Entwicklungsmechanik  und 
setzt  sich  eingehender  mit  O.  Hertwig's  letztem 
Buch  gegen  Darwin  auseinander,  indem  er  etliche 
der  gegen  den  Darwinismus  gerichteten  Argumente 


kritisch  entkräftet.  Als  Beispiel  für  phylogenetische 
Betrachtungsweise  und  die  auch  heute  noch  un- 
erschütterte Bedeutung  der  vergleichenden  Morpho- 
logie schildert  der  Verf  am  Schlüsse  die  Ent- 
stehung und  allmähliche  Ausgestaltung  des  Skelett- 
systems in  der  Tierreihe.  Sachlich  unverständlich 
wie  in  seiner  Begründung  sehr  wunderlich  erscheint 
dem  Rezensenten  der  folgende  grämliche  Ausfall 
gegen  die  moderne  experimentelle  Vererbungslehre, 
wie  er  sich  auf  Seite  12  findet:  „Der  Geist  der 
Mendel'  sehen  Forschungen  ist  leicht  zu  begreifen 
und  die  Methode  so,  dal3  jeder  Laie  sich  darin 
betätigen  kann,  das  sollte  vor  Überschätzung 
warnen".  Gleichwohl  zeigt  die  Bemerkung  über 
die  reinen  Linien  keineswegs  die  zu  erwartende 
Klarheit.  Es  ist  ja  ruhig  zuzugeben,  daß  die 
Mendelei  manche  wichtigen  älteren  Bestrebungen 
unverdientermaßen  in  den  1  Untergrund  gedrängt 
hat;  daß  aber  die  experimentelle  Behandlung  der 
Vererbungsfragen  einen  ganz  außerordentlichen 
Fortschritt  gegenüber  der  allein  anatomisch-cytolo- 
gisch  oder  vergleichend-morphologisch  verfahren- 
den Vererbungsforschung  bedeutet,  kann  man  doch, 
ohne  ungerecht  zu  sein,  nicht  leugnen.     Miehe. 


N.  F.  XVI.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


735 


Wilhelm  Schuster,  Die  Tierwelt  im  Welt- 
krieg. 20S  S.  kl.-  8  0.  Verlag  von  Albert  Oskar 
Müller,  Heilbronn.  Preis:  1,25  M. 
Im  wesentlichen  eine  Sammlung  von  Berichten, 
Geschichten  und  Gedichten.  Meist  schöpft  der 
Verfasser  aus  Feldpostbriefen  und  Tageszeitungen. 
Gelegentlich  trägt  er  eigene  Ansichten  vor,  so  in 
dem  Abschnitt  „Seefischerei  und  Weltkrieg".  Einige 
Abschnitte,  wie  „Falken  statt  Brieftauben"  und 
„Meldung  feindlicher  Flieger  durch  Vögel"  deuten 
auf  vielleicht  noch  militärisch  verwertbare  Tier- 
fähigkeiten hin.  Vom  Tierleben  in  den  Kriegs- 
gebieten wird  mancherlei  erwähnt.  Da  der  be- 
sonders als  Ornithologe  bekannte  Verfasser  in 
Fragen  der  Tierseelenkunde  einen  kritischen  Stand- 
punkt einnimmt,  so  verwundert  es  fast,  daß  das 
bei  den  Ausführungen  über  Sanitätshunde  diesmal 
nicht  zum  Ausdruck  kommt,  ja  daß  er  sogar  einen 
Bericht  „Todesahnung  der  Pferde  vor  der  Schlacht" 
ohne  Kommentar  aufgenommen  hat.  Sein  Ein- 
treten für  den  Plund  „Rolf"  begründet  er  in  einer 
Fußnote.  Im  übrigen  ist  der  Inhalt  immerhin 
wissenschaftlich  einwandfrei.  Das  Büchlein  wird 
seinen  Leserkreis  namentlich  bei  Tierfreunden 
finden  und  in  ihm  auch  nützliche  Anregungen  und 
Kenntnisse  verbreiten.     (G.C.)  V.  Franz. 


