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Naturwissenschaftliche
Wochenschrift
BEGRÜNDET VON H. POTONlfi
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof Dr. H. MIEHE
IN BERLIN
NEUE FOLGE. 16. BAND
(DER GANZEN REIHE 32. BAND)
JANUAR — DEZEMBER 1917
MIT 180 ABBILDUNGEN IM TEXT
/T^ojim^smi^
JENA
VERLAG VON GUSTAV FISCHER
1917
Alle Rechte vorbehalten.
Register.
I. Größere Originalartikel
und Sammelreferate.
Andree, K., Einige Bemerkungen zur
Geschichte der Geologie, insbesondere
der „phantastischen Periode" der Palä-
ontologie. 719.
Becker, A., Über den Kathodenstrahlen-
durchgang durch Materie. 513.
Brehm, V., Dr. Absolon's zoologische
Höhlenforschungen auf der Balkanhalb-
insel. 49.
Bretschneider, Fr., Zur mathema-
tischen Behandlung des Inzuchtgrades.
835-
Coehn, Alfred, Das Stickstoffproblem
und seine Lösungen. 129.
Dittrich, G., Die Pilzvergiftungen der
letzten Jahre. 297.
Düggeli, M., Die Schwefelbakterien und
ihre Tätigkeit in der Natur. 32 1.
EicbwaldjE., Atmung und Gärung. I.
Engelhard t, V., Faraday's Stellung in
der Geschichte der Physik. 465.
Engelhardt,V., D'Alembcrt'sBedeutung
für die Naturwissenschaften. 641.
Krank, M., Abschätzen von größeren
Entfernungen unter Berücksichtigung der
Luftperspektive. 486.
Freund, L., Keimdrüsen und Kastration
der männlichen Vögel. 569.
Frickhingcr, H. W., Die deutschen
Seidenbaubestrebungen und das Problem
der Schwarzwurzelfütterung. 541.
Günther, H., Sulfit- und Karbidsprit.
609.
Hahn, Ed., Brennesseln in alter und
neuer Verwendung. 328.
Halbfaß, W., Die im Elb- und Üder-
stromgebiet vorhandene Wassermenge.
105.
Hennig, Edw., Zum Problem der Wün-
schelrute. 251.
Hennig, Edw., Untersuchungen mit der
Wünschelrute. 537.
Hennig, R., Das „Wiederholungsgefühl"
als Quelle des Seelenwanderungs-Glau-
bens. 585.
Hirsch, G. Chr., Der Arbeitsrhythmus
der Ganglienzellen. 185.
Herrmann, Ursprung, Verbreitung und
Nutzbarmachung der chemisch-industri-
ellen mineralischen Rohstoffe. 657.
Kathariner, L., Der Anthropomorphis-
mus in der Zoologie. 61 1.
Kelhofer, E., Wegener's Verschiebungs-
tbeorie. 702.
Killermann, S., Der Alraun (Mandra-
gora). 137.
KiUerniann, S., Die Entdeckung der
Paradiesviigel. 40g.
Killermann, S., Maischwamm und Erd-
simmerling. 430.
Krause, Grundwasser und Quellen. 265.
Berichtigung dazu 480.
Krause, K., Die Veränderungen der
Landoberfläche durch das Wasser. 673.
Kraus el, R., Zur Bestimmung fossiler
Blattabdrücke. 214.
Kräusel, R., Die Bedeutung der .Ana-
tomie lebender und fossiler Hölzer für
die Phylogenic der Koniferen. 305.
Notiz und Berichtigung dazu 408.
Kräusel, R.. Die Seefelder bei Reinerz
in Schlesien, ein des Schutzes bedürftiges
Hochmoor. 659.
Kfizenecky, J., Versuch einer metho-
dischen Bestimmung des Inzucbtsgrades
mittels mathematischer Methode. 73.
K u h n , K., Das Coronium, ein unentdecktes
Edelgas. 381.
Kuhn, K., Neuere Ergebnisse der Kanal-
Strahlenforschung. 697.
Lenk, E., Slützgewebe und Integumente
der Tiere. 209.
Literaturliste dazu 422.
Lipschütz, AI., Studien zur Nerven-
regeneration. 625.
Mecklenburg, W., Siliciumchemie und
Kohlenstoffchemic. 163.
Mecklenburg, W., Der Basenaustausch
der Silikate. 441.
Menzel f, H. Zur Entwicklung und
Gliederung der Quartärbildungen des
nördlichen Deutschlands. 193.
M e r t e n s , R., Über einige Fälle des
Scheinhermaphroditismus bei Fischen.
683.
MilewskigA., Zur Kenntnis des Genus.
Typhlonectes Peters der Gymnophiona
(Amphibia apoda). 33.
Möbius, M., Die Reduktionsteilung im
Pflanzenreich. 713.
Mötef ind t, H., Georg Schweinfurth. 57.
Müller, A., Gehört die Psychologie zu
den Naturwissenschaften? 553.
Müller, K. Angewandte Botanik. 97.
Müller-Freienfels, Zur Psychologie
und Biologie der Gefühle. 629.
Neu mann, W., Bemerkungen zu der
Entgegnung Ziegler's. 24.
Oudemans, A. C, Sind die Maskarenen
und die zenlralpazifischen Inseln oze-
anisch? 201.
Pax, F., Die Verbreitung des wilden
Kaninchens in Russisch-Polen. 299.
Radestock, H., Femwetterprophezeiung.
337-
Rählmann, E., Goethe's Farbenlehre und
die Naturwissenschaft. 601.
Reichenau, W. v., Der Sang der Un-
sichtbaren im Föhrenwalde. 144.
Riebeseil, P., Relativität und Gravita-
tion. 113.
Rößle, Über das Altern. 241.
Seh eleu z, H., Die Wünschelrute. 39.
Schilling, F., Vitamine. 229.
Schoy, C, Eine merkwürdige Naturer-
scheinung im Jordantal. 17.
Schutt, K., Über den Druck der Licht-
strahlen. 425.
Schutt, K., Kristallstruktur und Rönt-
genstrahlen. 521.
Notiz dazu 608.
S u d h o f f , K., Ein Alkoholrezept aus dem
8. Jahrhundert? 68 1.
Taschenberg, 0., Etwas über den Be-
griff „Brutparasitismus". 353, 369.
Taschenberg, O., Einige Betrachtungen
über die Begriffe Parasit, Raubtier und
Pflanzenräuber. I53, 169.
Taudin Chabot, J. J., Zur Bewertung
der geistigen Leistungen von Hund und
Pferd. 377.
Theel, J., Über die Bedeutung der
Größe für Organismen. 481.
Trojan, E., Zur Lösung der Frage des
Organisraenlichtes. 457.
Wachs, H., Ein Beitrag aum Problem
der Seidenraupenzucht mit Schwarz-
wurzelfütlerung. 729.
Werner, F.. Scheinwaffen im Tierreiche.
89.
Wesemüller, A., Die Wanderungen
unserer Seevögel. 393.
Ziegler, E. H., Über denkende und
buchstabierende Hunde. 20.
Zillig, H., Hanf. 249.
II. Einzelberichte.
A. Zoologie, Anatomie,
Forstwirtschaft.
Babak,E., „Hypnose" bei Fischen. 375.
Bauraann,E., Wildkaninchenvorkommen
in Griechenland. 333.
Benecke, Zum Vorkommen der Wachtel.
646.
Berg, Frhr. v., .-Ibnehmen der Wald-
schnepfen. 488.
Berner, U., Die Bestäubertätigkeit der
Insekten in Zahlen. 688.
Börner, K., s. De witz.
Boulenger, G. A., s. Physalix.
I Brücke, Th. v., Richtung der Flimmer-
bewegung. 375.
Buddenbrock, W. v., Zweck der sog.
Schwingkölbchen der Dipteren. 341.
Burckhardt, F., Eine auffallende Ge-
spinstbildung infolge Massenauftretens
einer Gespinstmotte. 651.
De witz J. und Börner, K., Serobiolo-
gische Studien über Blattläuse und deren
Wirtspflanzen. 357.
Register.
D e w i t z , J., Zucht des Edelseidenspinners
im Freien. 236.
D e w i t z , Die Zucht des Seidenspinners im
Freien. 688.
D ü r k e n , B., Farbenwirkung auf Schmet-
terlingspuppen. 219.
Dürken, B., Physiologische örtliche
Rassen beim Grasfrosch. 436.
Eberts, Krammetsvogelfang im Dohnen-
stieg. 315.
Ennerst, Wildschaden durch Fasanen.
55°-
Erdmann, s. Woodruff
Esche rieh, K., Bockkäferkalamität in
Eichenwäldern. 47.
Faust, s. Zeleny.
Fischer, s. Goeldi.
Fischer, E., Eiablage und Paarung von
Tagfaltern in der Gefangenschaft. 28.
Franz, V., Gegenwärtiger Stand der
Metamerentheorie des Wirbeltierkopfes.
6:2.
Franz, V., Farbenvariationen von Helix
nemoralis. 121.
Druckfehlerberirhtigung dazu 224.
Franz, V., Hiidschnucken in freier Wild-
bahn. 191.
Frickhinger, H.W. Massenhaftes Auf-
treten des Girtenlaubkäfers in einigen
Bezirken Oberbayerns. 688.
Friedberger, E., Färbung mikrosko-
pischer Präparate mit Farbsliften. 708.
Goeldi u. Fischer, Der Generations-
wechsel im Tier- und Pflanzenreich.
124.
Goldsmith, M., Das Verhalten der
Kopffüßler in bezug auf das Sehen.
388.
Goldschmidt, Beobachtungen und Ver-
suche über Spermatogenese in Gewebe-
kulturen. 636.
Gravier, Ch. J., Symbiose zwischen
Kieselschwamm, Aktinie und Ringelwurm
417.
Günther, W., Der Wildstand im Bialo-
wieser Urwald. 234.
Günther, S., Schönheitssinn im Tier-
reich. 464.
Haecker, V., Die Erblichkeit im Man-
nesslamme. 605.
Berichtigung dazu 656.
Haecker, V, Entwicklungsgescbichtlich
begründete Vererbungsregel. 190.
Headley, Th., Kampf eines Staates
gegen die Moskitos. 62.
Heß, C. V. u. Stellwaag, Fr., Neue
Untersuchungen über den Farbensinn
der Insekten. 203.
Heymons, R., Blausäure im Kampf
gegen die Mehlmntte. 519.
Hiltner, L., Gesi-tzmSßigkeit beim Fort-
schreiten der Feldmäuseplagen in Süd-
deutschland. 247.
H o I i k , O., Zur Biologie der Bärenspinner.
477.
Hoge, Der Einfluß der Temperatur auf
die Entfaltung eines erblichen Merk-
mals. 651.
Hühner, E., Zur Eiablage und Paarung
der Tagfalter in der Gefangenschaft.
342. '
Jöakimoff, s. Popoff.
J o II o s , Beobachtungen über die Partheno-
genese bei Infusorien. 414.
Knopfli, W., Mutmaßliche Ausbildung
und Geschichte der Vogelgesellschaften
des schweizerischen MittcUandes. 317.
Kofferath, R., Kaninchenjagd mit dem
Frettchen. 664.
Korscheit, Lebensdauer, Altern und
Tod. 358.
Krohn, Bnmbenwerfende Flieger in der
Natur. 38Q.
Kutin, A., Die parasitäre Schlupfwespe
der Kohlraupe als indirekter Schädling
des Weizens. 236.
Larsen, W. P., Der Krieg und die
Wanderstraßen der Zugvögel. 191.
Linshauer, Selbstleuchtende Regen-
würmer. 332.
Lohmann, Isoplankten. 12.
Lörn, A. L., Nahrung des Fasans. 189.
Lucanus, Die Höhe des Vogelzuges.
574-
Lüstner, G., Magenuntersuchungen an
Wespen. 687.
Metz, Chromnsomengarnituren in der
Gattung Drosophila. 217.
Natorp, O, Gelegentliches Überwintern
von Zugvögeln, igi.
Natzmer, G. v, Beiträge zur Instinktpsy-
chologie der Ameisen, 376.
Orelli, Generationenzahl beim Borken'
käfer. 414.
Orth, J., Das biologische Problem in
Goethe's Wahlverwandtschaften. 435.
Physalix,M. und Boulenger, G. A.,
Giftschlangen und ungiftige Schlangen.
619.
Plate, L., Fauna ceylanica. 206.
P o p o f f , M., Parallele zwischen der künst-
lichen Parthenogenese und der Anregung
zur Wundheilung durch die gleichen
Agenzien. 66.
Popoff u. Jöakimoff, Die Bekämpfung
der Reblaus usw. 475.
Prell, H., Springende Insektenlarven.
206.
Prell, Trommelnde Spinnen. 364.
Ranninger, R., Bekämpfung des Mohn-
wurzelrüssclkäfers. 342.
Reh, L., Die Nacktschneckeoplage im
Sommer 1916. 475.
Reh, L., Die Schädlichkeit der Amseln.
55°-
Roule, L., Laichwanderung der Forelle.
260.
Reuter, M., Tollwut des Wildes. 235.
Schiefferdecker, F., Das Verhältnis
der Fasern und Kerne der Muskulatur
des menschlichen Herzens zueinander.
438-
Schlesinger, F. W., Unheilvolle Ein-
wirkung der Verschilfung der stehenden
Gewässer auf die Fischzucht 646.
Schmidt, M., Über den Verschluß von
Präparatenglä'iern. 666.
Schneider-Orelli, O., Dauer der
Puppenruhe beim Frostspanner. 416.
Schumann, Ad., Brutdauer und erste
Jugendstadien des Bartgeiers. 12.
Schuster, W., Das Gewicht lebender
Vogeleier. 488.
Schuster, W., Ein Beitrag zur Biologie
der Schwebefliegen. 6go.
Schwaab, Bedeutung Italiens für den
Vogelschutz. 260.
Seligo, A., Verteilung des Fettes bei
einigen Fischen. 95.
S e n a y , s. Zeleny.
Shull, s. Whitney.
S p i -x , A, A. Weismann als Nalurphilosoph.
621,
Steinach, E., Ergebnisse der bei Meer-
schweinchen vorgenommenen Trans-
plantation der Keimdrüsen. 373.
Stellwaag, Fr. s. Heß.
Stitz, H., Wirtschaftliche Bedeutung der
Ameisen für den Menschen. 725.
Strindberg.H., Bau und Entwicklungs-
geschichte der Mallophagen. 436.
Ströse, Nützlichkeit und Schädlichkeit
der Spechte. 647.
S t ü b 1 e r , H., Der Spiegelfleck am Vogel-
köpfchen. 488.
Taschenberg, Schlupfwespen als
Pflanzenparasiten. 342.
Thienemann,J., Krieg und Vogelzug.
573-
Thienemann, Die Verbreitung der
Coregonen. 650.
Toldt, Inscktenfährten im Ladenstaub
naturwissenschaftlicher Sammlungen.
303-
Vogelschutz im Kriegsjahr 1916. 127.
Wegelin, Erbliche Mißbildung. 462.
Whitney u. Shull, Einfluß der Nah-
rung auf das Gechlecht bei Rota-
torien. 94.
Winterstein, Die osmotischen und
kolloidalen Eigenschaften tierischer Ge-
webe. 333.
Woodruff u. Erdmann, Der perio-
dische Reorganisationsprozeß bei Infu-
sorien. 27.
Zander, Die Zukunft der deutschen
Bienenzucht. 330.
Zander, Zeitgemäße Bienenzucht. 477.
Zeleny, Faust u. Senay, Spermato-
zoendimorphismus. 534.
Ziegler, H. E., Urdarmhöhle und Cö-
lom. 575.
B. Physiologie, Medizin,
Hygiene.
Amar, Weir-Mitchell'sches Phänomen.
147.
Beck, Vergiftung durch Muskatnuß. 344.
Baumgaertel, Farb>tofTtabletten. 733.
Bardachzi u. Zoltan, Vorkommen von
Nematoden als Darmschmarotzer im
Osten 547.
D o I d , H., Immunisierungsversuche gegen
das Bienengift. 561.
Fuchs v. Wolfring, Rindertuber-
kulose. 732.
Laurent, O., Transplantation. 146.
Lux, Fr., Verfahren der okjektiven Prü-
fung und Messung der Hörfähigkeit. 639.
Jossei, M. B., Verbreitung des Krebses
in der Schweiz. 649.
Kaup, Wert und Wirkungsdauer der
Choleraschutzimpfung. 344.
K o e I s c h , Hautschädigungen durch Kalk-
stickstoff. 342.
Kühn, Scheintod und Wiederbelebbar-
keit. 345.
Legendre, J., Mückenvertilgung durch
Fische. 147.
May, Der Spargel als Heilmittel. 693.
Pfeiffenberger, K., Schilddrüsenstö-
rungen und Meereshöhe. 491.
Schützengrabenfuß. 406.
Wegelin, Ergebnisse der experimentellen
Krebsforschung. 474.
Zoltan, s. Bardachzi.
Register.
C. Botanik, Landwirtschaft,
Pflanzenkrankheiten.
B a n n e r t , Ursache der Blütenstielkrüm-
mungen. 405.
Bobilioff-Preifler, W, Wanderung
des Zellkerns. 314.
Brenner, W., Sclenbakterien. 340.
E h r m a n n , Bestäubung von Blüten durch
Schnecken. 301.
Ernst, A., Jungfernzeugung im Pflanzen-
reich. 404.
Esenbeck u. Fischer, W., Physiolo-
gischer Wert der Erstlingsblätter. 617.
Fischer. W., s. Esenbeck.
Haberlandt, G., Die Pilzsymbiose der
Bärlapp-Vorkeime. 534.
Hahn, Ed., Über alte Nutz- und Kultur-
pflaozen. 255.
Härder, R., Die Ernährung der Blau-
algen durch organische Stoffe. 384.
Heinricher, Geotropismus der Mistel.
385.
H i 1 1 n e r , Silene dichotoraa, erst Unkraut,
dann Kulturpflanze. 314.
Hoff mann, Düngung und Insekten-
befall. 47.
Ißleib, M. u. St rose, Die Reismelde
als deutsche Getreidepflanze. 80.
Kräasel, R., Variation der Blattform von
Ginkgo biloba L. und ihre Bedeutung
für die Paläobotanik. 405.
Keilhack, Tropische und subtropische
Moore usw. 637.
Lampa, A., Beobachtungen über das
Leben niederer Pflanzen. 638.
Lange, R., Beitrage zur biologischen
Blütenanatomie. 722.
Lingelsheim, Zur Kenntnis der Deut-
schen Tertiärfloren. 368.
Lingelsheim, Teratologische Beobach-
tungen. 562.
Lingelsheim, Über die Fluoreszenz wäss-
riger Rindenauszüge von Eschen usw. 5 76.
Molisch, Über das Treiben von Wur-
zeln. 533.
M o 1 i s c h , H , Eigenartiger Bau des Plas-
makörpers. 644.
Naturdenkmal Deutsch • Südwestafrikas
unter britischem Schutze. 26.
Pack, Ch. L., Die Gefährdung der ame- I
rikanischen Waldungen durch den Wey- |
mouthkieferblasenrost. 128.
Pander, H., Einwanderung einer ameri- I
kanischen Pflanze nach Norwegen. 1 12.
Plaetzer, H., Assimilation und Atmung j
von Wasserpflanzen. 722. [
Reese, L., Zerstörung von Ziegelmauer-
werk durch Organismen. 26.
Sauvageau, C, Geschlechtlichkeit bei
den Laminarien. 578.
Stern, K., Die Entwicklung der Nepen- j
thaceen. 6 5.
Ströse, s. Ißleib.
T h e 1 1 u n g , Neue Wege der pflanzlichen
Systematik. 81.
Thellung, Stratiobotanik. 723.
Theune, E., Fruchtbildung geokarper
Pflanzen. 724.
U 1 e , E., Die Vegetation des Amazonas-
gebietes. 615.
Wettstein, Fr. von, Beobachtungen
über das Leben niederer Pflanzen. 63.**.
Windel, E, Beziehungen zwischen Funk-
tion und Lage des Zellkerns. 437.
Zlataroff, Über das Altern der Pflanzen.
D. Geologie, Paläontologie.
Böker,H.E. und Frech, F., Die Kohlen-
vorräte des Deutschen Reiches. 248.
Braun, R., Laacher Trachyt. 1S2.
Bräunhäuser, M., Rhätsandstein im
Schönbuch. 418.
CIoos, H., Zur Entstehung schmaler
Störungszonen. 261.
Daly, R. A., Theorie der Koralleninseln.
563.
De ecke, W., Gastropoden. 63.
D e e c k e , Paläobiologische Studien. 386.
Diener, C, Die marinen Reiche der
Triasperiode. 122.
Escherich, K., Bekämpfung der Läuse-
plage. 549.
Frech, Fr., Kohlenvorräle der Welt. 189.
Frech, Fr. s. Böker, H.
Geinitz, F., Die neun Endmoränen
.Nordwestdeutschlands. 46.
Goldschmidt, Geologisch-Petrogra-
phische Studien im Hochgebirge des
südlichen Norwegens. 362.
Hohenstein, V., Die schwäbischen
Eisenerzvorkommen. 179.
Koert, W., Über den Krusteneisenstein
in den deutsch-afrikanischen Schutz
gebieten. 150.
Kranz, W., Geologie und Hygiene im
Stellungskrieg. 84.
Kranz, W. , Wasserversorgung durch
oflene Gräben. 665.
Kranz, W., Die Beschaffung von Roh-
slofi'en des Bodens für militärische Er-
fordernisse. 693.
K r u s c h , Die Bodenschätze Belgiens. 1 79.
Lara brecht. K., Osteologische Ver-
gleiche an fossilen Vogriresten. 46.
Leuchs, K., Die Geologie des mazedo-
nischen Kriegsschauplatzes. 473.
Loewinson-Lessing, F., Vulkane und
Laven des zentralen Kaukasus. 24.
Moritz, Die Goldlagerstätten Arabiens.
607.
M ü g g e , O., Weilerwachsen von Orthoklas
im Ackerboden. 436.
Offermann, J., Beiträge zur Geologie
der Kolonie Neupommern. 546.
Range, P., Grundwasserverhältnisse im
Namalande. 220.
Richter, R., Zur stratigraphischen Be-
urteilung von Caiceola. 648.
Richter, R. u. E., Die Lichadiden des
Eifler Devons. 549.
Salomon, W., Die Bedeutung derSoli-
fluktion für die Erklärung deutscher
Landschafts- und Bodenformen. 570,
Scupin, li, Erdgeschichiliche Entwick-
lung des Zechsteins im Vorland des
Riesengebirges. 383.
Scupin, H., Die Fossilführung des Zech-
steins von Niederschlesien. 406.
Schlosser, M., Die z»itliche und räum-
liche Verbreitung u. Stammesgeschichte
der fossilen Fische, 668.
Schroeder, H., Eozäne Säugetierreste
aus Nord- und Mitteldeutschland. 66S.
Schultz, A., Die nutzbaren Mineralien
des Pamir. 666.
Stremme, Die geologischen Ursachen
der Zerstörung von Talsperren. 545.
Walt her, J., Das geologische Alter und
die Bildung des Laterits. 83.
W e r V e c k e , L.v., Die Bodenschätze Elsaß-
Lothringens. 148.
Willruth, K., Die Fährten von Chiro-
therium. 70S.
Wütschke, J., Das französisch-lothrin-
gische Industriegebiet, besonders das
Becken Briey-Longwy. 148.
E. Völkerkunde, Anthropologie,
Urgeschichte.
Greulich, O., Die Kreolen. 546.
Kölsch, A., Die Eigenart der Musiker-
scbädel. 412.
Mollison, Die Maori. 449.
Sarasin, Bewohner von Neukaledonien
und der Loyaltyinseln. 477.
Schlaginhaufen, Pygmäenproblem.
311-
Siegel, Konzeptionsfähigkeit und Ge-
schlechtsbestimmung beim Menschen.
670.
Sokolowsky, A. , Die Psyche der
Malayen und ihre Abstammung. 733.
F. Geographie, Meteorologie.
Barkow, E., Turbulenz und Windände-
rung mit der Höhe. 450
Bigourdan, G. s. Perot.
Defant, A., Vorhersage des Wetters. 48.
Deslandres, Geschützfeuer und Weiter-
lage. 613.
Halb faß, W., Der Landzuwachs an den
Küsten Schleswig-Holsteins. 532.
Helgesen, Peary's Entdeckerlatein und
die amerikanischen Polarkarten. 82.
Houssay, F., s Perot.
Hut ton, j., Einfluß des Geschützfeuers
und der Minensprengungen auf die
Witterung. 70Ü.
Jessen, O.. Das Landschaftsbild der
trocknen Champagne. 472.
Koppen, W., Vertikale Gliederung der
täglichen Windperiode in Zyklonen und
Antizyklonen. 182.
Krebs, VV., Mistpoeffer-Erscheinungen an
der holländischen Küste infolge einer
nordenglischen Explosion. 721.
L e m o i n e , G., Geschützfeuer und Wetter-
lage. 613.
Perot, A., Bigourdan, G. u. Hous-
say, F., Die mit dem Artilleriefeuer
zusammenhängenden akustischen Phäno-
mene. 53.
Sandström, J. W., Hydrographie Neu-
fundlands. 83.
Sebert, -Geschützfeuer und Wetterlage.
613.
Schmidt, W., Zonen abnormer Hörbar-
keit. 302.
Schrödinger, E., Äußere Zone ab-
normer Hörbarkeit. 707.
S p i t a I e r , R., Taglicher Gang der Wind-
geschwindigkeit in höheren Luftschich-
ten. 29.
Sverdrup, H. U., Druckgradient, Wind
und Reibung an der Erdoberfläche. 86.
Weber, L., Die Albedo des Luftplank-
tons. 96,
Register.
G. Chemie, Mineralogie.
Allen, E. s. Pos njak.
Böltger, W., Herstellung homogener
Wolframkristallfäden für Glühlampen.
399-
Chi Che VVang u. Blunt, C, Chemie
der chinesischen Dauereier. 317.
Fajans, K., Zur Erkenntnis der Isotopen
Elemente. 68.
Gerlach, Die Einwirkung von gasför-
migem Ammoniak auf Superphosphate
usw. 667.
Hedvall, J. A., Die Abhängigkeit der
Reakiionsgeschwindigkeit von der Korn-
größe. 44.
Hofmann, K. A., Aktivierung von Chlo-
ratlösungen durch Osmiumtetroxyd usw.
237.
Hönigschmid, O., Isotope Elemente.
618.
Hüttner, E. s. Mylius, F.
J a n z e n , Zerstörungen von Metallen durch
Wasser. 413.
K e 1 b e r , C, Katalytische Hydrogenisation
organischer Verbindungen mit unedlen
Metallen. 275.
Kremann, R. u. Schniderschitsch,
N, Versuche über die Löslichkeit von
Kohlensäure in Chlorophyllösungen.
181.
Kuß, E. s. Stock, A.
Merwin, H. E. s. Posnjak.
Mylius, F., Reinheitsgrade in der Her-
stellung wichtiger Metalle. 42.
Mylius, F. u. Hüttner, E., Plaünund
Leuchtgas. 44.
Paul, Th., Beziehungen zwischen der
Wasserstoftlonenkonzentration von Flüs-
sigkeiten und ihrem sauren Geschmack.
398.
Platin, Gewinnung aus Gesteinen. 618.
Posnjak, E., Allen, E.T. u. Merwin,
H. E., Die Sulfide des Kupfers. 78.
Schlenk, W., Eine Reihe sehr inter-
essanter Verbindungen. 40a.
Schulz, E. H., Die Veredelung des Zinks.
79.
Stock, A. u. Kuß, E., Das Kohlenoxy-
sulfid. 181.
H. Physik.
Andren, L., Zählung und Messung der
komplexen Moleküle einiger Dämpfe
nach der neuen (Lenard'schen) Konden-
sationstheorie. 691.
Arndt, Elektrochemie derTaschenlampen-
batterien. 633.
Debye, P. u. Seh err er ,P.,Raumgefüge
der Kohlensotffmodifikationen. 634.
Elster und Gei tel, Stromschwankungen
in Vakuumröhren. 30.
Geitel, s. Elster.
Glühkathoden-Röntgenröhre. 490.
Hell mann, Angebliche Zunahme der
Blitzgefahr. 448.
Herr, W., Einfluß der Größe der Mole-
küle auf die Löslichkeit. 490.
König, Atomistischer Bau der Elektrizi-
tät. 44S.
Krogness, O. s. Vegard.
Küppers, K., Präzisionsverfahren zur
Herstellung genau dimensionierter Glas-
rohre. 29.
Kutter, V., Analyse schwingender Trop-
fen. 13.
Mikola, S., Lichtenberg'sche Figuren.
403-
Rausch V. Traubenberg, H., Rönt-
genröhre usw. 548.
Rubens, Licht und Elektrizität. 578.
Vegard, L. u. Krogness, O., Höhe des
Nordlichts. 403.
Weber, L., Verbesserung der Blitzab-
leiter. 448.
Wolfke, M., Neue Sekundärstrahlung
der Kanalstrahlen. 710.
I. Astronomie.
Ainslie, Vorübergang des Saturnringes.
548.
Guthnik und Prager, Die Veränder-
lichen. 301.
Lau, Veränderungen auf dem Mars. 346.
Van Maanen, Spiralnebel. 489.
Merril, Chemische Zusammensetzung
der Meteore. 462.
Meteorsteine. 462.
Neue Sterne. 300.
Oppenheim, S., Bau des Universums.
548.
Photometrische Bestimmung der Hellig-
keit. 489.
Stephan, Vorgeschichtliche Astronomie
und Zeiteinteilung. 86.
Vegard, L., u. Krogness, O., Höhe
des Nordlichts. 234.
Wood, Aufnahmen mit monochroma-
tischem Licht an Himmelskörpern. 65.
III. Kleinere Mitteilungen.
Druckstöcke aus Hefe (nach H, Blücher
und R. Krause) 571.
Epstein, H., Mineralogische Beobach-
tungen in Wallis. 529.
Epstein, H., Zur Frage der Genese von
Spirula und anderer Tintenfische. 232.
Epstein, Brasilianische Säugetiere und
Vögel im naturhistorischen Museum zu
Bern. 597.
Eckardt, W. R., Weiteres zur Ethologie
und Psychologie der Anatiden, insbe-
sondere des Schwarzschwanes. 254.
Franz, V., Farbenvariationen von Helix
nemoralis. 121.
Franz, V., Das deutsche Tierleben in der
verflossenen Kälteperiode. 396.
Franz, V., Nesselfasergewinnung. 530.
Berichtigung dazu 583.
Graefe, Mineralöl als Speiseöl. 121.
Hahn, E., Zur Geschichte der Ernährung.
92.
Hoffer, W., Biologische Beobachtungen
am Blindmoll 595.
Hofmann, A., Über eine merkwürdige
Oszillation des Rheinspiegels. 677.
Keyl, Fr., Ein Beispiel für die Beein-
flussung lokaler Faunen durch den
Weltkrieg. 10.
Lüttschwager, H., Bemerkungen zur
Tonerzeugung der Schwebefliegen. 397.
May, W., Antike Vererbungstheorien. 9.
Nölke, Fr., Über die Hörbarkeit des
Geschützdonners. 253.
Oettli, Hufeisendünen aus Schnee. 593.
Rabes, Wandernde Libellen. 531.
Reisinger, L. , Eine prähistorische
Operation. 231.
R ö z s a , Fledertnausguanolager in der Um-
gebung von Budapest. 434.
Schumacher, Samenverschleppung durch
die Feuerwanze. 531.
Zaunick, R., Literatuihinweise zuKiller-
mann's Aufsatz über „Die Entdeckung
der Paradiesvögel", 594.
Zieprecht, E., Beobachtungen über das
Vogelleben im Sommegebiet. 120.
IV. Bücherbesprechungen.
Abderhalden, E., Die Grundlagen
I unserer Ernährung unter besonderer Be-
rücksichtigung der Jetztzeit. 696.
1 Abel, 0., Allgemeine Paläontologie. 566.
JAdloff, P., Die Entwicklung des Zahn-
systems. 480.
] Arzneipflanzen-Merkblätter. 672.
Aselmann, E., Chemie im Kriege. 318.
Asher, L., Praktische Übungen in der
Physiologie. 69.
Aus dem Leben und Wirken von Arnold
Lang. 262.
B a i s c h , K., Gesundheitslehre für Frauen.
151.
Becher, E., Die fremddienliche Zweck-
mäßigkeit der Pflanzengallen usw. 350.
Beiträge zur Kenntnis der Meeresfauna
Westafrikas. Bd. 11, Lief. i. 334
Beiträge zur Kenntnis der Land- und Süß-
wasserfauna Deutsch - Südwestafrikas.
Lief. 3. 304.
Lief. 4. 334.
Biesalski, K. u. Würtz, H., Verhand-
lungen der außerordentlichen Tagung
der Deutschen Vereinigung für Krüppel-
fürsorge, E. V. 166.
Boas, J. E. V., Zur Auffassung der Ver-
wandtschaftsverhältnisse der Tiere. 736.
Bolle, J., Die Bedingungen für das Ge-
deihen der Seidenzucht usw. 453.
Boruttau, H., Fortpflanzung und Ge-
schlechtsunterschiede desMenschen. 151.
Brehm's Tierleben. IV. Bd. 56.
Brehm's Tierleben, Säugetiere. 4. Bd. 263.
Bronsart v. Schellendorf, F., Afri-
kanische Tierwelt, III u. IV. 208.
Calwer's Käferbuch. 420.
Dahl, Fr., Die Asseln oder Isopoden
Deutschlands. 222.
Das Land Goethe's 1914 — 1916, ein vater-
ländisches Gedenkhuch. 31.
Deutsches Wörterbuch für die gesamte
Optik. 407.
Dessoir, M., Vom Jenseits der Seele.
695-
D i 1 1 r i c h , O., Mittel und Wege zur Pilz-
kenntnis. 319.
Doelter, C. , Die Mineralscbätze der
Balkanländer und Kleinasiens. 439.
Doflein, F., Der Ameisenlöwe. 167.
Doflein, Fr., Die Fortpflanzung, die
Schwangerschaft und das Gebären der
Säugetiere. 439.
Einstein, A., Über die spezielle und die
allgemeine Relativitätstheorie. 680.
Exner, F. M., Dynamische Meteorologie.
494-
Fauth, Ph., 15 Astronomische Stereos zur
Unterstützung des Raumsinnes usw. 364.
Fitting, H., Die Pflanze als lebender
Organismus. 726.
Föppl, A., Vorlesungen über Technische
Mechanik. 623.
Register.
Frech, F., Der Kriegsschauplatz in Arme-
nien und Mesopotamien. 70.
Frech, Fr., Geologie Kleinasiens im
Bereich der Bagdadbahn. 419.
Freundlich, E., Grundlagen der Ein-
stein'schen Gravilationstheorie. 368.
Graetz, L., Das Licht und die Farben.
599-
Graetz, L., Die Physik. 654.
Greulich, O., Peru, Studien und Erleb-
nisse. 263.
G r i m s e h 1 , E., Lehrbuch der Physik. 279.
Großmann, j.. Das Holz. 221.
Großmann, H., Englands Kampf um den
naturwissenschaftlichen Unterricht. 349.
Haber lan dt, L., Über Stoffwechsel und
Ermüdbarkeit der peripheren NerTen.
166.
Haus er, O., Der Mensch vor 100 000
Jahren. 599-
Heim, A., Geologie der Schweiz. 14.
Henning, H., Der Geruch. 390.
Henseling, R., Sternbüchlein für 191 7.
364-
Hertwig, O., Das Werden der Organis-
men. 365.
Hertwig, K., Lehrbuch der Zoologie. 277.
H e s s e , A. u. G r o ß m a n n , St., Englands
Handelskrieg und die chemische Indu-
strie. 493.
Hettner, A., Englands Weltherrschaft
und ihre Krisis. 599.
Hirt, W., Ein neuer Weg zur Erforschung
der Seele. 392.
Hoffmeister, K., Kurze Einführung in
die Wunder am Sternenhimmel. 364.
Junge, G., Unsere Ernährung. 696.
K e i b e 1 , F., Über experimentelle Entwick-
lungsgeschichte. 694.
Killermann, S., Blumen des heiligen
Landes. 277.
Kobert, R., Über die Benutzung von
Blut als Zusatz zu Nahrungsmitteln. 421.
Kohlrausch, F. und Holborn, L.,
Das Leitvermögen der Elektrolyte usw.
653-
Koppe, M., Die Bahnen der beweglichen
Gestirne im Jahre 191 7. 440.
Koßmat, Fr., Paläogeographie, Geolo-
gische Geschichte der Meere und Fest-
länder. 70.
Kraepelin, K., Exkursionsflora. 654
Kunkel, K., Zur Biologie der Lungen-
schnecken. 451.
Lietzmann, W., Riesen und Zwerge im
Zahlenreich. 451.
Link, G., Fortschritte der Mineralogie
usw. 239.
Lipschülz, A., Physiologie und Ent-
wicklungsgeschichte und über die Auf-
gaben des physiologischen Unterrichts
an der Universität. 69.
L ö h n er , L., Die E.xkretionsvorgänge im
Lichte vergleichend-physiologischer For-
schung. 151.
Lohns, H., Aus Forst und Flur. 239.
Lassar-Cohn, Chemie im täglichen
Leben. 419.
Legahn, A., Physiologische Chemie. 270.
L e i d e c k e r , K., Im Lande des Paradies-
vogels. 334.
Machatschek, Fr., Gletscherkunde.
492.
Maurer, Fr., Die Bedeutung des biolo-
gischen Naturgeschehens und die Be-
deutung der vergleichenden Morpho-
logie. 734.
Mehmke, R., Leitfaden zum graphi-
schen Rechnen. 440.
Meißner, K., Das schöne Kurland. 334.
M e y e r , St. u. S c b w e i d 1 e r , E. v., Ra-
dioaktivität. 622.
Michels, V., Goethe und Jena. 278.
Mittag, M., .Anfangsgründe der Chemie
und Mineralogie. 184.
Möbius-Kobold, Astronomie. 87.
Müller, A., Theorie der Gezeitenkräfte.
30.
Naef, A., Die individuelle Entwicklung
organischer Formen als Urkunde ihrer
Slamraesgeschichte. 493.
Neeff, F., Gesetz und Geschichte. 598.
Novellen aus dem Tierleben. 239.
O e tt inge r, W., Die Rassenhygiene und
ihre wissenschaftlichen Grundlagen. 335.
Pax, F.. Schlesiens Pflanzenwelt. 318.
Pflanzenreich. 221.
Pilger, R., Meeresalgen. 368.
Posch 1, V., Stoff und Kraft im Kriege.
184.
Rabenhorst's Kryptogamenflora. Die Leber-
moose. 221.
Riebeseil, P., Die mathematischen
Grundlagen der Variations- und Ver-
erbungslehre. 240.
Sachs, A., Die Bodenschätze der Erde.
407.
Sachs, H., Bau und Tätigkeit des mensch-
lichen Körpers. 184.
Sachsze, R., Chemische Technologie.
i 680.
Sapper, K., Geologischer Bau und
Landschaftsbild. 581.
Sarasin, F., Streiflichter aus der Ergo-
logie der Neu-Kaledonier und Loyalty-
Insulauer auf die europäische Prähistorie.
I 693-
1 Schaxel, J., Über den Mechanismus der
Vererbung. 31.
Schmidt, F. W., Bau und Funktion der
Siebröhre der Angiospermen. 735.
C. K. Schneider's Illustriertes Handwörter-
buch der Botanik. 654.
Schroeder,H., Die Hypothesen über die
chemischen Vorgänge bei der Kohlen-
säure-Assimilation. 680.
Schuster, W., Die Tierwelt im Welt-
krieg. 735.
Schwarzschild, K., Über das System
der Fixsterne. 451.
Soergel, W., Das Problem der Perma-
nenz der Ozeane und Kontinente. 567.
Sommer, G., Geistige Veranlagung und
Vererbung. 183.
Stadler, H., .'\Ibertus Magnus De ani-
malibus libri XXVI. 71.
Steinmann, G., Die Eiszeit und der vor-
geschichtliche Mensch. 351.
Stempeil, W. u. Koch, A., Elemente
der Tierphysiologie. 70.
Strasburger's Lehrbuch der Botanik. 672.
Süß, E., Erinnerungen. 87.
JThedering.F., Das Quarzlicht und seine
j Anwendung in der Medizin. 166.
Thorbeck e, F., Im Hochland von
Mittelkamerun. 263.
T o b I e r , Textilersatzstoflfe. 653.
Trabert, W., Meteorologie. 319.
Tschermak, A. v., Allgemeine Physio-
logie. 69.
Verworn, M., Biologische Richtlinien
der staatlichen Organisation. 671.
Warburg, O., Die Pflanzenwelt. 278.
Warming-Gräbner, Lehrbuch der
ökologischen Pflanzengeographie. 347.
Was mann, E., Das Gesellschaftsleben
der Ameisen. 183.
Werth, E., Das Eiszeitalter. 492.
Westrußland in seiner Bedeutung für
die Entwicklung Mitteleuropas. 728.
Wolff, H., Karte und Kroki. 566.
! V. Anregungen und Antworten.
, Anatomie der Wirbeltiere, Literatur. 304,
423-
' Alraun. 35J.
i Barometer, Modell Thöne. 656.
^ Bewußtsein im Traum. 88.
I Blattminierer. 536.
Brot, Streckungsmittel vor loo Jahren. 72.
Culex annulalus, Variieren der Tonhöhe,
i 608.
I Echophänomen. 456.
Elster, ihre Zunahme in Deutschland. 136.
Erdbebenursachen. 551.
I Erwiderung (Lipschütz). 248.
j Farbensinn der Insekten. 735.
I Fronttiere und Etappentiere. 711.
I Gemälde, Photographieren derselben. 264.
I Gewehrschüsse, Doppelklang. 15.
j Haferblatt, krankes. 624,
I Hausschwamm, Mittel zu seiner Bekämp-
fung. 608.
Herbar, eigentümliches. 152.
Höhlenfauna. 240.
Isostasie. 408.
Infusorienerde. 640.
Kant und Herder als Vorläufer Weis-
matm's. 223, 551.
Kanonendonner, seine Hörbarkeit. 16,
223.
Kohlweißlinge, Zug der. 712.
Kolbenschilf, V'erwertung. 376.
Krakatau, Nachtrag zur Katastrophe. 454.
Luftfarben und Schattenfarben im Ge-
lände. 736.
Luftwellen als Schlieren sichtbar. 456, 583.
Maskarenen, ozeanisch? 581.
Mehlerde im Anhaltischen 161 7. 496.
Namenliste der Vögel, Kritik. 654.
Orniihologische Beobachtungen in Galizien,
Wolhynien und Russisch-Polen. 320.
, Ostruflland und Sibirien, Vorgeschichte. 72.
Paradiesvögel, Entdeckung. 583.
Phanerogamen auf den Kriegsschauplätzen.
335-
Pfeiftöne, Anfrage über Zustandekommen.
223.
I Rechenmethoden unserer Feinde. 495.
! Schallerscheinung, merkwürdige im Felde.
655-
Schnecken, Kriechen. 623.
1 Schwebefauna der Luft. 136.
Sonnentau als Inseklenvertilger. 581.
; Sperlinge, Abnahme. 656.
j Störche, Familienleben. 581.
Slräucher und Bäume, Bestimmungsbuch.
136, 304-
Strichzeichnungen, Photographieren der-
selben. 264.
Tierarten, Zunahme im Kriege. 454, 656.
; Tiere, Bestimmung freilebend beobachteter.
423-
Tiere, Genießbarkeit mancher, bishernicht
beachteter. 624.
Tierwelt, Veränderung durch Kriegsein-
flüsse. 640.
Trepanation alter Schädel. 423.
Register.
Unsichtbare im Föhrenwalde. 423.
Vervieltälligungsmethode, russische. 281.
Weiden, epiphytische Flora der. 16, 223.
Wünschelrute. 656.
Wünschelrutenjubiläum. 424.
Zikaden und Heuschrecken bei Goethe.
496.
Zwergwuchs bei Pflanzen. 536, 696.
VI. Verzeichnis
der Abbildungen.
Alraun. 138, 139.
Artesischer Brunnen. 269.
Bergsturz. 275.
Braunkohle, mikroskopische Schnitte. 305.
Calceola sandalina. 649.
Carpinus grandis, Blaltabdrücke. 217.
Chamaeleon deremensis. 89.
Chamaeleon bifidus. 89.
Christian II. von Sachsen. 607.
Chromosomengarnituren beiDrosophiliden.
218.
Clitocybe cartilaginea. 432.
Doline. 271.
Drosophiia ampelophila, abnorme Beine.
651.
Dürer's Stich „Die vier Hexen". 143.
Erdoberfläche, hypsometrische Kurve. 703.
Erdsimmerlmg. 431, 432»
Fledermäuse im Winterschlaf. 434.
Fliederzweige, getrieben. 67.
Gründwasserspiegel. 265, 2ö6.
Hakea, Blauformen. 617, 6 18.
Hanf, Ernte, Röste, Samengewinnung.
249, 250.
Haushahn, Keimdrüsen. 570.
Helix nemoralis, Farbenvariationen. 122.
Hufeisendüne aus Schnee. 593.
Karst, Flußentwicklung. 273.
Karstlandschaft. 271.
Karstquelle. 273.
Kohlweißlingspuppen. 219.
Koniferenhölzer, fossile. Mikroskopische
Ansichten. 305—308.
Maischwamm. 430.
Mißbildung des kleinen Fingers, Röntgen-
bild. 463.
Nervenregenerationen beim Igel. 626-628.
New-Jersey vor und nach dem Mücken-
kriege. 63.
Pock-Schwinde. 273.
Paradiesvögel, alte Bilder, 409 — 411.
Pontosphaera huxleyi.Dichte-Verbreilungs-
karte. 13.
! Quellen. 269.
Quellhorizonte. 269.
Regenrinnen. 676.
Rutengänger. 39.
Rutschungsterrasse. 275.
Salix longa, Blattabdruck. 215.
Schädeltrepanation, prähistorische. 232.
Schottenmönche, Die drei. 142,
, Schichtquelle. 269.
Schwefelbakterien. 324 — 327.
1 Seefelder bei Reinerz, Ansichten. 662, 6Ö4.
Seidenraupen. 730.
• Sophie von Brandenburg. 606.
Talanzapfung. 677.
Talgehänge, Entwicklung. 673.
Teafelslochhöhle, schematischer Grund-
riß. 434.
Ulmus carpinoides. Blattabdrücke. 216.
Ulmus longifolia. Blattabdrücke. 216.
Unz, Austritt. 273.
Urpberfläche, Diagramm. 673.
Vollameter. 469.
Voratlantischer Kontinentalblock. 705.
Warme Quellen im Schneegebirge. 270.
Wolframkristallfädcn, mikroskopische Bil-
der. 400, 401.
Zertalung. 676.
G. Pälz'sche Buctidr. Lippe;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 7. Januar 1917.
Nummer 1.
[Nachdruck verboten."
Atmung und Gärung.
Von Dr. Egon Eichwald (Halle a. S.)-
Die ersten, den heutigen Auffassungen sich
nähernden Vorstellungen über das Wesen der
Atmung beschäftigten sich naturgemäß mit
der Lungenatmung der Säugetiere. Es wurde
gezeigt, daß die Atmung ein durch den Sauer-
stoff der Luft hervorgerufener Verbrennungs-
prozeß ist, der dazu dient, dem Organismus die
nötige Betriebsenergie zur Verfügung zu stellen.
legt wird. Vor den bahnbrechenden Buchn er-
sehen Arbeiten war man der Ansicht, daß es
unter allen Umständen der Gegenwart lebender
Zellen bedürfe, um die alkoholische Gärung her-
vorzurufen, und es spielte demgemäß in allen
Diskussionen über die Hefegärung der Begriff der
Lebenskraft eine große Rolle, bis schließlich
durch die Tatsache, daß vollkommen zellfreie
dachte sich, daß dieser Verbrennungsprozeß Preßsäfte die gleichen Erscheinungen erzeugen
Me
in den Alveolen der Lunge vor sich gehe, ohne
zunächst an den zahlreichen Schwierigkeiten dieser
Auffassung Anstoß zu nehmen.
Es waren zwei Probleme, die mehr und mehr
diese erste primitive Verbrennungstheorie er-
schütterten: Erstens die zunächst unerklärliche
Tatsache, daß die Verbrennung im Organismus
bei einer Temperatur stattfindet, die wesentlich
können, der Nachweis geführt war, daß es sich
keineswegs um Lebenstätigkeilen der Zelle
handelt, sondern um Vorgänge, die durch ein
Ferment, die Zymase, auch außerhalb der Zelle
reproduzierbar sind. Seitdem hat man eine große
Zahl solcher „intrazellulären" P'ermente
isoliert und durch diese Isolierung die Bedin-
gungen zu eingehender chemischer und physika-
niedriger ist als die außerhalb des Organismus lisch-chemischer ^Erforschung ihrer Wirkungsweise
zu Verbrennungen notwendige. Und zweitens die
Frage, auf welche Weise die ohne freien Sauer-
stoff lebenden Organismen ihre Energie sich be-
schaffen, eine P>age, die um so entscheidender
wurde, als durch Pflüger nachgewiesen wurde,
daß P'rösche auch ohne Sauerstoffzufuhr noch
längere Zeit Kohlensäure ausscheiden. Bei zahl-
reichen anaeroben Pflanzen wurde dieses eben-
falls beobachtet, vor allem bei der Hefe.
Die erste Schwierigkeit führte zu der heute
herrschenden fermentativen Auffassung
der Atmungsprozesse, die zweite zu der Erkennt-
nis der Vorgänge der sogenannten intramole-
kularen Atmung, die, konsequent durch-
geführt, schließlich die Tätigkeit der Lunge nur
noch auf den Austausch von Sauerstoff und
Kohlensäure beschränkte, dagegen den eigent-
lichen Veratmungsprozeß auch bei den lungen-
atmenden Tieren in das Innere des Körpers als
intramolekulare Atmung verlegte. Bei beiden
Vorgängen wurde die auch sonst in der Ge-
schichte der Biologie im Vordergrunde stehende
alkoholische Gärune noch ein weiteres Mal ent-
geschaffen. Denn erst jetzt war es möglich, die
Permente genau zu dosieren und dadurch den
Einfluß ihrer Menge auf den Umsatz der zersetzten
Substanzen zu studieren, erst jetzt möglich, den
Einfluß bestimmter chemischer Stoffe zu unter-
suchen und ein Bild über den genaueren che-
mischen Verlauf der sich abspielenden Umsätze
zu gewinnen. Der Erfolg dieser Arbeiten war,
daß man den vorher einfachen Prozeß in eine
Reihe von Zwischenstufen zerlegte und im Zu-
sammenhang damit das vorher als einheitlich be-
trachtete Perment „Zymase" als ein Gemisch
verschiedenartiger, sich gegenseitig ergänzender
I-'ermente erkannte.
Betrachten wir zunächst die chemische Seite
des Problems.
Bei der alkoholischen Gärung wird Trauben-
zucker nach folgender Formel in Alkohol und
Kohlensäure zerlegt:
C,H,.,0„ = 2 CH3CH2OH + 2 CO.,.
So einfach diese P'ormel aussieht, so unbe-
friedigend muß sie trotzdem bei eingehender Be-
scheidend für unsere Vorstellungen bei den Pro- trachtung bleiben, da sie offenbar einen sehr
zessen der Atmung, da sie ja ein besonders komplizierten Zerfall des Traubenzucker-Moleküls
augenfälliges Beispiel der intramolekularen At- voraussetzt.
mung darstellt, und es ist deshalb zuerst not- Die Bemühungen, Einzelheiten über den Ab-
wendig, uns mit den augenblicklich herrschenden bau des Traubenzuckers bei der Gärung zu er-
Auffassungen über die Gärungsvorgänge vertraut fahren, führten zuerst zu einer Theorie, die durch
zu machen.
Die Hefegärung
Die Vorgänge bei der Hefegärung bestehen
bekaimtlich darin, daß Traubenzucker unter dem
Einfluß des von Buchner isolierten Fermentes,
der Zyi
einen hauptsächlich im Tierkörper, unter ge-
wissen Bedingungen aber auch im Pflanzenkörper
ablaufenden Abbau des Traubenzuckers nahe liegt.
Man nahm nämlich an, daß zuerst sich Milch-
säure bildet und daraus Alkohol und Kohlen-
säure. Indessen steht dieser Auffassung entgegen,
in Alkohol und Kohlensäure zer- daß Milchsäure vollkommen unvergärbar ist und
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. I
also nicht als Zwischenprodukt bei der alkoho-
lischen Gärung vorausgesetzt werden kann. Viel-
mehr ist es wahrscheinlich, daß zunächst irgend-
eine andere, leicnt umsetzbare Substanz ent-
steht, die dann je nach den Bedingungen, ent-
weder Milchsäure liefert (im Tierkörper und bei
der Milchsäuregärung) oder durch weitere
Zwischenstufen hindurch schließlich Alkohol und
Kohlensäure (alkoholische Gärung). Als solche
primäre Abbaustufe hat man vor allem den
Glyzerinaldehyd ins Auge gefaßt.
Vor allem spricht hierfür der von Iwanow
geführte Nachweis, daß bei der Hefegärung ein
Triosephosphorsäureester eine Rolle spielt, d. h.
die esterartige Verbindung von Phosphorsäure
mit einem Zucker aus 3 Kohlenstoffatomen.
Schon früher hatte man die günstige Einwirkung
erkannt, die Phosphate auf den Gärprozeß aus-
üben. J w a n o w ^) wies dann nach, daß hierbei
die Phosphorsäure esterartig an ein Kohlen-
hydrat gebunden wird. Ob an eine Hexose
oder an eine Triose, blieb zunächst zweifelhaft,
aber die letzten Untersuchungen Euler's und
Fodor's über diesen Gegenstand sprechen da-
für, daß sowohl Hexose- wie Triosephos-
phorsäureester auftreten. Ungewiß ist hierbei
nur noch, ob diese Phosphorsäureester notwendige
Zwischenstufen des Gärungsprozesses bilden oder
vielleicht als Aktivatoren der Gärungsfermente
d. h. als Stoffe wirken, die die Gärungsfermente
erst wirksam machen und sie aus einem poten-
tiellen in einen aktiven Zustand überführen.
Solche Stoffe sind ja bei zahlreichen F'ermenten
von Bedeutung.
Von Euler und seinen Schülern wurde auch
festgestellt, daß es sich bei der Veresterung der
Phosphorsäure mit dem Kohlehydrat um einen
fermentativen Prozeß handelt und daß das be-
treffende Ferment, er nennt es Phosphatese,
von den übrigen, bei der Hefegärung in Betracht
kommenden Fermenten abtrennbar und also eine
selbständige Komponente des Zymase-Systems
ist. Das folgt daraus, daß es bei schwach
gärenden Trockenhefen möglich war, eine Ver-
esterung zugesetzter Phosphorsäure zu erzielen,
ohne daß Bildung von Alkohol und Kohlensäure
auftrat. Gleichzeitig wurde dann auch gezeigt, daß
nicht der ursprüngliche Zucker sich mit der Phosphor-
säure verestert, sondern irgendein Umwandlungs-
produkt. Sobald man nämlich zu einer solchen
unwirksamen Hefe reine Glukoselösung sowie
Phosphorsäure hinzusetzte, trat keine Abnahme
der mit Magnesiamischung fällbaren Phosphor-
säure ein, mit anderen Worten, es hatte sich
keine Phosphorsäure verestert. Wohl aber war
dies der Fall, falls man bereits angegorene
Zuckerlösung zusetzte, die also bereits Umwand-
lungsprodukte der Glukose enthielt.
Bevor wir eins der von den heutigen For-
schern aufgestellten Schemen des Traubenzucker-
') Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 50, S. 2S1, 1907.
abbaus mitteilen , wollen wir zuerst noch die
weiter bekannten Tatsachen betrachten. Hier
ist vor allem an die Forschungen Neuberg's
und seiner Schüler über „Zuckerfreie Gä-
rungen" zu erinnern.
Bereits oben sahen wir, daß ein gewichtiger
Einwand gegen das Auftreten von Milchsäure als
Zwischenprodukt in der Unvergärbarkeit dieser
Substanz durch Zymase vorliegt. Auf einem
ähnlichen Forschungsprinzip beruhen die Arbeiten
von Neuberg, der eine Reihe der verschieden-
sten Substanzen der Hefe darbot und aus ihrem
Verhalten schloß, ob sie als Zwischenprodukte
der Gärung in Frage kommen oder nicht. Stets
wenn bei Abwesenheit von Zucker der betreffende
Stoff unter Kohlensäureentwicklung vergoren
wird, liegt offenbar die Möglichkeit seines Auf-
tretens als Zwischenprodukt vor.
Vor allem sind es eine Reihe von organischen
Säuren, die der zuckerfreien Gärung unterliegen.
Neuberg nimmt an, daß diese Gärung unter
dem P^influß eines bis dahin unbekannten P"er-
mentes, der „Ca rboxy 1 as e" von statten geht,
und daß diese Carboxylase auch bei der normalen
Gärung mitwirkt, also zu dem Komplex der als
Zymase bezeichneten Fermente hinzugehört. Aus
Brenztraubensäure wird unter dem Einfluß der
Carboxylase Acetaldehyd und Kohlensäure:
CHgCOCQf^ = CHgC^ + CO.,
Brenztrauben- Acetal- Kohlen-
säure dehyd säure
In der Tat hat man bei allen Gärungen das
Auftreten von Acetaldehyd feststellen können.
Auch die Salze der Brenztraubensäure werden
durch die Carboxylase zersetzt und aus der dabei
entstehenden Kohlensäure bilden sich kohlensaure
Alkalien, so daß also aus dem Salz einer orga-
nischen Säure ein fixes Alkali entstanden ist, ein
Prozeß, der bei höheren pflanzlichen Organismen
allgemein als Veratmung von Pflanzensäuren be-
kannt ist.
Es sind noch sehr zahlreiche Substanzen auf
ihr Verhalten bei der zuckerfreien Gärung geprüft
worden, und es hat sich ergeben, daß fast alle
Säuren, die in den Sioffwechselprodukten der
Hefe vorkommen, von der Carboxylase zersetzt
werden. Als solche kommen z. B. in Betracht
die Ameisen- und die Essigsäure, die Glyzerinsäure
und vor allem die Oxalessigsäure C OH^^^^'^'^OH
Diese Säure, die interessant ist wegen ihrer Be-
ziehungen zur Wein- und zur Apfelsäure, ist be-
sonders leicht angreifbar. Daß es sich bei diesen
Zersetzungen wirklich um ein von den übrigen
Zymaseenzymen unterschiedenes Ferment handelt,
läßt sich dadurcli nachweisen, daß die Zersetzung
auch nach Abtötung der Hefe mittels Toluol oder
Chloroform noch weiter vor sich geht. Hierbei
wird der Zymase die Möglichkeit genommen, ein-
zuwirken, da sie als intrazelluläres Enzym nur nach
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
der Zerstörung der Hefezellen und der Gewinnung
des Hefepreßsaftes zu wirken vermöchte. Die
Carboxylasewirkung bleibt jedoch, trotz der Ab-
tötung der Hefezellen erhalten, ebenso wie die
Invertasewirkung, ein gleichfalls in der Hefe vor-
handenes Ferment, das imstande ist, Rohrzucker
in Traubenzucker und Fruchtzucker zu zer-
legen.
Wir sahen oben, daß aus Brenztraubensäure
Kohlensäure und Acetaldehyd entsteht. Um
diesen Befund für die Aufklärung der alkoholischen
Gärung fruchtbar zu machen, müssen sich uns
zwei neue Fragen ergeben: Einmal, woher die
Brenztraubensäure stammt und weiterhin, ob und
in welcher Weise aus dem Acetaldehyd, der bei
allen Hefegärungen in reichlicher Menge auftritt,
.Äthylalkohol entsteht. Zuvor jedoch müssen
wir einige allgemeinere Bemerkungen über die
bisher geschilderten Versuche einschalten.
Oftenbar haben wir es bei der alkoholischen
Gärung mit einem Proceß zu tun, dessen Ana-
lyse aus mehrerlei Gründen außergewöhnliche
Schwierigkeiten bietet. Neben der Zersetzung
des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure laufen
eine Reihe von anderen Zersetzungsprozessen her,
die z. T. zu organischen Säuren, wie Essigsäure,
Bernsteinsäure, Buttersäure und anderen führen,
z. T. zu Stoffen, wie Glyzerin und Amylalkohol.
Es wird also jedesmal, wenn wir einen bestimmten
Prozeß aus dem Gesamtvorgang isoliert haben,
notwendig sein zu entscheiden, ob dieser Teil-
prozeß zu der Hauptreaktion, der Zuckerzersetzung
in Alkohol und Kohlensäure gehört, oder ob er
zu einer der Nebenreaktionen gehört, die von Kohle-
hydraten, Eiweißkörpern, Fetten oder Pflanzen-
säuren ausgehend zu den mannigfaltigsten Stoff-
wechselprodukten hinführen.
Für die Brenztraubensäure dürfte es wahr-
scheinlich sein, daß sie von den Kohlehydraten
abstammt und also dem Hauptprozeß angehört.
Da, wie oben erwähnt, aus dem Traubenzucker
zunächst eine Triose entsteht, und hier vor allem
Glyzerinaldehyd in Frage kommt, so haben fol-
gende Umwandlungen sehr viel Gründe für sich,
obwohl sie keineswegs experimentell in allen
Einzelheiten klar gestellt sind:
Traubenzucker > 2CH.,OH ■ CHOHCp^
Glyzeriiialdehyd
CH.CO-C^
Methylglyoxal
CH3COCQJ ,
Brenztraubensäure
CHgCOCHaOH
Brenztraubenalkohol
CH.Cq + CO.,
Acetaldehyd
• CH3CH.,0H
Alkohol
Der Übergang vom Glyzerinaldehyd zum
Methylglyoxal geschähe hierbei durch die Ver-
schiebung einer Hydroxylgruppe, ein Vorgang,
der bei biologischen Reaktionen nichts Außer-
gewöhnliches hat. .^uch der folgende Vorgang
gehört einer Gruppe von Reaktionen an, die sich
sehr häufig in der Chemie der Zelle verwirklicht
findet. Es wird nämlich ein Teil des Methyl-
glyoxals auf Kosten eines anderen Teils oxydiert
und aus dem Aldehyd entsteht eine Säure sowie
ein Alkohol : nämlich Brenztraubensäure und
Brenztraubenalkohol, der isomer mit Glyzerin ist
und ebenfalls durch Hydroxylverschiebung leicht
darin übergeht.
CHgCOCHoOH isomer CH.,OHCHOH-CH,OH
Brenztraubenalkohol Glyzerin.
Wie aus der Brenztraubensäure dann unter
der Einwirkung der Carboxylase Acetaldehyd und
Kohlensäure entstehen, haben wir vorhin näher
ausgeführt. Es bleibt also nur noch der letzte
Schritt zu tun, nämlich zu erklären, wie der
Acetaldehyd zu Äthylalkohol reduziert wird, '
um ein wenigstens vorläufiges Bild der Zucker-
vergärung zu haben, das mit den bisherigen ex-
perimentellen Befunden im Einklang steht.
Für die Reduktion des Acetaldehydes zu
Äthylalkohol ist Wasserstoff nötig, und es ist
sehr wohl möglich, daß dieser Wasserstoff ver-
mittels einer sogenannten gekoppelten Reaktion
aus den Elementen des Wassers bezogen wird,
wobei dann gleichzeitig der Sauerstoff des Wassers
zu C)x)-dationsprozessen verbraucht wird, wie sie
z. B. bei der Umwandlung von Methylglyoxal in
Brenztraubensäure erforderlich sind. Abgesehen
von dieser Auffassung ist noch eine andere möglich,
daß nämlich das entstandene Gemisch aus Brenz-
traubensäure und Brenztraubenalkohol (isomer
Glyzerin) sofort bei der Zersetzung Ahylalkohol
liefert. In der Tat haben Neuberg und Kerb
den Nachweis geführt, daß bei der Einwirkung
von Hefe auf Brenztraubensäure bei Gegenwart
von Glyzerin statt Acetaldehyd — Äthylalkohol
sich bildet.
Eine wichtige Aufgabe für jede Gärungs-
theorie wird, aisgesehen von der Erklärung des
Hauptprozesses, die Entstehung der bei der Gä-
rung auftretenden Nebenprodukte sein. Als solche
kommen in erster Linie höhere Alkohole, wie
z. B. der optisch aktive Amylalkohol, ferner auch
organische Säuren sowie Glyzerin in Betracht.
Dabei ist dann wiederum ein erschwerender Um-
stand, daß diese Nebenprodukte je nach den
Heferassen stark variieren und weiterhin, daß ein
und dasselbe Endprodukt aus ganz verschiedenen
Ausgangsmaterialien gebildet sein kann. So kann
Naturwissenschaftliche Wochenschriit.
N. F. XVI. Nr.
z. B. die Brenztraubensäure sich außer aus Kohle-
hydraten auch aus einem Abbauprodukt des Ei-
weiß, dem Alanin, sich bilden. Ebenso kann sich,
wie wir sehen werden, Milchsänre aus Kohle-
hydraten sowie aus Eiweißstofifen , ja auch aus
anderen Pflanzensäuren bilden , so daß hier in
jedem Falle eine sehr vorsichtige Beurteilung der
experimentellen Befunde geboten ist.
Die Entstehung höherer Alkohole ist zuerst
durch die Untersuchungen von Felix Ehrlich
klargestellt worden. Sie entstehen aus Amido-
säuren , also aus Spaltprodukten des Eiweiß-
moleküls. Vor allem wies Ehrlich dies
nach beim Amylalkohol , dem sog. Fuselöl. Es
entsteht nach folgender Bruttogleichung aus
Isoleucin:
^ J5'/CHCH.NH., . C
Isoleucin
Qp^ + H.3O = ^ []^j)CH.CH.,OH + CO., +NH3
Amylalkohol.
Indessen haben Neubauer und Fromberg')
gezeigt, daß die Umwandlung des Isoleucins durch
sogenannte oxydative Desaminierung
geschieht. Zunächst bildet sich durch Oxydation
und nachherige Abspaltung von Ammoniak eine
ß-Ketosäure. Diese a-Ketosäure wird dann unter
Abspaltung von Kohlensäure und gleichzeitiger
Reduktion in den entsprechenden Alkohol über-
geführt. Zweckmäßig stellt man sich dabei vor,
daß die Kohlensäureabspaltung durch Carboxylase,
ähnlich wie bei Brenztraubensäure erfolgt, und
der hierbei entstehende Aldehyd weiter zum Al-
kohol reduziert wird.
Es ist Neubauer im wesentlichen gelungen,
diese Vorgänge stufenweise zu verfolgen und da-
durch die Entstehung höherer Alkohole aus Amido-
säuren auf die angegebene Weise verständlich
zu machen.
In chemischen Gleichungen erhält man folgen-
des Bild:
QHj/^^-^^-^OH
NR,
Isoleucin
.CH.CH.,OH
Methyläthylbrenztraubensäure Isovaleraldehyd Isoamylalkohol.
Von den anderen Nebenprodukten der alko-
holischen Gärung sind vor allem noch die ver-
schiedenen sich bildenden Säuren von Interesse,
und zwar hauptsächlich deshalb, weil eine Reihe
von niederen Organismen diese Nebenreaktionen
der Hefe zur Hauptquelle ihrer Betriebsenergie
ausgebildet haben. Dadurch sind andere Typen
von Gärungen entstanden, die je nach dem ent-
stehenden Hauptprodukt als Milchsäure-, Butter-
säure-, Capronsäuregärung usw. bezeichnet werden.
Zum Teil werden diese Säuren auf einfache
Art aus Kohlehydraten entstehen, z. B. die
Milchsäure CHgCH- OH -Cqi^ aus Glyzerinaldehyd
CH.OHCHOHC^. Bei der Bildung der ge-
sättigten Fettsäuren jedoch, z. B. der Buttersäure
CHgCHgCHjCQp^ bedarf es einer weitgehenden
Reduktion, über deren speziellen Verlauf wir noch
wenig unterrichtet sind. Ohne Zweifel spielen
außer den abbauenden Prozessen auch synthetische
Vorgänge hierbei eine Rolle, besonders die Kon-
densation des Acetaldehydes, der ja bei allen
Gärungen auftritt, zu Aldol, der dann seinerseits
sich in ,jOxybuttersäure und Buttersäure ver-
wandelt.
CH3CQ -j- CH3CQ
Acetaldehyd
CH3CH.0HCH,,Cq
Aldol
■CHaCHOHCRC^f^
p'-Oxybuttersäure
CH3CH.XH.X
Buttersäure,
O
OH
Aber auch aus bereits vorgebildeten or-
ganischen Säuren können gesättigte Fettsäuren
entstehen. So wies Karezag nach, daß Wein-
säure bei der Gärung sich in zahlreiche andere
Säuren verwandelt, in Essigsäure, Propionsäure,
Bernsteinsäure und Milchsäure.
Die Mannigfaltigkeit der experimentell bereits
nachgewiesenen Umwandlungen ist also außer-
ordentlich groß und wird dadurch noch ver-
wirrender, daß nicht nur die einzelnen Heferassen
'j Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 70, S. 336, 19 u.
weitgehende Unterschiede aufweisen, sondern auch
die Anpassung an ihr Nährsubstrat keineswegs so
spezifisch ist, wie bei höheren Organismen, so daß
auch ungewohntes Nährmaterial innerhalb gewisser
Grenzen die Stelle der normalen Nährstoffe er-
setzen kann. Ein Befund, der bei allen Versuchen
über Gärung sorgfältig zu berücksichtigen ist.
Bei höheren Organismen pflanzlicher und tierischer
Art ist diese Anpassungsfähigkeit nicht mehr in
so hohem Maße vorhanden, so daß wir erwarten
dürfen, dort konstantere Verhältnisse anzu-
treffen.
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschafiliche Wochenschrift.
Die intramolekul
A t m u II i
Wenn wir jetzt daran gehen, die Vorgänge
der intramolekularen Atmung bei höheren sauer-
stoftbedurfügen Organismen zu studieren, so wird
zunächst von Interesse sein, ob der Prozeß der
alkoholischen Gärung auch von höheren pflanz-
lichen oder gar tierischen Organismen als hnergie-
quelle benutzt werden kann. Für pflanzliche
Organismen ist dies in der Tat der Fall. Schon
friiher hatte man vereinzelt Alkohol in den Organen
höherer Pflanzen nachgewiesen, und als dann
Pfeffer seine Theorie der intramolekularen
Atmung aufstellte, daß nämlich alle, auch die
aerobiüiischen Atmungsvorgänge auf intramole-
kularen Umsetzungen beruhen, da war man nahe-
zu allgemein der Ansicht, daß diese intramole-
kularen Reaktionen ausschließlich Vorgänge der
alkoholischen Gärung seien. Später gelang es
dann Stoklasa, aus dem Gewebe zahlreicher
höherer Pflanzen ein P'ermentgemisch zu isolieren,
das die wesentlichen p:igeiischafien der Zymase
besitzt, vor allem also Zucker in Alkohol und
Kohlensäure spaltet. Er gewann dieses Ferment-
gemisch aus Pflanzengewebe nach der von
Büchner zur Gewinnung von Hefepreßsaft be-
nutzten Methode, indem er das Gewebe zerrieb
und mittels eines Druckes von 300— 400 Atmo-
sphären den Zellsaft herauspreßte. Aus diesem
Saft ist das Fermentgemisch mit Alkohol aus-
füllbar.
Es fragt sich nun, wie man sich die Rolle
dieses Zucker vergärenden Enzyms vorzustellen
hat. Offenbar sind zwei Annahmen möglich.
Nach der einen würde die alkoholische Garuug
ein normaler Vorgang im pflanzlichen Stoffwechsel
sein, der nur deshalb für gewöhnlich nicht in Er-
scheinung tritt, weil der gebildete Alkohol sofort
weiter oxydiert wird , ehe er sich in größeren
Mengen ansammelt. Nacfi der anderen dagegen
wurde bei aerober Atmung die Zersetzung
der Kohlehydrate überhaupt nicht bis zum Alko-
hol gehen, sondern vorher bereits ein Zwischen-
produkt durch oxydativen Abbau weiter
zerlegt werden. Falls aber der Sauerstoff fehlt,
so würde allerdings unter dem Einfluß der Zy-
mase sich Alkohol bilden.
Mit beiden Auffassungen ist die Tatsache ver-
einbar, daß bei Abschluß der Luft fast stets eine
erhebliche Produküon von Alkohol statthndet.
Pal ladin, uud ebenso Kostyischew, haben
eingehende Versuche darüber geniai-ht, wie viel
Kohlensäure und wieviel Alkohol sich bei anae-
erober Atmung verschiedener Pflanzenteile bilden.
Dabei haben sie die Pflanzen zunächst durch
Gefrieren auf —20" abgetötet, so daß die erzielte
Kohlensäureproduktion ausschließlich auf Rech-
nung enzymatischer Prozesse zu setzen ist. Wäh-
rend nämlich das Protoplasma durch längere
Einwirkung tiefer Temperaturen abgetötet wird,
sind die Fermente ei heblich widerstandsfähiger.
Dadurch ist es möglich, ihre Wirkung rein und
unbeeinflußt*durch die Tätigkeit des Protoplasmas
zu erforschen.
Aus den Versuchen Palladin's und Kos ty-
tschew's ergibt sich, daß in zahlreichen
Fallen allerdings ein erheblicher Teil der an ae-
roben Kohlensäure-Entwicklung aus alkoho-
lischer Gärung stammt, in anderen F'ällen jedoch
nur wenig, oder gar kein Alkohol gebildet wird.
Die beiden Forscher verfuhren folgendermaßen:
Sie töteten das zu untersuchende pflanzliche
Organ durch Erfrieren ab, brachten es dann,
um die anaerobe Atmung zu studieren, in einen
Wasserstoffstrom und maßen die ausgeschiedene
Kohlensäure. Ebenso bestimmten sie auch den
gebildeten Alkohol.
Bei der Zuckergärung müßte auf i Molekül
Kohlensäure 1 Molekül Alkohol sich bilden. In
Vk'irklichkeit wurde fast immer weniger Alkohol
gebildet, oft überhaupt keiner. Daraus folgt
dann, daß bei anaerober Atmung die alko-
holische Gärung häufig zwar eine mehr oder
weniger große Rolle spielt, ganz gewiß aber nicht
der einzig verlaufende Prozeß ist, vielmehr durch
andere, ebenfalls Kohlensäure erzeugende Ferment-
reaktionen ersetzt wird. Bei aerober At-
mung wurde fast überhaupt kein Alkohol ge-
bildet.
Die Atmung im tierischen Organismus.
Bevor wir die Vorgänge im pflanzlichen Ge-
webe weiter verfolgen, wollen wir einen orien-
tierenden Blick auf die Atmungsvörgänge im
tierischen Organismus werfen.
Hier tritt uns sofoit mit viel größerer Dring-
lichkeit die Frage entgegen , in welcher Weise
der Sauerstoff der Luft in die Atmungsvorgänge
eingreift. Auch bei der pflanzlichen Atmung ist diese
PVage selbstverständlich nicht zu umgehen, aber,
da auch die höheren Pflanzen einige Zeit ohne
Sauerstoff zu atmen vermögen, ist die Rolle des
Sauerstoffs nicht so in die Augen fallend wie beim
höheren Tier. Daß umgekehrt trotz der dauernd
notwendigen Zufuhr von Sauerstoff auch im
höheren Tier ständig Umsetzungen verlaufen,
die denen der Pflanzen analog sind, ist durch
die Forschungen Embden's und seiner Schüler
sicher gestellt. Hier interessiert uns davon na-
mentlich die Umsetzung der Kohlehydrate. Die
genannten Forscher verfuhren in der Weise, daß
sie untersuchten, was aus dem zu Blut hinzugesetzten
Traubenzucker wurde, wenn sie das Blut durch
eine überlebende Leber hindurch leiteten. Es
zeigte sich, daß stets eine Vermehrung des Milch-
säuregehahes stattfand. Auch wenn Blut durch
glykogenhaltige Leber hindurchfloß, ergab sich
eine Vermehrung der Milchsäure, nicht jedoch,
■ wenn die Leber vorher durch Hungern des Tieres
vom Glykogen befrrii war. Dadurch ist ein-
deutig bewiesen, daß Milchsäure ein Abbauprodukt
des Traubenzuckers im lierischen Orgamsmus ist,
ohne daß Traubenzucker allerdings der einzigste
Stoff ist, aus dem Milchsäure entsteht. Denn
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
auch aus Eiweißabbauprodukten, wie Alanin, ver-
mag Milchsäure sich zu bilden.
Embden hält es für wahrscheinlich, daß aus
dem Traubenzucker zunächst Glyzerinalde-
hyd gebildet wird. Und zwar würde es sich
um optisch aktiven Glyzerinaldehyd handeln, da
die daraus entstehende Milchsäure ebenfalls op-
tisch aktiv ist. In der Tat hat sich bei Leber-
durchblutungsversuchen herausgestellt, daß Gly-
zerinaldehyd in hohem Maße als Milchsäurebildner
wirkt. Auch im Blute wird aus Zucker zunächst
Milchsäure gebildet. Dagegen ist bei der seit
langem schon bekannten Bildung von Milchsäure
im arbeitenden Muskel nicht ausschließlich der
Traubenzucker die milchsäurebildende Substanz,
sondern eine andere, noch nicht näher charakte-
risierte Verbindung, die Embden vorläufig als
Lac tac i d og e n bezeichnet. Es ergab sich näm-
lich, daß die im Muskelpreßsaft gebildete Milch-
säuremenge unabhängig war von der Menge von
zugesetztem Traubenzucker oder Glykogen. Im
lebenden tätigen Muskel wird sich wahrscheinlich
auch aus diesen Substanzen Milchsäure bilden,
aber es ist anzunehmen, daß auch hier die als
Lactacidogen bezeichnete Zwischenstufe durch-
laufen wird.
Bis zum Abbau des Traubenzuckers zur Milch-
säure ist energetisch noch kaum eine Ände-
rung eingetreten, so daß es nur einer geringen
Zufuhr von Energie bedarf, um aus der Milch-
säure Traubenzucker zurückzubilden. Diese Ten-
denz, seine Substanzen möglichst wenig abzu-
bauen, findet man allgemein bei den che-
mischen Vorgängen in den Organismen. Be-
sonders gilt dies für alle hydrolytischen Prozesse,
alle jene Vorgänge also, die durch die zerlegende
Wirkung des Wassers hervorgerufen werden, so
z. B. die Aufspaltung der Eiweißkörper und der
Fette, auch die des Glykogens oder der Stärke
in Traubenzucker. Solange wie möglich sucht
der Organismus seinen Energiebestand intakt zu
halten, und sich die Möglichkeit zu bewahren,
leicht aus den Zersetzungsprodukten die ursprüng-
lichen Stoffe zurückzubilden. Auf der Stufe der
Milchsäure ist dies noch ohne Mühe durchfuhr-
bar, und ebenso, wie sich in zuckerreichem Blute
bei der Leberdurchbluiung Milchsäure bildet,
ebenso bildet sich auch umgekehrt in milchsäure-
reichem Blute Traubenzucker unter Verbrauch der
Milchsäure.
Erst bei dem nächsten Schritt kommt es zu
einem Eingrifif, der schwerer reversibel ist. Aus
der Milchsäure bildet sich Brenztraubensäure,
derselbe Stoff also, mit dem wir uns oben bei der
alkoholischen Gärung eingehend beschäftigt haben.
Weiterhin entsteht dann in der Leber aus Brenz-
traubensäure die Acetessigsäure und hieraus durch
Kohlensäureabspahung Aceton. Diesen Reaktions-
verlauf erklärt man wohl am besten, wenn man
annimmt, daß die Brenztraubensäure sich in Acet-
aldehyd und Kohlensäure zersetzt und der Acet-
aldehyd sich zy Aldol kondensiert, der sich durch
Oxydation in Acetessigsäure umwandelt. Es er-
gäbe sich also folgendes Schema des Zucker-
abbaus im tierischen Organismus: ^)
d-Glukose
it
I. Aktiver Glyzerinaldehyd
It
11. d-Milchsäure
it
III. Brenztraubensäure
i
IV. Acetaldehyd
Essigsäure
CH3C0H
CH,.OH.(CHOH),Cj^
CH2OHCHOHC
CHgCH-OH-C,
OH
CH3CO • Cqji
Acetessigsäure
CHXOCHX,
2^0H
Außer dieser Art des Abbaus dürften aber noch
andere Arten vorkommen, wie sich vor allem
aus dem Auftreten von Glukuronsäure schließen
läßt. In diesem Falle würde bereits an dem in-
takten Zuckermolekül eine Oxydation einsetzen
und erst nachher eine Zertrümmerung des Mole-
küls in kleinere Teile erfolgen. Leider ist über
diese Form des oxydativen Abbaus noch wenig
bekannt. Deshalb wenden wir uns, anstatt uns
weiter darin zu vertiefen, einer näheren Betrachtung
der oxydativen Pjozesse zu.
Im tierischen Organismus setzen diese, falls wir
das oben mitgeteilte Schema zugrunde legen, bei
dem Übergang von Milchsäure in Brenztrauben-
säure ein. Wie findet nun diese Oxydation statt?
Ist der Ort dieser Oxydation im Blut oder im
Gewebe? Und weiterhin: Findet sich im Blut
oder im Gewebe freier Sauerstoff oder gibt es
andere Substanzen, die die oxydative Wirkung zu
entfalten vermögen?
Zunächst ist nachgewiesen, daß ein Teil der
Oxydation im Blute stattfindet, und zwar sind es
die Formelemente des Blutes, welche die
Oxydation bewirken. Dabei spielt dann das
Hämoglobin des Blutes die Rolle eines Sauerstoff-
überträgers, indem es sich mit dem Sauerstoff
der Lult zu Oxyhämoglobin verbindet und den
aufgenommenen, nur lose gebundenen Sauerstoff
an die oxydationsfähigen Substanzen weitergibt.
Aber auch in den Geweben findet bereits eine
') Vgl. G. E m b d e n und M. O p p e n h e i m e r , Biochf
Zeitschr. 45, 202.
N. F. XVI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Oxydation statt, wie vor allem durch die P f 1 ü g e r -
sehen Versuche nachgewiesen ist. Pflüger er-
setzte nämlich das Blut von P'röschen durch
physiologische Kochsalzlösung und fand, daß so
behandelte F~rösche in einer Atmosphäre von
reinem Sauerstoff noch etwa 2 Tage zu leben
vermochten und Kohlensäure ausschieden und zwar
ebensoviel , wie normale Frösche. Es ist nicht
anzunehmen, daß hierbei erhebliche Oxydationen
in der Kochsalzlösung vor sich gehen, zumal dann
nicht, wenn man bedenkt, daß in der Kochsalz-
lösung vollkommen die Formelemente fehlen, die
im Blute Träger der Oxydationswirkungen sind.
Auch bei den niederen Tieren, die noch kein
Blutgefäßsystem besitzen, findet die Oxydation
notwendigerweise in den Geweben statt, da sie
bei Entziehung des freien Sauerstoffs sehr bald
zugrunde gehen. Daß aber andererseits bei den
höheren Tieren auch im Blute Oxydationsprozesse
verlaufen, geht aus dem Verhalten des Blutes er-
stickter Tiere hervor. Normales Blut enthält nur
geringe Mengen von oxydablen Stoffen. Infolge-
dessen verschwindet freier Sauerstoff, der zu
normalem Blute außerhalb des Körpers hinzugefügt
wird, nur sehr allmählich. Anders ist dies aber,
wenn die Tiere erstickt sind, wenn also die aus
den Geweben ins Blut gelangenden oxydablen
Stoffe aus Mangel an Sauerstoff nicht oxydiert
werden konnten. Das Blut ist dann reich an re-
duzierenden Substanzen und in der Tat ver-
schwindet Sauerstoff, der zu Erstickungsblut hinzu-
gefügt wird, mit großer Geschwindigkeit unter
Bildung von Kohlensäure.
Wir können also sagen, daß sowohl das Ge-
webe als auch das Blut die Orte sind, wo die
Oxydationen stattfinden. So bleibt uns noch die
PVage zu beantworten , in welcher Weise diese
Oxydationen vor sich gehen, ob durch freien Sauer-
stoff oder mit Hilfe anderer Substanzen. Nun
ist allerdings in einigen Organen, z. B. in der
Speicheldrüse, in der Plazenta der Säugetiere, in
den Leuchtorganen von Lampyris splendidula das
OH
OH-H
Auftreten freien Sauerstoffs nachgewiesen, aber,
wie wir oben sahen, ist aus chemischen Gründen
eine einfache Oxydation durch freien Sauerstoff
gänzlich unbegreifbar. Wir müssen die neueren
Forschungen der Pflanzenphysiologie zugrunde
legen, um in das Innere der hierbei verwendeten
Mechanismen einen Einblick zu gewinnen, möchten
aber zum voraus darauf hinweisen, daß es sich
hierbei um komplizierte, nicht ganz leicht zu
verstehende Vorstellungen handelt. Indessen sind
sie von so fundamentaler Bedeutung für das
Verständnis der Atmungsvorgänge, daß wir zum
Abschluß unserer Betrachtungen eine kurze Dar-
stellung dieser Theorien geben wollen.
Die Oxydationsfermente.
Zunächst eine chemische Betrachtung.
Bei der Oxydation eines Körpers durch den
Sauerstoff der Luft hat sich ergeben, daß fast
stets außer den eigentlichen Oxydationsprodukten
noch andere weniger beständige Stofte auftreten.
Und zwar handelt es sich dabei um Stoffe, die
ihrerseits eine erheblich größere Oxydationsfähigkeit
besitzen als der freie, molekulare Sauerstoff. Es
können also unter ihrem Einfluß Oxydationen ein-
treten, die der freie Sauerstoff der Luft nicht zu
bewirken vermag, mit anderen Worten, es ist eine
Aktivierung des Sauerstoffes eingetreten.
Zwei Arten einer solchen Aktivierung kommen
hierbei hauptsächlich in Betracht: Das Auftreten
von Wasserstoffsuperoxyd und das Auftreten
anderer Peroxyde. Der erste Fall tritt ein in
jenen Fällen, die der Traube 'sehen Oxydations-
theorie folgen. Nach Traube wirkt nicht der
iTiolekulare Sauerstoff als oxydierendes Agenz,
sondern zunächst wird Wasser in H und OH
gespalten. Die Hj'droxylionen treten an die zu
oxydierende Substanz, während die freien Wasser-
stoffionen mit Sauerstoff zusammen Wasserstoff-
superoxyd bilden. Der Vorgang wäre also z. B.
bei der Oxydation von Oxanthranol zu Antrachinon
folgender :
OHx /OH
C„H, ( >CeH, + +0, = C,;H,\ /QH, + H.,0,
" ^\C/ « "^OH-H^ ' " 'V/
OH
Oxanthranol Wasser
OH
OH
Ist der Reaktionsverlauf richtig formuliert, so
muß die doppelte Menge Sauerstoff bei der Oxy-
dation verbraucht werden, als wenn kein Wasser-
stoffsuperoxyd entstünde, eine Folgerung, die nach
Manchot mit dem experimentellen Befund über-
einstimmt. Gleichzeitig vermag jetzt das Wasser-
stoffsuperoxyd neue, durch freien Sauerstoff nicht
vollziehbare Oxydationen in Gang zu setzen.
Eine andere Reihe von Oxydationen verläuft
nach dem von Engler und Wild, sowie von
Bach undChodat entwickelten Schema. Hier-
nach entstehen zunächst Substanzen vom Charakter
der Peroxyde nach folgender Gleichung:
A + O, = AO.,.
Diese peroxydartigen Verbindungen, wie sie
z. B. von den katalytisch wirkenden Platinmetallen
bekannt sind, vermögen jetzt leicht die Hälfte,
häufig sogar den ganzen aufgenommenen Sauer-
stoff weiterzugeben und dadurch selbst schwierige
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. I
Oxydationen hervorzurufen. Man nennt diesen
zweiten Stoff den Acceptor, und es ist be-
merkenswert, daß nicht nur der Acceptor durch
das Peroxyd stärk-er als durch Luftsauerstoff oxy-
diert wird, sondern daß häufig auch umgekehrt
die Gegenwart eines Acceptors die Oxydations-
geschwindigkeit des ersten Stoffes erhöht. Dies ist
i. B. der Fall bei der Oxydation von Ferrosulfat
an der Luft, die unter normalen Bedingungen nur
sehr allmählich verläuft, schnell dagegen bei Zusatz
einer alkalischen Lösung von arseniger Säure.
Hierbei bildet sich zunächst eine Peroxydverbindung
des Eisens, die dann die Hälfte ihres Sauerstoffs
an die arsenige Säure abgibt und dabei selbst zu
Ferrisalz reduziert wird.
Es scheint nun auf Grund der Arbeiten Bach
und Chodat's"), daß die beiden angeführten
Oxydationstypen eine große Rolle bei den At-
mungsprozessen spielen. Und zwar handelt es
sich um fermentative Prozesse, da durch Erhitzen
auf höhere Temperatur die betreffenden Vorgänge
vernichtet werden.
Zunächst wiesen die genannten Forscher nach,
daß bei den pflanzlichen Oxydationsvorgängen
zwei voneinander unterschiedene Stoffe zu berück-
sichtigen sind; Ein peroxydartiger Körper, den
sie Oxygenase nannten, und zweitens ein Oxy-
dationsferment, das die Aufgabe hat, den Sauer-
stoff des Peroxydes auf die zu oxydierende Sub-
stanz zu übertragen. Dieses Ferment nannten sie
Peroxydase. Es gelang ihnen, beide Stoffe
voneinander zu trennen, indem sie aus einem
stark oxydierenden Extrakt von R u s s u 1 a die
Oxygenase mit 40 "/„ igem Alkohol ausfällten. Die
so isolierte Oxygenase vermochte nur sehr ge-
ringe Oxydationswirknng hervorzurufen. Sobald
man aber peroxydasehaltiges Filtrat hinzufügte,
trat starke Oxydation ein. Andererseits war es
auch möglich, die ausgeschiedene Oxygenase durch
Wasserstoffsuperoxyd zu ersetzen. Es steht dies
im Einklang mit der ausgeführten Theorie, nach
welcher es sich bei der Oxygenase um eine
peroxydartige Verbindung handelt, um eine Ver-
bindung also, die nach dem Typus des Wasser-
stoffsuperoxydes gebaut ist.
Es ist demnach ein recht komplizierter Mecha-
nismus erforderlich, um den Sauerstoff der Luft
für die Zwecke der Organismen verwerten zu
können. Pal lad in hat im Anschluß an diese
Theorie die Atmungsprozesse genauer verfolgt
und den Anteil der einzelnen Komponenten ein-
gehend herausgelöst. Zunächst verfährt er dabei
wieder so, daß er die Pflanzen durch Gefrieren
abtötet , um sicher alle beobachteten Erschei-
nungen auf Enzymwirkungen zurückführen zu
können. Dann läßt er die getöteten Pflanzen zu-
nächst im Wasserstoffstroni Kohlensäure ent-
wickeln und erhält dadurch ein Maß für die
anaeroben intramolekularen Prozesse, die wir oben
betrachtet haben und die auf Fermente der alko-
holischen Gärung oder ähnliche Fermente hin-
weisen. Dabei werden intermediäre Stoffe ge-
bildet. Wird jetzt die Pflanze aus dem Wasser-
stoffstrom entfernt und in einen Strom von Luft
gebracht, so findet von neuem Bildung von
Kohlensäure statt, die ein Maß liefert für die
oxydativen Prozesse. Nach dem Aufhören der
Gasentwicklung sind die eigentlichen Atmungs-
prozesse beendet. Aber trotzdem enthält die
Pflanze sowohl noch wirksame Oxygenase wie
auch Peroxydase. Wenn man nämlich die Pflanze
zerkleinert und Pyrogallol hinzusetzt, so findet
eine Oxydation des Pyrogallols statt, die erst auf-
hört, wenn keine Oxygenase mehr vorhanden ist.
Aber noch ein letztes Mal kann man das zer-
riebene Gewebe zu neuer Tätigkeit anregen, in-
dem man an Stelle der verbrauchten Oxygenase
\\'asserstoffsuperoxyd hinzusetzt. Jetzt sind wieder
die Bedingungen zur Oxydation vorhanden und
erst wenn jetzt die Kohlensäureentwicklung auf-
hört infolge Verbrauchs der Peroxydase, ist die
Pflanzensubstanz zu keiner weiteren oxydierenden
Tätigkeit mehr imstande.
Durch dieses Fraktionieren der Atmungs-
tätigkeit, wie man es nennen kann, hat Palla-
d i n *) sehr interessante Ergebnisse erzielt. Es
hat sich dabei herausgestellt, daß je nach der
Pflanze, je nach dem Pflanzenteil, je nach dem
Alter der Pflanze ganz verschiedene Mengen der
einzelnen Atmungsfermente vorhanden sind. Be-
sonders deutlich wird dies bei einer Gegenüber-
stellung des Verhaltens von erfrorenen Weizen-
keimen und etiolierten Blättern von Vicia Faba.
Setzt man die im Wasserstoffstrom ausgeschiedene
Kohlensäuremenge gleich 100, so erhält man:
s
^
Pfl.-.nzen
i
II .
■|ir
m
1!^
an i
|ii"
0
^°
t-.^
Weizenkeime
100
0
7
123
Etiolierte Blätter
von Vicia Faba
100
142
648
293
Dieselben nach
Saccharose und
Lichtnahrung
100
225
967
621
•) Berichte d. Deutsc
Gesellsch., Bd. 36, S. 606,
Aus der Tabelle ersieht man, daß erfrorene
Weizenkeime eine ausschließlich anaerobe Tätig-
keit haben. Trotz bedeutender Mengen Peroxy-
dase können sie keine Oxydationsprozesse aus-
führen, weil es ihnen an Oxygenase fehlt. Das-
selbe ist bei erfrorenen Erbsensamen der Fall
und erklärt, daß diese selbst bei Luftzutritt Alko-
'} Vgl. z. B. Biochemische Zeitschr. IS, 251.
N. F. XVI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
hol bilden , also einen vollkommen anaeroben
Reaktionstypus aufweisen.
Dagegen sind etiolierte Blätter von Vicia
Faba zu lebhaften Oxydationsprozessen befähigt,
und alle in Betracht kommenden Faktoren werden
noch erhöht, wenn die normalen Atmungsbedin-
gungen der Blätter, vor allem Lichtnahrung,
wieder hergestellt werden. Es tritt dann eine
erhebliche Vermehrung ihres Oxygenase- und
Peroxydasegehaltes ein.
Noch eine letzte, aber wichtige Frage bliebe
zu erörtern, ob wir nämlich irgend etwas Näheres
über die hypothetischen peroxydartigen Körper
wissen, die nach der Bach-Chodat'schen Theorie
bei der Atmung notwendig sind. Pal ladin ist
der Ansicht, daß wir zwar mit Sicherheit noch
nichts darüber sagen können, daß aber in nahezu
allen Pflanzen eine Gruppe von Stoffen vorhanden
ist, die auf eine den Peroxyden ähnliche Tätig-
keit bei der Atmung hinweist: Es sind dies die
sogenannten Atmu ngschromogene.
Durch eine alltägliche Erfahrung sind uns die
Atmungschromogene eigentlich sehr wohl be-
kannt. Wenn man nämlich einen Apfel durch-
schneidet und an der Luft liegen läßt, so beob-
achtet man nach k\irzer Zeit eine Braunfärbung
der Schnittfläche. Dasselbe kann man bei Kar-
toffeln, sowie bei sehr vielen anderen Pflanzen-
teilen beobachten. Es beruht darauf, daß in den
Pflanzensäften Stoffe vorhanden sind, die mit dem
SauerstofT der Luft Farbstoffe bilden.
Pal lad in stellt sich nun vor, daß in der un-
verletzten Pflanze diese Chromogene deshalb keine
Farbstoffe bilden, weil sie sofort wieder reduziert
werden. Und zwar sind seiner Auffassung nach
zwei Möglichkeiten vorhanden, wie diese Atmungs-
chromogene wirken: Einmal können sie sich selbst
unter der Einwirkung des Luftsauerstoffs oxydieren,
und es könnte bei dieser Oxydation im Sinne der
Traube'schen Theorie sich Wasserstoff-^uper-
oxyd bilden, das dann seinerseits in den eigent-
lichen Atmungsprozeß eingreift. Es ist aber auch
möglich, daß die Atmungspigmente die Rolle der
Peroxyde übernehmen im Sinne der Bach Cho-
dat' sehen Theorie und dann noch viel unmittel-
barer in den Atmungsvorgang einereifen als bei
der ersten Annahme. In beiden Fällen sind sie
von größter Bedeutung bei der Erklärung der
Atmungserscheinungen, und es ist zu hoffen, daß
ihr näheres Studium noch viel Aufschluß über
diesen wichtigsten Vorgang, des Stoffwechsels
geben wird.
Die Atmungspigmente würden innerhalb des
pflanzlichen Organismus dieselbe Rolle spielen,
wie die Blutfarbstoffe im tierischen Organismus.
Es würde sich dann als wichtige Folgerung er-
geben, daß auch der Blutfarbstoff, das Oxyhämo-
globin, eleichsam ein Peroxyd darstellt, das ver-
mittels Oxydasen, die in den Blutkörperchen und
im Gewebe vorhanden sind, seinen Sauerstoff an
die oxydablen Stoffe abgibt. Da auch das farb-
lose Blut niederer Tiere sich bei Luftzutritt durch
Vermittlung von Oxydasen färbt, also ebenfalls
Atmungschromogene enthält, so ergibt sich daraus
eine weitgehende Übereinstimmung des Mecha-
nismus der Atmung innerhalb des gesamten
organischen Reiches, eine Folgerung, die eine
starke Stütze für die hier vorgetragenen Auf-
fassungen bildet, so sehr sie eine weitere
Forschung im einzelnen auch noch ergänzen und
berichtigen mag.
Kleinere Mitteilungen.
Antike Vererbung.stheorien. Vor mir liegen
drei starke Bände, betitelt „Hippokrates sämtliche
Werke". Sie enthalten 55 Abhandlungen me-
dizinischen Inhalts, die jedoch nur zum Teil den
großen koischen Arzt selbst zum Verfasser haben.
Außer ihm haben zahlreiche andere griechische
Ärzte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts an
dieser Schriftensammlung mitgearbeitet, die in
ihrer Gesamtheit ein gutes Bild von dem Stand
der medizinischen und damit auch der biologischen
Wissenschaft ihrer Zeit gewährt.
Von besonderem Interesse sind die Speku-
lationen der hippokratischen Ärzte über die Ver-
erbung. In der Schrift über den Samen wird
behauptet, daß sowohl der Mann als auch das '
Weib Samen absondere, weshalb das Kind beiden
Eltern in irgendeiner Beziehung gleichen müsse
und weder dem Vater allein noch der Mutter
allein noch auch keinem von beiden ähnlich sein
könne.
Ferner nimmt der Verfasser dieser Schrift an,
daß der Same in beiden Geschlechtern von allen
Teilen des Körpers herkomme. Von schwachen
Teilen soll schwacher, von kräftigen Teilen kräftiger
Samen ausgehen. Daher seien die schwachen
Teile des elterlichen Körpers auch beim Kinde
schwach, die kräftigen kräftig. Wenn von einem
Teil des männlichen Körpers mehr Samen ausgehe
als von dem entsprechenden Teil des weiblichen
Körpers, so gleiche das Kind in diesem Teile mehr
dem Vater, wenn dagegen von einem Teil des
weiblichen Körpers mehr Samen ausgehe, als von
dem entsprechenden Teile des männlichen Körpers,
so gleiche das Kind in diesem Teile mehr der
Mutter.
Auffallend ist die Ähnlichkeit dieser hippo-
kratischen Vererbungstheorie mit der von Darwin
aufgestellten Pangenesishypothese, nach der von
allen Zellen des Körpers kleine Keimchen ab-
gesondert werden, die sich in den Geschlechtszellen
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. I
sammeln und in der folgenden Generation wieder
zu den Zellen heranwachsen, von denen sie ab-
stammen. Eine notwendige Folgerung aus dieser
Theorie ist die von anderer Seite, besonders von
der W e i s m a n n ' sehen Schule so heftig bestrittene
Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften. Diese
wird denn auch von den Hippokratikern an-
genommen.
In der dem Hippokrates selbst zugeschriebenen
klassischen Schrift „Über Luft, Wasser und Ört-
lichkeit" ist u. a. von dem asiatischen Völkerstamm
der Makrozephalen die Rede. Bei diesen galten
die mit langen Köpfen ausgestatteten Menschen
für Angehörige der edelsten Rasse, weshalb bei
den Neugeborenen der Kopf durch Binden künstlich
in die Länge gepreßt wurde. „Im weiteren Ver-
lauf der Zeit aber", schreibt Hippokrates,
„wurde der Brauch zur Natur, so daß man ihn
nicht mehr nötig hatte Denn der Same geht
von dem gesamten Körper aus, gesunder von ge-
sunden Teilen, krankhafter von krankhaften Teilen.
Wenn nun von Kahlköpfigen Kahlköpfige, von
Blauäugigen Blauäugige, von Schielenden Schielende
in der Regel erzeugt werden und bei anderen
körperlichen Gebrechen dasselbe Gesetz obwaltet,
was hindert da, daß von Langköpfigen Langköpfige
gezeugt werden ?" Doch fügt der große griechische
Arzt hinzu, daß die Kinder der Makrozephalen
jetzt nicht mehr in derselben Form wie früher
auf die Welt kommen, da der Brauch wegen der
Nachlässigkeit der Menschen nicht mehr in Blüte
stehe. Hippokrates glaubt also, daß die ur-
sprünglich künstlich erworbene und später vererbte
Veränderung der Kopfform nicht von Dauer ist,
sondern daß einige Zeit nach Aufhören der künst-
lichen Einwirkung ein Rückschlag in die natürliche
Form des Kopfes erfolgt. —
Die Vererbungstheorie der Hippokratiker wurde
später von Aristoteles in seinen bewunderns-
würdigen „Fünf Büchern von der Zeugung und
Entwicklung der Tiere" bekämpft. Doch behauptet
auch er die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften
und belegt sie durch folgende Fälle: Wenn die
Eltern Narben hatten, wurde auch bei ihren Kindern
an derselben Stelle das Zeichen der Narbe be-
obachtet. In Chalcedon zeigte sich bei dem Kinde
eines Mannes, der auf dem Arm ein Brandzeichen
hatte, derselbe Buchstabe, nur verwischt und nicht
scharf ausgeprägt. Auch die Erscheinung der
unterbrochenen Vererbung war Aristoteles be-
kannt. Er erzählt, daß in Elis ein Mädchen mit
einem Mohren Umgang hatte, wobei nicht ihre
Tochter, sondern deren Sohn von schwarzer Farbe
war. Aristoteles teilt aber diese Tatsachen
nicht nur mit, sondern sucht sie auch durch eine
Vererbungstheorie zu erklären, wobei er zugleich
die Ursachen der Entstehung männlicher und
weiblicher Individuen berücksichtigt.
Das Erzeugende, lehrt er, wirkt in verschiedenen
Richtungen, als Mann, als Individuum und als
Mensch. Der Antrieb in einer Richtung kann zu-
grundegehen, dann schlägt er in das Gegenteil
um, der des Vaters in den der Mutter, der des
Vaterindividuums in den des Mutterindividuums.
Der Antrieb kann auch geschwächt werden, dann
geht er in den nächstliegenden Antrieb über, in
den des Vaters des Erzeugers oder bei stärkerer
Schwächung in den des Großvaters oder einer
noch früheren Generation. Die Ursache, daß die
Antriebe unterliegen, besteht entweder in ihrer
geringen Kraft und Wärme oder in der Kälte des
zu bewältigenden Stoffes. Die Ursache der
Schwächung der Antriebe liegt in der Gegen-
wirkung des Stoffes. Aus der .Anwendung dieser
allgemeineu Prinzipien ergeben sich für Aristo-
teles folgende, die Vererbungstatsachen be-
leuchtenden Gesetze:
Wenn der vom Vater ausgehende Antrieb in
allen Beziehungen überwiegt, so entsteht ein
Knabe, der dem Vater ähnlich ist. Wenn der
vom Vater in seiner Eigenschaft als Mann aus-
gehende Antrieb überwiegt, der vom Vater als
Individuum ausgehende aber nicht, so entsteht ein
Knabe, der der Mutter ähnlich ist. Wenn der vom
Vater in seiner Eigenschaft als Mann ausgehende
Antrieb unterliegt, der vom Vater als Individuum
ausgehende aber nicht, so entsteht ein Mädchen,
das dem Vater ähnlich ist. Wenn der vom Vater
in seiner Eigenschaft als Mann und als Individuum
ausgehende Antrieb unterliegt, so entsteht ein
Mädchen, das der Mutter ähnlich ist. Wenn der vom
Vater in seiner Eigenschaft als Mann ausgehende
Antrieb erhalten, der von ihm als Individuum aus-
gehende aber geschwächt wird, so entsteht ein
Knabe, der dem Großvater oder einem der früheren
Vorfahren ähnlich ist. Wenn der vom Vater in
seiner Eigenschaft als Mann und Individuum aus-
gehende Antrieb bewältigt, der von der Mutter als
Individuum ausgehende aber geschwächt wird, so
entsteht ein Mädchen, daß der Großmutter oder
einem früheren mütterlichen Vorfahren gleicht.
Wenn alle Bewegungsaniriebe geschwächt werden,
so gleicht das Junge keinem der Angehörigen und
Verwandten mehr, sondern es bleibt nur das ihnen
allen Gemeinsame, daß es ein Mensch ist. In
äußersten Fällen wird der Bildungstrieb so weit
geschwächt, daß das Kind nicht mehr menschliches
Wesen ist, sonderm einem Tier gleicht, also eine
Mißgeburt darstellt.
Wenn diese Vererbungstheorie des Aristo-
teles auch keine wirkliche Erklärung der Er-
scheinungen bietet, so läßt sie doch erkennen, mit
welchem Eifer bereits die alten griechischen Denker
das Vererbungsproblem zu lösen versuchten.
Walther May, Karlsruhe.
Ein Beispiel für die Beeinflussung lokaler Faunen
durch den Weltkrieg. Außerordentlich groß ist
zwar das Verbreitungsgebiet der Elster (Pica pica
Linne) in Deutschland und doch finden sich Be-
zirke, in denen es zahlreiche Bewohner gibt, die
noch kein lebendes Exemplar dieses Vogels im
Freien beobachtet haben. In der nächsten Um-
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
gebung von Frankfurt a. M. nördlich des Mains
konnte man vor dem Krieg keine Fister finden.
Man mußte schon bis an den Fuß des Taunus
wandern, um diesen schönsten unserer Rabenvögel
anzutreffen. Dort hauste er in den kleuien Ge-
hölzen am Rande üppiger Wiesen in der Umgegend
von Oberusel und fiomburg v. d. Höhe, doch
war seine Anzahl dank den Nachstellungen, die
er seitens der Jäger zu erdulden hatte, nur ver-
hältnismäßig gering.
Seit Herbst 1914 machte sich aber eine auf-
fallende Vermehrung der Elster bemerkbar und
es ließ sich feststellen, daß immer weitere Gebiete
des Vortaunus von ihr bevölkert wurden. Im
Frühjahr dieses Jahres (10. Mai 1916) konnte ich
in der Nähe von Fschersheim, einem Vorort
Frankfurts etwa 2 Wegstunden von Oberursel
entfernt, wo seither von mir keine Elstern fest-
gestellt wurden, ein Elsiernpaar sichten. In einem
dichten alten Obstgarten halte es Wohnung ge-
nommen. Im Laufe des Jahres nahm die Zahl
der Vögel zu, einmal durch die erbrüteten Jungen,
dann aber auch wohl durch neue Zuzügler. Sie
haben jetzt schon Besitz ergriffen von mehreren
in der Nähe des vorerwähnten Obstgartens lie-
genden Gärten und kleinen Waldanlagen
Wie ist dieses plötzliche Auftreten der Elster
in einem Bezirk, der jahrzehntelang elsternfrei war,
zu erklären? Wohl nur dadurch, daß infolge
des Krieges und der dadurch bedingten mäßigen
Ausübung der Jagd der Abschuß der Elstern im
Taunubvorland so sehr abgenommen hat, daß die
Vögel genötigt waren, sich andere Raub- und
Futierplatze zu suchen. Vom Standpunkt des
Vogeüreundes ist diese Zunahme des prächtigen
Rabenvogels, der durch auf ihn gesetzte Schuß-
prämien vogelfrei geworden der Ausrottung nahe
war, nur zu begrüßen. Einer Überhandnähme des
Nestplünderers und Räubers der Klcinvogelwelt
wird nach dem Kriege schon Schranken gebogen
werden. Sicherlich lassen sich solche Beobach-
tungen von Änderungen der lokalen Faunen in-
folge des Krieges noch mehr anstellen, und ich
wäre für deren gelegentliche Mitteilung dankbar.
Fr. Keyl.
Einzelberichte,
Botanik. Über das Altern der Pflanzen.
Untersuchungen, die im Laufe der letzten Jahre
von einer Reihe von Autoren an Einzelligen aus-
geführt wurden, haben ergeben, daß Einzellige
unter dem Einfluß von Stoffwechselprodukten einer
Degeneration und schließlich dem Tode verfallen
(Enriqucz, Popoff, Woodruff). Die Unter-
suchungen an Einzelligen haben auch gezeigt, daß
die Teilungsgeschwindigkeil durch den Einfluß
von Stoffwechselprodukten herabgesetzt wird. Da
nun die Wachstumsgeschwindigkeit eines viel-
zelligen Organismus durch die Teilungsgeschwin-
digkeit der Zellen, aus denen er aulgebaut ist,
bedingt wird, so ist von vornherein die Annahme
gerechtfertigt, daß auch die allmähliche Abnahme
der Wachsiumsintensität vielzelliger Organismen
und der schließliche Stillstand ihres Wachstums
eine Wirkung von Stoffwechselprodukten ist, die
im Zellenverband des vielzelligen Organismus zur
Anhäufung gelangen. Und man hat auch in eigens
darauf gerichteten Versuchen an vielzelligen Orga-
nismen (Schnecken, Karpfen, Kaulquappen, Da-
phnien) feststellen können, daß unter dem Einfluß
von Stofiwechselprodukten im Kulturmedium eine
Verlangsamung des Wachstums eintritt.
Ahnliche Versuche sind auch an Pflanzen aus-
geführt worden. So hat Whitney gefunden, daß
ein wässeriger Extrakt aus erschöplltm Boden
einen hemmenden Einfluß auf das Wachstum der
Pflanze ausübt. Die Wachsiumshemmung war
um so ausgesprochener, je stärker konzentriert der
für den Versuch verwendete Extrakt war.
Zlataroff) hat nun eine Reihe von Versuchen
mit Keimlingen der Kichererbse ausgeiührt, in
denen der Einfluß von Harnstoff, Guanidinkarbonat,
Ammoniak und Wasserglas (in der jungen Pflanze
der Kichererbse häuft sich Siliciumdioxyd an), die
als Stoffwechselprodukte in Betracht kommen, auf
das Wachstum der Keimlinge verfolgt wurde. Auch
der Einfluß eines Extraktes aus etwa einem Monat
alten etiolierten Keimlinge der Kichererbse auf
das Wachstum wurde untersucht. Die Versuche
wurden in der Weise ausgeführt, daß die Samen zu-
nächst 10 Tage lang der Keimung über destilliertem
Wasser überlassen wurden, um dann auf die ver-
schiedenen Versuchsflüssigkeiten verteilt zu werden.
Das Ergebnis war, daß in allen erwähnten
Lösungen das Wachstum der Keimlinge
eine Hemmung erfuhr. Die schädliche
Wirkung der Lösungen zeigte sich auch darin,
daß die Turgeszenz der Keimlinge abnahm.
Wurden die geschädigten Keimlinge aus den
Versuchsflüssigkeiten über eine Knoop'sche
Lösung gebracht, der Pflanzenlecithin, Rhamnose
oder Glanutosterin (ein von Zlataroff aus den
Samen der Kichererbse isoliertes und chemisch
definiertes Phytosterin) beigegeben waren, so er-
holten sich sämtliche Keimlinge wieder. In einer
-Knoop 'sehen Lösung dagegen erholte sich nur
eine geringe Anzahl der geschädigten Keimlinge.
Die Versuche von Zlataroff, die mit che-
misch wohldefinierten Stoffen ausgeführt wurden.
') As. Zlataroff, Über das Allern der Pflanzen. Zeit-
schrift f. allgem. Physiologie., Bd. 17, 1916, S. 205—209.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 1
die als Abbauprodukte von Eiweißstoffen bekannt
sind, bestätigen die Auflassung, daß die im Laufe
der oiitogenetischen Entwicklung der vielzelHgen
Organismen einsetzende Wachsuimshemmung, die
in Alter und Tod ausläuft, auf einer lähmenden
Wirkung von Stoftvvechselprodukten beruht. ^)
Die ein- und zweijährigen Ptianzen unterscheiden
sich in dieser Beziehung nicht von den Tieren.
• Eine sehr inieressanie Frage ist es, ob die
wirksamen Stoffwechsciprodukie spezifischer oder
nicht spezifischer Natur sind. Au Einzelligen hat
Woodruft gezeigt, daß bei ihnen Stoffwechsci-
produkie gebildet werden, die hemmend aut die
Teilungsgeschwindigkeit nur der einen bestimmten
Spezies wirken. Aber es ist natürlich nicht aus-
geschlossen, daß auch nicht spezifische Stotfwechsel-
produkte gebildet werden, d. h. solche, die auch
auf andere Arten wirken. Vor kurzem hat
Molliard -') Versuche über den Einfluß von
Stoffwechselprodukien der Erbse angestellt und
er ist zur ÜDerzeugung gelangt, daß die Stoff-
wechsciprodukie der Erbse nicht auf das Wachs-
tum von Erbsenkeimhngen, sondern auch von
anderen Arten einen hemmenden Einfluß aus-
zuüben vermöchten. Die Arbeil von Molliard
ist dem Ref. im Original bisher leider nicht zu-
gänglich gewesen. Alex. Lipschütz.
Zoologie. Brutdauer und erste Jugendstadien
des Bartgeiers Gypactiis barbatits L. In dem von
König Ferdinand I. untertialicnen zoologischen
Garten in Sofia ist vergangenen VVmier zum
ersten Mal die Zucht des Bartgeiers in Ge-
fangenschaft gelungen. Darüber berichtet
Ad. Schümann.^; Im Garten werden 4 Bart-
geier gehalten. Zwei Stück waren seit 3 Jahren
gesondert in einem Flugkahg untergebracht. Am
20. Dezember 1915 wurde die Paarung dieser
beiden Geier beobachtet. Am 30. Dezember 1915,
als das Thermometer in Sofia bis zu 29" C Kalte
zeigte, fand sich am Morgen ein frischgelegtes
El vor. Das Weibchen begann sofort mit seiner
Bebrütung. Am 3. Januar 1916 lag ein zweites
Ei im Nest.
Die für den Bartgeier bisher unbekannte Brut-
dauer konnte bei diesem Anlaß festgesieüt werden,
indem sich beide Eier als befruchtet erwiesen.
Sie betrug 55 Tage, was sehr lang ist. Das
erstgelegie Ei kam am 2j. Februar aus. Am
27. scheint das zweite Junge ausgeschlüpfi zu sein;
dasselbe wurde aber durch die Alten getötet und
zum größten Teil aufgefressen. Dieser Umstand
würde der Behauptung recht geben, daß der
Bartgeier stets nur ein Junges aufziehe.
') Vgl. die zusammenfassende Darslellung von L i p s c ti ü t z ,
Allgemeine Physiologie des Todes. Braunschweig 1915.
^j Marin Molliard, Revue generale de Botanique,
Bd. 27, 1915, p. 2S9— 296.
^J Ad. Schumann, Erfolgreiche Zucht von Gypaetus
barbatus im Königlich Zoologischen Garten von Sophia.
„Zoologischer Beobachter", Frankfurt a. M., 1916, S. 209 — 216.
An der Fütterung des Jungen beteiligte sich
auch das Männchen. Das Junge wurde nicht aus
dem Kropf gefüttert, sondern es wurden dem-
selben ganz kleine Stückchen Fleisch vorgehalten,
die es dann den Allen aus dem Schnabel nahm.
Die Eltern kauien das Fleisch gewissermaßen vor.
Der frisch geschlüpfte Bartgeier zeigte ein
weißes, wolliges Dunenkleid. Der verhältnismäßig
große, schwere Kopf, den das lierchen nicht
tragen konnte, ruhte mit der Schnabelspitze am
Boden. Die dunklen Augen waren schon am
ersten Tag geöffnet. Am 14. März, also im Aller
von 3 Wochen, war der junge Geier etwas größer
als eine ausgewachsene Haustaube. Er war schon
ziemlich beweglich und nahm Fleischsiückchen
aus der Hand des Wärters. Die weißen Dunen
waren aut Rücken und Kopf ca. i cm lang, in
der Achselgegend und am Hals jedoch kaum 2 mm.
Die Federhuren waren bereits deuUich erkennbar,
aber es zeigte sich noch keine Spur von Kielen.
Am 23. März wurden am Kopf des jungen Bart-
geiers ganz kleine schwarzbraune Flaumtederchen
entdeckt. Die Farbe des Dunenkleides zeigte
einen Strich ins Blaugraue. Die dunkle charakte-
ristische Kopfzeichnung des Bartgeiers war schon
vom Alter von 14 Tagen an erkennbar.
Dieser ganz unerwartete Zuchterfolg hat eine
Anzahl Fragen über das Leben des Bartgeiers
gelöst, oder doch ihrer Lösung näher gebracht.
A. Heß.
Isoplankten. Nennen wir die Linien gleicher
hydrographischer Eigenschalten des Meerwassers,
wie die Isohalinen und Isothermen, zusammen-
fassend Isohydren, so können wir, lührt Loh-
mann'j aus, die Linien gleicher biologischer
Eigenschatten Isobien nennen. Kommen nur
Flanktonorganismen in Frage, so spricht L o h m a n n
von Isopia nkien. Kurven gleicher Volksdichte
einer planklonischen Oiganismenart sind Isone-
phen; andere Isoplankien wären die Linien gleicher
Arienzahl, gleicher Flanktonmassen und andere
mehr. Seit 1912 hat Loh mann sich bemüht,
Isoplankten, und zwar Isonephen, tur Organismen
des Nannoplaiuons im Ailaniischen Ozean nach
zeiitrifugierten Wasserproben von 300 ccm zu
zeichnen. Er legt jetzt die Ergebnisse nament-
lich für einige Coccohthophoriden, also kleine
kalkhaltige Mageilaten, vor, zunächst Veriikal-
schniiie durch das M^er längs der Fahrt der
„Deutschland" vom 7. Mai bis 7. September 1911
von Hamburg nach Buenos Aires; sie lehren, daß
das Maximum von Calyptrosphaera oblonga Lohm.,
wo bis 4Ö8 Stück des Organismus in i l Wasser
leben, etwa bei 45" w. L. und 25" n. Br. und
zwar ungelähr in lOO m Tiefe hegt, umgeben
— auf der Querschnitiskarte — von ring-
') H. Loh mann: Neue Untersuchungen über die Ver-
teilung des Planktons im Ozean. Sitzungsber. d. Gesellschaft
naturlorsch. Freunde, Berlin, Jahrg. 191Ö, Nr. 3, S. 73—126.
10 Textfig., I Tabehe, 2 Taf.
N. F. XVI. Nr. 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
förmigen geschlossenen Isonephen von charakte-
ristischer Gestalt. Südlich vom Äquator, im Süd-
äquatorialstrom, wurde in etwas geringerer Tiefe
das Zentrum der scharf umschlossenen Volksmasse
von Coccolithophora fragilis gefunden, während
das von Fontosphaera huxleyi. über looo Indivi-
duen im Liter, dort an der Oberfläche liegt und
die Isonephen um diesen Punkt nach der Tiefe
hin eine Asymmetrie haben, eine doppelte insofern,
als bis etwa 125 m Tiefe das Maximum für die
jeweilige Tiefe nördlich von jenem Oberflächen-
maximum liegt, in Tiefen von 250 — 400 m aber
90° 80» 70° 60 50^ 40° 30° 20^ 10 0 10 20
:ntwurf einer Dichte- Verbreitungskarte von Fontosphaera huxleyi.
Nach Lohmann, Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde, Berlin,
Jahrg. 1916, Nr. 3 |S. Ilo).
südlich von ihm. In ähnlicher Weise zeichnet
Loh mann die vertikalen Kurven für bestimmte
Teile der Fahrt für eine Englenide, für die Zoo-
flagellate Rhynchomonas marina, für die Coccolitho-
phoride Syracosphaera pulchra Lohm., für nackte
Flagellaten und für alle Diatomeen. Syracosphaera
im Nordäquatorialstrom hatte im Kern der Volks-
masse ein Minimum, das Gebiete größerer Volks-
stärke bogenförmig umlagern, vermutlich infolge
davon, daß das Volk in seinen zentralen Teilen
Ruhestadien oder nackte Schwimmer bildete, die
der Zählung entgehen, oder ein einfaches .A.b-
sterben eingetreten war. Auf einer Tafel werden
einige Ouerschnitte längs der ganzen Fahrt an-
gefügt. Äußerst mannigfach ist das so gewonnene
Bild für Fontosphaera huxleyi, die am weitesten
verbreitete Art unter den Coccolithophoriden.
Erst unterhalb etwa 150 m Tiefe wechseln Fund-
gebiete und Freigebiete dieser .-^rt miteinander
ab und halten sich etwa das Gleichgewicht, dar-
über sind die Volksmassen offenbar miteinander
verschmolzen.
Solche und andere Kurvenbilder der Fahrt-
schnitte beweisen zunächst die Brauchbarkeit der
von Loh mann ersonnenen Methode und haben
jedes für sich hohes Interesse, doch mag es hier
wohl zu weit führen, sie alle einzeln zu besprechen.
Um nun nach diesen Fahrtschnitten ein Bild von
der wirklichen Verbreitung der Volksdichte der
Arten im Ozean zu erlangen, stehen wir freilich
vor derselben Schwierigkeit ,.als wenn man von
einem noch nicht näher bekannten Organismus
nichts weiter als einen einzigen Längsschnitt hätte
und daraus Schlüsse auf den Bau des Tieres
ziehen wollte". Doch gibt uns „das, was wir von
den hydrographischen Verhältnissen des Wohn-
raums und den biologischen Eigenschaften der
betreffenden Arten wissen, wichtige Hinweise dar-
auf, wie wir diese Schnittbilder in Wirklichkeit
zu ergänzen haben". Solche Abbildungen, wie
wir deren eine nebenstehend wiedergeben, ver-
mitteln also zunächst nur eine hypothetische Vor-
stellung, deuten aber das Ziel an, zu welchem die
methodische Fortsetzung solcher Untersuchungen
führen muß. V. Franz.
Physik. Eine hübsche Methode zur Analyse
schwingender Tropfen beschreibt V. Kutter in
der Fhysikal. Zeitschr. XVII, 424 (1916). Läßt
man aus mäßiger Höhe Tropfen einer verdünnten
Kaliumpermanganatlösung in eine Ferrosulfatlösung
fallen, so entsteht beim Eindringen des Tropfens
in die Flüssigkeitsoberfläche ein schön ausgebildeter
Wirbel ring, der bis zu einer gewissen Tiefe
eindringt, um dann zu zerfallen. Beim \''ermischen
der beiden Lösungen verschwindet die rote Farbe
der Permangatlösung wegen der Reduktion durch
das Eisensalz; man kann also mit der gleichen
F"lüssigkeitsmenge den Versuch häufig wieder-
holen. Man kann auch eine stark verdünnte salz-
saure Lösung von Antimonchlorid in reines Wasser
tropfen lassen und erhält dann milchig trübe bis
weiße Wirbelringe. Man sollte nun erwarten, daß
wenn man die Fallhöhe der Tropfen steigert, die
Wirbelringe bis zu größerer Tiefe in die Flüssigkeit
eindringen. Das tritt aber nicht ein, vielmehr
beobachtet man folgendes: zunächst nimmt die
Einsinktiefe der Wirbelringc zu, wird dann wieder
kleiner, um bei weiterer Vergrößerung der Fall-
höhe der Tropfen wieder bis zu dem ersten
Maximum zu steigen und so fort. Es findet also
ein ganz regelmäßiges periodisches Schwanken
zwischen einem höchsten und einem niedrigsten
Wert der Einsinktiefe statt. Diese Erscheinung
erklärt sich dadurch, daß jeder fallende Tropfen
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
ellipsoidische Schwingungen um die Kugelgestalt
ausführt, und zwar steht die große Achse des
Ellipsoids abwechselnd vertikal und horizontal,
zwischen diesen beiden Extremen hat der Tropfen
einen Augenblick Kugelgestalt. Wenn er nun
auf die Flüssigkeitsoberfläche auftrifft, so findet
an der Berührungsstelle ein sofortiges Zusammen-
fließen der beiden Flüssigkeitsmassen statt, so
daß in diesem Augenblick der Tropfen als eine
Ausbuchtung der Flüssigkeitsoberfläche nach oben
erscheint. Eine solche beseitigt aber die Ober-
flächenspannung und zwar mit einer Kraft, die der
Größe der Deformation proportional ist. Ist nun
die Fallhöhe des Tropfens gerade eine solche,
daß er im Augenblick des Auftreffens die Gestalt
eines Ellipsoids mit vertikaler großer Achse hat,
so ist die Ausbuchtung nach oben die größt-
mögliche, während sie, wenn die große Achse
horizontal liegt, am kleinsten ist. Im ersteren Fall
erreicht der Wirbelring seine größte, im letzteren
seine kleinste Einsinktiefe, während sie für den
kugelförmigen Tropfen eine mittlere ist. Steigert
man die Fallhöhe des Tropfens um eine Strecke,
daß sich die Tiefe seines Eindringens von einem
Maximum bis zum nächsten verschiebt, dann hat
der Tropfen während des Durchfallens dieser
Strecke eine volle Schwingung ausgeführt, deren
Dauer sich mittels der Fallgesetze aus den beiden
Fallhöhen berechnen läßt. Die Periode der
Schwingungen hängt vom Tropfengewicht und
der Oberflächenspannung der Flüssigkeit ab;
letztere ergab sich zu 7,378 — -. Die genauere
Untersuchung zeigt weiter, daß die beiden Halb-
perioden der Schwingung nicht gleich sind; es
lagern sich vielmehr über die Hauptschwingung
Oberschwingungen, welche die Symmetrie der
Hauptschwingung zerstören. — Die Methode, aus
der Periode der Tropfenschwingung die Ober-
flächenspannung zu ermitteln, hat vor der anderen
(statischen) Methode den Vorteil, daß man es
mit ganz frischen Oberflächen oder solchen von
genau meßbarem Alter zu tun hat. Bekanntlich
ist die Oberflächenspannung einer reinen und
frischen Wasseroberfläche besonders groß, sie wird
indessen sehr bald geringer, da sich meistens
irgendwelche Verunreinigungen (Spuren von Fetten,
Dämpfen) auf ihr ausbreiten. Schon vor längeren
Jahren ist die Oberflächenspannung von Flüssig-
keiten von Lenard nach der Methode der
schwingenden Tropfen gemessen worden, doch
auf andere Weise. Beobachtet man die von einem
Wasserhahn herabfallenden Tropfen (oder auch
Regentropfen), so sieht man, daß dieselben in
ganz bestimmten Entfernungen unter dem Hahn
hell aufblitzen; der Reflex tritt immer dann auf,
wenn der Tropfen nach Vollendung einer
Schwingung wieder dieselbe Gestalt angenommen
hat. Dadurch, daß an einer vertikalen Skala der
Abstand der Reflexe bestimmt wird, kann man
ihre Schwingungsdauer und daraus ihre Ober-
flächenspannung berechnen. K. Seh.
Albert Heim. Geolog
Lieferung i. Leipzig 19 16. Chr Herm. Tauch-
nitz. Ca. 10 Lieferungen a 6 M.
Wem es beschieden ist, in der geologischen
Erforschung eines Landes seine ganze Lebens-
arbeit aufzuopfern, der hat ein Anrecht darauf,
Rückblick zu halten auf das Geschaffene und eine
zusammenfassende Übersicht über die gewonnenen
Resultate seiner Zeit zu geben. Und wem zum
Wissen noch das Lehrgeschick gegeben ist, wie
es ein Albert Heim besitzt, von dem wird man
mit Spannung ein Buch entgegen nehmen, wie
es die vorliegende i. Lieferung der Geologie der
Schweiz einleitet. Sagen wir es zum vorneherein :
Jede Seite der vorliegenden Geologie ist Heim-
sche Sprache und tönt uns entgegen, als ob wir
den greisen Geologen von dem Katheder, wo er
so viele Jahre gewirkt, hören würden. Oder ist
seine Einleitung nicht Heim 'sehe Sprache, wenn
er schreibt : „Eine wahre Wallfahrt von Menschen
wandelt alljährlich in die schweizerischen Berge
zur Erholung, zur Stärkung von Geist und Körper.
Von hohen Aussichtswarten bewundern sie mit
uns die henliche Gestaltung der Erdoberfläche.
Alles was wir da vor uns sehen, ist, sowohl in
den großen Formen wie bis in das feinste Einzelne
Bticherbesprechuugen.
der Schweiz, hinein, die Wirkung geologischer Vorgänge. Diese
sind es, welche das vor uns liegende Land so
schön gestaltet haben. Verstandenes zu schauen
ist ein weit edlerer größerer Genuß als Un-
verstandenes anzustaunen. Der Anblick erweckt
das Bedürfnis nach Verständnis. Je weiter wir in
das Verständnis eindringen, desto mehr beseelt
uns das Bewußtsein, daß die Forschung die er-
habenste Pflicht des Menschengeistes ist. In diesem
Sinne ist unsere „Geologie der Schweiz" ge-
schrieben." - —
Schon der erste Abschnitt, die Geschichte der
Geologie der Schweiz, verrät den Mann, der über-
all mitgewirkt hat. Wir verweisen z. B. auf die
ausführliche Würdigung der Geologen Studer
und Esc her. Der historische Abriß über die
Schweiz, geologische Kommission, die geologische
Gesellschaft, die topographische Landesdarstellung
geben uns einen P^inblick in das reiche Arbeiten
der vergangenen hundert Jahre. Auch dem jungen
Geologen wird es nichts schaden, von dem Selbst-
bewußtsein der Gegenwart zu den Arbeiten ver-
gangener Tage zurückzublicken. Und dazu ist
Heim ein vortrefflicher Führer.
Das Buch hält sich an die drei Hauptzonen
des Schweizerlandes, Mittelland, Juraland, Alpen-
N. F. XVI. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
land. So beschäftigt sich der erste Hauptteil mit
dem Alittelland, d. h. Molasseland und Diluvium,
jenem Gebiet, das den Winkel zwischen Alpen
und Jura füllt. Das Wort „Molasse", zuerst von
Saussure gebraucht, bezeichnet in erster Linie
weiche, zerreibliche Sandsteine, im ganzen aber
gemischte Gesteinsarten, die aus der Verwitterung,
Schlämmung und dem Wiederabsatz mächtiger
Gebirgsmassen hervorgegangen sind. Es werden
unterschieden :
Untere Molasse, Sarmatische Stufe und obere
Wienerstufe,
Mittlere Molasse, untere Wienerstufe und
Bordeaux-Stufe,
Obere Molasse, aquitanische und stampischc
Stufe.
Nach einer kurzen Übersicht bespricht Heim
ausführlich die Gesteine der Molasse, als da sind :
Nagelfluh, Sandsteine, Mergel, Kalksteine und
Kohlen. Eine sehr ausführliche Datstellung hat
die Nagelfluh erfahren, wobei eine instruktive
Karte die Ausbreitung derselben angibt. Hier
kommen namentlich die drei großen Gerölldelta
des Napf, des Rigi-Roßberg und zwischen Linth
und Rhein zum Ausdruck. Eine detaillierte
Tabelle gibt Auskunft über die Herkunft der
Nagelfluhgeröllc. Was eine künftige Forschung
uns noch für Aufklärung bringen mag, so viel ist
sicher, daß die subalpine tertiäre Nagelfluh der
Schweiz aus den ursprünglich südlicheren Zonen
der Alpen stammt und von dort zuerst teils durch
Deckenschub, dann durch Abspülung hierher ge-
langt ist und am Alpenrande liegt als der tertiäre
Schutt der jungen beginnenden Alpen." Auch den
besonderen Erscheinungen der Nagelfluhgerölle,
den Eindrücken, der Glättung und Streifung, der
Dislokationsumformung, wird besondere Auf-
merksamkeit erwiesen. Instruktive Textbilder
begleiten das Wort. Im Juraland trifft man außer
der Nagelfluh mit alpinen Gerollen auch noch
eine Nagelfluh mit Gerollen, die von Norden her-
stammen, die man als Juranagelfluh bezeichnet
hat. .Auch diesen Gesteinen wird eine ausführliche
Besprechung gewidmet. Als Hauptabänderungen
der Molassesandsteine führt er an : Kalkige Sand-
steine, granitische Molasse, graue Molasse, platten-
förmige Molasse, Ralligsandsteine, Berner Sand-
steine, Knauermolasse, weiche Sandsteine, gemeine
Molasse, Mergelmolasse, Muschelsandsteine. Jedem
.Abschnitt ist ein ausführliches Literaturverzeichnis
beigegeben, so daß man auf bequeme Weise die
Originalarbeiten zu Rate ziehen kann, wenn man
sich weiter in ein Thema vertiefen will, oder mit
der .Auffassung des Autors sich nicht einverstanden
erklären kann. Das ist ja das Wertvolle an der
„Geologie der Schweiz", wie wir eingangs schon
bemerkt haben, daß Heim überall mit seiner
persönlichen Auffassung nicht zurückhält. Wir
weisen nur auf die Diskussion der Glazialerosion
hin ..(Seite li fif.j.
Über die Illustrationen können wir erst ur-
teilen, wenn weitere Lieferungen vorliegen. Ob
die Anwendung des wirklich kleinen Kleindruckes
ein Vorzug ist, möchten wir sehr bezweifeln.
Der Preis des Werkes mag auf den ersten
Blick hoch erscheinen. Wer sich aber die Mühe
ninmit, die erste Lieferung nur oberflächlich an-
zusehen, der wird unbedenklich dieses Buch seiner
Bibliothek einverleiben. Hans Bachmann.
Anregungen und Antworten.
H. M. in L. Sie schreiben: „Jedem, der im Schützen-
graben gewesen ist, wird der eigentümliche Doppelklang der
Gewehrschüsse aufgefallen sein. Man vernimmt zunächst einen
starken helleren Knall und unmittelbar darauf einen dumpferen,
der jenen kurz abschneidet. Diese eintönigen Doppelkl.inge
sind namentlich nachts sehr charakteristisch. .Außerdem kann
besonders in waldigem Gelände bisweilen noch der rollende
Widerhall hinzukommen, der also keinesfalls die Ursache des
zweiten Schlages sein kann.
Aufier diesen offenbar mit dem Abschuß zusammen-
hängenden Geräuschen hört man noch das eigentümliche
Zischen, Quarren, Wimmern oder Brummen der Geschosse in
der Luft, doch ist es im allgemeinen nicht möglich, etwa
einen einzelnen dieser langgezogenen Töne mit einem be-
stimmten Doppclklang in Zusammenhang zu bringen. Wie
es scheint, sind es nur die von dem Feind gegenüber abge-
gebenen Schüsse, die den Doppelkrach hervorrufen; die aus
dem eigenen Graben kommenden sind nicht von ihm begleitet.
Deshalb macht man auch diese Beobachtung auf dem Schieß-
stand nicht. Doch kann ich mich auch nicht erinnern, den
Doppelklang in der Anzeigerdeckung deutlich gehört zu haben,
wenn ich auch damals nicht darauf geachtet habe. Bei Platz-
patronenschlachten fehlt er sicher. Die Entfernung, aus der
der Feind seh
war 3 — 500 m.'
Auf den doppelten Knall scharfer Schüsse ist man erst
in neuerer Zeit aufmerksam geworden, als man den Geschossen
eine Anfangsgeschwindigkeit von vielen hundert Metern zu
geben verstand. Die Beobachtungen zeigen , daß der erste
scharfe Knall bedeutend schneller anlangt, als sich aus der
normalen Schallgeschwindigkeit in der Luft ergibt, während
die Geschwindigkeit des zweiten dumpferen Knalles diesem
Werte entspricht. Eine Zeitlang glaubte man , daß die
Heftigkeit der Schallerregung die Urs.ache der eigentüm-
lichen Erscheinung sei, E. Mach u. a. haben aber gezeigt,
daß die schnelle Ausbreitung des ersten Knalles auf einer
Art M i t f ü h r u n g des Schalles durch das schnell fliegende
Geschoß beruhe. Der Sehall geht so lange mit dem Geschoß,
als es sich noch mit (jberschallgeschwindigkeit bewegt, und
löst sich von ihm los, sobald die Geschwindigkeit unter die
Schallgeschwindigkeit herabsinkt. Durch den Druck des sich
bewegenden Geschosses wird die vor ihm befindliche Luft
verdichtet; diese Luftverdichtung breitet sich mit Schall-
geschwindigkeit aus. Wenn sich das Geschoß langsamer be-
wegt als der Schall, so werden also die in aufeinander-
folgenden Zeitpunkten entstehenden Verdichtungen hinter-
einander hereilen, d. h. bis auf große Entfernung von dem
Geschoß schiebt sich vor demselben die Luft gleichmäßig
zusammen, aber es kommt nicht zur Ausbildung einer Welle
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
(vgl. Abb. i). Bewegt sich aber das Geschoß schneller als
der Schall, so wird die vor dem Geschoß entstehende Ver-
dichtung bei ihrem Bestreben, sich mit Schallgeschwindigkeit
auszubreiten, von dem Geschoß selbst stets überholt, die in
aufeinanderfolgenden Zeitpunkten entstehenden Verdichtungen
laufen also nicht hintereinander her, sondern kreuzen, durch-
dringen sich. Dadurch entsteht eine scharf ausgeprägte Ver-
dichtungswelle, die sich von dem Geschoß abzweigt, ähnlich
•wie die Bugwelle von einem fahrenden Dampfer (vgl. .•\bb. 2).
Sie erzeugt den zuerst zu hörenden scharfen Knall , während
der an der Gewehrmündung durch das Abfeuern hervor-
gerufene und mit normaler Schallgeschwindigkeit sich aus-
breitende Knall ihm nachfolgt.
Mach hat die von dem fliegenden Geschosse ausgehenden
Schallwellen durch geeignete Methoden sichtbar gemacht.
auf der man sieht, wie auf einer Weide eine Eberesche ge-
wachsen ist. Ich habe Gelegenheit gehabt, ähnliche Be-
obachtungen zu machen. So hatte auf einer Weide sich eine
große Robinia pseudacacia angesiedelt (s. d. Abbildung). Sie
hat lange Jahre gelebt, bis sie ein starker Wind zersplitterte.
In einer Spalte des Stammes einer anderen Weide hatte sich
ebenfalls eine wilde Akazie entwickelt, deren Stamm einen
Durchmesser von 4 cm hatte. Auf dem Kopf einer dritten
Weide hatte sich ein Prunus cerasus von 2 m Höhe und 7 cm
Durchm. entwickelt. In einem anderen Kall habe ich einen
Faulbaum (Rhamnus frangula) auf dem Kopf einer Weide ge-
sehen. Doch können noch sehr viele andere Pflanzenarten
auf Weiden vorkommen; hier eine Liste solcher, die ich selbst
bemerkt habe: Tamus communis, Lamium macu-
latum, Solanum dulcaraara, Sambucus nigra.
Die besondere Gestalt der Geschoßspitze ergab dabei anstatt
einer Kegelwelle eine solche in der Form eines Hyperboloids,
außerdem eine Gliederung in Kopf-, Seiten- und Achterwelle
und endlich eigenartige hinter dem Geschosse sich bildende
Wirbel (vgl. Abb. 3). Die Richtigkeit der angegebenen Er-
klärung wird durch die öfters gemachte Beobachtung be-
stätigt, daß zu kurze Schüsse nur von einem schwachen Knall
begleitet sind, was von Mach auf das Erlöschen der Kopf-
welle zurückgeführt wird.
Das eigenartige Pfeifen, Sausen und Schwirren des Ge-
schosses erklärt sich durch die Reibung desselben an der
Luft. Es entsteht ähnlich wie das kratzende Geräusch, das
der über die Saiten einer Geige hingleitende und sie zum
Tönen bringende Bogen verursacht. (G.C.) Dr. Fr. Nölke.
Hörbarkeit des Kanonendonners. ,,Sehr zahlre
obachter meinten", heißt es iu der Naturw. Wochensch
S. 589, „daß der Schall durch den Boden oder d
Wasserläufe fortgeleitet werde". Ich gestatte mir, hierzu ;
die im Felde ganz gewöhnliche Erfahrung hinzuweisen, c
man entfernte Kanonaden stets am deutlichsten in Unterstänc
vernimmt. Sobald man aus dem Unterstande nur in c
Graben heraustritt, hört man viel weniger oder unter Ü
ständen nichts mehr. (G.C) Dr. V. Franz.
he Be-
Nr. 41,
•ch die
Über die Flora der Weiden. Kein Baum ist
eine reiche epiphytische Flora zu beherbergen, wie
Das Studium der Pflanzen, die auf dem Kopf oder
Höhlungen der Weidenstämme leben, würde sehr
sein. Nicht nur kleine Pflanzen, sondern auch Bäume
auf Weiden eine Entwicklung finden. So hat G. K
schöne Photographie veröft
dieser Zeitschrift '
geneigt,
Weide.
ntlicht,
Achillea millefolium, Taraxacum officinale,
Oxalis acetoseUa, Stellaria media, Geranium
sanguineum, Viola odorata, V. canina. Barbare a
sp., Malva silvestris, Rubus discolor, Fragaria
vesca, Chelidonium majus, Rumex acetosa,
Urtica dioica, Parietaria officinalis, Humulus
lupulus, Polypodium vulgare, Aspidium fili.x mas.
Die mit verschiedenfarbigen Blüten und Beeren geschmückten
Weiden gewähren einen schönen Anblick. Wie können alle
diese Pflanzen auf den Weiden sich entwickeln ■ Es ist sehr
wahrscheinlich, daß nicht nur der Wind, sondern auch Tiere,
die Keime dieser Pflanzen auf die Weiden verbreiten.
B. Galli-Valerio.
'J 1916 S. 591.
Inhalt: Egon Eichwald, Atmung und Gärung. S. i. — Kleinere Mitteilungen: Walther May, Antike Vererbungs-
theorien. S. 9. Fr. Keyl, Ein Beispiel für die Beeinflussung lokaler Faunen durch den 'Weltkrieg. S. 10. —
Einzelberichte: Zlataroff, Über das Altern der Pflanzen. S. il. Ad. Schumann, Brutdauer und erste Jugend-
stadien des Bartgeiers Gypaetus barbatus L. S. 12. Loh mann, Isoplankten. S. 12. V. Kutter, Analyse schwingender
Tropfen. S. 13. — Bücherbesprechungen: .Albert Heim, Geologie der Schweiz. S. 14. — Anregungen und
Antworten: Doppelklang der Gewehrschüsse. S. IS. Hörbarkeit des Kanonendonners. S. 16. Über die Flora der
Weiden. S. 16.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 14. Januar 1917.
Nummer 3.
Eine merkwürdige Naturerscheinung im Jordantal.
Dr. Carl Schoy, Essen
Mit 3 Abbildungen.
Es dürfte sich auf unserem Erdball nicht so
leicht eine zweite Stelle mit ähnlichen klima-
tischen und physikalisch geologischen Sonder-
heiten finden, wie sie jener dem irdischen Ant-
litz tief eingerissenen Grabenfurche eigen sind,
die heute der Jordan von Nord nach Süd durch-
strömt und die in ihrem tiefsten Teile vom Toten
Meer erfüllt ist. Die Beduinen nennen dies Tal
El-Ror (die Einsenkung), den Jordan Scheriat el-
Kebire (die große Tränke) und das Tote Meer
Bahr el-Lut (Meer des Lot). Aber nicht nur
bis hierher zerbarst einst eine langgestreckte
Erdscholle in einen tiefen Schlund: die Wir-
kungen dieses katastrophalen Ereignisses reichen
heute noch weit durch das Wädi el-'Araba bis
zur Küste des roten Meeres, ja selbst bis ins
äquatoreale Afrika hinein. Es ist insbesondere
das Verdienst Professor M. Blanckenhorn's
uns diesen interessanten Teil Palästinas klima-
tisch , meteorologisch und geologisch erschlossen
zu haben. Die Resultate seiner Palästinafor-
schungen hat Blanckenhorn in einer Anzahl
Schriften niederlegt, von denen für uns in erster
Linie die „Naturwissenschaftlichen Studien am
Toten Meer und im Jordantal" '), sowie „Syrien,
Arabien und Mesopotamien" -) in Betracht
kommen.
So gewaltig war dereinst der Sturz einer
Landmasse zur Tiefe, daß sich schon vom See
Genezareth an die Talsohle 208 m unter den
Spiegel des Mittelmeeres senkt, um am Toten
Meer die Zahl — 393 m zu erreichen. Dazu
hat das altbekannte „Meer der Wüste", das „Salz-
meer" der Israeliten, oder der „Asphaltsee" der
Griechen, selbst eine größte Tiefe von 401 m,
so daß die Gesamttiefe der Erdspalte — 794 m
beträgt. Wer vom Ölberg (-j- 806 m) zu dieser
Stätte der Verwerfung hinunterpilgert, steigt nicht
weniger als 1200 m hernieder, während das Baro-
meter bei dem Druck der schweren Luftmassen,
die über dem Ror lagern, zuletzt auf über 800 mm
zu stehen kommt. Und wem in den Winter-
monaten Frost und Schnee den Aufenthalt in
Jerusalem verleiden, der wandere dieselbe Straße
nach Jericho, die uns aus des Heilands Gleichnis
bekannt ist, und wenn er von Beduinen unbe-
helligt nach der uralten Palmenstadt gelangt, so
umfängt ihn dort sonnig-warmer Odem und
') Bericht über eine im Jahre 1908
des Sultans der Türken Abdul Hamid
Forschungsreise in Palästina. Berlin 1912.
-) Handbuch der regionalen Geologie
Heidelberg 1914.
Auftrage S. M.
unternommene
lachender Lenz. Denn dem Ror ist kein Winter
gegeben, dafür ein Sommer, dessen Hitze mit
jener des südlichen Nubiens wetteifert. ') Kein
Wunder, daß hier um die Blüten der Orangen-
bäume der Gärten Jerichos das „zarteste farben-
prächtigste" Vöglein, der Palästina- Honigsauger,
schwebt, den süßen Nektar des Kelchinhaltes
frei in der Luft erhaschend. (Vgl. die in-
teressanten Mitteilungen in Blanckenhorn's
Naturwiss. Studien usw. S. 410 ff.).
Doch sind es nicht solche Dinge, von denen
ich eigentlich berichten will, als vielmehr von der
Überraschung, die dem von Jerusalem kommen-
den Reisenden die Magnetnadel in der Gegend
von Jericho bereitet. Es möge hier die Stelle
aus den Naturwissenschaftlichen Studien usw.
Blanckenhorn's, wo zum erstenmal von
etwas derartigem im Jordantal die Rede ist,
wörtlich angeführt sein (S. 68 und 69): „Herr
Treidel (Kulturingcnieur der Blanckenhorn-
schen Expedition) hatte im Laufe des Tages
(23. Februar) den astronomischen Meridian fest-
gestellt, durch Signale markiert und die magne-
tische Deklination mit Hilfe meiner aus-
gezeichneten Breithaupt 'sehen Bussole zu l"2'
nach O. bestimmt, während sie sonst in Palästina
augenblicklich meist zu 11 — 13" nach W. ange-
nommen wird. Das war ein unerwartetes wissen-
schaftliches Resultat, das einer Kontrolle bedurfte.
Letztere führte er noch in der Nacht durch Vi-
sieren nach dem Polarstern während der Kul-
mination mit Hilfe eines Fadendiopters aus. Das
Resultat blieb das nämliche.
Später hat Treidel noch an anderen Stellen
derartige Vermessungen vorgenommen, wie fol-
gende Tabelle zeigt.
(.Siehe Tabelle S. 18)
Die Abweichung der Deklination des unteren
Jordantales von derjenigen von Jerusalem beträgt
demnach 12 — 13". Dazwischen dürfte eine Iso-
gone von o" ungefähr in SN Richtung verlaufen
und mit dem stärksten Gebirgsabfall, d. h. der
westlichen Randspalte des Grabens zusammen-
fallen. Natürlich wäre zur Erklärung dieser ab-
normen Erscheinung weniger an vorhandene be-
nachbarte Eisenmassen als an die Attraktion der
Gebirge im W. zu denken. Aber auch diese
Erklärung befriedigt nicht recht, zumal auch der
vom Gebirgsfuß am weitesten entfernte Punkt
') Vgl. M. Blanckenhorn, Studien über das Klima
des Jordantales. (Zeitschr. d. deutschen Palästinavereins,
XXXII. Bd., 1909, S. 38 ff.)
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
Standpunkt
Zeit der
Feststellung
Deklii
ation
Methode
I. Teil el-Kos
östlich von Jericho
23. Februar
östlich
I»2'
Beobachtung korrespondierender
Sonnenhöhen (Thcodollth) kon-
trolliert durch Polarsternbeob-
achtung (Fadendiopler.)
2. 'Ain Feschcha
1. März
östlich
ca. 2»
Polarsternbcobachtung
3. Kasr Hadschla
(auf flachem Dache)
6. März
östlich
2° 34'
korrespondierende Sonnenhöhen
4. Jerusalem
(Hötcl Fast auf dem Dache)
17. März
westlich
10» 40'
korrespondierende Sonnenhöhen
Kasr Hadschla die größte Deklination aufweist.
Vielleicht sind es mehr die relativ höheren Ge-
birge im O., welche störend einwirken. Der Lö-
sung dieser interessanten erdmagnetischen Frage
wird sich nur durch eine größere Reihe von
weiteren Beobachtungen im ganzen Depressions-
gebiete anf beiden Seiten des Flusses, also nament-
lich noch am Fuß des östlichen Gebirges und auf
den beiderseits umgebenden Hochplateaus, näher
kommen lassen."
In nebenstehendem Kärtchen (Abb. i) sind die
in Frage kommenden Oite mit der ihnen zuge-
hörigen Deklinationsrichtung der Magnetnadel ver-
zeichnet. Selbstverständlich macht die im Vor-
beigehen hingeworfene Bemerkung Blancken-
horn's über die mögliche Ursache der ma-
gnetischen Anomalien im Ror keinerlei Anspruch
darauf, die endgültige Lösung des Rätsels zu sein.
Unsere Kenntnisse vom Zusammenhang des Ge-
birgsmagnetismus mit der Tektonik sind noch zu
gering und unsicher, als daß damit eine bündige
Theorie dieses merkwürdigen Problems in der
Jordansenke gewagt werden könnte. Nichtsdesto-
weniger aber ist es geeignet, das spekulative
Interesse in hohem Grade zu erregen, und so
möchte ich in den folgenden Zeilen versuchen,
die möglichen Ursachen zu erörtern.
Zunächst bemerkte ich, daß die Längsachse
des Rors vom Nordufer des Toten Meeres bis
zum Fuße des Libanon fast genau von Süden
nach Norden gerichtet und nur ganz schwach
nach Nordosten geneigt ist, m. a. W. recht auf-
fallend mit der von Treidel konstatierten De-
klination der Magnetnadel übereinstimmt. Dies
scheint mir kein Zufall zu sein, sondern eher da-
rauf hinzudeuten, daß die meridionale
Grabensenke selbst es ist, die auf die
Magnetnadel richtend wirkt. Läßt man
diese Annahme gelten, so erhebt sich die weitere
Frage: Was ist die endgültige Ursache dieser
magnetischen Richtkraft der Jordansenke? Man
könnte zuerst an Eisenerzlager der Randgebirge
rechts und links der Talfurche denken, wodurch
eine lokale Störung der Magnetnadel in ablenken-
dem Sinne bewirkt würde, aber diese Annahme
entbehrt jeder besonderen Stütze. Auch vulka-
nisches Gestein, das ja magnetische Ladung auf-
weist, findet sich nirgends in der Nähe, sondern
ist viel weiter im Norden und im Haurängebirge.
Bis in die Gegend von Jericho dürfte aber sein
magnetischer Einfluß keinesfalls reichen. Und da
auch der Untergrund des Rors keine vulkanischen
Gesteine enthält, wie mir Herr Professor Dr.
Blanckenhorn brieflich noch besonders ver-
sicherte und wie auch die Profile S. 88 der schon
erwähnten Schrift Bla ncke n h or n's „Syrien,
Arabien und Mesopotamien" deutlich zeigen, so
verbleibt nur die Schlußfolgerung, daß die ge-
heimnisvolle Ursache ganz allein im Ror selbst
zu suchen ist. Wie kann man sich das denken?
Einen Fingerzeig gibt die unbestreitbar er-
wiesene Tatsache, daß hier einst eine langgestreckte
Erdmasse in die Tiefe sank. Für die eingehende
Schilderung der einzelnen Phasen der Aus- und
Umbildung des Jordantales möchte ich auf
Blankenhorn's eben erwähntes geologisches
Werk (S. 50 ff. u. 82 ff.) verweisen. Wir haben
uns für unser Problem vor allem zu vergegen-
wärtigen, daß vor dem Einsturz ein unterirdischer
Hohlraum bestanden haben muß, dessen Gestalt
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
ungefähr mit derjenigen der heutigen Talfurche
übereinstimmte. Nun sind nach den allgemeinen
physikalischen Vorstellungen die Deklinationslinien
oder Isogonen auf der hrdoberfläche nichts anderes
als die Richtungslinien der magnetischen Kraft,
die von einem magnetischen Pol der Erde zum
anderen strömt. Bekanntlich ist eine wagerecht
schwebende Magnetnadel in der Richtung dieser
magnetischen Kraft im Gleichgewicht oder anders
ausgedrückt: wir bestimmen die horizontale Di-
rektion der magnetischen Kraft durch Feststellung
des Richtungsunterschiedes der Nadel mit der
astronomischen Nordsudrichtung eines Ortes und
nennen diesen Winkelunterschied östliche oder
wcsihche Deklination, je nachdem der Nordpol
der Nadel nach Osten oder Westen von der ort-
lichen Mittagslinie abweicht. Aber nicht nur die
Oberfläche der Erde wird von solchen magnetischen
Richtlinien durchzogen, die magnetische Richtkraft
wird auch im Erdinnern bestehen. Also werden
auch magnetische Kraftlinien auf jenen ur-
sprünglichen Hohlraum des Rors aufgetroffen
haben. Da fand ihr bisheriger Verlauf im Gestein
plötzlich eine Unterbrechung durch einen Lult-
körper, und wir werden nicht erwarten dürfen,
daü sie denselben einfach ohne Ricntungsänderung
durchsetzten. Zur Veranschaulichung ihrer mut-
maßlichen Ablenkung diene der Versuch mit dem
eisernen Hohlzylinder oder der Hohlkugel, die
man in ein magnetisches Feld bringt. Da der
Luttraum den Kraftlinien beim Durchgang viel
mehr Widerstand entgegensetzt als weiches Eisen,
so nehmen sie in einer Hohlkugel den in Abb. 2
dargestellten Verlauf, sie scheinen vor dem Hohl-
raum auszubiegen und sich am Rande der Kugel
zusammenzudrängen.
Nun ist ja freilich ein Unterschied zwischen
der magnetischen Leitungsfähigkeit des Eisens
und des Gesteins; aber letzteres übertrifift sicher
an magneiibcher Durchlässigkeit die Lult. Man
kann sich den geringen Grad der magnetischen
Leitungsfahigkeit der Lult als einen Widerstand
des Lullkörpers vorstellen, der gewissermaßen die
magnetischen Kraftlinien des (jesteins von sich
abdiängt. An einer langgestreckten Hohllorm
wird dann der Verlauf der ivialtlinien der gewesen
sein, daß sie, nach dem Parallelogramm der Kräfte,
der Resultanie folgend, mehr der Längsrichtung
der Hohlform entlang zogen und sich am Rande
verdichteten. Nur wenige Kraftlinien werden ohne
grüße Ablenkung den Hohlkörper direkt durch-
setzt haben (Abb. 3). Wahrscheinlich haben sie
schon damals, also vor erlolgtem Einbruch, durch
ihre Induktionskraft das über der Huhlform lagernde
Gestein so magnetisiert, daß die Kraftlinien in
demselben ebenfalls die Längsrichtung der Hohl-
form annahmen und nach dem Einsturz dauernd
beibehielten. Tnft'i diese Vermutung zu, so er-
laubt sie folgende Schlußfolgerungen:
I. Besonders an den Rändern einer Bruchzone,
wo sich die Kraftlinien verdichteten, dürfte eine
völlige Koinzidenz ihrer Richtung mit derjenigen
der Bruchlinie stattfinden.
2. Infolgedessen könnte man erwarten, daß längs
des ganzen Rors, vom Nordrande des Toten Meeres
bis zum See von Tiberias,
die Richtung der Magnet-
nadel ungefähr dieselbe ist,
und daß die Nadel im Süden \ \
des Rors noch weiter nach \ \
Osten abweicht.
3. Damit erklärte sich
auch die größere östliche
Deklination bei Ksar Had-
schla, das berehs an der
Flexur liegt, mit der das
Ror mehr in eine südsüd-
westliche Richtung übergeht.
(Vgl. die Geologische Karte,
dießlankenhorn's Tote-
Meer-Buch beigegeben ist.)
Bei 'Ain Feschcha (Quelle
Feschcha) streicht die Bruch-
linie um etwa 8" gen Nordost.
Trotzdem hat diese Stelle
nur 2" östliche Deklination.
Hier ist eine störende Ein-
wirkung des Randgebirges
sehr wahrscheinlich.
4. Auch auf die magne-
tischen Anomalien in der
Nähe von Vulkanen fiele
durch diese Annahme etwas
Licht. Denn die unterirdi-
schen Hohlräume, denen die
Magmamassen entsteigen,
werden stets eine Verände-
rung der Richtung der
magnetischen Kraftlinien be-
wirken, etwa wie bei einer
Hohlkugel. Ebenso dürfte man alsdann bei tekto-
nischen Beben daran denken, daß räumliche Verände-
rungen im Erdkörper eine Störung der magnetischen
Kraftlinien auslösten. Ganz von selbst verstände
es sich in unserem F"alle, daß die magnetischen
Isogonen in der ostasiatischen Inselwelt sich oft
ganz auffallend parallel mit der Inselküste er-
strecken. (So auf Sumatra, Java und in Japan.)
Dort begegnen wir der größten Bruchzone der
Erde. 1)
5. P'erner könnte auf Grund der dargelegten
Vermutung auch eine Erklärung des kosmischen
Magnetismus versucht werden. Wenn Sonnen-
flecken nichts anderes als gewaltige Verliefungen
des Sonnenkörpers sind, so ist damit eine Störung
des Sonnenmagnetfeldes sofort gegeben und auch
Abb. 3.
') Vgl. für nähere Details über magnetische Störungs-
gebiete: E. Naumann, Die Erscheinungen des Erdmagne-
tismus in ihrer Abhängigkeit vom Bau der Erdrinde, StuUgart
18S7, wo be onders die magnetische Vermessung Japans durch
Naumann eingehend behandelt ist, sowie S. Günther,
Handbuch der Geophysik, 2. Aufl., Stuttgart 1897, I. Bd.,
S. 578 ff.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
eine Verdichtung der Kraftlinien an den Rändern
eines solchen Fleckes. ^) Und vielleicht ist die
sog. säkulare Variation des Erdmagnetismus in
letzter Linie auch an innere räumliche Umlage-
rungen gebunden.
Sollte ich mit diesem Erklärungsversuch, auf
den ich in der erdmagnetischen Literatur noch
nirgends gestoßen bin, nicht wesentlich irren, ')
') Über sehr genaue Messungen der magnetischen Feld-
stärke von Sonnenflecken möge man die interessanten Aus-
führungen G. F.. Haies: „The Earth and Sun as Magnets".
(.\na. Rep. of the Smith sonian Inst, for the Year ending
June 30, 1913 u. 1914) zu Rate ziehen.
^) Der Einfluß der Temperatur auf die Stellung der
Magnetnadel ist freilich auch nicht ganz außer acht zu lassen.
Die Wärme wird auf einem flachen Dach zu Kasr Hadschia
am 6. März sicher niclit gering gewesen sein. Blankenhorn
SO müßte eine vollständige magnetische Durch-
forschung des Rors die Probe aufs Exempel liefern.
Ich hoffe sie in friedlicheren Zeiten an Ort und
Stelle machen zu können !
verzeichnet für Kasr Hadschia +38» C als höchste März-
temperatur im Schatten. (Vgl. Studien über das Klima des
Jordantales S. Ö3.) Wieviel Grade mag dann die von der
Sonne durchstrahlte Luft gehabt haben!
J. v. Lamont hat in seinem Handbuch des Erdmagne-
tismus, Berlin 1849, I. Bd., S. 127 folgende Angaben über
den Temperatureinfluß auf die Stellung eines Magneten gemacht:
Temperatur: Ablesung des Kreises:
a,-" 294° 15,6'
46,9° 293037,1'
9" 294017,4'
42,30 293044,5'
3S0 293" 51.9'
28O 294O 3,0' usw.
[Nachdruck verboten.
Jede neue Entdeckung muß einen Kampf um
ihre Anerkennung bestehen, umsomehr je wich-
tiger die Entdeckung ist und je mehr sie den
herrschenden Anschauungen widerspricht. Es ist
also begreiflich, daß die neue Lehre von den
Über denkende und buchstabierende Hunde.
Eine Entgegnung von Prof. Dr. H. E. Ziegler (Stuttgart).
Es gibt eine große Menge von zuverlässigen
Beobachtungen, durch welche mit voller Sicher-
heit bewiesen ist, daß diese Hypothese der Zeichen-
gabe nicht richtig ist und daß die Äußerungen
aus dem Tiere selbst stammen. Ich muß in dieser
rechnenden und buchstabierenden Tieren mannig- Hinsicht auf die ganze Literatur') verweisen, da
fachen Widerspruch gefunden hat. Aber wissen- es nicht möglich ist, an dieser Stelle über alle die
zahlreichen und mannigfaltigen Versuche zu be-
richten. Hier will ich nur den Nachweis führen,
daß die Hypothese von Dr. Neu mann nicht
richtig ist und daß seine Versuche durchaus
keine Beweise für seine Ansicht bilden.
Die Einwände, welche gegen die Echtheit der
Äußerungen der buchstabierenden Hunde vorge-
bracht werden, lassen sich in folgende Kategorien
bringen :
1. Einwände aus direkter Beobachtung.
2. Einwände aus Versuchen mit einem Er-
gebnis.
3. Einwände aus Versuchen ohne Ergebnis,
d. h. solchen Versuchen, bei welchen der Hund
überhaupt keine Antwort oder keine zugehörige
Antwort gegeben hat.
4. Einwände, welche aus der Höhe der Lei-
stungen abgeleitet werden.
Einwände aus direkter Beobachtung werden
von Dr. N e u m a n n nicht erhoben , wohl aber
von Prof Herbst, welcher behauptet, in der
öffentlichen Vorführung am II. IVlai 1915 vom
Zuschauerraum aus gesehen zu haben, daß bei
jeder Zahl mit dem Karton ein Zeichen gegeben
werde. '■') Aber ich habe das Klopfen sehr oft
von allernächster Nähe beobachtet und keine
Spur solcher Zeichen gesehen. Auch alle anderen
schaftlich ist zu fordern, daß die sogenannten
Entlarvungen ') einer ebenso strengen Kritik
unterworfen werden wie die positiven Versuche,
und aus diesem Grunde muß ich die Veröffent-
lichung von Dr. med. W. Neumann in Nr. 37
dieser Zeitschrift einer eingehenden Besprechung
unterziehen, -j
Bekanntlich klopft der Hund die Zahlen,
welche Buchstaben bedeuten, auf die Hand oder
auf einen mit der Hand hingehaltenen Pappdeckel.
Dr. Neu mann spricht nun wieder die schon oft
vorgebrachte Hypothese aus, daß mit der Hand
oder dem Pappdeckel dem Hunde Zeichen ge-
geben würden. Folglich würde es sich bei allen
derartigen Versuchen überhaupt nicht um Ge-
danken des Tieres handeln, sondern um Äuße-
rungen derjenigen Person, welche den Pappdeckel
in der Hand hält.
'j Die Entlarvungen bestehen immer darin, daß die
Leistungen der Tiere aus einer Zeichengebung abgeleitet
werden, aber diese einfache Erklärung hat sich schon in
früheren Fällen als unrichtig erwiesen. Dr. Pfungst be-
hauptete, daß das Pferd des Herrn v. Osten durch unbe-
wußte kleine Zeichen beeinflußt gewesen sei, und der Zauber-
künstler Faustin US stellte die Meinung auf, daß den Elber-
felder Pferden durch den Pferdewärter Albert Zeichen ge-
geben worden seien. Das eine ist so falsch wie das andere,
wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe (Die Seele des
Tieres, Berliu 1916, S. 36—42. Mitteilungen der Gesellschaft
für Tierpsychologie, 1916, S. 20—25). Ich verweise auch auf
meinen Artikel über die Elberfelder Pferde in Nr. 16 der
Naturw. Wochenschr. 1915.
") Eine ausführlichere Widerlegung der Behauptungen von
Dr. Neu mann habe ich in den „Mitteilungen der Gesell-
schaft für Tierpsychologie" (1916, 2. Heft) veröffentlicht.
') Ich nenne die Schrift „Die Seele des Tieres" (Berlin,
W. Junk, 1916) und die „Mitteilungen der Gesellschaft f. Tier-
psychologie" 1913 — 1916, wo auch die übrige Literatur er-
wähnt ist.
^) Naturw. Wochenschr. 1916, Nr. 38, S. 538.
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
wissenschaftlichen Beobachter, die stundenlang
aus der Nähe das Klopfen verfolgten, haben
nichts von solchen Zeichen bemerkt. Wenn
solche Zeichen überhaupt vorhanden wären, so
müßten sie jedenfalls so klein sein, daß sie aus
direkter Beobachtung weder zu beweisen noch zu
widerlegen sind. Folglich ist die Streitfrage bei
dem Hunde Rolf durch die einfache Beobachtung
nicht zu entscheiden. Bei der Hündin Lola,
welche von Fräulein H. Kind ermann unter-
richtet wurde und ganz ähnliche Leistungen auf-
weist, läßt sich die Zeichenhypothese schon durch
die direkte Beobachtung ausschließen; denn Lola
gibt die Einer mit der linken Pfote, die Zehner
mit der rechten Pfote an, wie dies K. Krall bei
den Elberfelder Pferden einführte. Daraus ergibt
sich eine Abwechslung in der Verwendung der
Füße, welche durch die von Prof Herbst an-
genommene Zeichengebung nicht zu erklären
wäre. ')
Übrigens beruht der Beweis für die Echtheit
der Antworten der Hunde überhaupt nicht dar-
auf, daß man solche Zeichen nicht sieht, sondern
auf den überaus eigenartigen und mannigfaltigen
Äußerungen der Tiere und insbesondere auf den
sehr oft angestellten „unbewußten" Versuchen, bei
welchen das Tier über Gegenstände und Ereig-
nisse Au-^kunft gab, welche der den Karton
haltenden Person gar nicht bekannt waren, und
zu welchen sie also gewiß keine Zeichen geben
konnte. Denn was man selbst nicht weiß, kann
man weder aussprechen noch durch irgendwelche
Zeichen mitteilen.
Ich komme also zu denjenigen Einwänden,
welche auf Grund positiver Versuche erhoben
werden. In dieser Hinsicht liegen nur die zwei
Versuche vor, welche Dr. Neu mann und Dr.
L o t m a r angestellt haben ; Neumann undLot-
mar behaupten, daß der IVlannheimer Hund bei
diesen beiden Versuchen etwas buchstabiert habe,
was er gar nicht gewußt habe, sondern was nur
Fräulein Moekel bekannt gewesen sei. Aber in
diesen Versuchen sind so offenkundige Fehler-
quellen vorhanden, daß ihnen gar keine Beweis-
kraft zukommt.
Der eine Versuch beruht darauf, daß der
Hund den Namen Lotmar geklopft hat, den er
angeblich nicht wissen konnte. Aber die Herren
Neu mann und Lotmar dachten nicht daran,
daß Dr. Neu mann schon früher in der F~amilie
Moekel von seinem Freunde Lotmar ge-
sprochen hatte. Nach den übereinstimmenden
Berichten von Fräulein Luise IVIoekel und
ihrer Großmutter, Frau Major von Moers, hatte
Dr. Neumann früher schon seinen Freund er-
wähnt und den Gedanken geäußert, daß Fräulein
Moekel — eine begabte Violinspielerin — mit
ihm musizieren solle. Der Name war also Fräu-
lein Luise von Anfang an bekannt und auch
') Vgl. meine Bemerkung über die Zählweise der Elbs
felder Pferde in „Die Seele des Tieres" S. 39.
der Hund konnte ihn wissen. Außerdem wurde
der Name während des Versuches selbst ausge-
sprochen, insbesondere hat sich Dr. Lotmar
während des Versuches der eintretenden Groß-
mutter mit seinem Namen vorgestellt. Außer-
dem flüsterte Dr. N e u m a n n den Namen
P^räulein Luise ins Ohr, wobei also die Mög-
lichkeit besteht, daß der Hund mit seinem feinen
Gehör das vernommen habe. Der Versuch ist
also überaus nachlässig angestellt, und kein kri-
tischer Forscher kann demselben irgendwelche
Beweiskraft zusprechen. Ich stelle hier die ganz
verschieden lautenden Berichte nebeneinander.
Bericht von
Dr. Neumann.
Wir beide haUen ausge-
macht, dem Hunde nicht den
Familiennamen Lolmar , son-
dern Dr. Lotraar's zweiten
Vornamen Ferdinand zu sagen.
Rolf hat also den Namen
Lotmar nie gehört. Später
fragte ich , indem ich auf
Dr. Lotmar zeigte : „Rolf, wie
heißt denn dieser Herr?" Der
Name Lotmar war in Rolfs
Gegenwart noch nie aus-
gesprochen worden; darauf
hatte ich besonders scharf
aufgepaßt. Rolf antwortete
„Mag nid", d. h. Mag nicht.
Ich sah deutlich , daß Luise
Moekel den Namen Lotmar
sich nicht gemerkt hatte.
Da zu diesem Augenblicke
Rolf in eine andere Ecke des
Zimmers sprang um dort etwas
Eßbares zu erhaschen, flüsterte
ich, indem ich meine Lippen
ganz nahe an ihr Ohr brachte
und sehr deutlich aussprach
Luise Moekel ins Ohr: „Glau-
ben Sie, daß der Name Lotmar
vielleicht zu schwer istf"
Niemand bemerkte die Szene,
selbst Dr. Lotmar nicht.
Luise antwortete; „Nein, nicht
zu schwer." Rolf wurde zu-
rückgerufen und abermals
nach dem Namen gefragt. Er
antwortete ohne Zögern
„Lodmr", d. h. Lolmar. Er
buchstabierte also einen Na-
men, den er nie gehört,
während er den Namen
Ferdinand, der ihm gesagt
wurde, nicht erwähnt.
Bericht von
Fräulein Moekel.
Dr. Neumann hatte uns
geschrieben, daß er einen
Besuch aus dem Felde mit-
bringen werde. Er kam auch
mit einem Herrn in feld-
grauer Uniform , den er uns
aber so undeutlich vorstellte,
Namen verstehen konnte. Als
etwas später meine Groß-
mutter ins Zimmer kam,
stellte sich der Gast in
m e iner Gege n w art sehr
deutlich als Dr. Lotmar
vor. In der Folge sagte
Dr. Neumann während des
Gesprächs zu mir; „Sehen Sie,
Luise, das ist nun mein Freund,
von dem ich Ihnen das letzte-
mal erzählte; er spielt wirk-
lich wunderschön Violine",
und zu Dr. L. gewandt, fuhr
er fort: ,, Lotmar, möchten
Sie nicht mit Frl. Moekel
Duette spielen, das wäre nett."
Dr. Neumann hat also den
Namen Lotmar (wahrschein-
lich , ohne es selbst zu be-
merken) ausgesprochen, und
zwar in Gegenwart des Hundes,
der während der ganzen Zeit
neben meinem Stuhl lag. Es
ist bekannt, daß dem Hund
nichts entgeht, was im Zimmer
gesprochen wird. Kurze Zeit
darauf bat mich Dr. Neumann,
den Hund nach dem Namen
seines Freundes zu fragen.
Der Hund gab aber bloß
„nein" und sprang zum Büfett,
wo gerade belegte Brötchen
serviert wurden. Da kam
plötzlich Dr. Neumann auf
mich zu und sagte mir —
auffallend deutlich — ins Ohr ;
„Glauben Sie nicht, Luise,
daß der Name Lotmar viel-
leicht zu schwer ist?" Ich
verneinte und war erstaunt
über diese .Äußerung, Etwas
später frug ich den Hund
noch einmal nach dem Namen,
worauf ich nun die Antwort
„lodmr" erhielt. Da feststeht,
daß dieser Name vorher
mehrere Male von Herrn
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
Dr. Neuraann selbst ausge-
sprochen worden war, so sind
die Behauptungen des Herrn
Dr. Neumann, dafi ich den
Namen zurzeit der ersten
Weigerung des Hundes nicht
gekannt hätte und daß der
Hund den Namen überhaupt
nicht gehört hätte, restlos
widerlegt.
Der andere Versuch der Herren Neu mann
und Lot mar ist nicht besser als der eben-
genannte. Dr. Neumann behauptet, daß er der
kleinen zehnjährigen Karla auf dem Vorplatz der
Wohnung einen Hund aus Papierma«se, einen
schwarzen Teckel, und zugleich eine Schachtel
gezeigt habe, und daß der buchstabierende Hund
Rolf von diesen Dingen gesprochen hätte, ohne
sie gesehen zu haben. Dr. Neu mann nimmt
an, daß die kleine Karla davon wohl ihrer
Schwester Luise berichtet habe, daß aber der Hund
davon nichts erfahren habe. Man sieht sofort,
daß der Versuch unklar ist, weil die Möglichkeit
besteht, daß der Hund eine solche Mitteilung ge-
hört haben könnte. In Wirklichkeit hat aber Dr.
Neu mann den Teckel und die Schachtel in das
Versuchszimmer hineingebracht, so daß der Hund
beides sehen konnte. Die nachherige Äußerung
über die Schachtel ist also vollkommen begreiflich.
Das Tier ist in un'^erer Zeit der Fleisch- und
Brotmarken immer sehr freßgierig und vermutete
in der Schachtel etwas Eßbares, da ihm ja von
den Besuchern oft Leckerbissen in Schachteln ge-
bracht worden sind. Als nun der Hund nachher
von Fräulein Luise veranlaßt wurde, etwas über
den Vorgang zu äußern, so klopfte er folgendes:
,,Is was dsu sn in glei braun egig sagdl fon dr
dagl", d. h. Ist was zu essen in klein braun eckig
Schachtel von dem Dackel. Ich meine, daß diese
Äußerung nach Form und Inhalt den Stempel
der Echtheit trägt.
Ich stelle nun wieder die ganz verschieden
lautenden Berichte nebeneinander:
Moers); „in glei bra.
sagdl fon der dagl is d
Bericht von
Dr. Neumann.
Ich ging mit der zehn-
jährigen Karla in den Vorplatz,
wo wir allein waren. Dort
zeigte ich ihr das Paket mit
dem Dackel, packte es aber
nicht aus. Ich zeigte ihr auch
die braune Schachtel und
sagte, daß ich etwas für Rolf
zu essen hineintun wolle.
Nachher gingen wir spazieren,
und nur Frau v. Moers und
Fräulein Luise Moekel blieben
zurück, um von Rolf zu er-
fahren, was Dr. Lotmar und
ich ihm^^gezeigt hatten. Als
wir zurückkehrten, vernahmen
■wir, daß Rolf auf das 'von
Luise Moekel gehaltene Klopf-
brett folgendes geklopft hatte
(protokolliert von Frau v.
Bericht von
Fräulein Moekel.
„Meine Großmutter und
ich hielten uns im Wohn-
zimmer auf, als Herr Dr. Neu-
mann mit meiner kleinen
Schwester Karla auf den
Korridor ging, woselbst er ihr
einen kleinen aus Pappe ge-
fertigten Teckel zeigte. Gleich-
zeitig frug er, ob sie ihm et-
was Gummi arabicum geben
könne, weil er ein kleines
Schächtelchen, in welchem
sich Bonbons befanden, an
dem Teckel befestigen wolle.
Hierauf ging Dr. Neumann
mit Karla nach dem F.ßzimmer,
wo er in der offenen Türe
stehen blieb, den Teckel samt
der Schachtel unter dem Rock
verbarg und meine Schwester
Frieda zur entgegengesetzten
Türe des Zimmers hinaus-
schickte. Hierauf nahm
er die beiden Sachen
wieder aus dem Rock
hervor, während der
Hund ihn beschupperte
und begrüßte. Dann löste
der Hund einige Rechen-
aufgaben, klopfte aber plötz-
lich statt einer zu gebenden
Lösung das Wort „Hundl".
Dr. Neumann unterbrach rasch
und sagte : ,,Was Rolf eben
geklopft hat, bezieht sich auf
einen Versuch, ich will das
erst später von ihm hören;
Luise wird so gut sein und
ihn nachher fragen, was ich
ihm mitgebracht habe." Als
die beiden Herren dann mit
meinem Vater und meinen
Geschwistern spazieren gingen,
klopfte Rolf bei mir nach
langem Sträuben, und erst
nachdem ich ihn geschlagen
hatte, ,,is was dsu sn braun
egig", und als ich das nicht
verstehen konnte und ihn
drängte, sich deutlicher aus-
zudrücken, gab er nach wieder-
holter Weigerung : „sagdl fön
dr dagl". Wir faßten diesen
Satz als Frage auf. ."Ms Dr.
Neumann wieder zurückkam,
gab ich ihm diese von meiner
Großmutter gemachte Auf-
zeichnung, worüber er sich
sehr erfreut zeigte."
Daß die Beschreibung von Fräulein Moekel
richtig ist, geht mit voller Sicherheit daraus hervor,
daß der Hund während der Rechenaufgaben auf
den gezeigten Dackel Bezug genommen hat;
folglich muß er zu dieser Zeit das Hündchen
schon gesehen haben. Dieser Versuch hat also
ebenfalls gar keine Beweiskraft in dem Sinne, wie
ihn die Herren Neu mann und Lotmar ver-
wenden wollen. Die angeblichen Gegenbeweise
sind also ganz hinfällig.
Ich komme nun zu denjenigen Einwänden,
welche aus mißlungenen Versuchen abgeleitet
werden, also solchen, bei welchen der Hund ge-
stellte Fragen nicht beantwortet oder eine er-
wartete Antwort nicht gegeben hat. Es ist von
vornherein einleuchtend, daß solche negative Ver-
suche gar keine Beweiskraft haben. Irgendeine
Störung, Ablenkung oder Hemmung, jeder Mißrruif,
jede Abneigung, jeder Eigensinn des Hundes kann
das erwartete Ergebnis vereiteln. Es besteht in
dieser Hinsicht ein großer Unterschied zwischen
Dressurleistungen und Verstandesleistungen; die
ersteren kann man erzwingen, die letzteren nicht;
die Dressur kann man durch häufige Wiederholung
so geläufig machen, daß sie stets gelingt, aber die
Denkarbeit wird leicht durch allerlei Störungen
gehemmt. Wie die Schüler einer Klasse vor einem
plötzlich erscheinenden Schulinspektor meistens
schlechter antworten als im täglichen Unterricht,
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23
so kommen auch bei den buchstabierenden Tieren
die Höchstleistungen bei den Prüfungen und Vor-
führungen meistens nicht heraus. Oft versagen
die Tiere in solchen Fällen vollständig. Das hat
sich schon bei den Eberfelder Pferden gezeigt und
tritt in ganz ähnlicher Weise auch bei dem Mann-
heimer Hund zutage.
Wenn man von den Tieren Verstandesleistungen
erwartet, ist man auf den guten Willen derselben
angewiesen. Wird das Tier unwillig oder wider-
spenstig, so stehen alle seine Äußerungen unter
dem Einfluß dieser Stimmung. \) Daher spielt auch
die Zuneigung oder Abneigung des Tieres eine
große Rolle. Ein Beobachter, gegen welchen das
Tier eine Abneigung oder ein Vorurteil besitzt
wird immer Mißerfolge haben. Dieser Fall lag
bei Dr. Ne u m a n n vor. Er erzählt ja selbst
(S. 523), wie der Hund jede Antwort ablehnte mit
dem Bemerken : „Neumanns Versuch, mag nit." Da-
her kommt es mir geradezu unverständlich vor, daß
Neu mann aus seinen negativen Ergebnissen Ein-
wände gegen die gut gelungenen Versuche anderer
Beobachter ableiten will. Es beweist gar nichts,
wenn der Hund den ihm vorgesagten Namen
„Ferdinand" nicht wiederholte und von Neumann's
Fähnchen und Heringen nichts wissen wollte.
Über alle diese negativen Resultate kann ich also
ohne weiteres hinweggehen.
Ich komme nun zu denjenigen Einwänden,
welche aus der erstaunlichen Höhe der Leistungen
abgeleitet werden. Diese machen auf die Leser
den meisten Eindruck, denn jeder Mensch glaubt
eine ungefähre Vorstellung von den etwa möglichen
Fähigkeiten eines Hundes zu haben; wenn die
Leistungen der buchstabierenrien Hunde darüber
hinaus gehen, so sagt er alsbald: ,,Das glaube ich
nicht." Aber im Grunde handelt es sich nur um
ein Vorurteil. Es hat früher niemals buch-
stabierende Hunde gegeben, also kann niemand
a priori wissen, was sich nun zeigen kann, wenn
dem Hunde die Möglichkeit der Gedankenäußerung
gewährt wird.
Es verhält sich mit der Beurteilung der gei-
stigen Fähigkeiten von Pferden und Hunden eben-
so wie bei den taubstummen Menschen, welche
in früherer Zeit oft unterschätzt wurden, während
') Für einen aufmerksamen Benbachter ergibt sich sogar
ein Beweis für die Echtheit der Äußerungen der Tiere aus
dem Umstand, daß dieselben stets mit der Stimmung des
Tieres, nicht mit der Absicht des Versuchsleiters überein-
stimmen. Ist das Tier hungrig, so kommi-n auch diesbezüg-
liche Äußerungen; z. B. zeigte ich dem Hunde im Neben-
zimmer eine Postkarte und er sagte dann: ,,isd egal was auf
dum gard sdd, libr dsu sn" (ist egal was auf der dummen
Karte steht, lieber zu essen.) Ist das Tier eigensinnig, so
kann man ihm auf alle Art zureden, es kommen doch nur
unsinnige oder unartige Äußerungen heraus. Bei einem neuer-
dings angestellten Experiment vor fremdem Besuch war der
Hund widerwillig, während Fräulein Luise sich alle erdenk-
liche Muhe gab, ihn zu guten Antworten zu bewegen. Schließ-
lich sagte sie zu ihm; ,,\Venn du jetzt nicht artig antwortest,
wirst du in den Keller gesperrt und bekommst nichts zu
fressen." Der Hund antwortete nach Art eines unartigen
Knaben „fang radl in glr" (fange Ratten im Keller).
man ihnen jetzt durch geeigneten Unterricht die
Möglichkeit des Sprechens gibt und dadurch ihre
wahren Fähigkeiten erkennt. Ein im Verkehr
mit den Menschen lebender Hund lernt die Sprache
der Menschen und nimmt damit einen großen Teil
der Gedankenwelt der Menschen in sich auf. ')
Gibt man ihm nun die Fähigkeit sich auszudrücken,
so kommen seine Gedanden zutage, großenteils
solche, welche er von den Menschen übernommen
hat. Wie ein Kind von 5 Jahren in seinen
Äußerungen die Ausdrucksweise und Gedanken-
welt des Elternhauses bekundet, so spiegelt sich
auch in dem Hunde das was er in seiner Um-
gebung gehört hat. Es ist aKo gar nicht auf-
fallend, daß das Tier nach dem Tode von Frau
Dr. Moekel einen Brief geschrieben hat, in welchem
sich Wendungen finden, die offenbar aus Beileids-
briefen stammen, welche in der Familie verlesen
wurden. In ähnlicher Weise ist es zu verstehen,
daß er vor Weihnachten vom Christkindchen ge-
sprochen hat. Aus philosophischen Gesprächen,
die in der Familie geführt wurden, hat er sogar
den Gedanken aufgeschnappt, daß die Tiere von
einer „Urseele" stammen. ') Diese Äußerung
klingt sehr auffallend, aber sie erklärt sich eben-
so einfach wie die Bezugnahme auf das Christ-
kindchen.
Ich kenne eine sehr große Menge von Äuße-
rungen des Mannheimer Hundes, da ich alle die
Aufzeichnungen gelesen habe, welche Frau Dr.
Moekel im Laufe von mehreren Jahren gemacht
und in dem Manuskript ihres Buches zusammen-
gestellt hat. ^) Ich kann also versichern, daß sich
alle ohne Schwierigkeit erklären lassen, wenn
man dem Hunde das Eriimerungsvermögen und
Denkvermögen eines Kindes zuerkennt. Ich trete
seit mehreren Jahren mit meinem wissenschaft-
lichen Namen dafür ein, daß es sich um echte
Äußerungen des Tieres handelt, und die Richtig-
keit meiner Ansicht hat sich in einer Menge
neuer Beobachtungen durchaus bestätigt.
Aber ich habe nicht zu verantworten, was die
Gegner erfunden haben. So hat Dr. Neumann
fälschlich die Behauptung aufgestellt , daß der
Hund „Gedichte" mache. Ein von ihm flüchtig
gemachter Auszug aus dem Manuskripte der
Frau Dr. Moekel ist die Ursache dieses Irrtums
— wenn man überhaupt eine solche in bestimmter
Absicht aufgestellte Behauptung noch einen Irr-
tum nennen kann. In der Familie Moekel
weiß niemand etwas von Gedichten des Hundes,
und Dr. Neu mann kann das nicht besser
') Ich verweise auf meine Aufsätze über „Das begriffliche
Denken beim Menschen und bei Tieren" und „Das Gedächtnis
und die Rechenfähigkeit" in der Schrift über die „Seele des
Tieres" (Berlin 1916).
'-) Der Gedanke, daß alle Lebewesen von einer Urseele
stammen, findet sich in der neuplatonischen Philosophie und
auch anderwärts.
^) Das Erscheinen des Buches, welches sich im Verlage
von Robert Lutz in Stuttgart befindet, ist bis jetzt durch
den Krieg verhindert worden.
24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
wissen wollen, da ja sein ganzes Material von
der Familie Mo ekel stammt.
Alle die angeblichen Gegenbeweise fallen
also in sich zusammen. Dadurch erledigen
sich auch alle die Folgerungen, welche Dr. Neu-
mann an seine Experimente geknüpft hat. Es
gibt ja andere Versuche genug, aus welchen die
Unrichtigkeit seiner Ansicht klar zu erkennen ist.
Ich verweise auf die Experimente von Prof
G. Wolff, Dr. Mackenzie und Dr. Gru ber ij,
sowie auf den Versuch von Dr. Ritters-
bacher und Dr. Lindemann in Bergzabern.'-)
Ferner erwähne ich meinen neuen Versuch, bei
welchem ich dem Hunde eine lebende Ratte mit-
gebracht hatte, wovon niemand etwas wußte,
sowie den notariell beglaubigten Fall, in welchem
der Hund die Striche auf dem Rücken eines
künstlichen Kanarienvogels erwähnte „dr hd fei
hr bei bugl" (der hat fein Haar bei Buckel), der
ihm in einem entfernten Zimmer gezeigt worden
war •■*).
Wie in dem vorletzten Hefte der Mitteilungen
») G. Wolff, Die denkenden Tiere von Elberfeld und
Mannheim (Süddeutsche Monatshefte, Januar 1914 und Tier-
seele 1914, 4. Heft).
Dr. W. Mackenzie, Meine Versuche mit dem Hunde
Rolf (Tierseele 1914, 4. Heft).
Dr. K. Gruber, Vom denkenden Hunde Rolf (Mitteil.
d. Ges. f. Tierpsychol. 1913).
2) Der Versuch vom 12. Mai 1914, Mitteil. d. Ges. f.
Tierpsychol. 1914.
ä) Mitteil. d. Ges. f. Tierpsychol. 19 16, 2. Heft.
Bern errungen zu der
Der Aufforderung des Herrn Herausgebers,
mich zu Herrn Prof Z ie gler's Ausführungen zu
äußern, kann ich deswegen sehr kurz nachkommen,
weil Herr Ziegler ungefähr das gleiche, was er
oben gegen meine Versuche einzuwenden hatte,
schon mehrfach veröffentlicht hat und weil ich
ihm in der ,, Badischen Landeszeitung" (Nr. 419
vom 8. September 191 6) schon entgegengetreten
bin. Ich habe es darum nicht nötig, nochmals
Einzelheiten zu besprechen und darzulegen, daß
Herr Ziegler seine Behauptungen nicht auf Nach-
der Ges. f. Tierpsychologie mitgeteilt wird, gibt
es außer dem „Rolf noch drei andere Hunde,
Nachkommen desselben, welche ebenfalls buch-
stabieren können, und an welchen die Besitzer
ganz unabhängig voneinander ähnliche Beobach-
tungen gemacht haben. Das Buchstabieren der
Hunde ist also nicht an bestimmte Personen ge-
bunden, und damit erweisen sich alle die Ver-
dächtigungen als hinfällig, welche gegen einzelne
Personen vorgebracht worden sind. Der Mann-
heimer Hund buchstabierte nicht nur bei Frau
Dr. Moekel, sondern er tut dasselbe bei ihrer
Mutter, bei ihrer erwachsenen Tochter Luise
und bei der zehnjährigen Tochter Karla, ja zu-
weilen auch bei den Dienstmädchen. Der Hund
von Fräulein Kindermann antwortet nicht nur
ihr selbst, sondern auch ihrer Mutter und ihrem
Bruder.
So ist die Möglichkeit einer absichtlichen
Täuschung vollkommen ausgeschlossen, während
eine unabsichtliche Zeichengebung bei den mannig-
faltigen, in Form iind Inhalt so eigenartigen und
oft recht langen Äußerungen der Hunde über-
haupt undenkbar ist.
Wer sich über die ganze Streitfrage ein Ur-
teil bilden will, muß eben die zugehörige Literatur
studieren, in welcher die zahlreichen und ijnbe-
streitbaren Beweise für die Echtheit der Äuße-
rungen der Hunde enthalten sind. Wer diese
Mühe scheut, mag bei den alten Vorurteilen
bleiben.
obigen Entgegnung.
Untersuchungen stützt, die meinen Versuchen an-
gepaßt sind, sondern auf die Aussagen von jungen
Mädchen, deren Glaubwürdigkeit durch meine und
Dr. Lotmars Versuche hinfällig geworden ist.
Seine Behauptungen sind deshalb vollkommen
wertlos. Auch die oben meinen Versuchs-
protokollen gegenübergestellten nachträglich
von Frl. Luise Moekel verfaßten Berichte
über die fragliche Sitzung kann ich nur als Er-
innerungstäuschungen auffassen, die entsprechend
zu beurteilen sind. Wilhelm Neumann.
Einzelberichte.
Geophysik. Eine Reihe vulkanologischer
Probleme erfahren eine neue Beleuchtung durch
die von F. Loewinson- Lessing (Tschermak's
Miner. u. petrogr. Mitteil. 33, 377, 191 5) anläßlich
der Vorarbeiten für die zentralkaukasische Eisen-
bahn durchgeführten Untersuchungen über die
Vulkane und Laven des zentralen Kaukasus.
Das Gebirge ist mehrmals der Schauplatz vulka-
nischer Tätigkeit gewesen, zuletzt am Ende der
Tertiärzeit. Diese letzte Periode ist Gegenstand
der vorliegenden Untersuchung. Das Eruptions-
gebiet beschränkt sich auf den Zentralteil der
Hauptkette und die sog. Nebenkette. Es ist eine
Eigentümlichkeit dieser vulkanischen Region, daß
dem Gebirge neuere Vulkane aufgesetzt sind, die
auch zum Teil nach beendeter Gebirgsbildung
noch in postpliozäner Zeit tätig waren, so daß
den jüngeren vulkanischen Gesteinen ein bedeu-
tender Anteil an der Bildung der höchsten Teile
der Kette zukommt. Aschen und Tufle fehlen
in diesem Gebiet fast vollkommen, und Schlacken-
kegel spielen nur eine ganz untergeordnete Rolle.
Im wesentlichen treten nur Lavavulkane, Quell-
kuppen und extrusive Massen auf.
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Die Laven des zentralen Kaukasus gehören
überwiegend zur dacitischen P^amilie im weiteren
Sinne des Wortes. Es treten , ausgehend vom
Dacit vier Reihen von Übergängen zu benach-
barten sauren Lavatypen nach dem folgenden
Schema auf:
Andesitbasalte
I
Andesite
1
Andesitdacite
Pantellerite — Pantelleritdacite — Dacite— Trachytdacite — Trachyte
Liparitdacite Quarztrachyte
I
Liparite
Von allen vier Zweigen wurden Vertreter ge-
funden. Dies läßt auf ein gemeinschaftliches
Magmareservoir für das ganze Gebiet schließen.
Zu Beginn der Tätigkeitsperiode treten die sauersten
Laven, Liparitdacite auf; dann folgt eine lange
Zeit andesitdacitischer und dacitischer Eruptionen;
die jüngsten Eruptionsprodukte weisen hin auf
eine Neigung des Magmas basaltisch zu werden.
Als Erklärung dafür wird angenommen, daß das
Magma ursprünglich andesitische Zusammensetzung
hatte; in der der Eruption vorangehenden Ruhe-
pause ging jedoch eine Differenzierung vor sich
unter Bildung einer oberen sauren und einer
unteren basischen Schicht; infolgedessen mußte
die Eruption mit sauren Typen beginnen und mit
basischen endigen.
Bei den. im zentralen Kaukasus auftretenden
vulkanischen Apparaten sind zwei Haupttypen zu
unterscheiden : Einmal finden wir Schlacken- und
Lavakegel, die auf Lavaströmen aufsitzen und als
sekundäre Bildungen, wahrscheinlich unter Mit-
wirkung von Gasen entstanden, zu betrachten
sind. Die andere Kategorie umfaßt morphologisch
recht verschiedene Bildungen , die jedoch eine
Reihe von gemeinsamen Eigenschaften haben.
Alle sind kraterlose reine Lavavulkane ohne An-
zeichen von Explosionen. Sie befinden sich in
den höchsten Partien der Gebirgskämme. Die
angelehnten Schiefer sprechen mehr oder minder
deutlich dafür, daß diese Vulkane an durchbrochene
und zerstörte Antiklinaldome gebunden sind. Jeder
Vulkan hat sich in einer Eruptionsphase erschöpft.
In der Verteilung zeigt sich keinerlei Regel-
mäßigkeit, die auf Gruppierung längs einer Spalte
schließen läßt, vielmehr bietet das ganze Gebiet
das Bild einer auf kleinem Raum von einer Reihe
unabhängiger Vulkanschlote siebartig durch-
löcherten Gebirgskette. Die verschiedenen vul-
kanischen Apparate scheinen durch die gemein-
same Quelle ihrer Laven genetisch eng verknüpft
zu sein. Der Viskositätsgrad und die Menge der
letzteren sind bestimmend für den morphologischen
Typus jedes einzelnen Vulkans; die sauren, vis-
kosen Laven neigen zu baldiger Verstopfung des
Schlotes und Bildung von Lakkolithen und ex-
trusiven Massiven , die leichtflüssigen , basischen
erzeugen Lavavulkane und ausgedehntere Ströme.
Als Extrusion bezeichnet Verf. die Bildung
solcher vulkanischer Apparate, an deren Erzeugung
nicht Explosion , sondern nur Magmadruck teil-
nimmt. Extrusivmassive sind demnach als zur
Erdoberfläche durchgedrungene Intrusivkörper an-
zusehen. Die Möglichkeit solcher Bildungen
wurde in neuester Zeit durch vulkanologische
Untersuchungen auf Island, den Liparischen
Inseln u. a. wieder wesentlich näher gerückt —
eine wenigstens teilweise Rechtfertigung der alten
Theorie der ErhebungskraterLeopoldv. Buchs. —
Der enge Zusammenhang der Extrusivkörper mit
den übrigen vulkanischen Erscheinungen erhellt
aus der folgenden systematischen Zusammen-
stellung:
1. Explosive Bildungen (Maare, Schlacken-
kegel usw.)
2. Lavavulkane(Schildvulkane, Spaltergüsse usw.)
3. Gemischte polygene Vulkane vom Vesuv-
typus.
4. Extrusive Bildungen (Quellkuppen, Eruptions-
lakkolithe usw.)
5. Intrusive Bildungen (Lakkolithe, Intrusiv-
gänge usw.)
Im untersuchten Gebiet des zentralen Kaukasus
sind alle fünf Gruppen vertreten, hauptsächlich
die zweite und vierte.
Über die Ursache der Bildung von Extrusiv-
massiven liegen verschiedene Meinungen vor.
Bergeat nimmt Ausdehnung von Gasen an,
Stübel Ausdehnung des Magmas bei der
Verfestigung, G 1 a n g e a u d — für die Auvergne —
Druck sinkender Schollen. Letzteres ist auch für das
Kaukasusgebiet anzunehmen, das überhaupt viel
Ähnlichkeit mit der Auvergne hat. Der vulkanische
Prozeß ist hier offenbar nur eine passive Erscheinung;
das aktive Element ist die Dislokation der Erd-
kruste zur Zeit des letzten und stärksten Forma-
tionsprozesses des Kaukasus. Dabei sonderte sich
in der Tiefe längs der Wasserscheide ein Magma-
bassin ab, dessen Inhalt an die Stellen geringsten
Widerstandes, d. h. in die Antiklinalgewölbe ge-
drängt wurde. Es tritt daher an diesen Regionen
26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
zerrender Spannung eine Häufung von Intrusiv-
körpern, eventuell, bei schwachen Gewölben, von
Extrusivmassiven auf. Von diesem Standpunkt
aus braucht auch nicht nach unsichtbaren Spalten
gesucht werden, an welche die vulkanische
Tätigkeit gebunden sein soll. Sichtbare Spalten
sind nicht vorhanden. Verf neigt zu der Annahme,
daß allgemein Masseneruptionen , seien es Lava-
vulkane oder Spalteruptionen, in letzter Instanz
auf Dislokationsbewegungen in benachbarten oder
entfernteren Teilen der Erdkruste zurückzuführen
sind. Die Last der dort sinkenden Schollen ist
die erste Ursache von den in benachbarten Faltungs-
und Hebungsgebieten auftretenden Eruptionen, die
somit unabhängig von präexistierenden Spalten
sind. Dies gilt aber nicht für Vulkane, die in
Glasexplosionen oder Deckenschmelzung flach
liegender Magmaherde ihren Ursprung haben.
Scholich.
Botanik. Ein Naturdenkmal Deutsch-Südafrikas
unter britischem Schutze. Die deutsche Verwaltung
unserer südwestafrikanischen Kolonie hatte vor
dem Kriege eine der Charakterpflanzen der süd-
afrikanischen Wüste unter ihren besonderen Schutz
gestellt. Es handelt sich um Welwitschia mirabilis,
eine der merkwürdigsten aller bekannten Pflanzen,
die mit ihren zwei langen, bandförmigen Blättern
an dem zwergartigen , kreiseiförmigen Stamme,
wie F. W. Neger sich ausdrückt, eine Karikatur
der stolzen Familie der Gymnospermen darstellt.
Nahe der Haltestelle Welwitsch an der Windhuk-
bahn war von der deutschen Verwaltung ein
Gebiet, in dem die Pflanze vorkommt, eingehegt.
Nach einer Mitteilung des Sekretärs der (britischen)
Gesellschaft zur Förderung der Naturschutzgebiete,
W. R. Ogilvie Grant (Times, 2i. IX. 1916)
hat die südafrikanische Union den Schutz der
Welwitschia Bainesii, wie die Engländer sie nennen
(sie wird auch mit Benutzung des einheimischen
Namens N'tumbo als Tumboa Bainesii bezeichnet)
übernommen, das eingehegte Gebiet bleibt Schutz-
gebiet für diese Pflanze, und es ist verboten,
Exemplare auszugraben oder zu verkaufen.
H. P.
Zerstörung von Ziegelmauerwerk durch Orga-
nismen. Dipl. Ing. Ludwig Reese hat in
einer Dissertation: Krankheiten und Zerstörungen
des Ziegelmauerwerkes (Diss. a. d. Kgl. Techn.
Hochschule zu Hannover, Leipzig 1916) u. a. auch
die durch Organismen hervorgerufenen Zer-
störungen an Ziegelmauerwerk gewürdigt.
Ist die Oberfläche des Ziegelmauerwerkes an-
gegriffen, zeigen sich Risse. Sprünge oder Ab-
Sprengungen an Ziegeln und Fugen, so setzen sich
leicht erdige Bestandteile darin fest, und pflanzliche
Organismen setzen das Werk der Zerstörung fort.
Moose, Flechten und Gräser zwängen ihre Wurzeln
in die Spalten und sprengen allmählich kleinere
Stücke ab, bis schließlich größere Pflanzen im
Mauerwerk Fuß fassen und es vernichten. Welche
Kraft die Pflanzen bei ihrem Wachstum entfalten,
ersieht man z. B. an dem sog. geöffneten Grab
auf dem Friedhof der Gartenkirche in Hannover,
wo durch eine Birke ein großer Sandsteinblock
beiseite geschoben und sogar die eisernen
Klammern gesprengt wurden, welche den Block
hielten. Aber auch kleinere Pflanzengebilde
können in entsprechender Zeit dem Mauerwerk
zum Schaden gereichen. Mann kann des öfteren
die Beobachtung machen, daß diejenigen Stellen
des Ziegelmauerwerks, welche mit altem Moos
bewachsen sind, einen poröseren Eindruck machen
als unbewachsene Stellen, wobei allerdings die
Frage ist, ob die Moosvegetation die Ursache oder
die Folge ist, und wenn das erste zutrifft, ob das
Moos selber zerstörend wirken kann. Algen ver-
leihen dem Ziegelmauerwerk eine gelbliche oder
grüne Färbung. Ihr Auftreten ist weniger durch
die Beschaffenheit des Materials als durch dessen
Färbung bedingt, denn nach Seger treten sie
ausschließlich an hellgefärbten Steinflächen auf,
während dunkle Stellen davon freibleiben. Auch
zeigen sie sich nicht nur bei den gewöhnlichen,
gelben Ziegeln mit kalkhaltiger Masse, sondern
auch bei Chamottesteinen, wenn sie vor direktem
Sonnenlicht geschützt und der Feuchtigkeit aus-
gesetzt sind.
Bei der Tatsache, daß manche Spaltpilze eine
sehr geringe Größe, nämlich weniger als ^/, 000
Millimeter, besitzen und imstande sind, die Wan-
dungen selbst schwachporöser, zur Filtration von
Wasser dienender Gefäße zu durchwachsen, liegt
die Vermutung nahe, daß auch das Ziegelmauer-
werk mit seinen relativ großen Poren als Aufent-
haltsort für Mikroben dienen könnte. Diese Frage
ist mehrfach untersucht, erörtert und wohl end-
gültig von Hesse und Emmerich entschieden
worden.
Zunächst steht fest, daß Zimmerluft durchweg
mikrobenreicher ist als Außenluft, das Eindringen
von Außenluft also die Mibrobenmenge nicht ver-
größern, sondern nur herabsetzen kann.
Die Versuche ergaben, daß Luftströme von so
geringer Geschwindigkeit, wie sie dei der Poren-
ventilation auftreten, nicht imstande sind, Bakterien
durch eine Mauer zu führen, sondern sie nur gegen
die Mauerfläche zu drängen vermögen, an welcher
sie dann hängen bleiben. Ob sie hier untergehen
oder fortleben, hängt von der Oberflächenbeschaf-
fenheit der Mauer ab. Bei feuchtwarmem Zustande
kann allerdings ein Wachstum und sogar ein ge-
wisses Hineinwachsen der Bakterien in die Mauer
eintreten, doch soll dies nach Eminerich be-
langlos sein, da ein Hindurchwachsen unter der
stark desinfizierenden Wirkung des Kalkhydrates,
welches bei Feuchtigkeit der Mauer immer be-
steht, nicht denkbar ist. Es sollen sogar Wände
aus undurchlässigem Material dem Gedeihen der
Mikroben günstig sein, weil an der Innenseite leicht
Feuchtigkeit sich niederschlägt, die aus der Zimmer-
luft sowohl Bakterien als auch Nährmittel für
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
27
dieselben aufnehmen kann; ausreichend poröse
Wände sind davon frei. Als Ausnahmen können
allerdings im Kerne des Mauerwerkes Bakterien
vorkommen, wenn z. B. bei Mauern aus großen
Werkstücken nicht genügend Kalkhydrat vorhanden
ist, oder wenn durch Gehalt der Mauer an ge-
wissen Stoffen, wie Schwefelsäure, oder durch
Zuführung von Urin der Ätzkalk neutralisiert wird.
Die Möglichkeit, daß Bakterien, welche bei Her-
stellung der Formlinge in den Ton gelangten, in
den gebrannten Ziegeln fortleben könnten, ist
ausgeschlossen, weil die Steine bei so hoher
Temperatur gebrannt werden, daß ein Weiter-
bestehen der Mikroben undenkbar ist.
Bei der Salpeterbildung können die mit Nitro-
monas bezeichneten Spaltpilze durch die Wirkung
ihrer Stoffwechselprodukte nachteilig auf Ziegel
und Mörtel einwirken, doch wird ihr Einfluß sich
hauptsächlich auf der Oberfläche des Mauerwerks
bemerkbar machen.
Von den sog. Trockenfäulepilzen ist ein
Eindringen der Mycelfäden in das Ziegelmauerwerk
wegen ihrer Dicke und Kürze nicht zu befürchten.
Anders verhält es sich dagegen mit dem echten
Hausschwamm (Merulius lacrymans). Sein Mycel
vermag vom Holz auf das Mauerwerk überzugreifen,
denn die Mycelfäden des Hausschwammes sind so
dünn und werden lang, daß sie durch die Poren in
das Ziegelmauerwerk eindringen können. Nahrung
findet er dort zwar nicht, da im Mauerwerk kein
Kohlenstoff vorhanden ist. Bei der Holzreparatur
kommt es leicht zu einem Wiederauftreten des
Hausschwammes, weil das neue Holz von dem im
Mauerwerk sitzenden Myrel angesteckt wird. Bei
Schwammreparaturen muß also auf diesen Umstand
Rücksicht genommen werden.
An feuchten Wänden zeigen sich häufig weiß-
graue, watteartige Schimmelwucherungen, die ihr
Wachstum meist dem verderbenden Tapetenkleister
verdanken. Bei Beseitigung der F'euchtigkeit ver-
schwinden sie regelmäßig. Es sei jedoch darauf
aufmerksam gemacht, daß manche Salzauswitte-
rungen sehr häufig das Aussehen von Schimmel-
pilzen haben und ebenfalls weißgrau, haarähnlich
oder watteartig das Mauerwerk bedecken, so daß
man sich leicht täuschen kann. Dr. Aulmann.
Zoologie. Der periodische Reorganisations-
prozeß bei Infusorien. Als „Endomixis" haben
Woodru ff und Erdmann vor zwei Jahren einen
Vorgang beschrieben, der bei Paramaecium aurelia
periodisch wiederkehrt und in einer vollständigen
Erneuerung des Kernapparates dieses Infusors be-
steht. Der ganze Reorganisaiionsprozeß erinnert
sehr an die Vorgänge bei der Konjugation, jedoch
findet er in einer einzigen Zelle statt, es erfolgt
keine Zellverschmelzung, es unterbleibt somit
auch die Amphimixis. Von verschiedenen Seiten
ist der Prozeß als „Parthenogenese" bezeichnet
worden — im Gegensatz zu Woodruff und
Erdmann freilich, die diese Bezeichnung ab-
lehnen — , und in der Tat dürfte es sich auch im
wesentlichen um die gleiche Erscheinung handeln
wie bei der parthenogenetischen Fortpflanzung der
Metazoen. Die Ergebnisse der Untersuchungen
Woodruffs und Erdmann's an Paramaecium
aurelia, die für unsere theoretischen Vorstellungen
von den Potenzen einer Protozoenzelle und von
der Unsterblichkeit der Einzelligen von der größten
Wichtigkeit sind, wurden im vorigen Jahrgange
dieser Zeitschrift bereits eingehend besprochen i).
Erdmann und Woodruff haben ihre Unter-
suchungen nunmehr auch auf Paramaecium cau-
datum ausgedehnt und konnten hier den gleichen
Reorganisationsprozeß konstatieren. -) Sodann teilt
Rhoda Erdmann mit, daß Calkins bei Didi-
nium nasutum die gleiche Erscheinung gefunden
hat, und so dürfen wir wohl annehmen, daß die
„Endomixis'- ein bei den Infusorien periodisch
sich wiederholender Prozeß ist, ja wir können
vermuten, daß sich auch bei anderen Protisten
(Amöben z. B.) ähnliche bzw. gleichwertige Vor-
gänge werden nachweisen lassen.
Der Nachweis des Reorganisationsprozesses
bei Paramaecium caudatum war mit wesentlich
größeren Schwierigkeiten verbunden als bei
P. aurelia. Zunächst einmal ist die Zucht von
P. caudatum nicht leicht. Im hohlgeschliffenen
Objektträger halten sich die Kulturen nur be-
schränkte Zeit. Man muß die Tiere in einem
etwas größeren Volumen Nährflüssigkeit, in ganz
kleinen Tuben, züchten, um sie dauernd lebens-
fähig erhalten zu können. Die Vergrößerung des
Kulturmediums erschwert aber natürlich die stän-
dige Kontrolle der Kulturen. t>schwerend für
die Untersuchung ist auch, daß der Reorgani-
sationsprozeß bei P. caudatum in größeren Zwischen-
räumen erfolgt als bei P. aurelia und schneller
abläuft als bei dieser Spezies. Während bei P.
aurelia nach 40 — 50 Generationen, d. h. nach
etwa 25 — 30 Tagen, der Kernapparat erneuert
wird, findet bei P. caudatum erst nach Sb — lOO
Generationen, d. h. nach 50—60 Tagen, eine Re-
organisation statt. Die Sterblichkeit ist während
des Höhepunktes des Prozesses (Tiefstand der
Teilungsratc) bei P. caudatum im Gegensatz zu
aurelia sehr groß.
Die Reorganisation selbst verläuft in ihren
wesentlichen Zügen bei beiden Spezies in gleicher
Weise , jedoch ähneln die einzelnen Stadien bei
P. caudatum noch mehr den entsprechenden
Stadien der Konjugation bei der gleichen Spezies.
Da P. caudatum nur einen Mikronukleus besitzt
— P. aurelia hat zwei, und dies ist das wichtigste
Unterscheidungsmerkmal der beiden Spezies — ,
') Sielie H. N a c h t s h e i ni , Parthenogenese bei Infusorien.
Naturw. Wochenschr., N. F. 14. Bd., 1915.
2) Rhoda Erdmann, Endomixis und ihre Bedeutung
für die Infusorienzelle. Sitzungsber. d. Ges. naturforschender
Freunde, Berlin, Jahrg. 19 15.
Rhoda E r d m a n n and L. L.Woodruff. The perio-
dic rcorganization process in Paramaecium caudatum. Journ.
of experim. Zool., Vol. 20, 1916.
28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
sind die Verhältnisse hier etwas übersichtlicher.
Während der Makronukleus zu degenerieren be-
ginnt, macht der IVlikronukleus die sogenannten
Reifungsteilungen durch, die aber, wie wir an-
nehmen müssen, beide Aquationsteilungen sind
und also nicht zu einer Reduktion der Chromo-
somenzahl führen. Von den vier Mikronukleis,
die durch die beiden Teilungen entstehen, gehen
drei zugrunde, der vierte liefert das gesamte Kern-
material der reorganisierten Zelle. Durch drei-
fache Teilung werden zunächst acht neue Mikro-
nuklei gebildet, von denen vier sich in Makro-
nuklei umwandeln. Damit besitzt die Zelle die
Kernapparate für vier Individuen. Indem nun
bei den nächsten Zellteilungen noch keine Kern-
teilungen erfolgen und die Kernapparate auf die
Tochter- und Enkelindividuen verteilt werden,
wird der Reorganisationsprozeß beschlossen. Er-
wähnt sei noch, daß die Degeneration des Makro-
nukleus bei P. caudatum auf verschiedene Weise
vor sich gehen kann. Entweder wird wie bei
P. aurelia das Chromatin in einzelnen Brocken
ausgestoßen, bis schließlich die leere Makronukleus-
hülle übrig bleibt, während die Zelle mit zahl-
reichen Chromatinbrocken erfüllt ist. Der Zerfall
kann aber auch ähnlich vor sich gehen wie bei
der Konjugation von P. caudatum, bei der er
mit einer Zerstückelung des IVlakronukleus in
größere Teile beginnt. Das Endergebnis ist hier
wie dort das gleiche: vollkommene Auflösung des
alten Makronukleus.
Er d m a n n und Woodruff wenden sich auch
neuerdings wieder gegen die Bezeichnung des
Prozesses als Parthenogenese. Ihre Einwände sind
die gleichen geblieben, ohne aber an Überzeugungs-
kraft gewonnen zu haben (vgl. die Besprechung
ihrer ersten Untersuchung an dieser Stelle). Es
ist aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich,
daß die bei der Konjugation von Paramaecium
erfolgende dritte Teilung, welche zur Bildung von
Wand^rkern und Stationärkern führt, eine Reduk-
tionsteilung ist, für Didinium, bei dem ja nach
den Mitteilungen Rh. Er d mann 's der Reorgani-
sationsprozeß ebenfalls bereits festgestellt ist, ist
es durch die Untersuchungen Prandtl's sogar
erwiesen, daß die dritte Teilung eine Äquations-
teilung ist. Doch selbst wenn sie es nicht wäre,
so wäre es verfehlt, den „gereiften" Paramaecium-
Zellen den Charakter von Gameten abzusprechen,
denkt man doch auch bei Metazoen nicht daran,
ein Ei, das sich parthenogenetisch entwickelt und
nur eine Äquationsteilung durchmacht, nicht als
solches zu bezeichnen. Die Bezeichnung des Re-
organisationsprozesses als „Parthenogenese" halte
ich deshalb nicht nur für berechtigt sondern für
wesentlich besser als das von Woodruff und
Erdmann neu geprägte Wort „Endomixis".
Hinsichtlich der Bedeutung der Untersuchungen
Erdmann's und Woodruffs für das Problem
der Unsterblichkeit der Einzelligen ist zu be-
merken, daß die Verfasser in ihrer neuen Arbeit
ähnliche Betrachtungen anstellen, wie ich es be-
reits bei Besprechung ihrer ersten Arbeit getan
habe. Durch seine früheren Untersuchungen hatte
Woodruff gezeigt, daß man Paramäcien tausende
von Generationen jahrelang züchten kann, ohne
daß Konjugation erfolgt. Woodruff hatte dar-
aus mit Recht den Schluß gezogen, daß sich eine
Paramäcium-Zelle rein vegetativ bis ins Unbe-
grenzte zu teilen vermag, ohne daß ihre Lebens-
fähigkeit im Laufe der Zeit eine Einbuße erleidet.
Gerade diese Untersuchungen W o o d r u f f 's waren
es, die die Weisman n'sche Theorie von der
Unsterblichkeit der Einzelligen neu belebten.
Heute aber sieht das Bild wesentlich anders aus.
Die neuen Untersuchungen Woodruffs und
Erdmann's haben zu dem Resultat geführt, daß
in den scheinbar rein vegetativ sich fortpflanzen-
den Paramäcien- Rassen in bestimmten Perioden
Vorgänge geschlechtlicher Art sich abspielen, die
zu einer vollkommenen Reorganisation der Zelle
führen. Es wäre nichts anderes als ein Jonglieren
mit Worten, wollte man da noch im naturwissen-
schaftlichen Sinne von „Unsterblichkeit" sprechen.
„Es gibt gewiß", sagt Rhoda Erdmann, „eine
Sterblichkeit bei Protozoen. Sterblich ist der
alte oder die alten Mikronuklei, der alte Makro-
nukleus und der Zellinhalt selbst. Aus der all-
gemeinen Zellzerstörung bleibt nur ein Teil-
produkt des alten Mikronukleus übrig, der aber
sicher kein altes sondern umgeordnetes
neues Chromatinmaterial besitzt. Die Unsterb-
lichkeit der Protozoenrasse wird vorgetäuscht, weil
für unser Auge eine Unsterblichkeit der
Form vorhanden ist; wir können den Molekültod
ja nicht bewachen, nur den Individualtod und den
Rassentod. Da die Unsterblichkeit der Form sich
nicht experimentell fassen läßt, so gehören Unter-
suchungen über sie nicht in das Bereich der
exakten Naturwissenschaft; mit dieser Frage, der
Unsterblichkeit der Form bei einzelligen Lebe-
wesen, hat sich die Philosophie zu befassen."
Nachtsheim.
Über Eiablage und Paarung von Tagfaltern in
der Gefangenschaft berichtet Dr. med. E. Fischer
(Zürich) in der Societas entomologica (31. Jahrg.,
1916, Nr. 12). Während die Nachtfalter, vor-
nehmlich die Spinner, dann aber auch die Spanner,
Eulen und Schwärmer, in der Gefangenschaft
leicht zur Paarung schreiten und ihre Eier auch
oft ohne vorhergegangene Kopulation ablegen,
galt es lange Zeit als sehr schwierig, bei Tag-
faltern — vielleicht mit der einzigen Ausnahme
des Apollofalters [Paniassfiis Apollo L.) — im
Zuchtkasten Paarung und Eiablage zu erzielen.
Um dies zu erreichen, griff man früher zu aller-
hand künstlichen Mitteln, wie Berauschung und
Betäubung der Falter, und erzielte damit in
seltenen Fällen auch Erfolge. Dr. Fischer hat
nun seit 1907, wie vor ihm schon manche anderen
Entomologen, den Versuch gemacht, eine Reihe
von Tagfalterarten unter natürlichen Bedingungen
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
29
zur Eiablage zu bewegen. Er hat seine Versuche
mit dem kleinen Perlmutterfalter {Argyiiiiis
lathoiiia L.) begonnen und sie nach den dabei
gewonnenen günstigen Ergebnissen mit anderen
Tagfaltern, wie mit dem Schwalbenschwanz
[Papilio iiiacliaoii L.) und dem großen Kohl-
weißling [Picris brassicac L.) fortgesetzt. Überall
gelang dem Verfasser seine Absicht, sofern die
Ealter nur in einem größeren Einmachglas oder
in einem Raupenzuchtkasten mit Stoffüberzug
oder unter feiner weicher Gaze auf die Nahrungs-
pflanzen ihrer Raupen verbracht wurden. — Viel
schwieriger als die Eiabgabe ist bei den Tag-
faltern die Paarung in der Gefangenschaft zu er-
reichen. Die Geschlechter werden nach den Er-
fahrungen des Verfassers nur dann zur Kopulation
schreiten, wenn „man sie zu allererst mit Hilfe
von Süßigkeiten zähmt und zutraulich macht".
Sind die F'alter nicht mehr scheu, dann wird es
mit wenigen Ausnahmen gelingen, sie m Paarung
treten zu lassen, wie F"ischer das bei 28 ver-
schiedenen Tagfalterarten in über 150 Einzelfällen
beobachten konnte. Es seien nur wenige Arten
hier noch genannt, bei denen die Paarung im
Zuchtkasten glückte : beim Rübsaatweißling (Picris
iiapi L.j, beim Resedafalter [P. Daplicidc L.j, beim
Kiemen Fuchs y J '^a/wssu iirfkac L.), beim Silber-
strich i^Argyiiiiis Papliia L.). Bei einer der zu
den Versuchen herangezogenen Argyiinis - Arten,
bei Argyniiis valcsiiia, konnten aut diese Weise
sogar 5 Inzuchtgenerationen erzielt werden.
H. W. F"rickhiiiger.
Meteorologie : Über den täglichen Gang der
Windgeschwindigkeit in höheren Luftschichten
geben die von R. bpitaler (Meteorol. Zeitschr.
1916, S. 337) in den Jahren 1904 bis 1910 auf
dem Donnersberg in Böhmen in 857 m Höhe ge-
machten Messungen wichtige neue Aufschlüsse.