Schmidt,  Dr.  E.  W.,  Bau  und  Funktion  der 
Siebröhre  der  Angiospermen.  Mit 
I  farbigen  Tafel  und  42  Textabbildungen.  Jena 
191 7.  G.  Fischer.  5,60  M. 
Die  Deutung  anatomischer  Strukturen  bei  den 
Pflanzen  ist  oft  sehr  schwierig  und  steht  in  vielen 
Fällen  keineswegs  so  fest,  wie  oft  (auch  in  Lehr- 


büchern) angenommen  wird.  Da  meist  experi- 
mentelle Beweise  nicht  vorliegen  oder  nach  der 
Natur  der  Sache  schwer  zu  erbringen  sind,  ist 
man  vielfältig  auf  indirekte  Schlußfolgerungen, 
Wahrscheinlichkeitsbeweise  oder  gar  reine  Ver- 
mutungen angewiesen  und  muß  sich  meist  mit 
einer  genauen  Kennzeichnung  der  einzelnen  unter- 
scheidbaren Gewebselemente  begnügen.  Zu  diesem 
resignierenden  Ergebnis  gelangt  auch  Schmidt 
bei  einer  neuerlichen  Nachprüfung  der  Siebröhren- 
frage, die  er  auf  Grund  von  umfänglichen  Literatur- 
studien und  etlichen  Nachuntersuchungen  unter- 
nommen hat.  Er  bezeichnet  es  als  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  der  ganze  Gewebekomplex,  dessen 
auffälligsten  Bestandteil  die  Siebröhren  bilden,  dem 
Transport  organischer  Stoffe  dient,  daß  sich  aber 
über  die  besondere  F"unktion,  die  die  Siebröhren 
selber  hierbei  ausüben,  etwas  sicheres  nicht  sagen 
lasse.  Die  eigenen  Untersuchungen  erstrecken  sich 
auf  den  Bau  und  die  chemische  Beschaffenheit  der 
Membran  der  Siebröhren,  ihren  lebenden  Inhalt 
und  die  übrigen  Inhaltsbestandteile,  die  Plasma- 
brücken der  Quer-  und  Längswände,  den  eigen- 
tümlichen Stoff,  der  auf  den  Siebplatten  abgelagert 
wird,  die  Kallose,  das  Schicksal  der  Siebzellen  und 
auf  die  Geleitzellen.  Neues  experimentelles  Material 
ist  nicht  beigebracht.  Erwähnt  sei,  daß  Verf  bei 
der  Was'^ernuß,  bei  Victoria  regia  und  dem  Kürbis 
auch  in  den  ausgebildeten,  funktionstüchtigen  Sieb- 
röhrenzellen stets  einen  Zellkern  nachweisen  konnte. 
Die  verbreitete  Ansicht,  daß  letzteren  kein  Kern 
zukomme,  ist  mithin  zu  streichen.  Die  sorgfältige 
kritische  Studie  ist  eine  wünschenswerte  Bereiche- 
rung der  Fachliteratur.  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