Im Gesamtmiitel zeigen die Beobachtungen für
den Verlauf der Windgeschwindigkeit, wie aul
anderen Berggipfeln, eine tägliche Periode mit
einem IVliiiimum am Tage und einem IVlaximum
bei Nacht. Die Amplitude ist in der warmen
Jahreszeit doppelt so groß wie in der kalten, in der
größere Windstärken vorherrschend sind. Das
Bild ändert sich jedoch, sobald die Tage mit
stürmischem Wind, d. h. mit einem Tagesmittel
von mindestens 50 km pro Stunde, für sich be-
trachtet werden. Hier zeigt der tägliche Gang
unerwarietervveise eine ausgesprochene Doppel-
periode, je ein Minimum um Mittag und Mitternacht
und je ein Maximum am Vor- und Nachmittag.
Die harmonische Analyse ergibt nun, daß auch
bei den Winden mit normaler Geschwindigkeit
die Doppelwelle vorhanden ist. Sie wird jedoch
überlagert von einer stärkeren, der oben erwähnten,
einfachen Welle. Diese beherrscht bei schwachen
Winden das Bild vollkommen, indes ist auch hier
die Doppelperiode nachweisbar, allerdings mit einer
wohl infolge der Reibung sehr kleinen Amplitude.
Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den Sturmtagen
mit einem Tagesmittel von mindestens 75 km pro
Stunde. Auch hier wird die Doppelwelle durch
eine sehr stark ausgeprägte einfache zurückgedrängt.
Diese hat aber einen ganz anderen Charakter als
die früher genannte. Hier tritt nämlich das Maxi-
mum bei Tage und das Minimum bei Nacht auf.
Dies ist nun der charakteristische Verlauf für die
Windgeschwindigkeit in den im Tiefland unmittel-
bar auf dem Boden lagernden Luftschichten. Die
Einwirkung der letzteren erstreckt sich also an
solchen Sturmtagen bis in Höhen, die normaler-
weise vollständig außerhalb ihres Machtbereichs
liegen. Wie im vorstehenden dargetan, zeigt der
tägliche Gang der Windgeschwindigkeit in jedem
F'alle die Einwirkung zweier selbständiger Phä-
nomene, die sich in Form von zwei verschiedenen
übereinandergelagerten Wellengängen äußern. Der
eine mit nur einem Minimum und einem Maxi-
mum im Laufe von 24 Stunden stellt nach der
EpsyKöppen 'sehen Theorie die Wirkung der
Konvektionströme dar. Der andere mit zwei
Perioden am Tage läuft nahezu synchron mit der
täglichen Schwankung des Luftdruckes und ist
offenbar durch diesen bedingt. Das Vorhanden-
sein einer solchen Wirkung wurde schon früher
von H a n n erwiesen. Scholich.
Chemie. Ein neues Präzisionsverfahren zur
Herstellung genau dimensionierter Glasrohre ist
von Karl Küppers in Aachen ausgearbeitet
worden und wird von Lambris in der Zeitschr.
f. angew. Chemie, Jahrg. 1916, Bd. I, S. 382 — 383
kurz beschrieben.
Glasröhren werden bis jetzt bekanntlich durch
Ziehen einer glühenden , hohlen Glasmasse her-
gestellt und besitzen daher einen in der Länge
wechselnden Querschnitt : sie sind schwach konisch
ausgebildet. Es haben daher gleiche Längen-
abschnitte der Röhren verschiedene Volumina, und
darum müssen alle aus Glasröhren hergestellten
Meßgefäße einer besonderen, verhältnismäßig kost-
spieligen Eichung unterzogen und Rohre, die, etwa
damit sich ein Kolben dicht anschließend in ihnen
bewegen kann, streng zylindrisch sein müssen,
nachträglich mit großer Sorgfalt ausgeschliffen
werden, ebenfalls ein teurer Prozeß.
Hier schlägt nun Küppers ganz neue Bahnen
ein. Sein Verfahren ist kurz folgendes: In das
nach dem üblichen Verfahren hergestellte rohe
Glasrohr wird ein sorgfältig gearbeiteter F"ormkern
von dem gewünschten Querschnitt und den ge-
wünschten Dimensionen geschoben, das Rohr
evakuiert, an beiden Enden luftdicht verschlossen
-und nun in geeigneter Weise von außen her bis
zum Erweichen erhitzt, so daß das erweichte
Glas von dem äußeren Luftdruck auf den Form-
kern niedergepreßt wird und genau dessen Form
annimmt. Man kann so Rohre von beliebigem,
runden, ovalen, dreieckigen, viereckigen Querschnitt,
von genau zylindrischem oder beliebig konischem
30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
Verlauf herstellen. Die so hergestellten Rohre
sind, wie Versuche ergeben haben, absolut genau
dimensioniert, so daß sich ihre nachträgliche Eichung
oder sonstige Bearbeitung erübrigt, ja es können
sogar, indem die Formkerne mit geeigneten Skalen
versehen werden, die Rohre direkt fertig skaliert
erhalten werden.
Das Kupp er 'sehe Verfahren dürfte eine
sehr große technische Bedeutung gewinnen.
Mg.
Physik. MitdenStromschwankungeninVakuum-
röhren beschäftigt sich eine Arbeit von Elster
und Geitel (Physikal. Zeitschr. XVII, 268, 1916).
Zur Untersuchung der Erscheinung wird als licht-
elektrische Zelle eine kugelförmige Glasröhre ver-
wendet, die im Innern mit einem kalottenförmigen
Silberüberzug versehen ist, auf dem ein Alkali-
metall in dünner Schicht niedergeschlagen ist.
Das Metall ist leitend mit dem negativen Pol
einer Akkumulatorenbatterie von 166 Zellen ver-
bunden, deren positiver Pol an der Erde liegt.
Durch Abschalten eines Teiles der Akkumulatoren
kann die Spannung verändert werden. Als Anode
dient ein Platindraht, der mit einem Einfaden-
elektrometer verbunden ist. Verschließt man die
Zelle vollkommen lichtdicht und steigert nun die
Spannung bis zu einem Wert, der nahe unter
dem liegt, bei welchem eine kontinuierliche
leuchtende Entladung durch die mit Argon von
0,1 bis 0,5 mm Druck gefüllte Röhre hindurch-
geht, dann zeigt sich, daß das Elektrometer
ruckv^eise Sprünge macht, ein Zeichen, daß
Stromstöße durch die Zelle gehen. Diese spon-
tanen Stromschwankungen treten besonders auf,
wenn die Zelle Kalium oder Rubidium enthält.
Doch kann die Aktivität dieser Metalle nicht die
Erscheinung erklären, da sie auch bei Natrium,
das inaktiv ist, auftritt. Ja die Stromstöße zeigen
sich in jeder Entladungsrohre. Das Entladungs-
potential einer solchen mit Silberelektroden liegt
bei 550 Volt; nachdem die Glimmentladung eine
Zeitlang hindurchgegangen ist, ist es auf rund
100 Volt gesunken. Wird die Spannung jetzt
dicht unter diesem Wert gehalten, so treten im
Dunkeln Schwankungen auf. Die Tatsache , daß
die Röhre jetzt gegen Tageslicht eine größere
lichtelektrische Empfindlichkeit zeigt, legt die
Vermutung nahe, daß durch die Glimmentladung
aus natrium^haltigem Staub Spuren von Alkali-
metallen auf den Elektroden niedergeschlagen
sind. Die Bestätigung liefert folgender Versuch:
Läßt man auf einer Elektrode ein wenig sehr
verdünnter Kochsalzlösung verdunsten, so scheidet
sich das Salz (etwa i mg) auf der Elektrode ab;
so lange keine Glimmentladung durch diese
Röhre hindurchgegangen ist, zeigt sie hohes
Entladungspotential und geringe lichtelektrische
Empfindlichkeit; beides ändert sich nach Durch-
gang der Entladung. Die Zersetzung des Salzes
wird durch thermische Dissoziation oder durch
die Wirkung der Kathodenstrahlen hervorgerufen.
Auf jeden Fall sind also die Strom-
schwankungen, wie sie an Röhren in
der Nähe des Entladungspotentials
beobachtet werden, auf freies Alkali-
metall zurückzuführen. Wie sich die
Elektronenemission desselben bei Abwesenheit
von Licht erklärt, darüber kann man nur Ver-
mutungen äußern: Da die Alkalimetalle auch bei
Bestrahlung mit rotem und ultrarotem Licht
lichtelektrisch wirksam sind, ist es vielleicht die
Gleichgewichtsstrahlung zwischen Röhre und der
sie umgebenden, als Lichischutz dienenden
Wandung, vielleicht eine Phosphor Cisenzstrahlung
der Wandung oder auch die durchdringende
/-Strahlung, die allgemein in der Atmosphäre
besteht. Durch Licht wird die Stromstärke in
der Röhre vermehrt und war auch für ganz
schwaches Licht proportional der Beleuchtungs-
stärke, so daß man mittels einer solchen Röhre
die geringsten Beleuchtungsstärken ermitteln kann.
Die untere Grenze, die man noch messen kann,
beträgt für blaues Licht 3 lO"?, für gelbrotes
2-io~7 Erg pro cm^ u. sec. — Es sei bemerkt,
daß die geringste mit unserem Auge wahrnehm-
bare Lichtmenge 1,36-10^9 Erg pro Sek. = 360
Planck 'sehen Quanten in der sec. beträgt.
K. Seh.
Bücherbesprechungen.
Müller, Dr. Aloys, Theorie der Gezeiten-
kräfte. Sammlung Vieweg. Heft 35, 81 S.,
17 Fig. Braunschweig 1916. — Preis brosch.
2,80 M.
Die mannigfache Art der Darstellung und Er-
klärung der Gezeiten in den verschiedenen Lehr-
büchern ist nach dem Vei fasser teils unvollständig,
teils irreführend, so daß er sich die dankenswerte
Aufgabe macht , unter Anwendung nur elemen-
tarer mathematischer Darstellung die Erörterung
über den Ursprung des Kraftfeldes, dem die Tiden
ihre Form verdanken, in endgültiger Weise zum
Abschluß zu bringen. Er unterscheidet zwischen
primären und sekundären Ursachen, und findet
erstere in der Translationsbewegung der Erde um
die Systemachse, und in der Abhängigkeit der
Gravitation von den Koordinaten. Dies wird ein-
gehend bewiesen, während die Aufzählung der
10 sekundären Ursachen ohne weiteres als richtig
einleuchtet. Besondere Sorgfalt widmet der Ver-
fasser noch der Zentrifugalkraft und ihren Be-
ziehungen zu den fluterzeugenden Beschleunigungen.
Für Leser mit historischen und kosmologischen
Interessen ist der Schluß wertvoll, der zeigt,
N. F. XVI. Nr. 2
Naturwissenschaftliche VVocliensclirift.
wie Galilei sich bemühte, die Gezeiten als
Beweis der Richtigkeit des kopernikanischen
Systems auszunutzen, und wie dieser Beweis in
Wahrheit zu führen ist. So wird das Büchlein
hoffentlich dazu beitragen, die oft unmöglichen
Darstellungen in populären Werken zum Ver-
schwinden zu bringen. Und das wäre auch ein
großes Verdienst. Riem.
Das Land Goethes 1914 — 1916, ein vater-
ländisches Gedenkbuch. Herausgegeben vom
Berliner Goeihebund. Deutsche Verlagsanstalt
Stuttgart und Berhn.
In dem die hntwicklungsmechanik behandelnden
Abschnitt führt der Begründer dieser Wissenschalt,
Prof. Dr. Wilhelm Roux (Halle a. S.j aus,
welches Ziel man in diesem VN'issenszweig an-
strebe und was in demselben bereits geleistet
wurde.
„Die Enlwicklungsmechanik sucht die Faktoren-
kombinationen des organischen Gestaltungsge-
scheliens, sowie deren Wirkungsweisen zu er-
mitteln". Wenn auch das Ziel der hntwicklungs-
mechanik ein theoretisches ist, so sind doch
manche ihrer Ergebnisse von hohem Wert lür
die arztliche Praxis und die iintwicklungsmechanik
revanchiert sich so lür Anregungen, die sie der
Chirurgie und der Pathologie verdankt. „In der
kurzen Zeit von kaum mehr als 3 Dezennien hat
uns die hntwicklungsmechanik viel Ungeahntes
und manclies geradezu lür unmöglich Geliakene
an Einsicht und Können gewahrt". Im Jahre
1685 gelang es Roux naclizu weisen, daü es
möglich ist, im runden Ki durch willkürliche Wahl
der Befruchtungsrichtung, die Richtung des künf-
tigen Embryo zu bestimmen. Er fand nämlich,
daß die von der Samenzelle durchlaufene Hallte
des Eies eine derartige Veränderung des Dotiers
erlahri, daß sie steis zur Schwanzhallte wird,
während die andere Eihallte die Kupt hallte des
Embryo entstehen läßt. Der Deutschamerikaner
J. Loeb, der Franzose Bataillon, der Belgier
Ch. Brächet u. a. zeigten, daß auch bei den
Wirbeltieren die Entwicklung ohne Befruchtung
durch eine Samenzelle, „künstliche Parthenogenesis",
möglich ist. Es gelang terner der Nachweis, daß
aus einer linken oder rechten Hälfte des Embryo
durch nachträgliche Regeneration, „Postgeneration",
ein Oanzembryo entstehen kann, wahrend sich
andererseits zwei Eier vereinigen lassen, so daß
ein Riesenlebewesen entsteht. Auf dem Wege
der Regeneration ist es gelungen, Doppel- und
Mehrfachbildungen hervorzubringen, also Wesen
mit Zwei, ja drei Köpfen, mit mehreren Schwänzen
und überzähligen Gliedmaßen. Viel Neues ver-
dankt die Biologie der sog. „Explantation" oder
„in vitroKultiir". Es werden dabei dem Organismus
lebend entnommene Teile in geeignete Flüssig-
keiten übertragen, in denen ihnen das Weiterleben
und uns die Beobachtung der während desselben
eintretenden Veränderungen möglich ist. So
gelang zuerst im Jahre 1S84 Roux die künst-
liche Bildung einer Rautengrube am ausge-
schnittenen Rückenmark eines Hühnerembryos.
Die Präge nach der Entstehung der Nervenfasern
fand ihre Beantwortung, als man den Achsen-
zylinder aus isolierten embryonalen Nervenzellen
herauswachsen sah. Das embryonale Herz und
die gesamten Eingeweide des erwachsenen Tieres
wurden wochen-, ja monatelang lebend und tätig
erhalten ; es wurde so möglich, Einsicht in ihre
Selbstregulation zu bekommen, d. h. zu erfahren,
wozu sie aus sich heraus befähigt sind, während
sie im Körper der gestaltenden Regulation seitens
anderer Organe unterliegen.
Die praktische Bedeutung der Entwicklungs-
mechanik bewies bald die 1 ransplantation , d. h.
die Übertragung, Einheilung und Entwicklung
ganzer Organe bei Tieren. Dem Chirurgen ge-
lang die Transplantation der Harnblase, der Milz,
der Gelenke usw. auch beim JVlenschen. Die
Überpflanzung von Teilen der Schilddrüse von
der Mutter auf das Kind bewahrte dies vor Ver-
blödung; die gleichfalls gelungene Vertauschung
der Keimdrüsen bei verschiedengeschlechtlichen
Individuen einer Tierart und anderes erötfnet
weite Perspektiven in die fernere Gestaltung der
von der Entwicklungsmechanik zu erwartenden
Beeinflussung der Lebewesen einschließlich des
Menschen. Katharmer.
Schaxel, J., Über den Mechanismus der
Vererbung. 31 Seiten. Jena 1916, Verlag
von Gustav Fischer. — Preis geh. 0,75 M.
Erblichkeit bedeutet Anwesenheit gleicher
genotypischer Elemente, Gene, in Nachkommen und
Vorlahren, sagi Johannsen. Ist aber, so tragt
Schaxel, mit der Annahme genoiypischer Gleich-
heit als Ursache der Gleichheit von Aszendenz
und Deszendenz ein Einblick in die Geschehens-
weisen gewonnen, welche die Herstellung ähn-
licher, voneinander abstammender Personen be-
wirken ? Die P rage müssen wir verneinen. Die
Erbformel beschrankt sich auf statistische
Angaben, sagt aber über den Vererbungs-
mechanismus nichts aus. Diese Un Vollkommen-
heit, die in der bloßen Registrierung der Erblich-
keitsverhältnisse liegt, wird von den bedeutendsten
Vertretern der Erblichkeitsforschung anerkannt.
Nach Johannsen bedart der Mendelismus eines
morphologischen Korrektivs, um die Re-
aktionen während der Oinogenie zu verstehen.
„Und dieses Korrektiv", so fahrt er fort, „dürfte
besonders von der experimentellen Embryologie,
der sogenannten „Entwicklungsmechanik", zu er-
• warten und zu erwünschen sein, im geringeren
Grade wohl auch von der Zellforschung."
Schaxel beabsichtigt, in seinem Vortrage dieses
morphologische Korrektiv, das den Mendelismus
vertiefen soll, in seinen Grundlinien anzudeuten
und zu zeigen, wie die Entwicklungsmechanik die
Johannsen' sehe Forderung zu erlüllen vermöchte.
32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 2
Vom enlwicklungsmechanischen Standpunkte
aus ist das Vererbungsproblem eine Teilfrage
des allgemeinen D e t e r m in a t io n s -
Problems, dessen Lösung durch eine genaue
Durchforschung der Ontogenesis gesucht wird.
Kennen wir erst einmal die Entwicklungsfaktoren
einer Ontogenesis, so sind uns damit auch die
aller Generationen der gleichen Art bekannt, so-
lange sie sich gleich bleiben. Die Domäne der
registrierenden Erblichkeitsforschung sind die
Bildungen der letzten Phase der Ontogenesis, die
Dauerstrukturen. Bei Betrachtung des Ver-
erbungsproblems vom entwicklungsmechanischen
Standpunkte werden auch die der h ist o gene-
tischen Differenzierung vorausgehenden
Phasen, Organanlagenformierung und
Furchung, in den Kreis der Erörterungen ge-
zogen. Während in der letzten Phase der Onto-
genesis mütterliche und väterliche Anteile in
gleichem Maße zur Geltung kommen, werden
Furchung und Bildung der Organanlagen nach
Schaxel ganz von mütterlichen Faktoren be-
herrscht. Diese Feststellung führt Schaxel zu
einer von der bisherigen Anschauung abweichenden
Auffassung der determinativen Bedeutung der
Zygotenbestandteile. O. Hertwig hat diese Be-
deutung in den Worten zum Ausdruck gebracht
— und damit gibt er die Ansicht wohl der
meisten Biotheoretiker wieder — : „Es ist ein als
Wahrheit sich von selbst aufdrängender und daher
gleichsam als Axiom verwertbarer Gedanke, daß
Ei- und Samenzelle zwei einander entsprechende
Einheiten sind, von denen eine jede mit allen
erblichen Eigenschaften der Art ausgestattet ist
und jede daher gleich viel Erbmasse dem Kind
überliefert. Das Kind ist im allgemeinen ein
Mischprodukt seiner beiden Eltern; es empfängt
von Vater und Mutter gleiche Mengen von Teil-
chen, welche Träger der vererbbaren Eigenschaften
sind (Bioblasten)." Schaxel widerspricht dem.
Zwar ist auch er von der überragenden Rolle
des Chrorftatins im Zellenleben überzeugt und
verwirft die Meves'sche Hypothese, nach der
die Piaslosomen Vererbungssubstanzen des Zyto-
plasmas darstellen. Gleichwohl erkennt er dem
Ei eine größere Bedeutung für die zellulare
Determination zu als dem Spermium. Einen
wichtigen Tatsachenkomplex, der „der Genotypus-
lehre ungelegen sein muß", führt Schaxel für
die Richtigkeit seiner Ansicht ins Feld, die Ver-
schiedenheit reziproker Bastarde nämlich. Bei der
Annahme gleichmäßiger Determination der ver-
einigten Gameten in der Ontogenesis fehlt für
diese Erscheinung eine Erklärung. Macht aber
der elterliche Determinationskomplex zunächst —
eben während der Furchung und der Bildung der
Organanlagen — eine mütterliche Vorentwicklung
durch, so ist das verschiedene Verhalten der re-
ziproken Bastarde ohne weiteres verständlich.
Auch O. Hertwig gibt zu, daß die Richtungen
der ersten Teilungen, die Größe und die Be-
schaffenheit der Embryonalzellen und die Form
des Embryos in den Anfangsstadien seiner Ent-
wicklung durch „Form und stoffliche Differen-
zierung der Eizelle" bedingt sind, betrachtet diese
Bestimmungen aber als ,, untergeordnete Faktoren
des Entwicklungsprozesses". Schaxel erhebt
demgegenüber die P'orderung, „die Erforschung
der offenkundigen Verschiedenheit der Eltern-
anteile am Anfang des Kindes nicht durch theore-
tische Postulate zu verschleiern, sondern sie zu
einer Aufgabe der Entwicklungsmechanik zu
machen". Ohne hier in eine Diskussion der P'rage
eintreten zu wollen, ob es zweckmäßig oder gar
notwendig ist, den H er t wig 'sehen Satz von
der Äquivalenz von Ei- und Samenzelle aufzu-
geben, sei soviel bemerkt, daß jedenfalls die von
Schaxel der Entwicklungsmechanik gewiesenen
Wege zur Lösung des Vererbungsproblems uns
sehr aussichtsreich und vielversprechend erscheinen,
und es sei der Wunsch ausgesprochen, daß, wie
in den letzten Jahren der moderne Mendelismus
und die Zytologie zu ihrer beider Vorteil mehr
und mehr Hand in Hand zu arbeiten begonnen
haben, so auch die Entwicklungsmechanik in der
Vererbungsforschung den ihr gebührenden Platz
einnehme. Ansätze dazu sind übrigens bereits
gemacht. Nachtsheim.
Literatur.
Freundlich, E., Die Grundlagen der Eins t ein 'sehen
Gravitationslheorie. Mit einem Vorwort von A. Einstein.
Berlin 'l6, J. Springer. — 2,40 M.
Dolder, J., Die Fortpflanzung des Lichtes in bewegten
Systemen. Mit 9 Figuren.
Lorentz, H. A, The Iheory of electrons and its appli-
cations to the phenomena of light and radiant heat. A course
of Icctures dclivered in Columbia University, New York, in
March and April 1906. 2. Edition. Leipzig '16, B.G. Teubner. —
9 M.
Inhalt: Carl Schoy, Eine merkwürdige N
und buchstabierende Hunde. S. 20. \V
belichte: F. Loewinson-Lessing,
Naturdenkmal Deutsch-Südafrikas
heinung im Jordantal, 3 Abb. S. 17. H. E. Ziegler, Über denkende
heim Neumann, Bemerkungen zu der Entgegnung. S. 24. — Einzel-
Vulkane und Laven des zentralen Kaukasus. S. 24. C> g i 1 v i e G ra n t , Ein
britischem Schutze. S. 26. Ludwig Reese, Zerstörung von Ziegelmauerwerk
S. 27.
durch Organismen. S. 26. Woodruff und Erdmann, Der periodische Reorganisationsprozeß bei Infus
E. Fischer, Über Eiablage und Paarung von Tagfaltern in der Gefangenschaft. S. 28. R. Spitaler, Über den
täglichen Gang der Windgeschwindigkeit in höheren Luftschichten. S. 29. Karl Küppers, Ein neues Präzisionsver-
fahren zur Herstellung genau dimensionierter Glasrohre. S. 29. Elster und Gcitel, Stromschwankungen in Vakuum-
röhren. S. 30. — Bücherbesprechungen: Aloys Müller, Theorie der Gezeitenkräfte. S. 30. Das Land Goethes
1914— 1916, ein vaterländisches Gedenkbuch. S. 31. J. Scha.'iel, Über den Mechanismus der Vererbung. S. 31. —
Literatur: Liste. S. 32.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, '.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Na
valide
aße 42, erbeten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 21. Januar 1917.
Nummer 3.
Zur Kenntnis der Genera Typhlonectes Peters der Gymnophiona
(Amphibia apoda).
Iilewski, Berlin-Wilmersdorf.
Mit I Abbildung.
I. All
:e mein es.
Die merkwürdige Ordnung der Gyinnophioiia
{Aiuphihia apoda) hat von jeher das größte
Interesse der Naturforscher erregt. Sie umfaßt
wurmartig gestaltete, fußlose Amphibien mit
ceylonesischen Blindwühle gewidmet ist, führen
Paul und Fritz Sarasin in die überwältigende
Natur und Vegetation im Zentrum Ceylons.
„Nach einer sternenhellen Nacht sammeln sich
Morgen weiße, feuchte Nebel über der
langgestrecktem , geringeltem Körper und mit ^t>ene, welche vor der aufgehenden Sonne langsam
sehr kurzem verkümmertem oder ganz fehlendem ^"^^ zerstreuen und dem staunenden Auge die
Schwänze.
Nach dem im Auftrage der Königl. Preuß.
Akademie der Wissenschaften zu Berlin von
Franz Eilhard Schulze herausgegebenen,
gewaltigen, noch nicht abgeschlossenen Werk
„Das Tierreich" ') setzt sich diese Ordnung zu-
sammen aus einer einzigen Familie [Caecäiidai],
19 Gattungen, 55 sicheren Arten und einer un-
sicheren Art. ^j Ihr Verbreitungsgebiet sind die
tropischen Gegenden von Amerika, Afrika
und Asien. Verschiedene Gattungen und Arten
dieser Familie waren der Wissenschaft schon
lange bekannt. Die eigenartige, geheimnisvolle
Lebensweise dieser Geschöpfe erschwerte aber
ein Studium. Allgemein hieß es, daß sie in den
sumpfigen und feuchtwarmen Gebieten der Tropen
ein ausschließlich unterirdisches Leben nach
Art unserer Regenwürmer führen. Trommelfell
und Paukenhöhle fehlen ihnen, und die Augen
sind stets verkümmert; meist liegen sie unter der
Haut verborgen und schimmern mehr oder weniger
deutlich durch, oder sie liegen unter dem Schädel-
knochen verdeckt. Diese mangelhafte Ausrüstung,
sowie die Feststellung, daß die Haut aller Tiere
durch zahlreiche, quere Ringfalten'') in breite,
ringtörmige Abschnitte gegliedert ist, mußte ja
auch zu der Anschauung führen, daß nur eine
wühlende, unterirdische Lebensweise im lockeren
Erdreich Platz greifen könne. In einer anschau-
lichen Schilderung •»), die der Erforschung der
Berli
') „Das Tierreich". Verlag von R. Friedlände
Sohn,
^) op. cit. 37. Lieferung : „Gymnophiona (.Amphibia apoda)'
bearbeitet von Dr. Fr. Nieden, Berlin. Ausgegeben in
Mai 1913, S. 4.
') Es sind primäre und sekundäre Ringfalten zu unter
scheiden. Die primären Rmgfahen kommen allen Arten zu
Sie sind entsprechend der Gliederung der Wirbelsäule in dei
Regel in gleichmäüigen Abständen über den ga
verteilt. Die sekundären Rmglalien treten nur t
Arten auf, so, daß eine sekundäre Falte immer zwischen zwei
primären Falten liegt.
') Paul und Fritz Sarasin, „Ergebnisse naturwissen-
schaftlicher Forschungen auf Ceylon in den Jahren 1884— iS86."
Bd. 11: „Zur Naturgeschichte und Anatomie der Ceylonesischen
Blindwühle Ichthyophis glutinosus S. 3/4.
rper
reichste Vegetation enthüllen. Gegen Mittag
steigert sich die von der höher und höher
steigenden Sonne herabströmende Wärme zu be-
deutender Hitze." „In diesem feuchtwarmen Ge-
biet ist der ganze Boden von wühlenden Ge-
schöpfen aller Art durchsetzt, und hier ist es nun
auch, wo die Blindwühle [^Ichthyophis glutinosus)
am häufigsten angetroffen wurde." — In diesem
allgemeinen Rahmen erblickte man gewissermaßen
einen Spiegel der allen Blindwühlen gemeinsamen
Lebensweise. So führte denn auch nichts auf die
Vermutung, daß bei einzelnen Arten eine andere
als die unterirdische Lebensweise herrschen könne.
Um so befremdlicher mußte es wirken, als die
Beobachtung gemacht wurde, daß eine Art,
Ichthyophis glutinosus, ihr Larvenstadium im freien
Wasser verbringt. Eine Beobachtung, die bei
Sarasin zu der Annahme führte, daß „wahr-
scheinlich alle Blindwühlen die sämtlichen Ent-
wicklungsstadien der Salamandriden ebenfalls
durchlaufen, die Caecilien also nicht mehr als
eigene dritte Ordnung neben die Urodelen und
Anuren gestellt werden dürfen, sondern, daß sie
hintort den Urodelen unterzuordnen und den
Salamandriden parallel zu setzen sind." ')
Die Schlußfolgerung S a r a s i n ' s erwies sich als
irrig. Ein den Urodelen ähnliches Entwicklungs-
stadium wurde bei einer zweiten Art der Caeciliidae
nicht mehr gefunden. Dafür wurde eine andere,
noch befremdlichere Entdeckung gemacht: ein-
zelne Arten wurden im freien Wasser
lebend aufgefunden. Zunächst wurde dieses bei
einer amerikanischen Blind wühle beobachtet, die
Caecilia compressicauda genannt wurde. Sarasin
folgerte wiederum aus dieser Beobachtung, „daß
die Jungen in dem zur Geburt reifen Entwicklungs-
siadium gar nicht für das Leben im Wasser be-
'stimmt sind, sondern auf dem Lande geboren
werden, ihre Kicmenlappen abwerten und ohne
weiteres wie die Alten im Boden leben" '^). Auch
diese Voraussage hat sich nicht erlüUt. Es wurden
') op. cit.
''j op. cit.
S. 28.
S. 27.
34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 3
bis heute drei Blindwühlen gefunden, die aus-
schließlich eine Lebensweise im freien Wasser
führen. Sie sind nach der neuesten Systematik \)
zu der Genera Typliloncdcs Pdcrs vereinigt und
setzen sich zusammen aus:
TypJiloncdcs compressicauda (Dum, u. Bibr.)
Typhlonedes natans (J. G. Fisch.)
Typhlo7iedes kaupii (Berthold).
Diese Angehörigen gelten als „Wasser-Cäcilien",
als „merkwürdige, schlangenförmige Batrachier",
als „riesige Wasserwürmer". Auf die Eingeborenen
wirken sie nach den vorliegenden Schilderungen
häßlich und abschreckend. Sie werden von ihnen
nicht angefaßt, sondern gemieden und am liebsten
wie Schlangen getötet. Die Wissenschaft hingegen
hat sich ihrer mit größtem Interesse angenommen.
Anatomische Untersuchungen reichen bis m die
jüngste Zeit hinein. Sie haben Ergebnisse ge-
zeitigt, die von hoher Wichtigkeit sind, weil sie
einen Einblick in eine ganz merkwürdige Ein-
richtung der Natur gewähren. Bei der großen
Seltenheit des Materials ist das Studium noch
nicht abgeschlossen. Erfreulich ist es, dnß Dank
den Bestrebungen auf dem Gebiete der Aquarien-
kunde einzelne lebende Tiere in Deutschland
1) „Das Tierreich"
eingeführt und gepflegt werden konnten. Hierauf
kommen wir bei der Behandlung der einzelnen
Arten zurück.
IL Typhlonedes compressicauda (Dum. u. Bibr.).
Am längsten bekannt von den drei aquatilen
Cäcilien ist Typhlonedes compressicauda. Diese
Ringelwühle wurde zuerst im Jahre 1841 von
Dumeril und Bibron kurz beschrieben, i) und
zwar als „Caecilia compressicauda". Näheres
wurde erst im Jahre 1874 durch Peter s'-^j be-
kannt. Danach erfuhr Peters, daß der natur-
wissenschaftliche Reisende Jelski in Cayenne
unerwartet auf eine im Wasser lebende Caecihe
stieß. Auf einer am Flusse Kaw liegenden Plantage
heß er von Negern und Matrosen in einem Trink-
wasserkanale einen Fischfang ausüben. „Im Ver-
laufe der Jagd stieß plötzlich der Neger, der_ die
Fische vom Ufer verscheuchte, einen heftigen
Schrei aus. Wir alle erblickten etwas, das wie
ein elektrischer Aal aussah, dicht unter der Ober-
fläche des Wassers mit wurmförmiger Bewegung
dahinschwimmen. Wir hielten den Neger zurück,
der im Begriff war, das Tier mit einem Säbel zu
zerhauen. Das Zugnetz wurde gehoben und das
Tier ans Ufer geworfen. Alle glaubten, es sei
ein Aal. Bei näherer Betrachtung entschieden sie
jedoch, es sei ein riesiger Wasserwurm. Ich legte
das Tier in ein besonderes Gefäß, und da ich
bereits hinreichend Fische hatte und keine anderen
zu erlangen hoftte, so begab ich mich nach Hause.
Als ich jenes rätselhafte Tier aus dem Gefäße
herauswarf, um es in die Kalebasse zu legen, er-
blickte ich anstatt eines ihrer zwei : die Alte hatte
ein Junges geworfen! Nachdem ich die Alte auf
den Tisch gelegt, betrachtete ich sie näher. Sie
zeigte sehr langsame, zitternde, scheue Bewegungen.
Daneben befand sie sich in eigentümlichen Kon-
vulsionen. Ich bemerkte, daß sie ein zweites
Junges gebären woüte. Ich legte sie in Spiritus,
damit man sich von dem Lebendiggebaren über-
zeugen kann." Beim Sezieren des Tieres wurden
im Innern noch fünf Junge gefunden. Alle
zeichneten sich durch einen membranösen Aus-
wuchs auf dem Nacken aus, der sehr leicht abriß
und eine quere lineare Narbe hinterließ. Kiemen-
öffnungen wurden nicht gefunden."
Diese Feststellungen erregten höchstes wissen-
schaftliches Interesse. Peters untersuchte das
alte Tier und auch die Jungen und berichtete
über seine Befunde. ») Danach erreichen die
Jungen eine bedeutende Größe, bevor sie geboren
werden, denn sie sind vor ihrer Geburt höchstens
3-^/8 mal kleiner als das Muttertier. _ Nach den
bisherigen Beobachtungen werden die Alten bis
50 cm lang und erreichen einen Körperdurch-
') Erpet. gen. VII. S. 27S.
2) „Über die Entwicklung der Caecilien und insbesondere
der Caecilia compressicauda" in „Monatsberichte der Kgl.
Preuß. Akademie der Wissenschaften in Berlin" 1874, S. 45'
3) In „Monatsberichte" usw. 1875, S. 483.
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
35
messer bis zu 20 mm. Die Jungen, deren Zahl
höchstens sechs beträgt, messen bei der Geburt
bis 157 mm und sind bis 12 mm dick. Auf-
fallend sind ein Paar große, monströse, bis 55 mm
lange Kiemenlappen, die im Nacken sitzen und
wahrscheinlich gleich bei der Geburt abgeworfen
werden. Bei den erwachsenen Tieren ist die
Schnauze breit und abgerundet. Die Augen sind
durch die Haut deutlich zu sehen. Die Haut ist
schlippenlos. Der Körper ist gedrungen und
mäßig gestreckt; nach dem Schwanzende hin er-
scheint er allmählich mehr und mehr von der
Seite zusammengedrückt und auf der Oberseite
gekielt. Der Schwanz ist undeutlich. Am After
befindet sich eine Art Haftscheibe. Die Farbe
stellt ein Olivenbraun dar. An Hautfahen werden
135 — 167 gezählt, die auf dem Rucken unter-
brochen sind, 'j In dieser Beziehung schwanken
aber die ziffernmäßigen Angaben der Forscher.
Es besteht die noch nachzuprüfende Vermutung,
daß Unterschiede bei Tieren vorkommen, die sich
nach den betreffenden Fundorten lichten. Denn
diese Spezies kommt vor in Guayana, Vene-
zuela und Nordbrasilien.
Bei der anatomischen Untersuchung stellte
Peters'') fest, daß der Magen langgestreckt ist.
Leber und Herz sind sowohl auf der rechten, wie
auch linken Körperseite gefunden worden. Bei
einem Exemplar war die rechte Lunge 5 cm länger
als die linke, ^j Weitere anatomische Unter-
suchungen nahm Fuhrmann vor, deren Ergeb-
nisse sehr überraschend waren. *} Während sich
bei allen anderen Gymnophionen der linke
Lungenflügel als sehr rudimentär zeigt, und ge-
wöhnlich nur einige Millimeter mißt, wohingegen
der rechte Lungenflügel für gewöhnlich bis auf
die Höhe des letzten Drittels der langgestreckten
Leber reicht, liegen die Verhältnisse bei den Arten
des Genus Typhldiirctcs ganz anders. Bei Typhlo-
ncdes coinpressicanda reicht der rechte Lungen-
sack, der bei den Gymnophionen sehr eng ist
(etwa 2 mm), bis fast an die Kloake und mißt
26 — 27 cm. Der sonst rudimentäre linke Lungen-
flügel ist bedeutend länger als die rechte, wohl-
entwickelte Lunge der übrigen Gymnophionen.
Er reicht bis weit hinter das Hinterende der
Leber und maß bei den untersuchten Exemplaren
20,5 cm. Fuhrmann fand aber noch weitere
sehr bemerkenswerte Einrichtungen die dem Genus
Typldoiiccfcs überhaupt zugute kommen und ge-
eignet sind, manches in dem Leben dieser eigen-
artigen Tiere zu erklären. Die Trachea ist nämlich
lang und wird von ventral offenen Knorpelringen
gestützt. Sie zeigt vor dem Herzen eine eigen-
tümliche spindelförmige Erweiterung, die in ähn-
licher Form und Struktur noch nirgends angetroffen
wurde. Dieses Organ ist 4 — 5 cm lang und hat
') „Das Tierreich", Lieferung 37, S. 22.
^) „Monatsberichte" 1875 usw., S. 484.
') „Monatsberichte" 1879 usw., S. 941.
*) Veröffentlicht in „Zoologischer Anzeiger", Bd. 42 {1913),
einen maximalen Durchmesser von 6 mm. Es ist
mit einem reich verzweigten Kanalsystem durch-
zogen, das mit der Trachea in mehrfacher Ver-
bindung steht. Das Gebilde besitzt absolut die
histologische Struktur einer Amphibienlunge. Es
ist also ein akzessorisches Atmungs-
organ, eine dritte Lunge, und P'uhrman n
meint, daß es, nach Lage und Struktur zu urteilen,
vielleicht aktiver ist, als die sehr engen, lang-
gestreckten Lungensäcke. — Damit sind aber die
Ätmungsorgane noch nicht erschöpft. Denn es
findet noch eine sehr starke Hautatmung statt.
Die Haut besitzt nämlich eine eigenartige Dis-
position. Sie ist wie bei den meisten Amphibien
aus einer beschränkten Anzahl Schichten zu-
sammengesetzt, und zwar 4 — 6 auf dem Körper
und 8—10 auf dem Kopfe. Jede Schicht hat
eine Dicke von 0,05 mm. Die äußere Schicht
und diejenige, die sich unter ihr befindet, ist
leicht überhäutet und zeigt einen zellenförmigen
Kern. Das Bindegewebe steht in engster \'er-
bindung mit der Haut, und die Hautkapillaren (Haar-
röhrchengefäße) bilden ein voll^tänciiges Netz in
ihr und stehen in sehr engem Kontakt mit dem
Wasser. Das ist einer intensiven Hautatmung
überaus förderlich. Ein derartiger Reichtum an
Gefäßen ist bisher bei keinem Amphibium gefunden
worden. Merkwürdig beschaffen ist auch die Mund-
schleimhaut. In der Zunge und auch unter der
Haut des Gaumens tritt ein überaus starker Gefäß-
reichtum auf, und zwar so, daß namentlich im
letzteren Organ Bindegewebe und Muskulatur
durch die überaus zahlreichen Blutgefäße und
Blutsinuse sehr reduziert sind. Diese Disposition
deutet Fuhrmann dahin, daß außer der Lungen-
atmung, der Atmung des Trachealorganes und der
Haut möglicherweise auch noch eine Buccal-
respiration (Maulatmung) stattfindet. Tat-
sächlich habe ich, wie ich bereits berichtet habe *)
und worauf ich hier noch zurückkomme, an einem
lebenden Exemplar von TypJilonccfcs mitaiis be-
obachtet, daß es von Zeit zu Zeit atmosphärische
Luft atmet. — Diese vierfache Atmung hängt
offenbar mit der Lebensweise der Tiere zusammen.
Sie verhalten sich lange unter der Wasseroberfläche,
was bedeutenden Sauerstoffverbrauch verlangt.
Und diesem können die langen und sehr engen
Lungen nicht genügen.
So wichtig diese Feststellungen an totem
Material sind, so bedauerlich ist es, daß Be-
obachtungen über die Lebensweise von Typhlo-
iiecfcs coinprcssicanda im Freien und in der Ge-
fangenschaft fehlen. Peters sagte schon früher,-)
daß es wahrscheinlich sei, daß die Tiere nur selten
und zu einer bestimmten Zeit den Fischern zu
Gesicht kommen. Sie werden von diesen nicht
gekannt und wegen ihres häßlichen, wurmförmigen
Aussehens verabscheut und vernichtet. Daher
') Milewski; „TyphlonectescompressicaudaundTyphlo-
nectes natans" in „Wochenschrift für Aquarien- und Terrarien-
kunde", 1916, S. 131.
') „Monatsberichte" usw. 1S74, S- 49.
36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 3
fallen sie Sammlern selten in die Hände. Um so
ertreulicher war es, daß es der bekannten Zier-
fischzüchterei-Besitzerin, Frau Kuhni in Konrads-
höhe gelang, im Interesse der Aquanenpfleger zum
ersten Male lebende Exemplare der Art Typlilo-
iiccies coiiipresstcauda in Deuischland emzuluhren.
Im Juni 1912 importierte Frau Kuhnt drei lebende
Tiere, die aus dem Amazoneiistrom stammten.
Sie wurden an Liebhaber nach Rußland verkauft.
Im Juli desselben Jahres führte Frau Kuhnt ein
weiteres Tier ein. Leider siarb es bald. Im
August 1912 konnten noch zwei lebende Exem-
plare eingetührt werden. Davon starb eins an
einer pockenartigen Krankheit. Das andere ver-
unglückte infolge Auslaufens des Bassins. Alle
diese Tiere wurden im Zoologischen Museum in
Berlin als Typhloiiectes coiiipnssicanda Dum. u.
Bibr. festgesiellt. 'j Es ist bedauerlich, daß an
diesen lebenden Exemplaren keine eingehenden
Studien gemacht werden konnten.
III. Typhlonedes iiatans J. G. Fischer.
Über diese zweite im Wasser lebende Blind-
wühle berichtete zuerst J. G. Fisch er. -j Darauf
erwähnte sie kurz Peters.") Die ersten Exem-
plare erbeutete Groß köpf im Jahre 1879 im
Cauca, einem Nebenfluß des Magdalenenstroms
in Neu-Granada an einer mit festem Kiesgrunde
versehenen Stelle. Später, 1912, war Fuhrmann
Zeuge eines Fanges eines Tieres, als er sich auf
einer Forschungsreise in Columbien befand.
Er berichiete darüber in einem über die Ergeb-
nisse der Forschungsreise herausgegebenen Werk.^j
An der Mündung des Magdalencnflusses fischte
ein Indianer an einer Stelle, wo das Wasser sehr
tief und das Ufer abschüssig war. Mit Entsetzen
sah er an seiner Angel einen großen Wasserwurm
hängen, der ihn zu dem Ruf veranlaßie: „Eine
Schlange; eine Schiangel" Fuhrmann betreite
das sich sehr wehrende Tier vom Haken und
steckte es in Alkohol. Später sandte er es an
drei Spezialisten, die es als lypliloncc/cs natatis
erkannten. Ein Referat hierüber erschien von
Werner.^) Neben dem Bericht über den Fund-
ort verdanken wir Fuhrmann auch noch interes-
sante Angaben über die von ihm festgestellten ana-
tomischen Befunde.^)
lyphlonectes nataus unterscheidet sich von
TypIiLonectes comprcssicauda äußerlich zunächst
durch eine andere Kopftorm. Die Schnauze ist
nämlich stark vorspringend und der Kopf ab-
geplattet. Die Augen sind hier deutlich sichtbar.
') „Wochenschrift" 1916, b. 131.
'^) In „Archiv für Naturgeschichte in Berlin" iSSo, S. 217.
») In „Monatsberichte" usw. 1879, S. 94I.
*J Fuhrmann und Mayor: „Le Genre Typhlonectes ;
,,Voyage D'txploration Scientifique En Colombie" („Mera.
Soc. Neuchäteloise des Sei. Nat. Vol. V; 1912).
*•) In „Zentralblatt für Zoologie und Biologie", Bd. 2,
1914, S. 40.
"J op. cit. und „Zoologischer Anzeiger", Bd. 42, 1913,
S. 229.
Der Körper ist mäßig gestreckt und hinten stark
von der Seite zusammengedrückt. Auf dem Rücken
springt eine Längsfalte mehr oder weniger deutlich
hervor. Die Haut, die ebenfalls schuppenlos ist,
erscheint gekornelt. Die Farbe stellt ein Braun-
grau bis Schiefergrau dar; die Bauchseite ist etwas
heller gefärbt. Die Haftscheibe am After ist
stärker ausgeprägt wie bei Typhlonectes coinpressi-
cauda und weiß. Das ausgewachsene Exemplar
erreicht eine Länge von etwa 50 cm. Der größte
Körperdurchmesser beträgt 13 mm. Auch bei
dieser Art sind die anatomischen Befunde durch
Fuhrmann sehr interessant. DieLungehatdieForm
einer langen, scnmalen Röhre. Der rechte Lungen-
sack ist wie lyp/ilouecfes cumpressicauda sehr lang.
Er reicht bis fast an die Kloake und mißt
26 — 27 cm. Die linke Lunge ist aber kürzer wie
bei jener Art; sie mißt nur 12 cm. Als überaus
interessante Erscheinung enthahen die Lungen,
wie auch die Trachea, auf der einen Seite offene
Knorpelringe. Diese sind 0,2 mm bieit und
1,1 — 1,6 mm voneinander entfernt und verteilen sich
auf die ganze Länge der langgesteckten Lungen. Die
rechte Lunge enthält etwa 1 So solcher Knorpelringe.
Eine ähnliche Disposition ist bei keinem Am-
phibium zu finden. Es wird angenommen, daß
sie den Zweck hat, den engen und langen Lungen-
sack offen zu halten, damit die Luft leichter zu
zirkulieren vermag. Links und rechts von der
Lunge befinden sich sehr große, blutreiche Geiäße.
Die Zellen sind sehr einlach und zeigen die ab-
solut gleiche Struktur wie die Lungen der Am-
phibien. Ist schon die ganze Struktur der Lungen
geradezu kurios, so besteht noch eine weitere
Merkwürdigkeit darin, daß sie, abgesehen von ihrer
seltenen (jröße, sich bis fast zur Kloake hinzieht.
Wichtig ist, daß die Gelegenheit vorhanden ist,
diese seltene aquatile Art in der Gefangen-
schaft zu beobachten. Anfang Juli 1914 gelang
es der erwähnten Züchterin Frau Kuhnt, zwei
Exemplare auch dieser Wasserwühle lebend ein-
zutühren. Sie wurden im Zoologischen Museum
in Berlin als Typhlonectes natans J. G. Fischer
identifiziert. Unmittelbar danach gingen sie in
den Besitz des Berliner Aquariums über.
Hier wurden sie von mir beobachtet. Ein Bericht
darüber erfolgte später. ') Das eine Exemplar
wog 180 g und hatte eine Länge von 48 cm.
Es stellte sich als ein Weibchen heraus. Das
andere Tier, ein Männchen, wog nur 60 g und
maß 33 cm. Nach acht Monaten hatte das
Weibchen eine Länge von 53,6 cm und das
Männchen eine solche von 44 cm erreicht. Die
Tiere erhielten ein geräumiges Becken, das sie
allein bewohnten und in dessen Mitte eine Cyperus
alternifolius Staude eingepflanzt war. Diese Be-
hausung erwies sich als sehr zweckmäßig. Regel-
mäßig lagen sie um die Cyperus-Staude geringelt
')Milewski, „Typhlonectes compressicauda und
Typhlonectes natans" in „Wochenschrift für Aquarien- und
Terrarienkunde" 1916, S. 132.
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
37
und nach Schlangjenart miteinander verflochten.
Nie war eine uneebärdige Regung wahrnehmbar.
In ausgesuchtester Harmonie lebten sie gleichmäßig
und friedlich dahin, stoisch und phlegmatisch.
Nie störte eine Uneinigkeit die Ruhe. Es war
eine Friedlichkeit, wie sie selten im Tierreiche
zu finden ist. Ihre Nahrung bestand in Fischen,
wurmähnlich geschnittenen Fleischstückchen und
Regenwürmern, die sie auflutschten. Die
Nahrungsaufnahme war beträchtlich. Wenn sie
sich genügend gefüllt hatten, schwollen sie auf,
wie kleine Tonnen. Selten ringelten sie sich aus-
einander und lagen getrennt, aber auch dann stets
in sich zusammengerollt oder um die Staude ge-
ringelt. Noch seltener bewegten sie sich schwimmend
im Wasser. War das aber mal der F"all, so war
die ausgesprochen egelartige I-"ortbewegung, die
nicht hastig, sondern ruhig und gleichmäßig er-
folgte, zu sehen. Von Zeit zu Zeit schlängelten
sie sich an den Halmen zur Wasseroberfläche
empor, nahmen — trotz künstlicher Durchlüftung —
einen kleinen Schluck atmosphärische Luft mit
dem Maule auf und tauchten gleich wieder in
Ruhe unter. Der Aufstieg fand in sehr großen
Pausen statt. Häufig war ihre Stellung so, daß
sie sich an der Pflanzenstaude so weit hinauf-
geringelt hatten, daß ihre Schnauzenspitze ein
wenig über die Wasseroberfläche hinausragte. In
dieser Haltung hielten sie lange aus. Dann war
aber von einer Aufnahme atmosphärischer Luft
nichts zu bemerken, wie ja diese Respiration über-
haupt kaum erkennbar ist. Lagen die Tiere mit-
oder ineinander verschlungen, so schien es un-
möglich, die Linien ihrer Leiber zu verfolgen.
Für den Laien war dann die Unterscheidung von
Kopf und Schwanz fast ausgeschlossen. Bei
günstiger Lage ließ sich die weißliche, einem
stumpfen Dreieck ähnelnde, hell gebettete Haft-
scheibe am After deutlich beobachten. Die be-
schriebene F"orm der Schnauze und die auf der
zweiten Hälfte des Körpershervortretende Längsfalte
ließen dem mit der Literatur vertrauten Beobachter
keinen Zweifel darüber, daß es sich um Exem-
plare der Art Typhloiiccfes nafans handelte. Die
Hautfalten waren sehr undeutlich. Sie waren nur
bei entsprechenden Biegungen des Körpers sicht-
bar. (Die wissenschaftlichen Angaben über die
Zahl der Hautfalten schwanken auch hier. Es
sollen ungefähr lOO primäre und 86 sekundäre
Falten vorhanden sein.') Die Färbung bestand
aus einem dunkelgetonten Schiefergrau bis Braun
mit einem ganz matten Glanz. Die Bauchseite
hob sich merklich heller ab. — Bei der guten
Pflege entwickelten sich die Tiere, wie die an-
gegebenen Messungen beweisen, vorteilhaft. Am
Morgen des 15. Januar 191 5 lagen vier Junge
da, völlig unvermutet. Sie besaßen die bedeutende,
gleichmäßige Lärige von 20 cm und wogen 20 gr
Die Kiemenlappen müssen gleich nach der Geburt
fortgeworfen worden sein. Nur quer über dem
') „Das Tierreich", Lieferung 37, S. 23.
Nacken zog sich eine ganz feine, hellgraue Furche
von ca. */, cm Länge und i — 2 mm Breite hin,
wie Heinroth berichtete.') Es waren dieses
die Ansatzstellen der früher vorhandenen Kiemen-
lappen. Die Jungen ähnelten nach Farbe und Ge-
stalt völlig den Eltern. Charakteristisch war, daß
sie sich gleich mit diesen vereinigten. Sie
ringelten sich mit ihnen in- und untereinander,
und da sie, wie gesagt, von vornherein eine be-
deutende Größe besaßen, fiel es schwer, sie zu
unterscheiden. Dieses wurde noch schwieriger
mit dem zunehmenden Wachstum. Diese Vor-
liebe zur Vereinigung der ganzen Familie hielt
auch weiter an. Stets befanden sich alle Tiere
auf einem Fleck vereinigt, wie ein Haufen in-
einander verschlungener Schlangen. Von Anfang
an pflegen die Jungen das Phlegma der Alten.
Auch sie bewegen sich selten frei. Tun sie dieses,
so schlängeln sie sich in tiefen Wellenlinien wie
Egel vorwärts. Dieser Zustand ist bis heute ge-
blieben. Alle Tiere sind am Leben geblieben und
gedeihen weiter. Nach etwa zehn Monaten maßen
von den Jungen: das kleinste Exemplar 21,2 cm
und das größte 25,8 cm, nach i^/^ Jahren das
kleinste 25.5 cm und das größte 34 cm. Bei den
Messungen war zu beobachten, daß zwei Tiere den
beiden anderen stets im Wachstum voraus waren.
Es liegt die Vermutung nahe, daß hier Geschlechts-
unterschiede eine Rolle spielen. Man kann nach
den Größenverhälfnissen der Alten annehmen, daß
die Männchen im WacJistum hinter den Weibchen
zurückbleiben. Eine Prüfung des Gewichtes der
Alten läßt die weitere Vermutung aufkoinmen,
daß das Weibchen wieder trächtig ist. Denn es
wog:
am 15. Februar 1915: I/O g und maß 50 cm,
am 14. März 1916: 270 g und maß 53,6 cm.
Woher die Elterntiere stammen, ist nicht mit
Sicherheit festzustellen. Als Heimat von Tvphlo-
iirdrs iiataiix wird der Caucafluß und Barran-
quilla in Columbia angegeben.
IV. TypJihnicdcs kaitpii (Berthold).
Diese dritte und letzte Art der ausschließlich
im Wasser lebenden Blindwühlen wurde zuerst
von B e r t h o 1 d im Jahre 1859 als „Cafcilia kanpü"
beschrieben.'-) Im Jahre 1867 führte sie Kef er-
st ein bei der Erwähnung „einiger neuer oder
seltener Batrachier aus Australien und dem tro-
pischen Amerika" als „Sip/ionops kaiipii'" auf. *)
1877 berichtete Peters weiter von ihr als „Cae-
cilia dorsalis".*) Im Jahre 1879 erwähnte sie
Peters bei der ,, Einteilung der Caecilien" als
' „Typhlonedes dorsah's".^) Boulenger jedoch
1) „Blätter für Aquarien- und Terrarienkunde", 1915, S. 34.
') „Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissen-
schaften und der Georg- August -Universität zu Göttingen"
1859. Bd. I, S. 181.
^1 ibid. T867, S. 361.
*') „Monatsberichte" usw., 1877, S. 459.
^) ibid. 1S79, S. 941.
38
Naturwissenschaftliche Wochenschr
N. F. XVI. Nr. 3
bestimmte diese Art als „Typhlonedes katipii".'^)
Anatomische Aufklärungen gab erst in allerletzter
Zeit Fuhrmann.-)
TypJiloHcdcs kaupii ist die kleinste der „Wasser-
Caeciiien". Das Tier erreicht nur eine Länge
von etwa 26 cm und einen Körperdurchmesser
von höchstens 7 mm. Es besitzt einen abge-
platteten Kopf und eine kürzere, abgerundete
vorspringende Schnauze. Die Augen sind unter
der unbeschuppten Haut leicht erkennbar. —
Fuhrmann sagt, daß diese interessante Spezies
die beste Anpassung an das Leben im Wasser
zeigt. Tatsächlich ist der Körper fast über die
ganze Länge zusammengedrückt. Peters be-
stätigt diesen Befund, wenn er angibt, daß die
Mittel- und Rückenlinie sich zu einer dicken
Längenfalte, einer Längswulst, forme, die einen
Rückenkamm über fast die ganze Körperlänge
darstelle. Dieser Kamm erreicht hinter dem
Kopfe eine Höhe von 4—5 mm. Vor den Ex-
tremitäten erscheint er etwa 5 mm hoch. Die
seitliche Zusammenpressung des Körpers beginnt
schon 3 cm hinter dem Kopf Der Rückenkamm,
der als Schwimmkamm angesprochen wird, tritt
gegen das Ende besonders stark hervor. Nach
dieser Körperdisposition muß das Tier ein sehr
gewandter Schwimmer sein. Einen Beweis hierfür
sieht Fuhrmann auch in der Tatsache, daß er
irn Magen eines der untersuchten Tiere zwei
Fische von einer Länge von 5 — 6 cm vorfand. —
Die Farbe des Körpers stellt ein ins Bräunliche
spielende Olivengrün dar. Es wurden 99 sehr
deutliche, fast vollständige Ringe bildende Haut-
falten gezählt. Die Ringfurchen sind schwarz.
Sekundäre Hautfalten sind nicht vorhanden. Der
After liegt innerhalb einer länglichen, 5V2 mm
langen Haftscheibe.
Fuhrmann hat auch diese Art anatomisch
untersucht. Die Speiseröhre ist sehr lang. Direkt
hinter dem Herzen beginnt der Magen, der nahezu
die Länge der Leber hat. Der Darm beginnt
sehr schmal, erwehert sich aber stark nach hinten.
Die Leber ist 14,5 cm lang und besitzt eine
Anzahl Lappen, die weniger groß als bei den
anderen beiden Arten ist. Auch die Milz ist sehr
schmal; vor ihr scheint eine kleine Nebenmilz zu
liegen. Die Atmungsorgane sind auch hier sehr
typisch. Die rechte Lunge erweitert sich bis zu
I 5 cm und hat eine ungefähre Länge von 24 cm.
Der Durchmesser ist aber doppelt so groß, wie
bei den anderen Typhlonectes; er beträgt 4 mm.
Die linke Lunge dagegen ist erheblich kürzer wie
bei jenen. Sie besteht in einem kurzen, nur 6,5 cm
langen Sack. Dafür ist ihr Durchmesser größer,
denn er erreicht i cm. Dadurch erscheint sie
als ein weiter Sack. Sonst herrschen die gleichen,
kurios anmutenden inneren Einrichtungen wie
bei den anderen Arten vor. Die Struktur der
Haut weist die gleichen Eigentümlichkeiten wie
bei Typhlonectes compressicauda auf.
Typhloiiec/es kaiipii_ ist bisher noch nicht lebend
eingeführt worden. Über ihre Lebensweise läßt
sich also zurzeit noch nichts sagen. Als Heimat
gilt Angostura im Orinoco.
V. Schlußbemerkungen.
Die Genera Typhlonectes unterscheidet
sich von den G y m nophionen im wesentlichen
dadurch, daß die drei zu ihr gehörigen Arten
ausschließlich eine Lebensweise frei im
Wasser führen. Sie haben alle eine unbeschuppte
Haut und sind lebendgebärend. Alle be-
sitzen zwei Zahnreihen im Unterkiefer. Ein ge-
meinsames Merkmal der Gymnophionen haben
auch sie: am Kopf zwischen Augen und Nase
rätselhafte, mit einer Drüse in Verbindung stehende,
vorstreckbare, fühlerartige Organe, „Tentakel."
Der Besitz der Tentakel unterscheidet die gesamte
Gruppe der Blindwühlen von allen anderen Am-
phibien der jetzigen Lebewelt. Sie stellen einen
recht kompliziert gebauten, zylinderförmigen Fort-
satz dar, dessen stumpfes, vorderes Ende aus
einem Hautkanal unter dem Auge hervorsieht und
zurückgezogen werden kann. (Johannes Müller.)
Der Zweck der Tentakel ist noch nicht aufgeklärt.
Sarasin^) hält sie für Fühler, Tastorgane, denn
er sah sie bei der ceylonesischen Blindwühle, an
der er diesen eigenartigen Apparat untersuchte, -)
sich fühlerartig betätigen. Die Blindwühle tastete
mit ihnen, wie ein Blinder mit dem Stock, und
die Tentakel wurden, wie bei einer Schnecke
beliebig hervorgestoßen und zurückgezogen.
Wiedersheim^) dagegen sagt: ,Von einem
Tastorgan muß man absehen; vielmehr ist es in
erster Linie ein Sekretionsorgan, vielleicht ein
Giftorgan, das das Sekret im Strahl ejakuliert,
ein in die Ferne wirkendes Angrifi's- oder Ver-
teidigungsmittel." -- Bei den Typhlonectes- Arten
ist dieses rätselhafte Organ noch nicht untersucht
worden. •
Als auffallend hebt Sarasin-*) hervor, daß es
ihm nicht gelungen ist, Seitenorgane bei der
Genera Typhlonectes zu entdecken. Er sagt:
„Sollte sich dieses Fehlen der Seitenorgane be-
stätigen, so wäre dieses eine nach jeder Richtung
hin auffallende Tatsache. Die Seitenorgane er-
halten sich mit großer Zähigkeit auch unter
Umständen, wo wir einen Nutzen derselben für
ihren Träger nicht zugeben können." „Das lange
Persistieren der Kiemenlappen von Typhlonectes
zu einer Zeit, wo auch jedenfalls die Kiemen-
spalten sich schon geschlossen haben und die ge-
ichaftlicher Forschungen
') „The Annais and Magazine of natural History, including
Zoologyi Botany and Geology" London ser. 6 v. 8, S. 457.
■-) Fuhrmann in „Voyage D'Exploration" usw., 1912,
S. 124.
1) Sarasin: „Ergebni
auf Ceylon" usw., Bd. 2, S. 205.
-) Sarasin: „Über den Tentakel von Ichthyophis gluti-
nosa" in „Sitzungsb'er. d. Ges. naturf. Freunde in Berlin", 1889.
3) Wiedersheim: ,, Die Anatomie der Gymnophionen."
Jena 1879, S. 54.
*) Sarasin, „Ergebnisse naturwissenschaftlicher For-
schungen auf Ceylon", Bd. 2, S. 27.
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
39
wiß einmal vorhanden gewesenen Seitenorgane
verschwunden sind, hat einen physiologischen
Grund, über den wir uns weiter unten im Vergleich
mit anderen Erscheinungen dieser Art bei den
Amphibien verbreiten wollen. ■' Bei der letzteren
Bemerkung gingSarasin von der Annahme aus,
daß auch die Genera Typhlonectes die sämtlichen
Entwicklungsstadien der Salamandriden durchläuft;
eine Annahme, die durch die neuzeitlichen Be-
obachtungen an lebendem Material sich als fehl-
gehend erweist. — Auch der Zweck der alle drei
Arten auszeichnenden Haft Scheibe an der
Kloake erscheint noch ungeklärt, denn bei den
lebenden Exemplaren des Typhlonectes nataiis
habe ich nie beobachten können, daß sie praktisch
betätigt wird. Nicht minder merkwürdig ist neben
den anatomischen und histologischen Eigentüm-
lichkeiten der Bau der Atmungsorgane, das
Fehlen von Drüsen in der Mundhöhle,
der Bau der Trachea und des Schädels und die
starke Entwicklung der Lungen. Letztere bringt
Fuhrmann mit einer wahrscheinlichen regen
Tätigkeit der Tiere im Wasser zusammen; eine
Vermutung, die indes durch die Beobachtung von
Typhlonectes nataiis, der großes Phlegma bekundet,
nicht bestätigt wird. Eher läßt sich mit Werner')
annehmen , daß Typhlonectes eine primitive
Gattung der Apoden vorstellt und weitere Unter-
suchungen an reicherem Material erst zeigen
müssen, „ob diese anscheinend primitiven Merk-
male nicht durch die Anpassung an die aquatische
Lebensweise zu erklären ist."
') „Zentralblau für Zoologie und Biologie", 1914, S. 41,
[Nachdruck verboten. 1
Wünschelruten sind
sie zwingen am Sta
lenden Hand
regt sich das magische Reis.
Goethe, Weissagungen des Bakis
Eine Rute, ein Stab ist die Urhandwaffe, mit
der ihr Besitzer, der „Herr", seine Wünsche, seine
Herrschaft kundgibt und nötigenfalls erzwingt.
Der Stab, das griechische Skeptron wird zum
Kennzeichen des Ansehens, und wie denen, welche
ob der ihnen innewohnenden hervorragenden
Eigenschaften kämpfend, siegend den Besitz solcher
Herrschaftszeichen errangen, fürderhin gehuldigt,
ihren Wünschen gedient wurde, wie alle Welt
ihrer suggestiven Macht sich beugte, wie man
dem Winke des Stabes gehorsamte, so umwob
man ihn, frühzeitig sicherlich, mit einem geheimnis-
vollen magisch-mystischen, wunderbaren Nymbus,
man suggerierte ihm , um modern zu sprechen,
die Kraft des Besitzers, man hielt ihn schließlich
allein für den Träger von dessen Wunder wirkenden
Kräften, man gehorchte ihm, man erfüllte blind-
lings die Wünsche auch dessen, der sich wider-
rechtlich, ja seiner unwürdig, in seinen Besitz
setzte.
Nicht die Eigenschaften, welche das Volk
Assurs seiner Göttin der Unterwelt andichtete,
gaben ihr Macht über ihre Untertanen und Ge-
walt, die Erde zu sprengen und ihre Schätze dem
staunenden Auge der Menschen bloßzulegen,
sondern der- Wunderstab in ihren Händen, der
ihr auch den Namen „G öttin des Stabes" gab.
Ebenso ging es dem Götterboten Hermes-
Mercur. Wenn er mit der Rute, der goldigen
Virgula, an die Pforten der Hades pochte, dann
erschloß sie sich nicht ihm, dem Gotte, nicht er
übertrug Wunder wirkende „göttliche" dem Ver-
Die WilnscLelrute.
Von Hermann Schelenz, Cassel.
Mit I Abbildung.
hängnis gebietende Eigenschaften auf sie und
macht sie zur divina fatalis. Gerade umgekehrt
stellte man sich die Sachlage vor, und ganz
ebenso erklärte man die Macht des Hermes-
Ebenbilds Odin unserer nordischen Gölterlehre.
Nicht er, nein seine Wunsch-, Wunder- oder Ruf-
Rute senkt unwiderstehlichen Schlaf wunder-
:Schä
Rutengänger na> li I
Buch „Vom Bergk
mächtig auf Brunhildens Augenpaar und zwingt
in winterstarre Ruhe Wald und Flur.
Daß Aron mit seinem Stabe Wasser in Blut
wandelt, daß Moses mit dem seinen Wasser aus
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 3
dem Felsen schlägt, wird geradewegs als Ver-
dienst des Stabes geschildert, nicht als das ihrer
Träger oder noch richtiger des fürsorglichen,
allmächtigen Gottes, der im ersten Falle, noch
vor einem Jahrhundert als Wunder angestaunten
„Blutregen" sandte und im zweiten Falle Mosen
die wasserführende Ader gezeigt oder, wissen-
schaftlich gesprochen, wunderbare Geistesgaben
mitgegeben hatte, die ihn befähigten, an ge-
wissen, ihm bekannt gewordenen geologischen
Kennzeichen zu erkennen , wo Wasser zu ver-
muten war, wo er „Wasser schlagen" konnte.
Aus, wegen der Seltenheit seines Vorkommens
und ob seiner Eigenschaften kostbarem Gold, das
schon allein aus diesem Grunde seines Besitzers
Wünsche in hohem Grade erfüllen konnte, wurden
die Herrschaftszeichen der Mächtigen angefertigt.
Holz-itäbe, die wegen ihrer seltsamen Gestaltung,
ihrer Färbung oder sonst wie auffielen, als Natur-
wunder erschienen, wurden von den Naturkindern
— Naturkindern gleich sind in unserer Zeit der
Wunder der Elektrizität die der Natur entwöhnten
Gebildeten noch fast samt und sonders! — in
begreiflicher Gedankenverbindung ebenfalls als
Träger wundertätiger Kräfte angesehen, die sich
auf den glücklichen Besitzer übertrugen. ^) Die
Rute der Sybille, welche dem Aeneas nach Vergils
rührender Schilderung die Pforte des Orkus
öffnete, war ein solch auffallendes Naturwunder,
vermutlich ein goldgelber Mistelzweig. In der
Tat ist die Pflanze ganz dazu angetan, aufzufallen.
Buschig zusammengedrängt hebt sich die
Mistel von dem Baum ab, der winterlich entblättert
gen Himmel starrt, und zur Sommerszeit ,,in
drangvoller Dichte des Baums sproßt im Gewirr
der grünenden Blätter die goldige Pflanze", die
sich durch sperrige, regelmäßig -zweigabelige
Teilung jedenfalls von den allermeisten Gewächsen,
unterscheidet, von denen sie ein Teil zu sein scheint
und die ihr doch nur einen Platz zur Ansiedelung
und Nahrung bieten. Ihre Herkunft ist geheimnis-
umwoben, unbegreiflich vom Himmel herab-
gefallen muß sie sein , sie ist eine Göttergabe.
Bald wurde der göttliche Zweig, die Virga divina,
ein mit göttlicher Macht, mit der Gabe der
Weissagung begabter Zweig, eine Virga divinatoria,
damit gleicherzeit eine wunscherfüllende, eine
Wunschrute.
Um Mistel-Wunschruten handelte es sich auch
in dem Kult der Druiden, der immerhin beein-
') Vor ganz kurzer Zeit erst konnte Max Kirmis Ke-
fehlstäbe aus seinen Sammlungen (im „Daheim") im Bilde
vorführen und mitteilen, daß sie, Kriwe (jedenfalls nach dem
slawischen Krsive, krumm, verkrüppelt), auffällig reuelwidrige
hin- und hergebogene Stockausschläge offenbar verschiedener
Bäume, seit vielen Jahrhunderten von den Orlsvorstehern in
Liltauen und darüber hinaus als Zeichen ihrer Würde und
Macht getragen wurden. Den Schulzen im Posenschen wurden
vor einigen fünfzig Jahren zu gleichem Zwecke staatsseitig
lange „Schulzenstöcke" verliehen. Hierher gehören die im
Stil und Namen deutlich den pflanzlichen Ursprung verratenden
Ferulae oder Sambucae, die Bischofsstäbe, die Kammer-
herrnstäbe, die Zauberstöcke unserer modernen Zauber-
künstler usw.
flußt sein kann von den ebengedachten, von
phönikischen Seefahrern nordwärts gebrachten
Anschauungen der klassischen und weiter zurück
orientalischen Völker.
Nichts war den Druiden, den keltischen
Derwydd oder Dryod, den Weisen des Stammes,
so heilig, wie die Mistel vom Eichbaum, berichtet
Plinius: Mit großer Feierlichkeit wurde die
„Luftpflanze", die Göttergabe in besondern,
heiligen Nächten beim bleichen Schein des Voll-
monds — der Leser sah die Zeremonie am Ende
gelegentlich in einer „naturalistischen" Aufführung
von Bellinis Norma — von den Oberdruiden mit
goldener Sichel geschnitten. Nie hatte sie die
Erde berührt, peinlich wurde sie vor ihrer Be-
rührung gehütet und in schneeigem Tuch bis zu
ihrer Verwendung aufbewahrt. Sie war und ist
in Wales noch jetzt Wunschrute auch in bezug
auf das höchste Gut der Gesundheit, und der
Mistle-toe erfüllte auch in unserm verenglän-
derten Vaterland den Wunsch nach einem Ktiß
von den Lippen der Schönen, die sich, wohl nicht
immer zufällig, unter ihm haschen ließ.
Neidisch stellen die Götter sich den Wünschen
der Erdenmenschen in den Weg, neidisch ver-
sperren ebenso die Untergötter, die als Dämonen,
böse Geister usw. das Weltall zu vielen Tausenden
bevölkern und sich in die Herrschaft über Pflanzen
und Tiere, über die Steine, über Wasser und
Feuer, kurz über alles Irdische teilen, ihnen die
Grenzen zu ihrer Machtvollkommenheit. Geheime
Künste, Kabbala, Magie lehren Mittel und Wege,
die Dämonen zu betören, die Pforten zu ihrem
Besitz sprengen, ihnen die Erfüllung aller Wünsche
abringen.
Gerade der Bergmann, der den dunklen Schoß
der Erde, von steten Gefahren bedroht, nach
Schätzen durchwühlt, ist ebenso wie der Land-
mann und Schiffer, die gleich ihm im steten
Kampf mit den Naturgewalten stehen, solchem
Aberglauben unterworfen. Die Schatten, die das
fahle Licht seiner Lampe von ihm selbst auf die
Wände seiner Gänge wirft , deutet ihm seine
Phantasie als Kobolde und Nickel, die ihn gold-
gleisendes taubes Erz statt lautern Goldes finden
und seinen Schacht ersaufen lassen. Er wird nach
magischen Helfern ausschauen, damit sie ihm im
Kampf mit den Erdgeistern beistehen, nach
„Springwurzeln", die das Gestein brechen und die
Goldader frei werden lassen, nach Wunschruten,
die ihm anzeigen, wo er den Schacht abtäufen
soll. Und von jeher gab es sicher Leute, die
solchen Glauben und den ihnen und ihren Ruten
besonders innewohnende Kräfte, nicht nur aus
selbstlosen Gründen förderten. Jedenfalls gab es
schon früh ,, Rutengänger", die berufsmäßig als
Angestellte von Bergwerken das Gelände mit
ihren Wunderruten begingen und die Stellen, wo
die Rute „schlug" als erz- oder wasserversprechend
anzeigten, oder die von Fall zu Fall gegen Ent-
gelt ihre Wunderhilfe darboten.
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Der erste, der von unserer Wünschelrute
wissenschaftlich spricht ("dies Wort hrdeutete friiher
z. ß. in Meeren berg's „Buch der Natur" aus
dem XIV. Jahrh. etwas ganz anderes: die Virga,
welche wegen ihrer, den Bestand der Welt ge-
währleistenden Wunderkraft im Phalluskultus des
Altertums geradezu göttlicher Verehrung gewürdigt
wurde), ist Paracelsus, richtiger Hohenheim.
Er nennt den Gebranch der aus Haselstrauch
gefertigten Rute altbekannt.
Auch um sie wob, wie um die Mistel, seit
altersher die Sage ihr geheimnisvolles Gewand.
Vergil schildert den schattenspendenden Strauch
als Liebling der Hirten und Unterschlupf liebender
Paare, und des großen Dichters Spuren folgen die
Brüder in Apoll bis zum Sänger des Kabaret-
Idylls: Unter dem Haselstrauch. Aus ihm schnitt
m^n Wünschelruten aufGrund uralter Volksvorliebe
für ihn, und weil er bequemer zu erreichen war
als die in der Tat sehr seltene Eichenmistel. In
Anlehnung aber an deren ,, Dichotomie", zweizinkige
Gabelung des Vorbildes wurde eine ähnlich ge-
staltete ,, Zwiesel", unter Anlehnung wieder an der
Druiden Brauch und ihn mit christlicher Mystik
verquickend, in mondhellen Johannisnächten unter
absolutem Schweigen mit neuem Messer ge-
schnitten.
Ein Mann wie Georg Agricola konnte in
seinem berühmten „Buch vom Bergwerk", das
dieser wichtigen Hantierung erst wissenschaftliches
Gefüge gab, nicht achtlos bei der Wünschelrute
vorübergehen, ohne die Berghau im Grunde un-
möglich war. Allerdings gab es schon, so zu
sagen, Handwerksregeln für Erzsucher. „An
welchem Ort viel Bäume, lang nacheinander
ordentlich gesetzt, zu unrechter Zeit verdorren und
schwarz werden oder sunst ihre rechte Färb ver-
lieren und vom Ungestüm der Winde niederfallen,
daselbig liegt ein Gang verborgen", weil aus dem
Fallen der Bäuine zu folgern ist, daß ihre Wurzeln
durch Erzadern am Eindringen in den Boden und
Festhalten des Baumes verhindert werden. Je
nach dem gewünschten Erz wechselte man damals
aus allerhand Erwägungen mit dem Rutenmaterial
(nach Theophrast wechselte die Mistel ihre
Eigenschaften je nach ihrem „Wirt"). Haselnuß-
ruten zeigten Silber, solche aus Tannenholz Blei
und Zinn, eiserne oder stählerne Gold an. In der
nach oben gekehrten bloßen Hand (die beigegebene
Abbildung aus dem gedachten Werk, die besser
als viele Worte das Rutenlaufen zeigen, deutet
das dadurch an, daß sie auf dem Baumstumpf die
ausgezogenen Handschuhe sehen läßt!), also in
recht gezwungener, die Arm- und Handmuskulatur
fast krampfhaft anspannender Haltung, wird die
Rute an den Gabelenden senkrecht vor der Brust
getragen. Über dem Erzgange oder der Wasser-
ader sollte sie in zuckende Bewegung geraten
und schließlich geradezu nach unten zeigen.
Der Wunsch ist der Vater des Gedankens.
Er ist stark genug, seine Spuren auf dem Gesicht
zu zeigen, er wird unzweifelhaft auch die gedachte
Muskulatur beeinflussen, zumal wenn sie straff ge-
spannt ist (etwa wie die Saiten einer Harfe vom
leisesten Windzug zum Tönen gebracht werden)
und noch mehr, wenn sie einem Menschen gehört,
der seinen Weg nicht geht, sondern, wenn auch
unbewußt, beeinflußt von seinem Sachverständnis,
ihn sucht, selbst nur dahin, wo umgestürzte
Bäume eine Erzader oder eine Talmulde Wasser
vermuten lassen.
Auch Agricola verschloß sich solchen Er-
wägungen nicht. Ihm ist die Rute „mit der schon
im Altertum Zauberei getrieben" wurde, zuwider.
,.Ein Bergmann", sagt er, „dieweil er ein frommer
ernstlicher Mann sein soll, gebraucht der Zauber-
ruten in keinem Wege, denn er ist der natürlichen
Dinge erfahren und weiß, daß ihm die Wünschel-
ruten, wie eine Gabel geformiert, kein^ Nutz
seien."
Er belehrte, aber er beseitigte den Aberglauben
nicht. Mächtig flammte er auf, als 1692 die
Wundertat eines Franzosen Aimar von sich reden
machte. In der Dauphine als Rutengänger be-
kannt, wurde er herbeigeholt, als eine Mordtat in
Paris den Bemühungen der Behörden spottete und
nicht aufgeklärt werden konnte. Der Mann mit
seiner Wunderrute, die ihm alles verborgene offen-
barte, wurde herbeigeholt, und sie führte ihn über
die Rhone hinweg nach Beaucair bis vor den Mörder,
der zitternd seine Untat eingestand. Daß die Rute
eine ganz gemeine Holzrute war, ein Werkzeug
in der Hand eines Mannes, der auch vor Betrug
nicht zurückbebte, bewies wenig später der Prinz
von C o n d e , der Aimar d bei seinen Versuchen
streng beobachtete und ihn, vielleicht eine Art
von „Gedankenleser", als Schwindler entlarvte.
Kurze Zeit später rechnete Joh. Gott fr.
Zeidler, ein geistreicher Theologe, gründlich
mit der Rute ab, so gründlich, daß ein halbes
Jahrhundert später ein Braunschweiger Arzt Joh.
Nicol. Marti US, trotzdem er selbst so wunder-
gläubig war, daß er einen Bratspieß, weil er aus
Haselnußholz angefertigt war, für imstande hielt,
sich von selbst zu drehen, in seinem Lehrbuch der
Magie naturalis bekennt, „daß der Alten aber-
gläubisch Geschwätz zur Würckung besagter Ruthe
nichts beitrage, sondern die Ursachen des Effects
aus einem anderen Grund hervorgesucht sein
müßten".
Trotzdem spornte die Wunderrute wieder
fünfzig Jahre später ernsthafte, zumeist Münchener
Gelehrte zu neuen Untersuchungen an. Der Mag-
netismus genügte zu ihrer Deutung nicht, Galvanis
staunenerregende Entdeckung wurde herangezogen,
ein verbesserter „bipolarer Zylinder", ein „siderisches
Pendel" konstruiert, das sicherer arbeiten sollte als
die alte Rute — die moderne Forschung bestätigte
aber lediglich, was Agricola vor drei Jahr-
hunderten gelehrt hatte, was ich klarzulegen mich
bemühte: daß der Rute Leistungen trügerische,
nicht ihr zukommende, sondern Folgen „ideo-
motorischer Bewegungen" des Trägers sind, daß
sie erst in der Hand ihres Trägers, unter dem
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 3
Einfluß seines gelegentlich Wunder wirkenden
Geistes, von ihm instruiert, zu der Gerätschaft
einer Wunder- Wunschrute wird, gleich wie das In-
strument, die Gerätschaft erst in den Händen des
Kundigen, dessen, der „kennt", das Erwünschte ge-
raten läßt. Die Rute gleicht dem Modellierstab, den
der Banausos nur dürrem Holz gleich achtet, und
das doch, von der „könnenden" Hand des gott-
begnadeten Künstlers geführt, aus formlosem Ton
Wunderwerke hervorzaubert. Sie gleicht der
Geige aus ebenso dürrem, an sich wertlosem Holz,
denen Meister der Töne, Künstler, gar wunder-
same Melodien entlocken, die ihrem Sehnen und
Fühlen Ausdruck geben und alle Wünsche, alles
Sorgen und Kümmern der Zuhörer zum Schweigen
bringen, erfüllen.
Was immer wieder, auch jetzt wieder die
Wünschelrute in aller Welt Neues brachte, das
waren Begleitumstände, die sie selbst nicht an-
gehen. Auch ohne die nüchterne Aufzählung
von zum Teil lächerlichen Fehlgängen '■) und andere
aufklärende Mitteilungen über die Rute wird sie
wieder zur Ruhe kommen, der Glaube an sie
oder ihresgleichen wird aber erst schwinden,
wenn des Kindes Phantasie sich nicht mehr an
dem Märchen von der Springwurz, von Wunsch er-
füllenden Heinzelmännchen u. dgl. ergötzt, und
wenn der Mensch nicht mehr hofft und wünscht —
niemals!
') Vor kurzem (N. W. Bd. 31, S. 161 u. S. 672) wurc
über besonders augenfälliges Versagen der Ruten berichtet.
Einzelberichte.
Chemie. Der bedeutsamen Frage, bis zu welchem
Grade die Reinheit die Technik die wichtigeren
Metalle herzustellen vermag, hat die Physikalisch-
technische Reichsanstalt in den letzten Jahren
ihre besondere Aufmerksamkeit zugewendet, und
es soll nun im folgenden im Anschluß an die
bisher erfolgten Veröffentlichungen (F. Mylius,
Zeitschr. f. anorg. Chem. Bd. T4 [1912], S. 407— 427;
F. Mylius und E. Groschuff, ebenda Bd. 96
[1916], S. 237 — 264)') ein kurzer Bericht über die
bis jetzt erhaltenen Resultate gegeben werden.
Die Aufgabe, die sich die Reichsanstalt ge-
stellt hat, zerfällt in zwei ganz verschiedenartige
Teile, nämlich einerseits in den analytischen,
andererseits in den präparativen Teil; in jenem
werden die in den Metallen vorhandenen Fremd-
stoffe festgestellt, in diesem werden der Technik
nach Möglichkeit Hinweise gegeben, auf welchem
Wege die Reinigung der zunächst ja im weniger
reinen Zustande gewonnenen Metalle durchgeführt
werden kann.
Der analytische Teil der Aufgabe hat nicht
unerhebliche Schwierigkeiten, denn die üblichen
Methoden der analytischen Chemie sind auf das
spezielle Problem der Ermittlung und Bestimmung
von sehr geringen Mengen oder gar Spuren in
Anwesenheit großer oder übergroßer Mengen eines
Hauptstoffes nicht zugeschnitten. So ist es z. B.,
wenn es sich etwa um die Analyse von „reinem"
Zink handelt, vollkommen ausgeschlos'^en , den
Zinkgehalt der Probe unmittelbar zu bestimmen,
weil die Genauigkeit der Bestimmung selbst bei
sorgfältigstem Arbeiten kaum 0,1 •*/„ erreichen
würde. Der allein zulässige Weg ist vielmehr
der der indirekten Analyse, d. h. es werden sämt-
liche, in dem Metall enthaltene Fremdstoffe nach
') Vgl. auch den Bericht über die Tätigkeit der Physi-
kalisch-technischen Reichsanstalt im Jahre 1915, Zeitschr. f.
Instrumentenk. 36 [1916], S. 154—157.
Art und Menge genau bestimmt, und dann wird,
nachdem ihr prozentischer Gesamtbetrag — z. B.
0,484 "/d von 100 abgezogen ist, der Rest 99,516%
als der Reingehalt der Probe angeschen. Dieser
Weg ist allerdings sehr umständlich, aber er allein
gibt, wie die folgende Überlegung zeigt, genaue
Resultate. Die Genauigkeit einer analytischen
Untersuchung ist innerhalb gewisser Grenzen von
der absoluten Menge des zu bestimmenden Stoffes
mehr oder minder unabhängig. Demnach ist,
wenn wir als mittlere Genauigkeit der Bestim-
mung der einzelnen zu bestimmenden Stoffe im
Durchschnitt i"/,, annehmen, und im ganzen Ver-
unreinigungen im Gesamtbetrage von 0,484 "/,, zu
bestimmen sind, der bei deren Bestimmung unter-
laufende Fehler im ungünstigsten Falle, d. h. wenn
sich alle Einzelfehler addieren, i "/o ^on o,484'',|,,
d. h. 0,005 '*/,). Der Reingehalt des Zinks ist also
auf diesem indirekten Wege zu gg.sie^/g mit einem
Fehler von nur 0,005% festgestellt, während bei
der direkten Bestimmung, trotzdem hier die pro-
zentische Genauigkeit der Analyse unter Annahme
ihrer ganz besonders sorgfältigen Durchführung
zehnmal größer vorausgesetzt worden ist, der
Wert 99,5 mit einem P"ehler von 0,1%, also mit
einer zwanzigmal geringeren Genauigkeit erhalten
worden ist.
Nun bietet allerdings, wie bereits angedeutet
und bei der Annahme über die Größe der wahr-
scheinlichen Fehler bereits berücksichtigt worden
ist, die Bestimmung kleiner Mengen von Fremd-
stoffen neben einer großen Menge eines Haupt-
stoffes besondere Schwierigkehen. In der Tat
verlangt die genaue Durchlührung der indirekten
Analyse, daß man zunächst den Hauptbestandteil
in geeigneter Form mehr oder minder vollständig
aus der Gesamtmasse entfernt und für die eigent-
liche Analyse die von dem Bällast befreite Rest-
masse benutzt. Der Erfolg der Arbeit hängt hier
— das erscheint ja selbstverständlich — sehr
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
wesentlich von der Form ab, in der die Haiipt-
menge des Hauptbestandteiles entfernt wird, denn
es muß natürlich peinlichst vermieden werden,
daß mit dem Hauptbestandteil etwa auch Teile
der zu bestimmenden Fremdstoffe — etwa durch
„Mitreißen", durch „Adsorption", durch „Misch-
krystallbildung" usw. — entfernt werden. Man
wird also vor allen Dingen vermeiden müssen,
den Hauptbestandteil in Form eines mehr oder
minder amorphen Niederschlages, das Zink also
z. B. als Schwefelzink, abzuscheiden, man wird
vielmehr die Abscheidung des Zinks nach der
Auflö-iung des Metalls in Form einer gut kristalli-
sierenden Verbindung, etwa aus salpetersaurer
Lösung als Zinknitrat Zn(N03)., -öHoO, vornehmen.
Indessen ist dies Verfahren, obwohl durchführbar,
darum nicht besonders zweckmäßig, weil das Zink-
nitrat mit Kupfernitrat, Nickelnitrat usw. Misch-
kristalle bildet, deren Entstehung begreiflicher-
weise dazu führen kann, daß ein Teil des in der
Lösung vorhandenen Kupfers und Nickels mit dem
Zink entfernt wird und sich so der Bestimmung
entzieht, und Mylius zieht daher jetzt nach
Durchführung sehr sorgfältiger Einzelstudien die
Ab«cheidung des Zinks als Zinkammonium-
sulfat vor.
Die Bestimmung der in einem Metall ent-
haltenen Fremdbestandteile setzt also, wie schon
aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, in
jedem Falle ein besonderes Studium voraus; der
allgemeine und in Wirklichkeit keineswegs über-
treibende Satz, daß jede genaue chemische Ana-
lyse eine wissenschaftliche Arbeit für sich ist,
gilt in erhöhtem Maße für die schwierige Auf-
gabe der genauen Bestimmung des wahren Rein-
gehaltes eines „reinen" Metalles.
Um die Ergebnisse seiner Untersuchungen
kurz darstellen und eine leichte Charakterisierung
der Handelsmetalle nach ihrem Reinheitsgrade
durchführen zu können, hat Mylius den Begriff
der „Reinigungsstufe" eingeführt. Er sieht hierbei
von der Natur der in einem Metall vorhandenen
Verunreinigungen ganz ab, berücksichtigt also
insbesondere nicht, ob die eine Verunreinigung
für die praktische Verwendung des Metalles schäd-
licher als die andere ist, sondern bemißt, indem
er in rein chemisch-analytischer Betrachtungsweise
als Grundlage für die P^eststellung der Reinigungs-
stufe nur die Summe sämtlicher überhaupt vor-
handener Fremdstoffc benutzt, die Reinigungs-
stufe als in den Potenzen von lo ausgedrücktes
Gewichisverhältnis des „reinen" Metalls zur Summe
der Verunreitugungen. So entspricht weniger als
I Teil Verunreinigungen in lo Teilen des Metalls
der Reinigungsstufe I, weniger als i Teil in lO^ ^
lOO Teilen der Reinigungsstufe II usw. Ein Metall
von der Reinigungsstufe IV ist demnach ein Metall,
dessen Verunreinigungen insgesamt weniger als
I : lo' = I : loooo^ = o,oi% betragen. Ein Metall,
das in lo Gewichtsteilen mehr als i Gewichts-
teil, d. h. mehr als io'7o Fremdstoffe enthält, hat
die Reinigungsstufe O, es ist „unrein".
Eine Übersicht über die reinsten Metalle des
Handels nach Analysen, die in der physikalisch-
technischen Reichsanstalt von Mylius und im
geophysikalischen Institut in Washington von
Allen ausgeführt sind, gibt die folgende Tabelle:
Bezeichnung des Mctalles
Ana-
lysiert
Summe
der
Kremdstoffe
Reini-
gungs-
stufe
Reinstes Gold
Allen
nicht
bestimmbar
Vl(f)
Reinstes Blei „Kahlbaura"
Mylius
0,002
IV
Reinstes Silber
Allen
0,003
IV
Reinstes Zinn „Kahlbaum"
Mylius
0,004
IV
Reinstes Cadmium „Kahlbaum"
Mylius
0,006
IV
Reinstes Kupfer
-Mlen
0,008
IV
Reinstes Zink „Kahlbaum"
Mylius
0,009
IV
Reinstes Wismuth
Mylius
<0,OI
IV')
Palladium von Heracus
Allen
0,025
111
Reinstes Kobalt „Kahlbaum"
Allee
0,04g
111
Antimon „Kahlbaum"
Mylius
o,oS
111
Die Tabelle lehrt, daß die Technik in der Tat
imstande ist, Metalle von einem sehr hohen Rein-
heitsgrade herzustellen, einem Reinheitsgrade, der
allen Anforderungen der Wissenschaft und der
Technik entspricht. Die physikalisch - technische
Reichsanstalt hat daher zunächst mit der be-
kannten Firma C. A. F. Kahlbaum in Berlin-Adlers-
hof einen Vertrag abgeschlossen, nach dem die
Firma unter Aufsicht und Bürgschaft der Reichs-
anstalt „normierte Metalle" mit einer maximalen
Gesamtverunreinigung von 0,0 1"/,, in den Handel
bringt. Der Anfang ist bereits gemacht, und zwar
mit dem „normierten Zink". Diese „normierten
Metalle" sollen vor allen Dingen für wissenschaft-
liche Zwecke dienen, weil viele wichtige Eigen-
schaften der Stoffe, so die Speklralreaktionen, die
Lumineszenzerscheinungen, das elektrische Leit-
vermögen bei sehr tiefen Temperaturen, die elek-
trischen Potentiale, die katalytischen Wirkungen usw.
von kleinen Mengen von Fremdstoffen in starkem
Maße beeinflußt werden.
Als Beispiel für den zweiten Teil der Aufgabe, die
die Reichsanstalt sich gestellt hat, seien die plan-
mäßige Untersuchung von Mylius und G rö-
sch uff über die Reinigung des Wismuths an-
geführt. Während bisher vielfach die Meinung
vertreten war, daß das elektrolytisch hergestellte
Wismuth das reinste sei, ist jetzt von den beiden
genannten Autoren der Nachweis erbracht worden,
daß die Reinigung des Wismuths am rationellsten
durch Kristallisation entweder des normalen Nitrats
Bi(N03).j ■ 5H.,0 aus wässerig-salpetersaurer Lösung
') Zu Metallen der IV. Reinigungsstufe gehören außer den
genannten noch Platin und Quecksilber.
44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 3
oder des Metalles selbst aus dem Schmelzflusse
bewirkt werde. Hier hat die Präzisionsanalyse mit
der präparativen Chemie in erfolgreicher Weise
zusammengewirkt. Mg.
Interessante Versuche über die Abhängigkeit
der Reaktionsgeschwindigkeit von der Korngröße
der Materialil;n^hat J. Arvid H edvall in Er-
gänzung seiner früheren , auch an dieser Stelle
(Naturw. Wochenschr., N. F. Bd. 13 [1914]. S. 713,
Bd. 14 [1915], S. 726) besprochenen Arbeiten über
Rinmans Grün, Thenards Blau, Kobaltmagnesium-
rot und Kobaltzinngrün in der Zeitschr. f. anorg.
u. allgem. Chem. Bd. 9B [1916], S. 64—74 ver-
öffentlicht.
Gerade so wie sich bei einer Schmelzung der
Schmelzprozeß und bei einer Kristallisation der
Kristallisationsprozeß durch Aufnahme oder Ent-
wicklung von Wärme und damit durch eine Störung
der unter dem Einfluß einer stetig wirkenden Heiz-
oder Abkühlungsquelle erfolgenden Temperaturzu-
oder -abnähme desSystems zu erkennen gibt, müssen
auch alle anderen, mit positiver oder negativer
Wärmetönung verbundenen Vorgänge, sofern sie
rasch genug verlaufen, eine Unregelmäßigkeit
in der Kurve hervorrufen, die die gleichmäßig er-
folgende Ab- oder Zunahme der Temperatur als
Funktion der Zeit darstellen. Voraussetzung da-
für ist nur, daß die Wärmetönung der fraglichen
Reaktion nicht zu gering ist und die Reaktion
selbst rasch verläuft, da sich die Erscheinung
sonst der Beobachtung entzieht.
Eine Reaktion, für die diese Voraussetzung zu-
trifft, ist die reversibele Dissoziation des Kobalt-
oxyduloxyds :
2C03O, 7— >- ecoo + o,.
Bringt man z. B. ein Co^Oj -Präparat in einen
Raum, dessen Temperatur bei 1150" liegt und
erhalten wird, und mißt von 30 zu 30 Sekunden
seine Temperatur, so findet man, daß die zu-
nächst regelmäßige Zunahme der Temperatur bei
etwa 938" C eine deutliche Minderung erfährt,
weil bei etwa 938^' die mit Absorption von Wärme
verlaufende Dissoziation des Oxyds eintritt und
damit ein Teil der dem Präparat zuströmenden
Wärme anstatt zur Erhöhung seiner Temperatur
zu seiner Zersetzung verwendet wird.
Wenn die Dissoziation des Kobaltoxyduloxyds
momentan verliefe, so wäre 938° die genaue „Zer-
setzungstemperatur", d. h. die Temperatur, bei der
der mit wachsender Temperatur wachsende
Dissoziationsdruck gerade eben den in der Um-
gebung des Präparats herrschenden Sauerstoff-
druck "überschreitet. Tatsächlich aber verläuft sie
nicht momentan, und darum macht sich die Zer-
setzung in der Kurve „Temperatur-Zeit" erst be-
merkbar, nachdem die eigentliche Zersetzungs-
temperatur überschritten ist, d. h. die wahre Zer-
setzungstemperatur liegt nicht bei 938", sondern
tiefer,
Bemerkenswert ist es nun, daß die auf diesem
Wege gefundene scheinbare Zersetzungstemperatur
um so höher liegt, je kompakter das für den
Versuch benutzte Oxyduloxyd ist. So ist z. B.
das durch Glühen bei 450" aus Kobaltnitrat her-
gestellte C03O4 viel kompakter als das bei der-
selben Temperatur aus Kobaltkarbonat erhaltene
Präparat, und dementsprechend erfolgt seine Zer-
setzung bei 952", während die des zweiten, weniger
kompakten Präparats schon bei 922" erfolgt.
Ganz analog findet man , daß die spontane
Oxydation des Kobaltoxyduls
6C0O + O.J = 2CogO,
bei um so höherer Temperatur eintritt, je länger
das CoO-Präparat vor der Oxydation in einer
Stickstoffatmosphäre geglüht ist, d. h. es gilt der
Satz, daß, je stärker die Sinterung oder Feuer-
schwindung des Präparates ist, desto geringer seine
Dissoziations- oder Oxydationsgeschwindigkeit ist.
Bestätigt werden diese Resultate durch die
Ergebnisse von Versuchen zur Herstellung von
Thenard's Blau, Kobaltzinngrün und Rinman's
Grün. Die Reaktionsgemische, z. B. das Gemisch
CoO -[- A1„0.;, treten zur Bildung des farbigen
Komplexes, im vorliegenden Falle also des blauen
CoO-AljOg, nur bei einer um so höheren Tem-
peratur zusammen, je kompakter die Oxyde sind,
ein Umstand, der sich z. B. auch dadurch be-
merkbar macht, daß die Reaktion erst bei einer
um so höheren Temperatur eintritt, je langsamer
die Erhitzung ist.
Die hier skizzierten Tatsachen dürften auch
lür die Technik von Interesse sein. Mg.
„Platin und Leuchtgas", ist der Titel einer inter-
essanten Untersuchung, die auf Veranlassung der
bekannten Firma W. C. Heraeus in Hanau in
der Physikalisqh-technischen Reichsanstalt von F.
Mylius und E. Hüttner ausgeführt worden ist
(Zeitschr. f. anorg. Chem., Bd. 95, 257—283, 1916).
Daß die gewöhnlichen Leuchtgasflammen, ins-
besondere die leuchtenden Flammen den Gerät-
schaften aus Platin Gefahr bringen können, weiß
ein jeder, der in einem chemischen Laboratorium
mit Platintiegeln oder Platinschalen gearbeitet hat.
Die vorher spiegelglatte Platinfläche beschlägt sich
bei unvorsichtigem Arbeiten mit Ruß und erweist
sich, nachdem der Ruß wieder weggebrannt ist, als
mehr oder weniger aufgerauht. Das Metall selbst er-
leidet hierbei zunächst keinen oder doch nur einen
sehr kleinen Gewichtsverlust, eine Verflüchtigung
des Platins findet also nicht statt, jedoch führt
öftere Wiederholung des Vorganges eine zu-
nehmende Korrosion des Metalles und schließlich
seine völlige Zerstörung durch Zerreißen und Ab-
bröckeln herbei.
I. Einfluß des Reinheitsgrades des
Platins auf die Erscheinung. — Ver-
gleichende Versuche, bei denen die in ein Rohr
aus schwer schmelzbarem Glase eingeschlossenen
Platinproben der Wirkung eines genau definierten
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45
Stromes von Leuchtgas bei bestimmter Temperatur
(600" — 650" C) ausgesetzt wurden, ergaben, daß
auch Bleche aus sehr reinem Platin, dessen Ver-
unreinigungen (Gold, Palladium, Iridium, Kupfer,
Eisen usw.j insgesamt nicht mehr als 0,01% aus-
machen, von dem Leuchtgase angegriffen wird,
daß aber die angreifende Wirkung mehr und mehr
nachlaßt, je sorgfähiger das Platin durch Be-
handlung mit konzentrierter Salzsäure von dem
ihm oberflächlich von dem Walzprozeß her an-
haltenden Eisen befreit wird, ^j Ganz — auch
oberflächlich — reines Platin wird nicht an-
gegriffen, der Angriff ist also von dem Reinheits-
grade des Platins abhängig. Von besonders un-
günstigem Einfluß ist ein Gehalt des Platin an
Palladium und vor allen Dingen an Rhodium,
während sich Iridium als nur wenig aktiv erweist,
eine Talsache, die für die richtige Behandlung
der aus Platin und eine Platinrhodiumlegierung
bestehenden Thermoelemente von Wichtigkeit ist.
2. Einfluß der Zusammensetzung des
Leuchtgases aufdie Erscheinung. — Von
großer Bedeutung war die Frage, ob bestimmte
Bestandteile des Leuchtgases und gegebenenfalls
welche die Ursache für die schädigenden Wirkungen
sind. Planmäßige Versuche führten zu dem Er-
gebnis, daß bei Kohlenoxyd und Benzol keine, bei
reinem Methan eine sehr geringe, bei reinem Ace-
tylen eine sehr erhebliche Rußabscheidung ein-
tritt, daß aber Wasserstoff nicht nur bei Methan,
sondern auch beim Acetylen die Rußabscheidung
verhindert. Dementsprechend gab ein synthetisch
hergestelltes Gas, das 50 Vol.-''/o Wasserstoff, 30
Voi.^/o Methan, 12 VoL-^/o Kohlenoxyd und 4
Vol.-'7o Acetylen und Benzoldämpfe sowie geringe
Mengen von Luft enthielt, auf an sich wirksamem
Platin keine Veranlassung zur Abscheidung von
Ruß. Die Wirkung des Stcinkohlenleuchtgases ist
also auf einen Nebenbestandteil zurückzuführen,
und dieser Nebenbestandteil ist, wie mit Sicherheit
festgestellt werden konnte, der Schwefelkohlen-
stoff CS2.
Daß Platin bei 400 bis 450" C mit reinem oder
durch inerte Gase verdünntem Schwefelkohlenstoff
unter Bildung einer schwarzen, amorphen, aber ein-
heitlichen Verbindung von der Formel Ptj-CSj re-
agiert, ist schon 1895 von Schützenberger
nachgewiesen worden und wird -von Mylius und
Hüttner bestätigt. Durch Wasserstoff wird die
Verbindung in der Hitze unter Entwicklung von
Schwetelwasserstoft' und Hinterlassung eines amor-
phen, karbidähnlichen Rückstandes zersetzt, der
neben vielem Kohlenstoff auch etwas Schwefel ent-
hält. So wird es begreiflich, daß das an Platinblech
wirkungslose synthetische Leuchtgas durch Hinzu-
fügung von auch nur wenig Schwefelkohlenstoff
(oder der in reduzierender Atmosphäre ähnlich
') Das aus dem Walzprozeß stammende Eisen in den
äußeren Schichten der Platingeräte wird bei Heracus in Hanau
entfernt, bevor die Geräte in den Handel kommen, eine Maß-
regel , die die Haltbarkeit der Platingeräte wesentlich be-
günstigt hat.
wie Schwefelkohlenstoff wirkenden schwefeligen
Säure SOj) die Befähigung zu starker Rußbildung
erhält. Darnach erklärt sich also die Korrosion
des Platins durch eine leuchtende Leuchtgasflamme
durch die intermediäre Bildung des voluminösen
Pt, -CS.,, dessen Entstehung von einer Auflockerung
des Metallgefüges begleitet ist, und dessen Zer-
setzung durch den im Gase enthaltenen Wasserstoff.
3. Die Einwirkung von Leuchtgas auf
Platin bei Anwesenheit eines Über-
schuses von Luft. — Die Versuche, durch die
die bisher skizzierten Ergebnisse erhalten worden
sind, entsprechen insofern nicht der alltäglichen
Laboratoriumspraxis, als bei der benutzten Ver-
suchsanordnung — Erhitzen der Platinproben in
einem Strome von Leuchtgas — der in der Praxis
wesentliche Luftzutritt nicht berücksichtigt worden
ist. So lange allerdings die zu dem Gase hin-
zutretende Luft zur vollständigen Verbrauchung
aller seiner Bestandteile und damit auch des Schwefel-
kohlenstoffs nicht ausreicht, wird dieser seine schäd-
liche Wirkung in der angegebenen Weise ausüben
können, bei einem Überschuß von Luft aber wird
der Schwefelkohlenstoff verbrannt, ehe sein nach-
teiliger Einfluß zur Geltung kommen kann. So
gut also auch die entwickelte Schwefelkohlen-
stofftheorie die schädliche Wirkung von leuch-
tenden Flammen erklärt, so vertagt sie doch bei
der Erklärung der — allerdings viel schwächeren —
Wirkung, die die nicht nicht-leuchtenden
Bunsenflammen auf das Platin haben. In diesem
ist das schädliche Agens in der Tat ein anderes,
es ist der Sauerstoff.
Schon vor einigen Jahren hat Lothar Wöhler
gezeigt, daß die gewöhnliche Meinung, Sauerstoff
wirke auf kompaktes Platin nicht ein, irrig ist,
denn bei 420" bis 450" wird wie die anderen
Platinmetalle auch das reine Platin vom Sauer-
stoff oxydiert. Dies tritt besonders deutlich bei
dem vonHolborn und seinen Mitarbeitern eben-
falls in der Physikalisch-technischen Reichsanstalt
näher untersuchten elektrischem Glühen des reinen
Platins hervor: Beim Glühen des Metalls in Sauer-
stoff zeigte sich eine von Gewichtsverlust be-
gleitete Ätzung der Metallflächen unter Blpßlegung
des Kristallgefäßes, während die Erscheinung in
Stickstofiatmo>phäre ausblieb. Damit ist Oxyd-
bildung als Ursache für den Gewichtsverlust nach-
gewiesen, wobei praktisch unerheblich ist, ob die
Gewichtsabnahme durch Verflüchtigung des inter-
mediär gebildeten Oxyds oder durch seine
Zerstäubung zu erklären ist. Neu hergestellte
Platintiegel erleiden daher auch nach dem ersten
Glühen, bei dem sie infolge von Verflüchtigung
der vorhandenen Verunreinigungen, insbesondere
von Osmium, und Ruthenium zwei Metallen, die
bekanntlich flüchtige Sauersioffverbindungen bilden,
an Gewicht stark verlieren, einen dauernden Ge-
wichtsverlust, dessen Größe als Maß für die
voraussichtliche Haltbarkeit des Platins dienen
kann. Ein Piatintiegel von 16 bis 20 g Gewicht
darf in der Stunde bei elektrischem Glühen bei
46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 3
iioo" C höchstens 0,2 mg an Gewicht verHeren;
der Gewichtsverlust gewöhnlicher technischer
Platintiegel beträgt beim Glühen über der Bunsen-
flamme etwa i mg in der Stunde. Mg.
Geologie. Die neun Endmoränen Nordwest-
deutschlands. Die Ablagerungen der baltischen
Endmoräne Norddeutschlands lassen sich in einen
Weichsel — Oder — und holsteinschen Lobus
gliedern. Das nordwestdeutsche Gebiet gehört
den Anteilen der beiden letzteren an. Zwischen
dem Allertal und Rügen verlaufen mit weitgehender
Parallelität 9 Endmoränenzüge, welche E. Geinitz
(Centralbl. f. Mineralogie, Geologie und Paläonto-
logie 1916) nach benachbarten Orten tolgender-
maßen bezeichnet;
1. Südlicher Zug der Lüneburger Heide: oberer
DrawehnEschede-Soliau; unentschieden ist noch,
ob die Endmoränen von Burg — Fläming oder die
linkselbischen in seine Fortsetzung gehören.
2. Perleberg — Wendisch-Warnow — Hitz-
acker — Ebstorf — Harburg — Blankenese, im SO
Anschluß an die Endmoränen des Fläming oder
der Gegend südlich Berlin.
3. Die mecklenburgische südliche Außenmoräne
von den Ruhner Bergen über Parchim — Ludwigs-
lust — Hagenow — Vellahn — Granzin — Lauen-
burg — Ahrensburg, nach O zwischen Wittstock
und Pritzwalk mit südlicher Umbiegung anf die
Gegend von Berlin führend.
4. Die meckl. südl. Hauptendmoräne; Fürsten-
berg • — Schwerin — Molin, nach SO an den
Granseer Bogen anschließend, im westl. Teile über
Oldesloe nach dem Plöner See verlaufend.
5. Die meckl. nördl. Hauptendmoräne; Feldberg
— Bäbelin — Kalkhorst mit Anschluß an den ucker-
märkischen Zug, der nach dem Oderknie bei
Oderberg führt.
In Holstein ist die 5. wie die 4. Endmoräne
in mehrere parallele Einzelstaffeln zerlegt, die be-
sonders in der Kieler Gegend reichlich ausgebildet
sind. Erklärt wird diese Mannigialtigkeit damit,
daß in der Gegend der Lübecker Bucht das Eis
eine lange Stillstandszeit gehabt hat und die
vielen Schwankungen innerhalb dieser Zeit diese
zahlreichen Moränenzüge bilden konnten. In den
beiden meckl. Hauptendmoränen vollzieht sich der
Anschluß von Oder- und holsteinschem Lobus.
Scheitelpunkte sind Sonneiiberg und Wendisch-
Warnow; bei der i. Endmoräne am oberen Dra-
wehn.
6. Die meckl. nördl. Außenmoräne erstreckt
sich von den Bröhmer Bergen über Demmin —
Tessin nach Kühlung und steht im SO mit
Penkun in Verbindung, nach NW mit der Gegend
von Gnoien.
7. Elbert's „mittl. Randmoräne", von Greifs-
wald nach Ribnitz und in .Mecklenburg über
Jahnkendorf —Wulfshagen nach Rostock verlaufend.
8. Elbert's „nördl. Randmoräne" in Pommern
mit dem charakteristischen Bogenteil Velgast —
Barth — Fischland. Der nach N aufsteigende Bogen
dürfte der Vereinigung von Oder- und holsteini-
schem Lobus entsprechen.
9. Ähnlich verläuft noch auf Moen und Rügen
ein Endmoränenzug.
Diese 9 Endmoränenzüge oder Staffeln ent-
sprechen dem staffeiförmigen Rückzug des Inland-
eises und bilden ziemlich regelmäßig hinter-
einanderfolgende Absätze aus der ziemlich ein-
heitlichen Rückzugsperiode. Die Abstände der
einzelnen Endmoränenzüge schwanken zwischen
12 und 40 km und betragen
zwischen i u. 2 40 km
2 u. 3 20-35 km
3 u. 4 17 km
4 u. 5 30 km
5 u. 6 40 — 21 km
0 u. 7 12 — 15 km
7 u. 8 13 — 19 km
8 u. 9 30 km
Die Zeiten zwischen den einzelnen Endmoränen
müssen sehr verschieden lang gewesen sein, z. T.
sehr beträchtlich lang. Ein grußer Unterschied
besteht z. B. zwischen der 5. und 6. Endmoräne;
vor 5 noch vorherrschend Sand und starke Wasser-
wirkung nach einer ruhigeren Zeit, in der Becken-
tone zur Ablagerung gelangten. Zwischen 5 u. 6
Vorherrschen von Grundmoräne, Zungenbecken,
Osreihen, subglazialen Wasserläufen. Schnell muß
sich infolge raschen Abschmelzens des Eises der
Rückzug von 5 auf 6 und die folgenden Staffeln
vollzogen haben.
Zur Zeit der älteren Endmoränen existierte
das untere Elbtal noch nicht, sondern der Urstrom
entwässerte durch das Allertal. Der Elbdurch-
bruch vollzog sich in der Zeit der 4. oder 5. End-
moräne. Das untere Elbtal ist somit kein dem
E^isrand folgendes (marginales) Tal, sondern ein
Durchbruchstal.
Das Lauenburger Torilager hält Geinitz für
postglazial, während es bisher einer Interglazialzeit
zugerechnet wurde. Damit würde sich die Existenz
einer gemäßigten Flora nahe dem Eisrande er-
geben. V. Hohenstein.
Paläontologie. In mehreren ungarisch und
deutsch geschriebenen Mitteilungen ') veröffentlicht
K. Lambrechi seine eingehenden osteologischen
Vergleiche an fossilen Vogelresten aus dem
ungarischen Diluvium. Darunter sind alt-
diluviale („präglaziale") Funde vom Nagyharsäny-
Berge, Beremend und anderen Stellen, ferner
der erste fossile Rest des Uhu aus der Otto
') K. Lambreclit, Die erste ungarische präglaziale
Vogelfauna.
— , Fossiler Uhu (Bubo maximus Flem.) und andere
Vogelresle aus dem ungarischen Pleistozoon.
— , Der erste fossile Rest des Steppenhuhns (Syrrhaptes
paradoxus fall.) aus: Aquila Bd. 22 Kgl. Ungar. Ornithol.
Zentrale, Budapest 191 6.
N. F. XVI. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
47
Hermann-Höhle im Komitat Borsod, eine größere
Zahl von Alpenkrähen aus einer Höhle im Tal
der kalten Szamos (Komitat Kolozsvar) und vieles
andere. Bemerkenswert in zoogeographischer und
klimatischer Beziehung erscheint auch die Fest-
stellung des Steppenhuhns im Postglazial der Um-
gebung von Budapest. Sämtliche Funde sind iso-
lierte Knochen oder Knochenbruchstücke, zu deren
Bestimmung es genauester ornithologischer Kennt-
nisse bedarf. Edw. Hennig.
Forstwirtschaft. Bockkäferkalamität in Eichen-
wäldern. Seit einiger Zeit wurden aus verschie-
denen Teilen Deutschlands, so aus der bayerischen
Rheinpfalz, aus Westfalen und aus Mecklenburg
Klagen laut über schwere Beschädigungen in Eichen-
stämmen durch Insekten. Prof. Dr. K. Escherich
hatte Mitte Mai dieses Jahres Gelegenheit in
einigen Forstämtern der bayerischen Rheinpfalz
die Insektenschäden an den Eichbäumen zu
studieren (Zeitschr. f. angewandte Entomologie,
Bd. III, Heft 3). Die gefällten Eichenstamme
zeigten neben geringfügigen Borkenkäferspuren
(Einbohrlöcher von Xylcbonis iiioitograpJnis Fbr.)
unter der Rinde staiken Bockkälcrtraß. Die
Bockkäfergänge waren meist sehr lang und führten
tief ins Holz hinein : einige der aufgedeckten
Puppenwiegen enthielten eben in der Verwand-
lung begriffene Imagines von Clyliis arciiatus L.
(Die der- Gattung Clytus eingeordneten Arten
gehören zu den Cerambycidcn und werden ob
ihrer überwiegend recht bunten Färbung auch
„Zierböcke" genannt.) Neben derartigen noch
nicht völlig ausgefärbten Käfern wurden gleich-
zeitig auch frische Puppen und Larven ver-
schiedenen Alters gefunden, während ein Besuch
des gleichen Gebietes im September ausschließlich
Larven, aber keinerlei Puppen und Imagines mehr
ergab. Dadurch wurde die Frage nach den
Generationsverhältnissen von Clytus arcuahis an-
geschnitten — ob der Käfer eine i jährige oder
2 jährige Entwicklungsdauer besitzt — deren
Studium jedoch noch zu keinem endgültigen Ab-
schlüsse zu führen war. Für die Praxis sind die
Beobachtungen Prof. Escherich's wichtig, daß
der Schädling in der Hauptsache nur gefällte
Stämme angeht, stehende Bäume werden von ihm
nur dann befallen, wenn sie schlechtwüchsig sind
oder kränkeln. 67. arciiafiis ist demnach als
„stark sekundärer bzw. vornehmlich technischer
Eichenschädling anzusprechen, der durch seine
tief, mitunter bis in den Kern dringenden Larven-
gänge das Holz stark entwertet". Als Ursache
für die im letzten Jahre zu beobachtende Über-
vermehrung des Schädlings ist sicher die Erhöhung
der Brutgelegenheiten zu bezeichnen. Sind es in
Westfalen und Mecklenburg vornehmlich kränkelnde
Eichenwälder, welche der Massenvermehrung des
Clytus Vorschub leisten, so ist in der Pfalz haupt-
sächlich der durch den jetzt im Kriege stark
hervortretenden Leutemangel hervorgerufene ver-
spätete Abtransport der gefällten Eichenstämine
dafür verantwortlich zu machen. Diese Erkenntnis
gibt uns ohne weiteres die Gegenmaßregeln an
die Hand, durch welche einer weiteren Überhand-
nähme des Schädlings gesteuert werden könnte:
„Entfernen der unterdrückten, absterbenden Eichen
und rechtzeitige Abfuhr (spätestens bis Ende April)
der gefällten Stämme." Da Cl. arcitatus sehr
sonnenliebend ist, könnten Stämme, bei denen
ein längeres Lagern nicht zu umgehen ist, viel-
leicht auch dadurch geschützt werden, daß sie im
Schalten aufbewahrt werden. Durch die An-
wendung verwitternder Anstrichmittel endlich
müßte versucht werden, die Käfer überhaupt von
der Eiablage abzuhalten. H. W. Frickhinger.
Düngung und Insektenbefall. Interessante Zu-
sammenhänge zwischen der Art der Düngung und
dem Grade des Insektenbefalles legen Beobachtungen
klar, welche der kgl. Ö k o n o m i e r a t H o f f m a n n
(Speyer) anläßlich einer Raupe nka lamit ät im
Germersheim er Versuchsfeld im Frühjahr
1915 machen konnte (Prakt. Blätter f. Pflanzenbau
u. Pflanzenschutz 191 5 Heft 56 und Zeitschrift f.
angew. Entomologie 1916 Bd. 3 Heft 2). Die
Obstbäume des Versuchsfeldes waren stark mit
Raupen des ¥ rosts^Anncrs [C/ieiiiiatobta bore-
ata Hb.), des Ringelspinners {Malacosoma
ncustria L.), der Apfel bau mgesp inst motte
{Hyponomeuta malincllus Zell) und der ver-
änderlichen Gespinstmotte {Hyp. variablis
Zell.) besetzt. Dabei zeigten sich merkbare Unter-
schiede in dem Grade des Insektenbefalles, der sich
mit der Intensität der Bodenbearbeitung und der
Düngungsmethode steigerte, so zwar, daß der
Verfasser den Satz aufstellen konnte: „je voll-
ständiger die Düngung, desto stärker
der In Sekten befall." Unzweifelhaft hat hier
der günstige Ernährungszustand der Bäume, die
Saftigkeit und Zartheit der Blätter den hohen
Schädlingsstand verursacht, wie ja auch bekanntlich
Schild- und Blattläuse sich besonders gerne auf
gutgedeihenden Pflanzen ansiedeln. Über die Art,
wie dieser starke Insektenbefall zustande gekommen
war, ob etwa schon die eierlegenden Weibchen,
die in den besten Ernährungsverhältnissen be-
findliche Bäume zur Eiablage auswählten, oder
ob erst die jungen Räupchen instinktmäßig die
saftigsten Blätter aufsuchten, darüber konnte der
Verfasser leider, keine Beobachtungen sammeln. —
Andererseits schienen wieder andere Insekten, wie
der Pflailmensplintkäfer [Scolytus pruni
Rtzg. und Sc. rugulosiis Rtzg.) und der un-
gleiche Borkenkäfer {Tümicus dispar) sich
durch die Folgen einer guten Düngungsmethode
vom Befall der Bäume abhalten zu lassen.
Wenigstens wurden bei der starken Vermehrung
dieser Schädlinge, welche der heiße Somme 191 1
in der Rheinpfalz verschuldete, Zwetschenbäume
auf einem mit „starker Volldüngung" behandelten
Teilstück des Germersheimer Versuchsfeldes von
4S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i
den Käfern in keiner Weise angegangen, während
die Bäume auf der Nebenabteilung, die nicht ge-
düngt worden war, 33 ",0 ihres Bestandes durch
den Borkenkäferbefall einbüßten. Auch Prof Dr.
L. Reh (Hamburg) hat, angeregt durch die
Ho ffmann 'sehen Beobachtungen, seine Er-
fahrungen auf diesem Gebiet niedergelegt (Zeitschr.
f. angew. Ent. Bd. 3 1916 Heft i). Er glaubt,
daß manche Schädlinge sich sicherlich durch den
durch eine gute Düngung verbesserten Ernährungs-
zustand der Pflanzen anlocken lassen, wie ja all-
gemein die Kulturpflanzen dem Insektenbefall viel
mehr ausgesetzt sind als die unkultivierten Ge-
wächse und unter den Kulturpflanzen wiederum
die hochgezüchteten eher befallen werden als die
weniger sorgsam gezogenen (Spalier- und Form-
obst; die in Mistbeet- und Treibkästen gezogenen
Pflanzen). Andere Schädlinge die „langsam wach-
sende Pflanzen oder Pflanzenteile vorziehen, wie
die meisten Borkenkäfer, dürften durch kräftige
Düngung eher zurückgehalten werden". Prof Reh
hat in den Vierlanden bei Hamburg häufig die
Erfahrung machen können, daß „gerade Stalldünger
oft größeren Insektenbefall nach sich zieht. Auch
übermäßige Düngung mit Salpeter übt ähnlichen
Einfluß aus. Ebenso mögen gerade saugende In-
sekten derartig gewaltsam getriebene Pflanzen
anderen vorziehen. Andererseits wirken Kalk- und
Phosphorsäure-Düngung meist recht vorteilhaft zur
Verminderung der Schädlingsplage." Die Er-
gebnisse der beiden Forscher stimmen in ihren
Hauptlinien, wie wir gesehen haben, überein.
Nun wird es sich, wie Prof Reh schließt, darum
handeln, in Pflege und Düngung „für jede Pflanze,
für jedes Alter, jeden Standort usw. das Optimum
zu suchen; denn bei Pflege und Düngung aller
Bäume und der anderen Kulturpflanzen rächt
sich jede Unterlassung ebenso, wie jede Über-
treibung." H. W. F'rickhinger.
Meteorologie : Zur Vorhersage des Wetters
dienen bei uns im allgemeinen die Wetterkarten der
Hamburger Seewarte. Für die Hauptkarte, die
auf Grund der um 8 Uhr vormittags auf allen
Stationen angestellten Beobachtungen angefertigt
wird, werden als Ergänzung gewöhnlich noch je
eine Karle der Barometerveränderung in den letzten
3 bzw. 24 Stunden gezeichnet, um so aus der Ver-
teilung der Steige- und Fallgebiete einen Anhalt
für die Bewegung der barometrischen Maxima und
Minima zu gewinnen. Als ein neues Hilfsmittel
für die Voraussage empfiehlt nun A. Defant
(Meteorol. Zeitschr. 1916, S. 103) die Verwertung
der Divergenz des Windes auf den synoptischen
Wetterkarten. Schon Guilbert'j hat vor einigen
Jahren die Regel aufgestellt: Divergente Winde
bedingen einen Fall, konvergente einen Anstieg
des Luftdruckes. Da die Divergenz jedoch
nicht genau definiert war, konnte die Ver-
wendbarkeit in der Praxis nur eine geringe sein.
Auf Grund der theoretischen Arbeiten von
Bjerknes^) ergibt sich nun für die Bewegung
des Windes an der Erdoberfläche die Gleichung
,. öv , öß
div v= X- +v---;
ÖS ' ön'
hierbei ist v die Windgeschwindigkeit, s die Richtung
der Stromlinien des Windes, n der Abstand be-
nachbarter Stromlinien und u der von diesen ge-
bildete Winkel. Dann ist div v der Ausfluß der
strömenden Luft aus der Flächeneinheit zwischen
benachbarten Stromlinien. Er ist positiv, wenn
letztere in Richtung der Strömung divergieren,
negativ, wenn sie konvergieren. Verf. zeichnete
nun für eine Reihe von Pagen Divergenzkanen
des Windes. Ein Vergleich mit der zugehörigen
Karte der 3 stündigen Barometerveränderung ergab
eine ziemlich gute Bestätigung der Guilbert-
schen Regel: die Fallgebiete und Gebiete negativer
Divergenz fanden sich etwa an derselben Stelle
und umgekehrt. Wesentlich wichtiger ist aber
die Beobachtung, daß einem negativen Divergenz-
gebiet etwa 24 Stunden später ein Steiggebiei des
Lultdrucks, einem positiven Divergenzgebiet da-
gegen ein Fallgebiet entspricht. Die Orte größter
Divergenz fallen meist mit den Stellen der größten
Druckänderung zusammen. Das neue Verfahren
ist zwar etwas zeitraubender als die Herstellung
der bisher üblichen Hilfskarten, dürfte aber, falls
es sich auch für eine größere Zahl von Wetter-
karten, als der Verf vorerst bearbeitet hat, in der
gleichen Weise bewährt, ein wertvolles Hilfsmittel
für die Prognose darstellen. Eine wenigstens
teilweise Erklärung der Erscheinung ergibt
sich aus dem Kontinuitätsprinzip. (GX.j
Scholich.
') G. Guilbert, Nouvelle Methode de Prevision du
Temp ; Paris 1909.
'') Bjerknes, Dynamic Meteorologie and Hydrographie
Washington.
Inhalt I A. Milewski, Zur Kenntnis der G(
Hermann Seh elenz, Die Wünschein
Grade der Reinheit die Technik die wi(
hängigkeil der Reaklionsgeschwindigk(
nera Typhlonectes Peters der Gymnophiona (Amphibia apoda). I .\bb. S. 33.
te. I Abb. S. 39. — Einzelberichte: F. Mylius, Frage, bis zu welchem
htigeren Metalle herzustellen vermag. S. 42. J. Ar vi d H e d v a 1 1, Die Ab-
von der Korngrüße der Materialien. S. 44. F. Mylius und E. Hüttner,
„Platin und Leuchtgas"
Osteologische Vergleiche
Hoff mann, Düngung
4. E. Geinitz, Die neun Endmoränen .Nordwestdeutschlands. S. 46. K. Lambrecht,
fossilen Vogclresten. S. 46. K. Esc her ich, Bockkäterkalamität in Eichenwäldern. S. 47.
Insektenbefall. S. 47. A. Defant, Vorhersage des Wetters. S. 48.
Manuskripte und Zuschriften
deu an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 28. Januar 1917.
Nummer 4.
Dr. Absolon's zoologische Höhlenforschungen auf der Balkanhalbinsel.
[Nachdruck verboten.] Ein Sammelreferat vo
„Der bekannte Höhlenforscher A. Kral und
ich waren an dem F'undgebiete der Spelaeolla
gerade in voller Arbeit, als der VVclikrieg aus-
brach und wir konnten nur mit knapper IVlühe
und unter Zurücklassung eines großen Teiles meines
technischen Höhlenuntersuchungsmateriales noch
rechtzeitig Ragusa und den Anschluß an den
Rückweg erreichen ; da der Fundplatz in einer
heißumstrittenen Kriegszene liegt, ist es vorläufig
unmöglich, frisches Material von Spelaeolla zu
erlangen."
Aus diesen Worten Dr. Absolon's (Coleopt.
Rundschau 191 5) geht hervor, daß der Wellkrieg
auch den seit Jahren von dem genannten Kustos
am Landesmuseum in Brunn in Mähren ziel-
bewußt durchgeführten zoologischen Forschungen
in den Höhlen der Balkanhalbuisel vorläufig ein
Ende gesetzt hat. So ist vielleicht gerade jetzt
ein geeigneter Zeitpunkt, um in eintm Resume
einen Teil der bemerkenswerten Ergebnisse, die
Dr. Absolon gewonnen hat, zusammenzufassen,
zumal die meisten diesbezüglichen Mitteilungen
in nur von Spezialisten gelesenen Fachschrilten
und z. T. im ccchischer Sprache veröffentlicht
worden sind.
Halten wir zunächst einmal Umschau, um
einen Überblick über die neuenldeckien I-ormen
zu gewinnen, so müssen wir bei der überreichen
Fülle des Materiales uns darauf beschränken, nur
besonders auffallende Typen namhaft zu machen.
Nach Lampert wäre für die dalmatinischen
Höhlen besonders eine spezifische Käfer- und
Pseudoskorpionenfauna kennzeichnend, während die
mährische Höhlenfauna durch Springschwänze und
Milben, die f^anzösi^che durch Crustaceen aus-
gezeichnet wäre. An dieser fauni-,tischen Gliede-
rung der europäischeil Höhlensysteme muß wohl
auf Grund der neuer-ten Ergebnisse Absolon's
eine Korrektur vorgenommen werden, denn gerade
die bemerkenswertesten Funde aus dem albani-
schen Karst gehören zu den Crustaceen. Der
bereits 191 3 gemeldeten Entdeckung eines 5 cm
langen, schneeweißen, siachelbewehrien blinden
Höhlenamphipoden: ,Stygodytes balcani-
cus' folgte rasch nacheinander die Auffindung des
Antroplotes herculeanus, des Genus
Metohia, welches ebenso wie das bereits früher
aus Montenegro gemeldete Genus Typhlogammarus
zu den „Gammariden" gehört, während die beiden
vorher genannten Gattungen in den Verwandt-
schafiskreis von Niphargus zu zählen sind.
Die phylogenetische Auswertung dieser Funde,
die geraJezu an die Tiefenfauna des Baikal erinnern,
Steht noch aus. Vermutlich handelt es sich um
Dr. V. Brehm-Eger.
Tertiär-Relikte, für deren Lebenderhaltung ja die
Balkanhalbinsel von größter Bedeutung ist. Ähn-
liches gilt auch von zahlreichen Käferformen, wie
Antrophilon primitivum, Antroherpon Matulici,
Blaitodromus herculeanus, Anophthalmus Hilfi.
Bieten diese Formen durch ihre Morphologie dem
Deszendenzlheoretiker wertvolle Anhaltspunkte,
so geschieht dies seitens anderer Höhlenkäler in
mehr biologischer Hinsicht, so z. B., wenn die
Silphidengattung H a d e s i a sich derart dem Wasser-
leben angepaßt hat, daß dieser paradoxe Käfer
von Absolon biologisch mit der bekannten Unter-
wasserhymenoptere Prestwichia verglichen wird.
Weiter haben uns Absolon's Untersuchungen
mit zwei sehr interessanten Höhlenfliegen bekannt
gemacht; die eine, Gymnomus troglodytes, war be-
reits zweimal vorher gesehen worden und hat sich
als ein sehr angepaßtes Höhlentier entpuppt, aber
es kam nach der Auffindung dieser ersten Fliege
„ein Dipteren Monstrum zum Vorschein", von dem
der Entdecker sagt, daß er es in der Höhle beim
Lampenlicht für eine Spinne hielt. Es ist dies
die tiefschwarze Speomyia Absoloni, die sich durch
völliges Fehlen der Ocellen, durch abenteuerliche
Proboscisvergrößerung, durch nicht zum Fliegen
taugliche Flügel usw. als typisches Höhlentier er-
weist, während ihre Farbe vom Leben im Dunkeln
unbeeinflußt blieb.
Daß auch die Myriopoden um außerordentlich
interessante neue Typen wie Polybothrus
gloria stygis bereichert wurden sowie die
Apterygoten, Dr. Absolon's spezielles Arbeits-
gebiet, sei hier nur flüchtig erwähnt. Schließlich
sei noch auf die Entdeckung eines zu den marinen
Röhrenwürmern gehörigen Tieres verwiesen, einer
Süßwasserserpuhde, für die ihr Entdecker noch
keinen Namen vorgeschlagen hat.
Bezüglich der zoologischen Details muß natür-
lich auf die Orginalabnandlungen verwiesen werden ;
eine Reihe in diesen Arbeiten eingestreuter Be-
merkungen allgemeiner Natur mögen aber noch
im folgenden zusammengestellt werden.
Bereits 181^6 hat Hamann anknüpfend an die
Tatsache, daß viele Höhlentiere, die nicht erst in
jüngster Zeit Höhlenbewohner geworden sein
können, Sehorgane besitzen und daß andererseits
viele blinde Höhlentiere Verwandtschaftskreisen
angehören, welche auch in ihren oberirdischen
Vertretern vorwiegend blinde Formen aufweisen,
den Gedanken ausgesprochen, „daß die Blindheit
dieser Tiere gar nicht in den Hohlen entstanden
sei, sondern daß diese Arten bereits blind in die
Höhlen gerieten". Er stützt sich dabei auf Unter-
suchungen des amerikanischen Biologen Gar man,
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XVI. Nr. 4
der die Ansicht verficht, daß die jetzt in Höhlen
lebenden Tiere Kentuckys bereits längst, ehe es
Höhlen gab, zum Leben unter der Krde fähig
und geeignet waren; und im Zusammenhang mit
dieser Anschauung glaubt Gar man behaupten
zu dürfen, daß die Rückbildung und der Schwund
der Augen, also die Entstehung blinder Arten,
älteren Datums ist als die Entstehung der in Be-
tracht kommenden Höhlen. Er verweist zur Ver-
tretung seiner Ansicht u. a. auf die Verbreitung
des bhnden Krebses Caecidotea stygia, der
in höhlenlosen Gegenden ebenso lebt wie in
Höhlen. Diese Streitfrage ist an verschieden-
artigem Material seither von Grat er, Thiene-
mann und nun auch von Absolon ventiliert
worden, die Frage nämlich, ob die Blindheit vieler
Höhlentiere eine F'olge des Aufenthalts in der
Höhle sei oder ob umgekehrt eine primär ge-
gebene Blindheit das betrefifende Tier zum Höhlen-
aufenthalt geeignet machte. Grat er weist zu-
nächst auf den geringen Prozentsatz der blinden
Kopepoden hin, von denen ja auch mehrere
oberirdisch lebende augenlose F'ormen bekannt
sind. Dieser Befund spricht sehr zugunsten der
Gar man 'sehen These. Dazu kommt die weitere
überraschende Erscheinung, daß gerade die mit
oberirdischen Arten nahe verwandten Spezies
blind sind, während die isolierten Typen , die
offenbar schon länger der Höhlenfauna angehören,
Augen besitzen. Diese den alten Anschauungen
widersprechende interessante Tatsache erklärt
Grat er durch die plausible Annahme, daß wir
anpassungsfähige und konservative Typen unter-
scheiden müssen. Erstere haben sich, auch wenn
sie erst in jüngster Zeit in die Höhlen einge-
wandert sind, eben dank ihrer Anpassungsfähig-
keit bereits durch Augenschwund dem Höhlen-
leben akkommodierl, während die stabilen alten
Formen trotz langen Höhlenaufenthaltes unver-
ändert geblieben sind, also auch die vermutlich
überflüssigen Augen beibehalten haben. Um nun
das Vorkommen blinder Kopepoden außerhalb
der Höhlen zu erklären, greitt Grat er auf eine
Hypothese Thienemann's zurück, die durch
Studien an einer anderen Tiergruppe gewonnen
wurde. Die Gattung Niphargus, ein durch F^arb-
losigkeit und Augenmangel ausgezeichnetes Ge-
schlecht der Krebse wird nicht selten auch in
kalten Gewässern der Erdoberfläche angetroffen.
Die Vorliebe für kaltes Wasser und der durch
Vejdovsky geführte Nachweis einer schrittweise
eingetretenen Augenreduktion veranlaßten die Auf-
stellung folgender Hypothese durch Thiene-
mann: Die ursprünglich sehenden Niphargiden
wurden durch die Eiszeit in die temperierten Ge-
wässer der Höhlen verdrängt und verloren durch
den langen Aufenthalt im Dunkeln die Sehorgane.
Bei Wiedereintritt milderen Klimas vermochten
die Niphargiden zwar die Tagwässer wieder zu
besiedeln, aber die einmal verlorenen Augen
konnten nach Dollo's Gesetz der irreversibilite
d'evolution nicht wieder aktiviert werden; darum
treften wir heute blinde Niphargiden in Tag-
wäbsern. So bestechend die Thiene man n'sche
Hypothese im Falle Niphargus auch ist, so schwere
Bedenken stellen sich deren Übertragung auf
die Kopepoden entgegen. Denn die als IVluster-
beispiel angeführten Gattungen Phyllognathopus
und Epactophanes sind nach den neuesten Er-
fahrungen, die Chappuis machte, derart eurytherm,
daß eine Wohngcbietsverschiebung durch die Eis-
zeit kaum diskutierbar erscheint. Hingegen hat
die vom selben Autor und von IVlenzel ge-
fundene Tatsache, daß diese blinden Formen vor-
zugsweise in Moospolstern wohnen, ihr Blindsein
zu einer leicht verständlichen Erscheinung ge-
stempelt. Denn auch im Innern der Moo>polsier
herrscht Dunkelheit. Lichtmangel ist ein den
beiden sonst so verschiedenen Biocönosen — Moos-
fauna — und Höhlenfauna — gemeinsamer Faktor.
So konnte Dr. Menzel anlaßlich der Wieder-
entdeckung des blinden, in Moospolstern lebenden
Canthocamptus typhlops sagen: „Was das Licht
betrifft, können in derartigen Moospolstern gleiche
oder ähnliche Bedingungen herrschen wie in
Höhlen."
Für die Entstehungsgeschichte der Höhlen-
fauna und für eine richtige Beurteilung der blinden
Mitglieder derselben ist der Gedanke, daß viele
Höhlenbewohner ursprünglich mikrokavernikole
Organismen sind von großer Bedeutung. An um-
fassendem amerikanischen Fischmaterial hat Eigen-
mann und auf Grund eingehender CoUembolen-
und Slaphylinidenstudien hat Absolon den Satz
ausgesprochen, daß „hier wieder der Instinkt die
Umgebung bestimmt hat". Zwei Punkte dürfen
aber bei der Annahme dieses Standpunktes nicht
außer acht gelassen werden, nämlich, daß i. sich
keineswegs die ganze Höhlenfauna diesem Ge-
sichtspunkt unterordnen läßt und daß 2. sich
abermals die Frage stellen läßt : Sind diese Mikro-
kavernikolformen subterran geworden infolge ihrer
Bauart oder sind ihre Baueigentümlichkeiten eine
Folge des Übergangs zur subterranen Lebensweise.
Zur Aufklärung dieser Verhältnisse sind zu-
nächst biologische Untersuchungen der „Mikro-
kavernikolen" nötig. Wir müssen deren Treiben
— wie Absolon sagt — beobachten „nicht vom
menschlichen Standpunkt aus, sondern beispiels-
weise aus einer Luedius Perspektive, für welchen
Käfer ein Zieselloch eine geradeso kolossale
Höhle ist, wie für uns die Adelsbergergrotte, und
für den ein Marsch in einem Maulwuifsgange viel-
leicht eine größere Tour ist, als für uns der Ab-
stieg in den Riesenponor am Popovo Polje".
Vielleicht lernen wir dann auch manche heute
rätselhafte Übereinstimmung zwischen mikro-
kavernikolen und Höhlentieren verstehen z. B. die
Physogastrie, die die Höhlenfliege Speomya Ab- {
soloni ebenso auszeichnet wie die berühmten
Termitenfliegen Termitoxenia und Thauma-
t o X e n a.
Gewiß wird die erst in den letzten Jahren be-
achtete Fauna kleiner Erdlöcher, der Maulwurfs-
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
gänge und Nagetierhöhlen, des in feinen Erd-
klüften zirkulierenden Grundwassers usw. manchen
wichtigen Beitrag zur Besiedelung großer Höhlen
gestellt haben. Aber man darf die Höhlenfauna
nicht allein unter dem Gesichtswinkel des Licht-
mangels betrachten. In Zeiten starker Klima-
schwankungen dürften die Höhlen für manche
keineswegs lichf^cheue Form eine durch ihre gleich-
mäßige erträgliche Temperatur willkommene Zu-
fluchtsstätte gebildet haben. In einem Gebiet, das
wie die Balkanhalbinsel zur Erhaltung tertiärer
Relikte wie geschaffen erscheint und das daher
in Simroth's Pendulationstheorie als adriatischer
Winkel eine besondere Rolle spielt, kann es nicht
überraschen, wenn zahlreiche Formen auftreten,
von denen man mit großer Wahrscheinlichkeit
behaupten kann, sie hätten hier als Überbleibsel
der tertiären Organismenwelt die Eiszeit über-
dauert.
Nicht jede Höhle aber repräsentiert ein klima-
tisches Tuskulum. Schon Schmitz berichtet in
einer Monographie der Insektenfauna niederländi-
scher Mergelgrotten : „Bei großer Kälte im Winter
kann die Temperatur des Louwberges in der Nähe
der Eingänge so tief sinken, daß sich Eis bildet.
Merkwürdigerweise halten es einige Insekten, z. B.
Rymosia fenestralis Mg. trotz dieses Eises
ganz gut aus." Ähnliche Beobachtungen machte
Absolon im mährischen Karst und verweist bei
Behandl'ing dieser Erscheinung (loc. cit. Seite 148)
auf Bachmetews „Experimentell entomologische
Studien", denen zufolge die Insekten einen kritischen
Punkt ihrer Körperwärme besitzen, nach dem sich
die Körpersäfte des Tieres nach dem in der
Physik geltenden Gesetze der Überkältung tat-
sächlich überkälten lassen, ohne zu gefrieren. So
ändert sich bei Schmetterlingen bei einer Tem-
peratur von — 94 (kritischer Punkt!) die Körper-
temperatur bei zunehmender Kälte nicht in der
Richtung gegen — 10, sondern springt plötzlich
auf — 1,4 zurück.
Abgesehen von den Licht- und Temperatur-
verhältnissen bieten die Höhlen noch durch das
sich periodisch wiederholende Unterwassergesetzt-
werden besondere biologische Bedingungen. Man
sollte meinen, daß so plötzliche völlige Erfüllung
eines Hohlraumes mit Wasser, die gesamte luft-
atmende Bewohnerschaft vernichten müßte. Aber
die im Popovoponor von Absolon gemachten
Beobachtungen zeigen, daß die kleinen Höhlen-
insassen der drohenden Gefahr leicht entgehen.
Jede Höhlendecke weist Hunderte von Spalten
und Rissen des verschiedensten Kalibers auf die
z. T. bis in die Humusdecke der Erdoberfläche
führen und einerseits den in den oberen Erd-
schichten hausenden Tieren den Zutritt zur Höhle
verschaffen und andererseits den Höhlenbewohnern
im Falle einer Überflutung Zuflucht gestatten.
„Noch hat keines Forschers Auge eine Antro-
herponlarve erblickt, obwohl manche ."^rten dieser
Gattung zu Hunderten in der Höhle leben, weil
diese Käfer höchstwahrscheinlich ihre Metamor-
phose in der Höhe durchmachen und erst als
fertige Insekten sich nach unten auf Jagd begeben."
Trotz des Vorhandenseins solcher rettender Aus-
wege besitzen manche Arten noch eine zweite
Möglichkeit, dem Ertrinkungstode zu entgehen.
Sie leben zeitweise unter Wasser. Ich finde bei
Absolon keinen Aufschluß über die Atmungs-
physiologie solcher Formen. Hier scheint noch
ein äußerst interessantes Kapitel der Physiologie
einer Lösung zu harren. Von der vorübergehen-
den Wasserlebensweise eines Aaskäfers war be-
reits die Rede, nämlich von Hadesia; noch über-
raschender ist die Mitteilung, die uns Absolon
über einen Isopoden macht, der zu einer ganz
ungewöhnlichen Anpassung gezwungen wurde:
„Titanethes hercegovinensis sucht bei
Lebensgefahr seine Rettung im — Tropfbrunnen,
dem er im raschen Laufe zustrebt, um im Wasser
zu Boden zu sinken."
Snwie die Tiefsee infolge ihres Mangels an
assimilierenden Pflanzen der Ernährungsphj'siologie
wichtige Probleme stellte, so ist auch die der
grünen Vegetation entbehrende Höhle ein Gebiet,
daß dem Nahrungsphysiologen vor bedeutsame
Fragen stellt. Pilze und Moder betrachtet
Simroth als ursprünglichste Tiernahrung; ihm
sind daher die Höhlen, deren Tropfsteingebilde
oft ganz mit Pilzmyzel überzogen sind, nicht eine
Stätte spezialisierter Anpassung in der Ernährung,
sondern im Gegenteil abermals Wohngebiete, die
selbst hinsichtlich der Ernährung sehr konservativen
Typen ein Refugium gewähren. So erscheinen
uns hier die Nahrungsverhältnisse nicht als An-
passung ans Höhlenleben, sondern umgekehrt
scheinen Organismen mit primitiver Ernährungs-
weise die Höhlen aufgesucht zu haben , sowie ja
auch z.B. Absolon mit der Möglichkeit rechnet,
daß der in Fledermausfäkalien lebende Höhlen-
käfer Atheta spelaea infolge seiner koprophilen
Lebensweise zum Höhlenlcben prädestiniert war.
Er bildet übrigens nebenbei erwähnt einen inter-
essanten biologischen Parallelfa'l zu dem ebenfalls
auf Fledermauskot in einer Höhle der Halbinsel
Krim lebenden Canthocamptus (-Troglo-
camptus) subterraneus. — Neben solchen
Pilzmyzel- und Moderfressern spielen räuberische
Formen in Höhlen eine bedeutsame Rolle; gleicht
ja in dieser Hinsicht die Höhle, in der nach der
allerdings bestrittenen Anschauung mehrerer
Spelaeologen „Hungersnot den herrschenden Zu-
stand darstellt", wiederum der Tiefsee , in der
viele Fische durch exzessive Raubtiercharaktere
ausgezeichnet sind. Solche in die Augen springende
Merkmale der räuberischen Lebensweise fehlen der
Höhlenfauna. Selbst Niphargus, der nach Vire's
Versuchen in der Gefangenschaft in 24 Stunden
ein seinem Körpergewicht gleichkommendes
Fleischquantum verzehrt , zeigt keinen ent-
sprechenden Körperbau.
Eine Überraschung für die Faunistik bildete
eine Kollektion von Dr. Absolon gesammelter
Höhlennacktschnecken, weil solche bisher nicht
52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
gefunden waren , während Gehäuseschnecken in
Höhlen reichlich vertreten sind. Die Nackt-
schnecken boten aber noch in einer bestimmten
Hinsicht Interesse. S i m r o t h berichtet auf Grund
des von ihm bearbeiteten Materiales: „Das Auf-
fallendste an unseren Tieren ist die völlige Un-
abhängigkeit der Pigmentierung von der Finsternis
der Umgebung. Die Farbstoffe, zumal der schwarze,
entwickeln sich genau unter wie über der Erde,
nur die Zeichnung der Amalien weicht durch die
Neigung zu grober Fleckenbildung ab. Im Grunde
genommen ist diese Unabhängigkeit nicht über-
raschend. Denn nach meinen Erfahrungen wird
die Pigmentierung der Nacktschnecken, je in den
Grenzen der Gattungen, lediglich bedingt durch
Feuchtigkeit und Temperatur, keineswegs aber
durch das Licht, so abweichend .sich auch andere
Tiergruppen stellen mögen." A b s o 1 o n ' s eigene
Erfahrungen haben die Tatsache, daß Höhlentiere
wohl pigmentiert sein können, wesentlich erweitert
und der bereits in Schulbüchern tradierten Lehre
von der Pigmentlosigkeit der Höhlenfauna in ihrer
Verallgemeinerung weitere Stützen entzogen. Noch
Hamann sagt einerseits (Höhlenfauna S. 5)
„Lichtmangel kann das Schwinden des Pigmentes
veranlassen, braucht es aber nicht", sammelt aber
auf den folgenden Seiten alles Material, das zu-
gunsten einer Depigmentierung als Folge des
Höhlenlebens sprechen könnte. Demgegenüber
sei nochmals auf das seltsame, oben erwähnte
Höhlendipteron Speomyia Absoloni verwiesen,
das trotz seiner sonst allseitigen Höhlencharaktere
eine tiefschwarze Farbe aufweist. Und von
Spelaeolla Absoloni berichtet ihr Entdecker: „Die
Farbe ist rotbraun, jene spezifische Farbe, wie sie
z. B. bei A nophthalmen, bei der Fliege
Gymnomus trnglodytes bei Tausendfüßern
(Polybothrus stygis gloria), bei Spinnen (Stalita
hercegovinensis) usw. angetroffen wird.
Vielleicht verhalten sich in dieser Hinsicht —
wie Simroth vermutet — verschiedene Tier-
stämme wirklich verschieden. Wir vermissen
unter A b s o 1 o n ' s Beispielen pigmentierter Höhlen-
tiere die Crustaceen. Und in der Tat gehören
die gewöhnlich zitierten Fälle pigmentloser Höhlen-
tiere — von Proteus abgesehen — gerade den
Crustaceen an: die Niphargiden, die von Absolon
entdeckten neuen Riesenamphipoden, Titanethes
albus oder der aus der unerschöpflichen Mammut-
höhle Kentucky's beschriebene Palaemonias
Ganteri, der so durchsichtig ist, daß man meist
nur seinen Schatten im Wasser sieht. Im Gegen-
satz zu den Nacktschnecken scheinen hingegen
die Gehäuseschnecken in Höhlen leicht einer Ent-
färbung ausgesetzt zu sein, wie in Übereinstimmung
mit früheren Beobachtern Wagner bzg. des von
Absolon gesammelten Materials mitteilt : (Höhlen-
schnecken aus SüdDalmatien usw. Sitzungsber.
Akad. Wien 1914).
Anschließend an die Pigmentierung der
Schnecken sei noch einer Erscheinung Erwähnung
getan, die Simroth im selben Zusammenhang
berührt, wenn er sagt: „Überraschender als die
Unabhängigkeit der Pigmentierung scheint die
Abhängigkeit der Fortpflanzungsjieriode von den
Jahreszeiten. Machen sich die Niederschläge doch
noch in der wechselnden Durchtränkung der
Felsen geltend?" Daß Temperaturverhältnisse
hier nicht im Spiele sind, ist bei der Konstanz
der Temperatur wohl außer Zweifel. Luft- wie
Wassertiere leben in den Krainer Höhlen jahraus,
jahrein bei 7 — 8" R; dies führte Ha man zu der
1896 geäußerten Vermutung: „Dementsprechend
zeigt sich wahrscheinlich auch nicht die Peri-
odizität im Leben, wie bei oberirdisch lebenden
Tieren ausgeprägt." Diese Vermutung ist durch
Simroth's Untersuchungen an den von Ab-
solon gesammelten Schnecken widerlegt. Zu-
gleich sind auch bereits einige anderweitige
Beobachtungen von Periodizität im Leben der
Höhlenorganismen bekannt, die Simroth's
Angabe bekräfiigen, trotzdem aber auch mit
seinem Erklärungsversuch in Widerstreit geraten.
So soll nach Hay Cambarus pellucidus nur im
Herbst kopulieren und seine Eier im Winter ab-
legen, eine Angabe, mit der sehr gut die Be-
obachtung Bantas übereinstimmt, der von einer
Varietät dieses Höhlenkrebses Junge nur im Früh-
jahr auffand. Da es sich in diesem P'alle um
einen Wasserbewohner handelt, kommt Simroth's
Annahme, daß wechselnde Durchfeuchtung der
Felsen die sexuelle Periodizität regle, hier nicht
in Frage. Hier wird man den regulierenden
I<"aktor wohl doch unter den inneren Faktoren
suchen müssen. Das Gleiche wird man wohl
auch hinsichtlich der Lartetien (-Vitrellen) be-
haupten dürfen, die nach Seibold sich im
Februar fortpflanzen. Bis das riesige von Ab-
solon gesammelte Material durchgearbeitet sein
wird, wird sich vielleicht die Fratje entscheiden
lassen, ob die bisher bekannten Fälle periodischer
Erscheinungen auf Grund verfrühter Verall-
gemeinerung vereinzelter Beispiele aufgestellt
wurden oder ob nicht doch wen'gstens bei ge-
wissen Tiergruppen trotz der Gleichförmigkeit
der äußeren Bedingungen eine dem Organismus
durch innere P'aktoren vorgeschriebene Periodizität
zum Ausdruck kommt.
Vor eine schwierige Frage stellt uns Absolon
bei der Besprechung der geographischen Ver-
breitung von Lesteva Villardi und der Spinne
Paraleptoneta; an der Hand eines instruktiven
Kärtchens sehen wir die Wohngebiete einerseits
auf die Westalpen, andererseits auf den Karst
beschränkt. „Dies diskontinuierliche Höhlen-
vorkommen einem Zufalle zuzuschreiben, darf
ich nicht wagen; ich vermute darin eine Gesetz-
mäßigkeit." In der Tat besteht eine solche und
zwar nicht nur für die Höhlenfauna wie Absolon
vermutet, sondern auch für die oberirdische
Fauna. So lebt z. B. am Ostrand der Alpen im
Gebiet der Lunzer Seen eine Wassermilbe Lebertia
maglioi, die bisher nur aus den westitalienischen
Alpen bekannt ist und ein Käfer Hydraena truncata
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
53
der ebenfalls der Lunzer Fauna angehört, ist bisher
nur aus den französischen Alpen bekannt. Ähnliche
F'älle sind bereits früher auf botanischem Gebiet
ermittelt worden, so daß Absolon's diesbezügliche
Funde zwar neues Material zu einer bereits be-
kannten seltsamen zoogeographischen Erscheinung
beigetragen haben, ohne uns deren Erklärung
näher zu bringen. Vielleicht spiegeln sich diese
unerklärlichen Beziehungen zwischen der west-
und ostalpinen Organismenwelt noch in einem
anderen höchst fremdartigen Vorkommen wieder.
Ich meine in dem Auftreten einer Serpulide
(marine Würmergruppe!) im Süßwasser der
Balkanhalbinsel. Erinnert dieser abnorme Fund
Absolon's nicht an das .'\uftreten einzelner
Vertreter der snnst marinen Sphaeromiden und
Cirolaniden in französischen Höhlen? Aus dem
Umstand, daß alle französischen Fundorte dieser
seltenen Asseln in der Nähe maüner Tertiär-
formationen sind, zog Vire den Schluß, daß die
Sphaeromiden zur Tertiärzeit flußaufwärts gingen
bis in die Höhlen und dort bis heute erhalten
blieben. Sollte diese hier nach Grat er wieder-
gegebene Ansicht Vire's auf Absolon's
Serpulidenfund anwendbar sein?
Hand in Hand mit der Behandlung solcher
zoogeographischer Probleme gehen verschiedene
Fragen über „Entstehung der Arten". Absolon
hat bereits mehrfach solche bei der Besprechung
neuer Apterygoten und neuer Staphyliniden an-
geschnitten; zunächst auf Grund vergleichend
morphologischer Methoden. Ich selber iiabe bei
dem Versuch das Artenbild und die geographische
Verbreitung der ostalpinen Niphargiden in einen
kausalen Zusammenhang zu bringen keinen Weg
zur Lösuntj der nächstliegenden Fragen gefunden
und die Hoffnung ausgesprochen, daß die ver-
wirrende Mannigfaltigkeit der Niphargu-kolonien
auf experimentellem Weg unserem Verständnis
näher zu bringen sein wird. Vom morphologischen
Standpunkt aus böte die Gattung Niphargus —
und wohl noch so manches andere Höhlentier —
ein geradezu ideales Material für vererbnngs-
theoretische Experimente. Gelingt es diese Tiere
der Kultur und Aufzucht zu unterwerfen, so ist
der Grund gelegt zu einem sehr viel versprechenden
neuen Zweig der Höhlenzoologie, zur experi-
mentellen. Ein guter Anfang hierzu ist bereits
gemacht. In der Wiener Praterstation hat
Kammerer mit dem klassischen Höhlentier,
dem Grottenolm, erfolgreich experimentiert.
Vire hat Niphargus mit Erfolg als Aquariumtier
gehalten. Allerdmgs werden solche Versuche oft
komplizierte Bedingungen erheischen: Kultur im
Dunkeln, bei konstanter entsprechend tiefer Tempe-
ratur, zusagende Wasserqualität und Nahrung usw.
Sah doch Absolon Beispiele tödilicher Wirkung
des Lichtes bei Höhlentieren, so daß er auf ge-
wis-e Collembolen anspielend sagen konnte: „Was
das Wasser für die Fische ist, das ist die ewige
Finsternis für diese Geschöpfe", und bei Niphargus
bemerkte ich tödliche Wirkung des Wassei;wechsels,
obw >hl das neue Wasser von derselben Örtlichkeit
stammte.
Der Umstand, daß Absolon seine im
mährischen Karst erprobte Höhlentechnik auf das
Balkangebiet übertrug, hat nicht nur, wie Simroth
sagt, uns eine vielseitige Fauna erschlossen, von
der immer noch neue Schätze ans Tageslicht
kommen sondern hat auch viel dazu beigetragen,
die zoologische Höhlenforschung aus dem Stadium
derMusealzoologie in das der „Freilandbeobachtung"
weiterzuführen. Die Fortsetzung seiner Arbeiten
nach Kriegsende läßt nicht nur noch viel neues
biologisches Beobachtungsmaterial erhoffen, sondern
wird gewiß auch viel Anregung für die oben an-
gedeutete experimentelle Behandlung gewisser
Fragen der Höhlenzoologie bringen.
Verzeichnis der behandelten Literatur.
Absolon, K., Über .-\ntrophilon ]iriiiiiliTuni. Coleopt.
Kundsch., 1913.
— , Über Scotoplanetes arenstorffianus. Coleopt. Rundsch.,
1913-
— , Vysledky vyzkumnych cest po Balkanö. Zeitscbr. d.
mährisch. Landesmuseums, 1914 — 1916.
— , Bericht über höhlenbewohnende Staphyliniden. Coleopt.
Rundsch., 1915 — 19:6.
Simroth, H, L'ber einige von Dr. K. Absolon in
der Ilerzegovina erbeutete höhlenbewohnende Nacklschnecken.
Nachr. raalakozool. Ges., 1916.
Wagner, A. J., Beiträge zur Anatomie und Systematik
der Stylommatophoren. Denkschr. .'\kad. Wiss. Wien, 1914.
Einzelberichte.
Physik. Auch in Frankreich erwecken die mit
dem Artilleriefeuer zusammenhängenden aku-
stischen Phänomene besonderes Interesse, wie die
letzten Sitzungen der Pariser Akademie zeigen.
A. Perot versucht die „Zone des Schweigens"
durch den Einfluß des Windes zu erklären (C. R.
Ac. sc. Paris, Nr. ii, 19 16).
Einen Schall höre man, wie längst bekannt
sei, in der Windrichtung viel besser, als bei
Gegenwind, Die Kriegsereignisse, besonders die
Kanonade in der Picardie, hätten nun die Auf-
merksamkeit auf eine andere Erscheinung gelenkt
und es ermöglicht, die akustischen Verhältnisse
für das Hören eines sehr entfernten Schalls
bezüglich der „Zone des Schweigens" zu er-
forschen. Steht der Wind von Süden nach
Westen, herrscht also Gegenwind, hört man den
Kanonendonner in einer Entfernung von ungefähr
120 km, bei Nord- oder Ostwind dagegen gar
nichts. Diese Erscheinung läßt sich nun in
folgender Weise erklären. Nimmt man an, daß
54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 4
in einer sehr ausgedehnten Luftschicht Wind
herrscht, darüber aber Windstille besteht, Gegen-
wind herrscht oder auch ein gleichgerichteter, aber
doch schwächerer Wind, so gilt Folgendes.
I. Befindet sich die Schallquelle in einer
ruhenden Schicht, so breiten sich die Schall-
wellen mit konstanter Geschwindigkeit nach allen
Richtungen aus. Schwankungen im Luftdruck
spielen dabei gar keine Rolle, und nur die
Temperatur kann, aber auch diese nur in engen
Grenzen, eine Verschiedenheit bedingen. Herrscht
z. B. ein konstanter Wind von lo Sekm Ge-
schwindigkeit, so beträgt für einen Beobachter in
der Windrichtung die Geschwindigkeit des Schalls
340 m, in der Gegenrichtung dagegen nur 320 m.
Man kann also sagen, daß in der Windrichtung
die Schallbrechung um so schwächer ist, als
der Wind stärker wird. Die Schallbrechung
nimmt also proportional mit der Höhe zu, wo
der Wind schwächer wird, dagegen nimmt sie ab
in der entgegengesetzten Richtung. In dieser Be-
ziehung, also bei Gegenwind, verhält sich die
Schallbrechung gerade umgekehrt, wie die Licht-
brechung bei einer Luftspiegelung. Die Schall-
wellen gehen unter einem gewissen Winkel zur
Entfernung von der Erdoberfläche, weil die
Windgeschwindigkeit infolge Wegfalls der natür-
lichen Hemmnisse und der Reibung an der Erd-
oberfläche zunimmt. Es gelte also hier gerade
das Gegenteil, wie für das Hören des Kanonen-
donners auf große Entfernungen. Bei gleich-
gerichtetem Wind würden die Schallwellen nach
unten zurückgeworfen, während sie sich im um-
gekehrten Fall von der Erdoberfläche entfernten.
Daraus ginge hervor, daß jemand in der Wind-
richtung von einer größeren Energiemenge ge-
troffen wird und den Schall stärker hört als bei
Gegenwind.
Es wäre interessant, in großer Entfernung vom
Erdboden, etwa in einem Fesselballon, das Ge-
sagte auf seine Richtigkeit zu prüfen.
G. Bigourdan behandelt die Fortpflanzung
des Schalls auf große Entfernungen hin (C. R.
Ac. sc. Paris Nr. 14, 1916). Die von der Kampf-
front her hörbare Kanonade habe verschiedenen
Ursprung; teils entspräche sie dem Geschütz-
donner, teils rührte sie vom Platzeri der Granaten
oder von Minensprengungen her. Über die Fort-
pflanzung des dadurch verursachten Schalls auf
große Entfernungen von 200 — 300 km hin, be-
Windstille
..^
konstanter Wind
1^
Windstille
Horizontalen ab und treffen in einem Brennpunkt
zusammen. Dieser nun kann mit dem Punkt
zusammenfallen, wo sich der Beobachter be-
findet (Abb. 1). Da nun die Schallquellen über
eine ganze Zone verbreitet sind, so können auch
Brennpunkte innerhalb einer ganzen Gegend an-
getroffen werden; zwischen dieser und der Schall-
quelle selbst liegt die „Zone des Schweigens". In
einem Biennpunkt ist der Schall übrigens viel
stärker als der bei normaler Fortpflanzung. Aus
Versuchen, auf die P. nicht weiter eingehen wollte,
ging hervor, daß die Schallstrahlen das Ohr nicht
tangential zur Erdoberfläche träfen, vielmehr unter
einem sehr beträchtlichen Winkel, wie die Licht-
strahlen bei einer Luftspiegelung. Die ,,Zone des
Schweigens" erreiche übrigens eine verschiedene
Ausdehnung, je nach den atmosphärischen Bedin-
gungen, wie Windgeschwindigkeit und Mächtig-
keit der Luftschicht, in welcher der Wind herrscht.
In der Windrichtung findet dagegen eine Zer-
streuung der Schallwellen statt (Abb. 2), so daß
nichts von dem zutrifft, was für eine Luft-
spiegelung gilt. Der Schall reicht nur bis in eine
geringe Entfernung.
2. Ist der terrestrische Schall nur schwach, so
verstärkt sich die Schallgeschwindigkeit mit der
stände kein Zweifel; man sei aber darüber im
Unklaren, wodurch sie ermöglicht würde. Er
hätte nun von verschiedenen Seiten Mitteilungen
erhalten, welche auf diese Frage ein Licht würfen.
Ein 52 Jahre alter Ingenieur, der im Alter von
6 Jahren infolge von Gehirnhautentzündung das
Gehör gänzlich verlor und nun vollständig taub
wäre, habe ihm darüber Folgendes berichtet. Un-
mittelbar dicht neben einer Lokomotive stehend,
hörte er deren Pfiff nicht , sondern spürte nur
einen stechenden Schmerz im Trommelfell, der
übrigens sofort wieder aufhörte, auch wenn das
Pfeifen länger andauerte. Schon vor 20 Jahren
hätte er konstatiert, daß ein Kanonenschuß aus
1000 — 1500 m Entfernung ihm als aus zwei auf-
einanderfolgenden Schlägen zusammengesetzt er-
schiene; der erste würde offenbar durch den
Boden, der zweite durch die Luft fortgepflanzt.
Seit Beginn der Somme Offensive nähme er nun
die Kanonade von seinem Wohnort im Weichbild
von Paris wahr, aber nur das F"euer der schweren
Geschütze; er hörte es in demselben Augenblick,
wie Leute mit normalem Gehör. Bei der Ent-
fernung bis zur Sommefront (120 km) wäre nun
eine Fortpflanzung durch die Luft gänzlich aus-
geschlossen. Nur eine solche durch den Erd-
N. I". XVI. Nr
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
boden könnte in Betracht kommen und es erkläre
sich dann auch, warum er und ein Normalhöriger
den Schall zu gleicher Zeit wahrnähmen (vgl.
„Hörbarkeit des Kanonendonners", Naturw.
Wochenschr., Nr. 41, S. 589, 1916).
Von Frederic Houssay wird die Frage
abermals erörtert, ob es auf Wirklichkeit oder auf
Täuschung beruhte, daß man die Kanonade von
der Kampffront her auf unglaublich weite Ent-
fernungen hin höre (C. R. Ac. sc. Paris, Nr. 15,
1916). Er sagt, er habe seine Beobachtungen im
Norden des Weichbilds von Paris gemacht. Das
Geschützfeuer von der Schlacht an der Maas höre
man ganz deutlich, selbst am hellen Tag mitten
in Paris, in ruhigen Straßen und in den stillen
Promenadegängen des Jardins du Luxembourg,
sowie überall in der Sülle der Nacht. Im Wmter
1914 hätten ihm Nachbarn übereinstimmend ver-
sichert, daß sie das Geräusch fortwährend hörten ;
er selbst habe es indessen nicht vernehmen
können trotz fortwährender Aufmerksamkeit.
Ende Mai 1916 dagegen hätte er gespannt ge-
horcht und beim P'ehlen von störenden Geräuschen
während der Nacht ein sehr fernes Kanonenfeuer
aus nördlicher Richtung wahrgenommen; dasselbe
wäre sehr lebhaft gewesen, aber so schwach zu
hören, daß es durch die germgsten Geräusche,
wie z. B. das Rascheln der Blätter, erstickt worden
wäre. Wie er nachher erfahren hätte, rührte der
Kanonendonner vom Kampf bei Carency, Ablain-
Saint Nazaire her. Seitdem hörte er die Kanonade
an jedem ruhigen Abend, an dem eine solche statt-
fände, dagegen nichts, wenn keine gewesen wäre;
eine Suggestion läge also nicht vor. Er hörte die
Kanonade zu Hause und in ganz Hurepoix, in
den Tälern, auf den Höhen oder im Wald; be-
sonders gut würde sie im Wald, namentlich in
der Nähe von Sümpfen gehört. Die Windrichtung
spiele dabei keine Rolle außer daß Gegenwind,
d. h. Südwind, für die Erscheinung am günstigsten
wäre; bei Nordwind dagegen müßte man eine
geschützte Stelle aufsuchen, um etwas von dem
sehr schwachen Geräusch zu hören. Von Mai
1915 bis Oktober 1916 hätte er gehört, was nach
dem Bericht als heftiger intensiver Artilleriekampf
bezeichnet wurde, dagegen nichts von dem ge-
wöhnlichen Kanonenfeuer. Man höre eben nicht
die einzelnen Kanonenschüsse auf große Ent-
fernungen, nur sehr lebhaftes anhaltendes Geschütz-
feuer, und auch das nicht immer. Nicht mangel-
haftes Gehör sei daran schuld, wenn man nichts
hörte, sondern der Grund dafür liege darin, daß
man von den tausend störenden Geräuschen in
der Umgebung nicht absehen könnte. Die Zonen
des Schweigens dürften also nicht nach dem" Aus-
fall einer allgemeinen Stimmenmehrheit aufgestellt
werden. Nur geübte Beobachter wären dabei in
Betracht zu ziehen. Es sei sehr schwer, die
Gegend zu bestimmen, aus welcher der Ton käme.
Ein gelegentlicher und selbst ein geübter Be-
obachter täuschten sich leicht (in 90 "/q der Fälle
und mehr). So hätte er genau die Kanonade von
der Maas gehört (40 km), vom Soissonais (100 km),
aus der Picardie (130 km), von Artois (200 km),
aus der Champagne (200 km), am besten in den
beiden letztgenannten Fällen; dagegen hätte er
v^on den Argonnen her gar nichts gehört.
An zwei aufeinanderfolgenden Abenden um
den 20. Juni 1916 herum, hätte man ein starkes
Kanonenfeuer in der Richtung von Verdun (245 km)
vernommen, und zwar etwas besser bei Ostwind.
Dies habe ihn um so mehr überrascht, als er in
den 4 ersten Monaten der schrecklichen Schlacht
nichts wahrgenommen hätte und auch seitdem
nichts wieder. Er hätte aber das Geräusch ganz
sicher gehört, freilich nicht lange genug, um mit
Sicherheit angeben zu können, aus welcher Richtung
es herkäme. Was nun die „Zone des Schweigens"
anbelange, so könne er in den zahlreichen an-
gegebenen F'äilen , die er nachgeprüft und über
die er berichtet hätte, keinerlei Beweise dafür
finden, daß es eine solche gäbe. Ende Juli hätte
er Tag und Nacht eine ununterbrochene Kanonade
aus der Picardie gehört, noch bevor die Zeitungen
etwas berichteten, dann erst habe er erfahren, daß
es sich um die Offensive an der Somme gehandelt
hätte. Tagelang hörte dieselbe nicht auf; bald ließ
sie nach, bald flammte sie wieder auf. Um den
15. Juli 1916 herum — das genaue Datum könnte
er nicht angeben — hätte er nichts mehr gehört
und seitdem auch nichts mehr, trotzdem das
furchtbare Kanonenfeuer weiter angehalten hätte.
Aus allem , besonders dem zuletzt Gesagten,
müsse man schließen, daß man nicht die einzelnen
Schüsse hörte, sondern nur eine fortwährende
Lufterschütterung wahrnähme. Das Ganze könnte
man als eine fortwährende Folge von Klopfschlägen
(battements) bezeichnen.
Es sei begreiflich, daß das Relief des Land-
striches , aus welchem der Ton käme , von erst-
klassiger Bedeutung wäre. Eine Verschiebung
der Geschütze um 4 km könnte eine Verlagerung
der Zone des Schweigens um 130 km zur Folge
haben. Daß man den Kanonendonner von Verdun
so selten hörte, dürfte gleichfalls mit gewissen
Stellungen der feindlichen Artillerie zusammen-
hängen; daß man aus den Argonnen nichts hörte,
hätte nach seiner Ansicht denselben Grund.
Kathariner.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 4
Bücherbesprechungen.
Brehm's Tierleben. Allgemeine Kunde des
Tierreichs. Vierte vollständig neu bearbeitete
Auflage. Herausgegeben von Prof. Dr. C. z u r
Strassen. Säugetiere. IV Bd., neu bearbeitet
von Max Hilzheimer und Ludwig Heck.
XXII, 714 Seiten gr. 8^ mit 204 Abbildungen
nach Photographien auf 26 Duppeltafeln, 86
Textabbildungen, 23 farbigen und 4 schwarzen
Talein. Leipzig, Wien, Bibliographisches Institut.
1916.
In dem vorliegenden Bande, der die Säugetiere
abschließt, haben Hilzheimer die Paarhufer und
Heck die Halbaffen behandelt und den Text
durch zahlreiche Abbildungen, wie sie die photo-
graphische Kammer und der Pinsel des IVlalers
in hoher Vollendung lieferten, vervollständigt.
Die Verf. täuschen sich wohl nicht, wenn sie im
Vorwort betonen, daß gerade dieser Band viele
Brehmleser besonders anziehen wird, weil in ihm
unter den Paarhufern das wichtigste Wild und
die wichtigsten Haustiere und in den Affen
die dem Menschen am nächsten stehenden Säuge-
tiere zur Darstellung gelangen. Den bedeutenden
Fortschritten in der Systematik, in der morpho-
logischen und stammesgeschichtlichen Erkenntnis
ist ebenso Rechnung getragen wie denen in der
Bit)logie und den psychischen Lebensäußerungen.
Die Menge des Stoffes — sind doch z. B. 201
Arten Halbaffen und Affen gegenüber 85 der
vorausgehenden Auflage behandelt — bedmgte
eine weitgehende Umgestaltung des früheren Textes,
von dem nur sehr wenig stehen geblieben ist.
Die 23 Farbentafeln von der Hand unserer ersten
Tiermaler sind nicht minder hervorragend wie die
26 Doppeltafeln nach Photographien. Zu den
schwarzen Tafeln und den Textabbildungen bringt
der Hand noch 4 Tafeln mit 12 Erdkarten, auf
denen Arldt die geographische Verbteitung der
Säuger darstellt — also eine Fülle von durchweg
vortrefflichen Illustrationen, wie sie anderwärts in
gleicher Güte auch nicht annähernd so hoch zu
finden sind.
Insgesamt sind die vier Säugetierbände mit
73 farbigen, 18 schwarzen Tafeln, 92 Doppeltafeln
(nach 520 Photographien) und 268 Textabbildungen
geschmückt ; doch es kommt nicht so sehr auf
eine hohe Zahl von Illustrationen, die leicht zu
erreichen ist, an, als auf deren Beschaffenheit und
zweckmäßige Auswahl; in dieser Beziehung können
Verfasser und Verlag auch sehr scharfer Prüfung
mit voller Ruhe entgegensehen.
Bei der riesig angewachsenen Literatur war
aber die Auswahl des den Lesern darzu-
bietenden Stoffes sicherlich das Schwerste; es
galt nicht nur den gemeinverständlichen Charakter
und die Tendenz des Werkes beizubehalten und
doch den großen Fortschritten der letzten Jahr-
zehnte vollauf Rechnung zu tragen, sondern auch
das Ganze über einen vorher bestimmten Umfang
nicht hinauswachsen zu lassen. Alle Kapitel sind
neu gestaltet und gar viele gewiß mehrfach um-
gearbeitet worden, ehe alle Anforderungen erfüllt
waren und doch ist der Text flüssig geblieben
und hat durch die Wissenschaftlichkeit, die ihm
gegeben wurde, nichts eingebüßt, im Gegenteil
nur gewonnen.
So wird Brehm's Tierleben auch in
modernisierter Form die alten F"reunde, die freilich
vielfach umlernen müssen, vollauf befriedigen und
viele neue gewinnen; es ist aber jetzt auch im-
stande, höheren Anforderungen zu entsprechen,
und wird selbst Fachleuten über viele Dinge zu-
verlässige Auskunft geben, die sie anderwärts
nicht so leicht linden.
Dem Verlage ist besonders für die schöne und
reiche Ausstattung sowie dafür zu danken, daß
trotz der Ungunst der Zeiten eine wesentliche
LTnterbrechung im Erscheinen nicht eingetreten
ist, wozu natürlich auch die Mitarbeiter und der
Pierausgeber ihr Teil beigetragen haben.
M. Braun.
Literatur.
Lotsy, J. P., Evolution by roeans of hybridization.
The Hague 'l6, M. Nijhoff.
Lassar-Cohn, Prof. Dr., Die Chemie des täglichen
Lebens. Gemeinverständliche Vorirägc. 8. vcrb. Auflage.
Mit 23 Textabbildungen. Leipzig 'l6, L. Voß. — 4,80 M.
Möbius, A. F., Astronomie usw., neu bearbeitet von
Prof. Dr. H. Kobold. II. Kometen, Meteore und das Stern-
system. Mit 15 Figurin und 2 Sternkarten Berlin und Leipzig
'16, G. 1. Göschcnsche Verlagshandlung G. m. b. H. — 90 Pf.
Greulich, Dr. O. , Peru. Studien und Erlebnisse.
Nr. 381—390 von OreU FüSli's Wanderbildern. Zürich
'16, ürell Füßli. — 5 M.
Verhandlungen der außerordentlichen Tagung der Deutschen
Vereinigung für Krüppellürsorge E. V. im Reichstagsgebäude
am 7. hebruar 1916. Leipzig '16, L. VoB. - 3,20 M.
Riebesell, Dr. P., Die mathematischen Grundlagen der
Variations- und Vererbungslehre. Leipzig und berlin '16,
B. G. Teubncr. — 80 Pf.
Roh berg, A., Theorie und Pra.xis des Rechenschiebers.
Ebenda. — 80 Pf.
Systematisches Verzeichnis der Abhandlungen, welche in
den Schulschriften sämtlicher an dem Programmaustau.sch teil-
nehmenden Lehranstalten erschienen sind. Bearbeitet von
Prof. Dr. R. Klufimann. ^ Band, 1901—1910. Leipzig-
Berlin '16, B. G. Teubner. — 14 M.
Inhalt; V. Er eh m, Dr. Absolon's zoologische Höhlenforschungen auf d
A. Perot, G. Bigourdan, F. Houssay, Die mit dem Artilleriefei
(2 Abb.) S. 53. — Bücherbesprechungen: Brehm's Tierleben. IV.
Balkanhalbinsel. S. 49. — Einzelbetichte :
zusammenhängenden akustischen Phänomene,
d. S. 56. - Literatur: Liste S. 56.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidcnstraße 42, erbetc
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 4. Februar 1917.
Nummer 5.
Georg Schweinfurth.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag
Mötefindt.
(29. Dez. 19 16).
(Nachdruck verboten.] Von HugC
In aller Stille beging am 29. Dezember
des soeben verflossenen Jahres Professor Dr.
Georg Schweinfurth seinen achtzigsten Geburtstag.
Vom Geschlechte der großen Erforscher Afrikas,
der Nachiigal, Rohlfs usw., ist der jetzt 80jährige
Georg Schweinfurth der letzte Überlebende, der
Nestor der deutschen Afrikaforschung. Wir wollen
diesen Anlaß benutzen, unseren Lesern ein Lebens-
bild des berühmten Forschungsreisenden und
hervorragenden Botanikers vorzuführen.
Schweinfurths Vorfahren lassen sich väter-
licherseits nur bis zum Beginn des 18. Jahr-
hunderts nachweisen. Infolge der Verwüstung
der Pfalz sind auch die älteren Kirchenbücher
von Wiesloch (Großherzogtum Baden) zerstört ;
das älteste, heute dort noch vorhandene, das erst
mit dem Jahre 1700 beginnt, nennt bereits einen
Weißgerber Johann Jakob Schweinfurth, der sich
im Jahre 1708 mit der Pastorsiochter Sibylle
Margaretha Ambtin vermählte. *) Von Wiesloch
aus ist Schweinfurths Vater als Sohn kinder-
reicher Eltern im Jahre 1809, vor der Konskription
flüchtend, nach Lübeck und Riga gekommen; in
Riga hat er sich dauernd niedergelassen und im
Jahre 1819 verheiratet. Im Jahre 1820 gründete
er die heute noch unter seinem Namen besiehende
Firma und betrieb einen ausgedehnten Handel
mit importierten Weinen nach dem Innern
Rußlands. Der Großvater von Schweinfurths
Mutter, Martin Mauer, war auch aus Deutschland
(Stendal) nach Riga eingewandert. Als jüngstes
Kind dieser Eltern wurde Georg Schweinfurth
am 29. Dezember 1836 in Riga geboren.
In dem heute heiß umkämpften Riga verlebte
Georg Schweinfurth seine Jugendjahre. Als Knabe
hat er mehrere Jahre in einer mitten in Livland
gelegenen Erziehungsanstalt verbracht und später
die oberen Klassen des Rigaischen Gymnasiums
besucht. Wie gänzlich anders sati es dort in Riga
zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausl Zu Schwein-
furths Jugendzeit hatte das damalige Riga kaum
den zehnten Teil seiner heutigen Bewohner. Trotz
der von vielen Russen und Letten bewohnten
Vorstädte konnte man es als eine durchaus deutsche
Stadt bezeichnen, und auf dem Gymnasium wurden,
mit Ausnahme des Russischen, alle Fächer in
deutscher Sprache gelehrt. Schweinfurth erinnert
sich, im Kreise seiner Eltern selber nie russisch
sprechen gehört zu haben. Schweinfurths Vater
war Rußland gegenüber von äußerst loyaler Ge-
sinnung und hielt streng darauf, daß sich auch
seine Kinder einer solchen Gesinnung befleißigten.
F'rühzeitig wurde in dem jungen Schweinfurth
durch das Lesen von Reisebeschreibungen der
Sinn für Forschungen und Entdeckungen
in entlegenen Teilen der Welt erweckt.
Unauffällig suchte er sich fortan an Strapazen und
Entbehrungen aller Art zu gewöhnen, vornehmlich
durch ausgedehnte Fußwanderungen, die er ohne
Begleitung in den heimatlichen (baltischen)
Provinzen unternahm, um selber einmal im ge-
reiften Leben derartige Entdeckungen vornehmen
zu können. In den Jahren 1857 — 1860 ging er
zum Studium nach Heidelberg; hier widmete
er sich den Naturwissenschaften, vor allem der
Botanik. In München und Berlin brachte er seine
Studien zu einem vorläufigen Abschluß. 1862
promovierte er an der Berliner Universität. Seine
Dissertation — Plantae quaedam niloticae,
quas in itinere cum divo Adalberto libero barone
de Barnim facto collegit RobertusHartmann.
Berlin 1862 — zeigt ihn uns zum ersten Male
auf dem Gebiet, dem er später seine Lebensarbeit
widmen sollte, in der Botanik Afrikas, vor allen
Dingen Ägyptens. Aus den Berliner Jahren
stammen einige andere botanische .'arbeiten,
auf welche die heutige F"orschung noch immer
gern zurückgreift; ich nenne von ihnen nur den
„Versuch einer Vegetationsskizze der Umgegend
von Straußberg", der von einer prächtigen Karte
begleitet ist (Verhandlungen des botanischen Ver-
eins für Brandenburg. III — IV. 1861. S. 91 — 126). ')
\'on Heidelberg aus hatte Schweinfurth wieder
allein und zu P'uß die Insel Sardi nie n pflanzen-
sammelnd durchzogen und dort in einer ihm
fremden Welt seine Leistungsfähigkeit erprobt.
In jene Jahre fällt auch seine Besteigung des
Großglockners (vgl. Carinthia XLVIII. Klagenfurth
1858.' S. 41).
Als Schweinfurth 1862 seine Studien beendet
halte, war sein brennendster Wunsch, eine
größere Studienreise nach Afrika zu
unternehmen, und das Land, das von jeher
das Ziel seiner Wünsche gewesen war und dessen
botanischer Erforschung er sich in den letzten
Jahren gänzlich gewidmet hatte, aus eigener An-
schauung kennen zu lernen. Sein Vater war in-
') Vgl. hierzu Schweinfurt
rühmte Autoren des Verlages
Brockhaus 1914. S. 76.
Selbstbiographie in ,,Be-
. A. Brockhaus", Leipzig.
>) Vgl. in
Briefe, Aufsatz
übrigen Georg Schweinfurth , Veröffentlichte
und Werke 1860—1916. Berlin 1916.
58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. S
zwischen verstorben; seine Mutter willfahrte den
Plänen ihres Sohnes und schenkte ihm loooo Rubel.
So betrat er am 26. Dezember 1863 zum
ersten Male afrikanischen Boden in
Alexandria. Er hatte sich die botanische Er-
forschung der Nilländer und der benachbarten
Gebiete als das zu verfolgende Ziel gesteckt. Diese
erste Reise ins Unbekannte brachte zahlreiche
Stichproben der Forschung zustande. Die un-
erforschten Gebirge an der Küste des Roten
Meeres zogen Schweinfurth vor allen Dingen an.
Besonders war es das Gebiet der unabhängigen
Bischarin, welches seine Neugierde erregte. Das
Land zwischen Nil und Meer wurde wiederholt
durchwandert, als erster Europäer bereiste er die
Küsten von Nubien. An der untersten Terrasse
des abessinischen Hochlandes genoß er den siillen
Zauber der afrikanischen Natur, das Rote Meer
befuhr er auf einer Barke. Dann zog er von
Suakin landeinwärts nach Kassala und nach Galla-
bat, wo er die Regenzeit verlebte und von wo aus
er später auf dem Rückwege über Sennar 1866
nach Chartum zurückgelangte. Im Sommer 1866,
zur selben Zeit, als die Schlacht von Königgrätz
geschlagen wurde, war er auf der Heimreise von
Wien aus zu seinen Angehörigen begriffen.
Schon diese erste Reise zeitigte zahlreiche
wichtige Ergebnisse für die Pflanzengeographie.
Ein prachtvolles Herbar war zunächst der heim-
getragene Lohn seiner Mühen. Außerdem wurden
zahlreiche Beiträge zur Vervollständigung des
Kartenbildes der durchreisten Gegenden gewonnen,
und, auf der Reise nach Kassala, Maman, die
alte Gräberstadt der Bega, entdeckt. Die Ergeb-
nisse dieser ersten Reise haben in wissenschaft-
lichen Kreisen Schvveinfurths Namen weithin be-
kannt gemacht. Welch hohes Ansehen er genoß,
zeigt sich darin, daß er zur Mitarbeit an der
von Ascherson unter der Mitwirkung zahl-
reicher anderer herausgegebenen Flora
Äthiopiens (Berlin 1867) herangezogen wurde
und dabei die wichtigste Aufgabe erhielt. Daneben
veröffentlichte ereinegroßeAnzahl kleinerer
Abhandlungen und Aufsätze in der Zeit-
schrift für allgemeine Erdkunde in Berlin, in der
Linnäa, in den Verhandlungen der k. k. botanischen
Gesellschaft in Wien, in Petermanns geographi-
schen Mitteilungen; in letzterer Zeitschrift finden
sich auch seine ausführlichen Reiseberichte.
Doch nicht lange hielt es Schweinfurth in
seiner Heimat aus; er trug sich mit groß-
zügigen Plänen zur Erforschung der
zum größten Teil noch u n bekann ten Ge-
biete am oberen Nil. Zur Erfüllung dieser Pläne
wandte er sich 1867 an die von der Berliner
Akademie der Wissenschaften verwaltete „H u m -
boldtstiftung für Natur forschung und
Reisen", und von dort aus wurden ihm — nach
erfolgreichem Wettbewerb mit anderen — die
während der Dauer von fünf Jahren verfügbaren
Fonds der Humboldtstiftung zur Verfügung ge-
stellt. Seine Aufgabe betraf die botanische Er-
forschung des Stromgebietes des Bahr-el-Ghasel,
also der westlich des oberen Nils gelegenen Länder
und der nach dem Kongo sich senkenden Wasser-
scheide; daneben sollten auch geographische und
ethnographische Forschungen im Auge behalten
werden.
Im Jahre 1868 trat Schweinfurth diese zweite
Forschungsreise an. Seitens der ägyptischen
Regierung wurde seinem Unternehmen nachdrück-
lichst Vorschub geleistet; Schweinfurth gelangte
dadurch bei den im Forschungsgebiet tätigen
Chartumer Elfenbeinhändlern zu derartigem An-
sehen, daß alle in Liebenswürdigkeiten gegen ihn
wetteiferten und in den Niederlassungen der Be-
fehlshaber die bewaffneten Wanderscharen mit-
einander um den Vorzug stritten, seinen Plänen
dienlich sein zu dürfen. Statt ihn finanziell aus-
zubeuten, wie das sonst der Fall war, lieferten sie
ihm kostenfrei Träger und Proviant, und in den
Stationen wurde ihm ausgiebige Gastfreundschaft
gewährt. In Chartum gelang es ihm, mit dem
libyschen Großhändler Ghattas einen Vertrag ab-
zuschließen, der ihm gestattete, sich einer 1869
nach dem Gazellenfluß abgehenden Expedition
anzuschließen. Am 5. Januar 1869 brach er von
Chartum auf. Er durchstreifte die Gebiete der
Dinka, Dschur und Bongo und unternahm dann
eine Rundtour durch das Gebiet zwischen den
Dschur und Bahr-el-Dschebel. Im Januar 1870
betrat er das Gebiet der NiamNiam, durchzog deren
Land und besuchte dann das Gebiet der Monbutlu,
wo er mit dem Zwergvolk der Akka bekannt wurde.
Auch entdeckte er auf der Reise durch das Land der
Monbuttu den Fluß Uelle. Nach Beendigung der
wichtigsten Abschnitte dieser Reise, nach dem
gegen Süden bis ins Land der Monbuttu gerichte-
ten Vorstoß, wurde er durch eine Feuersbrunst
fast seiner ganzen Habe beraubt; die Sammlungen
waren zu gutem Glück schon auf dem Wege
nach Europa. Nach gefahrvollem Rückwege durch
meist unbekannte Länder traf er am 27. Juli 1871
in Chartum ein. Im Frühjahr 1872 kehrte er
nach Deutschland zurück.
In Berlin wurde Schweinfurth bei der Rück-
kehr von seiner zweiten Forschungs-
reise von der Gesellschaft für Erdkunde, von
seinen zahlreichen Freunden und von seinen aka-
demischen Gönnern der wärmste und ehren-
vollste Empfang zuteil. Mit lebhaftem In-
teresse nahm die ganze wissenschaftliche Welt
Europas an seinen Entdeckungen Anteil. Besondere
Beachtung fanden seine Reiseergebnisse in Eng-
land. In der zu Brighton tagenden „British
Association" hatte Stanley, der vor kurzem den
verschollenen Livingstone gefunden hatte, dessen
Ansicht eifrigst verteidigt, daß der Lualaba nord-
wärts dem Gazellenfluß zuströme. Stanley ver-
suchte damit den Nachweis zu liefern, daß von
Livingstone nunmehr die wahre Nilquelle fest-
gelegt sei. Dem aber widersprach aufs entschie-
denste Grant, der Reisegenosse von Speke, und
er bewies, daß diese Hypothese infolge der durch
N. F. XVI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
59
Schweinfurth gemachten Entdeckung eines sich
mit verkehrter Stromrichtung dazwischen ein
schaltenden Flusses, des Uelle, durchaus unhalt-
bar geworden sei. Vom grüßen Kongo, dessen
Festlegung auf unseren Karten in der Folge Stan-
ley zum größten Enideckungsreisenden Afrikas
stempeln sollte, hatte man damals noch keine
Ahnung.
In Berlin arbeitete Schweinfurth in den folgenden
zwei Jahren sein berühmtes Werk „Im Herzen
von Afrika" aus, das im Verlage von Brock-
haus in Leipzig im Jahre 1874 in zwei Bänden
erschien. Der Erfolg war ein ungeahnter. Die
schlichte Art, in der Schweinfurth in diesem Buche
von seinen Erlebnissen berichtete, verschaffte ihm
einen ungeheuren Leserkreis. Sehr rasch war die
deutsche Auflage vergriffen. 1878 erschien eine
gekürzte Auflage in emem Bande. Übersetzungen
in alle möglichen Sprachen folgten: 1S74 erschien
in London eine englische Übersetzung von Ellen
E. F"rewer, es folgte 1875 eine französische und
eine italienische Übersetzung, 1876 eine zweite
französische Ausgabe, 1877 sogar eine dritte. Als
Kuriosum darf wohl auch die türkische Über-
setzung angeführt werden, die in einem starken und
illustrierten Bande zu Konstantinopel im Jahre 1875
erschien. Durch das Erscheinen dieses Buches
erlangte Georg Schweinfurths Name in Europa
eine Weltberühmiheit. An das Erscheinen des
Buches schlössen sich zahlreiche wissenschaft-
liche Ehrungen an. So erhielt er z. B. von
der Londoner geographischen Gesellschaft die
goldene Medaille zuerkannt, wie die Begleit-
urkunde sagt, auf Grund der langjährigen bota-
nischen Forschungen im Nilgebiet, der Fe^t^tellung
der südwestlichen Begrenzung des Nilbeckens und
der Entdeckung des Uelle jenseits dieser Wasser-
scheide, dann auch der Auffin^iung und Beschrei-
bung des Zwergvolkes der Akka, als Bestäiigung
der alten Pygmäenansicht, und auf Grund seines
Werkes „Im Herzen von Afrika".
1875 erschien in dem Verlage von Brockhaus
in Leipzig noch ein zweites Werk „Art es
africanae. Abbildungen und Beschreibung
von Erzeugnissen des Kunstfleißes
zentralafrikanischer Völker". Diesem
Werke war die Aufgabe gesteckt, die reichen
völkerkundlichen Sammlungen Schweinfurths der
Öffentlichkeit zu erschließen. Damit war das
Werk von vornherein nur für die Fachwissenschaft
bestimmt, die auch noch heute nach mehr als
40 Jahren immer gern darauf zurückgreift. Aus
derselben Zeit stammen weiter eine Reihe von
geographischen Arbeiten und trefflichen Karten
in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde in
Berlin, in Petermann's geographischen Mitteilungen
und im Globus, von völkerkundlichen Studien in
der Zeitschrift für Ethnologie und in den Verhand-
lungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft.
Einige zoologische Beobachtungen finden sich im
Globus und in den Verhandlungen der Gesellschaft
für Erdkunde zu Berlin mitgeteilt. Auch auf dem
Gebiete der Li n gu ist i k hat er umfangreiche
Studien gemacht, die er einem Ergänzungshefte
der Zeitschrift lür Ethnologie (IV, 1872) unter dem
Titel ..Linguistische Ergebnisse einer Reise
nach Zentralafrika" niedergelegt hat. Einige Bei-
träge zur Archäologie und alten Geographie
wurden in Petermann's geog»aphischen Mitteilungen
abgedruckt. Außerdem brachte die Kölnische
Zeitung zahlreiche Berichte über seine Reisen,
über Politik und Koloniales. Nicht zu vergessen
ist schließlich auch die große Reihe von bota-
nischen Arbeiten über das auf .»-einen Forschungs-
reisen gewonnene Material, die sich vor allen
Dingen in der Zeitschrift der Gesellschaft für
Erdkunde zu Berlin, im Bulletin de rinstilut de
l'Egypte, in der botanischen Zeitschrift finden.
Eine Reise von gleicher Ausdehnung hat
Schweinfurth später nicht wieder unternommen.
Neue kürzere Forschungsreisen folgten.
Im Winter 1873 bis Frühjahr 1874 war Schweinfurth
mit der topographischen und botanischen Erfor-
schung der Oase El ■ C hargeh in der libyschen
Wüste beschäftigt. Im Wmter 1874/75 erging
darauf von dem Chedive Ismail der Ruf an
Schweinfurth, in Kairo ein geographisches
Institut für Ägypten zu begründen. Schwein-
furth leistete 1875 diesem ehrenvollen Rufe Folge.
Außer der Bearbeitung seiner reichen
botanischen Sammlungen aus Zentral-
afrika beschäftigte ihn in dieser neuen Stellung
in Kairo vor allen Dingen die Aufhellung der
östlichen Wüste, zwischen Nil und Rotem
Meer, durch welches Gebiet er 1876 — 1886 zwölf
größere Streifzüge ausführte. 1880 erforschte er
nach einer fünften Reise in der arabischen Wüste
die P'lora des Libanon. 1881 begleitete er
Ri ebeck durch die arabische Wüste nach Süd-
arabien und Sokotra, wobei er vor allen
Dingen die Flora dieser letztgenannten Insel er-
forschte. 1882 untersuchte er das Niltal von
Siüt bis Assuan, 1883 die Küste von
Marmorica und die geologischen Verhältnisse
in der Umgegend von Kairo, 188485 unter-
nahm er wieder eine ausgedehnte Reise durch
die arabische Wüste, 1887 erforschte er mit
Walt her die geologischen Verhältnisse
der Pyramidenregion, darauf weilteer wieder
in der arabischen Wüste. Im Winter 1888
und im Frühjahre 1889 durchstreifte er das Ge-
birge Vemens. 1889 endlich gab er seine
Stellung als Vorsitzender des Institut egyptien
in Kairo auf und siedelte nach Berlin über.
Damit ist die Zeit seiner großen Forschungsreisen
abgeschlossen; die zweite Hälfte seines Lebens,
die er abwechselnd in Berlin und Ägypten zu-
brachte, hat er zur Vertiefung und Erweiterung
seiner Forschungsergebnisse verwendet.
In der Zeit dieser zahlreichen großen Reisen
ist Schweinfurth gleichzeitig literarisch höchst
erfolgreich tätig gewesen. Aus diesen Jahren
stammen zahlreiche Notizen über seine
Reisen, eine Reihe von geographischen Ab-
6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5
h an diu n gen mit trefflichen Karten, von 1883
an auch wieder einige botanische Arbeiten,
die seit 1873, wenigstens auf literarischem Gebiete,
vollständig in den Hintergrund getreten waren.
Sehr eingehend hat er sich dann seit 1882 mit
den geologischen Problem en Ägypte ns,
vor allen Dingen der* Nilgege nd, beschäftigt;
zahlreiche Arbeiten in der Zeitschrift der deut-
schen geologischen Gesellschaft und in dem Bulletin
de rinstitut egyptien geben von diesen emsigen
Studien Zeugnis. Seit 1884 beschäftigte er sich
immer lebhafter mit den Resten der Steinzeit
von Ägypten. 1885 gab er die ersten Funde
von der seitdem wiederholt von ihm besuchten
schier unerschöpflichen Fundstelle in Heluan be-
kannt (vgl. Verhandlungen der Berliner anthropo-
logischen Gesellschaft 1883. S. 302 und die fol-
genden Jahrgänge dieser Zeilschrift). Außerdem
finden sich in denselben Zeitschriften einige
Aufsätze zur Archäologie und alten
Geographie von Ägypten. Zu nennen sind
endlich auch wieder die zahlreichen Berichte
in der Kölnischen Zeitung.
Neben diesen zahlreichen Aufsätzen und Ab-
handlungen stehen auch einige umfangreiche
Werke, die aus dem gleichen Zeitabschnitt her-
rühren. So gab er i88q mit P. Ascherson
eine „Illustration de la Flore d'Egypte'
in den Memoires de l'Institut egyptien ä Cairo,
(Band II. S. 25 — 260) heraus, der in demselben
Jahre ein umfangreicher Nachtrag folgte (Eben-
dort II. S. 745—786). 188S endlich gab er zu-
sammen mit Friedrich Ratzel die Reise-
bücherund Berichte Emin Paschas heraus.
Auch von dem Augenblick seiner dauernden
Übersiedelung nach Berlin (1889) an ist
Schweinfurth beinahe Jahr um Jahr auf großen
Reisen in Ägypten, Abessinien, Tunesien, Sizilien,
Frankreich u. a. m. gewesen. 1890 — 94 weilte er
in Nordabessinien, zwischen 1895 und 1906 be-
suchte er Teile von Ägypten, Abessinien und
Tunesien. Der Grund, der für seine dauernde
Übersiedelung nach Berlin ausschlaggebend war,
ist darin zu suchen, daß er jetzt in stiller Ruhe
die Ergebnisse seiner unzähligen Reisen aufarbeiten
wollte. So ist es zu verstehen, daß in diese Jahre
seit 1889 die größte Zahl seiner literarischen Ar-
beiten fällt.
Aus diesen Jahren stammen zahlreiche Reise-
notizen und geographische Aufsätze, das
treffliche Kapitel „Zur Kenntnis des ägyp-
tischen Landes und Volkes" in der fünften
Auflage von Bädeckers Ägypten (1902.
S. XLIII— LXIV), zahlreiche Karten, darunter die
trefflichen „Aufnahmen in der östlichen
Wüste von Ägypten" (Berlin I, 1899— X, 1902).
Unsere Aufmerksamkeit verdient weiter eine große
Reihe von botanischen Arbeiten, darunter
die Studien „Über die Florengemeinschaft
von Südarabien und Nordabessinien"
(Verhandlifngen der Gesellschaft für Erdkunde
zu Berlin 1891. S. i — 20) und „Ägyptens aus-
wärtige Beziehungen hinsichtlich der
Kulturgewächse" (Verhandlungen der Berliner
anthropologischen Gesellschaft 1891. S. 649—669),
die umfassende „Sammlung arabisc h- äthio-
pischer Pflanze n" (I. Bulletin de l'Herb. Boiss.
II, Appendice II. 1894. S. i — 113. II. Ebendort
IV, App. IL 1896. S. 114-266. III. Ebendort VII,
App. II. 1899. S. 267 — 340), das in Gemeinschaft
mit G. Volkens herausgegebene Werk „Liste
des plantes recoltees par les princes
Demetre et Nicolas Ghika-Comenesti
dans leur voyage au pays des Somalis"
(Bukarest 1897) und die in Gemeinschaft mit
Ludwig Diels herausgegebene Studie „Vege-
tationstypen aus der Kolonie Er ythräa"
(Jena 1905). Zu nennen sind schließlich einige
geologische Arbeiten und zahlreiche Arbeiten
über die Steinzeit in Ägypten, in
Tunesien und Sizilien in den Verhandlungen
der Berliner anthropologischen Gesellschaft und in
der Zeitschrift für Ethnologie, vor allen Dingen die
prächtigen zusammenfassenden Arbeiten „Stein-
zeitliche P'orschungen in Oberägypten"
(Zeitschr. für Ethnologie 1904. S. 766 — 825),
„Steinzeitliche Forschungen in Süd-
tunesien" (Ebendort 1907. S. 139 — 181) und
„das Höhlen paläolithikum von Sizilien
und Südtunesien" (Ebendort 1907. S. 832 — 915)
Nicht zu vergessen ist schließlich das für jeden
Forscher, der sich mit der älteren Steinzeit über-
haupt befaßt, durchaus unentbehrliche „de utsch-
französischeWörterverzeichnisderdie
Steinzeit betreffenden Literatur" (Berlin
1906), eine äußerst verdienstliche Arbeit, die es
wirklich einmal verdiente, in einem Neudruck den
weitesten Kreisen derer, die sich mit der Er-
forschung der älteren Steinzeit befassen , zu-
gänglich gemacht zu werden. In zahlreichen
Abhandlungen hat Schweinfurth weiter seine
Studien über Archäologie und alte
Geographie niedergelegt; aus ihrer großen
Zahl greifen wir hier die treffliche Studie „über
den Ursprung der Ägypter" (Verhandlungen
der Berliner anthropologischen Gesellschaft 1897.
S. 263 — 286) heraus. Auch auf dem Gebiete der
Linguistik hat er eine umfangreiche Studie über
„Abessinische Pflanzennamen" veröffentlicht
(Anhang der Sitzungsberichte der K. Akademie
der Wissenschaften zu Berlin. XXXIII, 1893.
S. 1 — 84), der 1912 ein 232 Seiten starkes Buch über
„Arabische Pflanzennamen aus Ägypten"
folgte. Hinzuweisen ist schließlich auch noch
auf die zahlreichen Notizen über koloniale
Fragen und weiter auf die seit 1896 in der
Vossischen Zeitung erschienenen zahlreichen Auf-
sätze populären Inhalts; unser ihnen befindet
sich so manch köstlicher kleiner Aufsatz, der
eigentlich nicht dazu bestimmt ist, der ewigen
Vergessenheit anheimzufallen. Die Titel der
wichtigsten dieser Aufsätze und Mitteilungen
finden sich jetzt in dem eingangs erwähnten
Schriftenverzeichnis zusammengestellt; viel-
N. F. XVI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6l
leicht kommt einmal ein unternehmungslustiger
Verleger auf den guten Gedanken, die wichtigsten
von diesen kleinen Aufsätzen und Abhandlungen
in einigen Sammelbändchen zusammenzustellen.
Gerade auf dem Gebiet des literarischen Essays
hat Schweinfurth von jeher ein großes Talent
entfaltet; noch vor kurzem erschien in den süd-
deutschen Monatsheften eine neue fesselnde
Plauderei über das Thema „Vom beliebten
Deutschen und unbeliebten" (191 5, S. 769 — 786J.
Wir haben bisher lediglich versucht, einen
Überblick über Schweinfurths Leben und die
wichtigsten Hauptmomente seiner Tätigkeit zu
gewinnen. Dieses Bild bedarf noch der Ergänzung
und Vervollständigung durch eine kurze Darstellung
seiner Persönlichkeit, seiner äußeren Erscheinung
wie seines Inneren Wesens.
Beginnen wir mit seiner äußeren Er-
scheinung. Eine sehnige, hagere Gestalt von
mittlerer Größe, ein mäßig großes Haupt, von
weißgrauen Haaren bedeckt, ein von mehrfachen
Falten gefurchtes Gesicht mit scharf geschnittenen
Zügen , klar blickende graue Augen , von rauh
entwickelten buschigen Brauen beschattet , eine
hochgewölbte und wenig querfaltige Stirn — so
sehen wir ihn immer vor uns. Die straffe, gerade
Haltung seines Körpers verbunden mit der ruhigen
Würde, die für gewöhnlich über der ganzen Er-
scheinung liegt, macht auf den Fremden unwill-
kürlich einen imponierenden Eindruck.
Dieser imponierenden äußeren Erscheinung
entspricht auch das Innere Wesen. Mit reichen
Gaben des Geistes und des Gemütes ausgestattet
sehen wir Ihn von energischer Willenskraft be-
seelt, die ihn ein einmal ins Auge gefaßtes Ziel
unweigerlich erreichen läßt, unermüdlich im Ar-
beiten, knapp im Bemessen der Ruhe, leidenschaft-
lich ausdauernd bei körperlichen Anstrengungen,
ein Urbild von Kraft und Lebensenergie. Mit
dem Enthusiasmus eines Jünglings kann er sich
noch heute der großen wissenschaftlichen Er-
rungenschaften freuen : er gehört eben einer aus-
sterbenden Generation an, die vielseitiger und
universeller in Ihren Zielen war als die jetzige.
Wir finden hier einen Charakter vor uns, an dem
jede Linie scharf und klar gekennzeichnet ist.
Ehren und Auszeichnungen hat er in seinem Leben
nie erstrebt, aber es konnte nicht fehlen, daß sie
ihm in reichem Maße zuteil wurden. Wenn er
auch die ihm Fremden stets höflich, ja sogar mit
großer Liebenswürdigkeit behandelt, wenn er sich
den Wünschen derselben stets zuvorkommend und
gefällig zeigt — zunächst bleibt er ihnen gegen-
über doch kühl und von einer gemessenen Zurück-
haltung. Sich schnell an Fremde anzuschließen
liegt ihm durchaus fern ; erst wenn er jemanden
längere Zeit und genauer kennen gelernt hat, erst
wenn derselbe Ihm persönlich näher getreten
Ist, erst dann gestattet er ihm einen tieferen
Einblick in sein Inneres Fühlen; dann aber kann
er von einer hinreißenden Liebenswürdigkeit, von
einer herzgewinnenden Güte sein. Wenn diese
Charakterzüge Schweinfurths naturgemäß nur
einem beschränkten Kreise kenntlich werden, so
können dagegen auch ihm weniger Nahestehende
einen anderen hervorstechenden Zug seines Wesens
erkennen: die ehrliche Offenheit seines Urteils.
Es ist nicht Schweinfurths Art, ein abweisendes
Urteil in verbindliche oder vermittelnde F"orm zu
kleiden noch dort, wo ihm etwas mißfällt, an
Stelle des Tadels ein zurückhaltendes und ab-
gemildertes L^rtell abzugeben. Er pflegt im Gegen-
teil seine Ansicht über alle Dinge frei und offen,
oft mit geradezu verblüffender Ehrlichkeit auszu-
sprechen. So können wir als die hervor-
stechendsten Züge seines Charakters
Offenheit und Herzensgüte bezeichnen,
neben denen andere, wie höfliches Entgegen-
kommen, Freundlichkeit, eine seltene Fähigkeit
zu angenehmen, geselligen Verkehr, ein köstlicher,
nie versagender Humor und ein zuweilen sehr
scharfer VVitz mehr zurücktreten.
In den langen Jahren seines Lebens hat sich
Schweinfurth zu einer festgeschlossenen
Weltanschauung emporgearbeitet, die Ihm
auch geistig jene Ruhe und Beständigkeit dauernd
sichert, die als eine wesentliche Grundlage wahren
Glückes anzusehen ist. Ihm ist vor allen Dingen
jene Lebensanschauung zu eigen, ohne welche ein
wahres, dauerndes Glück überhaupt nicht möglich
ist, und welche nicht in der Anerkennung anderer,
nicht in den äußeren Lebensverhältnissen Befrie-
digung und Glück sucht, sondern dieselben ganz
und gar in sich allein und im Verkehr mit der
Wissenschaft zu finden weiß.
Was Schweinfurth geschaffen hat, wird im
Reiche der Wissenschaft fortleben und segensvoll
wirksam bleiben, so lange das Menschengeschlecht
überhaupt die Wissenschaft zu ergründen bestrebt
ist. Seine Persönlichkeit hat ihm in seinen Freun-
den und Verehrern ein Denkmal, dauernder als
Erz, gesichert. So wünschen wir ihm denn
zu seinem Festtage, daß er im Voll-
besitz seiner geistigen Kraft, frei von
Altersschwäche, Hinfälligkeit und
langem Siechtum uns noch recht lange
erhalten bleiben möge.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5
Einzelberichte.
Zoologie. Gegenwärtiger Stand der Meta-
merentheorie des Wirheltierkopfes. Der Gedanke,
dlelnrVVirbertierkörper' deuthche Segmentierung
oder Metamerie müsse auch am Kopfe erkennbar
sein, erzeugte bekanntlich bei Oken und Goethe
die 'Wirbehheorie des Schädels, die man gänzlich
verlassen hat, seitdem man den knöchernen
Schädel auf der Grundlage eines ungegliederten
Knorpelschädels entstehen sah. Den Abschnitten
des Gehirns und verlängerten Rückenmarkes,
meint Ziegler, i) komme gleichfalls keine Be-
deutung für die Frage der Kopfsegmentierung zu,
sondern die in der Ontogenie erscheinenden Ouer-
falten der Medullarplalte seien embryologische
Gebilde ohne vergleichend anatomische Bedeutung.
Vielmehr lehren' Amphioxus und die Tunikaten,
Tiere mit deutlicher Segmentierung der Muskulatur
und der Rückenmarksnerven, doch mit unge-
gliedertem Medullarrohr, daß zuerst die Muskulatur
segmentiert war, oder daß als erste segmental
angeordnete Gebilde die paarigen Aussackungen
der Leibeshöhle entstanden, die sogenannten Ur-
segmente, die embryologisch die Muskelsegmente
liefern. Die Kiemenspalten liegen jede zwischen
zwei Ursegmenten, so daß die Branchiomerie, wo
ursprüngliche Verhältnisse herrschen, der Meta-
merie des Kopfes entspricht. Ziegl er verteidigt
diese seine Ansicht namentlich gegen die von
Anton Dohrn, die, neuerdings durch Gast
hochgehalten, vor dem vordersten Kiemenbogen,
dem "kieferbogen, noch eine Mehrzahl von Seg-
menten sucht, und stellt etwa folgende hier ge-
kürzt wiedergegebene Grundgedanken auf, die in
den wesentlichsten Punkten den Beifall der Mehrzahl
finden dürften.
Von vorn nach hinten das erste Segment ist
das Prämandibularsegment, das bei Selachier-
embryonen die Prämandibularhöhle, ein von der
Leibeshöhle völlig abgeschnürtes Ursegment, um-
schließt und den ganzen vorderen Kopf bis aus-
schließlich Mund und Kiefersegment umfaßt. Das
Auge, eine spätere Bildung, liegt größtenteils auf
diesem Segment; daher bilden sich die meisten
Augenmuskeln, die vom Oculomotorius inner-
vierten, aus ihm.
Das zweite Segment ist das Kiefersegment.
Es liefert dem Augapfel zwei von seinen sechs
Muskeln, den Oblic^uus superior und den Rectus
externus. Es umschließt die mit der Leibeshöhle
kommunizierende erste oder, mh Einrechnung der
abgeschnürten Prämandibularhöhle, zweite Aus-
sackung der Leibeshöhle, die Mandibularhöhle.
Das Spritzloch der Haie, die ursprünglich erste
Kiemenspalte, trennt dieses Segment vom dritten,
dem Hyoidsegment. Auf diesem liegt das Ohr-
bläschen. Wiederum eine Kiemenspalte trennt
das Hyoidsegment vom vierten, dem Glosso-
') H.E. Ziegler, Das Kopfproblem.
i. 48, 1916, S. 449—465-
pharyngeussegment, und in gleicher Weise folgen
als 5.-7. Segment drei Vagussegmente. Dem
letzten von ihnen folgt die letzte Kiemenspahe
der pentanchen Haie, d. h. derjenigen mit fünf
Kiemenspalten, und das Auftreten einer sechsten
und siebenten Kiemenspalte bei manchen Haien
erachtet Ziegler für eine sekundäre Vermehrung
gleichartiger Organe, vergleichbar entsprechenden
Entwicklungen bei den Zähnen der Wale, Rippen
der Schlangen, Segmenten der Myriapoden und
schließlich der Vermehrung der Kiemenspalten
bei dem Myxinoiden Bdellostoma und bei Am-
phioxus.
Wie schon teilweise die Namen der Segmente
andeuten, gehören zu jedem bestimmte Gehirn-
nerven mit ihren Ganglien, und zwar sind ur-
sprünglich für jedes Segment ein sensibler Nerv
mit Ganglion und ein motorischer Nerv an-
zunehmen, wie sie bei jedem Körpersegment vor-
handen sind ; man findet ; für das erste Kopfsegment,
etwas modifiziert, den Ramus ophthalmicus pro-
fundus des Nervus trigeminus mit dem Ciliar-
ganglion und den Nervus oculomotorius, fürs
zweite den Trigeminus mit Trigeminusganglion
und den Trochlearis, für das dritte den Facialis-
Acusticus mit seinen Ganglien, im vierten den
Glossopharyngeus mit Ganglion und im 5.-7. je
einen Vagusast mit Ganglion.
Alle erwähnten Bestandteile sind bekanntlich
bei ausgebildeten und ganz besonders bei warm-
blütigen Wirbehieren hochgradig durcheinander-
geschoben, während man sie bei Selachierembryonen
noch in segmentaler Anordnung finden konnte.
Der Kampf eines Staates gegen die Moskitos.
Vor^^ei Jahren" ist im amerikanischen Staate
New Jersey ein Gesetz in Kraft getreten, das
ausschließlich zur Ausrottung der Moskitos er-
lassen worden ist, und damit hat eine Bekämpfung
der stechenden Insekten begonnen, wie sie in
diesem Maße wohl noch nicht dagewesen ^ ist.
Trotz der Nähe von Riesenstädten wie New York
und Philadelphia blieben die Sommerbesucher
den Küstenplätzen fern, weil die stechenden In-
sekten den Aufenthalt dort unerträglich machten,
und aus dem gleichen Grunde lagen weite Land-
striche brach oder waren unbewohnt. Nach der
amerikanischen Statistik sind rund 5 '% des Staats-
gebietes von New Jersey mit Sümpfen bedeckt,
die, wie sich von selbst versteht, für Moskitos —
darunter begreift der Amerikaner alle fliegenden
und stechenden Insekten — ideale Brutstatten
bilden. Das neue Gesetz gab dem Staatsentomo-
logen von New Jersey, Dr. Thomas J. Headley,
Vollmacht, die Insektenbrutstätten mit allen er-
denklichen Mitteln zu beseitigen, und mittlerweile
hat diese Arbeit erhebliche Fortschritte gemacht,
wie die Kärtchen zeigen. Von vornherein gab
N. F. XVI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
63
es zwei Wege, die Insektenbrutstätten unwirksam
zu machen: man konnte die Sümpfe trocken-
legen oder durch Bedecken des Wassers mit luft-
undurchlässigen Stoßen für die Larven unbewohnbar
machen. Bei großen Sumpfflächen hat man den
ersten, bei den nach tausenden zählenden kleineren
Flächen stehenden Wassers den zweiten gewählt.
Der nordwestliche Teil von New Jersey, der ge-
birgig ist , weist fast gar keine Sümpfe auf; die
&---3 Gebiete mit Sümpfen.
i^H Gebiete mit Salzsümpfen.
Abb. I. New Jersey vor dem Mückenkriege.
Abb. 2. New Jersey nach 3jäl]r. Mückenkriege.
nördlichen Küstengebiete — von Norden nach
Süden die Bezirke (Counties) Bergen, Essex, Union
und Middlesex — haben große Salz- und Süß-
wassersümpfe, dann folgt in der Mitte des Staats-
gebietes ein waldreiches, fast sumpffreies Gebiet,
und die Bezirke Ocean, Atlantic, Cumberland und
Cape May, die der atlantischen Küstenebene an-
gehören, sind überreich mit Sümpfen beider Art
gesegnet. Es sind nun gewaltige Systeme von
Entwässerungsgräben durch besondere Maschinen
gezogen worden. Sie sind durchschnittlich 25 cm
breit, manche auch 75 cm, und haben eine Tiefe
von 75 cm. In Atlantic allein sind rund lOOO km
solcher Gräben gezogen worden, und im ganzen
Staate bisher mehr als doppelt soviel; die Arbeit
ist aber noch lange niciit beendet. \'iele der
Sumpfgebiete lagen unterhalb des Meeresspiegels,
und in diesem Falle war die Eindeichung nötig.
Gleichzeitig mit den Gräben entstanden große
Pumpwerke, die das Wasser in Bewegung setzten
und fortschafften. Besonders schwierig war die
Unwirksammachung der kleinen stehenden Ge-
wässer, deren Lage zunächst gesucht werden
mußte, wenn man sie aus dem Auftreten der
Moskitoplage erschlossen hatte. Zu diesem Zwecke
verfügt jeder Bezirk über Fachleute, die zur Nacht-
zeit in den moskitoreichen Gegenden die Moskitos
fangen, mit Blausäuredämpfen töten, dann die
Beute nach Arten einteilen und schließlich nach
dem Befunde entscheiden, ob ein Salzsumpf oder
ein Süßwassersumpf in der Nähe sein muß.
Überwiegt in dem Fange beispielsweise Culex
pipiens, die gemeine Stechmücke, so ist das Brut-
gebiet ein gewöhnlicher Sumpf überwiegt dagegen
Aedes solicitans, deren Larven im Salzsumpf leben,
so ist ein solcher aufzusuchen. Es sollen auf
diese Weise hunderttausende von Moskitobrut-
stätten, von größeren Sümpfen bis zur Regen-
tonne, ermittelt und unschädlich gemacht worden
sein. Die Anwendung von Petroleum zur Be-
deckung stehender Gewässer haben die einzelnen
Arbeitsausschüsse aufgegeben, weil dessen Wirkung
nur etwa 2 Wochen anhält. Statt dessen wird
eine nicht näher bezeichnete Lösung verwandt,
die etwa 6 Wochen lang wirksam sein soll.
Bisher ist für den Moskitokrieg ein Betrag von
mehreren Millionen Dollars aufgewandt worden.
Dafür soll freilich nach den Angaben von Sach-
verständigen der Wert des Grund und Bodens
um mehr als eine Milliarde Dollars gestiegen sein.
H. P.
Paläontologie. „Über Gastropoden" handelt
W. Deecke's IX und letzter Aufsatz seiner über-
aus anregenden paläontologischen Betrachtungen
(Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und
Paläontologie, Beil.-Bd. 40, 1916).
Die Schneckenschale gewährt Schutz gegen
Feinde oder Verletzungen des Weichkörpers.
Wegen der freien Ortsbewegung muß die Schale
so gebaut sein, daß sie dem Tiere nicht zum
Hindernis wird. Abgesehen von dem alten
Stamme der Chitoniden hat Patella das einfachste
Gehäuse — ein symmetrischer Napf, der mit dem
Wachsen des Tieres größer wird unter schwacher
Krümmung der Wirbelpartie. Die seil dem Silur
bekannten Patellen sitzen zumeist fest und leben
von Algen auf Steinen oder ihnen zugetriebener
Nahrung, weshalb sie an bewegtes Wasser gebunden
sind. Chitoniden und Patellen sind bilateral
symmetrisch; dasselbe gilt auch von den Bellero-
phonten die zu den Pleurotomarien gestellt werden.
Die Bellerophonten lebten zumeist auf paläozoischen
Riffen oder in Crinoidenrasen oder auf mergeligem
Grunde zusammen mit einer reichen Lebewelt.
Aus den Verbreiterungen an der Mündung .schließt
Deecke, daß sie gekrochen sind. Auffallend ist
die morphologische Ähnlichkeit von Bellerophonten
und den zu den Cephalopoden gehörenden
Goniatiten, welche beide dieselbe starke Aufrollung
und die gleich gering entwickelte Skulptur auf-
weisen. Ebenso gleichen die Porcellien des
Unterkarbons rein äußerlich manchen ober-
devonischen Clymenien. Es scheint, als ob die
paläozoischen Ammoniten und die Bellerophonten
64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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kräftige Konkurrenten waren. In der Trias
starben die Bellerophonten aus und es entfalteten
sich dafür die Ammoniten mit ihrer durch die
Luftkammern beweglicheren Schale immer mehr.
Warum die Schneckenschale die Gestalt einer
unsymmetrischen Spirale annimmt, ist sehr schwer
zu sagen; jedenfalls ist sie uralt, denn sie begegnet
uns bereits im Cambrium. Sie muß mit dem
Wachsen genetisch eng verbunden sein, denn wir
treffen sie ebenso bei den Serpuliden (Würmer)
und den Muscheln (Requienia, Exogyra), anderer-
seits muß sie mit der kriechenden Bewegung in
Beziehung stehen, da wahrscheinlich die Bewegung
die Verlagerung auf eine Seite hervorrief und
damit den Gesamtbau des Tieres veranlaßte.
Die Schale gewährt dem Tiere Schulz vor
Zerstörung, deshalb muß sie dick und fest sein.