IstdieLehreSprengel'i 

ä,  daß  die  Blumenfarben  um  der 

Insekten    willen    da    sind,    ein 

e    „Irrlehre    der  Zoologie"?      In 

Nr.  !44  S.  611  ff.  dieser  Zeitschrift  erschien  ein  Aufsatz 
von  Prof.  Kathariner,  betitelt  „Der  Anthropomorphis- 
mus  in  der  Zoologie",  der,  wie  mir  scheint,  nicht  un- 
widersprochen bleiben  darf.  Wenn  Kathariner  gegen 
den  in  populären  Darstellungen  vielfach  sich  breit  machen- 
den Anthropomorphismus  Front  macht,  so  kann  man  ihm 
nur  beipflichten.  Häufig  sind  es  gerade  diejenigen  Schrift- 
steller, die  zeigen  wollen,  daß  sie  auf  dem  Boden  der  Deszen- 
denztheorie stehen,  die  durch  ihre  das  Tier  vermenschlichenden 
Schilderungen  gänzlich  falsche  Anschauungen  in  weite  Kreise 
tragen  und  dadurch  Gegnern  Angriffspunkte  auf  die  Deszendenz- 
theorie liefern.  Wenn  aber  Kathariner  im  Anschluß  an  die 
Untersuchungen  von  v.  Heß  —  und  dieses  bildet  das  Haupt- 
thema seines  Aufsatzes  —  die  alte  Sp  r  engel'sche  Lehre, 
daß  die  Farben  der  Blumen  um  der  Insekten  willen  da  sind, 
als  eine  „Irrlehre  der  Zoologie"  bezeichnet,  so  wird  ihm  die 
Mehrzahl  der  Zoologen  hier  kaum  folgen  können.  Die  großen 
Verdienste  des  Münchener  Ophthalmologen  v.  Heß  um  die 
Erforschung  des  Lichtsinnes  der  Tiere  sollen  gewiß  nicht  be- 
stritten werden,  aber  seine  Behauptung,  daß  die  Fische  und 
die  wirbellosen  Tiere  sich  verhalten  wie  der  total  farbenblinde 
Mensch,  daß  sie  mit  anderen  Worten  keinen  Farbensinn  be- 
sitzen und  wie  dieser  die  Farben  nur  nach  ihrem  farblosen 
Helligkeitswert  unterscheiden  können,  hat  energischen  Wider- 
spruch gefunden.  Davon  sagt  Kathariner  nichts.  Es  war 
vor  allem  der  Münchener  Zoologe  v.  Frisch,  der  durch  eine 
große  Reihe  sehr  geistvoller  Versuche  mit  Fischen  und  Bienen 


den  Nachweis  erbrachte,  daß  die  Behauptung  von  v.  Heß  un- 
haltbar ist.  Ich  muß  an  dieser  Stelle  auf  eine  eingehende 
Darlegung  der  Untersuchungen  v.  Frisch 's  und  eine  Gegen- 
überstellung seiner  Rcsuliate  mit  denen  von  v.  Heß  —  an 
anderem  Orte  hofie  ich  das  demnächst  tun  zu  können  —  ver- 
zichten, und  kann  das  auch  um  so  eher,  als  die  schönen 
Arbeiten  v.  Frisch 's  über  den  Farbensinn  und  Formensinn 
der  Biene  in  dieser  Zeitschrift  bereits  eine  eingehende  Dar- 
stellung gefunden  haben  (siehe  das  untenstehende  Literaturver- 
zeichnis). Was  speziell  die  Bienen  anbetrifft,  so  konnte  v.  F  r  i  s  c  h 
zeigen,  daß  ihr  Farbensinn  —  und  wahrscheinlich  verhalten 
sich  die  übrigen  Hymenopteren,  vielleicht  sogar  alle  Insekten, 
ähnlich  —  eine  weitgehende  Übereinstimmung  mit  dem  Farben- 
sinn eines  rotgrünblinden  (protanopen)  Menschen  besitzt.  Wie 
für  diesen  ist  das  Spektrum  auch  für  die  Bienen  am  lang- 
welligen Ende  verkürzt;  dunkelrote  Gegenstände  erscheinen 
ihnen  infolgedessen  als  schwarz.  Mit  diesen  Feststellungen 
harmoniert  es  vortrefilich,  daß  solche  Farben,  die  von  der 
Biene,  unserer  wichtigsten  Blütenbestäuberin,  nicht  farbig  ge- 
sehen werden,  in  unserer  Flora  als  Blumenfarben  überhaupt 
nicht  oder  doch  nur  äußerst  selten  vorkommen.  Während 
z.  B.  scharlachrote  Blumen,  die  für  das  Bienenauge  keine  auf- 
fällige Färbung  besitzen,  in  Europa  selten  sind,  kommt  in 
Ländern,  in  denen  Vögel  (Kolibris,  Honigvögel)  die  Bestäubung 
vermitteln,  diese  Blütenfarbe  sehr  häufig  vor,  ja  so  häufig, 
daß  die  scharlachrote  Blütenfarbe  als  eines  der  sichersten 
Zeichen  für  Ornithophilie  gilt. 

v.  Frisch  hat  einen  Teil  seiner  E.xperimente  mit  Fischen 
und  Bienen  auf  der  letzten  Versammlung  der  Deutschen  Zoolo- 


736 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XVI.  Nr.  5: 


gischen  Gesellschaft  in  Freiburg  i.  Br.  (Pfingsten  1914)  vor- 
geführt. Die  Experimente  waren  so  eindeutig,  daß  sich  ein 
Widerspruch  seitens  der  zahlreich  versammeilen  Fachvertreter 
nicht  geltend  machte.  „Alle,  welche  die  verschiedenen  Ver- 
suche sahen",  sagt  einer  unserer  bedeutendsten  Biologen, 
Prof.  Doflein,  mit  vollem  Recht,  ,,sind  jedenfalls  mit  dem 
Eindruck  geschieden,  daß  die  wichtige  Frage  nach  dem  Unter- 
scheidungsvermögen  für  Farben  bei  Bienen  (als  Repräsentanten 
der  Insekten)  und  bei  gewissen  Süßwasserfischen  in  bejahen- 
dem Sinne  ihre  Erledigung  gefunden  hat.  Wir  fühlen  uns 
v.  Heß  zu  Dank  verptlichtet,  daß  er  durch  die  Aufrollung 
der  Frage  uns  auf  den  festen  Boden  geführt  hat,  von  dem  aus 
wir  jetzt  die  mit  dem  Farbensehen  zusammenhängenden  Pro- 
bleme beurteilen  dürfen;  v.  Frisch  aber  gebührt  das  Ver- 
dienst, diesen  festen  Boden  geschaffen  zu  haben."  v.  Buttcl- 
Reepen,  der  beste  Kenner  der  Biologie  der  Honigbiene, 
äußert  sich  folgendermaßen  über  die  Bienene.xperimente 
V.  Frisch' s:  „Es  scheint  mir,  daß  auch  der  letzte  Zweifel 
an  dem  Vorhandensein  eines  Farbensinnes  durch  diese  Aus- 
führungen zum  Schwinden  gebracht  wird."  v.  Heß  freilich 
erkennt  bis  jetzt  die  Ergebnisse  v.  Frisch 's  nicht  an.  Seine 
bisherigen  Entgegnungen  aber,  deren  Charakteristikum  leider  eine 
sehr  persönliche  Polemik  ist,  sind  nicht  dazu  angetan,  andere 
von  der  Irrigkeit    der  Resultate    v.  Frisch 's    zu  überzeugen. 

Die  alte  Sprengel'sche  Lehre,  daß  die  Farben  der 
Blumen  um  der  Insekten  willen  da  sind,  ist  also  nicht,  wie 
Kathariner  meint,  eine  „Irrlehre  der  Zoologie".  Die  bunte 
Pracht  der  Blumen,  dann  die  zahlreichen  Saftmale  und  Zeichen 
an  den  Blüten  sind  nicht  etwa  ein  unnützes  Spiel,  eine  Laune 
der  Natur,  sondern  sie  stellen  Anpassungen  an  den  für  die 
Bestäubung  erforderlichen  Insektenbesuch  dar.  ,,Wenn  die 
Krone  der  Insekten  wegen"  —  so  sagt  Christian  Konrad 
Sprengel  in  seinem  berühmt  gewordenen  Buche  ,,Das  ent- 
deckte Geheimnis  der  Natur  im  Bau  und  in  der  Befruchtung 
der  Blumen"  (1793),  durch  das  zum  erstenmal  die  .Aulmerk- 
samkeit  weiter  Kreise  auf  die  innigen  Wechselbeziehungen 
gelenkt  wurde,  die  zwischen  Blumen  und  Insekten  bestehen  — 
,,an  einer  besonderen  Stelle  besonders  gefärbt  ist,  so  ist  sie 
überhaupt  der  Insekten  wegen  gefärbt;  und  wenn  jene  be- 
sondere Farbe  eines  Teils  der  Krone  dazu  dient,  daß  ein 
Insekt,  welches  sich  auf  die  Blume  gesetzt  hat,  den  rechten 
Weg  zum  Saft  leicht  linden  könne,  so  dienet  die  Farbe  der 
Krone  dazu,  daß  die  mit  einer  solchen  Krone  versehenen 
Blumen  den  ihrer  Nahrung  wegen  in  der  Luft  umherschwär- 
menden Insekten  als  Saftbehältnisse  schon  von  weitem  in  die 
Augen  fallen." 