Massige Schalen zeigen die in der Wellenregion
lebenden beweglichen Formen; in der Jetztzeit
die Strombus-, Cassis-, Terebra-, Mitra-, Conus-
Cypraea-Arten, früher ähnliche Formen in der
Kressenberg-Fauna, die Actaeonellen und Nerineen
in den Hippuritenriffen. Frei bewegliche Schnecken
resorbieren vielfach die inneren Windungen, damit
die Schale nicht zu schwer wird. (Conus,
Cypraea). Schnecken, die auf weichem Boden
oder in größerer Tiefe leben, haben ein mäßig
starkes Gehäuse. In Tonen kommen kleine und
leichte Gehäuse vor.
Das Gehäuse bietet auch Zuflucht vor Feinden,
vor allem vor Seesternen, Fischen, Krebsen und
vielleicht auf dem Boden kriechenden Cephalopoden.
Die erst in jüngeren Formationen auftretenden
Krebse sind gefährliche Räuber und wohl schuld
daran, daß die Schneckenschalen gegenüber dem
Paläozoikum dickschaliger sind. Auffallend ist
die schwache Skulptur der meisten paläozoischen
Schnecken. Dornen und Stacheln, wie sie Murex
zeigt, fehlen ganz. Mit dem Aufblühen der Krebse
mußte die Schneckenschale durch starke Rippen,
Knoten und Dornen geschützt werden. Da die
Schale in der Nähe der Mundränder zart und
zerbrechlich, sowie leicht angreifbar ist, ist sie
von da ab verdickt und versteift.
Gegen ein Eindringen zum Weichkörper
schützt oft ein flach kegelförmiger oder ebener
Deckel, welcher der Mündung angepaßt ist und
mit ihr Spiral wächst. Turmförmige, Spiral ge-
drehte Deckel kommen bei Euomphalus aus dem
Obersilur vor, heute noch bei Solarium und
Torinia.
Die Schale wird vom Mantel erzeugt und ge-
tragen. Auffallend ist es, wie im Laufe der Erd-
geschichte bei den verschiedensten Gruppen immer
wieder dieselben Formen entstehen. Sieht man
von der Skulptur ab, so ist die Mannigfaltigkeit
gar nicht so groß. Trochus und Turbo sind
kreiseiförmig, uralt und weitverbreitet. Das ab-
geplattete Natica- bis SigaretusGehäuse tritt in
allen Formationen auf Planorbis, Euomphalus,
Solarium sind flach mit weitem Nabel, Actaeonella
und Conus kurz kegelförmig, Murchisonia, Nerinea,
Loxonema, Chemnitzia, Cerithium und Turritella
lang turmförmig. Es ist sehr wahrscheinlich, daß
diese Formen mit der Lebensweise und dem
Kriechen in Beziehung stehen.
Murchisonia, Nerinea, Chemnitzia, Pseudo-
melania, Phasianella, Terebra und Mitra sind in
Riffen, oolithischen Bildungen oder in der zer-
klüfteten Strandzone am mannigfaltigsten und
zahlreichsten. Cerithium fehlt keinem tertiären
Strandgrus. In Crinoidenkalken des Silur, Devon
und Carbon kommen meist kleine kugelige
Gehäuse und der Natica-Typus, sowie abgeplattete
Euomphakisformen vor. Eine 3. nur im Tertiär
vorkommende Lebensgesellschaft stellen Strombus,
Oliva, Conus, Cypraea, Bulla, in der Kreide Actae-
onella dar; bei diesen reicht der Offnungsschlitz
weit gegen das Gewinde hinauf, wodurch eine
Konzentrierung der Gehäuselast beim Kriechen
ermöglicht wird. Vermetus und Magilus gehören
zur 4. Gruppe mit sitzender Lebensweise. Dadurch
entsteht ein ganz abweichender Habitus, indem
die Spirale sich auflöst oder klein bleibt und eine
röhrenartige Schale mit gedrehter Rippenskulptur
und unregelmäßigen Anwachsstreifen entsteht. Im
großen und ganzen ist eine bestimmte P'ormen-
gesellschaft immer vorhanden, wobei die einzelnen
Familien sich ablösen; dies ist für Deecke ein
Hauptgrund, eine gewisse Funktion des Gehäuses
anzunehmen. Es handelt sich um Konvergenzen,
was wiederum für die Beurteilung der den
Schnecken nah verwandten Cephalopoden wichtig
ist. Es spricht dies direkt gegen die Rassen-
persistenz, da selten die Formen bleiben, sondern
aussterben und wieder von andern Familien ersetzt
werden. Dauertypen ohne größere Variabilität
mit erheblicher Anpassungsfähigkeit und einfacher
Lebensform sind die durch alle Formationen durch-
gehenden Naticiden, Trochiden und Neritinen;
sie sind dadurch ausgezeichnet, daß sie klein sind
und in jeder Facies auftreten können. Eine
Konvergenzerscheinung ist das Helicidengehäuse
unter den Landschnecken, da die Tiere oft sehr
voneinander abweichen. Manche Formen sind
stark umbildungsfähig, wie das Valvata multiformis
aus Steinheim und die obermiocänen und pliocänen
osteuropäischen Melanopsis- und Paludina- Arten
zeigen. Dasselbe zeigen die Nerineen im oberen
Jura, Cerithium im Alttertiär, Pleurotoma im
Oligocän, Melania im Brackwasser an der Grenze
von Jura und Kreide.
Ein wichtiges biologisches Moment stellt der
rhombische Längsschnitt vieler Schneckenschalen
dar, da beiderseits der Diagonale nach Art eines
Wagebalkens gleiches Gewicht hängt. In andeier
Hinsicht ist die Mütidung von Interesse. Vielfach
ist eine Lippe mit Umschlag oder Verbreiterung
vorhanden, welche beim Wachsen nach Art von
Reservematerial resorbiert wird. Die meist glatte
Beschaffenheit der Schale an der Spindelseite
neben der Mündung, sowie die Schwielen- und
Nabelbildung hängen wohl mit dem Tragen des
Gehäuses zusammen. Im Gegensatz zur Skulptur
N. F. XVI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6S
sieht De ecke in der Ausbildung der Innenlippe
und des inneren Umschlages ein sehr wichtiges
systematisches Merkmal, weil diese Eigenschaften
eng mit der Bewegung und Lebensweise des
Tieres zusammenhängen. Sehr verschieden ist
auch die Nabelöffnung; bei lang turmförmigen
Schnecken wie Murchisonia und Nerinea ist sie
klein und röhrenartig, bei kegelförmigen verbreitert
und trichterartig, bei Planorbis und Euomphalus
ist sie weit. Hauptzweck ist wohl die Erleichterung
des Gehäuses. Applattung der Basis zeigt sich
bei kurz kegeligen regelmäßigen Gehäusen
(Trochus, Xenophora, Pleurotomaria). Die Skulptur
zerfällt in Radial- und Läng-falten. Bald treten
die Anwachsstreifen mehr hervor, bald die auf
eine Querfaltung der Mündung zurückgehende
Spiralstreifung. Vereinigen sich beide Systeme,
so entsteht Knotung.
Das Auftreten der Schnecken ist oft massen-
haft, so in alluvialer Seekreide, im Süßwasserkalk
von Steinheim, in den Litorinellenkalken und den
Cerithiensanden und -Kalken des Mainzer Beckens,
in den Mclania strombiformis-Piatten des nord-
deutschen Wealden, in den Turritellengesteinen
der schwäbischen und schweizerischen Molasse,
den Nerineenkalken des Maims sowie in der
Schneckenfauna der mittleren Trias von Esino.
Gegenüber diesen an Schnecken wimmelnden
Lagen können oft plötzlich benachbarte Lagen
spärlich, selten oder gar keine Schnecken führen.
Der Hettinger Sandstein des lothringischen Unter-
lias enthält eine prächtige Schneckenfauna, im
tonigen Hangenden dagegen nichts. Die Nerineen,
Pterocera, Natica des mittleren Kimmeridge sind
in den Virgula-Mergeln fast alle verschwunden.
Die feinen Ton- und Mergelschichten bergen
wiederum eine andersartige Fauna mit kleinen
Schnecken; hierher gehören die Liastone und
Mergel Nord- und Süddeulschlands, die Rcngeri-
und Ornatentone im Oberrheingebiet, dieSeptarien-
tone Norddeutschlands und die westfälischen
Miocäntone. Eigenartig ist die Zwergfauna der
alpinen Triasriffe wie auch die Gesellschaft von
Natica, Omphaloptycha, Loxonema im Schaumkalk
Norddeutschlands und in manchen Muschelkalk-
oolithen. Ausgesprochene P'oraminiferengesteine
(Schreibkreide, Globigerinenkalk) sind arm an
Schnecken. Eine wohlcharakterisierte Lebens-
gesellschaft (Trochus, Turbo, Cerithium, Rostellaria)
lebte auf den Spongienrasen des oberen Jura und
der oberen Kreide (Pläner). Es zeigen also auch
die Gastropoden eine starke Abhängigkeit von
der Facies. Wichtig ist weiterhin auch die Ver-
schleppung von Schneckenschalen, da in vielen
Schalen sich nach dem Tode Verwesungsgase
bilden, wodurch die Schalen aufsteigen und an
.den Strand oder in die Litoralzone sich ver-
schleppen. Dies gilt vor allem für gedeckelte
Schnecken, sowie für Natica, Murex, Buccinium,
Turbo.
Hinsichtlich der Erhaltungsart der Schneckea-
schale ist es bemerkenswert, daß gegenüber
Korallen, Seeigeln und Zweischalern relativ selten
Schneckenschalen in verkieseltem Zustande vor-
kommen. Häufig ist die Ausfüllung mit Pyrit
und damit die Bildung von Pyritsteinkernen in
tonigen bituminösen Schichten, so im pommerschen
Septarienton, in vielen Juratonen Süddeutschlands.
Bei größeren als kalkige Steinkerne erhaltenen
Schnecken ist das P'ehlen des ältesten Gewinde-
abschnittes ganz gewöhnlich, z. B. in der Kressen-
bergfauna, in den Pterocera- und Naticamergeln
des Malms, Muschelkalk- und Wellenkalkschichten.
Nicht immer ist dies auf Verwitterung zurück-
zuführen , sondern die prachtvollen Steinkerne
enden plötzlich mit Hohlraum und Abdruck des
ganzen Exemplars. Sehr häufig ist die Kalzinierung
in bituminösen Süßwasser- und Brackwasser-
sedimenten, in Lithothamiiien- und triadischen
Alpenkalken. Glaukonitreiche Mergel enthalten
meist Sleinkerne (Molasse am Bodensee, Kressen-
berg), während die nah verwandten Eisenoolithe
und auch typische Oolithe oft treffliche Schalen
einschließen (Mumienhorizonte in Oberbaden,
Nerineenoolithe des Malm). In gleichmäßigen
Tonen wie den Septarien- und Torulosustonen
kommen oft prächtige Schalen vor, in kalkreichen
Mergeln meist sehr schlecht erhaltene Reste.
V. Hohenstein.
Astronomie. Über Aufnahmen mit mono-
chromatischem Licht an Himmelskörpern berichtete
Wood im Astroph. Journal 43, 185. Nachdem er
schon 1912 am iVIond mit Hilfe von Strahlenfiltern
auffallende Ergebnisse erzielt hatte, ist das Verfahren
weiter ausgebildet worden. Es hatte sich damals
gezeigt, daß die Verteilung der hellen und dunklen
Stellen auf dem Monde bei Anwendung von
Strahlenfiltern ganz anders ausfällt, wie bei der
Fernrohrbeobachtung. Besonders war um Aristarch
herum ein großer dunkler Fleck iin ultravioletten
Licht erschienen, der sonst absolut unsichtbar ist.
Kontrollversuche haben dann wahrscheinlich ge-
macht, daß es sich hier um eine Ablagerung von
Schwefel oder stark schwefelhaltigem Gestein
handeln muß, das im ultravioletten Licht so wirkt.
Für die Aufnahmen an Jupiter und Saturn
wurden vier Strahlenfilter hergestellt, für infrarot,
gelb, violett und ultraviolett. Als Instrument
diente der Spiegel des 150 cm Teleskopes. Der
Saturn zeigte die merkwürdigsten Bilder. Im
infraroten Licht erschien nicht die geringste
Zeichnung auf dem Planeten, während im gelben
Licht das Bild fast ebenso aussah, wie dem Auge
im Fernrohr. Im violett aber traten breite dunkle
Streifen um den Äquator auf und eine dunkle
Zone an den Polen, beides Erscheinungen, die
noch nie gesehen worden sind. Im ultraviolett
traten diese beiden dunklen Stellen wieder etwas
zurück, aber sind doch so auffallend, daß man
beim Vergleich des gelben mit dem violetten
oder ultravioletten Bilde nicht glauben sollte,
denselben Gegenstand auf der Platte zu haben,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5
Wood denkt zur Erklärung dieser eigentümlichen
Erscheinung an einen Dunstring um den Planeten
innerhalb des Ringes, der ja schon durch den
bekannten Crappring in Dunst übergeht. Hierfür
spricht der Umstand, daß auf den Aufnahmen der
Himmel zwischen Planet und Ring dunkler aussieht
als außerhalb. Es muß also der Raum innerhalb
des Ringes mit einer Materie ausgefüllt sein, die
in geringem Maße das kurzwellige Licht reflektiert.
Eine andere Annahme ist die des Vorhandenseins
von Gasen in der Saturnatmosphäre, die die kurz-
welligen Strahlen absorbieren. Beim Jupiter zeigte
sich ein ähnliches Verhalten in den Unterschieden
der vier Aufnahmen. Riem.
Physiologie. Eine interessante Parallele
zwischen der künstlichen Parthenngenese und der
Anregung zur Wundheilung durch die gleichen
Agentien entwickelt Methodi Popoff (Biolo-
gisches Centralblatt, XXXVI. Bd., 1916, Nr. 4).
Von den einzelligen Tieren, Protozoen, wissen
wir aus den Untersuchungen von Calkins,
Maupas, R. Hertwig, Popoff u. a., daß sie
gewisse Perioden durchlaufen, Depressionszustände
(„degenerescence senile"), in denen ihnen die
weitere Existenz unmöglich ist, daß aber durch
Verschmelzung zweier Individuen bei der Fort-
pflanzung oder durch andere Umregulierungs-
prozesse die depressionierten Zellen wieder auf-
gefrischt und lebensfähig gemacht werden. Aber
nicht nur die freilebenden Zellen, sondern auch
die Geschlechtszellen der Vielzelligen sind einer
derartigen physiologischen Depression unterworfen,
an der sie schließlich selbst unter den günstigsten
Verhältnissen zugrunde gehen.
Eine scheinbare Ausnahme machen die normal-
parthenogenetischen Eier, aber auch sie gehen
nach einer Reihe von Generationen an einer
physiologischen Depression zugrunde.
Der normale Ümregulierungsprozeß für die
Eizelle ist die Befruchtung. Zahlreiche Beob-
achtungen und Versuche haben nun gezeigt, daß
die in tiefer Depression sich befindenden Eizellen
durch die verschiedensten Agentien wieder ent-
wicklungsfähig gemacht werden können , künst-
liche Parthenogenese. Tichomiroff (1886) fand
zuerst, daß die unbefruchteten Eier des Seiden-
spinners durch kurzes Eintauchen (2 Minuten) in
Salzsäure, Schwefelsäure oder rein mechanisch
(durch Bürsten, Schütteln usw.) dazu gebracht
werden können, sich zu teilen und kleinen Em-
bryonen Ursprung zu geben. O. und R. Hertwig
fanden ein Jahr später, daß auch die unbefruchteten
Eier des Seeigels Strongylocentrotus durch die
Einwirkung von Chemikalien zur künstlichen
Parthenogenese veranlaßt werden können. Von
anderen Agentien, welche dieselbe Wirksamkeit
hatten, wurden weiter ermittelt NaCl, KCl, MgCl.,,
MnCI.^, COo, NH.j, ferner Tanin, verschiedene Fett-
säuren, Spermaextrakte, Serumeinwirkungen und
die Behandlung^ mit Xylol, Toluol, Äther usw.
Als sehr wirksame künstlich parthenogenetische
Agentien haben sich außerdem die Änderung des
osmotischen Druckes des umgebenden Mediums,
die Wasserentziehung und die verschiedensten
mechanischen Einwirkungen erwiesen. Für einige
dieser Agentien, z. B. die hypertonischen Lösungen
der Salze, ergab sich, daß die günstige Wirkung
auf das Ei auf ihrer Wasserentziehung beruht.
Dasselbe konnte seine Entwicklung bis weit über
das Larvenstadium hinaus fortsetzen und Yves
Delage vermochte sogar junge Seeigel auf künst-
lichem parthenogenetischem Wege zu züchten.
Die Wasserentziehung wurde von Bataillon,
Loeb, Delage u. a. mit bestem Erfolg zur
Hervorrufung künstlicher Parthenogenese bei den
verschiedensten Tierarten benützt. Normalerweise
geschieht dieselbe dadurch , daß bei der Bildung
des männlichen und des weiblichen Vorkerns
nach dem Eindringen des Samenkerns dem Proto-
plasma der Eizelle Wasser entzogen wird. Beide
Geschlechtskerne vergrößern sich durch Aufnahme
von Flüssigkeit aus dem umgebenden Protoplasma.
Bei den angewandten Reagentien soll die lonen-
wirkung die Einwirkung der Alkalität die Ände-
rungen der peripheren Eischicht durch lipoid-
lösende alkalische Reagentien usw. für die künst-
liche Parthenogenese als Erklärungsursachen in
Betracht kommen. Alle diese Erklärungsversuche
gruppieren sich um zwei Theorien, die von Loeb
und die von Delage. Loeb geht davon aus, daß
hypertonische Lösungen eine stark stimulierende
Wirkung auf die Lebensprozesse der Zellen ausüben,
die bei der Eizelle in der Segmentierung bestehen ;
daher müssen sie bei dieser künstliche Partheno-
genese hervorrufen. In der Tat gelangen Loeb
bei der Behandlung von Eiern mit Fettsäure und
hypertonischen Lösungen (MgCL) fast loo"/,, seiner
Versuche. Aber auch Delage erreichte dasselbe
günstige Resultat mit einer ganz anderen Methode;
er geht dabei von folgender Ansicht aus. Die
Lebenssubstanz ist ein Komplex von Albumin-
stoffen, die sich in kolloidaler Lösung in einem
elektrolytischen flüssigen Medium befinden, dessen
Zustand instabil ist, so daß die Sol- und Gelphasen
nahe ihrem kritischen Punkt sind. Die Zellteilung
nun wird charakterisiert durch Koagulierung und
Auflösung. Erstere liegt der Bildung der Chromo-
somen der mithotischen Figur zugrunde, letztere
der Auflösung der Kernmembran. Als Koagu-
lierungsagens gebraucht Delage das Tannin, als
Lösungsagens das Ammoniak. Beide Autoren
gehen von der Ansicht aus, daß die Einwirkungen
beider Agentien die Eizelle in jenen Zustand ver-
setzen , welcher normalerweise durch die einge-
drungene Samenzelle herbeigeführt wird. Es
würde so durch den Ümregulierungsprozeß der
Depressionszustand aufgehoben , in welchen die.
Eizelle geraten ist, und diese reagierte darauf
durch den in der Teilung liegenden Beginn der
Entwicklung.
Die künstliche Parthenogenese wäre also eine
Verjüngungserscheinung; die sie verursachenden
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Reagentien wirken aber nicht nur auf die Kizelle,
sondern allgemein auf die Zellen verjüngend.
Freilich ist ein Unterschied zwischen der Ei-
und der Somazelie insofern vorhanden , als die
letztere nur die Fähigkeit wieder erlangt, sich in
engen Grenzen morphologisch zu differenzieren.
Von dieser Überlegung ausgehend hat P. eine
Reihe von Versuchen unternommen, über die er
nun berichtet. Von den hypertonischen Lösungen
wirkte besonders günstig NaCl und MgCI.,. Ihre
zellstimulierende Wirkung beschränkt sich aber
nicht nur auf die Geschlechtszellen. P. benutzte
zunächst in Winterruhe befindliche Pflanzenknospen,
und zwar solche des Flieders (Syringa vulgaris).
Sollte es gelingen, dieselben durch hypertonische
Lösungen aus ihrer V\'int erstarre zu erwecken, so
würde dies deren stimulierende Wirkung beweisen.
Am i8. Januar 19 16 wurden von einem Ast eines
und desselben Strauches drei vorjährige Sprößlinge
genommen; zwei Endknospen wurden ' , ccm von
MgCI., (4o7no) und NaCl (20 "/„o) + MgCI., (20" „J
an derselben Stelle injiziert, während die dritte
Knospe zur Kontrolle unbehandelt blieb. Alle drei
Sprossen kamen in ein gemeinsames Glas mit
Brunnenwasser und blieben bei Zimmertemperatur
stehen; dieselbe schwankte zwischen 20" C bei
Tag und 10" C bei Nacht. Bereits nach 7 Tagen
war ein Unterschied deutlich bemerkbar und am
14. Tag waren die Blumenknospenanlagen schon
sehr weit entwickelt und in die Länge gewachsen
(Fig. a u. b), während an der Kontrolle noch
nichts derartiges zu bemerken war (c). Daraus
ergibt sich die stimulierende Wirkung der die
künstliche Parthenogenese hervorrufenden hyper-
tonischen Lösungen auch für die somatischen
Zellen.
Schon früher wurde durch Versuche Weber's,
Jesenko's u. a. gezeigt, daß ruhende Knospen
durch Injektion von schwachen Lösungen ver-
schiedener Salze (Na- und Mg-Salze) zum Aus-
treiben gebracht werden können.
Von dem Gedanken an die stimulierende
Wirkung der hypertonischen MgCl.^- und NaCl-
Lösungen ausgehend, versuchte P. mit bestem
Erfolg deren Verwendung für die Wundregeneration.
Mit hypertonischer NaCl (30 "/oo) Lösung behandelte
er 10 — 25 cm lange und 5 — 10 cm breite ober-
flächliche oder tiefe Muskelwunden. Dieselben
wurden mit Kochsalzlösung gut ausgewaschen,
eventuell in der hypertonischen Lösung gebadet
(20 Minuten bis ' ., Stunde). Während die Wunden
bisher in atonischem Zustand gewesen waren und
nicht granulieren wollten, regenerierte jetzt das
Grundgewebe sehr stark und die Wundheilung
wurde beschleunigt. Denselben günstigen Einfluß
bezüglich der Granulation und der Epithelisation
hatte die Behandlung von Wunden mit MgClj
und NaCI (ää 1 5 " „„). Dieselben günstigen Ergeb-
nisse hatte die Behandlung von Erfrierungen, bei
denen bekanntlich das torpide Verhalten der Ge-
webe die Heilung sehr erschwert und die von
Frakturen, bei denen es in erster Linie auf die
Regeneration des Knochengewebes ankommt.
Antiseptische, also gewebstötende Mittel wurden
dagegen bei aseptischen Wunden gar nicht ver-
wendet. Alle diese Versuche sprechen also zu-
gunsten der vertretenen Auffassung von der all-
gemeinen zellstimulierenden Wirkung der hyper-
tonischen, künstliche Parthenogenesis bedingenden
Agentien.
Seit Molisch, Johansen, Weber u. a. ist
es bekannt, daß die mit Äther behandelten Pflanzen
zu frühem Austreiben angeregt werden. In der
Gärtnerei wird diese Wirkung der Ätherdämpfe
zur Frühtreiberei benutzt (Flieder, Vogelkirschen-
zweige usw.). Der Äther ist aber auch ein Mittel,
welches künstliche Parthenogenese veranlaßt
(Matthews). Die in Anbetracht dessen vorge-
nommene Behandlung von schwerheilenden Wunden
mit Äther hatte gleichfalls den besten Erfolg.
Eine Mischung von 1 Teil Äther mit 3 Teilen
Olivenöl wurde direkt auf die Wunde gebracht
oder auf dieselbe mit dieser Mischung gut ge-
tränkte Mullgaze aufgelegt. Täglich oder einen
Tag über den anderen wurde der Verband ge-
wechselt. In kurzer Zeit, schon nach 2 — 3 Wochen,
schlössen sich große Wunden, die lange Zeit vor-
her Wochen-, ja monatelang keinen Fortschritt
gezeigt hatten. Besonders Erfrierungen, welche sonst
sehr schwer heilen, nahmen einen äußerst günstigen
Heilungsverlauf.
Alle Versuche zeigen, wie berechtigt die Auf-
fassung ist, nach welcher die Mittel, welche künst-
liche Parthenogenese hervorrufen, als allgemeine
Zellstimulantien zu betrachten sind.
Durch die Versuche von Tichomiroff mit
den Eiern des Seidenspinners haben wir auch die
mechanische Reizung als ein Mittel kennen gelernt,
welches künstliche Parthenogenese hervorrufen
kann. iVIatthews (1901) gelang es, die Eier
.des Seesterns durch Schütteln allein zur Ent-
wicklung zu bringen; also wäre eine stimulierende
Wirkung auch für die Körperzellen von mecha-
nischen Einwirkungen zu erwarten. Einer ent-
sprechenden Anwendung bei der Wundbehandlung
stehen praktische Schwierigkeiten entgegen. Nur
eine örtliche Massage in der Nähe des Wund-
68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5
randes war durchführbar; die damit gemachten
Erfahrungen waren sehr zufriedenstellend. Nach
P. beruhen die Heilerfolge bei der Massage auf
der zeilstimulierenden Wirkung des mechanischen
Reizes. Die Erfahrungen, daß völlig immobilisierte
Frakturen nur langsam heilen, spricht gleichfalls
für diese Auffassung. Andererseits findet dieselbe
eine Bestätigung durch die raschere Bildung von
Gewebe an Stellen eines mechanischen Reizes.
Beruht ja darauf auch die Entstehung der Hühner-
augen.
Als weiteres Mittel zur Hervorrufung künst-
licher Parthenogenese lernte man die Entwässerung
des Eiplasmas kennen. In den Jahren 1900—1910
brachte Bataillon die Eier des Seeigels zur
parthenogenetischen Entwicklung in hypertonischen
Lösungen von NaClTraubenzucker, Tierserum u. dgl.
1910 erzielte er sogar die Entwässerung durch
Anstechen der Eier von Rana mit sehr feinen
Nadeln. Auch für die Wundbehandlung zeigte
sich die Entwässerung des Zellprotoplasmas als
vorteilhaft. In einem Saal des Lazaretts kamen
die Wunden, welche mit Jodpinselungen. Lysoform-
waschungen behandelt wurden, viel langsamer zur
Heilung als in einer anderen Abteilung, wo die-
selben trocken und aseptisch verbunden wurden.
Wurden die Wunden bei Fernhaltung einer In-
fektionsmöglichkeit dem austrocknenden Einfluß
der Luft ausgesetzt oder mit trockenen aseptischen
Verbänden versehen, so zeigten sie eine viel
stärkere Heilungstendenz. Die raschere Bildung
des Regenerationsgewebes ist hier nach P. gleich-
falls der Zellplasmaentwässerung zu verdanken,
also auch hier wieder die zellstimulierende Wirkung
eines Mittels, welches zur künstlichen Partheno-
genese herbeigezogen wird.
Es wäre endlich die Wirkung des Spermien-
extraktes zu erproben, denn auch dieses hat sich
bei Versuchen mit künstlicher Parthenogenese
wiederholt als wirksam erwiesen. Für die Alters-
erscheinungen wird ja von Brown-Sequard
der Wegfall des inneren Sekrets der Keimdrüsen
verantwortlich gemacht. Man könnte daher ver-
suchen, den allgemeinen Körperzustand alternder
und kachektischer Individuen durch Injektion von
Spermienextrakten zu heben.
Näheres über diesen Punkt behält sich P. für
eine andere Gelegenheit vor.
Als einen einfachen Weg zur Verwendung der
künstliche Parthenogenese hervorrufenden Lö-
sungen zur Stimulation der Körperzellen empfiehlt
P. die subkutane oder intravenöse Injektion von
NaCl und MgCl.,. ')
Aus allen Beobachtungen und Versuchen zieht
er den Schluß, daß die Mittel zur Hervorrufung
der künstlichen Parthenogenese als allgemeine
1) Das Einspritzen, sogar von reinen MgCl., in hypertonischen
Lösungen zeigt, wie P. aus seinen Versuchen an Meerschweinchen
entnimmt, gar^ keine unangenehmen Überraschungen (intra-
peritoneale Einspritzungen von 4%,) MgClj-Lösung).
Zellstimulantien zu betrachten sind. Vielleicht
könnte man auf diesem Weg einer, wenn auch
nur zeitlichen, Behebung der Alterserscheinungen
näher kommen. (G.C.) Kathariner.
Chemie. Einen sehr wertvollen Beitrag
zur Kenntnis der Isotopen Elemente, d. h. jener
Elemente, die chemisch identisch sind, sich aber
durch ihr Atomgewicht unterscheiden, liefern die
Arbeiten von K. Fajans und seinen Schülern
über die Löslichkeit des Bleies und einiger seiner
Isotopen und die zu relativen Atomgewichts-
bestimmungen verwendbaren Unterschiede in den
spezifischen Gewichten ihrer gesättigten Lösungen
(K. Fajans und J. Fischler, Zeitschr. f. anorg.
u. aligem. Chem., Bd. 1)5, S. 284—296 und
K.Fajans undM.Lembert, ebendaS. 297 — 339,
1916).
Unter der Voraussetzung, daß die gesattigten
wässerigen Lösungen zweier isotoper Bleinitrate
die gleiche molekulare Zusammensetzung haben
und daß gleiche Volumina der Lösungen gleich
viele Mole der Salze enthalten, folgt, daß, da die
Molekulargewichte der Salze verschieden sind,
sowohl die in Gramm pro Liter ausgedrückte
Löslichkeit der Salze als auch die Dichte der ge-
sättigten Lösungen verschieden sein müssen. Das
Ziel der Untersuchung bestand darin, den Unter-
schied in der Dichte der Lösungen experimentell
zu bestimmen, ihn mit dem unter der obigen
Voraussetzung berechneten Unterschiede zu ver-
gleichen und schließlich festzustellen, ob und in
wieweit er sich zu einer relativen Bestimmung
der Atomgewichte benutzen lasse.
Für die Versuche standen den Autoren drei
verschiedene Bleie, nämlich
1. gewöhnliches Blei Pb mit dem Atom-
gewicht 207,15,
2. Blei aus Carnotit Pb' mit dem Atomgewicht
206,59 und
3. Blei aus Joachimsthaler Pechblende Pb" mit
dem Atomgewicht 206,57 zur Verfügung.
Für das mit allen Vorsichtsmaßregeln der
wissenschaftlichen Technik bestimmte spezifische
Gewicht d— ^^ der bei 24,45" gesättigten Lö-
4
sungen der Nitrate wurde gefunden:
für PMNOg)., . . . ■ 1,444499 + 0,000013
für Pb'(N03)o 1,443587+0,000016
und für Pb"(N03)„ .... 1,443586 + 0,000015.
Die Analyse der bei 24,45" gesättigten Lö-
sungen von Pb(NO,)., und Pb'(NO.,),, ergab, daß
die Löslichkeit beider Nitrate bis auf 0,75 "/„o,
einer durchaus innerhalb der Fehlergrenze der
Bestimmungen liegenden Differenz, identisch gleich
1,6172 Mol im Liter ist. Die Annahme, daß
auch das dritte Bleinitrat Pb"(NO,,)2 bei 2445" die
gleiche Löslichkeit von 1,6172 Mol. im Liter be-
sitzt, erscheint darnach berechtigt. Unter dieser
Annahme berechnet sich unter Berücksichtigung
N. F. XVI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69
der verschiedenen Atomgewichte der drei Bleie,
daß I ccm der Pb(N03)2-Lösung 0,904 + 0,026 mg
mehr als i ccm der Pb^NO^jj - Lösung und
0,935+0,052 mg mehr als i ccm der Pb"(N03)2-
Lösung wiei^t, Zahlen, die mit den experimentell
bestimmten Werteno,9i 2 + 0,029 bzw. 0,9 1 3 + 0,028
recht gut übereinstimmen, also als Beweis für die
Richtigkeit der Grundannahme einer gleichen An-
zahl von Molekülen der drei Nitrate in der Raum-
einheit der gesättigten Lösungen angesehen werden
dürfen. Daraus ergibt sich aber weiter die Möglichkeit
einer relativen Bestimmung der Atomgewichte
von Isotopen mit Hilfe der gesättigten Lösung
eines geeigneten Salzes, und dies bedeutet insofern
einen wesentlichen Vorteil, als die genaue Be-
stimmung eines spezifischen Gewichtes erheblich
leichter ist und erheblich schneller geht als eine
ebenso genaue Atomgewichtsbestimmung durch
chemische Analyse. Mg.
Bücherbesprechuiigen.
A. V. Tscher mak. Allgemeine Physiologie.
Eine systematische Darstellung der Grundlagen
sowie der allgemeinen Ergebnisse und Probleme
der Lehre vom tierischen und pflanzlichen
Leben. Berlin 1916. J. Springer.
„Die folgende Darstellung der allgemeinen
Physiologie wendet sich an solche Leser, welche
eine tiefer schürfende, kritische Behandlung der
Probleme und Ergebnisse dieses F"orschungsgebietes
suchen. Dem Bedürfnisse nach einer mehr po-
pulären Darstellung, welche den Anfänger über-
sichtlich — wenn auch mitunter etwas einseitig —
orientiert, ist ja bereits mehrlach entsprochen
worden." Mit diesen Worten charakterisiert der
Verf selbst das vorliegende Werk, in dessen erstem
Halbbande er nach einer allgemeinen Charakteristik
des Lebens die physikalische und chemische Be-
schaffenheit der lebenden Substanz behandelte.
Es ist schwer im Rahmen eines kurzen Referates
die außerordentliche synthetische Arbeitsleistung
zu werten, der dieses Buch entsprungen ist. Das
Werk trägt den Charakter eines Handbuches, aber
eines Handbuches von ausgesprochen individuellem
Gepräge, dessen Wert in gleicher Weise in der
außerordentlich reichen Literatur-Sammlung aus
allen (auch entlegenen) Gebieten der Natur-
wissenschaft, wie in der musterhaften Zusammen-
fassung und kritischen Darstellung des fast
unübersehbar großen Tatsachenmateriales liegt.
Ganz besonders sei auf die einleitenden Kapitel
„die allgemeine Analyse des Lebensprozesses"
und „die Charakteristik des unbelebten Stoffes
und Vergleich mit dem belebtem Stoffe" hin-
gewiesen, in denen die einschlägigen Fragen
in einer bisher kaum erreichten Klarheit erörtert
werden; dabei stellt sich der Verf. selbst auf den
Boden eines phänomenologischen Dualismus von
Belebtem und Unbelebtem : „Wir betrachten dem-
gemäß im folgenden die Physiologie nicht einfach
als angewandte Physik und Chemie, vielmehr das
Leben als einen Erscheinungskomplex für sich,
Belebtes und Unbelebtes als verschiedene, selb-
ständige und gleichwertige Objekte der natur-
wissenschaftlichen Forschung." Auf wie streng
physikalisch-chemischem Standpunkte der Verf.
trotz seines Bekenntnisses zu einer in mancher
Hinsicht vitalistischen Auffassung steht, zeigen die
folgenden Kapitel, unter denen speziell hingewiesen
sei auf die Charakteristik des Protoplasmas nach
Aggregatzustand und Formart als auf die beste
bisher vorliegende Darstellung der Kolloidchemie
in ihren innigen Beziehungen zur Physiologie des
Protoplasmas.
Wem es nicht darum zu tun ist eine mehr
belletristische Darstellung des gegenwärtigen
Standes der allgemeinen Physiologie zu lesen,
sondern wer — biologisch vorgebildet — in
ernster Arbeit tiefer in diese Wissenschaft ein-
zudringen sucht, dem kann hierfür kein besserer
und gewissenhafterer Führer empfohlen werden
als das vorliegende Werk v. Tschermak's.
Möge seine Vollendung nicht zu lange auf sich
warten lassen. v. Brücke.
L. Asher, praktische Übungen in der
Physiologie. Eine Anleitung für Studierende.
Berlin 1916. J. Springer.
Im Wesentlichen beschränkt sich der Verf.
auf die Darstellung der Methode der angeführten
Versuche; die Beobachtungen, um derentwillen
die einzelnen Versuche angestellt werden, werden
nur in wenigen Sätzen besprochen. Ebenso hat
der Verf. auf alle theoretischen Auseinander-
setzungen und auf eine eingehende Beschreibung
der verwendeten Apparate verzichtet, wodurch er
in das relativ kurze Buch (200 Seiten) eine so
reiche Fülle von Versuchsmaterial aufnehmen
konnte, daß fast alle Versuche darin enthalten
sein dürften, die an physiologischen Instituten
von Studenten praktisch au.sgeführt werden.
Dem Studenten wird das Asher 'sehe Prak-
tikum sicher ein willkommenes Hilfsbuch sein,
und auch jeder Leiter eines physiologischen
Praktikums kann Anregungen aus der Auswahl
und der Ausführungsart der Versuche gewinnen.
V. Brücke.
A. Lipschütz, Physiologie und Ent-
wicklungsgeschichte und über die
Aufgaben des physiologischen Unter-
richts an der Universität. Jena 1916.
G. Fischer.
70
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5
An der Hand einiger dem Referenten nicht
gerade glückHch gewählt erscheinender Beispiele
erörtert der Verf. die Bedeutung der physiologischen
Forschung für die Klärung biologischer Er-
scheinungen, die bisher mehr von ihrer vergleichend-
anatomischen und embryologischen Seite her be-
trachtet worden waren.
Die Bedeutung der Homoiothermie für die
Entwicklung der Großhirnfunktionen darf nach
den Erfahrungen an VVinterschläfern und Vögeln
sowie nach der fortschreitenden Entwicklung der
Großhirnfunktionen in der Reihe der poikilothermen
Vertebraten wohl nicht zu sehr in den Vordergrund
gestellt werden.
Das Bedürfnis eines theoretischen und prak-
tischen Unterrichts in allgemeiner Physiologie
im Rahmen der naturwissenschaftlichen Fakultäten
wird von allen Biologen anerkannt werden.
V. Brücke.
W. Stempell u. A. Koch, Elemente der
Tierphysiologie. Ein Hilfsbuch für Vor-
lesungen und praktische Übungen an Univer-
sitäten und höheren Schulen sowie zum Selbst-
studium für Zoologen und iVIediziner. Jena 1916.
G. Uscher.
Mit aufrichtiger Freude und Dankbarkeit wird
jeder Biologe dieses Werk begrüßen ! Es ist dem
Verf. gelungen in dem Rahmen eines vergleichend
physiologischen Praktikums eine streng wissen-
schaftliche, dabei aber äußerst anregend ge-
schriebene Darstellung fast des gesamten Gebietes
der Biologie zu geben. Der Zoologe wie auch
der Medizmer findet hier eine Fülle von Versuchen
und Beobachtungen zusammengestellt, deren syste-
matische Durchfuhrurg zu einer außerordentlichen
Bereicherung seiner biologischen Kenntnisse und
zu einer wesentlichen Vertiefung des Verständnisses
der Lebensvorgänge führen muß.
Das vorliegende Werk, das auf Grund längerer
praktischer Erfahrungen entstanden ist, enthält
15 Kapitel, von denen jedes in einem ausführlichen
theoretischen und einem praktischen Teile ein abge-
grenztes Gebiet der Biologie umfaßt. Die ersten drei
Kapitel sind der Biologie der Protozoen gewidmet.
Die drei nächsten dem Stoffwechsel der Proto-
und Metazoen, und drei weitere Kapitel dem
Säftekreislauf und der Atmung; das 10 Kapitel
behandelt die Sekretions- und Exkretionsvorgänge,
das 1 1. die Produktion mechanischer und elektrischer
Energie; die drei nächsten befassen sich mit den
Reaktionen des zentralen und peripheren Nerven-
systems auf die verschiedenen äußeren Reize, und
im letzten Kapitel wird die Schall- und Licht-
produktion sowie die Fortpflanzung der Metazoen
besprochen. Der Umfang jedes Kapitels ist
so gewählt, daß die entsprechenden praktischen
Übungen in etwa 5 bis 6 Wochenstunden kurs-
mäßig durchgeführt werden können; dabei sind
die Versuche so eingehend und klar besprochen
und zum großen Teile so leicht ausführbar und
durch so gute Abbildungen erläutert, daß sie sich
auch in hohem Maße zur Demonstration im bio-
logischen Unterrichte an Matelschulen eignen.
Nach der Ansicht des Ref. ist das vorliegende
Werk berufen die Entwicklung physiologisch-
zoologischer Praktika an unseren Hochschulen
mächtig zu fördern; es wird aber andererseits
auch dem Lehrer an höheren Schulen, der mit
Liebe an seine schöne Aufgabe herantritt, bei der
Jugend Interesse für biologisches Geschehen zu
erwecken, ein ausgezeichneter und verläßlicher
Führer sein, so daß wir wohl auch in dieser
Hinsicht reichen Segen von dem Stempell-
Koch 'sehen Buche erhoffen dürfen.
V. Brücke.
Franz Ko§mat, Paläogeographie. Geo-
logische Geschichte der Meere und
Festländer. (Sammig. Göschen Nr. 406).
Mit 6 Karten. 2. neubearb. Auflage. Leipzig
u. Berlin 1916. G. J. Göschen. — Preis, geb.
I M.
Das bekannte, in neuer Auflage erschienene
Werk verdankt seinen Wert der übersichtlichen
Darstellung der Ergebnisse der Paläogeographie
auf Grund des für diese Ergebnisse uns zur Ver-
fügung stehenden Beobachtungsmaterials (Ver-
breitung der Meeres und Koniinentalablagerungen,
der Tier- und Pflanzenformen und der vulkanischen
und klimatischen Erscheinungen). Manche in der
I. Auflage nur auf Wahrscheinlichkeitsschlüssen
aufgebaute Phasen haben durch neuere Funde eine
Vertiefung erfahren (Asien war besonders reich
an solchen Ergebnissen), so daß ein in den
Hauptzügen sicheres Bild der Veränderungen der
Festländer und Meere entsteht. G. Hornig.
F. Frech, Der Kriegsschauplatz in Ar-
menien und Mesopotamien. Heft 5 der
Sammlung: Die Kriegsschauplätze, herausge-
geben von Prof. Dr. A. Hettner. Leipzig
und Berlin 1916. B. G. Teubner. — Preis geh.
2,40 M.
Beide Kriegsschauplätze haben nur den Cha-
rakter einer Nebenbühne im Weltkriege, trotzdem
sind die dabei auf dem Spiel stehenden Werte
bedeutsam wegen des Schicksals der Bagdadbahn
und der persisch-mesopotamischen Erd-
ölquellen, deren Besitz die Engländer unab-
hängig vom amerikanischen Monopol machen
würde. Auch der Zugangsweg über die freie
Balkanhalbinsel nach dem Persischen Golf muß
fest in unserer Hand bleiben.
Von N her, über das pontische Küstenland und
Transkaukasien sind die Russen in das Hochland
von Armenien eingedrungen, über dessen Boden-
schätze (Stein- und Braunkohlen sowie Erzgänge)
Frech uns ausführliche Angaben macht, nach-
dem er uns die Physiognomie des Landes ge-
schildert hat. Die Betrachtung der Armenien be-
N. F. XVI. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
71
wohnenden Völkerstämme führt dann zur Dar-
stellung der kriegerischen Ereignisse bis zur IVlitte
des Jahres 1916.
Ungleich wichtiger als Mündungsgebiet am
Euphrat und Tigris ist der Kampf in Mesopo-
tamien, dessen Bedeutung für den Weltmarkt
nicht nur in seinem Erdöl, sondern auch in seiner
alten Ackerbaukultur besteht. Das Alluvialland
des alten Babylonien und die Steppenlandschaft
Assyriens, ihr Ackerbau und ihre Bewässerungs-
anlagen sowie ihre Erschließung durch die Bagdad-
bahn werden uns in glänzender Darstellung vor
Augen geführt. Der Kampf um diese Länder in
ihrer wechselvollen Geschichte und im jetzigen
Kriege wird uns im folgenden Abschnitt geschildert ;
den Schluß bildet euie Beschreibung der Erdöl-
vorkommen Mesopotamiens und des türkisch-
persischen Grenzgebietes.
In mehreren typisch ausgewählten Tafeln
werden uns die Landschaftsformen und Kultur-
güter der geschilderten Gebiete vorgeführt.
G. Hornig.
H. Stadler, Albertus Magnus, de animali-
bus libri XXVL Nach der Kölner Urschrift.
Erster Band, Buch I--XII enthaltend. — In
„Beiträge zur Geschichte der Philosophie des
Mittelalters, Texte und Untersuchungen Bd. XV."
Münster i. W. 1916. Aschendorff'sche Verlags-
buchh. — Preis 28,75 M.
Albert, mit dem Beinamen der Große,
von BoUstädt (Lauingen a. d. Donau), geboren
um 1207 und gestorben in Köln 1280, genießt
in weiten Kreisen den Ruf des größten Natur-
forschers, der im Mittelalter lebte. Schon von
verschiedener, auch naturwissenschaftlicher Seite
wurde seine große Bedeutung für die heimische
Naturgeschichte gewürdigt: so hat E. K. von
Martens „über die von Albertus M. erwähnten
Landsäugetiere" geschrieben (Archiv für Naturg.
XXIV 1858); C. Jessen gab die botanischen
Schriften heraus (Berlin 1867); der Unter-
zeichnete selbst behandelte „die Vogelkunde des
Albertus M." (Regensburg 1910); J. H. F. Kohl -
brugge (die morphologische Abstammung des
Menschen, Stuttgart 1908, S. 89) wünscht dringend
eine Darstellung der anthropologischen Anschau-
ungen des großen mittelalierlichen Gelehrten.
Aber solche Detailuntersuchungen waren bisher
sehr erschwert infolge der mangelhaften Über-
lieferung des ursprünglichen Textes. Das Tierbuch
ist zwar mit den anderen Werken des Albertus
in der Pariser Ausgabe von Borgnet (1891), die
26 Bände umfaßt, als Bd. XI und XII abgedruckt,
aber leider voll Fehler und Lücken, namentlich,
was die Wiedergabe etwaiger deutscher Namen
betrifft.
Diesen Schwierigkeiren ist nun mit der Arbeit
H. Stadler's abgeholfen. Seine Ausgabe beruht
auf dem Codex Coloniensis, der im Städtischen
Archiv zu Köln sich befindet und nachweisbar
die aus der Hand des Albertus selbst stammende
Urschrift des Tierbuches darstellt. Nach erheblichen
Vorarbeiten ging H. Stadler auf Zureden der be-
kannten Zoologen, Herrn Geheimrat R. v. Hertwig
(München) und P. E. Wasmann S. J. (Exaeten),
denen auch das Werk gewidmet ist, an die Her-
stellung einer kritischen Ausgabe des Originals.
Die Drucklegung geschah mit Hilfe der K. bayr.
Akademie der Wissenschaften zu München, der
deutschen Görresgesellschaft und der rheinischen
Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung.
So liegt vor uns ein starker Band von fast
900 Seiten, der die ersten 12 Bücher der Tier-
geschichte des A. M. umfaßt und hauptsächlich
die Anatomie des Menschen und der Tiere be-
handelt. Es würde zu weit gehen, sich in die
Einzelheiten zu vertiefen ; schon aus den Kapitel-
überschriften erhellt, wie modern Albertus den
Stofi gliedert, wie ihm die vergleichende Be-
trachtung der Organismen kein fremdes Gebiet
ist. Albertus baut bekannilich auf A ristoteles
und Aviceüa auf, kommentiert sie und macht
Zusätze, in denen hauptsächlich die Quellen für
heimische Naturgeschichte verborgen liegen.
Der Herausgeber hat mit riesigem Fleiße das
Eigen- und das Lehngut seines .Autors geschieden
und durch Einsetzen von einfachen und Doppel-
strichen kenntlich gemacht. Diese dankenswerte
Zugabe überhebt uns der mühsamen Arbeit, den
Quellen des Albertus nachzugehen; sie charak-
terisiert aber auch Stadler's Werk als eine
äußerst sorgfältige Arbeit.
Mit diesem Buch, dessen Drucklegung sich
mitten im Weltkrieg vollzieht, ist von der deutschen
Forschung eine Ehrenschuld abgetragen. Das
Werk bildet an der Seite des erwähnten gerade
vor 50 Jahren von C. Jessen herausgegebenen
Pflanzenbuches des A. M. eine Zierde der historischen
Abteilung jeder giößeren naturwissenschaftlichen
Bibliothek. Mit Spannung erwarten wir den 2. Teil,
in dem die eigentliche (systematische) Zoologie,
der für die heimische Fauna besonders wichtige
Abschnitt, neben den Indices enthalten sein wird
und mit dem das ganze Werk zum Abschluß
kommt. S. Killermann.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. s
Anregungen und Antworten.
Streckungsmittel des Brotes vor loo Jahren. Allem An-
schein nach war unsre Körnerernte so ergiebig, daß das Volk
sich über den Ausfall von Kartoffeln mit der Hoffnung
hinwegtröstet, der Mangel daran könne ihm durch eine Mehr-
spende von brot wett gemacht werden. Dem Vernehmen nach
wird das Brot aber nach wie vor mit Kartoffeln ,, gestreckt",
wie diese verdünnende oder längende Tätigkeit jetzt heiBt.
Das legt die Frage nach einem Ersatz der , .streckenden"
Kartoffeln nahe und zeitgemäß erscheint ein Vorschlag, der
just vor hundert Jahr gemacht wurde , als die Zeiten infolge
der eben bestandenen Kriegsnöte noch recht schlechte waren
und Mißernte die Nahrung, in der unsere schier unentbehrlich
erscheinende Kartoffel noch eine Nebenrolle spielte, äußerst
knapp machte. Mit ruhmlichem Eifer hatte der Königl. Aktuar
Bayrhammer Versuche für das allgemeine Wohl angesiellt,
„durch verhältnismäßige Beimischung von Runkelrüben,
Erdkohlraben oder weißen Rüben unter dem Korn-
mehle zu erzielendes wohlfeileres uud doch wohlschmeckenderes
Brot zu erzielen." Nachdem ihm das gelungen, machte die
Königliche Landesdirektion als Wohlfahrtskomilee, gez. Krhr.
V. Zurheira, Würzburg den 25. Febr. 1817 eine Anweisung
bekannt „Zur Brotvermehrung durch Erdkohlraben oder
Untersich-Kohlraben') auch Kaulrüben genannt, —
durch Runkelrüben, Dickrüben oder Rangers-
Wurzeln (Schneller's Bayrisches Wörterbuch kennt nur
als gleichbedeutend mit R u n k e 1 rüben Range und Rande!)
— durch gemeine weiße Rüben." Kurz ist das Vcrtahren
folgendes: Die Rüben werden gut gereinigt, geschält (bei
weißen Rüben genügt das Beaeitigen der Herzblättchen,
Wurzelschüsse), schlechte Stellen beseitigt, möglichst fein zer-
kleinert (zerrieben, zerstampft), etwa eine Stunde lang gesotten.
Die Suppe wird gekeltert ^durchgeseiht und abgepreßt, die
Flüssigkeit kann, unter Zufügen von etwas Sauerteig oder Hefe
vergohren, zur Alkoholdeslillation verwandt oder aber ohne
weiteres zu einem süßen „Kraut" eingedampft werden I), der
Brei in einem Backtröge mit Sauerteig und dem nötigen Mehl
„eingemehrt", d. h. zu einem Teig angerührt und zur Gährung
gebracht, der Teig schließlich in gewöhnlicher Art verbacken.
50 kg Erdkohlraben gaben rund 27 kg abgepreßten Brei, der
mit 24 kg Sauerteig (darin 16 kg Mehl) und 43 kg Roggen-
mehl den Teig anmachen ließen. An die Stelle der Kohlraben
können ganz oder teilweise mit gleich gutem Erfolg Möhren
(gelbe Rüben) treten. Von der Preisberechnung kann ab-
gesehen werden, da die Grundlagen völlig andere geworden
sind. Bei unserem Kartoffelmangel verdient aber der Hinweis
auf das Hilfsmittel der Vorzeit jetzt zweifellos einige Beachtung.
Die Ben Akiba'sche Wahrnehmung: ,, Alles ist schon dage-
wesen" tröstet außerdem über die „noch nie erlebten" uner-
hörten, aber vorerst noch recht gut zu tragenden Kummer-
Nahrungsverhältnisse. Hermann Schelenz.
') Auch dies Wort wie Kohlrabi machte sich die germa-
nische Welt aus dem lat. rapa (franz. rave, bette-, chou-rave)
mundgerecht, während Radi und Radieschen die umgewandelte
radix ist.
Herrn G. Josephy, Jena. Eine moderne zusammenfassende
deutsche Darstellung der Vorgeschichte Ostrufilands und
Sibiriens fehlt bis heute. Über die russische Literatur, die
wohl nicht in Frage kommt, gibt das Werk Minns, Scythians
and Greeks (Cambridge 1913) in einer vortrefflichen Biblio-
graphie Aufschluß; dort kommt vor allen Dingen das umfang-
reiche Werk von W. Radioff, Sibirische Altertümer (russ.
Petersburg 1SS8) in Frage. Es bleibt also lediglich die ältere
Literatur; da ist zunächst das umfangreiche Werk von
F. R. Martin zu nennen (L'age du bronze au Musee de
Minoussinsk, Stockholm 1S93); daneben ist Aspelin, Antiquite
du Nord finno-ougrien I. L'age du bronze altaico-ouralien
(Stockholm 1874) heranzuziehen. Mancherlei wertvolle .Angaben
finden sich in den älteren Jahrgängen der Zeitschrift für Ethno-
logie und der Verhandlungen der Berliner anthropologischen
Gesellschaft, worüber durch die Generalregister dieser Zeit-
schriften sich leicht näheres feststellen läßt; vor allen Dingen
kommen wohl Verhandlungen 1879, S. 300 und Zeitschr. f.
Ethnol. 1897, S. 141 in Frage.
Hugo Mötefindt, Wernigerode.
Literatur.
Grimsehl, Prof. Dr. E.f, Lehrbuch 'der Physik zum
Gebrauch beim Unterricht, bei akademischen Vorlesungen und
zum Selbststudium, i. Bd.: Mechanik, Akustik und Optik. —
12 M. 2. Bd.; Magnetismus und Elektrizität. Leipzig-Berlin
'16, B. G. Teubner. — SM.
Fauth, Phil., 15 Astronomische Stereos zur Unter-
stützung des Raumsinnes usw. Kaiserslautern '16, H. Kayser. —
4,50 M.
Frech, F., Geologie Kleinasiens im Bereich der Bagdad-
bahn. Mit 20 paläontologischen Talein, 3 geologischen Karten,
I Profiltafel und 5 Textbildern. Stuttgart 'ib, F. Enke. —
20,50 M.
Dennert, Prof. Dr. E., Not und Mangel als Faktoren
der Entwicklung, eine biologische Studie mit besonderer Be-
rücksichtigung des Krieges. Godesberg '16, Naturw. Verlag
(.\bt. d. Keplerbundes). — 0,50 M,
Dahl, Prof. Dr. Fr., Die Asseln oder Isopoden Deutsch-
lands. Mit 107 Textabbildungen. Jena '16, G. Fischer. —
2,80 M.
Adloff, Prof. Dr. P., Die Entwicklung des Zahnsystems
der Säugetiere und des Menschen. Eine Kritik der Dimer-
theorie. Berlin '16, H. Meußer. — 5 M.
Frech, Prof. Dr. F., Der Kriegsschauplatz in Armenien
und Mesopotamien. Mit 13 Abbildungen auf 9 Tafeln sowie
3 Kartenskizzen. Leipzig und Berlin '16, B. G. Teubner. —
2,40 M.
Heim, A., Geologie der Schweiz. Vollständig in etwa
10 Lieferungen mit etwa 40 Tafeln und Karten, sowie 200
Textabbildungen. Lieferung I. Leipzig '16, Chr. H. Tauchnitz.
— Jede Lieferung 6 M.
Inhalte Hugo Mötefindt, Georg Schweinfurth. S. 57. — Einzelberichte: Franz, Gegenwärtiger Stand der Meta-
raerentheorie des Wirbeltierkopfes. S. 62. Thomas J. Headley, Der Kampf eines Staates gegen die Moskitos.
(2 Abb.) S. 62. W. De ecke, „Über Gastropoden". S. 63. Wood, Über .aufnahmen mit monochromatischem Licht
an Himmelskörpern. S. 65. Me t h odi Po p o ff , Eine interessante Parallele zwischen der künstlichen Parthenogenese
und der Anregung zur Wundheilung durch die gleichen Agenticn. (l Abb.) S. 66. K. Fajans, Zur Erkenntnis der
isotopen Elemente. S. 68. — Bücherbesprechungen: A. v. Tschermak, Allgemeine Physiologie. S. 69. L. As her,
Praktische Übungen in der Physiologie. S. Ö9. A. Lipschütz, Physiologie und Entwicklungsgeschichte und über die
Aufgaben des physiologischen Unterrichts an der Universität. S. 69. W. S t em p e 1 1 u. A. K o c h , Elemente der Tier-
physiologie. S. 70. Franz Koßmat, Paläogeographie, Geologische Geschichte der Meere und Festländer. S. 70.
F. Frech, Der Kriegsschauplatz in Armenien und Mesopotamien. S. 70. H. Stadler, Albertus Magnus, de animalibus
libri X.XVl. S. 71. — Anregungen und Antworten: Streckungsmittel des Brotes vor 100 Jahren. S. 72. Vorgeschichte
Ostrußlands und Sibiriens. S. 72. — Literatur: Liste. S. 72.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalider
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg
! 42, erbe
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den ii. Februar 1917.
Nummer 6
Versuch einer methodischen Bestimmung des Inzuchtsgrades
mittels mathematischer Methode.
[Nachdruck verboten
Von Jaroslav Kfizenecky, Prag, Kgl. Weinberge.
Der Begriff der Inzucht ist heute noch recht
unklar und zu breit, wobei seine Grenzen fast
bei jedem Autor andere sind. Im breitesten
Sinne bedeutet „Inzucht" eine Zeugung innerhalb
einer gewissen Gruppe von Organismen, die nach
außen isoliert ist. Aber eben die Breite dieser
Gruppe ist unbestimmt und fast unendlich ver-
änderlich; und damit variiert auch der Begriff der
Inzucht: diese kann sich abspielen entweder
innerhalb eines gewissen Volkes — wenn wir
die Menschen betrachten — , oder innerhalb
einer gewissen Kaste, Gesellschaft, innerhalb einer
Rasse oder endlich innerhalb einer oder mehreren
Familien. So versteht z. B. Re ibmay er (1897)
unter Inzucht nicht eigentlich eine Verwandtschafts-
oder Blutsverwandtschaftskreuzung, sondern eine
Kreuzung innerhalb einer kleineren, nach außen
isolierten Gesellschaft. Enger begreift das Wort
„Inzucht" Martius (1914), der damit schon eine
Verwandschafts- oder Blutsverwandtschaftskreuzung
versteht, und unterscheidet dabei mehrere Typen
der Inzucht: Kreuzung unter Individuen derselben
Art, oder unter verschiedenen Arten derselben
Gattung oder endlich eine engste Blutsverwandt-
schaftskreuzung.
Wenn wir aber die Sache nur ein wenig
strenger betrachten, dann sehen wir, daß z. B. die
Menschen eigentlich unter einer dauernden Inzucht
leben. Es erhellt dies aus folgender Erwägung:
sollten alle Menschen untereinander vollständig
blutsfremd sein, dann müßte jeder von ihnen zwei
untereinander fremde Ehern besitzen, von diesen
wieder jeder zwei solche . . . usw., so daß in
solchem Falle die Zahl der Aszendenten, Vorfahren
von jedem Mensehen in zurückkehrender Richtung
in einer geometrischen Reihe mit dem Quotient = 2
und dem Anfangsgliede = I zunehmen müßte.
Rechnen wir auf ein Jahrhundert je drei Gene-
rationen, dann müßte jeder im Jahre 1900 lebende
Mensch, sollte er nämlich inzuchtsfrei sein, zu Zeiten
Gregor's VII. (um das Jahr 1050) ca. 11 777000
Vorfahren zeigen, zu Christi Zeiten dann über
18 Millionen. Beträgt heute die Menschheit un-
gefähr 600 Millionen, dann müßte die Zahl solcher
theoretischer Vorfahren zu Zeiten Christi über
loS6- 10' betragen, was mehr als absurd ist. Auf
der anderen Seite müßte aber umgekehrt die Zahl
der Menschen notwendigerweise abnehmen, denn
aus jeder Ehe könnte nur ein Kind seinen Ursprung
nehmen, was ein vollständiges Aussterben der
Menschheit in nicht ganz einem Jahrtausend zur
Folge hätte.
In der Tat verhält sich die Sache aber eben
umgekehrt: die Menschheit nimmt in ihrer Zahl
nicht ab, sondern zu, die Menschen vermehren
sich und zwar beinahe in einer geometrischen
Reihe, wie darauf schon im Jahre 1798 Malthus
in seinen „Essay on the principle of po-
pulation" hingewiesen hat. Die Folge davon
ist, daß bei jedem Menschen in seinem Stamm-
baume mehrere Aszendenten sich wiederholen
müssen, so daß die wirkliche Zahl von ver-
schiedenen Vorfahren kleiner als die theoretische
ist; es entsteht dabei der sogen. „Ahnenverlust",
was bedeutet, daß die Menschheit eigentlich in
einer Inzucht lebt, denn eben jedes Individuum,
das in seinem Stammbaume einen Ahnenverlust
zeigt, ist als Produkt einer Inzucht zu bezeichnen.
Infolgedessen muß auch Reibmayer's so
breit gefaßte Inzucht nach einer gewissen Zeit
sich zu einer engeren Verwandtschafts- oder endlich
Blutsverwandschaftskreuzung verändern und zwar
desto früher, je kleiner die betreffende Gesellschaft
wäre.
Es ist aber selbstverständlich, daß man die
Sache solcherweise nicht annehmen kann, denn
der Grad der Verwandtschaftlichkeit ändert sich
danach, in welcher Generation sich ein Aszendent
wiederholt, und auch danach, wieviel solche sich
wiederholende Ahnen es gibt. In der Tierzucht-
lehre ist z. B. als die Grenze die achte Ahnen-
generation eingeführt: besitzen zwei Tiere, ein
Männchen und ein Weibchen in den vorhergehenden
sieben Generationen einen oder mehrere ge-
meinsame Aszendenten, dann ist ihre Nachkommen-
schaft als ein Produkt verwandtschaftlicher Inzucht
zu bezeichnen. Wiederholt sich nun solche
verwandtschaftliche Inzuchtskreuzung in mehreren
Generationen, so kann sich endlich bis zu einer
bluts verwandtschaftlichen Inzucht oder einem
Inzest (Kreuzung unter Eltern und Kindern oder
den Geschwistern selbst) steigern.
Darwin hat seinerzeit ähnlich zwei ver-
schiedene Grade der Inzucht aufgestellt, nämlich
sogen. ,,interbreeding" (Inzucht in weiterem Sinne)
und sog. Inbreeding" (enge Inzucht oder Inzestzucht),
Begriffe, welche noch heute von englischen und
amerikanischen Forschern benutzt werden; dabei
soll bedeuten: „Inbreeding" eine Kreuzung zwischen
Geschwistern oder zwischen Eltern und den
Kindern, „interbreeding" eine Kreuzung innerhalb
der gleichen Spezies oder Rasse und überhaupt
unter Individuen, die nicht in nahem Verwandt-
schaftsgrade zueinander stehen (vgl. hierüber
Morgan, 1909, S. 226).
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
In WirkHchkeit kann man aber bei der Inzucht
eigentlich eine ganze Reihe von verschiedenen
Graden unterscheiden, welche Grade sich unter-
einander aber keineswegs qualitativ, sondern
nur quantitativ unterscheiden, je nachdem,
wie nahe oder ferne sich die Eltern stehen, die
dabei in Betracht kommen. Deswegen kann auch
der Unterschied zwischen der „verwandtschaftlichen"
und der „blutsverwandtschaftlichen" Inzucht, ebenso
wie ein solcher zwischen ,,interbreeding" und ,, In-
breeding" keineswegs ein absoluter und scharfer
sein. Dieser Umstand ermöglicht es aber zugleich,
den Grad der Inzucht zu messen, denn eben nur
quantitativ verschiedene Werte sind meßbar. Den
Grad der Inzucht mathematisch zu messen und
zu bestimmen, wurde nun unlängst von Raymond
Pearl, dem Vorstand der biologischen Abteilung der
landwirtschaftlichen experimentellen Station der
Universität zu Maine (Orono, U. S. A.) versucht.
Seine Methode gründet Pearl auf den Ahnen-
verlust, so daß er die Differenz zwischen der
theoretischen Zahl von verschiedenen Aszen-
zendenten und der Zahl der wirklichen Aszendenten
in einer ;/-ten Generation bestimmt; das pro-
zentuelle Verhältnis dieser Differenz zu der
theoretischen Ahnenmenge bezeichnet er dann
als „coefficient of Inbreeding", In, durch
den der Inzuchtsgrad gegeben wird; diesen
„Inzuchtskoeffizienten" bestimmt Pearl mittels
folgender Formel:
Zn = -°^*^Pe+-L— Si+J»)
Pn + i
wobei bedeutet (/>/, -Li) die theoretische Zahl
von verschiedenen Aszendenten, (j^, + i) die
wirkliche Zahl von verschiedenen Aszendenten
und Z)i den Inzuchtskoeffizienten hinsichtlich der
//-ten Generation.
Als bestes Beispiel zu einer konkreten Dar-
stellung der Pearl 'sehen scharfsinnig begründeten
Methode kann uns eine Familie, in welcher eine Reihe
von Generationen hindurch konsequent eine Paarung
zwischen Geschwistern, Brüdern und Schwestern,
ausgeführt wurde, dienen. Dauerte eine solche
Kreuzung, nehmen wir an, während vier Gene-
rationen, dann bekommen wir in der fünften
Generation ein Individuum .v, welches in seiner
ersten vorhergehenden Generation (nämlich Ahnen-
generation) zwei verschiedene Eltern, nämlich a
und b, besitzt, welche beide wieder gemeinsame
Eltern haben, nätnlich c und (/, bei welchen dem
ebenso ist, so daß uns der Stammbaum eines
solchen Individuums folgendes Bild gibt:')
I. Deszendentgeneration .
II. Deszendentgeneration .
III. Deszendentgeneration .
IV. Deszendentgeneration . .
V. Deszendentgeneration . .
gh gh gh gh
gh gh gh gh.
. . 4. Ahnengeneration
e f e f
e f e f .
. . 3. Ahnengeneration
c d
c d . ,
b
. . 2. Ahnengeneration
a
. I. Ahnengeneration
Aus diesem Stammbaume ersehen wir, daß
man bei einer konsequenten Kreuzung zwischen
Geschwistern, in der fünften Deszendentgeneration
(V) ein Individuum bekommt, das in seiner vierten
Ahnengeneration (4) anstatt sechzehn nur zwei
verschiedene Ahnen [q und li) zeigt. Setzen wir
nun in Pearl's Formel ein, so bekommen wir
Z,-=
100(16 — 2)
87,5
der tnzuchtskoeffizient ist in diesem Falle gleich 87,5.
Ein anderes Beispiel bietet uns eine hypo-
thetische Familie, in welcher in vier Generationen
eine Kreuzung zwischen dem Stammvater a und
den Nachkommen stattfand. Bezeichnen wir das
Glied der fünften Deszendentgeneration (V.) mit
y, seine Eltern mit a und b und die übrigen
Aszendenten mit c, d, r, /, g . . usw., dann be-
kommen wir durch Entwicklung des Stammbaumes
das folgende Bild:
I. Deszendentgeneration .
II. Deszendentgeneration .
III. Deszendentgeneration .
IV. Deszendentgeneration .
V. Deszendentgeneration .
m n f 1 f g d 0
f g d i de a s . ,
. . 4. Ahnengeneration
f g d i
d e a k . .
. 3. Ahnengeneration
d e
a c . .
. 2. Ahnengeneration
a
b
. I. Ahnengeneration
') Hierbei ist es nötig, den Unterschied zwischen einer
„folgenden" und einer „vorhergehenden" Generation gut zu
beachten: die erste bedeutet hier eine Deszendentcngeneration,
nämlich die Kinder den Eitern gegenüber, welche Generation
im folgenden mit römischen Zilifern (1, II, III . . .) bezeichnet
wird, die andere eine Aszendenten- oder Ahnengeneration, die
uns umgekehrt die Eltern gegen die Kinder repräsentieren,
und diese Generation wird im folgenden mit gewöhnlichen
arabischen Ziffern (i, 2, 3 . . .) bezeichnet. In unserem Falle
sehen wir, dafi die erste Deszendentengeneration (1) unter Be-
rücksichtigung des Individuums x seine vierte Ahnen-, Aszen-
dentengeneration (4) ist.
N. F. XVI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
In diesem Falle zeigt die vierte Ahnen-
generation (4) entgegen der theoretisch er-
wünschten Zahl 16 nur il verschiedene Aszen-
denten. Nach Einsetzen in Pearl's Formel
hätten wir also iür den Inzuchtskoeffizient den
Wert 31,25 bekommen; Pearl gibt aber in diesem
F"alle den Wert 67,75 an. Suchen wir nun nach
der Ursache dieser Differenz, so erkennen wir,
daß Pearl als die Zahl von verschiedenen As-
zendenten in der vierten Ahnengeneration die
Zahl 5 angibt, trotzdem es, wie sich jeder an dem
schematischen aus Pearl's Publikationen direkt
übernommenen Stammbaume überzeugen kann,
in dieser 11 verschiedene Aszendenten gibt:
Der Aszendent ni kommt hier einmal vor ... 1
II 16
Wirkliche Zahl Theoretische Zahl
verschiedener verschiedener
Aszendenten Aszendenten.
Die Ursache, warum Pearl hier nur von fünf
verschiedenen Aszendenten spricht, liegt darin, daß
Pearl hinsichtlich ihrer Wiederholung sich nicht
nur auf diese vierte Ahnengeneraiion, beschränkte,
sondern auch die vorhergehende Ahnengeneration
(3, 2, i) in Betracht gezogen hat; mit anderen
Worten: als einen sich wiederholenden Aszendenten
bezeichnet Pearl nicht nur einen solchen, der
mehr als einmal in der vierten Ahnengeneration
vorkam, sondern auch einen solchen, der auch
schon in einer von den vorhergehenden Gene-
rationen — event. Ahne ngeneration — nämlich
in der 3, 2 und i erschienen ist, obzwar er i n
der vierten nur einmal vorhanden war. So
liegt die Sache in unserem Beispiele mit den
Aszendenten /' und c, welche beide in der vierten
Ahnengeneration nur einmal vorkommen, welche
aber Pearl trotzdem unter die sich wiederholenden
reiht, denn sie sind schon in der dritten [3]
(alle beide) und in der zweiten [2] (l) vorhanden.
Trotzdem al>o, daß Pearl den Ausdruck ^„ + 1
als „the actual number of diffcrent individuals in
the matings (the matings of the n + i Generaüon)"
definiert, so ist ihm in der Praxis dieser Ausdruck
doch nur die Anzahl von verschiedenen Aszen-
denten, zwar in der « ten Generation, aber nicht
nur hinsichtlich dieser, sondern hinsichtlich des
ganzen Stammbaumes. Am klarsten erscheint
diese Sache aus zwei von Pearl angeführten und
besprochenen praktischen Beispielen.
Das erste betrifft ein reinblütiges Pferd Namens
Postiiiinis. Der Stammbaum dieses Pferdes, wie
ihn Pearl von Bunsow (1911) entnimmt, ist
folgender :
(Siehe Stammbaum S. 7b.)
Berücksichtigen wir in diesem Falle bloß die
fünfte Ahnengeneration, dann erkennen wir als
sich wiederholende Aszendenten die folgenden:
T/wn/iaiihy, Sfockwell und Voltaire, deren Namen
in dem Stammbaume kursiv gedruck sind. Dem-
nach ergibt der Ausdruck (pn-^^ — ^« + 1) den
Wert 3 und der Inzuchtskoelfizient wäre hier
9,375. Pearl gibt aber den Wert 15,625 an
und zwar deswegen, weil bei ihm der Ausdruck
{p„ _!_ I — i'« 4- j) den Wert 5 darstellt, da er als
sich wiederholende Aszendenten auch die: Mrs
Ridgivay und Voltigciir betrachtet, welche in dem
Stammbaume schon einmal in der vierten Ahnen-
generation vorkommen (von Pearl als sich wieder-
holend betrachtete Aszendenten sind in dem
Stammbaume mit * bezeichnet).
Ähnlich ist es auch in dem zweiten Falle, in
welchem es sich um den Stammbaum einer Milch-
kuh Bess JVemrr handelt; dieser Stammbaum ist
wie folgt:
(Siehe Stammbaum S. 77.)
Durchmustern wir in diesem Stammbaume
die vierte Ahnengeneraiion, so sehen wir, daß sich
in dieser wiederholen : Alphrds S/oke Pogis, Carlo's
Jidio, Diiclicss Stokr Pogis und Edä/i Darby
(mit Kursiv gedruckt). Die Differenz (/„ 4. ^ — ^x -F i)
beträgt in diesem Falle 4 und der Inzuchtskoefhzient
wäre hier gleich 25,00. Da aber Pearl als sich
wiederholende noch: Patrick Fawkcs und Bahn
betrachtet, welche in der dritten Ahnengeneraiion
vorkommen, beträgt nach ihm die Differenz
(pn + i— qn-f i) den Wert 6 und der von ihm an-
gegebene Inzuchtskoelfizient ist infolgedessen in
diesem Falle 37,5.
Pearl weicht also in der Praxis von seiner
theoretischen Definition (vgl. oben) ab: er be-
trachtet nämlich die verschiedenen, resp. umgekehrt
sich wiederholenden Ahnen nicht nur mit Rücksicht
auf die Generation, mit welcher er arbeitet, sondern
eigentlich in Hinsicht auf den ganzen Stammbaum.
Dadurch entsteht aber in seiner ganzen Methode —
wie diese nämlich praktiziert wird — eine große
Ungieichmäßigkeit: während die theoretische
Zahl verschiedener Aszendenten ihm bloß durch
jene einzige Generation gegeben sein wird, stellt
Pearl die wirkliche Zahl dieser mit Hilfe des
ganzen Stammbaumes fest; mit anderen Worten:
Pearl vergleicht und manipuliert in der Praxis
seiner Methode mit Werten, die hinsichtlich ihrer
Erwerbung und ihres Ursprungs verschiedenartig
sind und sich deswegen untereinander nicht ver-
gleichen la-^sen.
Diese Ungieichmäßigkeit zu beseitigen, ist auf
zweierlei Weibe möglich: entweder dadurch, daß
wir überall nur jene betreffende Generation be-
rücksichtigen werden, oder dadurch, daß wir
fortwährend den gan zen Stammbaum in Be-
tracht ziehen. Was die erste Möglichkeit anbetrifft,
16
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
Maid of Wye
Napoli
Flying Duchess
Euxine
Vedette
r Isola Bella
I Sterling
r Sunshine
) Macaroni
i Rouge Rose
( Doncaster
f Liltle Fairie
hon
f Pocahontas
I Harcaway
[ Merope
\ Flying Dutchman
f Mrs. Ridgway
( Voltigeur
/ Varna
\ King Tom
{*Mrs. Ridgway
*VoItigeur
( Isolene
\ Stockwell
( Whisper
» Oxford
( Sunbeam
\ Thormanby
f Jocose
I Sweetmeat
) EUeen Home
\ * Thormanby
I Marigold
I Lacerta
( Horusea
( Margaret
\ Cain
/ Marpena
^ Glencoe
i Fanny Dawson fiUy
( Economist
( Velocipede's dam
\^ Voltaire
( Barbelle
\ Boy Middleton
( Nan Dareil
\ Birdcatcher
Ahne;i-
generation
SO ahnte wahrscheinlich schon Pearl gut, daß
dies eine sehr unbestimmte Methode wäre, mittels
welcher es überhaupt nicht möglich ist, z. B. das
Wiederholen eines Gliedes der betreffenden
Generation noch in den vorhergehenden Ahnen-
generationen zu berücksichtigen.
Die einzig richtige und mögliche ist die zweite
Weise, nämlich den ganzen Stammbaum zu be-
rücksichtigen: die theoretisch mögliche Zahl der
Aszendenten wäre hier mit der Summe der geo-
metrischen Reihe mit dem Anfangsglied a, = i
und dem Quotient k = 2 bis zu dem w-ten Gliede
gegeben, nach der F"ormel:
a^Jk«-!)
k — I
wobei ;/ die Zahl der Ahnengenerationen, welche
wir in diesem oder jenem bestimmten Falle be-
trachten, bedeutet ; dadurch wäre der Wert /„ ge-
geben, welclier anstatt Pearl's /i„ + , zu setzen
ist. Durch Eliminierung aller sich wiederholenden
Aszendenten unter Berücksichtigung des ganzen
Stammbaumes bekommen wir die wirkliche
Zahl verschiedener Aszendenten, nämlich ^„, welche
wieder anstatt Pearl's </„ zu setzen ist. Nach
Einsetzung in die Formel bekommen wir nun den
Inzuchtskoeffizient :
Zn='°°iPil-'^»)
Pn
Mit dieser so modifizierten Methode habe ich
die Inzuchtskoffizienten für alle vier oben angeführten
(nach Pearl zitierten), theoretischen und praktischen
Fälle umgerechnet und kam dabei zu folgenden
Zahlen :
I. Für die Zucht mit fortwährender
Kreuzung der Aszendenten mit
ihren Eltern beträgt derinzuchlskoeffizient
hinsichtlich der vierten Ahnengeneration . 46,66
II. P'ür die Zucht mit fortwährender
Kreuzung der Geschwisterkinder
beträgt der Inzuchtskoeffizient hinsichtlich
der vierten Ahnengeneration 73,33
III. Für das Pferd Posfuvnis beträgt
der Inzuchtskoeffizient hinsichtlich der fünften
Ahnengeneration 9,6/7
IV. P'ür die Milchkuh Bess Weaver
beträgt der Inzuchtskoeffizient hinsichtlich
der vierten Ahnengeneration 33i33
N. F. XVI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Nr. 35913
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Nr. 26271
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Nr. 14207 a--»
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*Alfhea's Sloke Pogis
Nr. 14436 9
Shera's Sloke Pogis
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Nr. 37346
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Nr. 6246 9
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Nr. 79860
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Regal Koffee
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Nr. 3286
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Charapion's Son
Nr. 17769
9
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Alphea's Stoke Pogis
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Sisera's Sloke Pogis
Nr. 126626 9
Kate Weavcr
Juno s Sloke
Pogis
Nr. 14436
Carlos Juno
9
Nr. 87346
Sisera
9
Nr. 18811
Duchess Stoke P
Dgis
Nr. 6246
Edith Darby
9
Nr. 36382
General Kellj
Nr. 19350
*Patrick Fawkes
Nr. 95606
*Balm
9
■^
Nr. 95606
Halm
9
Nr. 7056
America's Champ
^
Nr. 95605
Maid of Gilead j
nd
Ahnen-
2
3
4
Vergleichen wir nun die Koeffizienten mit den
Koeffizienten, die Pearl angibt (67,75, 87,5, 15,62,
37,5), so sehen wir auf den ersten Blick, daß sie
beträchtlich kleiner sind als diese; dagegen stehen
sie viel näher den Koeffizienten, die präzis und
wörtlich nach Pearl 's Formel nämlich unter
Berücksichtigung der bloßen ;/-ten Generation
berechnet sind: 31,25, 87,5, 9.375, 25.00. Dieser
Umstand kann nur zugunsten meiner Modi-
fikation von PearTs Methode zeugen, denn
die beträchtliche Größe der von Pearl be-
rechneten Koeffizienten hat eben in der „Un-
gleichmäßigkeit" (vgl. oben) der vergleichenden
Zahlen ihren Grund: es muß nämlich, wie selbst-
verständlich, die Differenz (p„ — q,,), unter Be-
rücksichtigung des ganzen Stammbaumes
festgestellt, entgegen der theoretischen Ahnenzahl
aus bloß einer Generation unverhältnismäßig
größer sein, als wenn wir nur und ausschließlich
eine einzige Generation berücksichtigen. Beschrän-
ken wir uns dagegen überhaupt nur auf eine
Generation, so verschwindet die Möglichkeit, eine
eventuelle Wiederholung eines oder mehrerer
Aszendenten auch in den vorhergehenden Ahnen-
generationen zu erfassen, und infolgedessen würden
immer die auf diese Weise berechneten Inzuchts-
koeffizienten kleiner sein — • abgesehen schon von
ihrer Unbestimmtheit. Berechnen wir den Inzuchts-
78
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
koeffizienten unter Berücksichtigung des ganzen
Stammbaumes, wie ich eben auseinandergesetzt
habe, so weichen wir dadurch beiden diesen Ex-
tremen aus und infolgedessen werden auch die
auf diese Weise — auf einem goldenen Mittel-
weg — gewonnenen Koeffizienten richtiger und
der Wirklichkeit mehr entsprechend sein.
Nach der von mir modifizierten Pearl 'sehen
Methode bestimmt man den Inzuchtskoeffizient
nach der Formel:
2 ^I00(pn-qj
Pn
in welcher bedeutet: /„ die theoretisch
mögliche Zahl verschiedener Aszendenten
eines bestimmten Individuums in seiner 7/-ten
Ahnengeneration und q^ die wirkliche Zahl
solcher Aszendenten. Z^, der sog. Inzuchtskoeffi/.ient,
ist nun das prozentuelle Verhältnis der Differenz
zwischen theoretischer und wirklicher Zahl der
verschiedenen Aszendenten zu ihrer theoretischen
Zahl.
Diese Modifikation der'Pearl'schen Methode
betrifft also bloß den Inhalt einzelner Bestandteile
der Formel, etwas anderes verändert sie aber in
dieser nicht. Pearl's Gedanke bleibt hier also
unberührt erhalten, und damit behält die ganze
Methode auch ihre Vorzüge, nämlich ihre Einfachheit
und Einheitlichkeit, so daß ich glaube, daß es
uns mit ihrer Hilfe in der Zukunft gelingen wird,
auf das Problem der Inzuchtswirkung näher ein-
zugehen, welches Problem außer seiner Bedeutung
für die theoretische Biologie auch eine solche für die
Anthropologie, Soziologie und Gesellschaftsbiologie
überhaupt und nicht in letzter Hinsicht auch
für landwirtschafliche Produktion, nämlich für
Züchtungsbiologie, besitzt.
Literatur.
Bunsow, R., Inheritanze in Race Horses. Mendel
Journal, Vol. 1, 191I.
Lorenz, Lehrbuch der gesamten und wissenschaftlichen
Genealogie. Berlin 1898.
Martius, F., Konstitution und Vererbung in ihren Be-
ziehungen zur Pathologie. Berlin 1914, Springer.
Morgan, T. H., E.vperimentelle Zoologie. Deutsche
Übersetzung. Berlin 1909, Gebr. Teubner.
Pearl, R., A contribution towards an Analysis of the
Problem of Inbreeding. Americ. Naturalis., Vol. XLVU,
New York 1913.
— , The Measurement of the Intensity of Inbreeding.
Maine Agricult. Experiment Station, Bulletin Nr. 215, August
1913-
Reibmayr, Alb, Inzucht und Vermischung beim
Menschen. Wien-Leipzig, DeuUcke 1897.
Einzelberichte.
Chemie. Über die Sulfide des Kupfers haben
Eugen Posnjak, E. T. Allen und H. E. Merwin
vom geophysikalischen Laboratorium der Carnegie-
Instiuition eine eingehende Untersuchung') aus-
geführt, über die, da sie unsere Kenntnisse
von diesem Gegenstande wesentlich erweitert und
vertieft hat, im folgenden berichtet werden
möge.
In der Natur kommen zwei reine Sulfide des
Kupfers, das Kuprosulfid Cu.^S (Kupferglanz, Chal-
cocit) und das Kuprisujfid CuS (Kupferindig,
Covellin) vor, von denen das an erster Stelle ge-
nannte bei weitem das häufigste und wirtschaftlich
wichtigste ist. Dem praktisch arbeitenden Chemiker
hingegen, insbesondere dem Analytiker tritt meist
das Kuprisulfid entgegen, denn dieses bildet sich
immer bei der Einwirkung von Schwefelwasser-
stoffion auf Cupriion:
Cu++ + S — = CuS;
die nicht selten gemachte Angabe, daß hierbei ein
Gemisch von Kupfersulfür, Kupfersulfid und
Schwefel entstehe, indem gleichzeitig auch die
Reaktion
2 Cu ++ + S — = Cu.,S + S
eintrete, ist nach Posnjak, Allen und Merwin
nicht richtig. Jedoch spielt auch das Kuprosulfid
') Deutsch in der
Chemie, Bd. 94, S. 95-
Zeitschr. f.
138; 1916.
in der analytischen Chemie eine wichtige Rolle,
denn als Kuprosulfid wird das als Kuprisulfid ge-
fällte Kupfer sehr häufig ausgewogen, und zwar
geschieht die Umwandlung des Kupri- in das
Kuprosulfid durch schwaches Glühen des mit
reinem Schwefel gemischten Kuprisulfids im Wasser-
stoffstrom.
I. Das Kuprosulfid. — Reines kristalli-
siertes Kupfersulfür stellen Posnjak, Allen und
Merwin durch Erhitzen von geschmolzenen
Kupfersulfidpräparaten im Vakuum bis zum
Schmelzpunkte dar. Der Schmelzpunkt des
reinen Kupfersulfürs liegt bei 1 1 30" C. Sein
25"
spezifisches Gewicht ergab sich zu d — ^- = 5,784
— 5,785, während die ebenfalls auf Wasser von
4" C bezogenen spezifischen Gewichte von reinem
natürlichen Chalcocit bei 25" C zu 5,774—5,783,
also in sehr guter Übereinstimmung mit dem des
künstlichen Produktes gefunden wurden.
In der Natur kommt das Kuprosulfid nur in
rhombischen Kristallen vor, bei der künstlichen
Herstellung hingegen immer in regulärer Form.
Das Kuprosulfid ist also dimorph. Die nähere
Untersuchung dieser Verhältnisse durch Posnjak,
Allen und Merwin sowohl an natürlichem als
auch an künstlichem Material bewiesen die
Existenz eines bei 91" C liegenden Umwandlungs-
punktes: unterhalb 91" C ist die reguläre, oberhalb
N. F. XVI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
79
91** C die rhombische Modifikation die beständige
Form.
II. Schwefelhaltiges Kuprosulfid. — Das
durch Zusammenschmelzen von Kupfer und
Schwefel entstehende Produkt enthält erfahrungs-
gemäß immer einen über die F"ormel Cu.,S hinaus-
gehenden Überschuß von Schwefel, der nicht ohne
weiteres durch Erhitzen des Produktes auf höhere
Temperaturen vertrieben werden kann, eine schon
i. J. 1S51 von Hittorff aufgefundene und durch
die Annahme eines Gehaltes der Präparate an
Kuprisulfid gedeutete und neuerdings auch von
anderen Autoren bestätigte Tatsache. In der Tat
nimmt reines Cu.,S beim Erhitzen im Schwefel-
wasserstofTstrom Schwefel auf, und zwar stellt sich
bei genügend langem Erhitzen ein definiertes
Gleichgewicht ein, wie es die folgende Tabelle
zeigt.
Tabelle.
Zusammensetzung von Schwefelkupfer nach Er-
reichung des Gleichgewichtszustandes in Schwefel-
wasserstoffatmosphäre bei verschiedenen
Temperaturen.
Zusammensetzung
Temperatur
'"
■^
Über die Verbindung Cu^S
hinausgehender Gehalt
an Schwefel
"C
"„
"..
".0
410
485
700
1050
77.53
78,09
7S,47
78. '^2
22.47
21,91
21,53
21,4s
1
2,90
2,20
1,73
1,66
Diese Aufnahme von Schwefel durch Kupfer-
sulfür läßt sich in verschiedener Weise erklären. Ent-
weder bildet sich ein heterogenes Gemisch von
Kupfersulfid und Kupfersulfür, oder es entsteht ein
homogenes System, indem sich entweder der
Schwefel als solcher oder in Form von Kupfersulfid
CuS im Kupfersulfür unter Bildung einer „festen
Lösung" auflöst. Alle von Pos nj ak, Allen und
Merwin angestellten Versuche deuten nun darauf
hin, daß die fraglichen Produkte feste Lösungen von
Kupfersulfid in Kupfersulfür sind, denn erstens
läßt die mikroskopische Prüfung keine Inhomo-
genitäten erkennen, d. h. das System ist homogen,
zweitens nimmt die Schmelztemperatur der Pro-
dukte mit steigendem Schwefelüberschuß in einem
sehr starken, weniger dem geringen Überschuß
an Schwefel als dem großen Gehalt der Prä-
parate an CuS entsprechendem Grade ab, und
drittens konnte durch folgenden Versuch die
Auflö.sung von CuS in Cu,,S unmittelbar verfolgt
werden: „Sehr fein gepulverter reiner natürlicher
Chalcocit und Covellin wurden miteinander im
Gewichtsverhältnis 9 : i gemischt. Das Gemisch
wurde dann unter 12000 Atmosphären zusammen-
gepreßt. Die gepreßten Sulfide bildeten einen
harten zusammenhängenden Kuchen, der leicht
angeschliffen und mikroskopisch untersucht werden
konnte. Covellin und Chalcocit waren beide
deutlich sichtbar. Die Menge des Covellins be-
trug schätzungsweise etwa 10% und entsprach
somit der Zusammensetzung des ursprünglichen
Gemisches. Ein Teil des zusammengepreßten
Gemisches wurde dann in einem Glasrohr 2
Stunden bei 100 bis iio" erhitzt und wieder
mikroskopisch geprüft; die Oberfläche zeigte
einige Sprünge und mußte von neuem poliert
werden. Es war nun viel weniger Covellin zu
sehen, dessen Menge Merwin auf 3 — 5"/^
schätzte. Man erhitzte dann dasselbe Stück über
Nacht auf dieselbe Temperatur; am nächsten
Morgen ließ sich mikroskopisch kein Covellin mehr
auffinden, selbst nicht auf tief geschliffenen Stellen."
Derartige feste Lösungen von Kuprisulfid in
Kuprosulfid kommen auch in der Natur vor.
III. Das Kuprisulfid. — Das Kuprisulfid,
dessen spezifisches Gewicht Posnjak, Allen
und Merwin an zwei sehr reinen natürlichen
Präparaten aus Butte (Montana; zu d— ^^4,677
bis 4,684 bestimmen, kann auch in krystallisierter
Form, künstlich nach zahlreichen Methoden, so
durch Erhitzen von Kuprosulfid in Schwefelwasser-
stoff auf Temperaturen bis zu 358" C, durch Er-
hitzen von Kuprisalzen mit Schwefelwasserstoff
im Einschmelzrohr auf 250" C usw. hergestellt
werden. Schon bei verhältnismäßig niedrigen
Temperaturen dissoziiert es nach der Gleichung
4CuS < 1 > 2Cu.,S + S.,
in Kupfersulfür und Schwefel. Nach Preuner
und Brockmöller ist der Gesamtdampfdruck
des Schwefels A und der Partialdampfdruck p der
S,,-Moleküle über Schwefelkupfer
bei 450" C A = 80 mm p = 14,5 mm
470 200 31
475 250 37
4S0 313 44
500 980 92
Bei 358" C ist der Dissoziationsdruck des
Kuprisulfids im Gleichgewicht mit dem Teildruck
des Schwefels in dem — bei dieser Temperatur ja
zum Teil nach der Gleichung
2H.,S <_. > 2H,, 4- S.,
dissozierten — Schwefelwasserstoff. Oberhalb dieser
Temperatur wächst der Dissoziationsdruck des
Kupfersulfids viel rascher als der des Schwefel-
wasserstoffs, so daß das CuS dann rasch unter
Bildung von festen Lösungen von CuS in Cu.,S
Schwefel abgibt, (g. c. ) Mg.
Die Veredelung des Zinks, d. h. die Um-
wandelung des gewöhnlichen Zinks in eine P'orm
von höheren Festigkeitseigenschaften, ist nicht
nur eine für die gegenwärtige Zeit wichtige Auf-
gabe, sondern wird auch nach dem Kriege darum
für die deutsche Industrie von allgemeinerer Be-
deutung sein, weil Deutschlands Produktion an
8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
Zink mehr als den vierten Teil der Weltproduktion
ausmacht. Die folgenden Angaben , die einer in
der Zeitschrift „Metall und Erz" (Bd. 4, S. 279—289,
1916) erschienenen Mitteilung von E. H. Schulz
entnommen sind, dürften daher für die Leser der
Naturwissenschaftlichen Wochenschrift nicht ohne
Interesse sein.
Zur Veredelung eines Metalles stehen, wie das
Beispiel des Eisens zeigt, grundsätzlich zwei Wege
offen, ein chemischer, nämlich die Legierung des
zu veredelnden Metalles mit anderen Metallen,
und ein physikalischer, nämlich eine geeignete
mechanische und thermische Behandlung des
Materials. Natürlich lassen sich beide Wege auch
nebeneinander beschreiten, und man erhält dann
unter Umständen besonders hochwertige Produkte,
so beim Eisen die heute unentbehrlichen Spezial-
stähle.
Als Au.sgangsmaterial für die Veredelung des
Zinks stehen im Prinzip drei Sorten von Zink
zur Verfügung:
1. das gewöhnliche, besonders durch Blei stark
verunreinigte ,, Hüttenzink",
2. das im Raffinierofen durch Umschmelzen
mit daran anschließendem Seigerungsprozeß ge-
reinigte und nur noch etwa i,3"/ü Blei, 0,2% Eisen
und etwas Kadmium enthaltende „Raffinade-
zink" und
3. das „Feinzink" ein weiter gereinigtes Produkt
von 99,7 bis 99,9"/,, Reingehalt.
Praktisch kommt jedoch nur das Raffinadezink
in Betracht, denn das Feinzink scheidet wegen
seines zu hohen Preises und das Hüttenzink des-
wegen aus, weil es insbesondere infolge seines
hohen Bleigehaltes, der dem Zink, soweit es über
1,3% hinausgeht, nur mechanisch beigemengt,
aber nicht in ihm homogen gelöst ist, leicht zur
Entstehung von inhomogenem Material neigt. Das
gewöhnliche Raffinadezink ist ein ziemlich grob-
kristallinisches, sprödes Material, dessen Zerreiß-
kg
fertigkeit den sehr niedrigen Wert von 2 — 3
^ & j qmm
und dessen Härte (nach Shore) den ebenfalls nur
niedrigen Wert 13 hat. Es entspricht demnach
nicht einmal den bescheidenen Ansprüchen , die
man auch nur an untergeordnete Konstruktions-
materialien zu stellen hat.
Zum Zweck der chemischen Veredelung hat
Schulz dem Raffinadezink Blei, Eisen, Zinn,
Aluminium und Kupfer, und zwar, da das Material
entsprechend dem erstrebten Ziel in chemischer
Hinsicht noch „Zink" sein soll, im Höchstbetrage
von insgesamt io"„ zugesetzt. Von diesem
Metall übte jedoch nur das Aluminium und vor
allem das Kupfer einen wesentlichen Einfluß aus.
So betrug, um nur ein Beispiel anzuführen, die
Festigkeit eines 3 — 4"/^ Kupfer enthaltenden
Raffinadezinks i 3 — ^ , und seine Härte entsprach
qmm
dem Werte 24—27. Auch bei der metallo-
graphischen Untersuchung tritt die Verbesserung
des Materials hervor: es ist nicht mehr, wie das
Zink selbst, grob, sondern sehr fein kristallin. Die
allerbesten Ergebnisse aber wurden durch den
gleichzeitigen Zusatz von 6 "/(, Kupfer und 3 "/„
Aluminium zum Raffinadezink erhalten; diese
kg
Legierung besitzt eine Festigkeit von l{
die Härte 38 und eine Biegefestigkeit von 2
qmm
kg
qmm
und weist auch gute Allgemeineigenfchaften auf,
denn sie gibt bei sorgfältiger Arbeit einen guten,
von Hohlräumen freien, feinkörnigen Guß. In
dieser Legierung „steht demnach ein Material zur
Verfügung, das, wenn auch nicht als Konstruktions-
material zu bezeichnen, so doch ein gutes, für
mancherlei Zwecke brauchbares Gußmaterial dar-
stellt, das ebenso wie das Gußeisen neben dem
Stahl für gewisse Verwendungszwecke neben
Messing und anderen hochwertigen Legierungen
sehr wohl bestehen kann".
Einen noch größeren Fortschritt in der Ver-
edelung des Zinks als auf chemischem Wege hat
Schulz auf physikalischem Wege erzielt. Daß
das Zink durch mechanische Bearbeitung erheblich
gewinnt, ist bereits seit langem bekannt, wird
doch durch das — bei Temperaturen von 90''
bis 1 50" C vorgenommene — Walzen des Raffinade-
oder Feinzinkes zu Blech ein ziemlich zähes
kg
Material von 19 — 25 — ^ Festigkeit erhalten.
^ ^ qmm ^
So erscheint es begreiflich, daß auch die An-
wendung des Walzprozesses zur Herstellung von
Stangenzink ein wertvolles Material von erheb-
licher Zähigkeit und beträchtlicher Festigkeit und
Härte zu liefern vermag. Auch ein dem Dirkschen
Preßverfahren zur Herstellung von Preßzink nach-
gebildetes Verfahren — Herauspressen des Zinks
mittels eines Stempels aus einer Lochmatrize — hat
bei Innehaltung geeigneter Versuchsbedingungen
zu einem ziemlich harten und nicht zähen Materini
kg
von 17 Festigkeit geführt. Eis wird bei
diesem Preßverfahren — das ist das Interessante —
die kristallinische Struktur des Ausgangsmateriales
vollkommen zerstört: Beim Herauspressen des
Zinks aus der Düse werden die Kristalle des
Ausgangsmaterials zertrümmert, und man erhält
ein Produkt von sehr feinem Korn.
Daß die gleichzeitige Anwendung des chemi-
schen und des physikalischen Veredelungsver-
fahrens besonders hochwertige Produkte liefern
wird, ist zu erwarten, und in der Tat haben denn
auch schon die wenigen bisher in dieser Richtung
angestellten Versuche zu recht befriedigenden
Ergebnissen geführt, (öx.) Mg.
Botanik. Die Reismelde als deutsche Getreide-
pflanze. Von Änbauversuchen mit einer Art der
Chenopodiazeen oder Gänsefußgewächse berichtet
Dr. M a X I ß 1 e i b (Magdeburg) in der Illustrierten
N. F. XVI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Landwirtschaftlichen Zeitung, 36. Jahrgang, Nr. 88,
vom I. Nov. 1916 und Dr. Ströse in den der
Deutschen Jägerzeitung regelmäßig beigegebenen
„Mitteilungen des Instituts für Jagdkunde, Neu-
damm" vom 26. Nov. 1916. Es handelt sich um
die sogenannte R e i s m e 1 d e oder den chilenischen
Gänsefuß, Chenopodium Quinoa, die gewöhnlich
für eine der häufigen Melde, Chenopodium album,
nahestehende Art gilt, wahrend Ißleib in ihr nur
eine Kuhurform dieses Unkrauts sieht, die wir
den alten Inkas verdanken. Die gleich unserer
Melde bis über mannshoch werdende Pflanze wird
in Mexiko und fast allen Provinzen Südamerikas
angebaut, gedeiht in Peru und Chile bis zu 4000 m
Höhe über dem Meere hinauf, also weit über die
Getreidegrenze, und gilt dort allgemein für ebenso
nützlich wie Kartoffeln, Getreide und Mais. Sie
liefert mit ihren Blättern ein spinatartiges Gemüse,
dem nach Ströse der scharfe Geschmack unseres
Spinats fehlen soll — bekanntlich gehört auch
unser Spinat nebst dem Mangold und der Zucker-
rübe zu den Chenopodiazeen — und nützt vor
allem durch ihre reichlichen Samen, die, mit
Wasser oder Milch gekocht oder zu Mehl ver-
arbeitet und dann gebacken oder als Brei genossen,
ein tägliches Nahrungsmittel bilden. Der Nähr-
wert des Samens ist höher als der allen Getreides
und des Reises und des Maises und nähert sich
dem der Hülsenfrüchte mit 22,87 v. H. Stickstoff-
substanzen, 46,10 v. H. Stärkemehl, 6,10 v. H.
Zucker, 4,81 v. H. Fett und 433 v. H. Asche in
der Trockensubstanz nebst geringen Mengen von
Gummi, Holzfasergehalt und sonstigen Extraktiv-
stoffen. Warburg spricht sich in seiner
„Pflanzenwelt" dahin aus, es sei erstaunlich, daß
man Kulturversuche mit dieser Pflanze in nordischen
und alpinen Gegenden Europas, wo Getreide nicht
mehr gedeiht, noch nicht begonnen habe.
Ißleib, dem die Pflanze und ihr ungewöhnlich
reicher Samengehalt aus deutschen botanischen
Gärten bekannt war, gelang es, nach Einziehung
von Erkundigungen beim Hamburger Institut für
angewandte Botanik und bei den Gärtnereien
Dippe in Quedlinburg und Haage und Schmidt
in Erfurt, im Frühjahr IQ\6 etwa 1000 deutsche
Gärtner, Landwirte und Jäger vorzugsweise in und
bei Magdeburg, aber auch im übrigen Deutschland
und in Österreich für die Rei>melde zu interessieren
und konnte bereits im August über die Erfolge
der Aussaat berichien, die nur in verschwindend
wenigen F"ällen unbefriedigend waren, wohl infolge
ungeeigneter Behandlung des Samens, seine zu
tiefe Einbringung in die Erde. Da die Pflanze
etwas salzliebend ist, haben fast alle deutschen
Kaliwerke Versuche in der Nähe von Salzhalden
angestellt. Viel Interesse findet die Reismelde
bei der Jägerwelt, die sich nebenbei von ihr auch
ein geeignetes Wilddeckungs- und Äsungsgewächs
mit Recht versprechen dürfte. Ißleib hält die
Pflanze für sonnenliebend; nachStröse's Versuch
im Garten des Instituts für Jagdkunde, Abt.
Berlin - Zehlendorf, macht sie weder an Be-
sonnung noch an die Bodenbeschaffenheit, wofern
der Nährstoffgehalt nicht zu gering jst, allzu hohe
Ansprüche, und ist dabei hart gegen Maifröste.
Der Same mag auch als Geflügelfutter nützlich
verwendbar sem, namentlich wegen seines Stick-
stoffgehaltes auf die Eiererzeugung bei Hühnern
vorteilhaft wirken, und das getrocknete Kraut
kann noch als Viehfutter dienen. Zur Aussaat
darf der Same höchstens einen Millimeter tief mit
Erde bedeckt sein. Ein Quadratmeter Boden
vermag nach Ströse 16 Pflanzen und auf ihnen
860 g Samen zu tragen.
Ißleib, der weiterhin für die Sache wirbt
und Samen zur Aussaat in kleinen Mengen abgibt,
hofft, daß in einigen Jahren sich die Mehrzahl
der Gartenbesitzer im Meldenreis einen viel nahr-
hafteren Ersatz für den Reis selbst heranziehen
können wird. Ströse schließt sich der Meinung
Ißleib's an, es sei nicht ausgeschlossen, daß die
Reismelde dereinst eine unserer nützlichsten
Kulturpflanzen werden wird. Sie soll dazu bei-
tragen, die Aushungerungspläne unserer Gegner
zu nirhte zu machen und Deutschlands Produktion
zu erhöhen, um das Land für immer unabhängiger
vom Auslande zu machen. V. F"ranz.
Neue Wege der pflanzlichen Systematik.
In der ersten Wintersitzung der Züricher bo-
tanischen Gesellschaft sprach Herr Privatdozent
Dr. Thellung über „Einstige und heutige Wege
der botanischen Systematik, erläutert am Beispiel
der Getreidearten". Vielfach herrscht auch in
gelehrten Kreisen die durchaus falsche Ansicht,
die Systematik sei eine mehr oder weniger ab-
geschlossene Wissenschaft und es gebe da nicht
viel Neues zu tun. Die Arbeit bestehe in der
Hauptsache darin, neuentdeckte Pflanzenformen
in die entsprechende Abteilung des fertigen
Systems, gleichsam in die richtige Schublade,
einzureihen. Tatsächlich war das früher der Fall,
nämlich so lange, als die Aufgabe der Systematik
fast einzig darin bestand , eine gewisse Ordnung
in die Überfülle der pflanzlichen Formen zu bringen.
Allein die heutige Systematik verfolgt neue,
höhere Ziele. Sie strebt darnach, die Pflanzen
nach ihrer wirklichen Verwandtschaft, nicht in
erster Linie nach ihrer äußeren Ähnlichkeit zu
gruppieren. Ihr Ziel ist — im Zeitalter des Ent-
wicklungsgedankens — ein phylogenetisches
System, also ein System, das erkennen läßt, wie
die verschiedenen Formen sich auseinander ent-
wickelt haben. So hoch das Ziel ist, so mannig-
faltig sind die Mittel, deren sich der Systematiker
bedient. Immer noch wendet man vor allem die
morphologische Methode an, die in der früheren
Systematik sozusagen ausschließlich benützt wurde,
aber daneben werden eine Reihe anderer Dis-
ziplinen zu Hilfe gezogen; so die Anatomie, dann
besonders die Entwicklungsgeschichte, die nament-
lich auf dem Gebiet der niederen Kryptogamen
schon zu sehr schönen Resultaten geführt hat.
82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
Man zieht ferner ökologisch-phänologische Ge-
sichtspunkte in Betracht und schenkt neuerdings
der geographischen Verbreitung der Arten ein-
gehende Aufmerksamkeit. Es ist das Verdienst
Richard von Wettstein'sin Wien, zuerst
das Studium des geographischen Areals in den
Dienst der Systematik gestellt zu haben. Wichtig
geworden ist sodann endlich in den letzten Jahren
die serologische Methode (s. Naturw. Wochenschr.
Bd. 31 S. 631), die uns Auskunft gibt über den
Grad der Verwandtschaft der Eiweißstoffe der
verschiedenen Arten. — Der Referent unternimmt
es nun im zweiten und Hauptteil des Vortrages,
die Anwendung dieser Methoden zu demonstrieren
am Beispiel der Getreidearten, einem seiner
speziellen Forschungsgebiete. Besonders instruktiv
sind die Verhältnisse beim Hafer, auf den hier
einzig kurz eingegangen werden soll. Die alten
Systematiker warfen die verschiedenen Arten bunt
durcheinander. Später wurden die Saathafer
einerseits einander nähergerückt, und die Wild-
hafer anderseits. Allein die neuern Untersuchungen
haben nun eben ergeben, daß die nahe Verwandt-
schaft der verschiedenen Saathafer nur eine
scheinbare ist: ihre Übereinstimmung beruht
nämlich auf Konvergenzerscheinungen, die die
Folge der Zucht, der Kultur sind. Den Saat-
hafern fehlen infolge der Domestikation die Ver-
breitungsmittel. Es stand also fest, daß die Saat-
hafer von den Wildhafern abzuleiten seien, und
es erwuchs nun die Aufgabe, zu zeigen, an
welchen Wildhafer jeder der drei bekannten
Saathafer anschließe. Das ist gelungen. Wir
wissen heute, daß die im extramediterranen
Gebiet kultivierte Avena sativa von A. fatua,
einer östlichen Steppenpflanze abstammt, während
die ^wei anderen Saathafer, die der Mittelmeer-
länder, von Wildhafern ihres Gebietes herzuleiten
sind. Gerade bezüglich der Hafer hat die An-
wendung der verschiedenen Methoden zu völlig
übereinstimmenden Resultaten geführt. Insbe-
sondere darf erwähnt werden, daß speziell die
serologischen Untersuchungen die Theorie aufs
glänzendste bestätigten. Das ist um so bemerkens-
werter, als Zade in Jena, dem wir diese sero-
logischen Arbeiten verdanken, vorher ein ent-
schiedener Gegner der Theorie war, somit den
Beweis für die Richtigkeit derselben zweifellos
ganz gegen seinen Willen erbracht hat. — Der
Redner sprach noch über die analogen Arbeiten
und Ergebnisse bezüglich des Weizens und der
Gerste, auf die einzutreten hier zu weit führen
würde. Ernst Kelhofer.
Geographie. Peary's Entdeckerlatein und
die amerikanischen Polarkarten. Daß Pcary den
Nordpol nicht erreicht hat, ja auch nicht einmal
bis in seine Nähe vorgedrungen ist, haben die
Amerikaner im Kongresse zugestanden, ohne davon
viel Aufhebens zu machen. Sie sind aber noch
viel weiter gegangen und haben eine Reihe von
früheren Angaben Peary's für falsch erklärt und
auf einer Reihe amtlicher Karten gestrichen.
Einer der eifrigsten Gegner Peary's ist ein Mit-
glied des Kongresses, der Vertreter Nord-Dakotas,
Henry T. Helgesen, dem Namen nach ein
Amerikaner skandinavischer Abkunft. Helgesen
hat unlängst im „American Magazine" ausgeführt,
was von Peary's Entdeckungen bisher als Ent-
deckerlatein erwiesen und daher auf den ameri-
kanischen Karten gestrichen worden ist. Im
wesentlichen handelt es sich um vier Erfindungen
Peary's über das Nordpolgebiet;
1. Auf seiner Forschungsreise 190I/02 ent-
deckte Peary den nach ihm benannten „Peary-
Kanal", die nördliche Begrenzung Grönlands.
Er behauptete, hiermit die Inselnatur Grönlands
nachgewiesen zu haben, die im Jahre 1882 die
G r e e 1 y - Expedition schon erkannt hatte. Fünf
Jahre später forschte in dieser Gegend M y 1 i u s -
Erichsen. Er fand an der Stelle des Peary-
Kanales kein Wasser; „ein wildreiches Hochland"
nimmt diese Gegend ein, wie im Jahre 1912
Knud Ras müssen feststellte. Infolge dieser
Angaben skandinavischer F"orscher von Weltruf
hat die amerikanische Marine (das Navy Depart-
ment) sowie der Küstenvermessungsdienst (Coast
Survey) den Peary- Kanal von allen Karten ge-
strichen.
2. Gleichfalls auf der P'orschungsreise 1901/02
entdeckte P e a ry am Ende seines Peary Kanales die
Ostgrönland-See. Dieses Polarmeer beginnt
nach seinen Kartenangaben unter 82'* 10' und liegt
zwischen 31" und 120" westlicher Länge. Auch
diese Angabe wurde durch Mylius-Erichsen
als falsch erkannt, und Mikkelsen's und
Rasmussen's Forschungen bestätigten dessen
Angaben. Infolgedessen ist P e a r y ' s Ostgrönland-
.See von den Regierungskarten gestrichen.