Ich  gebe  zum  Schluß  noch  eine  Zusammenstellung  der 
Arbeiten  v.  Frisch 's  und  der  in  dieser  Notiz  erwähnten 
Besprechungen. 

Frisch,  K.  v.,  Über  farbige  Anpassung  bei  Fischen. 
Zool.  Jahrb.,  Abt.  f.  Physiol.,  Bd.  32,   19 12. 

— ,  Sind  die  Fische  farbenblind?  Zool.  Jahrb.,  Abt.  f. 
Physiol.,  Bd.  33,   1912. 

— ,  Über  die  Farbenanpassung  des  Crenilabrus.  Zool. 
Jahrb.,  Abt.  f.  Physiol.,   Bd.  33,   1912. 

— ,  Weitere  Untersuchungen  über  den  Farbensinn  der 
Fische.     Zool.  Jahrb.,  Abt.  f.  Physiol.,  Bd.  34,   1913. 

— ,  Über  den  Farbensinn  der  Bienen  und  die  Blumen- 
farben.    Münchener  mediz.  Wochenschr.,  Jahrg.   1913. 

— ,  Demonstration  von  Versuchen  zum  Nachweis  des 
Farbensinnes  bei  angeblich  total  farbenblinden  Tieren.  Verhandl. 
d.  Deutschen  Zool.  Ges.,   1914. 

— ,  Der  Farbensinn  und  Formensinn  der  Biene.  Zool. 
Jahrb.,  Abt.  f.  I'liysiol.,  Bd.  35,   1914. 


Frisch,  K.  v.  und  Kupel  wieser,  H.,  Über  den  Einfluß 
der  Lichtfarbe  auf  die  phototaktischen  Reaktionen  niederer 
Krebse.     Biolog.  Centralbl.,  Bd.  33,   1913. 

Büttel- Reepen,  H.  v.,  Haben  die  Bienen  einen  Farben- 
sinn ?     Die  Naturwissensch.,  Bd.  3,   19 15. 

Doflein,  F.,  Der  Farbensinn  der  Insekten.  Die  Natur- 
wissensch., Bd.  2,   1914. 

Kühn,  A.,  Der  Farbensinn  und  der  Formensinn  der 
Biene.  Naturwissenschaft!.  Wochenschr.,  N.  F.,  Bd.  14,  1915. 
Nachtsheim. 