3. Im Jahre 1906 entdeckte Peary im Nord-
westen von Grant-Land ein großes Landgebiet,
das er als C r o c k e r - L a n d bezeichnete. Im Jahre
191 3 sandte das American Museum of Natural
History eine Forschungsreise zu Erforschung
dieses neuen Polarlandes aus. Sie ist vor kurzem
zurückgekehrt, und das Ergebnis ihrer Forschung
lautet, daß sich an der Stelle von Peary's
CrockerLand nichts findet, als Wasser. Von den
Regierungskarten hat man daher Crocker-Land
gestrichen.
Im Juli des Jahres 1898 sah Peary nach seiner
Angabe von der Höhe des Ellesmere-Land-Kaps
das „Jesup-Land". Es handelt sich dabei um
eine große, vor der Küste Grönlands gelegene
Insel, die Otto Sverdrup im Jahre 1900 ent-
deckt und als Axel-Heiberg-Land auf seinen
Karten verzeichnet hat. Erst 1907, in seinem
Buche „Nearest the Pole" trat Peary mit der
Behauptung hervor, er habe dieses Land zwei
Jahre vor Sverdrup gesehen. Diese Angabe
(Seite 202 der amerikanischen Ausgabe) steht im
Widerspruche mit einer anderen dieses Werkes.
N. F. XVI. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Ö3
Während Peary sich nämlich, wie er berichtet,
im Juli auf EUesmere-Land befand, verbrachte er
(Seite 296/297) die Zeit vom 4. Juli bis zum
13. August mit der Reise von New York nach
Kap York mit der Walroßjagd und dem Zu-
sammenbringen der Eingeborenen aus der Um-
gebung dieses Punktes, die an der Reise teil-
nahmen. Er war also nach eigener Angabe gleich-
zeitig an zwei Orten, die 500 km voneinander
entfernt liegen. Wäre er aber zu der fraglichen
Zeit auf Ellesmere Land gewesen, so hätte er sein
Jesup-Land nicht sehen können, denn es liegt
weiter südlich und auch weiter westlich, als er
angibt! Von den Karten der Regierung und
denen der National Geographical Society hat
man daher das Jesup-Land gestrichen und das
Axel-Heiberg-Land nach den Angaben Sverdrup's
statt dessen eingezeichnet. H. P.
In der physikalischen Gesellschaft zu Stockholm
(Sitzung von 11. XI. 1916) hielt der Staats-
meteorologe J. W. Sandström einen Vortrag
über die Hydrographie Neufundlands, in dem er
über die jüngsten Forschungen im Gebiete der
Neufundlandbank und deren Ergebnisse berichtete.
Seit dem Untergange der „Titanic" kreuzen dort
dauernd Beobachtungsfahrzeuge, die durch draht-
lose Telegraphie die Handelsschiffe vor Eisbergen
warnen sollen. Von Zeit zu Zeit führen sie auch
hydrographische Untersuchungen aus, und dabei
sind einige merkwürdige Beobachtungen über die
Wassertemperaturen gemacht worden. In 100 bis
150 Metern Tiefe findet sich nämlich eine starke
Wasserschicht, deren Temperatur unter Null liegt,
und um dieser P>age weiter nachgehen zu können,
berief die kanadische Regierung einen Fachmann,
den norwegischen Fischereidirektor Dr. Johan
Hjort aus Bergen, zur Leitung zweier zeitlich
getrennter hydrographischer Forschungsreisen im
Gebiete der Neufundlandbank und des ganzen
Lorenzgolfes, die im Frühjahr und im Sommer
vorigen Jahres durchgeführt wurden. Die
dynamische Bearbeitung der Beobachtungen hat
Sandström au<;geführt.
Das Meereswasser des Beobachtungsgebietes
ist sehr stabil geschichtet; das Oberflächenwasser
hat ein bedeutend geringeres spezifisches Gewicht
als das Wasser in der Tiefe. Hieraus folgen
einige eigentümliche Eigenschaften. So ist es
beispielsweise durch Wind nur schwer aufzustören,
denn das leichte Oberflächenwasser hat keine
Neigung, sich in die Tiefe drängen zu lassen, und
das schwerere Tiefenwasser neigt nicht dazu, an die
Oberfläche zu kommen. Mithin kommen nur
besondere, eingeschränkte Bewegungen vor, und
das Wasser macht den Eindruck „gallertartiger"
Konsistenz. Für die Neufundlandfischer ergibt
sich hierans eine eigentümliche Sturmwarnung.
Sobald das Wasser in einer gewis'Jen Richtung
strömt, wissen sie, daß aus der Richtung, in die
das Wasser strömt, ein Sturm im Anzüge ist;
Die Ursache dieser Sturmwarnung ist eine große
Unterwasserwelle, die in der Grenzschicht zwischen
zwei Wasserschichten von verschiedenem spezi-
fischen Gewicht entsteht und eine Folge des
herankommenden Sturmes ist. Das Oberflächen-
wasser muß über den Kamm dieser Welle hinweg
und strömt daher kräftig in der Richtung gegen
den aufkommenden Sturm.
Wegen der Erdumdrehung führt der Labrador-
strom eine Schraubenbewegung derart aus, daß
das Oberflächenwasser auf die Neufundlandküste
zutreibt, während das Bodenwasser umgekehrte
Stromrichtung hat. Da außerdem diese Meeres-
gegend sehr nebelreich ist, werden die Schiffe
aus ihrem Kurse getrieben und stranden. Wo
sich der warme, salzhaltige Golfstrom mit dem
kalten, weniger Salz enthaltenden Wasser des
Labradorstromes vermengt, entsteht ein Misch-
wasser, das ein höheres spezifisches Gewicht hat,
als beide Bestandteile. Das Mischwasser sinkt
daher in die Tiefe, und dies ist der Grund des
plötzlichen Verschwindens des Labradorstromes.
Aus dem Versinken des Labradorstromes folgt
eine starke Drift in dem Grenzgebiete der beiden
Meeresströmungen, und deren Folge ist, daß sich
die Eisberge im Grenzgebiete ansammeln. Aus
diesem Grunde finden sich die Eisberge teils hier,
teils an der Neufundlandküste, wohin die Erd-
umdrehung sie führt, aber im Labradorstrom
kommen sie selten oder gar nicht vor.
Die Bildung der eiskalten Mittelschicht läßt
sich durch einen einfachen Versuch nachahmen ;
man bringt in ein Gefäß erst warmes, salzreiches
Wasser, darüber gießt man warmes, weniger salz-
haltiges Wasser, und auf dieses legt man ein
Eisstück. Hierdurch wird das Wasser in der
nächsten Umgebung abgekühlt, so daß es dichter
wird und niedersinkt. Aber das kalte, nieder-
sinkende Wasser kann in das dichtere Bodenwasser
nicht eindringen, sondern breitet sich darüber aus.
Nun ist eine warme, salzreiche Bodenschicht vor-
handen, eine warme, weniger salzhaltige Oberflächen-
schicht, und dazwischen befindet sich eine eiskalte
Schicht, ganz wie bei dem Wasser der Neu-
fundlandbank. Bei der Neufundlandbank ist diese
für die Fischerei außerordentlich wichtige eiskalte
Mittelschicht eine P'olge der Eisschmelze während
des Frühjahrs. H. P.
Geologie. Das geologische Alter und die
Bildung des Laterits. In weiter Verbreitung
kommen zwischen den Wendekreisen rotgefärbte
Böden vor, die man bis vor ganz kurzer Zeit
unter dem heutigen Tropenklima entstanden
erklärte. Die Literatur über den Laterit und vor
allem über seine Entstehung ist groß. Unter
den neueren Autoren rechnet der russische
Bodenkundler K. Glinka ganz in Anlehnung an
F. V. Richthofen den Laterit zu den Böden
mit optimaler Befeuchtung und schreibt ihm die
Entstehung als Waldboden zu. Dieselbe Auf-
84
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
fassung vertreten auch Stremme und Lacroix.
Im Gegensatz dazu hat R. Lang zum ersten
Male gezeigt (vgl. Naturvv. Wochenschr. Nr. 21
S. 332 191 5), daß der Laterit auf Java nicht ein
heutiges Bodenprodukt ist, sondern unter dem der-
zeitigen regenreichen Tropenklima oberflächlich in
Braunerde übergeführt wurde. Eine Bestätigung
dieser Ansicht für weite Gebiete von Afrika
(Sudan, Nubien, Senegambien, Togo, Kamerun,
Ostafrika), Asien (Ostindien, Ceylon, Java, Celebes)
Australien mit Samoa und Karolinen, und Süd-
Amerika (Brasilien) sowie interessante Mit-
teilungen über das geologische Alter und die
Bildung des Laterits gibt Joh. Wal t her in einer
zusammenfassenden Studie in Petermann 's Mit-
teilungen 1916. In all diesen Gebieten wird der
Laterit von einer Braunerdedecke überlagert. Sehr
schön läßt sich dies an den meterhohen Boden-
profilen (Glaszylinder) aus Afrika, Australien und
Sudamerika der Bodensammlung des landw. In-
stituts der Universität Halle studieren.
Der Name Laterit stammt von A. Buchanan
welcher hierunter (1807) ziegelrote zur Herstellung
von Luftziegeln verwendete Verwitterungsmassen
der Malabarküste verstand und sie mit der Argilla
lapidea von W a 1 1 e r i u s verglich. Bei der späteren
geologischen Kartierung Indiens legte man mehr
Wert auf die braunrote harte Eisenkruste im
Hangenden als auf die weichen knetbaren Ziegel-
tone. In Deutschland hat man sich mehr für die
rote Farbe der Verwitterungsmassen entschieden.
Joh. Walther legt den Hauptwert auf den
geologischen Vorgang der Laterisation und spricht
von laterisierten Gesteinen, um die große Mannig-
faltigkeit der aus den verschiedenen Gesteinen
hervorgegangenen Massen einbegreifen zu können.
Der Laterit ist kein „Gestein", sondern eine „Ver-
witterungsdecke". Nach Joh. Walther handelt
es sich innerhalb der heutigen Tropen und der
ihnen benachbarten Klimazonen um eine einheit-
liche Lateritdecke, die nur einmal entstanden ist
(wahrscheinlich in der Diluvialzeit) und seither
der Denudation (Abtragung) unterliegt. In Ost-
indien wird der Laterit überlagert von den 25 m
mächtigen AUuvionen des Ganges, in Südindien
von 6 m Regur (humoser Boden), auf Java von
den 1500 m hohen Kegeln der rezenten Vulkane,
in Australien von bis 100 m hohen Dünensand-
steinen, im Sudan von 30 m mächtigen AUu-
vionen des Nil. In Westaustralien hat sich der
Helenafluß eine 70 m tiefe Rinne in die von di-
luvialen Bruchlinien zerschnittene Lateritdecke
geschaffen.
Mit dem Laterit identisch betrachtet J. W a 1 1 h e r
den oberitalienischen Ferretto; es sind das hoch-
rote eisenschüssige Böden, welche in einer
wechselnden Breite von 2 — 6 km vom Alpenrand
nach der Niederung ziehen. Der primäre Ferretto
liegt diskordant auf dem marinen Pliocän, erreicht
eine bis 80 m betragende Mächtigkeit (Mongrando)
und wird von einer 2 m mächtigen Oberschicht
von brauner Erde überlagert. Hier kann das
Alter sicher als m i 1 1 e 1 d i 1 u v i a 1 bestimmt
werden.
Die Bildung des Laterits vollzog sich unter
ganz bestimmten klimatischen Umständen. Eisen-
haltige, besonders eisenreiche kristallinischeSchiefer,
Tiefengesteine, Eruptivgesteine und deren Tuffe,
Konglomerate und Blocklehme, Glaukonitgesteine
werden laterisiert, wobei das Gestein von oben
nach unten durchwässert wird, Eisensalze und
Silikate gelöst werden, der Eisengehalt durch
intensive Verdunstung nach oben geschafft wird
und in einem gewissen Abstand von der Erd-
oberfläche (subterran) als konkretionäre Zone
oder als Eisenkruste abgeschieden wird. Über
dem erweichten Grundgebirge oder Muttergestein
folgt die Bleichzone, in welcher die Eisen-
verbindungen ausgelaugt sind, darüber durch
Übergänge mit roten Flecken die F'leckenzone
und darauf die meist rotgefärbte Oberzone mit
Bohnerzkörnern oder einer Eisenkruste. In Ost-
indien ist die Eisenkruste i — 2 m mächtig, die
darunter lagernden weichen Tone der Flecken-
und der Bleichzone etwa 30—50 m. Charakte-
ristisch für den Laterit ist die rote Farbe, die in
dem humiden Tropenklima zu oberst in Braunerde
übergeführt wird, während sie sich in den trockeneren
Halbwüsten erhält. Durch Abwehung (Deflation)
wird der Laterit umgelagert und als rotgefärbte
Sande und Letten in Sammelmulden mit oft
großer iMächtigkeit wieder auf zweiter Lagerstätte
angehäuft. Primärer Laterit entsteht jetzt nirgends.
Die Verteilung von Roterde und Laterit zeigt
völlige Unabhängigkeit vom heutigen Klima. Es
ist sehr wahrscheinlich, daß der oberitalienische
Ferretto sowie der primäre Laterit der ver-
schiedenen Erdteile durch einen gleichzeitigen
klimatischen Vorgang in der Diluvialzeit ent-
standen ist. Die Laterisierung wäre dann das
tropische Äquivalent der ariden Lößbildung, der
polaren Geschiebelehme und der fluvioglazialen
Ablagerungen. Da der Ferretto interglazial ist,
muß man die Laterisierung als einen interglazialen
Vorgang betrachten. Außer der diluvialen Late-
risierung unterscheidet Walt her noch eine
eocäne und eine unterpermische, welch letztere
sich auf sekundärer Lagerstätte durch Umlagerung
bis in die Keuperzeit erhalten hat.
Für die Entstehung des Laterits sind starke
Durchwässerung des Bodens und hohe Tempera-
turen, Eindringen des Regenwassers bis in große
Tiefen, eine lebhafte Aufwärtsbewegung der im
eisenreichen Grundgebirge entstandenen Lösungen,
Abdestillieren des lösenden Wassers und Aus-
fallen des gelösten Eisens in einer subterranen
Zone unterhalb der Erdoberfläche erforderlich.
V. Hohenstein, Halle a. S.
Geologie und Hygiene im Stellungskrieg.
Der augenbHckliche Weltkrieg hat die große
praktische Bedeutung der Geologie und be-
sonders der geologischen Bodenaufnahme er-
N. F. XVI. Nr. f.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
85
geben. Von ganz besonderem Werte ist die
Geologie und Hygiene des Wassers, worüber
Major W. Kranz, Straßburg, im Centralbl. f.
Mineralogie, Geologie und Paläontologie Nr. 1 1 u.
12 1916, sowie in einer gedruckten bisher nicht
veröffentlichten Fortsetzung lehrreiche Mitteilungen
macht, welche in einem „Abriß der Militärgeologie"
fortgesetzt werden sollen.
Die Gewinnung eines keimfreien, dabei schmack-
haften und bekömmlichen Trinkwassers ist sowohl
für die an den Ort gebundene Truppe im Stellungs-
krieg wie auch für die marschierende Truppe von
allergrößter Bedeutung. Die fahrbaren Trinkwasser-
bereiter sind den Armeeärzten unterstellt. Das
sicherste und altbewährteste Mittel, um verdächtiges
Wasser unschädlich zu machen, ist das Abkochen
desselben. Filter müssen sorgfällig und sachgemäß
behandelt werden. Die Reinigung des Wassers
allein durch chemische Mittel ist nicht sicher und
bleibt nur ein Notbehelf. Außer der grobsinn-
lichen Prüfung (Aussehen, Geruch) erlolgt die
chemische Trinkwasseruntersuchung durch den
Oberapotheker bei der Saniiätskompagnie und dem
Feldlazarett, die mikroskopisch -bakteriologische
durch den Hygieniker beim Korpsarzt. Alle Not-
behelfe sind im Stellungskrieg wie im Etappen-
und Besatzungsgebiet nicht notwendig; hier er-
schließen Geologie und Technik hygienisch ein-
wandfreies Trink- und Gebrauchswasser.
Zur Aufschließung von Grundwasser und zur
Beobachtung von Grundwasserströmungen dient
der Abessinierbrunnen oder abessinische
Brunnen. Er läßt sich allerdings nur bei genauer
Kenntnis des Untergrundes zweckmäßig anwenden,
andernfalls tritt häufig Versagen ein. Zwecklos
ist das Einrammen des Abessinierbrunnens in Ton
oder tonigen Mergel, schwierig oder unmöglich
in zähtonigen, felsigen und grobsteinigen Boden,
meist erfolglos in Trieb- oder Schwimmsand-
schichten wegen Versandens. Anwendbar ist er
nur bis zu einem Grundwasserspiegel von 7 m,
andernfalls wählt man besser eine Saug- und
Druckpumpe.
Brunnenbohrungen können nur in stark
durchlässigen Gesteinen und Böden (klüftiger
Kalkstein und Sandstein, Konglomerat, Kies, Sand)
oder in einem Wechsel solcher Schichten mit
wenig oder nicht durchlässigen Schichten empfohlen
werden. Artesisch gespanntes Wasser ist vielfach
erfolgreich erbohrt worden. Wenn irgend möglich,
soll das Wasser einer Kies- oder Grobsandschicht
entnommen werden. Vor Beginn von Bohrarbeiten
sind erfahrene Geologen zu Rate zu ziehen,
andernfalls wird in sehr vielen Fällen Zeit, Arbeits-
kraft und Gerät nutzlos verwendet. In den Jura-
Kreide- und Tertiärgebieten des besetzten Frank-
reich sucht man fast überall vergebens nach
Kiesschichten; sehr häufig liegt aber dort eine
wenig ergiebige wasserführende Schicht über
mächtigen Tonen. Tieferbohren bringt hier meist
keinen Erfolg. Zweckmäßig verbessert man des-
halb die Erschließung von Wasser durch Brunne n-
schachten, um dem Wasser möglichst große
Zuflußfläche zu verschaffen. Dies gilt ganz be-
sonders für wenig durchlässige Gesieine wie Mergel.
Bei spärlichem Zufluß werden gut vermauerte
Kessel- oder Schachtbrunnen angewendet,
deren Schachtsohle bei 0,9 — 1,5 m lichter Weite
etwa 3 — 5 m unter dem Grundwasserspiegel liegt.
Tagwasser darf keinesfalls Zutritt erhalten. Der
im Grundwasserniveau befindliche Teil des Brunnens
wird mit offenen Fugen oder mit Lochsteinen
vermauert bzw. mit gelochten Betonringen ver-
kleidet, um den Zutritt des Wassers zu ermög-
lichen. Die Schachtwände werden mit einer
Sickerpackung aus gewaschenen Steinen oder
Grobkies umgeben. Bei Anlage von Brunnen ist
die Nähe von Dung- und Abfallgruben , sowie
von .Sickergruben und sonstigen Schmutzwasser-
anlagen zu vermeiden. Vielfach müssen neue
Brunnen außerhalb der Dörfer angelegt werden.
Die zu wählenden Stellen hängen ganz von den
Bodenverhältnissen ab und müssen durch Geologen
angegeben werden. Im Stellungskrieg, Etappen-
und Besatzungsgebiet geht das ohne weiteres.
Das Wasser ist dem Kesselbrunnen durch eine
Pumpe zu entnehmen, welche mindestens 2 m
seitlich vom Brunnenschacht aufzustellen ist.
Oft'ene Zieh- und Schöpfbrunnen sind unzulässig.
Bei jeder Art von Quellfassungen sind wegen
Faulens Holzverkleidungen auszuschließen. Dauernd
unter Wasser befindliches Holz hält sich gut, nicht
aber solches in schwankendem Wasserspiegel.
Während der Brunnenarbeiten ist vom Führer
des Bautrupps alles für die Beurteilung der Boden-
und Grundvvasserverhälinisse Wichtige zu sammeln,
so vor allem von Bodenproben jeden halben Meter.
Die genaue geologische Beobachtung und Be-
ratung vor und während der Wassererschließungs-
arbeiten ist unerläßlich, zumal wirklich gute Fach-
leute des Brunnenbaues auf den ungeheuren Fronten
des Stellungskrieges nicht sehr häufig sind.
Von ganz besonderem Werte für die Hygiene
des Quell Wassers ist die Art der Fassung. In
stark zerklüfteten Bodenarten, wie in den Kalk-
und Kreideschichten des besetzten Frankreich,
kann das Quellwasser durch einen mehrere Kilo-
meter von der Quelle entfernten Herd verseucht
werden. Der Stellungskrieg mit seiner gewaltigen
Anhäufung von Menschen auf engem Räume
mahnt doppelt zur Vorsicht. Eine heute noch
hj'gienisch erscheinende Quelle kann morgen be-
reits durch Anbauten wie Aborte, Abfallgruben,
Beerdigungsstätten u. dgl. verseucht sein. Wichtig
ist auch die Kenntnis der Ergiebigkeit einer Quelle,
damit ihr Haushalt geregelt werden kann. Völliges
Leerpumpen darf nie eintreten. Zu jeder Tages-
und Jahreszeit muß die erforderliche Menge Wasser
zur Verfügung stehen. Schlüsse auf die Er-
giebigkeit lassen sich bei gleichen Niederschlags-
mengen aus ihrem geologischen Vorkommen
ziehen. Hochliegende Quellen mit kleinem Sammel-
gebiet werden wenig ergiebig sein und im Sommer
86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 6
versiegen, während tiefliegende mit großem
Sammelgebiet fortwährend fließen werden.
Aus alledem geht die mannigfaltige oft ver-
antwortungsvolle Tätigkeit der Kriegsgeologen
hervor, die schon vielfach segensreich für unsere
Truppen gewirkt haben, (g.c.)
V. Hohenstein.
Meteorologie. Guldberg und Mohn
stellten 1876 folgende Bewegungsgleichungen für
die Luft in der Nähe des Erdbodens auf:
dv,
dt
d^
dt
-I- ;i.vy — k-v^;
— A-Vx — k-Vj,.
Vi und Vy sind die Komponenten der Wind-
geschwindigkeit in den beiden auf einander senk-
rechten Richtungen x und y; p ist der Luftdruck,
a das spezifische Volumen der Luft; 1 = 2 10 -sm (p
stellt die Zentrifugalbeschleunigung dar und hängt
nur von der geogr. Breite (p und der Winkel-
geschwindigkeit w der Erde ab; k ist der
Reibungskuetfizient zwischen der Luft in Anemo-
meterhöhe und dem Erdboden. Die Gleichungen
setzen voraus, daß die Reibungskraft der Wind-
geschwindigkeit proportional und der Windrichtung
entgegengesetzt ist. Bei unbeschleunigter Be-
wegung muß ferner der Ablenkungswinkel des
Windes von der Normalen der Isobaren unabhängig
von der Windgeschwindigkeit und die Gra-
dientkraft ^) der letzteren proportional sein.
H. U. Sverdrup (Annalen der Hydrogr. 44,
413, 1916) hat nun daraufhin die Beziehungen
zwischen Druckgradient, Wind und Reibung an
der Erdobertläche an Hand des Beobachtungs-
materials der Wetterkarten für Nordamerika, den
Atlantischen Ozean und Europa einer Prüfung
unterzogen.
Die bei der atmosphärischen Zirkulation auf-
tretenden Beschleunigungen sind klein und fallen
bei der Mittelwertbildung fort, bzw. können sie
als Beobachtungsfehler angesetzt werden. Unter
Zuhilfenahme des Korrelationsfaktors ergab sich
aus den mit verhältnismäßig großen Fehlern be-
hafteten Werten des Druckgradienten, der Wind-
geschwindigkeit und des Winkels zwischen beiden,
daß letzterer von den beiden ersten unabhängig
ist; dabei wurde vorausgesetzt, daß die Beo-
bachtungsfehler sich auf alle drei Größen gleich-
mäßig verteilen. Unter der gleichen Annahme
ist im Mittel die Gradientkralt und ebenso die
Reibungskraft der Windgeschwindigkeit proportional
zu setzen. Nur für den atlantischen Ozean ergab
sich eine merkliche Abweichung. Diese ist jedoch
') Die Gradientkraft ist die Kraft, welche die Luft von
Arten höheren Druckes zu solchen niederen Druckes treibt.
Sie wirkt also in der Richtung des Druckgradienten, d. h.
senkrecht zu den Isobaren.
wahrscheinlich auf die besonders großen F'ehler
iit der Windbeobachiung auf dem Meere zurück-
zuführen. Ein wesentlicher Unterschied gegen-
über den Guldberg-Mohn'schen Voraus-
setzungen wurde jedoch bezüglich der Richtung
der Reibungskraft gefunden. Diese bildet nämlich
mit der Windrichtung einen konstanten Winkel,
der nur von der Lage der Station abhängt; er
ließ sich nicht in eine bestimmte Beziehung zur
Anemometerhöhe setzen. Verf stellt nun auf
Grund dieser f>gebnisse von neuem Bewegungs-
gleichungen für die Luftströmungen in der Nähe
des Erdbodens auf, die allerdings nur für einen
mittleren Zustand gelten, nicht aber ohne weiteres
auch für den Einzelfall, was aber für die theo-
retische Betrachtung genügt. Die Gleichungen
haben äußerlich dieselbe Form wie die oben an-
geführten von Guldberg und Mohn. Im zweiten
Glied der rechten Seile ist aber bei ihnen außer
der Ablenkung durch die Erdrotation auch ein
Teil der Reibungskraft enthalten, so daß auch das
letzte Glied nicht mehr die gesamte Verzögerung
durch die Reibung darstellt. Scholich.
Vorgeschichte. Vorgeschichtliche Astronomie
und Zeiteinteilung. Mächtige Sieinsetzungen in
England und der Bretagne überliefern uns die
Kunde von mathematischen und astronomischen
Kenntnissen eines auf hoher Kulturstufe stehenden
vorgeschichtlichen Volkes. Den Schlüssel zum
Verständnis ihrer Sprache haben uns der Astronom
Lockyerin seinem Werke „Stonehenge" (London
1906) und der Korvettenkapitän Devoir in
einer Abhandlung im Mannus Band 1 1909 gegeben.
In einer sehr lehrreichen Abhandlung behandelt
der Regierungslandmesser Stephan aus Posen
jetzt einige wichtige Steinkreise zu Obry im Kreise
Konitz in Westpreußen, und unternimmt dabei
den Versuch, diese Steinkreise gleichfalls für die
Astronomie zu verwerten („Vorgeschichtliche Stern-
kunde und Zeileinteilung", Mannus Vll, 1916.
S. 213 — 248). Es handelt sich um Steinkreise
von 16 — 29 Findlingsblöcken, die aus größeren
Blöcken abgespalten sind und 0,10—1,10 m über
den Erdboden hervorragen. Der Durchmesser
dieser Kreise ist sehr verschieden; doch scheint
eine bestimmte Maßeinheit vorzuliegen, die
Stephan auf 1,154 ™, also vier Fuß zu 28,85 cm
berechnet. Von diesen Steinkreisen scheint eine
zur Beobachtung des Mitsommer-, ein anderer
zur Beobachtung des Mitwintersonnenaufgangs
gedient zu haben; andere haben vielleicht zur
Avisierung eines Sternes gedient. Die hier in
Obry vorliegenden Richtungen würden einer
Deklination entsprechen, welche Arkturus um
350 V. Chr., Capeila dagegen ums Jahr 1760 v. Chr.
hatten. Da in den Sieinkreisen Steinzeitgrab-
funde beobachtet sind, scheidet die ersiere Zahl
ohne weiteres aus. Wenn die Voraussetzungen
richtig sind, hätten wir mit 1760 v. Chr. die un-
gefähre Entstehungszeit der Kreise und somit für
N. F. XVI. Nr. 6
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
87
Deutschland die erste absolute Datierung iür so
frühe Zeiten gefunden.
Eingehend behandelt Stephan dann die
Frage, welche Beziehung diese Steindenkmäler
zum Kalender haben, und kommt zu dem Er-
gebnis, daß sie sinnreiclie Kaiendarien darstellen.
Er errechnet dabei 18 Monate zu 20 Tagen; da
die indogermanische Woche fünf Tage hatte,
kämen damit auch wieder unsere „vier Wochen"
heraus.
Ob die Abhandlung immer auf richtigen Vor-
aussetzungen beruht, vermag ich als„Nichiastronom"
nicht festzustellen. Sie bietet jedenfalls zahlreiche
wertvolle Ausblicke für die Zukunft und sollte
deshalb von Fachkennern einmal eingehend ge-
prüft werden, andernteils aber auch die genaue
Aufnahme aller übrigen etwa noch vorhandenen
Denkmäler zur weiteren Diskussion der Frage
veranlassen. Hugo Mötefindt.
Bücherbesprechuugen.
Eduard Sue§, Erinnerungen. Leipzig 1916.
Hirzel.
Die Erinnerungen des bekannten Geologen
sind bei Hirzel in Leipzig erschienen. Sie gehen
bis zu seiner Kindheit zurück, die er in England,
wo er geboren ist, und in Prag verlebte. Mit
wunderbarer Treue schrieb er bis 1894 alles
auf, was sein so erinnerungsreiches Leben in
seinem politischen und wissenschaftlichen Arbeiten
ihm an Freuden und Enttäuschungen schenkte.
Vorher legte er alle seine Ämter nieder, seine
Professur in Wien, das Amt eines Präsidenten der
Akademie der Wissenschaften, seine Ämter als
Abgeordneter. Wir sehen ihn als Mitglied der
Studentenlegion im Jahre 1848 um die Verfassung
kämpfen, sehen ihn in Karlsbad seine ersten geo-
logischen Studien treiben, die er in einem geo-
gnostischen Beitrag zu einem Führer für die
Kurgäste — seine erste geologische Veröffent-
lichung — niederlegt. Prags Museumsschätze,
seine Umgebung lassen ihn Graptolithenstudien
treiben, die 1851 in Hai d inger's Abhandlungen
erschienen. Sein Vater, der eine Fabrik in Wien
übernehmen mußte, hätte ihn gern als Schüler
des Wiener Polytechnikums später als Leiter seines
Betriebes gesehen. Aber Su eß steuerte der geo-
logischen Wissenschaft zu. Grundlos verhaftete
man ihn 1850, mußte ihn ebenso schuMlos wieder
freigeben. Am Reichsmuseum in Wien ordnet
er die fossilen Brachiopoden, wird Extraordinarius
für Geologie an der Wiener Universität. Nun
beginnt ein Leben der Arbeit, ganz seiner geliebten
Geologie gewidmet. Auf Reisen nach Berlin,
London, Paris knüpft er den Verkehr mit den
Größen damaliger geologischer Wissenschaft an.
Seine unzähligen Beobachtungen häufen sich,
drängen ihn, sie zu einem Werke großzügigster
Art zusammenzufassen, seinem „Antlitz der Erde".
Aus 3 Teilen, die er mit dem Verleger vereinbart,
wurden 4 dicke Bände. Die besten Jahre seines
Lebens sind dem Lebenswerk gewidmet. Daneben
findet er immer noch Zeit, seine arbeitreichen
politischen Ämter zu besorgen und voll und ganz
auszufüllen, seine Reisen mit den wichtigsten
Erfahrungen auszufüllen, die seinem Lebenswerke,
dem „Antlitz der Erde" galten. Dieses klassische
Werk moderner Geologie hat seinem Namen Un-
sterblichkeit in der geologischen Wissenschaft
verliehen. Alle modernen Anschauungen über
Gebirgsbau sind darin niedergelegt. Seine Ver-
dienste um die Stadt Wien erkannte man an,
indem man ihn zum Ehrenbürger erwählte. Er
schenkte der Stadt Wien die großartige Wasser-
leitung, durch die sie aus den Alpen mit frischem
Gebirgswasser versorgte. Keine andere Stadt
wird durch eine solche großartig angelegte
Wasserleitung versorgt wie Wien, die nach den
neusten geologischen Forschungen erbaut worden
ist. Was sie gesundheitlich den Bewohnern Wiens
geworden ist, das sprechen die Statistiken. Ein
gleich gesundheitlich wertvolles Werk war die
Verlegung des Donaubeties durch einen Durch-
stich, zu dem er wertvolle Anregungen und Hin-
weise bei der Reise zu den Suezkanaleröffnungs-
feierlichkeiten, zu denen er als Vertreter geschickt
wurde, sammelte. So schenkte er Wien zwei
Werke von ewigem Wert. Staunenswert ist es,
wie er bei all diesen zeitraubenden Arbeiten
immer noch Zeit fand, seinen politischen Ämtern
voll und ganz nachzugehen. Was er als Mitglied
der Studentenlegion gewesen war, ein Kämpfer
der Freiheit, ist er bis zu seinem hohen Alter
geblieben.
Seine Erinnerungen sind ein Buch, darin ein
Großer seine Lebensanschauung bekennt, darin
von Arbeitsfreudigkeit und verdientem Lohn ge-
schrieben ist, die wertvoll sind für alle Zeiten.
Rudolf Hundt.
Möbius-Kobold, Astronomie. II. Teil, Kometen,
Meteore und das Sternsystem. Sammlung
Göschen 529, 128 S. mit 15 F"ig. und 2 Stern-
karten. Leipzig 1916. — Preis geb. 0,90 M.
Der bekannte Herausgeber der Astronomischen
Nachrichten gibt hier auf den ersten 37 Seiten
das wesentliche unserer heutigen Anschauungen
über Kometen und Meteore wieder, ihr Äußeres,
Bewegung und Bahn. Bei der Besprechung der
bekanntesten Kometen, darunter der Halleysche
und seine Erscheinung 1910, sind die Einflüsse
der großen Planeten sehr klar dargestellt, und
eine Zeichnung macht den Begriff der Kometen-
familie des Jupiter unmittelbar klar, die aus
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. I<. XVI. Nr. 6
15 Glieder» besteht. Der andere Teil des Buches
ist den Fixsternen gewidmet, besonders dem Ge-
biete, auf dem der Verfasser selbst wertvolle
Arbeiten geliefert hat, betreffend den Bau des
Weltsystems und die Verteilung der Sterne. Wir
finden hier die neuen Ergebnisse von Kapteyn,
Seeliger, Schwarzschild, Kobold und
anderen zusammengestellt, und die merkwürdigen
Zusammenhänge zwischen Eigenbewegungen,
Parallaxen und Spektraltypen der Sterne, also die
Probleme, an deren Erweiterung und Vertiefung
die heutige Astronomie arbeitet. Die Erörterungen
über die Kosmogonie zeigen, daß der Autor der
Nebularhypothese huldigt, ja sogar die La place -
sehe Anschauung für gesichert erklärt. Vielleicht
dürfte die nächste Auflage auch die zum Teil
vernichtende Kritik an dieser Hypothese bringen,
sowie die Gedankengänge der entgegenstehenden
Anschauungen von Multon, Lockyer, See
und Hörbiger, die der Nebularhypothese sicher
gleichwertig sind. Riem.
Anregungen und Antworten.
Bewußtsein im Traum.
ersten Tagen eines vier-
1 im Fieber. Des Nachts
iber schlummerte ich viel.
wöchentlichen Krankenbettes lag i
schlief ich schlecht und des Tages
Dieser Schlummer war nun, wahrscheinlich durch die Geräusche
und den Lärm sowohl im Hause als in der Umgebung, bis-
weilen ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Ich
träumte dann wirklich, aber ich wußte es, und ich hatte meine
Freude daran, lächelte selbst dabei. — Verschiedene Träume
waren es natürlich, und ich nahm mir vor, sie im Gedächtnis
zu behalten, aber nach einigen Tagen, als das Fieber vorüber
war, hatte ich die meisten schon wieder vergessen. Nur einer
ist hängen geblieben, und diesen will ich erzählen, weil ich
dabei noch eine andere Beobachtung machte. — Ich träumte,
einer meiner Schüler zeigte mir sein Skizzenbuch, worein er
Tiere und Pflanzen und Teile derselben mit Tinte eingezeichnet
hatte. Es war ein liegend-längliches Buch, war also breiter
als lang (hoch); die Blätter waren gelblichbiaun, aber dabei
durchscheinend, so daß ich durch zwei, drei Blätter hindurch
die Figuren, obwohl etwas undeutlich, sehen konnte. Als ich
die Abbildungen eines Blattes durchmustert hatte, schlug ich
das Blatt um, bis ich endlich die Hinterdecke des Zeichen-
buchs zuklappte. — Nun, bei jedem Umschlagen eines Blattes
und endlich der Hinterdecke machte ich mit der rechten Hand
die Bewegung des Umschlagens, aber nur schwach und nur
im Handgelenke. Und ich erinnerte mich dabei sofort, daß
ich vor etwa dreißig Jahren einen kleinen Hund hatte, der,
wenn er in seinem Korbe schlief und träumte, leise „wuf-wuf"
bellte und dabei mit allen Vieren Laufbewegungen machte,
aber nur in den Pfotengelenken. Ich fand es außerordentlich
drollig, daß ich nun ,,im Schlafe" dieselben Bewegungen
machte!
Nach fast vollständiger Genesung wurde ich wieder vom
Fieber ergriffen, und wieder nahm ich bei mir dieselbe Er-
scheinung war; aber nun traf ich Maßnahmen, um die Träume
nicht zu vergessen. Sobald ich erwachte, notierte ich sie
in meinem Notizbuche, das neben mir lag, um die F'ieber-
temperaturen zu notieren. So bin ich imstande, noch drei
Beobachtungen hinzuzufügen. — Jeden Monat kommt der
Türhüter zu mir mit zwei „Zahlungsanweisungen", welche ich
zu unterzeichnen habe, worauf mir vom Gemeinde-Einnehmer
mein Honorar ausbezahlt wird. Nun träumte ich, daß ich die
Unterschriften vollzog, und beobachtete bei mir selbst, daß
ich den Daumen und zwei Finger meiner rechten Hand streckte
und zum Griff des Federhalters zusammenbrachte. — Während
meiner Krankheit brachte meine Frau mir jeden Tag eine
Fleischsuppe. Ich träumte einmal, daß dies geschah, und
nahm bei mir selbst wahr, daß ich die Lippen dem geiräumten
Löffel dillenförmig nach vorn streckte. — In einem Traume
spazierte ich auf der Straße und nickte Jemandem zu. Wirk-
lich machte ich eine kurze Kopfbewegung.
Arnhem (Niederland). A. C. Oudemans.
Literatur.
Timerding, H. E , Die Aufgaben der Sexualpädagogik.
Leipzig u. Berlin '16, B. G. Teubner. — o,So M.
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systematische Darstellung der Grundlagen sowie der allge-
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der allgemeinen Physiologie. I. Teil: Allgemeine Charakte-
ristik des Lebens. Physikalische und chemische Beschaffenheit
der lebenden Substanz. Mit 12 Textabbildungen. Berlin '16,
J. Springer, — 10 M.
Inhalta Jaroslav
Methode. S. 7-
Kupfers. S. 78-
deutsche Getrei
zenecky, Versuch einer methodischen Bestimmung
Einzelberichte: Eugen Posnjak, E. T. Allen 1
H. Schulz, Die Veredelung des Zinks. S. 79. Ma:
spflanze. S. 80. TheUung, Neue Wege der pflanzliche
~ ' " " " W. Sands
es Inzuchtsgrades mittels mathematischer
I H. E. Merwin, Über die Sulfide des
ßleib und St rose. Die Keißmelde als
Systematik. S. 81. Helgesen, Peary's
Enldeckerlatein und die amerikanischen Polarkarten. S. 82. J. W. San d s t r ö m , Hydrographie Neufundlands. S. 83.
J. Walther, Das geologische Alter und die Bildung des Laterits. S. 83. W. Kranz, Geologie und Hygiene im
Stellungskrieg. S. 84. H. U. Sverdrup, Druckgradient, Wind und Reibung an der Erdoberfläche. S. 86. Stephan,
Vorgeschichtliche Astronomie und Zeiteinteilung. S. 86. — Bücherbesprechungen: Eduard Süß, Erinnerungen. S. 87.
Möbius-Kobold, Astronomie. S. 87. — Anregungen und Antworten: Bewußtsein im Traum. S. 88. — Literatur:
Liste. S. 88.
Manuskripte und Zus
iriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbe
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
G. P.ätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
■ ganzen Reihe 32. Band.
Sonntag, den 18. Februar 1917.
Nummer 7.
Scheinwaffen im Tierreiche.
[Nachdruck verboten.] Mit 2 Abbildu
Im jetzigen Weltkriege hat man oft genug von
Scheingescliützen und -mörsern gehört, die, aus
Blechröhren oder hölzernen Tonnen bestehend,
dem Feinde eine bedrohliche Armierung eines
kleinen Teiles unserer Stellungen vortäuschen.
Von nichts Derartigem soll hier die Rede sein.
Die Waffen, die ich im Sinne habe und die ihrem
Träger ein überaus stattliches und wehrhaftes
Aussehen verleihen, werden, soviel wir wissen,
niemals gebraucht, wie man schon daraus ersieht,
daß sie kaum je Spuren einer Abnutzung zeigen
oder gar abgebrochen oder verbogen sind; ja es
ist sehr die Frage, ob in diesen Fällen in dem
Besitzer solcher Waffen jenes gesteigerte Kraft-
gefühl vorhanden ist, das wir dem männlichen
Hirsch, dem wilden Büffel, vielleicht sogar dem
Hirschkäfermännchen sicherlich mit Recht zu-
schreiben. Es sind diese Waffen demnach nicht
einmal dem Galantcriedegen zu vergleichen, der
dem Staatsbeamten an der Seite hängt, aber, ob-
gleich kaum jemals gebraucht, doch das Selbst-
vertrauen des Trägers mächtig erhöht, weil er
sich des Waffenbesitzes wenigstens bewußt ist.
Die Waffen, von denen ich hier reden will, sind
ausschließlich in der Form von Hörnern entwickelt,
die sich entweder an der Schnauzenspitze oder
an den Augenbrauen, bzw. (bei Käfern) am
Vorderrande des Halsschildes befinden. Derartige
Hörner kennen wir namentlich von zahlreichen
Arten von Chamäleons von Afrika und Madagaskar;
und zwar sind es entweder seitlich plattgedrückte
[CIiamaiicDii hifiJ/is, fiscJ/cn', zvillsii. iiiiiior), oder
scharf dreikantige (67/. favcfcnsis) paarige Hörner,
die auf der Schnauzenspitze nebeneinander stehen
und mit Schuppen bedeckt sind oder ein einziges,
gegabeltes Hörn , gleichfalls beschuppt imd auf
der Schnauzenspitze {Ch. ///reifer) oder ein un-
paares, ynesserartiges Hörn von gleicher Beschaffen-
heit an derselben Stelle ( C/i. rI/i)/oeeraf//s^ xciio-
rl/i>///s fej/i//s u. a.). Außerdem aber gibt es
zahlreiche Chamäleon- Arten mit lang kegelförmigen,
geringelten Hörnern ; entweder zwei nebeneinander
auf der Schnauzenspitze (67/. 11/01/ fi//iii) oder
außen davon noch je ein kleineres Hörn {Ch.
q//adr/.cor///s) oder ein langes Schnauzen- und je
ein langes, wie dieses nach vorn gerichtetes
Augenbrauenhorn (das westafrikanische Ch. owci/i
und fast ein halbes Dutzend Ostafrikaner (67/.
eleremei/s/s, jackso////', joh//sto//i/, ivenieri usw.).
Bei allen diesen und noch weiteren gehörnten
Chamäleons ist nur das Männchen mit diesem
martialischen Schmuck versehen und nur bei einer
einzigen Art oder Unterart, Cl/. ii/nfsehief besitzt
auch das Weibchen ein Paar beschuppter Schnauzen-
hörner, die allerdings meist kleiner sind, als beim
Männchen.
Man kann nun denken, daß, wie bei anderen
Tieren, die einen solchen Kopfschmuck besitzen,
bei Hirschen, Rindern, Schafen, Ziegen, Antilopen,
Kopf von Chama,lioii /lijhliis fMannchen) (Madagaskar).
([>eutsch-i l5tafrika).
d-ie Männchen Kämpfe um den Besitz der Weib-
chen zu bestehen haben, wobei ihtien die Hörner
gute Dienste leisten. Aber niemand hat noch
zwei männliche Hornchamäleons in dieser Weise
kämpfen gesehen und an den zahlreichen Exem-
plaren, die mir durch die Hände gegangen sind.
90
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 7
habe ich fast niemals (^nur an Ch. pardalis, aber
an Exemplaren, die sich in Gefangenbcnaft bei
Fluchtversuchen die Hörner wundgescheuert hatten)
Verletzungen der Hörner beobachtet, wohl aber
Verkrümmungen, die sich gerade durch den
Nichtgebrauch erklären lassen, auch an den Krallen
und Hufen verschiedener in Gefangenschaft ge-
haltener Säugetiere und an den Nagezähnen von
Nagern, denen die Antagonisten dieser Zähne
verloren gegangen sind, sowie an den zurück-
gebogenen Eckzälinen des Hirschebers {Porciis
ßabinissa) in Erscheinung treten.
Aber auch als Abwehrvorrichtungen gegen
einen Feind dürlten sie kaum anzusehen sein.
Freihch habe ich niemals ein erwachsenes männ-
liches Hornchamäleon im Magen einer Baum-
schlange, eines der schlimmsten Feinde der
Chamäleons überhaupt, gefunden; aber auch noch
kein Weibchen derselben Arten; ich zweifle nicht,
daß in Gegenden, wo solche häuhg sind, beide
Geschlechter von den Schlangen gefressen werden,
da bei der gewaltigen Ausdehnbarkeit des Rachens
dieser Schlangen solche Hörner, auch wenn sie
nach vorn divergieren, kein wesentliches Hindernis
vorstellen. Raubvögel, die sich an Chamäleons
auch öfters vergreifen, werden aber dieser ziemlich
unbehilflichen Tiere sehr leicht Herr, gleich-
gültig, ob sie Hörner haben oder nicht. Ganz das-
selbe gilt auch von den gehörnten mittelamerika-
nischen Krötenechsen (jPhryuosoina) und dem
Moloch Australiens, die gegen Schlangen und
Raubvögel im gleichen MaÖe wehrlos sind. Wir
können also in den Hörnern der Chamäleons nur
einen Schmuck erblicken, durch hypertrophisches
Wachstum entstandene Gebilde, wie wir sie in
den eigentlich tropischen Teilen von Afrika auch
in anderen Tiergruppen antreffen (blattartige Er-
weiterungen an den Beinen bei Gottesanbeterinnen
und Gespenstheuschrecken). In den trocken-
heißen Regionen Afrikas, in Nord- und Südatrika
fehlen Hornchamäleons vollständig, alle Arten
dieser Länder sind in beiden Geschlechten hornlos.
Eine andere Gruppe von gehörnten Tieren
ohne erkennbare Offensiv- oder Defensivbedeuiung
sind die Koffei fische {Osiracion) der tropischen
Meere. Diese kantigen Tiere, an denen außeJ
den Flossen und dem langen, kräftigen Stiel der
großen Schwanzflosse nichts beweglich ist, nicht
einmal der Kiemendeckel, so daß die Brustflosse
die Aufgabe hat, die Bewegung des Atemwassers
zu vermitteln, lassen ebenso wie die Chamäleons
verschiedene Grade der Hörnerbildung erkennen;
es gibt ganz hornlose Arten {O. culncus, scbac,
fimctatns) und solche mit sehr langen, nach vorne
gerichteten Augenbrauenhörnern (ö. diapliaiiiis).
Hier sind die Hörner in beiden Geschlechtern
entwickelt, aber wir wissen über ihre Bedeutung
nichts, können aber aus ihrer steten Unversehrtheit
entnehmen, daß sie als Waffen gleichfalls nicht in
Betracht kommen. Kofferfische sind in europäischen
Museen nichts weniger als selten, Verletzungen
der Hörner oder aber solche des Panzers, die
durch diese entstanden sein könnten, sind mir
aber niemals zu Gesicht gekommen. Jedenfalls
werden Koff'erfische von anderen Fischen ihres
harten Panzers wegen überhaupt nicht gefressen,
ob mit oder ohne Hörner.
Eine dritte Kategorie horntragender Tiere sind
die Insekten, von denen namentlich Käfer, aber
auch Heuschrecken und Cicaden und vereinzelte
Vertreter anderer Ordnungen sich durch oft an-
sehnliche Hörnerbildungen auszeichnen. Unter
den Käfern sind es namentlich die Blatthörner
{Laiiiiiliconiicr) die in dieser Beziehung excellieren
und das mächiige Kopf hörn des männlichen Nas-
horn-Käfers [Orycii's nasicontis) und Mondhorn-
käfers {Copris luiiaris) ist allgemein bekannt, nicht
minder auch die ungeheuren Hörner tropischer
Arten, die teils auf der Oberseite des Kopfes
stehen und entweder gerade oder gekrümmt nach
aufwärts gerichtet sind, oder nach vorne, oder
schließlich z. B. bei dem bei uns vorkommenden
kleinen Mistkäfer {Oiif/iophaoiis fa/tnis) wie beim
Büffel im Bogen nach hinten. Mit den Kopf-
hörnern, die ganz unpaar, gegabelt (ausnahmsweise
wie bei dem indischen A>/('//'7//c.f diclwtoiims sogar
doppelt gegabefi) oder paarig sind, kommen häufig
nach vorne gerichtete F'ortsätze des Halsschild-
vorderrandes zusammen vor, wie namentlich bei
den Herkuleskälern {Dynastes und Thcogoics) bei
Golofa, Älegasoma, Chalcosoiiia u. a., lerner bei
vielen tropisch- afrikanischen Rosenkäfern [Dicra-
iiorhiiia, Akgalorhiim). Ausnahmslos kommen
hier die Hörner und die hornartigen Halsschild-
fortsätze den Männchen zu. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß bei Vorkommen eines unpaaren
Kopf- und Halsschildhornes, falls beide durch
Koptbewegungen einander sehr genähert werden
können, ein Gegenstand zwischen ihnen einge-
klemmt werden kann; aber die Berührungsstellen
der beiden Hörner sind so klein und die Kraft
kaum so groß als in den Mandibeln eines großen
Hirschkäfers, abgesehen davon, daß die Wahr-
scheinlichkeit, daß irgendein F"eind zwischen diese
Zangen gerät, eine sehr geringe ist. Es handelt
sich also auch hier um eine bloße Zierde des
Männchens und trotz des drohenden und gefähr-
lichen Aussehens dieser mannigfachen Hörner um
keine Waffe.
Dasselbe gilt im erhöhten Maße für Hörner,
die bei anderen, noch weit kleineren Käfern,
z. B. Tenebrioniden (auch hier beim Männchen),
bei Heuschrecken {PscudorIiy)ichus, Gouyacaiitha
u. V. a.), Cicaden (z. B. unserem Ccntrotiis coniutus)
hier wie bei den Orthopteren in beiden Ge-
schlechtern, ferner bei Gottesanbeterinnen (in
beiden Geschlechtern, aber merkwürdigerweise
mitunter beim Weibchen weit stärker entwickelt:
z. B. bei Sigcrpcs). In allen Fallen ist das Hörn,
so spitz und lang es auch sein mag, als Waffe
nicht verwendbar und spielt auch als solche keine
Rolle — weder bei den flüchtigen und faktisch
wehrlosen Akndiern , noch bei den bissigen
Locustiden oder den mit kräftigen Raubbeinen zu
N. F. XVI. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Angriff und Verteidigung gleich gut ausgerüsteten
Mantiden.
Wachsen Organe, die an sich zur Verteidigung
oder zum Angriff wohl geeignet sind, über ein
gewisses Maß hinaus, so verlieren sie häufig ihren
Charakter als Waffe und werden zu bloßen
„männlichen Sexualmerkmalen". Dies kann man
an den Mandibeln gewisser Insektenmännchen
sehen , die ihren Charakter als kräftige Zangen
durch ungewöhnliche Verlängerung verloren haben.
Wenn auch große männliche Hirschkäfer noch
ganz wehrhafte Tiere sind, so ist die Kraft ihrer
Mandibeln doch kaum mehr größer als die der
kleinen des Weibchens; und daß die zwar langen,
aber dünnen Oberkiefer gewisser Orthopteren
{Aiiosfosfoiiia) und Hymenopteren (Syiiogris) keine
Zangen von irgendwelcher Kraft mehr sind , ist
leicht einzusehen; sie sind zu Luxuswaffen ge-
worden, mit dem wahrscheinlich dem Weibchen,
aber keinem Rivalen oder Feinde mehr imponiert
werden kann und die höchstens noch zum Fest-
halten des Weibchens bei der Copula dienen
könnten.
Wir sehen also, daß Waffen, die wir bei den
Säugern nach unbedenklich, auch ohne Kenntnis
der Ethologie der betreffenden Arten als solche
anzusehen gewöhnt und wohl auch berechtigt
sind, trotz gleicher Lage am Körper und trotz
oft vorhandener praktischer Brauchbarkeit bei
verschiedenen anderen Tierkategorien nicht als
Waffen gebraucht werden, daß sie weder (wo sie
nur beim Männchen vorhanden sind) zu Kämpfen
mit Nebenbuhlern, noch zur Abwehr von Feinden
verwendet und wohl nur im Zusammenhang mit
überhaupt bedeutenderer Körpergröße als Angriffs-
oder Verteidigungsmittel überhaupt gedeutet
werden können. Denn man kann sich kaum
vorstellen, daß die im Verhältnis zur Körpergröße
immerhin recht ansehnlichen Hörner der kleinen
Tenebrioniden Giiaihoccrux coniittiis , Huploce-
pliala , .bif/iracias auch einem kleinen Feinde
gegenüber von irgendwelcher Bedeutung sein
könnten.
Finschlagbare Raubbeine, wie sie bei so vielen
Insekten und Crustaceen auftreten, sind wohl stets
als wirksame Waffen anzusehen; dagegen gilt dies
nicht von exzessiver Verlängerung der Vorder-
beine, wenn sie auch mit starker Verdickung der
Basalteile in Verbindung vorkommt; und wir
sehen stets, daß eine solche immer nur beim
Männchen auftritt (z. R. bei den Käfern : Eiichinis.
Prupoiiiacnis, Älacropiis, Labidostoniis usw., bei
Ephemeriden) also wohl nur zum Festhalten des
Weibchens bei der Paarung dienen wird. Es ist
dies ein vollständiges Analogon zu der Erscheinung,
daß verdickte Schenkel, wenn sie in beiden Ge-
schlechtern auftreten, wie bei den Heuschrecken
und Grillen, Qcadinen, Flöhen, Springrüsselkäfern
(Orc/ifsfrs), Blattflöhen {Halticincii) wirklich auf
Springfähigkeit hindeuten (Ausnahme nur bei den
dickschenkeligen. aber nicht springenden Wespen
der Gattungen Sniicra, Lnicuspis usw.), während
sie bloße sekundäre Sexualcharaktere vorstellen,
wenn sie bloß beim Männchen vorkommen : so
bei gewissen einheimischen und exotischen Baum-
wanzen, der Blattkäfergattung Sagra, der Fliegen-
gattung Merodoii u. v. a.
Wenn wir die exzessiv entwickelten Oberkiefer
der vorhin erwähnten Insekten betrachten, so
sehen wir, daß ihre geringe Kraftwirkung damit
zusammenhängt, daß sie im Verhältnis zu ihrer
Länge zu dünn sind; schon bei unserem Hirsch-
käfer steht die Kraft der kurzen Mandibeln des
Weibchens denen der langen und relativ kräftigen
eines großen Männchens nur wenig nach und wir
können im allgemeinen sicherlich annehmen, daß
Lucaniden mit dicken, kräftigen Mandibeln, wie
Oduiifolabis solchen mit langen , dünnen wie bei
OiiasogiiatliKs erheblich überlegen sind ; im ersteren
F'alle sind die Oberkiefer in beiden Geschlechtern
nach demselben Typus gebaut, aber beim Mann
chen im Zusammenhange mit dem größeren
Halsschild und Kopf mächtiger entwickelt, im
letzteren aber beim Weibchen ganz von dem
überhaupt für die Lucaniden gültigen Typus, beim
Männchen aber exzessiv verlängert und verdünnt
und damit als Waffe wertlos geworden.
Bei den Kofferfischen hängt die Wertlosigkeit
der Hörner als Waffe mit der geringen Beweglich-
keit der Tiere zusammen. Dieselbe Waffe bei
einem beweglichen und gelenkigen Tiere kann
schon eine ganz erhebliche Wirkung haben. Wie
geschickt macht z. B. der schwarze Wasserkäfer
{Hydroiis picciis) von seinem Bruststachel
Gebrauch, der wahrscheinlich ursprünglich über-
haupt nicht zur Verteidigung bestimmt ist; ebenso
würden die Hörner bei einer schnellaufenden
Kidechse, die mit einer gewissen Wucht einen
Gegner anrennen können, noch ganz gut zur
Wirkung gelangen können, während sie bei einem
Chamäleon als Defensiv- wie Offensivwaffen be-
deutungslos bleiben und das Aufsperren des
Rachens, das Aufblasen des Körpers, das laute
Fauchen und der lebhafte Farbenwechsel — Eigen-
schaften, die jedes Chamäleon zu entwickeln im-
stande ist — machen zweifellos einen weit größeren
Eindruck, als die primitive Schnauzen- und Stirn-
bewaffnung. Wir können also sagen, daß auch
die Masse und die Beweglichkeit des Körpers eine
beträchtliche sein müßte, um einer Waffe, wie sie
die Hornchamäleons besitzen, zu einer Wirkung
zu verhelfen. Diese Hörner sind von vornherein
nicht als Waffe entstanden, sondern, wie schon
erwähnt, unter dem Einflüsse des tropischen
Klimas, als hypertrophische Bildungen und zwar
nach dem Gesetze der männlichen Präponderanz
(Eimer) zuerst beim Männchen, dem in manchen
■Fällen auch das Weibchen folgt. Auf derselben
Erscheinung der lokalen Hypertrophie beruhen
auch die Schnauzenhörner der Nashornvipern des
tropischen Afrika (Bifis iiasiconiis und gabonicd)
während die Augenbrauenhörner der Hornvipern
Nordafrikas [Ccrastcs coniufits] Südafrikas {Bitis
caiididis und uanmhis), des tropischen Afrika
92
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 7
{Athens ccratophorus), Persiens [Psciidoccrastcs
persictis), Nordamerikas {Crptaliis ccrastcs), die
alle mit Ausnahme der ^Wieris Wüstenbewohner
sind, dabei teils in Sand-, teils in Steinwüsten
leben, vorläufig wohl allen annehmbaren Er-
klärungsversuchen trotzen; übereinstimmend ist
bei allen gehörnten Schlangen, daß die Hörner.
ob auf Schnauze oder Augenbrauen, niemals se-
kundäre Geschlechtsmerkmale vorstellen, sondern
beiden Geschlechtern in gleicher Weise zukommen
(au.snahmsweise auch beiden fehlen können —
Ccrastcs cvnnitns var. iniitila, in Algerien, Dongola
und auf der Smai-Halbinsel nicht selten — vgl.
die hornlosen Rinderrassen).
Da alle Hörnerbildungen, die bei Schlangen
vorkommen, wenig resistent sind, so kommen sie
als Waffen von vornherein nicht in Betracht.
Fassen wir nun die vorstehenden Ergebnisse
zusammen, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß
die meist zur Kategorie der Hörnerbildungen ge-
hörigen, seltner (bei Insekten) als exzessiv verlängerte
Mandibeln imponierenden Scheinwaffen deswegen
zu Angriff wie Verteidigung in gleicher Weise
unbrauchbar sind, weil sie entweder nicht mit
entsprechender Körpermasse koinzidieren, die einen
Angnfi' auch kleinerer gehörnter oder geweih-
traeender Säuger (z. B. eines Ziegenbockes) so
wirkungsvoll macht, oder die Beweglichkeit des
die Waffe tragenden Körperteiles fehlt, bzw. die
betreffende Tierart überhaupt wenig lebhaft ist.
Ein großer Teil dieser Waffen ist in die Kategorie
der sekundären Sexualcharaktere zu verweisen; sie
machen vermutlich auf das Weibchen einen eben-
solchen Eindruck, wie bei anderen Tieren prächtige
Farben, bei Vögeln Schmuckfedern u. dgl. —
Dagegen sind die Fortsätze der Augenbrauenregion
(und nach hinten gerichtete, hornartige Fortsätze
des Panzers auf der Bauchseite) der wehrlosen
Kofferfische nicht von diesem Gesichtspunkte zu
beurteilen. Es ist möglich, daß diese Hörner
früher vorhanden waren, als der Panzer und in
dieser Zeit, da der panzerlose Fisch noch weit
beweglicher war, wirklich wenigstens zur Abwehr
sich geeignet erwiesen, wie so manche Horn-
oder Stachelbildungen, die entweder durch Ver-
stärkung der ersten Rücken-, Brust- (auch Bauch-
oder After-) flossenstrahlen entstehen oder aber
neue Bildungen vorstellen (Schwanzdorn von
^icaiithiinis cliinirgiis)\ daß sie aber mit der
Erstarkcing des Panzers entweder sich vollkommen
rückbildeten oder aber bei anderen Arten als
wenigstens für den Fortbestand der Art nicht
hinderlich sich erhielten. Wir hätten hier dann
den Austausch einer weniger wirksamen Defensiv-
waffe gegen eine bessere, ähnlich wie bei den
Hirschen die schwächere Offensivwaffe der Eck-
zähne (Moschustier) in der Phylogenie durch die
stärkere der Geweihe ersetzt wurde, wobei freilich
aber immer noch gewellilose Hirsche mit Eckzahn-
hauern existieren, trotzdem andere inzwischen
eine enorme Entwicklung des Geweihes erreicht
haben, ja sogar (Rentier) das Weibchen dem
Männchen in dessen Entwicklung nachgekommen ist.
Kleinere Mitteilungen
Zur Geschichte der Ernährung. Die Schwierig- familiäre und
keiten, denen die Beschaffung der täglichen Nahrung
heute begegnet, haben es wohl jedem klar ge-
macht, daß die Ernährung des Menschen kein
isolierter Vorgang, sondern daß sie aufs innigste
mit fast allen Zweigen des privaten und öffent-
lichen Lebens verknüpft ist. Dieser Zusammen-
hang, wenn auch jetzt fühlbarer, ist nicht erst
durch die gegenwärtige Lage geschaffen worden.
Er ist so alt wie das Menschengeschlecht selbst.
In Friedenszeiten, wo die Beschaffung der Nahrung
im geregelten Wirtschaftsleben glatt verläuft,
kommt er den Wenigsten zum Bewußtsein. Das
ist wohl auch der Grund , daß man bisher Er-
nährungsfragen als einen untei geordneten Gegen-
stand ansah, den man in gebildeter Unterhaltung
keinen Platz einzuräumen braucht. Ja selbst an
den Universitäten verschließt man sich noch der
Erkenntnis der Notwendigkeit, diese eminent
wichtigen Probleme in wissenschaftlichem Zu-
sammenhang zu lösen. Die Kriegserfahrungen
werden hier hoffentlich zu gründlichem Wandel
Anlaß geben. Um den Einfluß des Nahrungs-
bedürfnisses und der Nahrungsbeschaffung auf das
staatliche Leben der Menschen zu
erkennen, ist eine gründliche historische Betrachtung
unerläßlich. Sie ist ebenso wichtig als Vorarbeit
für etwaige nach dem Kriege zu treffenden Maß-
nahmen zu einer gesicherten Volksernährung.
Professor Eduard Hahn, der sein Leben dem
Studium dieser Fragen gewidmet hat, legte diese
Zusammenhänge in einer Sitzung der Anthropo-
logischen Gesellschaft in gründlicher und an-
regender Form klar.
DieBeschaffenheit der körperlichen und geistigen
Entwicklung des menschlichen Geschlechtes in
historischer Zeit, wie auch entsprechende Beob-
achtungen bei Naturvölkern gestatten uns den
Schluß, daß das .Alter der Menschheit, das man
bisher mit etwa looooo Jahren seit der Eiszeit
annahm, erheblich weiter zurückreicht. Mit
Ratzel pflegt man in der kontinuierlichen Ent-
wicklungsreihe animalischer Wesen den Menschen
beginnen zu lassen mit der Hervorbringung und
bewußten Verwendung des Feuers. Der erste
willkürlich erzeugte Feuerfunke entspricht dem
ersten geistigen Funken in der Seele des Menschen.
Das p'euer wird definiert als „l-Vucht der Arbeit".
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
93
Die häufigste Form der Hervorbringung desselben
besteht in dem Bohren eines harten Stockes in
weichem Holze. Der Urmensch , dessen An-
schauung den Dingen noch so nahe steht, wendet
dies Abbild unbedenklich auf das Verhältnis der
menschlichen Geschlechter an. Die germanische
Ursage läßt die ältesten Menschen aus zwei
Bäumen hervorgehen, und zwar den männlichen
Teil aus der härteren Esche, so daß wir hier den-
selben Gegensatz vorfinden. Auch in ihrem Ver-
halten zum Feuer selbst prägt sich die Spaltung
der Geschlechter aus. Der Mann reibt das Feuer,
die Frau ist die Hüterin des Herdes, dem Manne
bleibt das Braten vorbehalten , der Frau das
Kochen. Diese frühe Trennung der Geschlechter
ist wesentlich, sie ist bei der weiteren Entwick-
lung durchaus im Auge zu behalten. Wenn in
Rom das lieiligc Feuer, das die Vestalinnen zu
bewahren hatten, verlöscht war, durfte es nur
vom Oberpriester wieder angezündet werden.
Die Frau der Urzeit ist die Erfinderin des Topfes,
dessen Grundlage der geflochtene Korb ist. Das
Kochen im Topfe ist jedoch schon eine spätere
Form. Die ältere Stufe kennt nur das Kochen
in Gruben und Körben, mit Hilfe von glühenden
Steinen, eine Form, die sich noch bei Natur-
völkern findet, z. B. bei den Indianern Nordwest-
Amerikas. Neben dem Gebrauch des Feuers gibt
es noch eine andere, nicht minder wichtige Art
der Zubereitung der Nahrung, ebenfalls mit Hilfe
einer Grube: die Gährung. Hier wird nun die
interessante Beobachtung gemacht, — sie ist zu-
erst formuliert von der Schwester und tätigen
Mitarbeiterin des Vortragenden — daß die Stofife,
die die alte Menschheit zur hauptsächlichen und
dauernden Nahrung verwendete, im Naturzustand
ungenießbar, schädlich, ja geradezu giftig sind.
Die Ureinwohner Südamerikas, die zum großen
Teil von Maniok leben, stellen bei der Brot-
bereitung daraus zugleich das stark wirkende
Pfeilgift her. Ähnliche Verhältnisse lassen sich
für die Nahrungsmittel eines großen Teiles der
Menschheit nachweisen. Man denke an unsere
Kartoffel, die zu den mehr oder weniger giftigen
Solaneen gehört. Diese Vegetabilien müssen erst
durch ein oft sehr umständliches \'erfahren ent-
giftet und entbittert werden, ein Vorgang, dessen
Kompliziertheit nicht nur auf eine lange Ent-
wicklungsdauer schließen läßt, sondern auch ge-
eignet ist, die Fabel von der „Einfachheit" der
Nahrung in Urzeiten zu zerstören. Welche Er-
fahrung der älteren Menschheit spricht schon aus
der Tatsache, daß die Neuzeit nicht eine einzige
neue Giftpflanze entdeckt hat ! Auch bei den
durch Gärung hergestellten Getränken findet sich
von vornherein die Scheidung der Geschlechter.
Die Bereitung der berauschenden Getränke fällt
den Frauen zu, der Genuß ist den Männern
vorbehalten.
Die alte Zeit kennt wohl eine Trennung
der Geschlechter, keine Überordnung des einen
über das andere. Die neuzeitliche Auffassung
hatte, bevor ihr Prähistorie und Ethnologie
richtigere Anschauungen vermittelte, die Ver-
hältnisse des Mannes allein im Auge und ent-
wickelte die Theorie der Jäger-, Hirten- und
Ackerbauvölker. Diese Stufenfolge, schon in der
Antike begründet, herrschte bis heute, sogar die
immer wiederholten, scharfen Angriffe W i 1 h elm
von Humboldt's überdauernd. Erst 1889 auf
dem Naturforschertag in Halle ist es dem Vor-
tragenden gelungen, diese Hypothese zu zerstören.
Die Dreistufenlehre ist leider damit noch nicht
ersetzt, ja noch nicht einmal abgetragen, da die
vielfachen Schlußfolgerungen aus dem alten
Schema, z. B. auf dem Rechtsgebiete noch fort-
wuchern. Die Rechtsanschauung des Mannes, der
sich selbst als den maßgebenden Teil in der
Familie ansieht, ist hier noch in viel zu großem
Umfange geltend, ja es ist möglich, daß die
Rücksicht auf diese falsche Auffassung auf die
entschieden ungünstige Stellung der Ethnographie
unter den anderen Wissenschaften zurückgewirkt
hat. In Wirklichkeit kann die Jagd durchaus nicht
Jahrtausende lang als ausreichende wirtschaftliche
Versorgungsmöglichkeit gegolten haben, wie es
überhaupt undenkbar ist, daß sich auf eine solche
Versorgung allein wirtschaftliche und kulturelle
Verhältnisse gründen ließen. Die neuere Forschung
stellt in Hinsicht auf die Nahrungsbeschaftung vor
den Beginn aller Pflanzen und Haustierzüchtung die
Stufe des Sammlers auf und schiebt die dauernde
Ernährung, insbesondere des wichtigen Nach-
wuchses des Stammes, ohne die an eine steigende
Kultur nicht zu denken ist, im weitaus größtem
Maße den Frauen zu. Die vom Manne ausgeübte
Jagd war, wie auch heute noch, mehr Sport, als
auf Ernährung des Stammes gerichtet. Daneben
freilich nehmen auch entschieden ideale Be-
strebungen des erwachenden Menschengeistes, die
Rechtspflege, die Ausbildung des Rituals und der
religiösen Anschauung, die Entwicklung der po-
litischen Verhältnisse und so fort , die Tätigkeit
der Männer in hohem Grade in Anspruch. Das
Interesse der Frau konzentriert sich wesentlich
auf Wirtschaft und häuslichen Herd.
Es ist eigentlich wunderlich, daß die Vorge-
schichte für den Menschen an der Vorstellung
einer Jägerstufe bis in die neueste Zeit fest-
gehalten hat, obgleich wir doch durch Darwin's
entscheidende Schrift bereits von der Vorstellung
des Menschen als eines besonderen Geschöpfes
abgekommen waren. Wenn man aber den
Menschen, wie das schon Linne getan hat, ins
zoologische System einreihen will , so kann man
ihn doch nur in der Nähe der pflanzenfressenden
Affen unterbringen und nicht etwa bei irgend-
. einer fleischfressenden Gruppe. Die Ursache
dieses eigentümlichen Irrtums lag in einer Schule
der griechischen Philosophie, die neben der von
den Dichtern ja auch viel benutzten Hypothese
des Sinkens der Menschheit von einer ursprüng-
lich goldenen Zeit eine schnelle Entwicklung aus
einem rohen Zustande annahm, wie man sich den
94
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 7
Jäger ohne Feuer und mit blutiger Nahrung
dachte.
Die Grundlage der neueren Auffassung hat
Heinrich Schurtz in seinem Buche „Alters-
klassen und Männerbünde" gelegt. Hier ist auch
auseinandergesetzt, wie die Männer sich durch
ihre Fähigkeit zur Organisation dauernd die
Oberhand in allen rechtlichen, politischen und
idealen Dingen sicherten. Die Rechtsstufe der
Frau ist weniger entwickelt worden, und die
Ethnologie muß es als sehr zweifelhaft ansehen,
ob durch eine schematische Gleichstellung beider
Geschlechter in diesen Beziehungen, unter so
schwierigen Verhältnissen eine richtige Lösung
gegeben werde. Der Vortragende vertritt die
Ansicht, daß eine rechiliche Verstärkung der
Pflichten der Männer eine bessere Grundlage
eines Ausgleichs der Rechte beider Geschlechter
bilden würde. Karl Soll.
Einzelberichte.
Zoologie. Der Einfluß der Nahrung auf das
Geschlecht bei Rotatorien. Bereits des öfteren
war an dieser Stelle von den zahlreichen und um-
fassenden Experimenten der beiden amerikanischen
Forscher Whitney und ShulP) die Rede, die
es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Faktoren
zu ergründen, welche den Ablauf des Generations-
zyklus bei Rotatorien, speziell bei Hydatina senta,
bedingen. Die zuletzt hier besprochenen Unter-
suchungen Whitney 's-) hatten diesen zu dem
Resultat geführt, daß die Zusammensetzung der
Nahrung von wesentlichem Einfluß auf das
Geschlecht der Nachkommen eines Hydatina-
Weibcheijs ist. Fütterte Whitney die Tiere mit
einem farblosen Flagellaten, Polytoma, so wurden
ausschließlich oder doch fast ausschließlich
Weibchenerzeuger gebildet, fütterte er hingegen
mit Chlamydomonas, einem grünen Flagellaten,
so traten gleich auch Männchenerzeuger auf, und
zwar ein ziemlich hoher Prozentsatz, bis zu 88 "/g.
Inzwischen haben die beiden Autoren weitere
Arbeiten veröffentlicht.
Die Resultate der neuesten Untersuchungen
ShuU's^) stehen in einem gewissen Gegensatz
zu den Ergebnissen Whitney' s. ShuU bestreitet
zwar nicht die von ihm in früheren Untersuchungen
selbst festgestellte Beeinflußbarkeit des Lebens-
zyklus von Hydatina durch äußere Faktoren; daß
z. B. qualitative Differenzen in der Ernährung die
Produktion von Männchenerzeugern beeinflussen,
hält er nach den oben erwähnten Untersuchungen
Whitney 's ebenfalls für erwiesen. Äußere
Faktoren sind aber seiner Ansicht nach nicht
allein maßgebend, auch innere Faktoren spielen
beim Ablauf des Lebenszyklus eine wichtige Rolle.
Shull glaubt eine Periodizität in der Entstehung
der Männchenerzeuger entdeckt zu haben, die sich
nicht auf äußere Faktoren zurückführen läßt.
') Siehe insbesondere H. Naclils h eim , E.\perimencellc
Untersuchungen über den Generationszyklus der Rotatorien.
Naturw. Wochenschr., N. F., 12. Bd., 1913.
«) Whitney, D. D., Der Einfluß der Nahrung auf das
Geschlechtsverhältnis von Hydatina senta. Naturw. Wochenschr.,
N. F., 14. Bd., 1915.
') Shull, A. F., l'eriodicity in the productioii of malcs
iu Hydatina senta. Biol. Bull., Vol. 28, 1915.
Bei gleichmäßiger Ernährung traten in mehreren
Linien von Hydatina in ganz bestimmten Abständen
Männchenerzeuger in größerer Zahl auf. Was
Shull besonders veranlaßte, diese Periodizität
inneren Ursachen zuzuschreiben, war die Tat-
sache, daß die Zwischenräume zwischen zwei
Perioden in einer Linie im großen und ganzen
alle gleich waren, bei den drei untersuchten Linien
aber im Vergleich miteinander verschieden groß.
So traten in der ersten Linie — sie ent.stammte
der Kreuzung einer englischen Rasse mit einer
Rasse aus Nebraska (Nordamerika) — jeden Monat
Männchenerzeuger auf, in der zweiten Linie, die
englischen Ursprungs war, erschienen sie ungefähr
alle zwei Monate. In der dritten Linie endlich,
die aus Nebraska war, trennten Zwischenräume
von drei bis fünf Monaten die Perioden männlicher
Produktion; in dieser Linie nahmen die Zwischen-
räume mit dem Alter der Linie langsam zu.
Die weiteren Experimente Whitney's^)
lassen es indesen fraglich erscheinen, ob die
Schlüsse, die Shull aus seinen Beobachtungen
gezogen hat, berechtigt sind. Wh it ney züchtete
eine Linie 288 Generationen 22 Monate lang,
indem er sie fortgesetzt mit Polytoma, dem farb-
losen Flagellaten, fütterte. Die Folge war, daß
nur Weibchenerzeuger entstanden, nicht ein
Männchenerzeuger trat während dieser nahezu
zwei Jahre währenden Beobachtungszeit auf. In
anderen Linien erschienen zwar einige Männchen-
erzeuger, aber in verschwindend geringer Zahl.
So traten in einer zweiten Linie, die 14 Monate
lang 181 Generationen gezüchtet wurde,
8 Männchenerzeuger — im Vergleich zu 1731
Weibchenerzeugern — auf, insgesamt weniger als
I "/(,. Eine dritte Linie produzierte in 22 Monaten
92 Männchenerzeuger, d. h. nahezu 4"/'o- Von
einem periodischen Auftreten von Männchen-
erzeugern, unabhängig von äußeren Bedingungen,
kann aber auch bei diesen Linien, geschweige
denn bei der ersten, nicht die Rede sein. Um
dem Einwände zu begegnen, es sei diese
1) Whitney, D. D., The production of males and
females controlled by food conditions in the Knglish Hydatinu
senta. Biol. Bull., Vol. 29, 1915.
N. F. XVI. Nr. ;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
95
Regulierung des Geschlechtsverhältnisscs bei H)-
datina durch die Art der Ernährung eine Eigen-
tümlichkeit der von ihm verwandten amerika-
nischen Rasse, unterwarf Whitney eine englische
Rasse den gleichen Versuchsbedingungen. Der Erfolg
war der gleiche: bei Polytoma Fütterung keine
Männchenerzeuger (das Experiment wurde 2 Monate
fortgesetzt, in dieser Zeit wurden 20 Gene-
rationen gezüchtet), bei Chlamydomonas-Füiterung
Mäniichenerzeuger in großer Zahl (bis zu 85 %).
Das Ergebnis ist um so interessanter, als die von
Whitney verwandten Tiere den gleichen Ursprung
hatten wie Shull's „englische Linie'', in der er
alle zwei Monate eine Periode männlicher Pro-
duktion beobachtet zu haben glaubte.
Whitney ') dehnte sodann seine Experimente
auch auf andere Rotatorienspezies aus. Brachionus
pala, Diaschiza sterea, Diglena cateliina, Pedalion
mirum wurden zu den folgenden Experimenten
benutzt. Außerdem wurde auch die Zusammen-
setzung der Nährtlüssigkeit variiert, indem statt
Chlamydomonas Chlorogonium oder verschiedene
andere grüne Flagellaten genommen wurden. Bei
allen Formen war die Wirkung des P'utters im
wesentlichen die gleiche wie bei Hydatina: die
grünen Flagellaten bewirkten die Entstehung zahl-
reicher Männchenerzeuger.
Es galt nunmehr festzustellen, welches die
Ursache der verschiedenen Wirkungsweise der
farblosen und der grünen Flagellaten auf das
Geschlechtsverhältnis der Rotatorien ist. Polytoma
ist farblos, d. h. diesem Flagellaten fehlt das
Chlorophyll, es ist also auch nicht befähigt. Stärke
und andere Kohlehydrate (Zucker) zu bilden. Die
Fütterung mit Polytoma ist somit eine mangel-
hafte Ernährung im Vergleich zur Chlamydomonas-
Fütterung. Und daß in der Tat die Quantität
der Nahrung von ausschlaggebender Bedeutung
ist, zeigt sich, wenn man die Rotaiorien nur ganz
spärlich mit Chlamydomonas füttert. Spärliche
Fütterung mit Chlamydomonas führt zu den
gleichen Resultaten wie Polytoma-Fütterung: die
Männchenerzeuger verschwinden.
Man war bisher geneigt, für den Ablauf des
Generationszyklus bei Hydatina senta äußere und
innere Faktoren verantwortlich zu machen. Nach
den neuesten Untersuchungen Whitney 's sind
aber Qualität und Quantität der Nahrung, d. h.
äußere Fakturen, bestimmend für das Gescnlechts-
verhälinis bei Hydatina. Damit ist nicht gesagt,
daß in der freien Natur nicht auch noch andere
Faktoren wirksam sind oder sein können. Immer-
hin scheinen innere, im Organismus selbst ge-
legene Faktoren gegenüber den Wirkungen der
Umwelt stark zurückzutreten. Und das gilt nicht
nur für Hydatina. Die älteren Experimente —
von Maupas, Nußbaum, Punneit, Whitney
und Shull — waren alle an diesem Rotator aus-
geführt worden, und man hatte der Vermutung
') Whitney, D. D., The control of se.x by food in five
species of Rotifers. Journ. exper. Zool., Vol. 20, 1916.
Ausdruck gegeben, Hydatina nehme in ihrem
sexuellen Verhaken eine Ausnahmestellung ein,
sie reagiere mehr auf Änderungen ihrer Umwelt
als die in einem ganz regelmäßigen Zyklus sich
fortpflanzenden Planktonrotatorien, bei denen, so
nahm man an, der Ablauf des Zyklus fast oder
ganz ausschließlich durch innere P'aktoren geregelt
wird. Das ist nun aber offenbar nicht der P"all.
Die in der freierf Natur monozyklischen Formen
Brachionus und Pedalion z. B. reagierten im Ex-
periment ganz ähnlich wie Hydatina. Es erscheint
somit zweifelhaft, ob bei den heterogonen Räder-
tieren überhaupt ein „erblicher Rhythmus" als
Ursache der Sexualitätsänderung besieht, wie das
bei den Aphiden und — bis zu einem gewissen
Grade — auch bei den Cladoceren der Fall ist.
Nachtsheim.
Über die Verteilung des Fettes bei
einigen Fischen hat A. heligo einige Unter-
suchungen angestellt (Mitteilungen des westpreuß.
F"ischerei- Vereins in Danzig 191O, Hydrobiologtsche
Untersuchungen VI). Fettgewebe tritt bei Fischen
überall dort auf, wo Bindegewebe vorkommt,
zwischen den Muskeln, der Haut, in den Knochen,
„namentlich aber im Füllgewebe der Körperhöhlen,
der Bauchhöhle, der Hirnhöhle, der Augenhöhlen".
Die Aufspeicherung des Fettes findet statt in den
Zeiten der intensiven Nahrungsaufnahme, d. h.
während der warmen Jahreszeit, in der vorwiegend
der Fisch frißt, während im Winter von vielen
Fischen wenig Nahrung oder überhaupt keine
aufgenommen wird. So kommt es, daß der Fett-
gehalt der Fische gegen den Herbst zu größer
wird. Auch sind gewöhnlich ältere Fische fett-
reicher als jüngere. Zu den Arten, die besonders
viel Fett im Muskelgewebe enthalten, gehören der
Aal und der Lachs. Infolge des überwiegenden
Oleingehaltes der F'ette bei den Wassertieren sind
diese in der Regel flüssig und als Tran bekannt
(Lebertran aus der Leber der Dorsche). Eine
Aufstellung über die Zusammensetzung des
Pleisches verschiedener Fischarten stammt von
P. Brofeldt, aus der hervorgeht, daß der Eiweiß-
gehalt, der Aschengehalt und im allgemeinen auch
der Wassergehalt des Fischfleisches nur wenig
schwankt. Anders verhält es sich mit dem Fett-
gehalt. Er beträgt z. B. beim Lachs 12''/d,
während er beim Dorsch nur 0,25 "/g des frischen
Plschfleisches ausmacht, bei den übrigen unter-
suchten Arten schwankt er zwischen 0,37 und 4,06 "/q.
Im übrigen ist der Fettgehalt nicht nur von der
Art abhängig, sondern auch bei der gleichen Art
von der Jahreszeit, dem Lebensalter, den ein-
zelnen Individuen. Untersuchungen hierüber hat
.Lichtenfeit bereits früher veröffentlicht, die
sich auf Seefische erstrecken. S e 1 i g o hat nun
„die Verbreitung des Fettes in den einzelnen
Körperteilen des Fisches" zum Gegenstand seiner
Untersuchung gemacht. Nach der üblichen
Technik bestimmte er die ätherlöslichen Stoffe
96
Natuiwissenschaftliclic Woclicnschriil.
N. F. XVI. Nr.
in den einzelnen Organen und Körperteilen. Da
außer Fett sonstige ätherlösliche Stoffe bei den
Fischen im Körper nur in geringem Maße vor-
kommen, so sieht S. die Menge der ätherlö-lichen
Stoffe als die Fettmenge an. Die Fettmenge
(und auch die Wassermenge) wird in Tausendsteln
der angewandten Organmenge angegeben. Die
Untersuchungen beziehen sich auf mehrere Indi-
viduen der betreffenden Fischarten, die aus ver-
schiedenen Gewässern stammten und zu ver-
schiedenen Jahreszeiten untersucht wurden.
Seligo kommt zu folgenden Schlüssen: Bei
normalen Fischen ist die Schädelhöhle stets reich
an Fett, während bei kranken oder hungernden
Tieren hier eine Abnahme eintiitt. Bei großen
Brassen, Zehrten, Meerforellen, Regenbogenforellen,
Schnepel (im Sommer), Flunder (im Sommer),
Perzel, Aal und Neunauge wird Fett im Fleisch
abgelagert, beim Aal jedoch im Alter in höherem
Maße als in der Jugend. Ähnlich verhält es sich
mit dem Lachs. „Im allgemeinen nimmt der
Fettgehalt des Fleisches mit dem Alter sowie
mit dem Vorschreiten der warmen Jahreszeit zu."
Es wird darauf hingewiesen, daß sich z. B. bei
der Plötze erst bei Exemplaren von i Pfund Gewicht
größere Fettablagerungen bilden, was den Autor
veranlaßt anzunehmen, daß dieser Frisch bei uns
zu klein fortgefangen wird. Zu den fettreichen
Körperteilen gehören noch die Knochen, bei den
meisten Fischarten auch die Leber in hervor-
ragendem Maße. Die Anhäufung von Fett in
dem den Darmkanal umgebenden Bindegewebe
ist bei einigen Arten bedeutend, bei anderen, z. B.
dem Barsch, der F'lunder und denjenigen Fischen,
die viel Fett im Fleisch enthalten, gering. Die
Niere und die Geschlechtsorgane sind an und für
sich fettarm, jedoch von Fettgewebe oberflächlich
bedeckt. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß
in feitknapper Zeit die Eingeweide der Fische
bei der Zubereitung, soweit sie fettreich sind, vor
allem die Leber nicht fortgeworfen werden, sondern
nach Entfernung der Galle und des Darmes mit-
verarbeitet werden sollen. Willer.
Meteorologie. An den Vorgängen der Ab-
sorption und Emission des Lichtes in der Atmo-
sphäre" beteiligen sich außer den einfachen Gas-
molekeln Molekelbaufen, Wasserteilchen in fester
und flüssiger' Form , Staub mannigfachster Art
und gelegentlich Schwärme kleinster Lebewesen;
dies alles'läßt sich unter dem Namen „Luftplankton"
zusammenfassen. Das von ihm diffus ausgestrahlte
Licht ist bisher meist nur für die gesamte Er-
streckung der Atmosphäre gemessen worden.
L. Weber konnte durch eine kleine Abänderung
des von ihm angegebenen Relativphotometers
die Albedo des Lufiplanktons schon an Schichten
von wenigen Metern Dicke messen (Ann. d. Phys.
51, 427, 1916). Im verfinsterten Zimmer wird
ein eindringender Lichtstrahl dadurch sichtbar,
daß die diffus reflektierenden Planktonteilchen sich
vom dunklen Hintergrund abheben. Nach diesem
Prinzip vergleicht Verf. die Helligkeit einer Luft-
schicht, hinter der ein physikalisch schwarzer
Körper aufgestellt ist, mit der Stärke des die
Schicht beleuchtenden Tageslichts. Da die Hellig-
keit offenbar von der Beobachtungsrichtung ab-
hängig ist, muß für die Albedo zunächst eine
praktisch brauchbare Definition gegeben werden.
Es wird unter der Albedo eines inhomogen re-
flektierenden ebenen Schirmes das mit tt multipli-
zierte Verhältnis der Helligkeit in der Beobachtungs-
richtung zur ebenen Beleuchtungsstärke verstanden.
Diese Festsetzung wird zunächst erweitert auf ein
homogenes Kügelchen und dann auf eine mit
solchen Kügelchen erfüllte Raumeinheit. So wird
die Haufen- oder Planktonalbedo definiert als der
4.T-fache Wert der Helligkeit, in welcher der
Einheitswürfel des mit Plankton erfüllten Raumes
dem Beobachter erscheint, dividiert durch die
räumliche Beleuchtungsstärke am Orte des
Planktons.
Die Albedo ist am größten, wenn die Be-
obachtungsrichtung der Sonne entgegen gerichtet
ist. Daher wurde zur Untersuchung im allgemeinen
eine seitlich beleuchtete Luftschicht gewählt. Auf
kurze Entfernungen zeigt sich große Unregel-
mäßigkeit in der Verteilung des Planktons, so daß
zur Erlangung brauchbarer Werte die Messungen
an Schichten von mehreren Metern Dicke vor-
genommen werden müssen. Unter der Annahme
der Proportionalität zwischen Helligkeit und
Schichtdicke ist die Albedo gleich dem halben
reziproken Wert der Entfernung, bei der die
Helligkeit gleich der des Himmels ist, d. h. der
Sichtweite. In der Tat liegt diese jedoch zwischen
dem einfachen und doppelten des so gefundenen
Wertes, da bei größeren Entfernungen die Ab-
sorption schon eine merkliche Rolle spielt.
Immerhin dürfte die Fortführung der Unter-
suchungen wertvolle Ergebnisse über die Ver-
änderlichkeit der Sichtigkeit der Luft geben, die
besonders für die See- und Luftschiffahrt von
Bedeutung sind. Scholich.
Inhalt) F. Werner, Scheinwaffen im Tierreiche. (2 Abb.) S. 89. — Kleinere Mitteilungen: Eduard Hahn, Zur Ge-
schichte der Ernährung. S. 92. — Einzelberichte: Whitney und Shull, Der Einfluß der Nahrung auf das Geschlecht
bei Rolatorien. S. 94. A. Seligo, Die Verteilung des Fettes bei einigen Fischen. S. 95. L. Weber, Die Albedo
des Luftplanktons. S. 96.
Manuskripti
und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Folge 16. B;
«„ Reihe 32
Sonntag, den 25. Februar 1917.
Nummer 8.
[Nachdiuck verböte
Sammelbcricht,
Angewandte Botanik.
ert von Dr. K. Müller, Augustcnberg
Karlsruhe (Bade
Trotz der Vielseitigkeit und praktischen Be-
deutung der angewandten Botanik für das tägliche
Leben wurde sie bisher häufig nicht in der ge-
bührenden Weise beachtet. Krst der jetzige Krieg,
der ja manche eingefleischte, veraltete Anschau-
ung in kürzester Zeit überholte, wird vielleicht
auch der angewandten Botanik mehr Anerkennung
verschaffen, denn in vielseitiger Weise hat sie an der
schweren Aufgabe des Durchhaltens mitgearbeitet.
Es war ein nützlicher Gedanke, daß die Ver-
einigung für angewandte Botanik trotz des Krieges
sich entschloß, vom 25. — 28. September in Frank-
furt a. M. eine Versammlung abzuhalten, um durch
eine größere Anzahl von Vorträgen aus dem Ge-
biete der Kriegsbotanik, auch dem Fernerstehenden
wenigstens einen Teil der Arbeiten vorzuführen,
die im Zusammenhang mit den durch den Krieg
aufgetauchten Fragen stehen.
Die dort gehaltenen Vorträge werden im
Jahresbericht der Vereinigung für angewandte Bo-
tanik für 1916 (Verlag Gebr. Bornträger-Berlin)
zum Abdruck kommen. Sie bieten aber auch
für einen größeren Leserkreis soviel Interessantes,
daß sie auch hier kurz besprochen werden sollen.
Die Referate sind größtenteils von dem Herrn
Vortragenden selbst verfaßt und mir zur gemein-
samen Veröffentlichung zugesandt worden.
Prof. Lehmann -Tübingen sprach über den
Biologen (Botaniker und Zoologen) im Kriege.
Ausgehend von der allgemein geläufigen An-
schauung, welche im Botaniker den Pflanzen-
sammler sieht, wird dargestellt, wie diese An-
schauung heute durchaus nicht mehr zurecht be-
steht. Die Biologen beschäftigen sich mit den
Lebensvorgängen der großen und kleinen Lebe-
wesen. Ihr besonderes Arbeitsgebiet ist die mikro-
skopische Forschung. So werden auch in diesem
Kriege schon zahlreiche Biologen zur Untersuchung
der krankheitserregenden Bakterien und Protozoen
(Malaria usw.) herangezogen werden, deren Kennt-
nis z. T. auf die Biologen zurückgeht. (Man denke
an den Zoologen Schaudinn, den Entdecker
der Syphilisspirochäte 1)
Über Stickstoffversorgung in der
K r i e g s z e i t berichtet Prof. Dr. A 1 f r e d K o c h -
Göttingen. Möglichst hohe Ernten an Pflanzen-
stoffen sind jetzt im Kriege nötig, um die fehlende
Einfuhr an pflanzlichen Nahrungsmitteln für Mensch
und Tier zu ersetzen. Die hierzu nötige Acker-
fläche wird noch dazu dadurch beschränkt, daß
ein Teil des Ackers fehlende, sonst aus dem Aus-
land eingeführte Industrierohstoffe hervorbringen
muß. Nur von ausgiebig, besonders mit Stick-
stoff ernährten Pflanzen sind aber reiche Ernten
zu erwarten. Jeder fehlende Zentner Stickstoff-
dünger drückt die Getreideernte um 3 — 4 Ztr.,
die Kartoffelernte um 24 Ztr. und die Ernte an
Zuckerrüben um 30 Ztr.
Stickstoffdüngung ist im Kriege nun aber er-
schwert durch die ausbleibende Chilisalpeterein-
fuhr, die für Deutschlands Landwirtschaft etwa
5 Millionen dz jährlich vor dem Kriege betrug.
Allerdings hat unsere heimische Luftstickstoff-
industrie, die Kalkstickstoft' oder Ammoniak aus
dem Stickstoff der Luft macht, während des Krieges
ihre Leistungsfähigkeit großartig gesteigert. Dafür
aber tritt als Konkurrent der Landwirtschaft im
Kampfe um den Stickstoft' die Munitionserzeugung
auf den Plan. Denn alle unsere Sprengstoffe sind
stickstoffhaltige Verbindungen. Aus diesem Grunde
haben wir in der Landwirtschaft trotz aller Ver-
größerung der Luftstickstoffabriken immer noch
mit Siickstoffmangel zu kämpfen und wir müssen
daher mit dem verfügbaren Stickstoff haushälterisch
umgehen und ihn möglichst ausnutzen.
Schwierigkeiten in dieser Hinsicht bietet der
Kalkstickstoff, das eine der uns verfügbaren Luft-
stickstofipräparate. Um Verfahren zu finden, die
ihm die lästige Neigung zum Stäuben beim Aus-
streuen nehmen , sind Preisausschreiben erlassen.
Zu beachten ist auch die Giftwirkung der aus
dem Kalkstickstoff entstehenden Verbindungen
Cyanamid und Dic\andiamid auf Pflanzen
und Bodenbakterien. Deshalb wird empfohlen,
Kalkstickstoff zu Wintergetreide nur während der
Winterruhe bis Mitte Februar anzuwenden. Muß
man, wie in diesem Jahre, den Kalkslickstoff als
Kopfdünger auf wachsende Pflanzen z. B. Rüben
verwenden, so ist eine schwere Schädigung der
Pflanzen unvermeidlich, die nachher freilich in
freudiges Wachstum umschlägt. Die Umsetzung
des Kalkstickstoffes in Ammoniak durch Bakterien
und die anschließende Nitratbildung geht natürlich
in bakterienarmen, untätigen Böden, z. B. Moorböden,
nur langsam vor sich, andererseits aber auch bei
zu starker Kalkstickstoftgabe, wegen der dann
eintretenden Giftwirkung auf die Bakterien, wie
Wagner darlegte. Nach eigenen Versuchen
zeigt der Vortragende, wie auch die Dicyandiamid-
bildung im lagernden Kalkstickstoff die Nitrat-
bildung wegen der Giftwirkung des Dicyandiamids
hemmt. Die Versuchsstationen sollten daher die
Kalkstickstoffe des Handels immer auf Dicyan-
diamid und nicht nur, wie jetzt üblich, auf Ge-
samtstickstoffgehalt prüfen. Man sollte aus Kalk-
stickstoff Ammoniak oder nach Kappen 's Ver-
suchen Harnstoff mit Hilfe von Mangan als Kata-
lysator in viel größerem Umfange machen. Fa-
brikatorisch ist dies sehr gut möglich.
Die nötige Sparsamkeit mit Kalkstickstoff-
98
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 8
düiigern zwingt andererseits zur Vermeidung von
Stickbtoffverlusten. Manche Vorgänge dieser Art
können wir nicht verhindern. So können wir die
Auswaschung des im Beden entstehenden .'~'alpeters
durch Regen nicht hemmen, ein Vorgang, der z. B.
der Ackerkrume eines Morgens Lehmboden in
Göttingen mindestens 4 Ztr. Salpeter jährlich entzieht.
Große Stickstofifverluste drohen dadurch, daß
Mensch und Tier den Hauptteil des aufgenommenen
Nahrungsstickstofts im Harn wieder ausscheiden
und von den betreffenden Verbindungen nur einen
stickstoffreien Teil als Energiematerial verwenden.
So scheiden die Menschen auf der Erde im Tag
17 Millionen kg Stickstoff = i Million dz Chili-
salpeter im Harn aus und von der stickstoft"-
haltigen Nahrung unserer Nutztiere wandern 80 "'0
in den Dünger.
Deshalb geht der Stickstoff, den die Landwirt-
schaft zur menschlichen Nahrung in die Städte
liefert, zum weitaus größten Teil verloren, wenn
man die Aborte an die Kanalisation anschließt,
abgesehen von den wenigen Fällen, wo Riesel-
felder möglich sind. Gegen diese Verluste wird
kaum etwas zu machen sein. Die Stickstoffver-
luste aus den tierischen Ausscheidungen dagegen
hat man seit Jahrzehnten zu vermindern gesucht,
aber ohne großen Erfolg. Soxhlet halte frei-
lich schon längst den wichtigen Weg zur Stall-
düngerkonservierung gewiesen, der in einer
Trennung der flüssigen und festen Ausscheidungen
liegt. Aber erst der Zwang der Kriegsnot hat
zu großen F'ortschritten aut diesem Wege ver-
helfen. Mit Hilfe des Landeskulturrates und des
Kriegshilfeauschusses in Sachsen haben Andrä
und Vogel gezeigt, daß es praktisch sehr wohl
durchführbar ist, den Jauchestickstoff vor Ver-
lusten zu schützen, wenn man die Jauche nur
sorgsam vor Berührung mit der Luft schützt, weil
sonst das aus dem Harnstoff entstehende kohlen-
saure Ammoniak leicht in die Luft entweicht.
Die Erfahrungen des mecklenburgischen Land-
wirtes Ort mann wurden dabei benutzt. Es ist
dabei nicht nur nötig, die Jauche beim Einlaufen
in die Jauchegrube und beim Aufbewahren in
derselben vor Luftzutritt zu schützen, sondern auch
nach dem Ausfahren auf den Acker. Die Jauche
muß in den Boden eingedrillt oder sofort unter-
gepflügt werden.
Der Wert des auf solche Weise zu sparenden
Stickstoffs der Jauche ist gleich der Summe, welche
Deutschlands Landwirtschaft vor dem Kriege für
Chilisalpeter ausgab.
So ist also durch diese Arbeiten ein neuer
gangbarer Weg gezeigt, um uns von der Einfuhr
an Stickstoffdüngemitteln dauernd unabhängig zu
machen. Hoffentlich benutzen nun auch unsere
Landwirte diesen Weg. Dem Stickstoffmangel
können wir auch durch Erschließung verfügbarer
Reserven abhelfen. So können wir durch Ätz-
kalkdüngung den Bodenstickstoff mobilisieren und
den Pflanzen in erhöhtem Maße zugänglicher
machen. So fand Vortragender in schwerem
Muschelkalkboden ohne Atzkalkdüngung 2, mit
Atzkalk 1 1 Ztr. Salpeter pro Morgen Ackerkrume,
deii aus dem durch Ätzkalk aufgeschlossenem
Bodenstickstoff entstand. Ätzkalk wirkt daher in
solchem Boden wie Mist auf die Ernte.
Durch Leguminosengründüngung können wir
bekanntlich dem Boden Luftstickstoff zuführen.
Ratsam ist, Gründüngung immer möglichst spät
unterzupflügen, weil sonst infolge der schnellen und
massenhaften Salpeterbildung aus der Grün-
dungungsmasse große Stickstoffmengen in den
Untergrund gewaschen werden. Impfungen mit
angepaßten Bakterien haben besonders auf Moor
und Neuland Erfolg, im übrigen nur bei Pflanzen,
denen der betreffende Boden nicht zusagt. Die
Ausnutzung des verfügbaren Stickstoffs können
wir durch Verbesserung der physikalischen Boden-
beschaffenheit steigern, weil dann die Pflanzen
weniger Assimilationsprodukte zur Arbeitsleistung
beim Vortreiben der Wurzeln im Boden braucht.
Gutes Pflügen und Einschaltung blätterreicher,
schattender Pflanzen in die Fruchifolge dient
diesem Zwecke und ist daher in jetziger Zeit
wohl zu beachten.
Auf Sandboden kann man nach Versuchen
des Vortragenden durch Tonzusatz das Gleiten
der Wurzeln im Boden erleichtern und aus diesem
und anderen Gründen die Ernte bei Weizen und
Roggen auf das Dreifache, bei Hafer auf das Vier-
zehnfach steigen. Gerlach erhielt bei Feldver-
suchen nach diesem Prinzip in 5 Jahren 80 "^
Ernte mehr durch Tonzusatz.
Solche Maßnahmen erhöhen die Düngeraus-
nutzung. Von gleicher Düngerinenge wurde in den
erwähnten Versuchen des Vortragenden in Sand
mit Tonzusatz bei Weizen die doppelte, bei Hafer
die achtfache Stickstofifmenge aufgenommen im
Vergleiche zu Sand ohne Ton. So kann man den
Stickstoftverlust durch Auswaschung vorbeugen
und gleichzeitig viel höhere Ernten erzielen.
Warum haben wir aber trotz jahrelangem Stick-
stoffmangel dieses Jahr doch eine Mittelernte er-
zielt? Hat der Boden, statt zu verarmen, seinen
SiickstofTvorrat durch Bakterien vielleicht aus der
Luft ergänzt, trotzdem dies von gegnerischer Seite
oft und heftig bestritten wird? Daß bei Zusatz
von Energiematerial (Zucker, Zellulose) für die
stickstoffbindenden Bakterien der Boden sich über-
reich mit Luftstickstoff anreichert, hat Vortragender
bewiesen und Hofer hat dies bei Fischteich-
düngungen neuerdings in die Praxis umgesetzt.
Aber auch ohne Zusatz von Energiematerial
zum Boden spielen sich ähnliche Vorgänge der
Stickstoffbindung im Boden wenn auch langsam ab.
Vortragender hat durch zehnjährige Gefäßversuche,
die im Fruchtwechsel bepflanzt waren, 17 mg Stick-
stoff aus 100 g Boden geerntet. Und doch hatte
der Stickstoffgehalt des Bodens nicht abgenommen.
Daraus darf nun aber nicht gefolgert werden,
daß jede Stickstoffdüngung zwecklos wäre. Wenn
das Wetter günstig ist und man den Boden vor-
züglich bearbeiten kann, macht man auf besserem
Boden auch ohne Düngung reiche Ernten. Ist aber
die Witterung ungünstig und die Bearbeitung schlecht
N. R XVI. Nr. S
Naturwissenscliafiliche Wochenschrift.
99
i^elungeii, su trill die Düngung ausgleichend ein und
liefert so im Durchschnitt Mittelernten.
Prof. B u c h w a 1 d - Berlin sprach über Kriegs-
müllerei und -bäckerei. Die Kriegsverord-
nungen, welche für das Ausreichen der vorhan-
denen Brotgetreide Sorge tragen, erstrecken sich
auf die Bewirtschaftung des Getreides und auf
die Streckung der Vorräte.
Bezüglich der Brotgetreide wurde zunächst ein
Verfütterungsverbot erlassen für mahlfähigen
Roggen und Weizen. In Praxis bedeutet dieses
Verbot ganz allgemein das Verfüttern von Brot-
getreide, da jedes Brotgetreide mahlfähig ist,
vorausgesetzt, daß es nicht etwa durch Verderben
zur menschlichen Nahrung ungeeignet geworden ist.
Eine sehr schwierige Aufgabe lag in der Ge-
sunderhaltung des inländischen Brotgetreides auf
lange Zeit hindurch bis zur neuen Ernte. Die
Verantwortung für die Gesunderhaltung hatten
die Mühlen zu tragen, die außerordentlich große
Mengen Getreide jeder Beschaffenheit, trockenes
sowie klammes und feuchtes, aufnehmen mußten.
Es hat sich aber gezeigt, daß das inländische Ge-
treide gesund erhalten werden kann, wenn mit
der Bearbeitung während der kühlen Winterzeit
schon frühzeitig begonnen und nicht erst gewartet
wird, bis im Frühjahr bei warmer Witterung das
Getreide durch Schimmel zu verderben beginnt.
Getreide mit i8 "„ Feuchtigkeit und mehr müssen
künstlich getrocknet werden. Die Getreide zwischen
i6 und l8"„ müssen durch einfache Bearbeitung
während der kühlen Zeit allmählich auf einen
Feuchtigkeitsgehalt von lö",, gebracht werden.
Die Notwendigkeit, den Feuchtigkeitsgrad des Ge-
treides ständig zu kontrollieren, hat zur Schaffung
einer Schnellwasserbestimmungsmethode der Ver-
suchsanstalt für Getreideverarbeitung nach Dr. F'or-
net geführt, mittels deren innerhalb lO Minuten
der Feuchtigkeitsgehalt mit für die Praxis ge-
nügender Genauigkeit ermittelt werden kann. Die
vielen Entmuft'ungsverfahren, welche empfohlen
wurden, um verdorbenes Getreide gesund zu
machen, sind wertlos. Ist der Zustand so, daß noch
eine Rettung möglich ist, so genügt im allgemeinen
TrocknenoderWaschen und Trocknen desGetreides.
Um mit den Getreidevorräten auszureichen
waren Bestimmungen über den Ausmahlungsgrad
der Mehle getroft'en. Im Frieden wurde im all-
gemeinen Roggen auf 68 69 " „ Mehl ausgemahlen,
Weizen auf 78/79 "/„. Diese Ausbeute bildete aber
keine einheitlichen Mehle. Die Mehlsorten waren
fast in jeder Mühle anders. Es ist zu hoffen, daß
zu diesen Verhältnissen eine Rückkehr nicht wieder
stattfindet. Im Kriege mußte Roggen auf min-
destens 82'% Mehl, Weizen auf mindestens 80",,
ausgemahlen werden. Besondere Verhältnisse er-
forderten dann, daß innerhalb gewisser Grenzen
neben den durchgemahlenen Mehlen auch Auszugs-
mehle, die etwa den ersten 7 — 8 Prozenten ent-
sprachen, hergestellt wurden, ferner, daß auch
Schrotmehle bis zu 93 '% der Ausmahlung erzeugt
wurden. Die Mehlmenge, die so aus Weizen ge-
zogen wurde, war, mit den Friedensverhältnissen
verglichen, nicht oder nur unwesentlich größer,
dagegen war beim Roggen der Unterschied von
68 09 auf 82 "n erheblicher. Roggenmehle letz-
teren Ausmahlungsgrades sind auch die üblichen
Kommißmehle, wie sie auch im Frieden hergestellt
werden. Die Technik, welche die Mühlen zur
Herstellung der Mehle anwendeten, war dieselbe
wie in Friedenszeiten.
Die hochgezogenen Kriegsmehle sind dem Ver-
derben leichter ausgesetzt als die helleren Friedens-
mehle. Sie werden leichter dumpf und muffig
und besitzen öfters einen bitteren Geschmack. In
Friedenszeiten würden fraglos solche Mehle als
zur menschlichen Nahrung nicht geeignet bean-
standet werden, jetzt im Kriege mußten aber un-
bedingt auch solche Mehle zu Genußzwecken Ver-
wendung finden. Tatsächliches Verderben von
Mehl kam verhältnismäßig selten vor, die Ursachen
waren Klumpigwerden verbunden mit starker
Schimmelbildung und Mottengespinsten.
Im zweiten Kriegsjahr war die Menge der zu
beanstandenden Mehle erheblich geringer. Die
größeren Erfahrungen in der Gesunderhaltung der
Getreide, besonders die künstliche Trocknung
dürften die Ursachen gewesen sein. Neben der
Roggen- und Weizenmüllerei nahm die Vermahlung
von Mais zu Gries und Mehl, und von Kartoffel-
flocken zu Walzmehl großen Umfang an, ebenso
wurden andere Produkte wie Stroh, Spelzen, zu
Mehl fein vermählen. Die Herstellung von groben
Graupen aus Gerste nahm bedeutenden Umfang
an. Es wurde auch dahin gestrebt, das Fett,
welches in den Keimen der Getreide sich findet,
zu gewinnen. So wurde besonders der Keim aus
dem Mais nach besonderen neuen Müllereiverfahren
herausgebrochen und das Ol gepreßt bzw. extra-
hiert. Auch die Gewinnung des Fettes aus Roggen
und Weizenkeimen wurde in großem Maßstabe in
die Wege geleitet.
Zur Streckung der Mehlvorräte mußten schließ-
lich in der Bäckerei dem Mehl Zusatzmehle zu-
gemischt werden, abgesehen davon, daß je nach
den vorhandenen Vorräten dem Weizenmehl
Roggenmehl und dem Roggenmehl Weizenmehl
zugemischt wurde. Als Zusatzstoffe kamen in
FVage solche, bei deren Zusatz der Brotcharakter,
Brotgeschmack im wesentlichen bewahrt wird,
wie Kartoffeln und die daraus gewonnenen Pro-
dukte: Kartoft'elstärkemehl, Kartoffelflocken, Kar-
toffelwalzmehl, ferner Zucker und Melasse. Natür-
lich sind auch alle mehlartigen Stoffe als Zusatz-
mehle geeignet, sie standen jedoch im allgemeinen
nicht in genügenden Mengen zur Verfügung, wie
Gerste, Reis, Mais, Buchweizen, Tapiokamehl,
Mandiokastärke, Hirse, Hafer. Zusatzstoffe, welche
den Brotcharakter ungünstig beeinflussen, waren
abzulehnen. Als solche kamen in Frage Blut, Torf,
Soya, Lupinen, bitteres Kastanienmehl. Ebenso
können als Streckungsmittel nährstoft'lose oder sehr
nährstoffarme Stoffe nicht in Frage kommen, wie z. B.
Holzmehl, Holzschliff, Strohmehl, Spelzspreumehl,
wenn auch das eine oder andere dieser Produkte
bäckereitechnisch sich wohl als Zusatz benutzen läßt.
Naturwissenschaftliche Woclicnschrift.
N. F. XVI. Nr. t^
Als die Brotmarken zur Kinführung kamen,
wurden Verfahren angegeben , um aus Mehl-
mischungen, besonders Kartoffelprodukten, die
kein Brotgetreide (Roggen und Weizen) enthielten,
genügend gelockerte, einwandfreie Gebäcke zu
erzeugen. Schließlich wurden auch Gärverfahren
gefunden, mit deren Hilfe die üblichen Hefe-
mengen in der Weißbrotbäckerei sehr stark (95 %)
herabgesetzt werden konnten, bzw. ganz ohne
Preßhefe gebacken wird analog den Sauerteig-
verfahren in der Schwarzbrotbäckerei. Die Ver-
suchsanstalt für Getreideverarbeitung ist zurzeit
bemüht, diese Verfahren in der Praxis einzuführen.
Prof. Büsgen-Hann.-lMünden trug über
die Nutzung des deutschen Waldes im
Kriege vor.
Der deutsche Wald, der über '/i des deutschen
Bodens überzieht, ist in der Lage, aus bei der
vorsichtigen Wirtschaft unserer Forstwirte ange-
sammelten Vorräten, durch Wiederbelebung alter
und Einführung neuer Nutzungen den durch Weg-
fall unserer Einfuhr gegebenen Mangel an Holz,
Futtermitteln und Rohstoffen für unsere Gewerbe
zu einem nicht unbedeutenden Teile auszugleichen.
Der dem Kriegsernährungsamt beigegebene Forst-
mann findet ein weites Arbeitsfeld. Zur Streckung
der Futtermittel kommen die Wald weiden
wie Gräser, Seggan und Adlerfarn, nach der Me-
thode von Ramann und Jena behandeltes
Reisig, Waldfrüchte, Waldfeldbau und Zwischen-
bau von Roggen und Buchweizen in den Schäl-
wäldern in Betracht; ferner nach den Verfahren
von Windesheim und ten Doonvkaat,
Zdarek, Classen und Schwalbe chemisch
aufgeschlossenes Holz, das auch zur Spiritus-
gewinnung dient. Harz liefert beim Abkratzen
der von Wild verursachten Schälwunden an Fichten,
die Ausbeutung der Kiefernstöcke oder Stubben,
die bei der Fällung im Boden bleiben und die
Harzung stehender Kiefern während einiger Jahre
vor der Fällung, worüber Forstmeister Kienitz
in Chorin Versuche angestellt hat. Zur Streckung
der beim Leimen des Papiers nötigen Harzvorräte
stellt Heuser unter Benutzung des Buchenholz-
theers einen Theerleim her. Zum Ersatz der
amerikanischen Einfuhr von Gerbmitteln ist
die Wiederbelebung und Fortbildung der alten
Eichenschälwaldwirtschaft ins Auge gefaßt und
die Nutzung der bisher vernachlässigten gerbstoff-
reichen Fichtenrinde, des gerbstoffreichen Holzes
der Edelkastanie, der Abfälle älterer Eichenstämme
und der Weidenabfälle der Korbflechterei. Für
die menschliche Ernährung könnte Zusatz
von äußerst fein gemahlenem Holzmehl zum Brot
oder besser chemisch in Zucker verwandelte Plolz-
abfälle und geeignete Rinden Verwendung finden.
Auf den kanarischen Inseln dienten früher der
nährstoffreiche Grundstock des Adlerfarn zur Her-
stellung einer Speise. Die Pilze können mehr als
bisher zur Ernährung herangezogen werden, na-
mentlich der Champignon, zu dessen Kultur Prof.
Falck in Hann.-Münden Aussaatkulturen liefert,
die bisher aus Frankreich bezogen wurden. Ö 1
liefern Buchein (427,1), Lindensamen (9 — 2o"/„)
und in den Schälwäldern anzubauende Ölpflanzen.
Nadelholzsamen enthalten über 2o"/(, Ül, das bis-
her nicht gewonnen zu werden scheint.
Prof. Zornig in Basel sprach dann über
Arzneipflanzenkultur. Da wir alljährlich
eine große Menge Arzneipflanzen aus dem Aus-
lande beziehen, die jedoch ebensogut bei uns ge-
baut werden könnten, wodurch viele Millionen im
Inland blieben, wird angeregt mehr als bisher,
unter Berücksichtigung einer sachgemäßen Kultur
die Arzneipflanzen im Inland anzubauen. Nach
einer eingehenden Schilderung der augenblicklich
in den einzelnen Ländern angebauten Arznei-
pflanzen und des Umfanges der Kultur, wird auf
diese selbst eingegangen. Hierbei wird verlangt,
daß die Züchter ebenso wie sie den Kulturpflanzen
ihre Achtsamkeit schenken, das auch hinsichtlich
der Arzneipflanzen tun müßten.
Als bei uns am leichtesten anzubauende Pflanzen
werden erwähnt : Althaea rosea, A. officinalis, Malva
silvestris, Matricaria chamomilla, Cnicus benedictus,
Melissa officinalis, Mentha peperita und M. crispa,
Capsicum annuum, Salvia officinalis, Verbascum
phlomoides oder V. Thapsus, Valeriana officinalis,
Origanum vulgare, Chrysanthemum cinerariae-
folium. Der Vortragende ist der Ansicht, daß
sich der Anbau der Arzneipflanzen bei uns bei
der Kultur im kleinen sicher lohnen wird und
daß die angebauten Pflanzen den wildwachsenden
an Wirksamkeit nicht nachstehen werden. Durch
Lichtbilder wurden solche Kulturen noch erläutert.
Prof. Dr. A. Voigt- Hamburg schilderte
die Entwicklung der Ölpalmen-
nutzung in Kamerun. Auf 2 Studienreisen
191 1 und 19 14 war es ihm möglich, recht wert-
volles Vergleichsmaterial für die Beurteilung der
Entwicklung zu gewinnen. Während 191 1 die
Nordbahn eben ihrer Vollendung entgegenging
und die Mittellandbahn kaum im Bau begriffen
war, konnten 1914 die Gebiete des Innern mit
Hilfe der beiden Bahnen bequem und regelmäßig
erreicht werden. Der Reichtum der Kolonie an
Ölpalmen konnte zwar 191 1 vermutet werden, er
wurde aber durch die weitere Entwicklung der
Bahnen zur vollen Gewißheit. In der kurzen
Spanne von 3 Jahren sind nun an vielen Stellen
durch Niederlegung des Busches große Ölpalmen-
bestände freigelegt und andererseits an verschiede-
nen Orten regelrechte Neupflanzungen von Öl-
palmen angelegt worden. Zur besseren Ausnutzung
der Rohstoffe wurde bereits 191 1 in günstiger
Verkehrslage an Wasserstraßen und Eisenbahn
ganz nahe von Duala eine große Fabrik gebaut,
die sich außerdem in den 3 Jahren gute Verkehrs-
wege in die umliegenden Ölpalmengebiete ge-
schaffen hat. Mehrere größere Plantagen und
Pflanzer haben sich ebenfalls Palmölaufbereitungs-
anstalten zugelegt.
Wenn Kamerun auch bisher nur einen geringen
Prozentsatz der von der gesamten Westküste Afrikas
ausgeführten Palmkerne und Palmöle lieferte, so
berechtigten doch die reichen Bestände des Landes
N. F. XVI. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
und die bedeutende Entwicklung, die Anbau und
Nutzung gerade in den letzten Jahren gefunden
haben, zu^der begründeten Hoffnung, daß diese
Kolonie einmal einen der ersten Plätze unter den
Ölpalmgebieten der Westküste Afrikas einnehmen
wird, an deren Erzeugnissen Deutschland, was
das Palmöl angeht, in erster Linie, und was die
Palmkerne betrifft , fast ausschließlich inter-
essiert war.
Der Vortrag wurde durch vergleichende Licht-
bilder aus den Jahren 191 1 und 1914 unterstützt.
Prof. M u t h - Oppenheim a. R. sprach über
die Gewinnung von Öl aus den Samen
einheimischer Holzgewächse.
Deutschland hatte vor dem Weltkriege einen
Einfuhrüberschuß an Ölsaaten und Ölfrüchten von
1600000 t, die nach der Ausbeute der einzelnen
Ölsaaten berechnet eine Ölausbeute von 570000 t
ergaben. Das Inland lieferte 20 — 30000 t Öl,
während die Ein- und Ausfuhrbilanz fertiger pflanz-
licher Öle mit einem Ausfuhrüberschuß von
35000 t abschloß, so daß unser jährlicher Ölver-
brauch vor dem Krieg etwa 560 000 t betrug.
Die Einfuhr von Ölsaaten und von Ölen und
Fetten ist seit Kriegsbeginn beinahe vollständig
unterbunden. Wir sind also auf unsere inlän-
dischen Produkte angewiesen. Dabei spielen die
früher kaum beachteten ölhaltigen Samen unserer
einheimischen Holzgewächse eine nicht unwesent-
liche Rolle. Die wichtigsten sind die Rebenkerne
mit durchschnittlich 8 — io°/„ Öl, die Steinobst-
kerne mit durchschnittlich iS— 47''/(, Öl, die Wal-
nüsse mit 50 — 60%, die Haselnüsse mit 40 — 50,
die Bucheckern mit 20 — 25 ",„ Öl. Unter beson-
deren Umständen kommen für die derzeitige
Ölgewinnung noch in Betracht die Kerne der
Kernobstfrüchte mit einem durchschnittlichen Ol-
gehalt von 14 — 24 "/o. die Samen des Beerenobstes
mit einem Ölgehalt von 10,50—15%,, die Samen
der verschiedenen Lindenarten mit einem durch-
schnittlichen Olgehalt von 22 — 28%, die Früchte
des roten Holunders mit einem Ölgehalt der ge-
trockneten Früchte von 23 — 24''/o. die F"rüchte
der Ulmen mit 9 — 14"/,,, die Sarnen der Roß-
kastanie mit durchschnittlich 2 •*/„ Ol, sowie die
Samen der gemeinen Kiefer mit etwa 32 "/„, die
Samen der Zirbelkiefer mit etwa 35 "/,, fettem Öl.
Ein Teil der genannten Samen, wie die der Rebe,
sind gesetztlich beschlagnahmt. Über die Menge
des aus den Samen unserer Holzgewächse zu ge-
winnenden Öles ließen sich Berechnungen nicht
gut ausführen. F"ür die Rebenkerne hat man für
das Jahr 1916 eine Ausbeute von looo Tonnen
berechnet. Immerhin ließen sich bei möglichst
weitgehender Ausnutzung der uns hier zur Ver-
fügung stehenden ()lquellen Mengen erhalten, die
zur Linderung der großen Öl- und P'ettnot in
merkbarer Weise beitragen. An Enttäuschungen
hat es natürlich auch bei der Gewinnung des
Öles aus den Samen unserer Holzgewächse nicht
gefehlt. Man hat sich bei den Kalkulationen teil-
weise auf Literaturangaben verlassen, die sich
nicht als zuverlässig erwiesen, obgleich man leicht
durch Analysen von jederzeit durch unsere Samen-
handlungen erreichbarem Rohmaterial eine einiger-
maßen sichere Grundlage sich hätte verschaffen
können. Die Enttäuschung ist besonders bei den
Lindensamen sehr groß gewesen. Bei den Linden
ist außer anderen den Ölgehalt beeinflussenden
Faktoren der sehr stark schwankende Befruchtungs-
grad zu berücksichtigen. Man kann bei manchen
Bäumen oft sehr viel taube F"rüchte feststellen.
Eine weitere Enttäuschung brachte häufig die An-
wendung des Preßverfahrens bei wenig Öl-
haltigen Samen, anstelle des heute hochentwickel-
ten und anpassungsfähigen Extraktionsverfahrens.
Letzteres verdient gerade bei dem größeren Teil
des hier in F"rage kommenden Rohmaterials den
Vorzug. Auf die möglichst vollständige Verwer-
tung der Preßrückstände zu Futterzwecken ist der
größte Wert zu legen, wobei eventuell besondere
Entbitterungsverfahren, wie bei der Roßkastanie,
oder Aufschlußverfahren zur Erhöhung der Ver-
daulichkeit nötig sind.
Hierauf hält Prof. Wehmer- Hannover einen
Vortrag über
Einige bislang ungenutzte vegetabi-
lische Rohstoffe.
1. Verwertung verdorbener Kartoffeln
als Futter und technisches Rohmaterial.
Von der in normalen Jahren gegen 50 Millionen
Tonnen ausmachenden Kartoffelernte Deutschlands
gehen immer noch einige Prozent jährlich durch
Krankheit, Erfrieren usw. verloren, rechnet man
auch nur ein Viertel Prozent Verlust, so macht
das doch schon über eine Million Zentner aus,
von denen sicher ein erheblicher Teil verwertet
werden könnte. In diesem Jahre ist eine solche
Forderung besonders wichtig. Jene Menge ver-
derbender Knollen würde bei Verarbeitung min-
destens lOOOOO Zentner Stärke oder gut das Drei-
fache eines als Viehfutters wertvollen Schrotes
liefern können. Auch nur ein Zehntel dieser Menge
würde heute einen erheblichen Wert repräsen-
tieren. Zurzeit werden kranke oder faule, nicht
mehr als Futter brauchbare Knollen bekanntlich
allgemein auf den Düngerhaufen geworfen, eine
kaum verantwortliche Verschwendung eines hoch-
wertigen Rohmaterials, denn sie enthalten den
vollen Stärkegehalt der gesunden, weil die Stärke
bei der Zersetzung durch Mikroorganismen kaum
angegriffen wird. In einem einzigen dem Vortr.
bekannt gewordenen F'alle sind im letzten Winter
allein nicht weniger als ca. 400 Zentner erfrorener
und verfaulter Knollen glatt vernichtet worden.
Die Möglichkeit der Verarbeitung selbst hoch-
gradig naßfauler Knollen hat Vortr. im Anschluß
an vorherige Laboratoriumsversuche in einem
größeren Experiment mit über 100 Zentner fest-
gestellt. Das zu ca. 40"',, aus ihnen gewonnene
rohe Kartoftelmehl bzw. Schrot, von dem Proben
vorgelegt wurden, war ein völlig geruch- und ge-
schmackloses, sauberes Produkt mit rund 50%
Stärke und 6";,, Stickstoflsubstanz, das sich bei
einigen Fütterungsversuchen gut bewährt hat.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 8
Die Verarbeitung der Knollen kann in verschie-
dener Weise stattfinden, die auf trokenem ist viel-
leicht der auf nassem Wege (Stärkegewinnung
durch Rotte unter Wasser) vorzuziehen, üble Ge-
ruchs- und Geschmacksstoffe werden dabei völlig
beseitigt. Unter kleinen Abänderungen kann man
die Stärke auch auf dem üblichen Wege heraus-
holen, sie steht zwar nicht der aus gesunden Kar-
toffeln dargestellten völlig gleich, das ist aber bei
Verwendung für technische Zwecke (Kleister, Dex-
trin, Alkohol u. a.) belanglos; hierbei kann man
natürlich aber auch direkt von den kranken
Knollen ausgehen, die Säureverzuckerung geht
glatt. Schwierigkeiten einer rationellen Nutzung
der verdorbenen Kartoffeln liegen in dem Sammeln
des Materials; es ist überall im Lande verstreut,
fabrikmäßige Verarbeitung verlangt aber möglichst
große Mengen. An diesem Punkte müßte durch
ganz bestimmte behördliche Vorschriften einge-
griffen werden.
2. Maiblumen fasern (Convallaria majalis).
Als Abfallprodukt liefern die Maiblumenkulturen
der Gärtnereien jährlich nicht unerhebliche Mengen
von Blättern, welche nach Versuchen des Vortr.
durch Tau- oder Wasserrötte eine brauchbare,
ziemlich zähe und lange Faser ergeben (Gefäß-
bündel der Blätter). Bislang ist diese Faser nir-
gend erwähnt, bekannt sind aber andere ver-
wandte monokotyle Pflanzen als wichtige Faser-
lieferanten für Seilergewerbe, Netzfabrikation usw.
(Blattfasern von Agaven, Phormium, Musa als
Sisalhanf, Neuseeländischer Flachs, Manilahanf u. a.).
Die zur Verfügung stehende absolute Menge von
Maiblumenblättern ist zwar keine große, sie sind
aber kostenloses Nebenprodukt, das auf billigem
Wege nutzbar gemacht werden könnte. Dargestellte
Präparate der Fasern wurden vom Vortr. vorgezeigt.
Dr. Olga Knischewsky, z. Zt. wissen-
schaftliche Lehrerin an der wirtschaftlichen F"rauen-
schule Bad Weilbach, Reg.-Bez. Wiesbaden, sprach
dann über den naturwissenschaftlichen
Unterricht alsGrundlage für die Haus-
wirtschaftskunde. Sie schilderte den Unter-
richt an der genannten Schule und forderte die
Gründung hauswirtschaflticher Lehr- und For-
schungsinstitute, wie sie in Amerika schon seit
langem bestehen.
Eine Arbeit von Prof. W i e 1 e r in Aachen
über Kaffee- und Teeersatz wurde wegen
Verhinderung des Verf von Dr. Fischer- Brom-
berg vorgetragen.
Ein voller Ersatz für Kaffee, ebenso wie
für Tee ist nicht möglich, da unserer Flora die
koffeinhaltigen Pflanzen fehlen. Wohl aber können
andere gute Eigenschaften des Kaffees ersetzt
werden wie Geschmack und Aussehen, die Eigen-
schaft, uns das Gefühl der Nüchternheit zu nehmen
und seine durststillende Eigenschaft. Hierfür sind
schon seit langem Surrogate im Gebrauche, die
aus Wurzeln, Samen und Früchten hergestellt
werden, von denen heute freilich ein Teil ausfällt,
da er anderweitig gebraucht wird oder nicht zu
haben ist, Deshalb hat man heute eigentlich nur
mit Gerstenkaffee oder Malzkaffee und Zichorie
zu rechnen. Neu kommt hinzu die Mehlbeere
und die Frucht des Weißdorns. Verf empfiehlt
außerdem die Queckenwurzeln. Er weist auch
daraufhin, daß man die Surrogate durch Zusatz
des Kaffeearomas verbessern könnte, dies aber
könnte man nach einem Vorschlage von Lehmann
aus den Röstprodukten des Kaffees gewinnen.
Weniger Erfahrungen liegen für den Ersatz für
chinesischen Tee vor. Seine Surrogate sind
meist Ersatztees, die von den Eigenschaften des
chinesischen Tees nichts an sich haben. Zu ihrer
Herstellung werden Blätter von Erdbeere, Brom-
beere, Himbeere, Kirsche, Schwarz- oder Schlee-
dorn, Heidelbeere, Moosbeere, Preiselbeere, schwarze
Johannisbeere, Stechpalme, Birke, Ulme, Weide,
Eberesche und Weidenröschen empfohlen. Auch
andere Pflanzen sind vorgeschlagen worden, die
noch näher zu prüfen wären. Über die Herstellung
solcher Ersatztees liegen wenig genaue Angaben
vor. Das Rösten wie beim chinesischen Tee
scheint ihnen zu schaden, während sie aromatischer
werden sollen, wenn man sie fermentiert. Da
man die chemischen Verbindungen kennt, die das
Aroma des chinesischen Tees hervorrufen, so
müßte es möglich sein, Surrogate mit seinem
Aroma zu schaffen. Versuche des Verf zeigen,
daß es möglich ist, das Aroma zu erhalten, doch
bedarf es noch eingehender Versuche, um damit
einen zweckmäßigen Tee zu verschaffen.
t^ber eine Arbeit von Quanjer betitelt:
„Phloemnekrose und Mosaik und die
züchterischen Maßnahmen, wodurch
man der Entartung, welche von diesen
Krankheiten verursacht wird, in Holland
vorbeugt," berichtete Geh. Reg.-Rat Dr. Appel-
Dahlem.
Auf Grund langjähriger Untersuchungen war
Quanjer schon früher zu der Ansicht gelangt,
daß die besondere Art der Blattrollung, welche
bei der Blattrollkrankheit der Kartoffeln beobachtet
wird, in Zusammenhang steht mit Absterbeerschei-
nungen der Siebröhren. Es führte daher den
Namen Phloemnekrose für diese Krankheit ein.
Nach seinen weiteren Untersuchungen kommt er
nun zu dem Schluß, daß diese Krankheit, deren
Ursache man bis jetzt noch nicht kennt, übertrag-
bar ist und begründet dies mit folgenden Be-
obachtungen: Die Krankheit breitete sich in
Moorkulturen Nordhollands von einem Zentrum
nach außen hin aus. Einzelne gesunde Stöcke in
kranken Beständen ergaben nicht zuverlässig ge-
sunde Pflanzen. Nachkommen gesunder Stauden
wurden in eine Gegend verpflanzt, in der die
Krankheit stark aufgetreten war, und wurden
krank. Die Schwesterpflanzen in der Heimat
blieben gesund. Kranke Stengelteile auf gesunde
Stengelteile gepfropft, führten zur Erkrankung der
Pflanze. Kranke und gesunde Knollenhälften zur
Verwachsung gebracht, hatten auch eine Erkran-
kung der Sprossen der gesunden Hälfte zur Folge.
Von halbierten gesunden Knollen erwuchsen auf
Boden, der vorher kranke Stauden getragen hatte,
N. F. XVI. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
103
kranke Stauden, auf gesundem gesunde. Auf
einem Feld, das lange nicht zu dem Kartoffelbau
benutzt worden war, und das an ein krankes Feld
angrenzte, ent.standen aus gesunden Knollen an
der Grenze kranke Pflanzen, von 2 m Entfernung
an gesunde Pflanzen. Aus Samen erhielt Quanjer
auf sterilisiertem Boden gesunde Pflanzen, gleich-
gültig ob die Samen von gesunden oder kranken
Pflanzen abstammten. Er nennt daher die Blatt-
rollkrankheit, die er in dieser Richtung mit der
Serehkrankheit des Zuckerrohres in Beziehung
bringt, Pseudohereditea.
Auch für die Mosaikkrankheit der Kartoffeln
treffen einige der für die Blattrollkrankheit ge-
machten Beobachtungen zu, so daß man es auch hier
vielleicht mit einer ansteckenden Krankheit zu tun
hat. Wegen mancherlei Analogien vergleicht er
diese Krankheit mit der Mosaikkrankheit des
Tabaks, der Peach yellow der Amerikaner, und
den infektiösen Chlorosen Bau r 's. Ein Krank-
heitserreger konnte für diese Krankheiten noch
nicht gefunden werden. Es erscheint dem Autor
jedoch nicht ausgeschlossen, daß ein Virus als
Krankheitserreger in Betracht kommt.
Über die Mosaikkrankheit der Kar-
toffeln in Holland teilte dann noch FVäulein
Dr. O. Westerdijk eigene Erfahrungen an den
Sorten „Bonten" und „Blauwen" mit, deren Laub
im Juni oder Anfang Juli gelb gescheckt wird.
Die gelben Stellen im Blatt wechseln mit stark
dunkelgrün gefärbten, etwas gefalteten Stellen ab.
Das Laub entwickelt sich zwar' öfter nicht so
üppig als bei den genannten Pflanzen, doch fällt
im allgemeinen die Krankheit wenig auf. Verf.
hat während einer Reihe von Jahren versucht,
den Einfluß der Krankheit auf den Knollenertrag
festzustellen. Die Krankheit, die früher unter
dem Sammelnamen Blattrollkrankheit bekannt war,
ist bei einigen Sorten sehr deutlich ausgeprägt
und von dem jetzt festgestellten Begriff BlattroJl-
krankheit verschieden. Von der „bonten" und
„blauwen" wurden 191 1 verschiedene kranke Stöcke
ausgewählt und nachgebaut, während die Nach-
kommenschaft gesunder Stöcke von solchem Felde
als Kontrollpflanzen galten. Es hat sich nun her-
ausgestellt, daß die mosaikkranken Stöcke im Er-
trag zurückgehen ; bei einzelnen geht die Ernte
rasch, bei anderen langsam herunter. So wurde
der mittlere Stockertrag eines bekannten Stammes,
191 1 ausgewählt, nach zwei Jahren bis auf 33"/,,
des ursprünglichen mittleren Ertrages abgebaut.
Der Ertrag der gesunden Kontrollpflanzen hatte
sich während derselben Jahre um 6 "/n erhöht.
Ein kleiner Teil des Rückganges muß auf Kosten
des kleiner werdenden Saatkartoffelgewichtes ge-
bracht werden. Auch unter den urspünglich
gesunden Stämmen traten im Nachbau kranke
Stöcke auf. Wenn sich in einem bestimmten
Jahr ein gesunder Stamm in gesunde und kranke
Nachkommen spaltete, so wies sich ein eben so
starker Rückbau auf, wie bei den Knollen, über
deren Stammbaum 191 1 nichts bekannt war.
Weiter wurde noch der Einfluß der Krankheit
auf den Ertrag an großen, zu Speisezwecken ge-
eigneten Knollen (über 30 Gramm Gewicht) fest-
gestellt. Der Prozentsatz dieser großen Knollen
ist bei den mosaikkranken Stöcken kleiner als bei
den gesunden, so daß der Einfluß des Mosaiks
schließlich auf den Wert des Ertrags noch stärker
ist als im Anfang erwähnt wurde. Einzelne
Stämme haben als Ausnahme eine Steigerung im
Ertrag aufgewiesen und ein kranker Stamm hat
gesunde Tochterpflanzen erzeugt. Unter deren
Nachkommen fanden sich zweimal Knospenvaria-
tionen, einmal ein Stamm mit roten, einmal ein mit
rein weißen Knollen, die sich als konstant (vegetativ
natürlich) erwiesen. Die Frage, ob die fortwährende
Benutzung kleiner Saatkartoffeln die Mosaikkrank-
heit fördere, mußte verneinend beantwortet werden.
Geh. Reg.-Rat Dr. Appel gibt in seinem
„Neues über die Blatt fallkrankheit und
das Rollen der Kartoffelblätter" betitelten
Vortrag ein Bild von dem jetzigen Stand unserer
Kentnisse der Kartoft'elkrankheiten, bei denen ein
Rollen der Blätter zu beobachten ist. Er kommt
dabei zu einem Schema dieser Krankheiten, das
er bereits 1913 aufgestellt und auch bei seinen
Vorlesungen in Amerika benutzt hat. Er teilt
die in Frage kommenden Krankheiten ein in : Ge-
fäßkrankheiten, die wieder zerfallen in Gefäß-
mykosen und Gefäßbakteriosen. Von den Gefäß-
mykosen ist die bekannteste die Welkekrankheit,
bei der der Pilz in den Tracheen wächst (Trache-
osen, Quanjers), daneben gibt es aber auch
Gefaßmykosen, bei denen der Pilz sich auf die
Tracheiden beschränkt. Als Gefäßbakteriosen
sind die Bakterienkrankheiten zu betrachten. Die
2. Gruppe bilden die F'ußkrankheiten, ,die eben-
falls in Gefäßmykosen und -bakteriosen zerfallen.
Zu den ersteren gehört die Rhizoctinia, zu letzteren
die Schwarzbeinigkeit. Als 3. Gruppe sind die-
jenigen Krankheiten zusammengefaßt, die soweit
bis jetzt bekannt ist, keine Organismen als Ur-
sache haben, dorthin gehört vor allen Dingen die
Blattrollkrankheit (Phloemnekrose). Als wesent-
lichen Fortschritt der Arbeit in den letzten Jahren
wird es betrachtet, daß aus dem ehemaligen Sammel-
begriff der Blattrollkrankheit eine Anzahl von beson-
deren Krankheitstypen herausgenommen und näher
aufgeklärt werden konnten. Wegen der zahlreichen
Einzelheiten muß auf das Original verwiesen werden.
Im Anschluß daran teilte auch Prof. Schander-
Bromberg neuere, durch umfangreiche eigene Ver-
suche gewonnene Erfahrungen über die Blattroll-
krankheit der Kartoffeln mit.
Prof. Lüstner- Geisenheim sprach „Über
Ersatzmittel bei der Schädlingsbekämp-
fung im Weinbau." Kupfervitriol und Schwefel,
niit dem seither Peronospora und Oidium bekämpft
wurden, sind nicht mehr erhältlich, weil sie be-
schlagnahmt sind und aus dem Auslande nicht
mehr eingeführt werden können. Zur Erhaltung
der Weinernte müssen also Ersatzmittel gefunden
werden. Zur Bekämpfung des Oidiums wurde
bereits vor einem halben Jahrhundert gewöhnlicher
„Straßenstaub" verwendet. Damit ausgeführte Ver-
I04
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 8
suche schlugen fehl. Auch andere neutrale Pulver
(Kaolin, Gips und Zement) haben sich nicht be-
währt. Dagegen befriedigte die Wirksamkeit eines
neuen Schwefels sehr, weshalb er zur weiteren
Prüfung empfohlen wird. Als Ersatzmittel für
Kupfervitriol kann allem Anscheine nach das
„Perozid", ein in der Hauptsache aus schwefel-
sauren Ceriterden bestehendes Präparat, gelten.
Die damit im großen mit 2",, und 2,5 **/(, igen
Brühen ausgeführten Versuche hatten ein gutes
Ergebnis, auch die „Bordola-Pasta" und ein neues
„Cupron" genanntes Präparat bewährten sich gut.
Zu beachten bleibt nur, daß die Peronospora in
diesem Jahre nicht epidemisch aufgetreten ist,
und daß zu ihrer Bekämpfung selbst eine 0,5 "/„ ige
Kupferkalkbrühe ausreichend war. „Chlorphenol-
quecksilber" war zwar gegen die Peronospora wirk-
sam, rief jedoch an den grünen Rebteilen Verbren-
nungen hervor, so daß es noch keine Verwendung
im Weinbau finden kann. Ersatzmittel für Nikotin
und Schmierseife zur Bekämpfung des Heu- und
Sauerwurms sind noch nicht gefunden.
Über Versuche mit Ersatzmitteln zur
Rebschädlingsbekämpfung, ausgeführt
in Baden im Jahre 1916 sprach Dr. K.
Müller-Augustenberg. Als Ersatzmittel für
Kupfervitriol zur Peronosporabekämpfung wurde
„Perozid", das hauptsächlich aus Cer-Didym- und
Lanthansulfat besteht, dann auch Bordola-
Pasta, ein niederprozentiges (2 "/„ Cu), gelatinöses
Kupferpräparat, in verschiedenen Gegenden des
Landes ausprobiert. Auf den Kontrollparzellen
kam I % ige Kupferkalkbrühe zur Verwendung.
Die Peronospora ließ sich selbst bei sehr starkem
Auftreten durch vorbeugendes Behandeln mit
2 "!„ iger Perozidbrühe fernhalten, wenn man die
Reben sorgfältig, vor allem auch die Blattunter-
seiten spritzte. Weniger gut wirkte Bordola,
wohl deshalb, weil der Kupfergehalt nur etwa '/s
desjenigen einer einprozentigen Kupferkalkbrühe
beträgt. Die Versuche haben gezeigt, daß während
der Kriegszeit, solange eine Kupfervitriolknappheit
besteht, die Peronospora auch durch niederprozen-
tige Kupferkalkbrühen praktisch genügend fern-
gehalten werden kann, wenn man die Blattunter-
seiten gründlich spritzt. Wenn Kupfervitriol ganz'
fehlen sollte, gestattet sorgfältiges Spritzen mit
Perozid die Peronospora- Krankheit , selbst bei
seuchenartigem Auftreten, zu unterdrücken.
Der neue, in Deutschland hergestellte Wein-
bergschwefel stand wegen zu geringer Feinheit in
seiner Wirksamkeit gegen den \'entilatoschwefel zu-
rück. Das Bespritzen der Reben mit stark verdünnter
Schwefelkalkbrühe unterdrückte den Mehltau.
Prof. Dingler- Aschaffenburg machte Angaben
über Wurzelbrutverbänderung und deren
vermutliche Ursachen. Die Erscheinung
ist bisher nur selten und von wenigen Pflanzen-
arten bekannt geworden. Der Vortragende fand
sie reichlich und in schöner Entwicklung an 20
bis 39 cm tief horizontal streifenden Wurzeln eines
Reineclaudenbaumes seines Hausgartens. Ein-
gehende wiederholte Untersuchung führte zu fol-
genden Schlußfolgerungen : Wenn im vorliegenden
Fall nicht eine besondere ererbte individuelle
Veranlagung zu Bandsproßbildung vorhanden ist,
was einstweilen offen bleiben muß, so kann man
annehmen, daß bei Prunus insititia, wie bei
vielen anderen Holzarten überhaupt eine gewisse
P'ähigkeit besteht, unter bestimmten Bedingungen
verbänderte Sprosse zu erzeugen. Wir kennen
bisher nur eine einzige solche Bedingung sicher;
Vollsaftigkeit („Plethora" der Mediziner) durch
überstarke Ernährung des ganzen Individuums
oder einzelner Glieder, im letzteren P'all erzeugt
durch Wegnahme anderer mit ihnen um den
Nahrungsstrom konkurrierender. Sachs, Goe-
bel, H. de Vries und Lopriore haben experi-
mentelle Beweise dafür geliefert. Es war hier
also die Frage, ob die Bandsprosse erzeugende
Wurzelbrut unter abnorm gesteigertem Saftdruck
steht. Es liegen in der Tat zweierlei Gründe
dafür vor: Immer wiederholtes Abschneiden oder
Abstechen aller über die Erde tretenden Schöß-
linge und der Widerstand, welchen die Erde, be-
sonders in sehr dichten Bodenteilen und in den
tieferen Schichten, den sie in negativ geotropischer
Richtung zu durchbrechen strebenden jungen
Wurzelsprossen bietet. In der Tat zeigen in festem
Boden die Wurzelsprosse sehr auffallende Knickun-
gen, Windungen und förmliche Verknäuelungen,
durch die wahrscheinlich starker Saftdruck entsteht.
Prof. Kroemer-Geisenheim besprach in
seinem Vortrage „Die Rebe in der Kriegs-
zeit" die Einwirkungen des Krieges auf den
deutschen Weinbau und erörtert zunächst die
Forderungen, die sich aus den veränderten Ver-
hältnissen für die Anlage und Bestellung der
Weinberge ergeben. Sie zielen im wesentlichen
alle darauf hin, den intensiven Betrieb im Wein-
bau mehr als bisher zur Geltung zu bringen. Der
Rückgang der Rebenanbaufläche, der sich im
Kriege stärker bemerkbar macht als in den letzten
Friedensjahren, kommt der Einführung dieser Wirt-
schaftsform sehr zustatten und ist deshalb für den
Bestand unseres Weinbaus vollkommen unbedenk-
lich. Bei dem Fehlen aller Auslandzufuhren ist
es trotz ansehnlicher Weinvorräte und trotz der
reichen Lese des vorigen Jahres zu einem sehr emp-
findlichen Weinmangel gekommen, der bei den
ungünstigen Herbstaussichten dieses Jahres zu einer
ganz außergewöhnlichen Erhöhung der Weinpreise
führen wird. Schon seit dem ersten Kriegswinter
sind Versuche im Gange, den Weinbau in erhöhtem
Maße auch für die menschliche Ernährung und
die Viehhaltung nutzbar zu machen. So sind
Zwischenkulturen von Gemüsen und Feldfrüchten
in bestockten und brachliegenden Weinbergen
häufig anzutreffen, allerdings vorwiegend in den
geringeren Lagen ; angeregt und erfolgversprechend
ist auch die Verwertung der beim F'rühjahrsschnitt
und bei der Laubbehandlung der Reben abfallenden
verholzten und unverholzten Triebe als Futtermittel.
Die Ausnützung der in den Preßrückständen der
Trauben, den sog. l'rcslern enthaltenen Nährwerte
ist durch die Beschlagnahme dieser Abfälle bereits
N. F. XVI. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
105
gesichert und verspricht nach den bisherigen
Schätzungen neben beträchtlichen Mengen von
Futtermehl allein für dieses Jahr eine Ausbeute
von rund 500000 1 Speiseöl. In ähnlicher Weise
gedenkt man die Nährwerte der Weinhefe zu er-
fassen, was bei dem hohen Weinstein- und Alkohol-
gehalt dieser Hefen allerdings weniger leicht zu
erreichen sein wird. (G.G.)
Die im Elb- iiud Oderstrouigebiet vorhaudeiie Wasseriueuge.
.) Von Prof. Dr. W. Halbfaß, Jena.
aus den Vorräten früherer Jahre zusammensetzt
und z. B. in Zeiten großer Dürre den zur Neige
gehenden Vorrat des oberen Grundwassers zu
ergänzen vermag.
Außer dem Oberflächenwasser des Hauptstroms
mit seinen Nebenflüssen, dem Inhalt der Seen
und dem Volumen des Grundwassers kämen
vielleicht noch der Inhalt der Brunnen und der
aufgespeicherten Schneemenge in Betracht. Doch
steckt ja das Wasser der Quellen zum größten
Teil bereits in der Grundwassermenge und kann
für sich allein nicht gut in Rechnung gesetzt
werden, und die Schneemengen kommen, so ge-
wichtig ihre Rolle im Wasserhaushalt des Flusses
ist, deshalb nicht in Betracht, weil sie ja keine
dauernde Erscheinung sind, sondern im Laufe
eines oder mehrerer Abflußjahre kommen und
verschwinden.
Bei der Berechnung der zuerst genannten
Wassermenge benutzte ich als Grundlage das von
der Kgl. Preußischen Klbstrom-Bauverwaltung
in Magdeburg herausgegebene sog. Eibstromwerk
„Der Eibstrom, sein Stromgebiet und seine wich-
tigsten Nebenflüsse", 3 Bd. Textband, i Tabellen-
band und I Atlasband, Berlin 1898, bzw. das
Oderstromwerk der Preuß. Bauverwaltung im
gleichen Umfang, Berlin 1896, sowie die von der
Kgl. Preußischen Landesanstalt für Gewässerkunde
herausgegebenen Jahrbücher für die Gewässerkunde
Norddeutschlands, deren letztes, das Abflußjahr
191 1 umfassend, im Jahre 1913 erschien: In bezug
auf die in den Seen und im Grundwasser vor-
handenen Wassermengen war ich in der Hauptsache
auf eigene Schätzungen angewiesen, wenn es auch
in der Literatur nicht gänzlich an einigen An-
deutungen fehlt; die Verantwortung für diese
Zahlen muß ich also allein tragen.
[Nachdruck verboten.)
Vor einiger Zeit versuchte ich in diesen
Blättern (N. F. Bd. 1 5 Nr. 43) den Jahreshaushalt
der Elbe und der Oder festzustellen, zweier
deutscher Ströme, deren hydrographische Ver-
hältnisse einerseits gut bekannt, andererseits relativ
einfacher Natur sind gegenüber z. B. dem Rhein
und der Weichsel, deren Haushalt weit kompli-
zierter und größeren Veränderungen unterworfen
ist. Ich möchte in den folgenden Zeilen den
Versuch unternehmen, die bei einem mittleren
Niederwasserstand, einem mittleren Wasserstand
und einem mittleren Hochwasserstand im Strom-
gebiet der beiden genanten Fiüße überhaupt vor-
handenen Wassermengen abzuschätzen.
Auf den ersten Augenblick scheint dieser
Versuch von vornherein fruchtlos zu sein, da
ein so ausgedehntes Flußsystem, wie das der
Elbe oder der Oder zu keiner Zeit im Jahr genau
den gleichen Wasserstand besitzt und weil es
auch an genügenden exakten Messungen fehlt,
das den Berechnungen zugrunde gelegt werden
könnte. Beide Einwände sind vollkommen gerecht-
fertigt und es liegt auf der Hand, daß irgend-
welche Ansprüche auf eine auch nur bescheidene
Genauigkeit der zn findenden Zahlenwerte ohne
weiteres fortfallen müssen. Allein einerseits sind
in beiden Stromgebieten die Niederschlags-
verhältnisse, von denen ja der Wasserstand des
Flusses in erster Linie abhängt, sowohl örtlich wie
zeitlich relativ geringen Schwankungen unter-
worfen, wenn man sie mit denjenigen anderer mittel-
europäischer Stromgebiete — von subtropischen
und tropischen ganz zu schweigen — vergleicht
und dann sind für beide Ströme wenigstens so
viel Messungen bekannt, daß man es wagen sollte,
gerade bei ihnen einen Zahlenwert zu ermitteln,
welcher gewiß für jedes einzelne größere Fluß
gebiet höchst charakteristisch ist. Freilich sind
wir namentlich hinsichtlich der in einem Fluß-
gebiet etwa vorhandenen Grundwassermenge vor-
läufig auf Schätzungen angewiesen, welche, wie
ich schon in der oben erwähnten Arbeit zeigte,
mehr auf bloßen Vermutungen, als wirklichen
Messungen beruhen und die daher auch nur sehr
relativen Wert besitzen können.
Das in jedem Stromgebiet aufgespeicherte
Wasser zerfällt in 3 Gruppen : in das zutage
liegende Oberflächenwasser des Hauptflusses und
seiner Nebenflüsse, das Wasser der angeschlossenen
Seen und in das mit ihm in engen Zusammen-
hang stehende Grundwasser, worunter ich nicht
bloß das sog. „obere" Grundwasser verstehe, das in
\^erlauf eines Abflußjahres in Mitleidenschaft ge-
zogen wird, sondern auch das „untere", das sich
L Das Eibgebiet.
a. Das Oberflächenwasser.
Die in einem Fluß enthaltene Wassermenge
erhält man, indem man den jeweiligen Querschnitt
mit derjenigen Flußlänge multipliziert, innerhalb
welcher der Querschnitt als konstant angenommen
werden kann. Solche Flußlängen sind namentlich
im Ober- und im Mittellauf eines Flusses außer-
ordentlich kurz. Breite und Tiefe pflegen sehr
häufig zu wechseln, so daß man, wenn man die
Rechnungen nicht bis ins Unendliche ausdehnen
und in einer Art Auswertung von Integralen er-
blicken will, sehr bald genötigt ist, diese Strom-
längen auf gut Glück zu verlängern und sich mit
io6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. S
rohen Schätzungen zu begnügen. Ohnehin nötigt
dazu die geringe Zahl von Querschnitten, die sich
in den oben angegebenen Quellen vorfinden. Gilt
diese Beschränkung schon für den Hauptfluß, so
gilt sie für die Nebenflüsse in noch weit höherem
Grade. Für diese liegen genauere Angaben
über Tiefe und Breite nur in so beschränktem
Umfang vor, daß man noch weit mehr auf bloße
Vermutungen angewiesen ist, die auf den Strom-
beschreibungen fußen. Selbstverständlich kommen
überhaupt nur größere Neben- und Zuflüsse in
Betracht, für kleinere kann keine Rechnung auf-
gestellt werden, doch fällt ihre Wassermenge
gegenüber der im Hauptstrom und in den größeren
Nebenflüssen enthaltenen absolut nicht ins Gewicht.
Den Unterabteilungen des Elbstromwerkes ent-
sprechend habe ich den Hauptstrom in
9 Abschnitte eingeteilt und in der Tab. i
versucht, für die Querschnitte des Stromes
innerhalb derselben konstante Zahlenwerte bei
MNW, MW und NHW einzusetzen, es der Kritik
überlassend, diese Festsetzungen zu bemängeln.
F'ür die Zahlenwerte sind zwar in erster Linie
die Angaben an den genannten Stellen maßgebend.
doch wurden sie nicht rein mechanisch aus den
Quellen entnommen, sondern mit den sonstigen
Angaben über Querschnittsverhältnisse an anderen
Stellen des Flusses verglichen und demgemäß ent-
sprechend modifiziert. Bei der Bestimmung des
Querschnitts bei MHW wurde noch besonders
Rücksicht auf die im i. Band des Eibstromwerks
S. 252 zusammengestellten mittleren Hochwasser-
werte bei eingeschränktem Überschwemmungs-
gebiet genommen.
Besondere Schwierigkeiten bereitete der Be-
rechnung die unterste Strecke der Elbe vom Ein-
fluß der Seeve abwärts, weil hier Ebbe und Flut
hereinspielen und die Flußmenge gewaltig be-
einflussen, fließen doch bei Glückstadt zur Zeit
der größten Ebbe in der Sekunde 20 000 cbm
ab, während einer Tide von ungefähr 13 Stunden
also über 900 Millionen cbm. Hieran ist aber die
Oberwassermenge nur mit etwa V« beteiligt,
während auf die Tidewasser rund 600 Millionen
cbm kommen, d. i. ungefähr - ., von derjenigen
Wassermenge, welche nach meiner Berechnung
der Hauptstrom von der Quelle bis zur Mündung
bei MW enthält, abgesehen vom Tidewasser. In
Tabelle I.
Die Elbe.
des
ugehörig. Grundw. jg
< Querschnitt Voluraeu
Teilstiecken Länge <.ug>..,u..s- •^,^^^-. Qes
MNW MW MHW Mi\W MW MHW f"'"^- führenden Grundw.
gebiets Areals
km qm Millionen cbm qkni qkm "/(, cbkm
155 41 üio 4 200 10 5
Von der Quelle bis zur Einmündung
der Moldau 309 40 100 500 12
bei Pardubitz
Von der Einmündung der Moldau
bis zur sächsischen Landesgrenze io6 loo 260 700 II 27 75 9 552 95° 20 i
bei Dresden
Von der sächsischen bis zur preußi-
schen Landesgrenze 122 t)o 350 1400 11 43 170 3 65S 730 20 0,7
IV. Von der preußischen bis zur anhalti-
nischen Landesgrenze '05i5 'öo 300 I 300
>5 ö 748 1 .S50 30 1.2
V. Von der anhaltinischen Landes-
grenze bis zur Einmündung der Saale ö6,4 220 420 1100 15 28 75 32279 9800 50 9
bei Hämerten
VI. Von der Saalemundung bis zur
Havelmündung 140,6 300 6(jo 3300 42 94 450 28150 14000 50 13
bei Wittenberge
VII. Von der Havelmünduug bis zur
Jeetzelmündung 91,7 390 700 4300 36 04 390 9714 4 Soo 50 4,.
bei Lauenburg
\'lll. Von der Jeetzelmündung bis zur
Secvemündung 82 4Ö0 Siio 2 700 37 70 220 () 53S 3 900 00 3,1
bei Nienstedtcn
IX. Die Unterelbe
gi 3400 6200 10 100 310 560 920 5607 3400 6c 3,1
Summen 490 950 2600 144035 43000 30 4I
N. F. XVI. Nr. 8
Naturvvisseiiscliaftliche Wochenschrift.
107
der Zuütaminenstellung in Tab. I habe ich dies
Tidewasser außer Anschlag gelassen, weil es so-
zusagen kein Flußwasser, sondern geliehenes
Ozeanwasser ist, das nicht einen Teil seines eigenen
Kapitals bildet.
In Tab. II habe ich dieselbe Rechnung wie
für den Hauptstrom für 30 Neben- und Zuflüsse
der Elbe durchgeführt, denen ich noch 2 mit der
Elbe in Zusammenhang stehende Kanäle an-
geschlossen habe, den Oder-Spreekanal und den
Flaue Ihlekanal, obwohl die der Berechnung ent-
gegenstehenden Schwierigkeiten sich hier noch
mehr häufen, als bei den Nebenflüssen.
Bei diesen habe ich in vielen F"ällen aus den
allgemeinen .'\ngaben über Ouerschnitts-
verhältnisse Rückschlüsse auf den mittleren
Querschnitt zu ziehen versucht, in anderen P'ällen
geben die Angaben über die Abflußmengeii bei
verschiedenem Wasserstand einigen Aufschluß,
obwohl sie natürlich wegen der meist nicht be-
kannten und wechselnden Flußgeschwindigkeit nur
mit großer Vorsicht gebraucht werden können.
Bei Flüssen, welche, wie die Adler, die Mulde
usw. aus mehreren annähernd gleichlangen Quell-
flüssen sich zusammensetzen, wurden natürlich
beide Flußarme addiert, dadurch erscheint ihre
Länge in der Kolonne A der Tab. II ungewöhnlich
groß.
Bei MNW und MHW scheint die Mulde, bei
MW die Moldau der wasserreichste Nebenfluß der
Elbe zu sein, während die Saale, noch mehr aber
die Havel, trotz größerer Flußgebiete ziemlich
weit zurückstehen :
Im ganzen nimmt der Anteil der Nebenflüsse
an der Gesammtwassermenge des Flußgebietes
mit wachsendem Wasserstand zu, denn er beträgt
bei MNW 2^, bei MW 2.S, bei MHW dagegen
36 V. H.
Die Wassermenge der vielen kleinen Zu- und
Nebenflüsse zu berechnen, habe ich, wie oben
bereits gesagt, von vornherein abgelehnt. Jeden-
falls spielt sie im Verhältnis zu den anderen
Wassermengen keine irgendwie entscheidende
Rolle. Um die Zahlen für die Gesammtmenge
abzurunden, habe ich sie auf gut Glück auf 60
bzw. 180 bzw. 460 Millionen cbm angenommen,
wahrscheinlich sind diese Zahlen zu hoch, aber,
wie gesagt, es kommt für das Ganze nicht viel
darauf an.
Addiert man die Wassermengen des Haupt-
flusses, der größeren und der kleineren Nebenflüsse,
so gelangt man zu dem Ergebnis, daß die an
Oberflächenwasser des Eibgebietes vorhandene
Wassermenge sich bei MNW auf 700, bei MW
auf I 500 und bei MHW auf 4 500 Millionen cbm
beläuft. Das Volumen bei MNW entspricht etwa
dem des Spirdingsees in Ostpreußen oder des
Madusees in Pommern, bei MW dem des Walchen-
sees in Oberbayern, bei MHW dem des Züricher
Sees ödes des Attersees im Salzkammergut. Im
allgemeinen darf man die Zahlen wohl als obere
Grenzwerte ansehen; wenn einmal eine genauere
Auswertung der vorhandenen Messungen möglich
sein wird, werden sich vermutlich etwas kleinere
Zahlen ergeben.
b. Das Wasser der Seen des Eibgebietes.
Im Elbgebit kommen giößerre Ansammlungen
stehenden Wassers nur bei der Moldau mit der
Wottawa, bei der Havel mit der Spree, bei der
Eide und bei der Sude vor.
Die mit der Moldau und Wottawa verbundenen
Seen sind sämtlich künstlichen Ursprungs und für
die Fischzucht angelegt worden, daher durchweg
sehr flach. Bei einem Areal von rund 20 qkm
und einer mittleren Tiefe von etwa ^/j m fassen
sie etwa 15 Millionen cbm, also soviel wie etwa
die Moldau bei MNW. Die der Havel und Spree
tributären Seen nehmen etwa 300 qkm ein; bei
einer mittleren Tiefe von 4 m würde ihnen ein
Volumen von 1,2 cbm; entsprechen, das Areal
der von der Eide entwässerten Seen ist etwa das
gleiche, ihre mittlere Tiefe dürfte dagegen eine
größere sein, rund 6 m, so daß sich ihr Volumen
auf 1,8 cbm beliefe.
Die Oberfläche der Seen, welche die Sude
entwässert, kann auf 40 qkm veranschlagt werden,
ihr Volumen auf rund 400 Millionen cbm, weil
sich unter ihnen der relativ tiefe Schaalsee befindet.
Nimmt man das Volumen derjenigen Seen, die
sich noch im Zusammenhang anderer Nebenflüsse
befinden, zu rund 100 Millionen cbm an, so
kommen wir zu dem Resultat, daß sämtliche zum
Eibgebiet gehörigen Seen etwa 3V0 cbkm fassen,
also soviel wie der lac de Bourget in Savoyen,
aber mehr als doppelt so viel als das Oberflächen-
wasser des Eibstromgebietes bei MW. Die Am-
plitude des Seevolumen bei MNW und MHW habe
ich in der Tab. I auf 300 Millionen cbm ver-
anschlagt.
c. Die Wassermenge des Grundwassers.
Wie schon mehrfach betont, sind wir für Maß-
bestimmungen des Grundwassers in einem Strom-
gebiet in der Hauptsache noch lediglich auf mehr
oder vage Vermutungen angewiesen, die sich auf
nur wenige wirklich verläßliche Messungen stützen.
In der Tab. 1 habe ich für die verschiedenen
Unterabteilungen des Eibgebietes den Anteil des
Grundwasser führenden Bodens zum Gesamtareal
zu schätzen versucht und die so gewonnene
Fläche mit dem ein und halb fachen der
Niederschlagsmenge multipliziert.') In einer in der
„Zeitschrift für die gesammte Wasserwirtschaft",
') Wenn ich in den Tabellen nur einen gewissen Prozent-
salz des betr. Flufiareals als Grundwasser führend angesetzt
habe , so wollte ich damit natürlich nicht die Ansicht aus-
sprechen, als sei das übrige Gebiet überhaupt ohne Grund-
wasser, sondern wollte nur dadurch andeuten," dafl nur in
einem gewissen Teil eines Flußgebietes die vorhandene Grund-
wassermenge so verteilt ist, daß sie Einlli
des Oberflächenwassers gewinnen kann.
uf di.
io8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 8
Tabelle II.
Nebenflüsse der Elbe.
Name des Klusses
I.
Aupa
2.
Mottau
3-
Adler
4-
Iscr
5-
Moldau
6.
Maltsch
7-
I.uznitz
8.
Wottawu
9-
Sazawa
lO.
Beraun
II.
Eger
12.
Schwarze Eist.
'3-
Mulde
M-
Saale
■5-
Unstrut
i6.
Weiße lilstcr
.7.
Kode
iS.
Ohre
19-
Tanger
20.
Havel
21.
Spree
22.
Rhin
23. Oder-Spreekanul
24. Planer u. Ihlekanal
25. Stepenilz
26. .-Klaud
27. Lücknitz
28. Eide
29. Jeetzel
30. Seewe
31. Ilmenau
32. Stör
79,2
257,8
103,4
435
94
193,4
114,4
203
433.6
42t),8
186,7
246,7
169
87,6
So,8
79,5
103,8
74,2
236,4
81,5
79.6
106,;
89,2
300
200
200
500
200
40
110
bei Elsterwerda
150
600
bei Dessau
80
400
bei Kamburg
40
160
bei Artern
50
200
bei Meilitz
20
So
bei Quedlinburg
20
45
bei Meseberg
15
40
100
150
bei Brandenburg
100
180
bei Kosset.blatt
27
35
bei Alt-Ruppin
50
60
bei Osterburg
20
loo
30
45
bei Parchim
35
70
ei Langenhorst
70
120
bei Benitz
20
50
30
200
Su.
nmen
MW
Millionen cbm
7,3
6 5
34
7,5
12,5
3,4
0.5
34
7
5
72
32
220
ly
38
56
40
66
125
260
170
30
N. I'. XVI. Nr. S
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
t09
VIII, 9 (191 3) erschienenen Arbeit „der Wasser-
vorrat der Erde" hatte ich auf GruiKl von Angaben,
welche Keilhack in seinem bekannten Lehrbuch
der Grundwasser- und Quellenkunde gemacht hat,
die im Boden des Oberrheintals aufgespeicherten
Wasserschätze auf das fünffache der jährlichen
Niederschlagsmenge angesetzt, wobei ich mir
keineswegs verhehlte, daß wir dort einen ganz
besonders günstigen Ausnahmefall vor uns haben,
den man sich schwer hüten muß zu verall-
gemeinern. Immmerhiii lassen gewisse Beo-
bachtungen in anderen Gegenden unseres Vater-
landes den Schluß zu, daß die Grundwassermengen
des Bodens die jährlichen Niederschlagsmengen
erheblich übertreffen müssen und ich hatte sie in
dem erwähnten Aufsatz auf das Doppelte der
betreffenden Niederschlagsmenge angenommen.
Um aber ganz sicher zu gehen, habe ich, wie oben
gesagt, sie nur auf das Anderthalbfache des jähr-
lichen Niederschlags angesetzt, so daß man also
die so erhaltene Grundwassermenge wohl als ein
Minimum der wirklich vorhandenen annehmen darf.
Man erhält auf diese Weise als Gesamtmenge
des im Eibgebiet vorhandenen Grundwassers
rund 41 cbkm, ein Volumen, das hinter dem des
Bodensees noch erheblich zurückbleibt, die jährliche
Abflußmenge der Elbe aber beinahe um das
Doppelte, das in den Seen bei MW aufgespeicherte
Wasser um das Zwölffache, das eigentliche Ober-
flächenwasser des Stromgebietes selbst bei gleichem
Wasserstande aber um das Zweiundvierzigfache
überragt und man ersieht daraus den gewaltigen
li,influß des Grundwassers auf den Wasserhaushalt
der Elbe. Auf den ersten Blick mag die Menge
des Grundwassers übertrieben hoch erscheinen,
sie verliert jedoch das Überraschende, wenn man
sie mit den Grundwassermengen vergleicht, welche
man für andere Flußgebiete berechnet hat.
Friedrich König, der bekannte Hydrotekt
und Hydrograph, berechnete in einem Aufsatz,
über die Wasserschätze des Rheins in der
Zeitschrift „das Wasser", daß im gesamten
Rheingebiet in einem Jahre durchschnittlich
rund 27 cbkm Wasser aufgespeichert würden,
wovon 23 cbkm auf Grundwasser entfallen,
Keil hack berechnet die allein im Oberrheintal
zwischen Basel und Mainz aufgespeicherte Grund-
wassermenge auf rund 37 cbkm, König dieselbe
Menge gar auf 95 cbkm, Beyschlag und
Wahnschaffe veranschlagten nach einer Mit-
teilung des Wasserbaudirektors Eggert auf einem
Verbandstage deutscher Ingenieure in Berlin die
in der Umgebung von Berlin auf einem Areal
von etwa 4500 qkm eine Grundwassermenge von
rund 6 cbkm. Letztere Menge würde etwa der
zwei- bis dreifachen Menge des jährlichen dortigen
Niederschlags entsprechen.
IL Das Odergebiet.
Wir können uns hier wesentlich kürzer fassen,
da der Grundgedanke im großen und ganzen in
der gleichen Weise durchgelührt wurde wie beim
Eibgebiet.
Tabelle III
Die Odei
Querschnitt
Areal
Volumen ''^
Lj^npg zugehörig. Grundwasser
MNW MW MHW MNW MW MHW Einzugs- führend
gebietes
km qm Millionen cbm qkm qkm "„
1. Oderquellgebiet bis zur F.inmündung
der Olsa 132,7 20 50 200 2,6 4 26 5 <S23 630 12
bei Oderberg
II. Obere Oder, Oberlauf bis zur Ein-
mündung der Glatzer Neiße 144,1 25 So 350 3,6 II 50 7 Ö47 i 500 20
bei Kosel
III. Obere Oder, Unterlauf bis zur Ein-
mündung der Weide 85,8 60 190 630 5,2 16 54 10930 3300 30
bei Ohiau
IV. Mittlere Oder, Oberlauf bis zur
Einmündung der Obrzycko 202,5 iio 220 830 22 44 16S 15 510 7800 50
bei -Steinau
V. Mittlere Oder, Unterlauf bis zur
Einmündung der Warthc 148,2 140 290 1000 20 45 150 67890 40000 bo
bei PoIIenzig
IV. Untere Oder bis zum Stettiner HafI" 147,6 250 700 1200 38 100 170 10810 4 300 40
bei Hohensaathen
Volum
des
Grundw.
Millionen
cbm
Summen 92 225 620 118 610 61530 52
30000
3500
46 000
Naturwissenschaftliche Wochenschriit.
N. F. XVI. Nr. S
a. Das ( )!>erflächen\vasser der ( )dcr.
Die Ermittelung der wahrscheinlichsten Werte
für die Querschnitte des Hauptstroms und der
Nebenflüsse, von denen 28 in Tab. IV aufge-
nommen wurden, unterlag noch größeren
Schwierigkeiten wie beim Eibstrom, da die Quellen
hier nocli spärlicher fließen als dort.
Der Einteilung des Oderwerks entsprechend,
wurde der Hauptfluß in 6 Abschnitte eingeteilt,
innerhalb derer die Querschnitte als konstant an-
gesehen werden mußten. Die Berechnung, deren
Resultate die Tab. III wiedergibt, gestaltete sicii
insofern einfacher, als bei der Elbe, weil der Oder
die Gezeiten fehlen, welche die Volumen-
berechnung des untersten Teiles des Eibstroms
wesentlich erschwerten.
Das Stettiner Haft' blieb bei der Volumen-
berechnung der Oder außer Ansatz, da seine 3 Aus-
flüsse nicht als Mündungsarme der Oder anzusehen
sind, sondern lediglich als Ausgleichsströmungen der
Wasserstände des Haffs mit der Ostsee; es bildet
also einen Teil der Ostsee, nicht einen Teil der
Oder. Würde man dasselbe in die Rechnung
Tabelle IV.
Nebenflüsse der Oder.
Name des Flusses
Lange
MN\
km
I
Oppa
273
6
2
Ostrawitj
93.5
8
3
Olsa
99
6
4
5
Zinn.i
Klodnitz
56,5
84,.
5
6
Klodnitr-
•Can.al
45,7
12
7
HoUenplc
tz
124,4
4
8
Malapane
131
4
9
Glatzer N
eiUe
195.5
12
10
Stober
85
2
II
Ohle
100
6
12
Lohe
86,1
0,
13
Weistritz
249,6
3
14
Weide
110
2
15
Katzbach
89
4
16
Bartsch
«38,5
3
17
Bober
520
7
18
Lausitzer
Neiße
256
10
19
(Idcr-Spree-Kanal
Friedrich-Wilhelm-Kanal
43,8
30
1
Obere
411.3
15
20
Warthe
Mittlere
259 1
50
1
Untere
91,7)
21
Netze j
Obere
Untere
173
120
16
30
22
Prosna
22g
5
23
Welna
117
2
24
Obra
295
6
25
Küddow
■ 46,7
12
26
Drage
'95
8
27
Fihnow-K
anal
46,1
24
2S
Ihna
128,1
4
MIIW
M.WV
MW
MIIW
Mill
onen
-bm
60
',5
4
ili
100
0,7
2,8
9
So
0,6
2.5
8
5°
0,3
1,2
2,8
100
0,7
2,4
S,4
20
0,6
0.7
0,9
ÖO
0.5
'.5
7.5
50
0,5
1.3
6,5
300
2.3
0
60
20
0,2
0,5
2
80
0,6
!,(..
8
80
200
18
14
4.7
9
15
N. F. XVI. Nr. 8
N'atiirwisseiischaftliche Wochenschrift.
hineinbeziehen, so würde man zu jraiiz anderen
Resultaten gelangen, als die Zahlen der Tab. 111
angeben, nimmt doch das Stettiner Haff ohne die
Ausflüsse Dievenow, Swineund Peene, nach J. Kres,
Deutsche Küstenflüsse, Berlin 191 1, ein Areal
von rund 630 qkm und eine mittlere Tiefe von
4 m gerechnet, ein Volumen von rund 2,5 cbkm
ein, d. h. zweimal mehr als der Hauptstrom bis
Hohensaathen bei MW faßt.
Das Volumen des Hauptstronis beträgt bei
den geschilderten Grenzen bei MNW nur 19 v. H.,
bei MW und MHW je nur 24 v. H. des ent-
sprechenden Volumen des Eibstromes, es umfaßt
bei MNW nur ungefähr das Volumen des Wotsch-
winsees, bei MW des Lübbesees und steht selbst
bei MHW noch erheblich hinter dem des Madüsees
zurück. Die zum Vergleich herangezogenen Seen
liegen sämtlich in Pommern und gehören zum
Flußgebiet der Oder.
Bei der V^olumenberechnung der haupt-
sächlichsten Nebenflüsse, deren Resultat die
Tab. IV wiedergiebt, sind wiederum, wie bei der
Elbe, bei denjenigen Flüssen, die aus mehreren
annähernd gleichlangen Quellflüssen sich zusammen-
setzen, diese sämtlich in Betracht gezogen. Da-
durch erklären sich die sonst auffallig hohen
Zahlen für die Flußlängen der Oppa, Hotzenplotz,
Weistritz, des Bober und der Obra, deren ver-
schiedene Kanalsysteme eine Addition er-
fuhren.
An Wasserreichtum steht selbstverständlich die
Warlhe allen ihren Rivalen weit voran, an zweiter
Stelle steht die Lausitzer Neiße, an dritter der
Bober mit Einschluß der Queis und anderer Zu-
flüsse. Das Gesamtvolumen der Nebenflüsse bei
MHW steht hinter den entsprechenden des Haupt-
stroms nicht wesentlich zurück, beträgt jedoch bei
MN\\' und MW nur etwa 60 v. H. der ent-
sprechenden Menge beim Hauptstrom. Für das
Volumen der kleinen hier nicht besonders an-
geführten Neben- und Zuflüsse, wurde nach bestem
Ermessen soviel in Rechnung gestellt, daß ich
als das Gesamtvolumen des Oberflächenwassers
des Oderstromes die runde Summe 170 bzw. 420
bzw. 1300 Millionen cbm erhielt, d. i. je 24
bzw. 28 bzw. 29 v. H. der entsprechenden Volumina
des Eibstroms. Selbst bei MHW übertrifft also
das Odervolumen dasjenige des Mauersees in Ost-
preußen nur um etwa 30 v. H., bei MW kommt
es etwa dem des Dratzigsees gleich, bei MNW
bleibt es noch ansehnlich hinter dem Volumen
des Gr. Lübbesees zurück.
b. Das Wasser der Seen des Odergebietes.
Von den Nebenflüssen der Oder besitzen die
Bartsch, Warthe, Netze, Welna, Obra, Küddow,
Drage und Ihna Seen, jedoch in sehr verschiedenem
Umfang, dazu kommt noch der Dammsche See,
welcher mit dem Hauptfluß unmittelbar im Zu-
sammenhang steht. Das Bartschgebiet umfaßt
Teiche mit einem Areal von ungefähr 80 qkm
und einem Wasservolumen von höchstens
60 Millionen cbm, das Seengebiet der oberen
Netze veranschlagt das Oderstromwerk auf loi qkm,
das der Küddow auf iiS qkm, das der Drage auf
100 qkm. Die Oberfläche der Seen der mittleren
und oberen Warthe schätze ich auf 50 qkm, auf
etwa ebensoviel je das der Obra und Welna, auf
100 qkm das der Ihna und der kleinen Zuflüsse
der Oder. Zusammen mögen die an die Oder
angeschlossenen natürlichen Seen 550—600 qkm
umfassen, deren Volumen bei der rel. bedeutenden
Tiefe mehrererSeen Hinterpommerns auf mindestens
3V.2 cbkm zu schätzen ist. Dazu kommt noch
der Dammsche See mit einem Volumen von
etwa 0,3 cbkm , so daß die Wassermenge sämt-
licher Oderseen rund 4 cbkm betragen mag,
also absolut genommen nur etwas mehr, als die
Wassermenge der Eibseen. Im Verhältnis aber
zu dem im freien Flußs\-stem aufgespeicherten
Wassermengen ist ihr Anteil erheblich größer als
beim Eibstrom, denn sie übertrifft bei MW die-
jenige des Hauptstromes um mehr als das 26 fache
und die des ganzen Stromsystems um mehr als
das 14 fache.
Die Seen der Warthe mit ihren Nebenflüssen
entsprechen ungefähr denen der Havel und der
Spree; hier wie dort liegt in ihnen ein nicht
unbeträchtlicher Teil des gesamten Grundwassers
aufgespeichert, das sie in der Hauptsache er-
nährt.
c. Die Grundwassermenge des Odergebietes.
Über die Berechnungsweise habe ich mich
bereits oben bei der entsprechenden Berechnung
des Grundwassers im Eibstrom ausgesprochen;
ihr Volumen läßt sich auf 46 cbkm schätzen, d. i.
absolut etwas mehr als bei der Elbe, noch weit
schwerwiegender aber im Verhältnis zu den übrigen
Wasserschätzen des räumlich erheblich kleineren
Flußgebietes. Sie kommt dem Volumen des
Bodensees nahezu gleich.
Für die größere Grundwassermenge gegenüber
dem Eibgebiet ist unstreitig ausschlaggebend der
größere Einfluß der Urstromtäler der Eiszeit,
welche bei der Oder schon am oberen Teil des
Mittellaufes ihre Wirkung zeigen und namentlich
auch das Flußgebiet des größten Nebenflusses,
der Warthe, fast vollkommen beherrschen, während
er sich im Eibgebiet in der Hauptsache erst vom
unteren Teil des Mittellaufes ab geltend macht
und dann besonders im Havelgebiet zum Ausdruck
kommt, das sich aber an .Ausdehnung und Mächtig-
keit mit dem Warthegebiet in keiner Weise
messen kann.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
XVI. Nr. 8
Wassermenge des Hauptstromes
Wassermenge der größeren Nebenflüsse
Wassermenge der kleineren Nebenflüsse
Gesamtwassermenge des fließenden Stromes
Wassermenge der angeschlossenen Seen
Gesamtwassermenge des Oberflächenwassers
Wassermenge des Grundwassers
Elbe
Oder
MNW
M\\
MHW
Millionen
MNW
cbm
MW
MHW
490
950
2600
92
225
62c
150
370
I 440
56
140
540
60
iSo
460
22
55
iSo
700
I 500
4500
170
420
1300
3 200
3500
3 800
3500
3800
4 100
3900
5000
41 000
8300
3670
4220
46000
(Gx:)
5400
Einzelberichte.
Botanik. Einwanderung einer amerikanischen
Pflanze nach Norwegen. Der norwegische Bota-
niker Rolf Nordhagen berichtet (Nyt Magazin
for Naturvidenskaberne) über eine Pflanze, die
bisher in Europa nur von einer Fundstelle her
bekannt und aller Wahrscheinlichkeit nach aus
den Vereinigten Staaten eingewandert ist. Es
handelt sich um eine kleine, unansehnliche Strand-
pflanze, Ranunculus cymbalaria, Pursh, die an der
nordamerikanischen Ostküste zwischen Labrador
und New Jersey, ferner in Südamerika und in
Innerasien vorkommt. Im Sommer des Jahres
1916 entdeckte Nordhagen sie zufällig am
Strande von Asmal, einer kleinen Insel im
Kristianiafjord. Dort wächst sie in einer großen,
üppig gedeihenden Kolonie, da ihr die Lebens-
bedingungen anscheinend vortrefiflich zusagen.
Nordhagen ist der Frage nachgegangen, wie
dies vereinzelte Auftreten der Ranunculusart zu
erklären sei, und er ist zu einer Antwort gelangt,
die sicher befriedigt. Daß es sich um ein Eiszeit-
relikt handelt, ist wegen der Lage des Fundortes
höchst unwahrscheinlich. Fast sicher ist, daß es
sich um eine Einwanderung in jüngster Zeit
handeln muß. Die amerikanische Herkunft ist
das Wahrscheinlichere, anderenfalls müßte man
Verschleppung durch Vögel aus Asien annehmen,
und in diesem Falle wäre es auffallend, daß der
Fundort so weit westlich liegt, während kein
anderer, weiter östlich gelegener bekannt geworden
ist. Nimmt man die Einwanderung aus Nord-
amerika an, so kommt der Wind als Überträger
kaum in Betracht; da die Fundstelle abseits vom
Verkehr liegt und nur Lokaldampfer Asmal be-
rühren, scheidet auch die Einschleppung durch
Verkehrsmittel aus, und falls es sich nicht um
absichtliche Anpflanzung durch einen Liebhaber —
man denke an die Verbreitung von Linaria
cymbalaria durch den Dichter und Naturfreund
Heinrich Seidel! — handelt, muß der Golf-
strom Samen der eingewanderten Pflanze an Algen
oder frei im Wasser an die Insel gespült haben,
was ein Beweis für die große Widerstandskraft
der Samenkörner dieser Pflanze gegen Salzwasser
wäre. Daß der Golfstrom wirklich Früchte und
Samenkörner an die jütische und skandinavische
Küste trägt, haben besonders Lind man und
Sernander nachgewiesen. Daß die Samen-
körner gerade nach Asmal gelangt sind, muß als
Zufall aufgefaßt werden. Durchaus wahrscheinlich
ist es auch, daß die neuaufgefundene Hahnenfußart
auch auf der einen oder der anderen der vielen
Inseln an der skandinavischen Küste Fuß gefaßt
hat, die botanisch durchaus nicht alle durchforscht
sind. H. P.
Literatur.
Rult
weit. 522
1,25 M.
Sachs, Prof. Dr. H., Bau und Tätigkeit des mensc:
, W. J., Berufswahl. Aus Natur und Geistes-
Leipzig und Berlin '16, B. G. Teubner. —
liehen Köi
per;
Einführ
die Physiologie des Menschen
4. Aufl. Mit 34 Textabbildungen, ebenda. — 1,25 M,
Kossmat, Prof Dr. Fr., Paläogeographie. (Geologische
Geschichte der Meere und Festländer.) 2. neubearbeitete Aufl.
Mit 6 Karten. Berlin und Leipzig 16, G. J. Göschensche
Verlagshandlung. - I M.
Hoffmeister, C, Kurze Einführung in die Wunder
am Sternenhimmel. Für nächtliche Wanderer, unsere Jugend
und unsere Soldaten mit Rücksicht auf den Gebrauch des
Feldstechers. Mit i Tafel. Bamberg '16, C. C. Buchner. —
0,50 M.
Inhaltt K. Müller, Angewandte Botanik. S. 97. W. Halb faß, Die im Elb- und Oderstromgebiet vorhandene Wasser-
menge. S. 105. — Einzelberichte: H. Pander, F.inwanderung einer amerikanischen Pflanze nach Norwegen. S. I!2. —
Literatur: Liste S. 112.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 4. März 1917.
Nummer 9.
Relativität und Gravitation.
[Nachdruck verboten.]
I. Absolute und relative Bewegung.
Wir befinden uns in einem von zwei Eisenbahn-
ziigen, die auf einem Bahnhofe halten. Langsam
setzt sich der eine Zug in Bewegung. Niemand
von uns kann genau sagen, welcher Zug es
eigentlich ist. Wir pflegen in solchem Falle
instinktiv nach der anderen Seite hinauszuschauen,
um an den feststehenden Bahnhofsgebäuden zu
entscheiden, welcher Zug sich in Bewegung ge-
setzt hat. Diesen Tatsachen liegt das Prinzip
zugrunde, daß man die Bewegung eines Systems
nur mit Zuhilfenahme von Punkten, die außerhalb
dieses Systems liegen, feststellen kann und nur
die Bewegung in bezug auf diese messen kann.
Dazu noch einige Beispiele: Wir befinden uns in
einem Ruderboot auf einer Wasserfläche, die irgend-
eine Strömungsrichtung hat. Ufer, Sterne, Grund,
Wind sollen nicht vorhanden sein. Ist es dann
möglich, durch irgendwelche Hilfsmittel im Boot,
etwa die Ruder, festzustellen, wohin das Wasser
strömt? Viele Menschen, denen ich diese Frage
vorlegte, bejahten zunächst. Sie glauben, es sei
schwerer gegen den Strom als mit dem Strom
zu rudern. Doch wenn man sich klar macht,
daß das Boot in bezug auf die umgebende Wasser-
masse in Ruhe ist und es nun gleichviel Arbeit
erfordert, das Boot nach irgendeiner Seite hin in
bezug auf die es umgebenden Wassermoleküle zu
verschieben, so ist einzusehen, daß man die Frage
verneinen muß. Man muß nur fähig sein, von
den außerhalb liegenden Punkten, also namentlich
dem Ufer, völlig abzusehen. Ist jemand durch
diese Beweisführung noch nicht überzeugt, so
möge er sich überlegen, daß es im anderen
Falle ja auch schwieriger sein müßte, in einem
gleichmäßig fahrenden Kisenbahnzuge nach vorn
zu gehen als nach hinten, oder auf der Erde
müßte man nach Osten schwerer vorwärts kommen
als nach Westen. Die Antwort: Es ist schwerer
gegen den Strom zu rudern als mit ihm, ist also
nicht richtig. Das Wort „Strömung" hat eben,
wenn kein weiteres Bewegungssystem vorhanden
ist, gar keinen Sinn.
Da man also eine Bewegung immer nur re-
lativ zu gewissen äußeren Punkten feststellen kann,
ist es unmöglich, eine absolute Bewegung fest-
Von P. Riebeseil in Ilamljurg.
Mit 2 Abbildungen im Text.
zustellen, relativ zu einem ab.solut ruhenden Ko-
Eins
Für weitergehende Studien sind zu empfehlen:
n, Die Grundlage der allgemeinen Relativitäts-
theorie, Leipzig 1916; K. Freundlich, Die Grundlagen der
Berlin 1916; M. Born,
der allgemeinen
ilhcorii
Ein st ein sehen Gravitation
Einsteins Theoiie der Gravitation
Relativität, Phys. Zeitschr. 1916.
ordinatensystem, das ich ja auf keine Weise irgend-
wo fixieren kann.
Kann ich nun aber absolute Bewegung nicht
feststellen, so darf diese unbekannte Größe auch
in den Naturgesetzen nicht vorkommen, es muß
ganz gleichgültig sein, wie sich unser Koordi-
natensystem, auf das ich die Erscheinungen be-
ziehe, gegen irgendein anderes bewegt. Für eine
gewisse Art von Bewegungen scheint dies richtig
zu sein: nämlich für alle geradlinig gleich-
förmigen. Die Geschwindigkeit der Erde zu
einem absoluten Raum spielt in der Mechanik
niemals eine Rolle, ja wir wissen auch seit
Galilei und Newton, daß alle mechanischen
Vorgänge ganz gleichartig verlaufen, wenn ich
sie von verschiedenen Systemen aus betrachte,
wenn nur diese Systeme in geradlinig gleich-
förmiger Bewegung gegeneinander begriffen sind.
Erst wenn Beschleunigungen auftreten, ändern
sich diese Verhältnisse. Diese Anschauungen
haben durch das alte Trägheitsgesetz und
den Satz: Kraft = Masse mal Beschleunigung
ihre F"ormulierung erhalten. Man kann sie auch
als das Galileische Relativitätsprinzip
bezeichnen.
Alle neueren Erweiterungen folgen mit Not-
wendigkeit aus dieser Grundlage, alle Gegner
der neueren Ergebnisse sind sich über die Be-
deutung des alten, lange anerkannten Prinzips
und über die ihm zugrunde liegenden Forderungen
nicht klar geworden.
2. Relativität und Äther.
Während in der Mechanik das so definierte
Relalivitätsprinzip allgemeine Geltung zu haben
schien, traten in der Optik Schwierigkeiten auf
Hier kommt zu zwei Systemen immer ohne unser
Zutun als drittes der Äther hinzu. Habe ich
also zwei verschiedene Systeme oder Laboratorien
S und S, , die in einer gleichförmigen Translation
gegeneinander begriffen sind, so kann das eine
in bezug auf den Äther ruhen, während das
andere sich bewegt. Es streicht also durch das
eine ein Ätherwind, und dieser könnte an den
optischen oder auch elektromagnetischen Er-
scheinungen meßbar werden. So müßte z. B. die
Geschwindigkeit des Lichts nach verschiedenen
Himmelsrichtungen auf der Erde eine verschiedene
sein. Denn, fassen wir das Licht als von der Licht-
quelle in den Äther ausgesandte Boten auf, so müßten
diese schneller vorwärts kommen, wenn die Erde
H
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 9
ihnen entgegenkommt, während sie in bezug auf
die Erde langsamer vorwärtskommen, wenn diese
gleichsam unter ihren Füßen wegläuft. Die Be-
wegung der Erde um die Sonne, die wir als
schnellste Bewegung (etwa 30 km in der Sekunde)
zur Verfügung haben, müßte also auf die optischen
Erscheinungen von Einfluß sein. Natürlich wird
dieser Einfluß schwer zu beobachten sein. Denn,
man kann sich leicht vorstellen, daß er haupt-
sächlich von dem Verhältnis der Erdgeschwindig-
keit zur Lichtgeschwindigkeit abhängt. Da dieses
Verhältnis nun sehr klein ist (v ; c = 30: 300 000,
d. h. v: c= I : loooo) und sich außerdem zeigen
läßt, daß erst die zweiten Potenzen von v : c in
Frage kommen, so ist klar, daß der Effekt nur
schwer feststellbar ist. Es hat sich aber ein Ver-
such anstellen lassen, bei dem auch Größen zweiter
Ordnung im Bereich der Beobachtungsmöglichkeit
lagen, das ist der Michelsonsche Versuch,
der nun beschrieben werden soll.
3. Der Michelsonsche Versuch.
Es handelt sich um einen Versuch, der die
Veränderung der Lichtgeschwindigkeit mit der
Richtung zeigen sollte. Es ist eigentlich der be-
kannte Fizeausche Versuch, nur daß zwei
Richtungen gleichzeitig unter sucht werden. Ist
'^A A,
in, der Abb. I AB in Richtung der Erdbewegung
aufgestellt und AC senkrecht dazu, außerdem
AB = AC = a, so sollen die Zeiten betrachtet
werden, die das Licht zu den Wegen ABA und
ACA gebraucht. Für den Weg AB wird die
c -j- v'
Der Gesamtweg ist also:
. a 2ac 2a
■v c-j-v c^ — v^ c
„ Vernachlässigen wir Glieder höherer Ordnung als
die zweiter in , so ist die Zeit t. = 2 - ( i -i — --).
c ' c \ c- /
Für die Berechnung der Zeit t, ist zu be-
achten, daß der Lichtstrahl den Spiegel C treffen
wird, wenn dieser sich etwa in Cj befindet. Dann
ist die resultierende Geschwindigkeit in Richtung
Aj Cj gegeben durch }c- — v-. Dadurch wird
2a _ 2a _ a / I v-\
^2 = Y^ISyi' - -l/^^~~ ^ C '/ + 7 C^l'
'7 ' ^
wenn wir wieder die Glieder höherer Ordnung
weglassen.
Der Zeitunterschied ist also
Dieser Zeitunterschied müßte sich nun bei
Drehung des Apparates ändern und dadurch an
Interferenzen nachweisen lassen. Alle Versuche
haben aber ein negatives Resultat gehabt. Der
Ätherwind scheint also gar nicht zu existieren.
Um dieses merkwürdige Resultat zu erklären,
gibt es mehrere Möglichkeiten:
1. Es gibt keinen ruhenden Äther, sondern
dieser wird von jedem bewegten Körper mit-
geführt.
2. Wenn das Licht aus fortgeschleuderten
Teilen besteht, so haben diese außer der Ge-
schwindigkeit c noch die Geschwindigkeit der
Lichtquelle, und dann wäre die Geschwindigkeit
des Lichts von seiner Richtung und von der Be-
wegung der Lichtquelle abhängig. Interferenzen
brauchten in diesem Falle nicht aufzutreten.
Leider lassen sich beide Annahmen mit ver-
schiedenen astronomischen Tatsachen nicht ver-
einbaren, und so bleibt nur die folgende Mög-
lichkeit übrig.
3. Die Strecke AB hat sich verkürzt. Inwie-
weit diese Verkürzung nur eine scheinbare ist,
soll später gezeigt werden.
4. Die geometrischen Transformationen.
Das Eigentümliche an Einsteins Schluß-
weise ist, daß er den Mich elson sehen Versuch
an die Spitze stellt und nun die Forderung er-
hebt: Ich muß die Raum- und Zeitmessungen
bei bewegten Systemen so einrichten, daß der
M i c h e 1 s o n sehe Versuch gar keinen Erfolg
zeigen kann. Wie muß ich das machen.' Ich
brauche nur zu verlangen, daß in jedem bewegten
System die Lichtgeschwindigkeit dieselbe, gleich c,
ist, dann können Abweichungen, die heim
Mich eis onschen Versuch erwartet werden,
gar nicht auftreten. Das heißt aber weiter nichts,
als daß die Uhrenregulierung, d. h. die
Definition der Zeit, in jedem System unabhängig
vom anderen geschehen soll, nur nach der Vor-
N. F. XVI. Nr
Naturwisscnschaftliclie Wochenschrift.
aussetzung, claß das Licht in einer Sekunde nacli
allen Richtungen c = 300000 km zurücklegen soll.
Um dies noch klarer zu machen , wollen wir
etwas weiter ausholen.
Ist in Abb. 2 die P^ntfernung zweier benach-
barter Punkte ds, ein sogenanntes IJnienelement,
zu berechnen, so ergibt sich
(i) ds- = dx2 + dy-,
wenn dx und dy die Unterschiede der Koordi-
naten Xj , y^ von Xj , y^ "angeben. Es ist nun
ganz gleichgültig, welches System ich zur Be-
rechnung von ds zugrunde lege. Nehme ich z. B.
das System x', y', das gegen x, y gedreht ist, so
ergibt sich :
ds- = dx'- -f dy'-.
Ebenso könnte ich das x, y-System beliebig
verschieben. Dasselbe würde natürlich sein, wenn
ich das Koordinatensystem fest lasse und die
Strecke ds beliebigen Verschiebungen oder Dre-
hungen unterwerfe. Die Strecke ändert ihre Länge
nicht. Das scheint selbstverständlich zu sein. Es
ist aber nötig, auf diese Voraussetzung, die wir
über die Beschaffenheit unseres Raumes machen,
besonders aufmerksam zu machen. Was wir hier
von Strecken behauptet haben, gilt auch von
Figuren, es sind das die Voraussetzungen, die wir
bei allen Kongruenzsätzen unserer Geometrie
machen : Die Figuren lassen sich ohne Verände-
rung beliebig verschieben. Wichtig ist, daß diese
Eigenschaft der Unveränderlichkeit des Linien-
elementes nicht nur in der Ebene, sondern, wie
Gauß gezeigt hat, auf allen Flächen konstanten
Krümmungsmaßes erhallen bleibt. So kann ich
ein einmal auf einer Kugel gezeichnetes Dreieck
ohne Änderung an eine beliebige Stelle der
Kugel verschieben, während ich das beispielsweise
auf einer eiförmigen Fläche nicht kann. Ebenso
bleibt das Linienelement in seiner Länge erhalten,
wenn ich von einer Fläche zu einer anderen auf
ihr abwickelbaren übergehe. Beispielsweise kann
ich ein Blatt Papier auf einen Zylinder abwickeln,
ich kann auch das Papier zerknittern, die Längen
bleiben dieselben. Ich kann aber das Stück Papier
nicht lückenlos auf einer Kugel abwickeln.
Bei all diesen Übergängen von einem System
zum anderen bleibt das Linienelement unver-
änderlich, oder wie man sagt, invariant. Da
nun zwischen den Koordinaten des einen Systems
X, y usw. und denen des anderen Systems
x', y' usw. leicht ableitbare Beziehungen bestehen,
sogenannte Transformationsgleichungen, so müssen
diese so beschaffen sein, daß wenn in den Aus-
druck für ds statt der dx usw. die Größen des
gestrichenen Systems eingeführt werden, der Aus-
druck im gestrichenen System dieselbe Form hat
wie im ungestrichenen. Das ist nun aber nicht
nur für das Linienelement der Fall , sondern für
alle geometrischen Eigenschaften und
auch für die Naturgesetze. Wir wissen seit
Kopernikus, daß es kein oben und unten,
kein rechts und links mehr gibt, d. h., daß das
Relativitätsprinzip für den Raum absolut gültig
ist. Die Naturgesetze bleiben invariant, d. h.
wahren ihre Form, von welchem der zueinander
ruhenden Raumysteme ich sie auch betrachte.
5. Die Galilei -Transformation.
Wie ist es nun aber, wenn die Systeme in
Bewegung gegeneinander sind ? Stellen wir
uns wieder zwei Laboratorien vor, die zunächst
in gleichförmiger Translation gegeneinander be-
griffen sind. Das in bezug auf A ruhende Ko-
ordinatensystem , in dem A die Vorgänge der
Natur beschreibt, sei x, y, z, die Zeit t. Die ent-
sprechenden Werte in B seien x', y', z', t'. Be-
wegt sich nun B mit gleichförmiger Geschwindig-
keit V längs der X-Achse des Systems A, so daß
die X'-Achse in die Richtung der X Achse fällt,
und die Y'- bzw. Z'-Achse den Achsen in A
parallel bleiben, so gelten die Transformalionen :
(2) x' = X — vt, y' = y, z' = z, t' = t.
Diese Transformationsgleichungen sind seil
Galilei die Grundlage der Mechanik. Die Natur-
gesetze bleiben invariant, wenn man mit Hilfe
dieser Gleichungen von einem System zum anderen
übergeht. Das wichtigste Merkmal der Gleichungen
ist, daß die Zeit in allen Systemen dieselbe bleibt.
Ist also in einem die Zeit so definiert, daß das
Licht in einer Sekunde c Meter zurücklegt, so
gilt die gleiche Definition nicht mehr in einem
zweiten. Lasse ich z. B. zur Zeit Null einen
Lichtstrahl von A ausgehen, so zeigt die Uhr in
B, wenn der Lichtstrahl dort angekommen ist,
AB
die Zeit . Denke ich mir nun als zweites
c
Laboratorium ein Luftschiff, das von A aus nach
B fährt, so könnte dieses seine Uhren nicht nach
derselben Definition stellen , es müßte vielmehr
seine Uhren nach den gerade unter ihm befind-
lichen des Systems A regulieren, denn in bezug
auf das Luftschiff würde sich ja die Lichtwelle
ganz anders ausbreiten. Welches System ist nun
aber das zu bevorzugende? Wir sehen, daß wir
hier an einer bedeutsamen Schwäche der früher
ii6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 9
stets als richtig angesehenen Galilei- Iransfornia-
tion angelangt sind. Die Zeitdefinition ist in-
konsequent. Wegen der Größe der Lichtge-
schwindigkeit sind die Abweichungen allerdings
nicht hervorgetreten, aber in der Optik und
Elektrodynamik zeigte sich, daß die Maxwell-
schen Gleichungen der Galilei -Transformation
gegenüber nicht invariant sind.
6. Die Lore ntz-Transformation.
Die Frage, wie die allgemeinen Transforma-
tionsgleichungen für eine gleichförmige Trans-
lation beschaffen sein müssen, hat zuerst Lorentz
beantwortet. Bewegt sich wieder das gestrichene
System in derselben Weise wie im vorigen Ab-
schnitt, und setzt man fest, daß die Zeiten unab-
hängig voneinander nach irgendeinem vorher fest-
gesetzten Modus definiert werden, so ergeben sich
folgende Gleichungen :
k- I
(3) x'=k(x— vt),y' = y,z' = z,t'=k(t— ., -x),
wo k eine Größe bedeutet, die mit einer Kon-
stanten n durch die Gleichung
verknüpft ist.
n muß als universelle Raumkonstante bezeichnet
werden, da sie rein durch die mathematische
Operation der Aufstellung der Transformations-
gleichungen auftritt, somit von keiner physi-
kalischen Erscheinung abhängig ist. Um den
Zahlenwert von n zu bestimmen, kann man ent-
weder irgendeine Längen- oder Zeitmessung des
Systems A von B aus nachprüfen, oder irgend-
eine physikalische Erscheinung von beiden Sy-
stemen aus beobachten. Beide Methoden liefern:
1. Überlichtgeschwindigkeiten gibt es nicht,
da für V > c die Wurzeln imaginäre Werte liefern.
2. Zwei Ereignisse, die an verschiedenen
Orten im ersten System gleichzeitig vor sich
gehen, haben im zweiten System B die Zeit-
differenz
r
3. Die Entfernung zweier Punkte im System
A : Xj — Xj = a verkürzt sich, wenn sie von B aus
gemessen wird, nach der Formel;
4. Die Zeit ändert sich mit der Geschwindigkeit.
Wie die Formel (4) für t' zeigt, wird die Zeit
mit wachsendem v kleiner. Die bewegten Uhren
scheinen vom ruhenden System aus betrachtet lang-,
samer zu gehen.
5. Es wird:
(5) x'--f y'- + z'- — c^t'- = x^ -f y- + z- — c''t-,
d. h. zur Zeit t ist das Licht in A bis zur Kugel
mit dem Radius et gekommen und in B ebenfalls
bis zu einer Kugel mit dem Radius et'. Das ist
aber nichts anderes als die Forderung unabhängiger
Uhrenregulierung in beiden Systemen. Man hätte
anch diese Forderung an die Spitze des ganzen
Paragraphen stellen können und nach den Trans-
formationsgleichungen fragen können, die diese
Gleichung erfüllen. Das hätte uns auch zur
Lore ntz-Transformation geführt.
Dann heißen die Transformationsgleichungen, die
sog. Lorentz-Transformation:
6. Führt man an Stelle der Zeit als vierte
Koordinate die Größe
/ N , X Vt
(4) X' = ~^=rr.=^=,, y
1/
= y, z'= z, t'
f-^
Es tritt also hier die Lichtgeschwindigkeit c
als universelle Konstante auf. Im allgemeinen wird
natürlich jede Geschwindigkeit, die beobachtet
wird, einen verschiedenen Wert ergeben, je nach
dem System, von dem aus sie beobachtet wird.
Nur die Lichtgeschwindigkeit ist in allen Systemen
dieselbe. Zunächst sollte man meinen, daß nur
eine unendlich große Geschwindigkeit in allen
Systemen denselben Wert haben kann, doch die
Loren tzschen Gleichungen zeigen, daß dies
bereits für c der Fall ist. Außerdem sind noch
einige interessante Folgerungen aus den obigen
Gleichungen zu ziehen:
ein, wo 1 = }' — i, so nimmt der obige Ausdruck
die Form an:
(6)
5- = x- + y2 + zä + F
Das ist aber ein ganz ähnlicher Ausdruck, wie
wir ihn vorher für das Linienelement abgeleitet
haben. Die Loren tz-Transformationen sagen
dann nichts weiter aus, als daß diese geraden
oder kürzesten Linien im vierdimensionalen Raum
bei beliebiger Drehung und Verschiebung des
Koordinatensystems, d. h. gleichförmiger Trans-
lation im dreidimensionalen Raum, ihre Länge
nicht ändern. Die gleichförrnige Translation ist
damit zurückgeführt auf eine Änderung der Zeit-
koordinatenachse, die Physik wird eine Erweiterung
der Geometrie. Die bisherigen Erörterungen ge-
hören zur sog. „speziellen" Relativitätstheorie.
N. F. XVI. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
7. Erweiterung auf allge me i n e
Bewegungen.
Muß nun nicht eine Ausdehnung der bisherigen
Betrachtungen, die nur für gleichförmige Trans-
lationen galten, auch auf ganz beliebige Be-
wegungen vorgenommen werden ? Zunächst
scheint das nicht möglich zu sein. Schon bei
der gleichförmigen Rotation scheint das Relati-
vitätsprinzip nicht erfüllt zu sein. Bisher waren
alle Systeme, die sich gleichförmig geradlinig be-
wegten, einander gleichberechtigt, ihre absolute
Bewegung konnte man nicht feststellen, es waren,
wie man sagt, berechtigte Systeme. Bei der
Rotation scheint das anders zu sein. Wäre auch
der Himmel ständig mit Wolken bedeckt, so daß
wir außer der Erde liegende Punkte nicht wahr-
nehmen könnten, so würde uns doch der
Foucaultsche Pendelversuch die Rotation der
Erde zweifelsfrei anzeigen. Und ähnlich ist es
mit beschleunigten Systemen, die wesent-
liche Abweichungen, bereits in den mechanischen
Gesetzen, zeigen würden. Und doch sprechen
verschiedene Gründe für eine Erweiterung der
vorhergehenden Betrachtungen auf allgemeine Be-
wegungen.
Zunächst ein er ke nn t n i s t h eore t isc her
Grund, auf den zuerst Mach aufmerksam gemacht
hat. Es seien zwei flüssige Massen gegeben, die
genügend weit voneinander entfernt sind, um
gegenseitig keinen Einfluß aufeinander auszuüben.
Beide Massen rotieren um die gemeinsame Ver-
bindungslinie, wenn sie gegenseitig von Punkten
der jeweilig anderen Masse beobachtet werden.
Die Messung soll nun zeigen, daß die eine Masse
eine Kugel, die zweite Masse ein Rotationsellip-
soid ist. Welche Erklärung würden wir für diesen
Vorgang abgeben? Wir sagen: der Raum, für
den die kugelförmige Masse in Ruhe ist, ist ein
berechtigter Raum, für ihn gelten die Naturgesetze,
während der Raum, in bezug auf den das zweite
System in Ruhe ist, kein berechtigter Raum ist.
Man darf aber nur beobachtbare Tatsachen
als erklärende Ursachen zulassen. Der „berechtigte
Raum" ist nicht beobachtbar. An sich liegt kein
Grund vor, den einen Raum als berechtigt, den
anderen als unberechtigt zu erklären. Der Grund
liegt vielmehr, wie wir wissen, in den sonst noch
vorhandenen Massen. Die Naturgesetze müssen
also so beschaffen sein, daß sie beide Räume
als berechtigt anerkennen, und die verschiedenen
Vorgänge von beiden Systemen aus mit Hilfe der
fremden Massen erklären. Die Gesetze der Physik
müssen demnach für beliebig bewegte Systeme
gelten. Das folgt allein aus der besprochenen
erkenntnistheoretischen Forderung, nur beob-
achtbare Tatsachen zur Erklärung der Wirkungen
heranzuziehen. Aber auch physikalische
Gründe sprechen für die P>weiterung.
Denken wir uns wieder unsere beiden Labora-
torien A und B etwa als zwei Fahrstühle in Be-
wegung gegeneinander begriffen. A soll ruhen und
B in beschleunigter Bewegung nach oben begriffen
sein. Dann scheinen alle außerhalb befindlichen
Gegenstände in bezug auf B nach unten zu fallen.
Kann nun ein Beobachter in B wirklich behaupten,
daß er sich in beschleunigter Bewegung befindet?
Etwa aus der Tatsache, daß alle Gegenstände
unabhängig von ihrer physikalischen und chemi-
schen Beschaffenheit sich gleichmäßig beschleunigt
nach unten bewegen ? Offenbar nicht. Denn wir
kennen eine Kraft, die dieselben Wirkungen auf
die Körper ausübt: die Gravitationskraft. Auch
diese erteilt allen Körpern, ganz unabhängig von
der stofflichen Zusammensetzung, dieselbe Be-
schleunigung. Diese Gleichheit der trägen
und schweren Masse ist von jeher ange-
nommen, sie ist durch die peinlich genauen Ver-
suche von Eötvös noch besonders bewiesen
worden. Ich kann also auch B als ruhendes und
berechtigtes System ansehen. Durch die Koordi-
natentransformation „erzeuge" ich dann ein Gra-
vitationsfeld.
Ähnlich ist es bei den Rotationen. Die bei
ihnen auftretenden Zentrifugalkräfte können auch
auf die Rotation der ponderablen fernen Massen
der Umgebung zurückgeführt werden. Zentri-
fugalkraft und Schwerkraft werden ja durch ein
und dieselbe Naturkonstante, die Gravitations-
konstante, gemessen. Das Zentrifugalfeld des
rotierenden Körpers kann auch als Schwere-
feld eines ruhenden Körpers gedeutet werden.
Wir wollen dazu einige Beispiele geben.
Newton schloß auf den absoluten Charakter
der Rotation , indem er ein zylindrisches Gefäß
mit Wasser in schnelle Rotation versetzte. Zu-
erst nimmt nur das Gefäß die Rotation auf und
solange bleibt die Oberfläche des Wassers hori-
zontal. Je mehr aber das Wasser von den
Wänden mitgerissen wird, um so mehr höhlt sich
durch den Einfluß der Zentrifugalkraft die Ober-
fläche aus, Die relative Rotation der Gefäßwände
löst also in dem Wasser keine Zentrifugal-
kräfte aus.
Das ist natürlich kein zwingender Beweis.
Denn es ist wohl möglich, daß, wenn das Gefäß
eine Dicke von mehreren Kilometern hat, auch
eine Zentrifugalwirkung zu beobachten wäre. Die
Brüder F'riedländer haben zur Prüfung dieser
Frage folgenden Versuch vorgeschlagen. Das
Wasser wird durch eine empfindliche Drehwage
ersetzt und das Gefäß durch die Masse großer
Schwungräder. Die Zentrifugalkraft muß sich in
einem Druck äußern, der von der Rotationsachse
des Schwungrades weg gerichtet ist. Stellen wir
also eine drehbare Nadel so auf, daß ihr Dreh-
punkt in der Verlängerung der Achse liegt, so
muß sich die Ebene der Nadel der des Schwung-
fades parallel stellen, da dann alle Punkte der
Nadel möglichst weit von der Achse entfernt
sind. Daß der Versuch kein Ergebnis gehabt
hat, spricht nicht gegen die Überlegungen,
da die Massen des Weltalls immer noch unendlich
groß gegenüber der des Schwungrades sind.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 9
8. Das Trägheits- und Gravitations-
gesetz.
Einstein erkannte, daß die Schwierigkeiten,
die sich der Erklärung dieser Vorgänge bieten,
in dem der Mechanik zugrunde liegenden Träg-
heitsgesetz ihren Ursprung haben. Nach diesem
Gesetz Galileis soll sich ein äußeren Kräften
nicht unterworfener Körper mit gleichförmiger
Geschwindigkeit in gerader Bahn bewegen. Be-
trachtet man dieses Gesetz näher, so merkt man,
daß es sehr wenig streng definierte Grundlagen
besitzt. Zunächst fehlen zwei Bestimmungen:
Auf welches Koordinatensystem bezieht sich die
geradlinige Bewegung, und wie soll die Zeit de-
finiert werden, nach der die Gleichförmigkeit vor
sich gehen soll. Existiert allein der sich be-
wegende Körper, so hat das Trägheitsgesetz
natürlich keinen Sinn, ebenso wenn das Bezugs-
system allein gegeben ist. Auch wenn das System
unabhängig von einem greifbaren Körper gegeben
ist, können wir dem Gesetz keinen Sinn beilegen.
Ist aber das Koordinatensystem mit der Erde
oder Sonne verbunden, so treten auch bereits
Gravitationswirkungen auf.
IVIit dem alten Trägheitsgesetz hängt nun aber
die Definition des Massebegrififs aufs engste zu-
sammen. Über die Schwierigkeit , die Masse zu
definieren, wird sich wohl jeder Physiker einmal
den Kopf zerbrochen haben. Nun stellte sich,
zunächst bei den Kathodenstrahlen, heraus, daß
die Masse der Elektronen abhängig von der Ge-
schwindigkeit ist. Man ging dann dazu über, eine
wahre Masse überhaupt zu leugnen , und die
Masse nur auf Selbstinduktion der Elektronen
zurückzuführen. Damit scheint aber auch das
Gesetz von der Gleichheit der trägen und schweren
Masse zu fallen. Einstein hat daher für die
Formulierung dieses Gesetzes folgende Fassung
vorgeschlagen :
Der Satz, daß die Schwerkraft auf alle Körper
gleich stark wirkt, soll in aller Strenge gültig sein.
Bewegt sich dann ein Beobachter mit gleichförmiger
Beschleunigung, so scheint ein allen Kräften
entzogener Körper sich gleichförmig beschleunigt
zu bewegen, geradeso als ob er in einem Schwere-
felde fiele. Umgekehrt erscheint ein fallender
Körper ruhend, wenn der Beobachter sich mit
derselben Beschleunigung in Richtung des Gravi-
tationsfeldes bewegt. Diese Tatsache wird von
Einstein folgendermaßen verallgemeinert und
als Äquivalenzprinzip an die Spitze seiner
Mechanik gestellt: Jede unter der Wirkung irgend-
welcher Kräfte stattfindende Bewegung eines
Körpers kann durch geeignete Bewegung des
Beobachters aufgehoben werden. Und umgekehrt:
Jede durch Bewegung des Beobachters entstehende
Änderung der Erscheinungen kann als Wirkung
von Gravitationsfeldern aufgefaßt werden. Es
müssen also die Naturgesetze ganz beliebigen
Transformationen gegenüber invariant bleiben,
wenn nur auf das Auftreten der Gravitationsfelder
Rücksicht genommen wird. Trägheits- und Gravi-
tationsgesetz sind somit zu einem Gesetz
zusammengefaßt. Daß die Naturgesetze beliebigen
Transformationen gegenüber invariant sein sollen,
kann man sich zunächst nicht vorstellen. Doch
es ist hier an die geometrischen Eigenschaften
einer Fläche zu denken, die, wie bereits erwähnt
wurde, bei Verbiegung und Verschiebung un-
verändert bleiben, wenn nur der Abstand be-
nachbarter Punkte, das Linienelement, konstant
bleibt. Das ist eine Analogie zur vollständigen
Relativität.
9. Die Einstein - Transformation.
Daß nun bei der allgemeinen Relativitätsich
außer der Zeit auch die gewöhnlichen Begrifte
vom Raum nicht aufrecht erhalten lassen, zeigt
Einstein auf folgende Weise: Wir denken uns
zwei Systeme x, y, z und x', y', z' mit gemein-
samer Z-Achse. Das zweite System rotiert um
die Z-Achse. In den beiden zusammenfallenden
X, Y-Ebenen denken wir uns einen Kreis und nun
Umfang und Durchmesser dieses Kreises einmal im
ruhenden, einmal im bewegten System gemessen.
Im ruhenden ergiebt sich als Maß für das Verhältnis
dieZahl TT. Mit dem bewegtenMaß gemessen, kommt
aber eine Zahl heraus, die größer als n ist.
Denn der am Umfang angelegte Maßstab erfährt
eine Loren tz- Verkürzung, der am Durchmesser
aber nicht. Das gewöhnliche, sog. euklidische
Maßsystem läßt sich also nicht mehr anwenden.
Ähnlich ist es mit der Zeit. Liest man z. B. die
am Umfang des bewegten Kreises angebrachten
Uhren vom ruhenden System aus ab, so scheinen
sie infolge der Bewegung langsamer zu gehen.
Die Ganggeschwindigkeit einer Uhr scheint also
vom Orte abzuhängen, da die an der Peripherie
des Kreises angeordneten Uhren langsamer gehen
als die im Koordinatenanfangspunkt. Da sich
kein bestimmtes Maßsystem für Raum und Zeit
finden läßt, kommt man dazu, den Raum oder
die Welt ganz allgemein als drei- bzw. vierdimen-
sionale Mannigfaltigkeit aufzufassen und alle
denkbaren Koordinatensysteme als gleich-
berechtigt anzusehen.
Den Begriff der M a n n i g f a 1 1 i g k e i t entlehnt
Einstein von dem Mathematiker Riemann.
Als Beispiel für eine solche Mannigfaltigkeit sei
hier das System der Töne genannt. Ordnen wir
die Töne nach Höhe und Stärke, so erhalten wir
eine zweidimensionale Mannigfaltigkeit. Zu jedem
Ton gehören zwei Zahlen. Über die Maß-
verhältnisse in der Mannigfaltigkeit ist aber
zunächst gar nichts auszusagen, darüber muß die
Erfahrung entscheiden. Bei den Tönen ist es ja
so, daß jede Dimension mit einem besonderen
Maß gemessen wird. Ähnlich können wir beim
Raum jedem Punkt drei Zahlen zuordnen x,, Xj, x^,
die irgendwelche Abmessungen bezeichnen, aber
nicht etwa geradlinige Koordinaten.
Es entsteht nun die Frage: Welchen mathe-
N. F. XVI. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
119
matischen Ausdruck kann man dann für den Ab-
stand zweier Punkte wählen? Darüber lassen
sich folgende allgemeine Regeln aufstellen:
1. Sind die beiden benachbarten Punkte
Xj, X2, x'; und x'i+dx,, x., + dxg, Xg + dxg, so
soll die Entfernung ds proportional mit den dx
wachsen.
2. Die Maßrichtung soll keinen Einfluß auf
das Vorzeichen von ds haben, d. h. ds soll das
Zeichen bewahren, wenn die dx ihr Zeichen
wechseln.
3. ds soll nach allen Seiten zunehmen und
im Anfangspunkt ein Minimum haben. Es muß
also der erste Difterentialquotient verschwinden
und der zweite von Null verschieden sein. Also
muß der Ausdruck, der die Entfernung definieren
soll, gleich ds- sein, wo ds die Quadratwurzel aus
einer positiven ganzen homogenen Funktion
zweiten Grades in den dx ist. Wir erhalten also :
(7) ds = y gl, dxi 2 + gi2 dx, dxa + . . . + ggg dXg-,
wo die g stetige Funktionen der drei Größen
x,, X.,, X3 sind.
Dabei sind über die Maße, in denen die x zu
messen sind, gar keine Voraussetzungen gemacht.
Legt man spezielle Kartesische Koordinaten zu-
grunde, so haben wir nach den früheren P^ormeln
für die g die Zahl i zu setzen. Dieser Spezialfall
bedeutet nichts anderes als daß das Linienelement
von der speziellen Lage des Punktes ganz un-
abhängig ist, es ist beliebig verschiebbar. Dem-
gegenüber hat nun die verallgemeinerte Darstellung
des Linienelementes den Vorteil, daß sie nicht
nur V^erschiebungen, sondern ganz beliebige
Transformationen zuläßt und doch die P'orm be-
wahrt. Es muß also zugrunde gelegt werden,
wenn wir die Lwarianz der Naturgesetze beliebigen
Transformationen gegenüber verlangen.
Lassen wir auch noch Bewegungen der
Koordinatensysteme zu, so können wir diese, wie
wir gesehen haben, durch Zuhilfenahme der vierten
Koordinate Xj, die durch die Zeit bestimmt wird,
in einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit deuten.
Aus den Gleichungen für das Linienelement
kommt man nun zwanglos zu den physikalischen
Grundsätzen :
Ein kräftefreier Körper soll sich nach dem
Hamiltonschen Prinzip auf geradester Bahn
bewegen. Von den verschiedenen ds , die von
einem Punkt aus möglich sind, soll das kleinste
ausgesucht werden. Das wird mathematisch aus-
gedrückt durch den Ausdruck, der für die geodä-
tischen oder kürzesten Linien auf einer Fläche gilt ;
(S) dfds = o,
d. h. die Variation zwischen zwei genügend nahen
Punkten der Bahn soll verschwinden. Darin steckt
natürlich das alte Trägheitsgesetz. Ebenso die
Forderung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
der speziellen Relativitätstheorie. Legen wir
nämlich die einfache Form
(9) ds- = dx- + dy- + dz'-' — c'- dt'
zugrunde, so ergibt sich daraus die Gleichung
für die Lichtausbreitung
x2 + y2 + z2 — cH'^ = 0,
die wir bereits früher abgeleitet haben (5).
In der neuen Einst ein'schen Fassung liefert
aber die Gleichung (8) ein viel allgemeineres
Gesetz.
Unter dem Einfluß von Trägheit und Schwere
schreitet jeder Punkt auf einer geodätischen Linie
der Raum -Zeit -Mannigfaltigkeit fort. Das sind
natürlich im allgemeinen keine geraden Linien,
da das Gravitationsfeld mit dem Zwang zu ver-
gleichen ist, der den Punkt veranlaßt, sich auf
einer bestimmten Fläche zu bewegen.
Die g (Gravitationspotentiale) sind dabei
Funktionen, die von den umgebenden Massen
abhängen.