Über  Luftfarben  und  Schattenfarben  im  Gelände.  Die 
bläulichen  Farbentöne  der  Ferne  beruhen  sicher  zum  größten 
Teil  auf  der  „blauen  Farbe",  die  der  über  der  Erde  lagernden 
Luft  im  auffallenden  Lichte  eigen  ist,  wie  das  Ma.x  Frank 
in  seinen  Ausführungen  in  Nr.  35  dieser  Zeitschrift  richtig  an- 
gibt und  genauer  erklärt.  Diese  „Luftperspektive",  zu  deren 
Darstellung  der  Maler  außer  rein  blauen  Farbentönen  viel  von 
dem  graublauen  Kobalt  verwendet,  ist  in  der  Tat  ein  wichtiges 
Hilfsmittel,  um  größere  Entfernungen  oder  Bergeshöhen  richtig 
abzuschätzen,  ein  unsicheres  Mittel  zwar  für  den  noch  l'n- 
erfahrenen,  der  die  Schwankungen  der  Luftdurchsichtigk'il 
von  Stunde  zu  Stunde  nicht  berücksichtigte,  aber  ein  rec^ 
sicheres  für  den  Geübten,  der  diese  Unterschiede  fast  unl  m 
wüßt  in  Rechnung  zieht.  Zur  Hervoriufung  eines  gewi 
ganz  eigenartig  bläulich  leuchtenden  Farbentones  sokLci 
Schattenstellen,  die  dem  Beobachter  verhältnismäßig  nahe  liegen, 
scheint  mir  in  manchen  Fällen  doch  noch  etwas  anderes  hin- 
zuzukommen. Zum  Beispiel,  wir  haben  morgens  vor  uns  am 
Himmel  die  noch  nicht  sehr  hochstehende  Sonne,  auf  der  mit 
ganz  leichtem  Nebel  bedeckten  Erde  infolgedessen  in  Entfer- 
nungen von  100 — loooMetern  die  tiefen  Schlagschatten  etwaiper 
Wälder  und  die  im  Schatten  liegenden  Gründe  von  Schluchten, 
in  die  wir  hineinblicken.  Alle  diese  Schatten  sind  dann  mit- 
unter höchstens  an  ihren  Rändern  schwarz,  wo  aber  die  '  -- 
schattete  Luftmasse  dicker  ist,  da  ist  sie  hell  weißlichbl  . .  1^ 
und  mancher  Frühaufsteher  wird  wohl  denselben  bestimr 
Eindruck  dabei  gewonnen  haben  wie  ich,  daß  dies  allerdi-  , 
auf  Reflexion,  aber  nicht  einfach  weißen  Tageslichtes,  son  lern 
des  blauen  Himmels  beruht,  der  ja  dann  gerade  am 
blauesten  im  Rücken  des  Beobachters  ist.  Diese  Erscheinung 
ist  also  in  gewissem  Grade  vergleichbar  dem  himmelblauen 
Aussehen  von  sonst  vielleicht  ganz  lehmig  trüben  Wasserflächen, 
wenn  sie  das  Himmelsblau  widerspiegeln.  Stehen  gleichzeitig 
von  der  frühen  Morgensonne  beschienene  rötliche  Wolken  am 
Himmel,  so  erscheinen  jene  Schlagschatten  violett,  da  sich 
das  Rot  mit  dem  Blau  vermischt;  eine  Erscheinung,  die  ich 
bisher  am  schönsten  in   der  Alpenwelt  gesehen  habe. 

Etwas  ganz  anderes  sind  die  violetten  Schlagschatten  auf 
Dünengelände,  so  auf  der  Kurischen  Nehrung;  sie  erscheinen 
einfach  in  violett  als  Komplementärfarbe  zu  dem  die  Gegend 
sonst  beherrschenden  blendenden  gelblichen  Ton  des  Sandes 
und  sind  daher  nicht  vom  Nebelgehalt  der  Luft  abhängig, 
sondern  behalten  ihr  Aussehen  bei  Sonnenschein  den  ganzen 
Tag  über.  V.   Franz. 

Literatur. 

Brester,  Jz.  A.,  Explication  des  phenomenes  solaires 
les  plus  importants:  La  Haye  '17.    W.   P.  van  Stockum  etfiis. 

Lipschütz,  Dr.  A.,  Probleme  der  Volksernährung.  Eine 
Untersuchung  über  die  Entwicklungstendenzen  der  Ernährung.,- 
praxis  und  der  Ernährungswissenschaft.  Bern  '17.  M.  Drechsel. 
—  2,80  M. 


Inhalt:   Horst  Wachs 
berichte ;     Fuchs 

Sokolowsky,    Die  Psyche    der  Malaien  un( 
Die  Bedeutung  des  biologischen  Naturgescheh 


trag  zum  Problem  derSeidenraupenzucht  mit  Scliwarzwurzelfütterung.  (4  Abb.)  S.  729.  —  Einzel- 

fring,     Rinderluberkulose.    S.  732.      Beintker,    Farbstofftabletten.    S.   733.      Alexander 

bstammung.    s.  733.  —  Bücherbesprechungen:    Fr.  Maurer, 

die  Bedeutung   der  vergleichenden  Morphologie.  S.   734.      Wilh. 


Schuster,  Die  Tierwelt  im  Wclikrieg.  S.  735.  F.  W.  Schmidt,  Bau  und  Funktion  der  Siebröhre  der  Angiospe 
S.  735.  —  Anregungen  und  Antw^orten:  Ist  die  Lehre  Sprcngel's,  daß  die  Blumenfarben  um  der  Insekten  willen  d; 
sind,  eine  „Irrlehre  der  Zoologie"?  S.  735.  Über  Luftlarben  und  Schattenfarben  im  Gelände.  S.  736.  —  Literatur 
Liste.  S.  736.   —   Register. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schcn  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


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