Ist kein Gravitationsfeld vorhanden, bewegt
sich der Punkt also kräftefrei, so gilt die Gleichung:
df]' dx- + dy- + dz-^c"^Mt^= O.
L^nterwerfe ich diesen Ausdruck irgendeiner
Beschleunigungstransformation, so treten in ihm
die Größen g auf. Es wird:
(•o) öf] gji dxi^ -f gi2 dx.j2 -f . . . . gii dx,'^ = O.
Es können also die durch die Transformation
„erzeugten" Funktionen g auch als Wirkungen
eines Gravitationsfeldes erklärt werden, so daß
das Äquivalenzprinzip erfüllt ist. Die Gravitations-
probleme sind somit Folgerungen einer allge-
meinen Bewegungslehre der Relativitätstheorie.
Aus (10) gelang es Einstein, die Gesetze
der Planetenbewegung abzuleiten, und zwar folgt
das Newton' sehe Gesetz als Spezialfall aus ihnen
10. Bestätigungen der Theorie.
1. Betrachten wir zunächst ein zeitliches
Linienelement, d. h. setzen wir dx, = dxj = dx., = o,
so wird:
ds- = gii'dx^-.
Da nun g^^ von Ort zu Ort sich ändert, heißt
das : die Zeit ist mit dem Ort und dem Gravi-
tationsfeld veränderlich. Man kann aber jedes
schwingende Gebilde als L'lir auffassen, und es
müßten die Schwingungszahlen dieser Uhr in der
Nähe großer Massen mit dem Gravitationspoten-
tial g sich ändern. Diese Änderung hat sich bei
den Spektrallinien der Sonne tatsächlich mit
großer Wahrscheinlichkeit gezeigt. Es ergab sich
in dem größeren Gravitationsfeld der Sonne eine
langsamere Schwingung der Natriumteile als auf
der Erde, d. h. eine X'^erschiebung der Spektral-
linie nach rot.
2. Nehmen wir ein räumliches Linienele-
ment, d. h. setzen wir dt = o, so wird, wenn wir
der Einfachheit halber auch dx, und dx., -= o setzen :
ds-=g,idxi-.
120
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Das ist im aligemeinen eine krumme Linie,
d. h. auch die Bewegung des Lichts kann im
Gravitationsfeld nicht geradlinig sein. Das ist ja
auch unmittelbar einzusehen. Denn, denken wir
uns einen Lichtstrahl durch das Fenster ins Zimmer
treten und dieses in stark beschleunigter Bewegung,
so muß der Strahl eine parabolische Bahn sein,
wie aus der Analogie mit der VVurfparabel folgt.
Die Abweichung würde für einen gerade am
Sonnenrand vorbeigehenden Strahl etwa 2" be-
tragen. Ein Stern müßte also um diesen Betrag
gegen seinen wahren Ort versetzt erscheinen.
Für die Beobachtung eines solchen Strahles
kommen aber nur die totalen Sonnenfinsternisse
in Frage. Wegen des Kriegsausbruchs hat die
geplante Beobachtung 1914 nicht stattfinden
können.
3. Die dritte Möglichkeit der Bestätigung liegt
in der Abweichung des Einst einschen Gesetzes
für die Planetenbewegung von dem Newtonschen.
Nach dem Newtonschen Gesetz beschreibt jeder
Planet eine Ellipse um die Sonne, in deren einem
Brennpunkte die Sonne steht. Dabei ruht die Lage
der Achsen dieser Ellipse zum Fixsternsystem. Es
ist nun aber bei den meisten Planeten eine lang-
same Drehung der Ellipse im Sinne der Bahn-
bewegung festgestellt. Bei den meisten gelang
eine Erklärung mit Hilfe der Störungseinflüsse
anderer Planeten. Dagegen gelang diese Er-
klärung nicht beim Merkur, der eine Drehung seines
sonnennächsten Punktes (Perihel) um etwa 45"
im Jahrhundert zeigt. Einsteins Ansatz für
die geradeste Bahn des Merkur führt in erster
Annäherung auf die Newtonschen Gleichungen,
in zweiter liefert sie aber die Drehung qualitativ
und quantitativ richtig. Es gibt natürlich zahl-
reiche Theorien, die den Merkureffekt auch auf
andere Weise erklären können. Aber fast alle
müssen noch nicht beobachtete unbekannte Massen
zur Hilfe nehmen, während Einstein die Wirkung
nur aus der Sonnengravitation folgert.
II. Schluß.
Wenn so auch die praktischen Ergebnisse, die
für die verallgemeinerte Relativitätstheorie sprechen
(von den Beweisen der speziellen sollhier abgesehen
werden), nur gering an Zahl und Wirkung sind, so
ändert das an der großen Bedeutung der Grundge-
danken der Theorie nichts. Sie enthält die spezielle
Theorie (Lo rentz -Transformation) in sich, da
diese im unendlich kleinen gilt, und ebenso enthält
sie die klassische Theorie, die für c = 00 folgt.
Daß die praktischen Abweichungen von der
klassischen Theorie so gering sind, liegt natürlich
an dem großen Wert für die Lichtgeschwindigkeit.
Wenn also auch die Theorie eine Preisgabe der
realen Bedeutung von Raum und Zeit verlangt,
so liefert sie doch Gesetze, die allgemein, sowohl
für die Bewegung der Himmelskörper als auch für
die Bewegung der Atome, gelten. Alle mechanischen
Kräfte sind aufGravitationswirkungen zurückgeführt.
Ob die bei der Gravitation hier mit Erfolg vorge-
nommene Ausschaltung des Begriffes Kraft, wie
dies bereits Heinrich Hertz anstrebte, von
der Gravitation auf alle Kräfte ebenso erfolgreich
ausgedehnt werden kann, muß allerdings weiteren
Untersuchungen vorbehalten bleiben. Erfreulich
ist, daß an dem Ausbau der Theorie hauptsächlich
deutsche Forscher Anteil haben.
Kleinere Mitteilungen.
Beobachtungen über das Vogelleben im
Sommegebiet. In den Monaten Oktober und
November 1916, in denen unser Regiment an der
Somme lag, hatte ich Gelegenheit, interessante
Beobachtungen über die dortige Vogelwelt zu
machen. In der genannten Zeit tobte ununter-
brochen Tag und Nacht der Kampf der Geschütze
aller Kaliber, buchstäblich keine Minute gab es
Ruhe in dem Tosen und Krachen. Und trotz
alledem konnte man ein reiches Vogelleben be-
obachten, wieder ein Beweis dafür, daß die Vögel
nicht durch den Geschützdonner, ja selbst nicht
durch einschlagende Granaten und platzende
Schrapnells veranlaßt werden, ihre gewohnten
Nist- und F'utterplätze zu verlassen. So konnte
ich in Hof und Garten meines Ouartieres in P.,
das täglich beschossen wurde, Buchfinken, Meisen
und Sperlinge munter sich tummeln sehen. L'nd
dabei stand gar nicht weit davon eine schwere
deutsche Batterie, die häufig über unser Quartier
hinweg feuerte. Wenn wir im Morgengrauen zu
unserer Infanteriebeobachtung in der Nähe eines
Parkes bei P. wanderten, begrüßte uns jeden
Morgen das heisere Krächzen mehrerer Krähen-
paare, die in den Bäumen des Parkes ihr Heim
aufgeschlagen hatten. Wenn der Park, der jeden
Tag ein paar Hundert Granaten und Schrapnells
von den Franzosen zugesandt bekam, unter Feuer
lag, kreisten die Krähen gleichsam über die
Munitionsverschwendung schimpfend über den
Bäumen, bis es wieder Ruhe gab. Als eines
Tages unser Graben, der Park und der dazwischen
liegende Acker besonders stark im P"euer lagen,
erhob sich in einer F"euerpause aus dem Acker
eine Lerche und stieg, als ginge sie das alles
nichts an, trillernd in die Höhe. Das Scheren-
fernrohr zeigte auch reizvolle Vogelbilder, vor
uns lag eine Kiesgrube umstellt von hohen
Bäumen, in ihren Asten trieb ein ganzer Schwärm,
wohl 20 — 30 Stück von Eichelhähern sein munteres
Spiel. Und in der Kiesgrube landeten täglich
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
schwere Minen und Granaten. In dem daneben
hegenden Waldstückchen, meist Erlen, beobachtete
ich Tag für Tag einen Schwärm Zeisige und
Elstern. Vom Obergeschoß meines Quartieres in
P. hatte man einen weiten Blick über das Sumpf-
gebiet der Somme. Manche Stunde habe ich dort
zugebracht mit der Beobachtung der grünfüßigen
Teichhühner, die in großer Zahl die Wasserflächen
belebten, und der allerdings weniger zahlreichcTi
Stockenten. Mit dem Glase sah man die munteren
Tierchen herumrudern und tauchen. Daß hier
öfters schwere Granaten einschlugen, war ihnen
offenbar völlig gleichgültig, ja sie hatten sogar
schon allerlei im Kriege gelernt. Eines Tages
beobachtete ich nämlich ein äußerst komisches
Bild. In der Nähe einer Wasserfläche, auf der
sich etwa 15 Teichhühnchen tummelten, schlug
eine schwere Granate ein, die V\'asserfläche mit
Erde, Holzstückchen usw. überschüttend. Sowie
die Granate krepierte, waren alle Tcichhülmchen
untergetaucht, sie „nahmen volle Deckung", als
der Wasserspiegel sich einigermaßen beruhigt
hatte, erschienen sie wieder auf der Bildfläche und
schwammen umher, als sei nichts geschehen.
Um so mehr war ich überrascht, als ich in und
unmittelbar bei dem Dörfchen H. fast gar keine
Vögel entdecken konnte, trotzdem es hier viel
ruhiger war als an den -Stellen, von denen ich
oben sprach. Ich glaube des Rätsels Lösung
darin finden zu können, daß es hier zahlreiche
wildernde Katzen gab, die von der Zivilbevölkerung
zurückgelassen waren. Kam man weiter vom
Dorfe ab zur Somme hin, so erschienen auch
wieder die Vögel, und in mancher Nacht mischte
sich in das scharfe Tak-tak-fak der feindlichen
Maschinengewehre das laut prahlende Tak-tak-tak-
tak der Enteriche auf der Somme.
An anderer Stelle sah ich, wie zwei Granaten,
die einem von uns besetzten Dorfe galten, durch
die Kronen einer l'appejgruppe fuhren, ein
Schwärm von wohl mehreren Tausenden von
Staren erhob sich, kreiste einige Zeit und ließ
sich dann ruhig wieder am alten Platze nieder.
Gänzlich erloschen ist das Tierleben nur dort in
der Kampfzone, wo von den Dörfern kaum noch
die Grundmauern stehen, wo die Bäume nur zer-
splitterte Strünke sind und wo auf dem Lande
ein Granattrichter neben dem andern liegt. An
solchen Stellen sah ich tierisches Leben nur noch
in den Gräben: Ratten von der Größe der Katzen
und Läuse in Stärke ganzer Divisionen.
E. Zieprecht.
Mineralöl als Speiseöl. Die tiefgreifenden
Änderungen, die der Krieg auf dem Nahrungs-
und Genußmittelmarkt hervorgerufen hat, haben
es mit sich gebracht, daß wir manche unserer
Anschauungen über die Zulässigkeit gewisser Er-
satzprodukte einer Revision unterzogen haben. Es
genügt, hier an das jetzt so willkommene
Saccharin als Zuckerersatz zu erinnern. Infolge-
dessen darf es nicht wundernehmen, daß auch
die Frage, ob Mineralöle sich zum mensch-
liche Genüsse eignen, ernstlich in Erwägung ge-
zogen wird. In der Fachzeitschrift „Petroleum"
machte Dr. Ed. Graefe, einer unserer bekann-
testen Erdölforscher, vor kurzem den Vorschlag,
als Notbehelf für Speiseöl zur Zubereitung von
Salaten usw. hochsiedende, gereinigte Mineralöle
zu verwenden. Voraussetzung ist hierbei, daß
die Mineralöle auf chemischem \\'ege so weit ge-
reinigt sind, daß sie ihren typischen Mineralöl-
geschmack und -geruch verloren haben. Graefe
hat seit längerer Zeit Versuche im eigenen Haus-
halt mit Paraffinöl und mit gereinigten Schmier-
öldestillaten rumänischer Herkunft angestellt und
niemals unangenehme oder schädliche Wirkungen
feststellen können. Es wäre daher erwünscht,
wenn das Reichsgesundheitsamt sich mit dieser
Frage befassen würde, da bei Bestätigung der Er-
fahrungen Graefe's auf diese Weise ein in be-
zug auf Geschmack und Wirkung vollwertiges
Salatölersatzmittel gewonnen werden könnte. Der
einzige Unterschied zwischen einem derartigen
Mineralöl und einem Speiseöl besteht darin, daß
ersterem kein Nährwert zukommt; die Verhält-
nisse liegen hier also genau so wie beim Saccharin
und Zucker. Da durch die Ausführung des
Graefe 'sehen Vorschlags große Mengen von
Speiseölen für die Kunstspeisefettherstellung ge-
wonnen würden, die bei der Verwendung als
Salatöl zum Teil verloren gehen, so verdient die
Anregung jedenfalls zur Diskussion gestellt zu
werden. Dr. B.
Farbenvariationen von Helix nemoralis auf
dem westlichen Kriegsschauplatz. Die jedermann
bekannte, im größten Teile Europas sehr häufige
Zirkelschnecke Helix nemoralis L. oder Tachea
nemoralis (L.) neigt im Süden und Südwesten
Europas zu erheblicherer Variabilität an Größe,
Gewindehöhe, Schalenskulptur und durch Auf-
lösung der Bänder in Fleckenreihen als sonst in
ihrem Verbreitungsgebiet, wo sie zwar, wie z. B.
in Deutschland, recht viele der 89 mathematisch
möglichen Bändervariationen durch Ausbleiben
und Zusammenfließen der fünf Bänder bildet,
auch in der Grundfarbe des Gehäuses etwas ab-
ändert, im übrigen aber doch recht konstant ist.
Schon auf dem westlichen Kriegsschauplatze fanden
sich an der Aisne weitergehende Abänderungen
als bei uns. Nicht ganz selten bemerkte ich
pigmentlose, hyaline Bänder und die Auflösung
der Bänder in Fleckenreihen, was man beides,
namentlich das letztere, in Deutschland viel weniger
oft findet. Eine recht bemerkenswerte Abänderung
"ist die in Abbildung 1, a u. b dargestellte: es
handelt sich um Stücke, bei denen die Grundfarbe
des letzten Umganges auf der unteren Hälfte vom
dritten Bande ab oder, wenn dieses fehlt, von der
Linie, die seine obere Begrenzung bilden würde,
bis zum Nabel wesentlich heller gefärbt ist als
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 9
die obere Hälfte , und zwar stoßen die hellere
und die dunklere Farbe mit äußerst scharfer
Gtenzlinie aneinander. Besonders auffällig sind
rötliche Stücke dieser Varietät dadurch, daß die
untere Hälfte des Umgangs nicht nur heller,
sondern zugleich viel gelber bis rein gelb gefärbt
ist Solche Stücke sind also in der Grundfarbe
ausgesprochen zweifarbig, mit den dunkelbraunen
Bändern dreifarbig. Von den Bändern fehlt bei
ausgeprägten Stücken dieser Varietät stets das
erste und zweite und sehr oft (Abb. i b) das dritte,
und es ist bemerkenswert, daß Gehäuse mit
solcher Bänderung, also mit der Formel OOO45,
an sich bei dieser Art und ähnlichen überaus
selten sind. Ist das dritte Band vorhanden, so
ist es doch nur fadendünn oder (Abb. i a) noch
dünner. Das vierte und fünfte Band sind stets
vorhanden, kräftig ausgebildet (Abb. i b) und oft
zusammenfließend (Abb. 1 a). Neben ausgeprägten
Stücken dieser P^arben- und Bändervarietät, die
zusammen mit gewöhnlichen vorkommen, finden
sich auch Mittelformen zwischen jenen und diesen.
Eine andere dort in einer Mehrzahl von Stücken
aufgefundene, sonst noch nicht beschriebene
Farben- oder, genauer gesagt, lediglich Bänder-
varietät besteht darin, daß in der Mitte zwischen
dem dritten und vierten Bande ein fadendünnes
überzähliges Band zieht, wie in Abb. i c. Genauer
werde ich diese beiden Varietäten an anderer
Stelle beschreiben und die erstere „var. tricolor"
benennen. V. Franz.
Einzelberichte.
Paläontologie. Die zunehmende Kenntnis
triadischer Faunen aus allen Teilen der Erdober-
fläche ermöglicht es, eine zusammenfassende Dar-
stellung der paläogeographischen,- biologischen
und klimatischen Verhältnisse während derTrias-
periode zu geben, um so mehr als bereits eine
derartige Abhandlung für den Jura und die
Unterkreide vorliegt. C. Diener behandelt die
marinen Reiche der Triasperiode (Denkschriften
der Kaiser!. Akad. d. Wissensch. in Wien, Mathem.-
naturw. Klasse. 92. Bd.).
Für die Aufstellung mariner Reiche in der
Trias erscheinen die Cephalopoden wegen ihrer
kurzen Lebensdauer, ihrer großen und raschen
Verbreitungsfähigkeit, der leichten Veränderlich-
keit ihrer spezifischen Merkmale besonders geeignet.
Von den anderen Wirbellosen können die I^amelli-
branchiaten, namentlich die Gattungen Halobia,
Daonella, Pseudomonotis, Myophoria, bei paläo-
geographischen Untersuchungen wichtig werden.
Im allgemeinen lassen sich in der Trias vier
große marine Reiche unterscheiden: I. das boreale
Reich, 2. das mediterrane Reich, 3. das hima-
malayischc Reich, 4. das andine Reich. Das
boreale Reich umfaßt die marinen Ab-
lagerungen von Spitzbergen, der Bäreninsel, des
unteren Olenek, nördlichen Sibiriens, von Elles-
merland, Alaska, Britisch Kolumbien bis Vancouver.
Es ist charakterisiert durch eine Anzahl Cephalo-
podengattungen, die wieSibyllonautilus, Arctoceras,
Czekanowskites, Olenekites, Keyserlingites, Telle-
rites, Nathorstites, Dawsonites spezifisch boreal sind,
und in den anderen Reichen nicht vorkommen.
Namentlich in der Unter- und Mitteltrias des
zirkumpolaren Gebietes macht sich eine starke Ab-
geschlossenheit der borealen gegenüber der ge-
mäßigt-äquatorialen Fauna geltend; erst in der
hämischen Stufe gleichen sich die faunistischen
Gegensätze immer mehr aus. Das mediterrane
Reich umfaßt den Westabschnitt der Tethys von
der Straße von Gibraltar bis Hocharmenien, greift
aber zeitweise über die astrachanische Steppe bis
in das Ouellgebiet des Jenissei hinein. Der fau-
nistische und liihologische Unterschied zwischen
der alpinen Trias und den sie im Norden, Westen
und Süden umgebenden neritischen Randgürtel
in Binnenmeerfacies zwingt zur Sonderung einer
germanischen Provinz im Bereich des heutigen
Deutschland und der Provence sowie einer iberisch-
nordafrikanischen Provinz von dem eigentlichen
mediterranen Reich. Die Errichtung anderer
Provinzen innerhalb der mediteranen Trias läßt
sich faunistisch nicht begründen. Dem medi-
teranen Reich sind 10 Nautiloiden und 60 Ammo-
noiden Genera bzw. Subgenera eigen, deren
wichtigste Gruppen Syringoceras, Epiceratites,
Kellnerites, Hauerites, Cochloceras, Glyphidites,
Heraclites, Judicarites, Norites, Phyllocladiscites
Psilocladiscites, Klipsteinia, Sphingites sind. Von
den Bivalven zeichnen sich durch Niveaubeständig-
keit aus Pseudomonotis in der skythischen Stufe,
und Monotis in der Obertrias. Die Aufstellung
eines himamalayischen Reiches erhäh
seine Berechtigung infolge übereinstimmender
Faunenentwicklung im Himala_\'a, in Südchina,
Tonkin, Japan, bei Wladiwostok, auf Madagaskar,
dem malayischen Inselarchipel , Neucaledonien
, und Neuseeland. Wie im mediterranen Reich ist
auch in diesem Lebensbezirk eine über 1000 m.
N. F. XVr. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
123
mächtige Aufeinanderfolge geschichteter, tonig
mergeliger, schiefriger, dolomitischer und kalkiger
Sedimente von einer gering mächtigen bathyalen
Kalk- und Marmorfacies (Tibetanische Klippen,
Timor) zu trennen. Innerhalb des himamalayischen
Reiches ist die Himalayische oder indische Trias-
provinz von der IWalayischen Provinz zu unter-
scheiden; zwischen beiden vermittelt die chine-
sisch-hinterindische Provinz oder Subregion.
Eine ziemlich gesonderte Stellung nimmt ferner
die IVIaorische Provinz (Neucaledonien und Neu-
seeland) ein. Faunistisch schließt sich das hima-
malayische Reich an das mediterrane an. Zur
skythischen Zeit macht sich allerdings ein fau-
nistischer Gegensatz bemerkbar; doch sind zur
amisischen und namentlich karnischen Zeit die
Beziehungen zum mediterranen Reich sehr eng.
Zahllose Gattungen sind beiden Reichen gemeinsam.
Andererseits sind über 40 Genera oder Subgenera
spezifisch himanialayisch, unter denen Buddhaites,
Kashmirites, Parajuvavites, Tibetites die häufigsten
und wichtigsten Formen abgeben. Als bezeich-
nendes negatives Merkmal ist die Abwesenheit
der im mediterranen Reich stark entwickelten
Gattungen ßalatonites, Judicarites, Norites, Phyllo-
cladiscites, Sibyllites usw. hervorzuheben. Ent-
wicklungsgeschichtlich ist das himamalayische
Reich wichtig als Heimat der Meecoceratiden
und Ceratitiden, deren gemeinsame Wurzel in
der permisch-skythischen Gattung Xenodiscus zu
suchen ist. Das andine Reich erstreckt sich
einerseits über die nordamerikanischen Staaten
Californien, Oregon, Idaho, Nevada, andererseits
über Mexiko, sowie Bolivien und Peru, zwar derart,
daß eine californischc, peruanische und mexika-
nische Provinz innerhalb des einheitlichen andinen
Reiches zu unterscheiden sind. Obschon es mit
den drei anderen Reichen, vor allem dem medi-
terranen Reich, durch manche gemeinsame Typen
verbunden ist, bleibt seine Selbständigkeit als
mariner Lebensbezirk gesichert. Sie äußert sich
in einer beträchtlichen Anzahl „andiner" Cephalo-
podengattungen, als auch in dem völligen Fehlen
der in den übrigen Triasreichen verbreiteten
Cladiscitiden und Pleuronautiloideen. Eine Eigen-
tümlichkeit der Californischen Provinz ist die
starke Differenzierung der Ichthyosaurier sowie
der Reptiliengruppe der Thalattosaurier.
Die Verbreitung der marinen Faunen in den
vier Reichen gestattet, die Hauptlandkomplexe
von den dauernd vom Meer bedeckten Geosyn-
klinalregionen abzugrenzen und deren Umrisse in
den Grundzügen festzulegen. Ein großer Kontinent
im Norden der Tethys, aus Fennoskandia und
Angaraland gebildet; zwei der Tethys im Süden
vorgelagerte Landkomplexe, Indoafrika im Westen,
Australien im Osten; auf der westlichen Halbkugel
Laurentia einschließlich des Mississippigebietes und
Brasilia. Die zugehörigen Meere sind: i. Das
Arktische Meer im Zirkumpolargebiet. Es
hatte zur Zeit der karnischen Transgression seine
größte Ausdehnung, doch war Nordsibirien west-
lich der Lenamündung, Nowaja Semlja, Franz
Josephs Land und das mit Laurentia verschmolzene
Grönland Festland. Die Verbindung mit dem
pazifischen Randmeer, die auf Grund faunisti-
scher Übereinstimmungen angenommen werden
muß, fand vom Ochotskischen Meer quer über
Ostsibirien zur Olenek- Mündung statt. 2. Die
Tethys erstreckte sich von der Straße von
Gibraltar im Bereich der jungen P'altengebirge
bis nach Tonkin; zur skythischen Zeit greift sie
über die astrachanische Steppe hinüber und stand
vielleicht an der Ostseite des Ural entlang mit
dem Eismeer in Verbindung. Dem westlichen
Teil der Tethys ist angegliedert das germanische
und spanisch nordafrikanische Binnenmeer. Ersteres
ist von der Tethys durch den sich s. w. bis n. ö.
erstreckenden vindelizischen Rücken getrennt.
Die Verbindung mit der alpinen Trias ging im
Osten über Oberschlesien, die Tatra und die
Beskiden nach den inneren Karpathen und dem
Bakony, im Westen über das Rhünetal und die
Provence, wo es mit dem spanisch - nordafrika-
nischen Binnenmeer zusammentraf. Letzteres ist
seinerseits von der alpinen Tethys durch den
korsisch - sardinischen Inselrücken getrennt. Die
alpine Tethys ist als ein Meer von mäßiger Tiefe
mit einzelnen herausragenden Inseln (Montblanc
Massiv, östliche Zentralalpen, Karnische Kette,
Serbisches Massiv, Rhodope Masse) aufzufassen.
Die Grenzen mit der östlichen Tethys sind noch
unsicher. Südlich der Indusmündung schob sich
das langgestreckte äthiopische Mittelmeer bis
Madagaskar zwischen den afrikanischen Kontinent
unddiemadagassisch-indischeHalbinsel(Gondwana-
halbinsel), im Norden war Russisch-Asien und das
mittlere China P'estland. Im Gebiet des heutigen
Hinterindien trennte die Insel von Kambodscha
einen ostchinesischen von einem burmanischen
Meeresarm, die sich beide im Sunda Archipel
wieder vereinigten. Ein Ozean im morphologischen
Sinne war die Tethys nicht; sie stellt sich uns
vielmehr dar als eine Aneinanderreihung einzelner
inselreicher, zerlappter Ingressionsmeere mit
wechselnder, aber meist geringer Tiefe und einer
Maximalbreite von 2000 km; zeitweise muß eine
Überbrückung dieses Mittelmeergürtels vorhanden
gewesen sein, worauf die engen Beziehungen der
Landwirbeltierfauna, namentlich der Labyrintho-
donten von Schwaben, Südafrika und Indien hin-
weisen. 3. Das pazifische Randmeer, dessen
Ablagerungen von Neuseeland , Neucaledonien,
den Molukken, den japanischen Inseln, der Mamga-
Bucht am ochotskischen Meer, Alaska, der nord-
amerikanischen Westküste bis Nieder-Californien,
von Columbien und Peru bekannt sind , kommt
dem Umriß des heutigen Pazifischen Ozeans
ziemlich nahe. Wie in der Gegenwart war auch
zur Obertrias das pazifische Randmeer von einem
Kranz von \''ulkanen umgeben. Für die Annahme
eines in der Mitte des heutigen pazifischen Ozeans
gelegenen triadischen Kontinentes (Hang) sind
keine positiven Beweise vorhanden. 4. Die
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 9
califo mische See bildet eine Erweiterung des
pazifischen Raiidmeeres und reichte vom Puget
Sound über Oregon, Wyoming, Idaho, Nevada
und CaUfornien. Ihre Ostgrenze wird durch die
kontinentalen redbeds bezeichnet, die von den
Rocky Mountanis bis in das westliche Texas und
weiter östlich dieser Linie nachgewiesen sind.
5. Der Poseidon. Wenngleich marine Ablage-
rungen dieses „miitelatlantischen" Meeres nicht
bekannt sind, muß seine Existenz aus den fau-
nistischen Beziehungen zwischen der californischen
und mediterranen Trias angenommen werden.
Die Verbindung fand im Osten über die betische
KordiUere, im Westen über die durch Meeres-
ablagerungen gekennzeichnete Straße von Zacatecas
in Mexiko statt. Ob eine zweite Verbindung
nach dem andinen Reich über Columbien vor-
handen war, läßt sich nicht mit Sicherheit nach-
weisen. Während der Obertrias war der nörd-
liche Atlantik von dem arktischen Meer durch
eine wahrscheinlich in einen Inselarchipel auf-
gelöste Landbrücke getrennt, über die die Land-
Labyrinthodonten und Reptilien Mittel- Europas
ihren Weg nach den westlichen Staaten Nord-
amerikas fanden. Nach Süden dehnte sich der
Poseidon etwa in seinem heutigen Umfang aus;
positive Beweise für eine Landverbindung des
Festlandes von Süd-Afrika mit Brasilia lassen sich
aus der Wirbeltierfauna und der Flora beider
Kontinente nicht entnehmen. 6. Die Ausdehnung
des Indischen Ozeans während der Trias
ist nicht bekannt, da Triassedimente im Küsten-
bereich des heutigen Indischen Ozeans nur von
Tenasserim, Malaka, Sumatra angegeben sind.
Die Ähnlichkeit der Wirbeltierfauna und der Flora
von Cambodscha und dem während der Trias
festländischen Australkontinent macht eine zeit-
weilige Verbindung beider Gebiete über die
Inselbrücke des hinterindschen Archipels wahr-
scheinlich. Die andere Begrenzung des indischen
Ozeans ist zu suchen in der langgestreckten
Gondwanahalbinsel, deren Existenz aus den engen
verwandtschaftlichen Beziehungen der Landwirbel-
tierfauna der südafrikanischen Karroo- und der
indischen Gondwana-Schichten allgemein aner-
kannt wird. Die Annahme eines indischen Ozeans
macht zudem das unvermittelte, fast gleichzeitige
Auftreten der Tropitiden und Haloritiden im
Mittelmeer, im Himalaya und in der californischen
See erklärlich, da für diese kryptogenen Typen
der Indische Ozean eine ungestörte Entwicklung
ermöglichte.
Im allgemeinen betrachtet , erhält man ein
Kartenbild von der Trias, das dem der Gegenwart
ziemlich nahe kommt und mit der Annahme von
der Stetigkeit der Kontinente und Ozeane gut
übereinstimmt. Schon für die Trias ergibt sich
ein Überwiegen der Landbedeckung auf der nörd-
lichen, der Wasserbedeckung auf der südlichen
Halbkugel, im Gebiet des Nordpols ein arktisches
Meer, auf dem entgegengesetzten Pol ein ant-
arktisches Festland. Der Nachweis von Klima-
gürteln während der Trias, wie sie Neumayer für
den Jura und die Kreide annimmt, läßt sich aus
der Betrachtung der marinen Faunen allein nicht
erbringen, wenngleich der ausgeprägte Gegensatz
der borealen von der gemäßigt äquatorialen Fauna
während der skythischen und anisischen Stufe
den Gedanken einer klimatischen Differenzierung
als Ursache dieser Faunensonderung leicht auf-
kommen läßt. Dagegen spricht das Auftreten
einer karnischen Fauna auf den Neusibirischen
Inseln, die kein boreales Gepräge besitzt, vielmehr
enge Beziehungen zum himalayischen Reich
aufweist, sowie das Vorkommen rift'bauender
Korallen in Alaska unter 6o-' nördlicher Breite.
Auch die über weite Flächen übereinstimmende
Verbreitung der Landfauna und Flora spricht
mehr für ein gleichförmigeres Klima. Gleichwohl
werden klimatische Differenzierungen vorhanden
gewesen sein , nur gibt uns Fauna und Flora
hierüber einstweilen keine x'^nhaltspunkte. Sehr
wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache,
daß alle bisher bekannten Triasfloren aus den
Randgebieten der Meere stammen, daß aus dem
Innern der Kontinente, wo die Annahme exzessiven
Klimas sehr wahrscheinlich ist, bisher fossile Floren
nicht bekannt sind. Auch dürfte die Verteilung
von Land und Meer während der Trias, die Aus-
bildung einer einheitlichen Wasserbedeckung im
Bereich der heutigen äquatorialen Gebiete rings
um die Erde ein wesentlich gleichmäßigeres
Klima als in der Gegenwart bewirkt haben. L.
Zoologie. Der Generationswechsel im Tier- und
Pflanzenreich. Goeldi und F'ischer ^), Zoologe
und Botaniker, ziehen einen Vergleich zwischen
dem Entwicklungsverlaufe bei geschlechtlicher Fort-
pflanzung im Tier- und Pflanzenreich und kommen
zu dem Resultat, daß „der artliche Lebenszyklus
bei Pflanze und Tier in bezug auf Entwicklung
und Fortpflanzung in übereinstimmender Weise
verläuft" (Goeldij. Der von Hofmeister bei
den höheren Kryptogamen um die Mitte des
vergangenen Jahrhunderts entdeckte Generations-
wechsel, der regelmäßige Wechsel zwischen un-
geschlechtlicher und geschlechtlicher Generation,
zwischen Sporophyt und Gametophyt, findet sich
nicht nur auch bei Phanerogamen und niederen
Kryptogamen, sondern er kommt nach Goeldi
und Fischer überhaupt allen geschlechtlich sich
fortpflanzenden Organismen zu, wenn er auch bei
') Goeldi, E. A., Vergleich zwischen dem Entwicklungs-
verlauf bei der geschlechtlichen Fortpflanzung im Pflanzen-
und im Tierreich und Vorschlag zu einer Verständigung
zwischen Zoologen und Botanikern auf Grund einer einheit-
lichen biologischen Terminologie. Verhandl. d. Schweiz.
Xalurf. Ges., 97. Sitz., 11. Teil, Genf 191;.
Goeldi, E. A. u. Fischer, Ed., Der Generations-
wechsel im Tier- und Pflanzenreich, mit Vorschlägen zu einer
einheitlichen biologischen Auffassung und Benennungsweise.
Ein Beitrag zur Förderung des höheren naturkundlichen Unter-
richts und des Verständnisses fundamentaler Lebensvorgänge.
Milteil. d. Naturf. Ges. in Bern aus dem Jahre 1910, Bern 1916.
N. F. XVI. Nr. 9
Naturvvissenscliaftliche Wochenschrift.
[2S
den höheren Organismen meist stark modifiziert
ist und sich sein Vorhandensein nur noch durch
theoretische Erwägungen erkennen läßt. Das
veranlaßt sie , Vorschläge zu einer einheitlichen
biologischen Auffassung und Benennungsweise zu
machen , deren Annahme oder wenigstens Dis-
kussion sie im Interesse der biologischen Forschung
für dringend erwünscht halten. Diese Auffassung,
des Generalionswechsels ist nicht neu, und be-
sonders G o e 1 d i betont auch wiederholt , daß
sein Interesse an diesen Fragen ganz wesentlich
durch die Lektüre einer vor einigen Jahren er-
schienenen Schrift des französischen Entomologen
Jan et') geweckt und angefacht wurde. Janet
hat indessen seinerzeit wenig Gegenliebe für seine
Ideen gefunden, und nach einigen Aufsätzen zu
urteilen , die das gleiche Thema behandeln und
ungefähr zur gleichen Zeit erschienen sind wie
die Abhandlungen von Goeldi und Fischer,
dürfte es diesen niciit viel anders ergehen. Doch
betrachten wir, ehe wir die Einwände anderer
Forscher erörtern, zunächst die Vorschläge
G o e 1 d i ' s und F i s c h e r ' s.
Will man den Begriff „Generationswechsel",
wie ihn die Botaniker seit Hofmeister ver-
wenden, auf das Tierreich übertragen, so muß
man, um Verwirrungen vorzubeugen, für den
„zoologischen Generationswechsel" eine andere
Bezeichnung suchen. Denn der Generationswechsel
der Zoologen, den A. v. Chamisso 1819 zuerst
bei den Salpen entdeckte, ist durchaus verschieden
von dem Hofmeister' sehen Generationswechsel.
Während dieser, auch „antithetischer (ienerations-
wechsel" genannt, sich innerhalb des onto-
genetischen Lebenslaufes eines und
desselben Individuums abspielt, stellt jener
einen Lebenszyklus zweier oder auch
mehrerer, häufig sogar zahlreicher
Individuen einer und derselben Art dar. Beim
botanischen Generationswechsel folgt in strengem
Rhythmus auf die sporophytische Generation die
gametophytische oder, wenn wir die verschiedene
Chromosomenzahl der beiden Generationen in
der Bezeichnung zum Ausdruck bringen wollen,
die diploide auf die haploide Generation. Beim
zoologischen Generationswechsel können auf die
geschlechtliche Generation mehrere ungeschlecht-
liche folgen, auch ist die Fortpflanzungsweise der
ungeschlechtlichen Generation (durch Teilung oder
Knospung) eine ganz andere als dort, und sodann
sind alle Generationen , geschlechtliche wie un-
geschlechtliche, diploid, d. h. alle besitzen die
„normale", die doppelte Chromosomengarnitur.
Wollte man nach derh Prioritätsgesetze verfahren,
so müßten freilich die Botaniker auf ihre Be-
zeichnung verzichten, da ihr „Generationswechsel"
der jüngere ist, aber in diesem Falle dürfte es
wohl auch den meisten Zoologen zweckmäßig
erscheinen, für den Hofm eist er "sehen Gene-
'j Janet, Ch., Le sporophyte et le gamctophyte du
vegetal; le soma et le germen de l'insecte. Limoges 1912.
ralionswechsel diese Bezeichnung beizubehalten,
zumal da für den alten zoologischen Generations-
wechsel bereits eine andere Bezeichnung existiert —
Metagenesis. Sodann wird der Begriff von den
Zoologen in sehr verschiedenem Sinne gebraucht;
die einen bezeichnen nur den Wechsel zwischen
geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Genera-
tionen (Metagenesis) als Generationswechsel, die
anderen rechnen auch den Wechsel zwischen
zw ei geschlechtlichen und eingeschlechtlichen,
d. h. parthenogenetischen, Generationen (Hetero-
gonie) dazu. Dem Vorschlage von Goeldi und
Fischer, die zoologische Auffassung des Be-
griffes vom Generationswechsel aufzugeben, kann
man also, wie mir scheint, ohne Bedenken zu-
stimmen.
Die beiden Hauptabschnitte beim antithetischen
Generationswechsel sind der sporobiontische und
der gametobiontische Abschnitt, Sporobi ont
und Gametobiont oderDiplont und Haplont.
Der Moment der Reduktionsteilung stellt den
Übergang von der ungeschlechtlichen zur geschlecht-
lichen Generation dar. Jeden der beiden Abschnitte
teilen Goeldi und Fischer wieder in vier Unter-
phasen ein. Die ungeschlechtliche, diploide Gene-
ration beginnt mit der Zygote. Aus dieser ent-
wickelt sich das Soma desSporobionten.
Die dritte Unterphase bezeichnen sie alsSporo-
gonarium, das die Gonotokonten erzeugt,
d. h. diejenigen Zellen, welche die Redukiions-
teilung eingehen. Die Gonotokonten werden
durch zweimalige Teilung, die sog. Tetradenbildung,
in vier Zellen aufgeteilt. Damit erhalten wir das
erste Stadium des Gametobionten, die Tetracyte.
Aus dieser entsteht das Soma des Gameto-
bionten. Die dritte Unterphase dieser Generation
ist das Ga melangium , welches unmittelbar die
Gameten erzeugt. Das Produkt der Vereinigung
zweier Gameten ist wieder die Zygote, und damit
ist der Kreislauf geschlossen.
Betrachten wir den Generalionswechsel bei
einem kryptogamischen Gewächs mittlerer Organi-
sationshöhe, z. B. einem Moose, so ist es nicht
schwer, die beiden Hauptabschnitte und die acht
Unterphasen herauszufinden. Beide Generationen,
Sporobiont und Gametobiont, sind wohl entwickelt.
Aus der befruchteten Eizelle, der Zygote, geht
ein Embryo hervor, welcher zum Sporogonium,
dem Soma des Sporobionten, heranwächst. Die
Mooskapsel stellt die dritte Unterphase der sporo-
biontischen Generation, das Sporogonarium, dar,
in dem als Sporenmutterzellen die Gonotokonten
entstehen. Die Sporen sind gleich den Tetracyten,
also das erste Stadium des Gametobionten. Sie
liefern das Soma des Gametobionten, bei den
Moosen als Protonema und Moospflanze bezeichnet.
Tn den beiden letzten Phasen erfolgt die Bildung
der Sexualorgane. Antheridien und Archegonien
sind gleich dem Gametangium, Spermatozoiden
und Eizellen sind die Gameten.
Bei den höheren Pflanzen, den Pteridophyten
und vor allem den Phanerogamen, tritt der
126
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr
Gametobioiil gegenüber dem Sporobionten mehr
und mehr zurück, so daß es bei den Angio-
spermen schwer wird, im Gametobiontabschnitt
noch vier Unterphasen zu unterscheiden. Zygote —
Embryo, beblätterte Pflanze — Pollensack und
Nucellus der Samenanlage — Pollenmutterzelle
und Embrj'osackmutterzelle sind nach Goeldi
und Fischer die vier Unterphasen des Sporo-
bionten. Der Gametobiont beginnt bei den
Angiospermen mit dem Pollenkorn einerseits, dem
Embryosack -f 3 degenerierten Schwesterzellen
andererseits (Tetracyten). Das Soma des Gameto-
bionten ist außerordentlich reduziert; es besteht
im männlichen Geschlecht nur aus der vegetativen
Zelle (Pollenschlauch), im weiblichen aus den
Antipoden und den Polkernen sowie den Syner-
giden. Die dritte Unterphase läßt sich nur im
männlichen Geschlecht konstatieren: generative
Zelle gleich Gametangium. Die Spermakerne und
die Eizelle sind die Gameten.
Noch schwieriger ist die Erkennung der ein-
zelnen Stadien des antithetischen Generations-
wechsels bei den höheren Tieren. (Von den
Protozoen, die Goeldi in einem eigenen Ab-
schnitte behandelt, wollen wir in dieser Be-
sprechung absehen.) Beginnen wir wieder mit
dem Sporobionten (im speziellen auch S p o r o z o i t
genannt im Gegensatz zum Sp orophy t e n).
Aus der Zygote entstehen Blastula und Soma des
Tieres. Anlage und Differenzierung der Keim-
drüsen bezeichnen die dritte Unterphase , das
Sporogonarium. Spermatocyte und Oocyte
I. Ordnung sind die Gonotokonten. Die beiden
Reifungsteilungen leiten zum Gametobionten (auch
Gametozoit im Gegensatz zum Gameto-
phyten) über, die Spermatiden und die jungen
Eier (-|- 3 Richtungskörperchen) sind die Tetra-
cyten. Das Soma des Gametozoiten und die
Gametangium-Phase fehlen bei allen Metazoen
vollständig, und auch die vierte Unterphase ist
fast gleich der ersten: Spermatiden und junges
Ei werden zu den Gameten, den Spermien und
dem Reif- Ei.
Es ist gewiß nur zu begrüßen , wenn die
beiden biologischen Disziplinen, Botanik und
Zoologie, mehr und mehr Hand in Hand arbeiten.
Wie notwendig es ist, daß einheitliche Probleme
von Botanikern und Zoologen unter einheitlichen
Gesichtspunkten bearbeitet werden, wenn unnütze
Arbeit vermieden werden soll, das zeigt neuer-
dings zur Genüge die Vererbungsforschung. Gleiche
Erscheinungen sollten auch gleiche Benennungen
finden. Als Motto stellen Goeld i und Fischer
ihrer Abhandlung die Worte O. Hertwig's
voran : „Tiefere P^orschung deckt überall die Einheit
in den fundamentalen Lebensprozessen der ganzen
Organismenwelt auf" Gern wird man dem zu-
stimmen. Diese Erkenntnis darf uns indessen
nicht verleiten, nun alles in ein Schema zwängen
zu wollen. Goeldi und P"ischer postulieren
den Generationswechsel „als eine dem Individuum
zukommende Allgemeinerscheinung". Sie vermögen
aber bei den Metazoen nur eine Generation nach-
zuweisen. „Von einer Generation", sagt G o e b e U)
ganz mit Recht, „kann man eigentlich nur reden,
wenn es sich um einen wenigstens einigermaßen
selbständig für sich bestehenden Entwicklungs-
abschnitt handelt, also einen solchen, bei welchem
der Bildung der Fortpflanzungszellen vegetative
Teilungen vorangehen, oder doch — wie aus
vergleichenden Gründen angenommen werden
muß — ursprünglich vorangegangen sind." Irgend-
ein Beweis für die ehemalige Existenz einer
zweiten Generation bei Metazoen fehlt indessen.
Goeldi und Fischer gehen aber auch
bereits zu weit, wenn sie behaupten, daß die
Botaniker allgemein „den Generationswechsel
als eine jedem Pflanzenindividuum zu-
kommende, generelle Allgemein-
erscheinung postulieren". So schreibt erst
kürzlich Renner'-) zu dieser Frage: „Die Ein-
beziehung der niedersten Kryptogamen und der
Tiere in das Generationswechselschema hätte nur
dann eine gewisse Berechtigung, wenn Grund zu
der Annahme vorhanden wäre, daß die jeweils
durch die minimale Zellenzahl repräsentierte
, Generation' durch Reduktion in den rudimentären
Zustand gekommen sei. Diese Annahme hat aber
noch niemand wahrscheinlich gemacht. Ohne
Beziehung auf höhere Formen würde niemand in
dem Entwicklungsgang einer Grünalge wie Oedo-
gonium, um bei den Pflanzen zu bleiben, einen
.antithetischen' Generationswechsel entdecken, und
wenn wir eine tatsächliche phylogenetische Be-
ziehung im absteigenden Sinne leugnen, müssen
wir sagen: Oedogonium hat keinen, oder wenn
wir wollen, hat noch keinen Generationswechsel.
Ebensowenig wissen wir von den pennaten Dia-
tomeen, wie sie zu ihrem diploiden Vegetations-
körper gekommen sind, der wie ein Tier nur
haploide Gameten erzeugt, und so lange wir
nicht urteilen können: Surirella hat keine aus-
gebildete haploide Generation mehr, so lange
wenigstens müssen wir sagen: Surirella besitzt
keinen Generationswechsel."
Zum Schluß auch noch das Urteil eines
Zoologen: „Unserer Meinung nach", sagt Hart-
mann,'') „handelt es sich hierbei um eine Über-
tragung eines Schemas, das bei höheren Pflanzen
durch die konstante Verbindung von Sporen-
bildung mit der Reduktion zustande gekommen
ist und hier seine teilweise Berechtigung hat, das
aber nur mit Zwang und in voller Verdrehung des
Ausdrucks Generation und Generationswechsel
auf die meisten Algen und Pilze übertragen
werden kann. Denn es ist doch eine Verkennung
des Begriffs Generation, wenn eine sog. Genera-
') Goebel, K., Organographie der Pflanzen. 2. Aufl.,
Jena 1901.
'-) Renner, O., Zur Terminologie des pflanzlichen Gene-
rationswechsels. Biol. Centralbl., Bd. 36, 19 16.
') Hartmann, M., Mikrobiologie. Allgemeine Biologie
der Protisten. In: Die Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 4. Abt.,
I. Bd., Allgemeine Biologie. Leipzig u. Berlin 1915.
N. F. XVI. Nr. 9
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
tion als solche überhaupt keine Generation, keine
Vermehrung zeigt. Dazu führt aber die skizzierte
Auffassung der Botaniker, die ohne weiteres
Gametophytmit haploider, Sporophyt mit diploider
Generation identifiziert, wenn man sie auf die
Protozoen und viele Algen anzuwenden sucht.
Bei fast allen Protozoen (und Metazoenj, und
dasselbe gilt für die Diatomeen und Fucus unter
den Algen, bestände der Gamont (Gametophyt)
nur aus einer Zelle, der Gamete, die sich als
solche nicht fortpflanzt, sondern nur kopuliert.
Alle fortpflanzungsfähigen Generationen zu-
sammen aber, die agamen wie die gameten-
bildenden , entsprächen dem Sporonten (Sporo-
phyten). Umgekehrt ist für die konjugaten Algen
der Sporophyt auf ein Zellindividuum, die Zygote,
beschränkt, und alle übrigen sind haploid, bilden
also zusammen den Gametophyten. Ganz un-
durchfühibar ist diese Auffassung aber bei einem
Flagellat mit extremer Autogamie, da hier die
gleiche Zelle nacheinander erst die diploide, dann
die haploide, dann wieder diploide Generation
darstellen würde. Wenn man in dieser Weise
den Generationswechsel faßt, dann muß eben
jedem Organismus mit Befruchtung ein solcher
zukommen; denn wie Weis mann in genialer
Konzeption theoretisch vorausgesagt hat, und wie
in allen Arbeiten aufs neue bestätigt wird, ist mit
jeder Befruchtung auch eine Reduktionsteilung
verbunden, und neuere Befunde bei Amöben,
Algen und Pilzen zeigen so recht deutlich , daß
die Reduktion nur eine Folge der Caryogamie ist,
gleichgültig, ob sie sofort in der Zygote erfolgt
(Spirogyra) oder erst vor einer neuen Befruchtung
(Protozoen, Diatomeen) oder in der Mitte.zwischen
zwei Befruchtungen. Da aber die Befruchtung
ein Vorgang ist, der ursprünglich nichts mit der
Fortpflanzung (Generation) zu tun hat, so kann
auch die Reduktion ursprünglich nichts mit Fort-
pflanzung zu tun haben (dies zeigen auch gerade
dieReduktionsvorgänge bei den primitiven Amöben),
und ist erst sekundär aus ökonomischen Gründen
mit zur Fortpflanzung verwendet worden."
Nachtsheim.
Der deutsche Vogelschutz im Kriegsjahr 191 6.
Die diesmaligen Jahresberichte über Vogel-
schutz im ersten Heft der Ornithologischen
Monatsschrift, Jahrgang 1917, klingen zum Teil
weniger optimistisch als die vorm Jahre. Der
deutsche Verein für Vogelschutz hat nicht nur
ein erschwertes Durchhalten, sondern sieht manche
von seinen Zielen in weitere Ferne gerückt als
je. So beklagt er die Wiedereinführung des
Dohnenstiegs, die bekanntlich 1916 zu spät kam,
als daß sie viele Krammetsvögel hätte auf den
Markt bringen können, und hebt die wirtschaftliche
Geringfügigkeit dieser Maßregel hervor, während
der Waidmann ihre Bedeutungslosigkeit für die
Vogelwelt, namentlich bei nicht international ge-
übtem Schutz, zu betonen pflegt. Die auf Jahre
hinaus eingetretene Hemmung der internationalen
Bestrebungen wird gleichfalls tief beklagt, die Zer-
störung von Vogel freistätten an der Nordseeküste,
die fortschreitende Kultivierung der Moore und
das vielfache Aufhören der Vogelfütterung be-
dauert. In diesen Punkten hat der Vogelschutz
hinter wichtigeren Aufgaben zurücktreten müssen.
Ein Lichtblick ist die Einführung der Katzensteuer.
Die Beschaffung von Wohnstätten für Vögel ist
während des Krieges fortgesetzt worden.
Da der „Ellenbogen" von Sylt militärischen
Zwecken dienen mußte, ist eine überaus reiche,
seit Naumann's Tagen hoch berühmte Möven-
brutkolonie fast vollständig zerstört und damit
die einzige Brutstätte der Kaspischen See-
schwalbe, Sterna caspica, in Deutschland voraus-
sichtlich für immer dahin.
Durch Eierraub schwand nach Berg der
Säbelschnabler, Recurvirostra avosetha bis
auf wenige Paare von Hiddensee; 13 haben nach
Hübner gebrütet. Auch andere dortige Vogel-
arten hatten unter Eierraub mehr denn je zu leiden,
trotzdem haben die schon vorher überaus zahl-
reichen Kiebitze nach übereinstimmenden An-
gaben von Hübner und Berg noch zugenommen,
ebenso der Rotschenkel, Totanus totanus und bei-
läufig bemerkt, das schwarze Wasserhuhn und die
Brandgans. Neue Brutvögel sind der Bruchwasser-
läufer und, wenigstens zum ersten Male sichergestellt,
der Wachtelkönig. Aus nicht zu erklärenden
Gründen waren die Turnierplätze der Kampfläufer
weniger besucht als früher, eine wahrscheinlich
vorübergehende Erscheinung.
An der pommcrschen Küste stellte Professor
Hübner eine Verspätung des Frühjahrszuges
unter anderem beim Kiebitz fest. Die ersten
Kiebitze erschienen am 17. März, während ihre
mittlere Ortsankunft auf den i. März fällt. Dies
und das Eintreffen ungeheurer, die Sonne ver-
finsternder Scharen von Kiebitzen am 29. März
wird auf die Kriegsereignisse an der Westfront
zurückgeführt. Ich habe an der Aisne 191 5 und
1916 keine Störung des Kiebitzdurchzuges infolge
von Kriegsereignissen bemerkt, ebenso wenig
Weyland, der in der Deutschen Jägerzeitung
Band 68, Nr. 17, S. 266 -2ö8 über den von der
ansässigen Bevölkerung gewerbsmäßig in großem
Maßstabe betriebenen Kiebitzfang in der Champagne
berichtet. Die allerersten Kiebitze erschienen an
der Aisne 1916 in der Nacht vom 27. zum
28. Januar, bis zum März wurden ihrer immer
mehr und einmal an 10000 Stück auf einem
Platze, worüber ich berichtet habe.
Erfreuliches berichtet L e e g e von der Vogel-
kolonie Memmert an der Nordsee. Dort vollzog
sich im Angesicht des Feindes der Vogelschutz
wie mitten im tiefsten Frieden. Nur unter Sturm-
fluten hat der Memmert gelitten und stellenweise
eine Salzflora anstatt der früheren Pflanzendecke
erhalten; ein schöner Süßwasserteich wurde zu
Jauche mit Stichlingen, Gasterosteus aculeatus, die
[28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 0
früher fehlten, als einzigem Tierlebcn, alle anderen
zahlreichen Süßwassertiere, darunter im Frühjahr
191 1 angesiedelte Süßwasserschnecken verschie-
dener Art, die sich fabelhaft vermehrt hatten,
waren geschwunden, ebenso fast das ganze reiche
Schneckenleben am feuchten Uferboden und die
Amphibien, während Slurmmöven geduldig das
Fallen des Wassers abwarteten, Enten wieder-
kehrten, das Schwarze Wasserhuhn auch hier zunahm
und Brandseesch walben gerade in der ni it Trümmern
besäten Stätte einen willkommenen, obschon ver-
änderten Brutplatz wiederfanden. Rotschenkel
als besondere Freunde des Brackwassers kamen
gut auf ihre Rechnung. So bemerkt man im all-
gemeinen eine Gleichgültigkeit der Strandvögel
gegen Veränderungen des Brutplatzes. Stare zogen,
vielleicht wegen der eintöniger gewordenen Nahrung,
frühzeitiger als sonst ab.
Wie es auf den anderen Freistätten in der
Nordsee, insbesondere auf Norderoog, Jordsand
und Trischen aussieht, darüber läßt sich gegen-
wärtig nichts sagen. V. PVanz.
Botanik. Die Gefährdung der amerikanischen
Wälder durch den Weymouthkieferblasenrost.
Während noch vor kurzem der Weymouihkieier-
blasenrost in der Heimat der Weymouthkiefer
unbekannt war, taucht er neuerdings allenthalben
in den Vereinigten Staaten und in Kanada auf und
hat jetzt eine solche Verbreitung erreicht, daß
ganze, große Waldgebiele mit Vernichtung be-
droht sind. Wie gefährlich die Pflanzenkrankheit
in den amerikanischen Waldungen wütet, ver-
anschaulicht am besten die Tatsache, daß der
Vorsitzende der American Forestry Association,
Charles Lathrop Pack, die Gouverneure
aller Staaten der Union, in denen die Weymouth-
kiefer wächst, sowie Vertreter der kanadischen
Regierung für den Januar dieses Jahres zu einer
Versammlung nach Washington eingeladen hat,
die ausschließlich darüber beraten soll, welche
gesetzlichen Maßregeln zur Eindämmung der
Krankheit nötig sind und wie sie durchgeführt
werden können. Ergriffen sind bisher die Weymouth-
kieferwaldungen des Staates New York — diese
am stärksten — , die der Neuenglandstaaten, die
Kanadas und die benachbarter Gebiete; in der
Grafschaft Essex des Staates New York und in
der Gegend westlich des Champlain-Sees sollen
bereits außerordentlich viele Bäume vernichtet
sein. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß der
Kieferblasenrost aus Europa eingeschleppt ist.
Die amerikanischen I-'achleute behaupten aufs be-
.stinimteste, daß der Erreger der Krankheit,
Peridermium Strobi , vor zehn Jahren mit einer
großen aus Deutschland bezogenen Sendung junger
Weymouthkiefern eingeschleppt worden sei; man
habe das Unheil erst nach ein paar Jahren be-
merkt, als die eingeführten Kiefern schon längst
auf mehrere Staaten verteilt waren. Während
nun die der Weymouthkiefer nahe verwandte
Pinus cembra wenig empfindlich gegen den Pilz
ist, leidet in Deutschland die Weymouthkiefer
schwer unter ihm, und in der neuen Welt hat
der Pilz die denkbar besten Lebensbedingungen
angetroffen. In den ausgedehnten Weymouth-
kieferwaldungen , zwischen denen die jungen
Kiefern angepflanzt sind, wachsen nämlich wilde
Stachelbeeren in Mengen, und zudem werden in
den oben angeführten Staaten Johannisbeeren und
Stachelbeeren in großem Maßstabe angebaut.
Gerade die Ribes-Arten, auf denen Peridermium
Strobi seine Uredo- und Teleutosporen bildet,
sind massenhaft in nächster Nähe vorhanden !
Da der Pilz Generations- und Wirtswechsel hat,
gibt es einen sicheren Weg zu seiner Ausrottung,
und diesen denken die Amerikaner in der Tat
einzuschlagen, obwohl es sich um eine tief in das
wirtschaftliche Leben einschneidende Maßregel
handelt. Man steht vor der Wahl, entweder die
Weymouthkieferwaldungen zu verlieren oder die
Beerenobststräucher opfern zu müssen, und da das
Holz der „white pine", wie die Amerikaner die
Kiefer nennen, volkswirtschaftlich die bedeutend
wichtigere Rolle spielt, will man die wildwachsenden
Beerensträucher der betroftenen Gebiete ausrotten,
und die gebauten gleichfalls vernichten, womit die
Marmeladen-, die Geleeerzeugung und die verwandten
Erwerbszweige einiger Staaten mit einem Schlage
ihrer Rohstotle beraubt werden. Die Beobachtung
hat gezeigt, daß nur vollkommene Ausrottung der
Wirtspflanzen aus der Gattung Ribes zum Ziele
führen kann; während des herbstlichen Blattfalles
kann der Pilz nämlich über Entfernungen von
vielen Meilen verweht werden. Neben der Aus-
rottung der Beerensträucher ist noch eine sorg-
fältige Überwachung aller Weymouthkieferbestände
nötig, bei der, da die Krankheit bei den Kiefern
nicht immer leicht zu erkennen ist, P'achleute die
Wälder planmäßig nach erkrankten Bäumen ab-
suchen müssen. Der Staat Neu York, in dem die
Weymouthkiefer alle anderen Bäume überwiegt,
hat im vorigen Sommer für diesen Zweck schon
15000 Dollars aufgewandt, und in diesem Jahre
soll annähernd die doppelte Summe zur Aus-
rottung des Weymouthkieferblasenrostes zur
Verfügung gestellt werden. H. P.
Inhalte P. Riebesell, ReUuivilät und Gravitation. (2 Abb.) S. 113. — Kleinere Mitteilungen: E. Zieprecht, Beob-
achtungen über das Vogelleben im Sommegebiet. S. I20. üraefe, Mineralöl als Speiseöl. S. 121. V. Kranz,
Farbenvariationen von Helix nemoralis. (I Abb.) S. 121. — Einzelberichte: C. Diener, Die mannen Reiche der
Triasperiode. S. 122. Goeldi und Fischer, Der Generationswechsel im Tier- und Pflanzenreich. S. 124. —
Der deutsche Vogelschutz im Kriegsjahr 1916. S. 127. Charles Lathrop Pack, Die Gefährdung der amerikanischen
Wälder durch den Weymoulhkieferblasenrost. S. 128.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena,
hen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Druck der G. Pätz's
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den ii. März 1917.
Nummer 10.
Das Stickstoffproblem und seine Lösungen.
[Nachdn
Von Prof. Dr. Alfred Coehi
Wenn wir Lebendiges zerstören und durch
alle Hilfsmittel, die wir kennen, durch mechanische
und chemische Einwirkungen, in seine letzten
Bestandteile zerlegen, so finden wir, daß alles
Organische — Pflanzen, Tiere und Menschen — in der
Hauptsache vier Elemente, d. h. durch menschliche
Kunst nicht weiter zerlegbare Stoffe enthält,
nämlich Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stick-
stoff. Damit also Lebendiges existieren und
wachsen kann, müssen ihm diese Stoffe in immer
neuen Mengen zugeführt werden. Das einzige
aber dieser vier Elemente, das von allen Lebe-
wesen ohne weitere Zubereitung aufgenommen
werden kann, ist der Sauerstoff. Ein Fünftel unserer
Luft besteht daraus, und Tiere und Menschen
können den Luftsauerstoff einatmen und ihn in
ihrem Innern zur Aufrechterhaltung der Lebens-
vorgänge verarbeiten. Auch die Pflanzen atmen —
allerdings wahrnehmbar nur während der Nacht,
wenn kein Licht auf sie wirkt — den Luftsauer-
stoff ein. Die übrigen drei notwendigen Elemente
können, wenn sie rein sind, weder von Menschen
und Tieren noch im allgemeinen von Pflanzen
aufgenommen werden. Reinen Wasserstoff, Kohlen-
stoff und Stickstoff kann man weder einatmen
noch essen oder trinken. Sie müssen, um ge-
nießbar zu sein, schon vorher untereinander ver-
bunden, in „chemischer Verbindung" sein. Zur
Aufnahme des Wasserstoffs stellt uns die Natur
als einfachste genießbare P'orm seine Verbindung
mit Sauerstoff, das Wasser, zur Verfügung. Wird
das starke Bedürfnis der Tiere und Pflanzen nach
dieser Verbindung nicht befriedigt, so verdürsten
sie, wie sie beim Mangel an .Sauerstoff ersticken.
Für die }""orm aber, in der die beiden anderen
Elemente, Kohlenstoff und Stickstoff, aufgenommen
werden, gehen die Bedürfnisse der Pflanzen, Tiere
und Menschen, auseinander. Die Pflanzen können
den Kohlenstoff, den sie zu ihrem Aufbau brauchen,
der Atmosphäre entnehmen , in der stets eine
kleine Menge einer Kohlenstoff- Sauerstoffver-
bindung, die Kohlensäure, vorhanden ist. Unter
der Mitwirkung des Tageslichts wird diese von
den Pflanzen in für den Aufbau der Pflanze nutz-
barer Weise zerlegt und mit Wasserstoff und Sauer-
stoff Stärke, Holz, Zucker usw. daraus gebildet.
Daher denn die Pflanzen ihrem „Hunger" nach
Kohlensäure und Licht Ausdruck geben , indem
sie ihre hier allein wirksamen Bestandteile, die
grünen Blätter, in großen Flächen der Luft und
dem Licht entgegenbreiten. Auf solche Weise
kommt ja das dem beobachtenden Menschen
immer wieder erstaunlich erscheinende Ergebnis
zu.stande, daß der Stoff zu dem dicken Stamm
(Göttingenl.
eines alten Baumes den verschwindend kleinen
Spuren von Kohlensäure entnommen ist, die in
der Lult enthalten sind. Daß dieser Gehalt der
Luft an Kohlensäure trotz des Verbrauchs durch
die Pflanzen nicht abnimmt, dafür sorgen wieder
Tiere und Menschen, indem sie den eingeatmeten
Sauerstoff, nachdem er sich mit bereits im Körper
vorhandenem Kohlenstoff verbunden hat, als
Kohlensäure wieder ausatmen. Woher aber kommt
dieser Vorrat an Kohlenstoff im tierischen Körper?
Durch die Nahrungsmittel. Die Tiere können
nicht, wie die Pflanzen, ihren Kohlenstoffbedarf
der Kohlensäure der Luft entnehmen, sondern
müssen dazu essen und trinken. Dabei genießen
sie den Kohlenstoff in der Form von Verbin-
dungen mit Wasserstoff und Sauerstoff, wie sie
die Pflanze bei ihrem Lebensprozeß hergestellt
hat, z. B. als Zucker. Kohlenstoff, Wasserstoff
und Sauerstoff bilden zusammen auch noch eine
andere für die Ernährung sehr notwendige Art
von Verbindung, die Fette. Auch diese werden
von den Pflanzen — von einigen z. B. den Oliven
in sehr großer Menge — hervorgebracht. Wollten
aber Lebewesen auch noch so viel Zucker und
Fett aufnehmen , so müßten sie , wenn sie dies
allein hätten, verhungern. Denn es fehlt ja darin
das vierte der allem Leben notwendigen Elemente
- der Stickstoff.
Während aber Menschen und Tiere den Stick-
stoft' nur in der Form sehr komplizierter Ver-
bindungen mit Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauer-
stoff, den sogenannten P^iweißverbindungen, auf-
nehmen können, sind die Pflanzen viel anspruchs-
loser. Sie können ihren Stickstoffbedarf decken
und daraus Eiweißverbindungen aufbauen mit
Hilfe von ganz einfachen chemischen Verbin-
dungen, den anorganischen Salzen. Sie entnehmen
diese als Ammoniakverbindungen — Stickstoff an
Wasserstoff gebunden ■ — oder als Salpetersäure-
verbindung — Stickstoff an Sauerstoff gebunden —
dem Erdboden. Wenn wir aber für die Zwecke
unserer Ernährung alljährlich dem Acker mit den
Ernten große Mengen an Stickstoffverbindungen
entziehen, so verarmt er daran und die Ernten
fallen immer weniger ertragreich aus. Man hat
deshalb früher die Äcker nach mehreren Ernte-
jahren ruhen lassen, damit aus dem Inneren durch
die Einflüsse der Witterung neue Stickstoffver-
bindungen an die Oberfläche gelangen können.
Auch hat man schon sehr früh erkannt, daß durch
den Dünger — die tierischen Exkremente — ■ ein
teilweiser Ersatz geschaffen werden kann. Mit
der Zeit aber, als die überall dichter werdende
Bevölkerung die bessere Ausnützung des für den
[30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 10
Anbau zu Ernährungszwecken noch verbleibenden
Bodens erforderlich machten , begann man alle
dem Boden bei der Ernte entzogenen Stofte in
Form einfacher chemischer Verbindungen als
„künstlichen Dünger" zu verwenden. Als man
sich nun nach billigen Stickstoffverbindungen für
solche Zwecke umsah, zeigten sich die Ammoniak-
verbindungen, zu denen man die Abfallprodukte
der Kokereien und Gasfabriken verarbeiten konnte,
als geeignet. Denn die dazu verwendete natür-
liche Kohle, die aus uralten Wäldern entstanden
ist, ist nicht reiner Kohlenstoff, sondern enthält
— ihrem Ursprung entsprechend — auch Stick-
stoffverbindungen. Der Bedarf an Leuchtgas aber
ist ein viel zu geringer, als daß die Deckung des
Stickstoffbedarfs an die Gasfabriken sich binden
konnte. Beträchtlichere Mengen konnten schon
die sogenannten Kokereien liefern, in denen die
gewöhnliche Steinkohle in Koks verwandelt wird,
in welcher Form sie erst für die Herstellung des
Eisens aus seinen Erzen geeignet ist. Aber auch
damit kann dem Bedarf nicht genügend ent-
sprochen werden. Nun hat die Natur an einigen
Stellen der Erde, vor allem in Chili, ein unge-
heures Lager von Stickstoffverbindungen ge-
schaffen. Chili wurde der Lieferant künstlichen
Düngers für die ganze Welt, und diese wurde
ihm tributpflichtig. Im Jahre 191 2 war der
Verbrauch der ganzen Welt an Chilisalpeter
2525000 Tonnen, der von Deutschland allein
788000 Tonnen. Natürlich wurde es ein Problem
der Chemiker aller Länder, die Stickstoffvei-
bindungen in ihrem Lande selbst künstlich her-
zustellen. Nicht weil man dachte, daß jemals
die Menschheit einen so unseligen Krieg anfangen
würde, der die Zufuhr des Chilisalpeters ab-
schneiden könnte, sondern weil es bei dem Un-
geheuern Bedarf an Chilisalpeter den ackerbau-
treibenden Ländern sehr bedeutungsvoll war, die
Summe dafür im Lande zu behalten. Und weiter
kam hinzu, daß die Stickstoffverbindungen nicht
nur als künstlicher Dünger sehr stark begehrt
wurden, sondern auch, wenn auch in geringerer
Menge (20 "/o des Ganzen) für andere wichtige
Zwecke. So vor allem für die Sprengstofftechnik.
Die friedliche, mit der man Felsen sprengt, um
Wege zu Schäften, damit die Menschen zueinander
kommen können, und die kriegerische, mit der
die Menschen einander durch Explosivgeschosse
vernichten. Weitere Mengen braucht die Farb-
stoffmdustrie , die Herstellung des Celluloids, die
Fabrikation künstlicher Seide und andere Gebiete
der Technik.
Man kann danach verstehen, daß die chemische
Wissenschaft es seit langer Zeit als eine wichtige
Aufgabe angesehen hat , die für die Ernährung
und die Technik so wichtigen Stickstoftver-
bindungen aus einfachen, überall zur Verfügung
stehenden Substanzen herzustellen. Der Stickstoff
selbst steht uns ja in Ungeheuern, unerschöpflichen
Mengen kostenlos zur Verfügung; besteht doch
unsere Atmosphäre zu vier Fünfteln daraus. Der
über der Erde lagernde Luftraum reicht etwa
70 km in die Höhe; schon der über einem Zehntel
Quadratkilometer Grundfläche vorhandene Stick-
stoff würde ausreichen, den jährlichen Bedarf der
ganzen Welt an Stickstoffverbindungen zu decken.
Die Aufgabe der Chemie ist, diesen Luftstick-
stoff in nutzbare Form zu bringen, am einfachsten
ihn entweder an Wasserstoff zu Ammoniakver-
bindungen oder an Sauerstoff zu Salpetersäure-
verbindungen zu binden. Daß beides möglich ist,
hatten Laboratoriumsversuche längst gezeigt. Ein
technisch brauchbares Verfahren aber hatte sich
nicht finden wollen. Der Stickstoff erwies sich
als ein überaus träges Element, d. h. seine
Neigung, Verbindungen einzugehen, als sehr
gering.
Der Energiebedarf bei der Siickstoff-
b i n d u n g.
Es gibt, vom technischen Standpunkte aus
angesehen, zwei prinzipiell verschiedene Arten
chemischer Verbindungen und dementsprechend
auch zwei prinzipiell verschiedene Methoden, die
Entstehung chemischer Verbindungen zu bewirken .
Sie unterscheiden sich in derselben Art, wie
wenn man einen schweren Gegenstand eine schiefe
Ebene herabgleiten läßt oder wenn er auf ihr in
die Höhe gebracht werden soll. Der erste dieser
beiden Vorgänge geht von selbst vor sich. Warten
wir lange genug, so kommt der schwere Gegen-
stand von selbst unten an. Seine Reibung auf
der schiefen Ebene kann bewirken, daß das
Herabgleiten nur sehr langsam geschieht. Wollen
wir es beschleunigen, so können wir diese Reibung
verringern, indem wir z. B. etwas Schmieröl an-
wenden. Alles Schmieröl der Welt aber würde
uns nichts helfen, wenn wir den schweren Gegen-
stand die schiefe Ebene hinauf bringen wollten.
Dazu müssen wir Arbeit aufwenden und zwar
eine genau bestimmte Menge von Arbeit, deren
Größe von dem Gewicht des Gegenstandes und
der Höhe, um die wir ihn nach oben bringen
wollen, abhängt. Geradeso ist es mit den che-
mischen Verbindungen. Viele bilden sich mit
der Zeit von selbst, z. B. die Vereinigung von
Schwefel mit Sauerstoff zu Schwefelsäure. Es
geht aber so ungeheuer langsam, daß wir für
unseren Bedarf an Schwefelsäure darauf nicht
warten können. Es ist, als ob da auch eine Art
von Reibungswiderstand vorhanden wäre. Die
Aufgabe der Technik in solchen Fällen ist nichts
anderes als die rechte Art von „Schmieröl" hinzu-
zufügen, damit der Reibungswiderstand über-
wunden und damit der Ablauf des Vorganges
beschleunigt wird. Solche Zusatzstoffe, die bei
chemischen Vorgängen dieselbe Rolle spielen wie
das Schmieröl bei mechanischen , nennt man
„Katalysatoren". Leider aber gibt es für che-
mische Vorgänge kein solches Universal-Schmier-
mittel, wie das Öl für mechanische. Und die
Technik steht vor der mühsamen Aufgabe, für
N. F. XVI. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
jeden einzelnen der zwar von selbst aber zu
langsam ablaufenden chemischen Vorgänge den
geeigneten Katalysator zu finden.
Bei der zweiten Klasse chemischer Verbindungen
müssen wir, damit sie überhaupt (gleichviel ob
schnell oder langsam) vor sich gehen, Arbeit in
irgendeiner Form aufwenden. Dazu gehört z. B.
die Zerlegung von Wasser in Wasserstoff und
Sauerstoff oder auch die von Schwefelsäure in
Schwefel und Sauerstoff. Wie beim Heben eines
bestimmten Gewichtes um eine bestimmte Höhe
hat auch hier die für einen bestimmten chemischen
Vorgang erforderliche Arbeit eine ganz bestimmte
Größe. Die Arbeit kann dabei in irgendeiner
F"orm z. B. als Wärme oder als elektrische
Energie den Stoffen, die chemisch aufeinander
wirken sollen, zugeführt werden.
Unter den Stickstoffverbindungen, deren Her-
stellung die Technik anstrebt, sind beide Klassen
vertreten: die einen bilden sich von selbst, die
anderen fordern zu ihrer Entstehung eine Zufuhr
von Energie. Die Bildung von Ammoniak aus
Stickstoff und Wasserstoff ist ein von selbst ver-
laufender Vorgang. Bringen wir die beiden
Elemente zusammen, so sind sie, wie man sich
ausdrückt, nicht im Gleichgewicht, so wenig wie
eine Kugel, die sich oben auf einer schiefen Ebene
befindet. Sind dabei Ebene und Kugel etwa aus
Eisen und stark rostig, so geht der von selbst
verlaufende Vorgang, das Herabgleiten, nicht recht
vor sich. Bringen wir aber einige Tropfen Schmieröl
dazwischen, so stellt sich das Gleichgewicht ein:
die Kugel rollt „von selbst" zu dem tiefsten Punkt,
den sie erreichen kann. In solchem Sinne erweisen
sich Stickstoff und Wasserstoff als stark rostig;
dem Vorgang, von dem wir genau wissen, daß er
von selbst, das heißt ohne Arbeitsaufwand von unserer
Seite verlaufen muß, setzen sich starke Reibungs-
widerstände entgegen. Worin eigentlich solche
chemischen Reibungswiderstände, sogenannte Reak-
tionswiderstände, bestehen, das wissen wir nicht.
Würden wir eine ganz geringe Menge von
„Schmieröl", das heißt in diesem Falle von dem
richtigen Katalysator hinzubringen, dann können
wir erwarten, daß Stickstoff und Wasserstoff rasch
zu Ammoniak sich vereinigen. Ganz anders ist
es mit der Vereinigung von Stickstoff und Sauer-
stoff. Deren Verbindung kann niemals von
selbst vor sich gehen. Hier haben wir die Kugel
den Berg hinaufzubringen. Die Theorie kann genau
berechnen, welche Menge von Arbeit nötig ist,
um eine bestimmte Menge von Stickstoff mit
Sauerstoff zu vereinigen. Diese Arbeit ergibt sich
als recht beträchtlich. Man kann also von vorn-
herein sagen, daß diese Methode der Stickstoff-
bindung, die Vereinigung mit Sauerstoff, sehr teuer
sein muß, während man von der ersteren Methode,
der Vereinigung mit Wasserstoff, ebenso behaupten
darf, daß sie billig sein kann.
Trotzdem aber hat sich die Auffindung eines
gut wirksamen Katalj'sators für die direkte Ammo-
niakbildung aus Wasserstoff und Stickstoff und die
sonstige Ausgestaltung des „von selbst" verlaufen-
den Vorgangs als so schwierig erwiesen, daß man
doch eher dazu gelangte, die einen hohen Arbeits-
aufwand erfordernde Bindung des Stickstoffs an
Sauerstoff auszubilden. Hatte man bei dieser
Methode neben dem genannten Nachteil doch den
Vorteil, daß beide aneinander zu bindende Elemente
kostenlos in der Luft zur Verfügung stehen.
Salpeter aus Luft.
Wir haben vorhin gesehen, daß sich Stickstoff
und Sauerstoff nicht von selbst miteinander ver-
binden. Fügen wir nun Arbeit in Form von
Wärme hinzu, so tritt Vereinigung ein. Es bildet
sich eine Verbindung, das Stickoxyd. Und zwar
eine um so größere Menge Stickoxyd im Verhält-
nis zu dem vorhandenen Stickstoff und Sauer-
stoff, je höher wir die Temperatur steigern. Für
jede Temperatur stellt sich ein „Gleichgewicht"
zwischen den drei Stoßen Stickstoff, Sauerstoff und
Stickoxyd ein. Bei 1200" sind z. B. weniger als
0,1 "/n Stickoxyd, bei 2000" etwas über i 7,i. bei
3000 *•/„ schon über 4 "'1,, bei 5000'^ '3% '" '^^^
Luft enthalten. Da nun aber außerdem alle chemi-
schen Vorgänge bei hoher Temperatur rascher
verlaufen als bei niederen , so stellt sich das
günstigere Gleichgewicht für die hohen Tempera-
turen noch obendrein sehr viel schneller ein als
das ungünstigere bei den niederen Temperaturen.
Es scheint also, daß wir Luft, um viel Stickoxyd
daraus zu gewinnen, nur sehr hoch zu erhitzen
brauchen. Nun müssen wir ja aber das Stickoxyd
schließlich wieder auf unsere gewöhnliche Tempe-
ratur bringen, um es zu benutzen oder weiter zu
verarbeiten. Würden wir dazu einfach die Heiz-
vorrichtung abstellen und das aus den drei Stoffen
bestehende Gas sich abkühlen lassen, dann würde
für jede niedere Temperatur, die es durchläuft,
sich wieder das dieser entsprechende Gleichgewicht
mit immer kleinerem Stickoxjdgehalt einstellen.
Und wenn wir schließlich bei gewöhnlicher Tem-
peratur ankämen, so wäre alles Stickoxyd wieder
zerfallen und wir hätten wieder Luft. Nun haben
wir bereits erwähnt, daß — ganz abgesehen von
der Lage des Gleichgewichts — alle chemischen
Reaktionen bei hohen Temperaturen sehr viel
rascher verlaufen als bei niederen. Es brauchen
z. B. Vorgänge, die bei 1000" in einem Bruchteil
einer Sekunde verlaufen, bei gewöhnlicher Tem-
peratur viele Jahre. Würden wir daher das Gas
von dem Gleichgewicht mit großem Stickoxyd-
gehalt, das sich bei hoher Temperatur eingestellt
hat, mit ungeheurer Schnelligkeit auf gewöhnliche
Temperatur abkühlen, dann würde es in den mitt-
leren Temperaturgebieten zu kurze Zeit verweilt
haben, um sich stark in ungünstigem Sinne zu
verändern, und unten angekommen wäre der bei
der hohen Temperatur eingestellte Zustand gleich-
sam eingefroren. Das heißt, wir hätten dann bei
gewöhnlicher Temperatur einen hohen Stickoxyd-
gehalt,
32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Die Lösung des Problems der Bindung von
Stickstoff an Sauerstoff besteht also darin, daß
Vorrichtungen ausfindig gemacht werden, welche
es ermöglichen, Stickstoff und Sauerstoff sehr hoch
— mehrere tausend Grad — zu erhitzen und dann
momentan auf tiefe Temperatur abzukiihlen. Zu
den erforderlichen hohen Temperaturen kann man
nun nicht gelangen, indem man in üblicher Weise
eine Wärmequelle zur Heizung eines Ofens benutzt.
Cavendish hatte schon im Jahre 1775 gefunden,
daß beim Durchschlagen elektrischer Funken durch
Luft sich Stickoxyd bildet. Es ist die hohe
Temperatur des elektrischen Funkens, die hier
wirksam ist. Man kann den Vorgang ausgiebiger
gestalten, wenn man statt elektrischer Funken den
elektrischen Lichtbogen benutzt, wie er in unseren
Bogenlampen verwendet wird. In seiner unmittel-
baren Xähe ist die Temperatur der Luft mehrere
tausend Grad. Hier stellt sich also sofort das Gleich-
gewicht mit etlichen Proz. Stickoxyd ein. Und es
kommt darauf an, diesen Zustand „einfrieren" zu
lassen, das heißt, sehr rasch auf niedere Tem-
peraturen abzukühlen.
Dazu kann man entweder den Lichtbogen selbst
oder auch die Luft sehr rasch bewegen. In ersterem
Falle würde man den Lichtbogen in rascher Folge
zünden und wieder verlöschen lassen, während die
Luft langsam vorübergeführt wird ; im zweiten Falle
würde man den Lichtbogen ruhig brennen lassen,
aber die Luft sehr rasch daran entlang jagen.
Beide Methoden sind technisch benutzt worden.
Da sie für die großen Lichtbögen großen Aufwand
an Energie erfordern, so zog sich die Fabrikation
an solche Stellen der Erde, wo Energie in Gestalt
großer Wasserkräfte billig zur Verfügung steht.
Die erste größere Anlage wurde an den Niagara-
fällen errichtet. Sie bediente sich rotierender
Zylinder mit Platinspitzen, zwischen denen die
Lichtbögen beim Rotieren immer wieder abrissen
und sich neu entzündeten. Die erforderliche
Apparatur aber war so kompliziert, daß man eifrig
nach Vereinfachungen suchte. Eine solche wurde
von Birkeland undEyde durchgeführt in ihrer
Heimat Norwegen, wo ja auch Wasserfälle große
Energiemengen billig darbieten. Der elektrische
Lichtbogen ist ein Stück eines elektrischen Stromes.
Nun kann jeder bewegliche elektrische Leiter durch
Magnete aus seiner Stellung abgelenkt werden.
Der Lichtbogen kann also aus seiner ursprüng-
lichen Stellung durch Magnete stark zur Seite ge-
führt und bei geeigneter Anordnung der mag-
netischen Kräfte fortschreitend an immer anderen
Stellen aus der ursprünglichen geraden Linie
herausgeblasen, schließlich so rasch im Kreise
herumgewirbelt werden, daß er dem Auge eines
Beschauers als mächtige leuchtende Scheibe er-
scheint. In Wahrheit aber entsteht nur ein Licht-
bogen an immer neuen Stellen. Der unmittelbar
daran sich einstellende, der hohen Temperatur
entsprechende Stickoxydgehalt bleibt also bestehen,
da gleich nach seiner Bildung am Ort des Ent-
stehens mit dem Weiterrücken des Lichtbogens
schon wieder niedrige Temperatur herrscht. Man
sieht also, daß beim langsamen Vorüberführen eines
Luftstromes an der scheinbar zusammenhängenden
leuchtenden Scheibe sich sehr annähernd der der
Temperatur des Lichtbogens entsprechende Stick-
oxydgehalt gewinnen läßt. Das Verfahren von
Birkeland und Eyde arbeitet vortrefflich. In
Notodden in Norwegen werden einer Wasserkraft
60000 Pferdekräfte dafür entnommen.
Eine andere Methode, den elektrischen Licht-
bogen scheinbar zu einer breiten Fläche auseinander
zu ziehen, ist von den Gebrüdern Pauli ng aus-
gearbeitet worden. .Sie benutzen den sog. Hörner-
Blitzableiter, zwei unter einem Winkel gegen ein-
ander gebogene Metallstäbe, an deren tiefster, am
nächsten benachbarter Stelle ein Lichtbogen sich
entzündet, der durch die heiße Luft selbst nach
oben an die breitere Stelle getrieben wird, bis er
abreißt, wobei er aber am tiefsten Ende schon
wieder entstanden ist, so daß es aussieht, als ob
der Raum zwischen den beiden schräg gegen ein-
anderstehenden Stäben von einer ruhenden leuch-
tenden Scheibe erfüllt wäre. Man sieht leicht, daß
die Wirkung ähnlich, wenn auch nicht ganz so
stark ist, wie im vorigen Falle. Auch dieses Ver-
fahren hat sich naturgemäß an Stellen mit großen
natürlichen Energiequellen ziehen müssen; es
wurde in Patsch bei Innsbruck in Tirol im Jahre
1904 von der Salpeterindustriegesellschaft in
Gelsenkirchen eingerichtet. Auch in Frankreich
ist eine derartige Anlage ausgeführt worden: La
Nitrogene in La Roche de Rame bei Brianron.
Die Weiterverarbeitung des Stickoxyds geschieht
in einfacher Weise so, daß man aus dem Stick-
oxyd durch überschüssige Luft ein höheres Oxyd
des Stickstoffs, das Stickstoffdioxyd, erhält, das mit
Wasser leicht Salpetersäure gibt. Da .Salpeter-
säure selbst schlecht verwendbar ist, so leitet man
sie auf Kalkstein und erzeugt so salpetersauren
Kalk, den sog. Kalksalpeter oder Norgesalpeter,
oder bringt sie mit Soda zusammen, wobei Natriuni-
nitrit entsteht.
Während die Verfahren von Birkeland-Eyde
und Pauli ng die rasche Abkühlung dadurch be-
wirken, daß sie den Lichtbogen beweglich machen,
läßt das von Schönherr ausgearbeitete und von
der Badischen Anilin- und Sodafabrik ausgeführte
Verfahren die Luft um einen ruhig brennenden
Lichtbogen stark herumwirbeln. Das Verfahren
ist einfacher und billiger als die vorher genannten.
Schönherr läßt den elektrischen Lichtbogen in
einem engen Rohr brennen, und es gelingt, ihn
dort auf mehrere Meter auseinanderzuziehen. Um
diesen aufrecht stehenden ungeheuren Lichtbogen
wird nun die unten seitlich eintretende Luft herum-
gewirbelt. Bei Berührung mit dem Lichtbogen
bildet sich die dem Gleichgewicht für die hohe
Temperatur entsprechende Stickoxydmenge, die
erhalten bleibt, da die stark wirbelnde Bewegung
immer neue Teile der Luft an den Rand des
Lichtbogens bringt. Auch dieses Verfahren war
wie die andern durch seinen hohen Energieverbrauch
N. F. XVI. Nr. lO
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
'33
darauf angewiesen, Stellen aufzusuchen, wo Energie
billig zur Verfügung steht. Es wurde von der
Badischen Anilin- und Sodafabrik in Rjukan in
Norwegen eingerichtet. Da aber die Wasserlalle
und ihre Energie zwar von der Natur dem Menschen
frei zur Verfügung gestellt aber doch im Besitz
von Menschen sind, die sich des Wertes ihres
Besitztums und seiner steigenden Inanspruchnahme
immer mehr bewußt geworden sind, so konnten
Verfahren, welche schon theoretisch großen Energie-
aufwand erforderten, auch wenn die zu verarbeiten-
den Rohstofte in der Luft kostenlos zur Verfügung
stehen, niemals sehr billig werden. Einen so großen
Erfolg der Wissenschaft und der Technik die ge-
schilderten Verfahren darzustellen so war es doch
sehr fraglich, ob es auf diesem Wege gelingen
würde, die Stickstoff-Sauerstoffverbindungen billiger
zu erhalten, als sie der Welt von Chili in dem
natürlichen Salpeter geboten wurden. Im Notfall
freilich, wenn die Kosten nicht in Betracht kommen,
z. B. wenn in einem Kriege die Zufuhr von Chili-
salpeter abgeschnitten wird, hatte man jetzt die
Möglichkeit sich zu helfen , besonders in einem
Lande, das reich an Kohle ist und diese als
Energiequelle benutzen kann. Aber eben nur in
solchem Notfall' — im Frieden wäre man gern
wieder zum Chilisalpeter zurückgekehrt.
Der Kalkstickstoff.
Nach dem in der Einleitung Gesagten konnte
vom Standpunkte der Theorie ein weit günstigeres
Ergebnis erwartet werden, wenn man Erfolge er-
ringen würde mit dem gar keine Energie erfor-
dernden , von selbst verlaufenden Vorgange der
Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff zu
Ammoniak.
Bevor man aber damit noch einen praktischen
Erfolg erreichte, wurde ein Verfahren der Stickstoff-
bindung entdeckt, dem man" unter dem in unserer
Betrachtung hervorgehobenen Standpunkte des
Energieverbrauchs eine Art Zwischenstellung ein-
räumen kann insofern als dabei die eigentliche
Bindung des Stickstoffs in einem keine Energie
erfordernden „von selbst verlaufenden" Prozesse
erfolgt; die Substanz aber, an die dabei der Stick-
stoff gebunden wird, existiert nicht frei in der
Natur, bildet sich auch nicht von selbst, sondern
muß von uns mit Aufwand 'von Energie erst her-
gestellt werden. Dieser Stoff ist das Kalziumkarbid,
eine Verbindung aus Kalzium'und Kohlenstoff, die
man dadurch erhält, daß man ein Gemisch von
Kalk und Kohle im elektrischen Ofen auf hohe
Temperatur bringt. Es wird dazu eine gewisse
Menge elektrischer Energie erfordert. Leitet man
nun über pulverisiertes Kalziumkarbid reinen Stick-
stoff, so wird dieser gebunden. Der von selbst
verlaufende Vorgang erfolgt unter] Wärmeentwick-
lung ganz wie eine Verbrennung. Gerade so, wie
man die auch Wärme entwickelnde Verbrennung
z. B. von Holz oder Kohle in Sauerstoff, damit
sie mit merklicher Geschwindigkeit verläuft, durch
vorheriges kurzes Anwärmen, das Anzünden, erst
anregen muß, so muß man auch hier das Kalzium-
karbid erst einmal kurz auf etwa looo'' erwärmen,
damit es den Stickstoff rasch aufnimmt. Weitere
Wärmezufuhr ist dann nicht erforderlich: die
Reaktion geht von selbst unter Wärmeentwicklung
weiter und hält das Ganze bei so hoher Tempe-
ratur, daß sie genügend rasch verläuft.
Wie aber alle von selbst verlaufenden chemi-
schen Vorgänge, so kann man auch diesen durch
Hinzubringen eines geeigneten Katalysaters be-
schleunigen. Ein solcher wurde von Polzenius im
Chlorkalzium gefunden. Bei Hinzufügen von Chlor-
kalzium geht eine lebhafte Stickstoffbindung des
Kalziumkarbids schon bei 700" vor sich. Die ent-
stehende Verbindung besteht aus Kalzium-Kohlen-
stoffstickstoff und wird Kalziumcyanamid oder
Kalkstickstoff genannt.
Freilich ist zum Überleiten über das Kalzium-
karbid der Stickstoff nicht einfach so verwendbar,
wie die Natur ihn uns in der Luft im Gemisch
mit Sauerstoff bietet. Der Sauerstoff würde auf
das Kalziumkarbid noch viel energischer wirken
als der Stickstoff. Er muß also aus der Luft zu-
erst entfernt werden. Das kann durch jeden
gewöhnlichen Verbrennungsprozeß, z. B. von Kohle,
geschehen. Dadurch aber würde Kohlensäure ent-
stehen, und auch diese würde sich bei dem von
uns schließlich beabsichtigten Prozeß als schädlich
erweisen. Man bindet daher den Sauerstoff der
Luft durch einen Oxydationsvorgang, bei dem
keine Kohlensäure entsteht, sondern bei dem ein
festes Oxyd sich bildet. Dies geschieht, wenn
man die Luft über glühendes Kupfer leitet. Dabei
bildet sich Kupferoxyd, und der gleichzeitig vor-
gewärmte Stickstoff wird dann auf das Kalziuni-
karbid geleitet. Um das Kupferoxyd wieder für
neue Sauerstoffbindung brauchbar zu machen,
leitet man sog. Wassergas darüber, ein Gas, wel-
ches entsteht, wenn man Kohle mit Wasserdampf
behandelt, und welches die Eigenschaft hat, das
Kupferoxyd wieder zu metallischem Kupfer zu
reduzieren.
Noch auf einem anderen sehr interessanten
Wege hat man es möglich gemacht, den Sauer-
stoff und den Stickstoff der Luft zu trennen. Es
ist bekannt, daß man die Luft durch sehr starke
Abkühlung verflüssigen kann. Die ersten technisch
brauchbaren Maschinen dazu hat Prof. Linde in
München gebaut. Läßt man die flüssige Luft
langsam wieder verdampfen, so trennen sich ihre
Bestandteile infolge ihrer verschiedenen Flüchtig-
keit, und man kann es so einrichten, daß der
Stickstoff verdampft, während der Sauerstoff als
Flüssigkeit zurückbleibt.
Den so auf die eine oder die andere Weise er-
haltenen reinen Stickstoff leitet man also über
Kalziumkarbid. Da aber dessen Herstellung, wie
wir gesehen haben, Energiezufuhr erfordert, so
wird die Erzeugung des Kalziumkarbids — gerade
wie die direkte Salpetcrgewinnung aus der Luft —
sich mit Vorliebe an Orte ziehen, wo Energie in
134
Naturwissenschaftliche Wochenschriit.
N. F. XVI. Nr. 10
Form von Wasserfällen billig zur Verfügung steht.
Man richtet deshalb auch die Weiterverarbeitung
des Karbids zu Kalkstickstoff gleich an solchen
Stellen ein. Ja, man kann die besondere Her-
stellung von Kalziumkarbid umgehen und kann
nach einem Verfahren von Siemens & Halske
das Zusammenschmelzen von Kalk und Kohle
gleich mit der Stickstoffabsorption verbinden.
Natürlich auch wieder an Orten mit billiger Energie.
Eine solche Fabrik wurde von Siemens & Halske
in Piano d'Orte bei Pescara in Oberitalien ein-
gerichtet, eine andere befindet sich in Odda in
Norwegen.
Der so erhaltene Kalkstickstoff kann nun ohne
weiteres als Düngemittel verwendet werden. Aber
man kann ihn auch leicht zu anderen wertvollen
Stickstoffverbindungen verarbeiten, zu Cyaniden,
vor allem auch zu Ammoniak. Und dieses letztere
ist besonders deshalb wichtig, weil der Kalkstick-
stoff kein langes Lagern an der Luft verträgt und
bald zur Düngung benutzt werden muß. Erhitzt
man ihn aber mit gespanntem Wasserdampf, so
entwickelt sich Ammoniak daraus. Bindet man
dieses Ammoniak an eine Säure, z. B. Schwefel-
säure, so erhält man in dem Ammoniaksulfat ein
unbegrenzt lange aufbewahrbares Düngemittel. Ein
noch viel wertvolleres, weil noch mehr Stickstoff
enthaltendes Erzeugnis aber entsteht, wenn man
als Bindemittel für das Ammoniak an Stelle der
Schwefelsäure Salpetersäure verwendet. Und so
ergibt sich ganz von selbst ein Zusammenwirken
der beiden bisher besprochenen an Orte mit natür-
lichen Energiequellen gebundenen Verfahren, der
Salpetersäureherstellung aus der Luft und der
Ammoniakdarstellung durch vorhergehende Er-
zeugung von Kalkstickstoff. Man bringt also die
Endprodukte der beiden Fabrikationsweisen mit-
einander chemisch verbunden als Ammoniumnitrat
oder Ammonsalpeter zur Verwendung. Wie reich
an Stickstoff dieses Produkt ist, mag aus dem Ver-
gleich mit Kalksalpeter ersehen werden; während
dieser nur 13 "/„ Stickstoff enthält, sind im Ammon-
salpeter 35 "/o enthalten.
Beiläufig sei noch bemerkt, daß man als Aus-
gangsstoff für die Ammoniakdarstellung auf dem
Wege über Karbide auch andere als Kalziumkarbid
verwenden kann. So hat der (Österreicher .S e r p e k
ein Verfahren ausgearbeitet, welches sich des
Aluminiumkarbids bedient.
Die direkte A;mmoniaksy nthese.
Über das Erreichte hinaus aber suchte man
nach vollständiger Befreiung von der Notwendig-
keit, für die Stickstoffbindung selbst oder für die
Herstellung des Bindungsmittels abgelegene Stellen
der Erde mit den natürlichen Energiequellen
großer Wasserfälle aufzufinden. Das Ziel wäre
erreicht, sobald es gelänge, für den ohne Energie-
zufuhr „von selbst", aber unter gewöhnlichen
Umständen mit unmeßbar kleiner Geschwindigkeit
verlaufenden Prozeß der direkten Vereinigung von
Stickstoff und Wasserstoff den geeigneten die
Reaktionsgeschwindigkeit genügend steigernden
Katalysator zu finden.
Einen gewissen, aber gegenüber seinen Vor-
teilen zurücktretenden Nachteil gegen die Salpeter-
säuregewinnung aus der Luft würde das Verfahren
der direkten Ammoniakgewinnung allerdings
immer darin haben, daß der Stickstoff erst von
Sauerstoff befreit und der Wasserstoff" auf irgend-
eine Weise aus seiner einfachsten Verbindung,
dem Wasser, dargestellt werden muß. Wir haben
aber bereits gesehen, daß wir reinen Stickstoff
aus der Luft auf zwei verhältnismäßig leicht zu-
gänglichen Wegen erhalten können. Für die
Wasserstoffgewinnung aus dem Wasser hat man
eine ganze Reihe brauchbarer Verfahren aus-
gearbeitet. Ein Bedürfnis darnach lag ja bereits
seit einiger Zeit vor, seit man sich dieses Gases
zur P'üllung der Luftschiffe in immer steigendem
Maße bedient. Im Prinzip gleichen die Verfahren
denen zur Stickstoffgewinnung. Es kommt in beiden
Phallen darauf an, den neben dem gewünschten
Gase, Wasserstoff' oder Stickstoff, noch vorhandenen
Sauerstoff zu binden. Man kann dazu z. B. Kohle
verwenden. Leitet man Wasserdampf über
glühende Kohle, so wird der Sauerstoff in die
beiden Verbindungen Kohlenoxyd und Kohlen-
säure übergeführt. Das Gasgemisch, das danach
Wasserstoff, Kohlenoxyd und Kohlensäure enthält,
nennt man Wassergas. Man kann, um daraus den
Wasserstoff allein zu gewinnen, ähnlich verfahren,
wie bei der Trennung der Bestandteile der Luft
nach dem Linde' sehen Verfahren : Man kühlt
stark ab. Dabei kondensieren sich zunächst der
Wasserdampf, dann Kohlensäure und Kohlenoxyd.
Der Wasserstoff ist so schwer zu verflüssigen, daß
er hier allein als Gas übrig bleibt.
• Oder aber man bringt zu dem Wassergas erst
noch Luft und kann dann durch einfache Prozesse
und durch schließliches Abkühlen bewirken, daß
ein Gemisch von Wasserstoff und Stickstoff übrig
bleibt. Das Verfahren läßt sich so leiten, daß
dieses Gemisch gerade die zur Ammoniakbildung
erforderliche Zusammensetzung hat.
Dieses Gemisch aus Wasserstoff und Stickstoff
gilt es also zu Ammoniak zu vereinigen. Deutsch-
land ist das Land der Theorie, und so hatte man
hier lange, bevor irgendein praktisch brauchbarer
Erfolg in Aussicht stand, in Laboratorien für
physikalische Chemie, insbesondere in den Labora-
torien von Nernst und von Haber, den Vor-
gang der Ammoniakbildung genau studiert. Man
hatte dabei erkannt, daß zwar, wie alle chemischen
Reaktionen, so auch die Vereinigung von Stick-
stoff und Wasserstoff durch Temperaturerhöhung
beschleunigt wird, daß aber die Vereinigung
selbst bei um so geringerem Ammoniakgehalt
des Gasgemisches Halt macht, je höher die
Temperatur ist. Es ist also gerade umgekehrt,
wie bei der Stickoxydbildung. Je höher wir
Stickstoff' und Sauerstoff' erhitzen, desto größer
war im endlich erreichten Gleichgewichtszustände
N. F. XVI. Nr. 10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
135
die Konzentration der entstehenden Verbindung,
des Stickoxyds. Je höher wir aber hier, bei
Stickstoff und Wasserstoff die Temperatur steigern,
desto kleiner ist im Gleichgewichtszustande der
Gase der Gehalt an Ammoniak.
Man ist also in einem Dilemma. Beschleunigt
man die Reaktion durch Temperaturerhöhung, so
tritt sie zwar schneller ein, sie macht aber, je
mehr wir sie auf solche Weise beschleunigen, bei
um so kleinerer Ammoniakkonzeiitration halt.
Die minimale Spur, die bei mehreren tausend Grad
vorhanden sein kann, stellt sich sofort ein, die
große Menge aber, die bei gewöhnlicher Tempe-
ratur vorhanden sein kann, würde eine sehr große
Anzahl von Jahren erfordern. Und darin eben
besteht die Aufgabe ; die Langsamkeit der
Reaktion bei niederer Temperatur durch
Zufügen eines die Reaktionswiderstände über-
windenden „Schmieröls", eines Katalysators zu
überwinden.
Nach langem Suchen hat Haber einen solchen
im Osmium, später im Uran gefunden. Im An-
schluß an seine Arbeiten ist noch eine Unzahl
von Substanzen' auf ihre Brauchbarkeit als Kata-
lysatoren für die Stickstoff- und Wasserstoffver-
einigung durchprobiert worden. Man ist dabei
zu sehr wirksamen Resultaten gelangt. Es ist
verständlich, daß diejenigen, die sie gefunden
haben, kein Interesse daran haben, sie öffentlich
bekanntzugeben.
Weiter aber hatte die rein theoretischeForschung
auch den Einfluß des Druckes auf die Reaktion
untersucht. Indem Stickstoff und Wasserstoff
sich zu Ammoniakgas vereinigen, tritt eine Kon-
traktion, eine Verringerung des Gasvolumens ein;
aus drei Volumina Wasserstoff und einem Volumen
Stickstoff werden nicht vier Volumina Ammoniak,
sondern nur zwei. Diesen Vorgang der Volumen-
verkleinerung kann man nur dadurch unterstützen,
daß man von außen einen starken Druck auf das
Gasgemisch wirken läßt. In der Tat läßt sich
theoretisch berechnen und hat sich experimentell
gezeigt, daß z. B. für die Temperatur von 500 "
das Gleichgewicht, also der dabei überhaupt mög-
liche Gehalt an Ammoniak, bei gewöhnlichem
Druck noch nicht 1 "/^ beträgt, bei einem Druck
von 100 Atmosphären etwa 1 1 "/„, und bei 200
Atmosphären schon über iS^'/o-
Die Prinzipien für die direkte Ammoniakge-
winnung aus Wasserstoff und Stickstoff sind damit
also gegeben : Man hat bei möglichst tiefer Tem-
peratur und bei möglichst hohem Druck zu arbeiten.
Wie tief man mit der Temperatur heruntergehen
kann, das hängt ab von der Wirksamkeit des an-
gewandten Katalysators. Selbst die wirksamsten
machen immer noch eine Temperatur von einigen
hundert Grad erforderlich. In dieser Hinsicht liegt
also die Möglichkeit für weitere Vervollkommnung
des Verfahrens vor. Wie hoch man mit dem
Druck gehen kann, das hängt von der Haltbarkeit
des Materials für die Gefäße und von der Möglich-
keit, die Verschlüsse dicht zu halten, ab. Es ist
ein großer Erfolg der Technik, daß sie Apparaturen
schaffen konnte, welche ein sicheres Arbeiten bei
200 Atmosphären ermöglichen.
Die Ausführung des Verfahrens geschieht im
I^rinzip so, daß man Wasserstoff und Stickstoff in
einer vollständig geschlossenen Apparatur, in der
ein Druck von 200 Atmosphären herrscht, einen
Kreislauf ausführen läßt. An einer Stelle des
Kreises streichen die Gase über den auf mehrere
hundert Grad erwärmten Katalysator und werden
dabei zu etlichen Proz. Ammoniak vereinigt. Das
weitergehende Gasgemisch gelangt in einen anderen
Teil des Apparates, der so tief abgekühlt ist, daß
das im Vergleich zu Wasserstoff und Stickstoff
leicht kondensierbare Ammoniak sich verflüssigt.
Dieses kann dort von Zeit zu Zeit abgezapft werden,
die unverbunden gebliebenen Gase gelangen im
Kreislauf wieder über den Katalysator.
Mit diesem Verfahren wurde man zum ersten
Male unabhängig von den Stätten, an denen natür-
liche Energiequellen zur Verfügung stehen. Die
Sprengstofftechnik bedarf freilich des Stickstoffs
nicht in der Form von Ammoniak, sondern in der
der Salpetersäure. Es bietet aber, wenn der träge
Stickstoff überhaupt erst einmal in eine chemische
Verbindung eingefangen ist, keine Schwierigkeit,
ihn in andere überzuführen. Die Oxydation des
Ammoniaks zu Salpetersäure geht wieder in einem
„von selbst" verlaufenden Prozesse vor sich. Und
man kennt Katalysatoren, welche diesen Prozeß mit
ausreichender Geschwindigkeit verlaufen lassen.
So sehen wir, wie es dem Menschengeist ge-
lungen ist, das große, für die Ernährung und die
Technik bedeutungsvolle Problem der Stickstoff-
gewinnung in erstaunlich einfacher Weise zu lösen.
Als Ausgangsstoffe brauchen wir für die Salpeter-
säuregewinnung nichts als die Luft und für die
Ammoniakgewinnung Luft und Wasser.
F'ür die europäischen Länder ohne eigne große
Energiequellen, ist das neue Verfahren der Am-
moniakgewinnung noch von besonderer Bedeutung.
Sie sind damit nicht nur unabhängig gemacht von
der Zufuhr desChilisalpeters von jenseits des Meeres,
sondern auch unabhängig von der Notwendigkeit,
in Europa Länder mit großen Wasserfällen aus
diesem Grunde sich geneigt halten zu müssen.
Für Deutschland ist noch weiter darüber hinaus
die Aussicht wertvoll, daß es nach Wiederkehr
friedlicher Zeiten an den Erzeugnissen der gewal-
tigen Einrichtungen, die es jetzt zur Stickstoff-
gewinnung getroffen hat, auch andere Länder teil-
nehmen lassen kann. Daß heißt, daß es Stick-
stoffverbindungen, die es bisher einführen mußte,
dann exportieren kann. Hoffen wir, für lange Jahre
nur zu friedlichen Zwecken. (G.G.)
Natiirwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 10
Anregungen und Antworten.
„Bremen". Sie fragen ; Sind Untersuchungen darüber
angestellt (quantitative und qualitative) , ob in der Luft eine
besondere Verteilung (Schichtung) von dort vorwiegend (zeit-
weise) lebenden Organismen statthat in der Weise, daß ge-
wisse Tiere nur oder vorwiegend in gewissen Höhen oder
über gewissen besonderen Bodenformationen (Wald, Wasser,
Wiese usw.) angetroffen werden r Gibt es eine Schwebefauna
der Luft entsprechend etwa dem Plankton des Wassers?
Sind z. B. Fänge vom Ballon aus gemacht worden?
Die Organismen, die in der Luft gefunden werden, sind in
ihrer Gesamtheit mit dem Plankton desWassers nicht ohne weiteres
zu vergleichen , da das Luftmeer nicht dasselbe geschlossene
Produkiionsgebiet sein kann, wie das Wasser. Hier sind die
Ernährungsbedingungen für Pflanzen gegeben, so daß sich von
hier aus ein vollständiger Kreislauf der Stoffe herstellen kann.
In der Luft dagegen können Pflanzen nicht leben. Als
Produzent organischer Stoffe würde also nur die Pflanzendecke
des Bodens anzusehen sein. Das würde aber nicht ausschließen,
daß gewisse Tiere theoretisch dauernd in der Luft leben und
sich vermehren könnten, indem sie sich von anderen zeitweilig
emporsteigenden und schwebenden Tieren ernähren. In
Wahrheit wird es aber solche Tiere nicht geben. Mindestens
zur Ablage der Brut oder der Eier werden sie auf das große
Produktionsgebiet des Bodens zurückkehren müssen und die
Jungen werden hier ausnahmslos ihre ersten Entwicklungs-
stadien durchlaufen. Zudem würde in der gemäßigten und
der kalten Zone die allgemeine -Abnahme der Schwebefauna
auch die etwa dauernden Luftorganismen auf den Boden oder
nach anderen Breiten hin zwingen.
Es bliebe nur noch die Frage zu erörtern , ob vielleicht
ganz einfach sich ernährende Mikroorganismen, etwa Bakterien,
dauernd in der Luft gedeihen könnten. Daß sie in Sporen form
ebenso wie andere die Austrocknung überstehende Ver-
mehrungsorgane von Pflanzen (Moosen, Farnen usw.) lange
schweben und horizontal und vertikal weit verbreitet werden
können, ist bekannt genug. Die Lehrbücher der Bakteriologie
und Hygiene bieten auch genug Zahlenangaben, die teils auf
hohen Gebäuden, teils auf Bergen, teils im Ballon gewonnen
wurden. Aus ihnen geht hervor, daß die Zahl von Bakterien-
keimen nach der Höhe parallel mit derjenigen der schwebe-
fähigen toten Teilchen überhaupt rasch abnimmt. Auch ein
Zusammenhang mit der Beschaffenheit der Erdoberfläche
unterhalb der untersuchten Luftschichteil ergibt sich insofern,
als um so mehr Keime in der Luft gefunden werden, je besser
die Wachstumsbedingungen und die Versläubbarkeit auf dem
Boden sind. So ist (starke Horizontalströmungen natürlich
ausgeschlossen) der Keimgehalt über dem Meere oder großen
Binnengewässern oder über großen Schneefeldern sehr gering ;
im hohen Norden hat man in Tausenden von Litern keine
Keime gefunden. Wie sich die Luft über großen Wüsten-
flächen verhält, ist nicht untersucht worden. Ob nun eine
spezifische Mikroorganismenflora in der Luft in dauernder
Lebenstätigkeit sich erhalten kann, ist nicht speziell fest-
gestellt; es würde die Entscheidung darüber, was Spore oder
wachsender Keim ist, auch sehr schwer zu fällen sein. Man
kann es aber wohl als sehr unwahrscheinlich bezeichnen, daß
je ein solches „Luftplankton" im strengsten Sinne existiert.
Denn wenn vielleicht auch unter besonders günstigen Be-
dingungen dauernd Feuchtigkeit zur Verfügung stünde, so
fehlten doch die Nährstoffe. Aus Wasserstoff, Stickstofi',
Sauerstoff und Kohlensäure vermag sich , soweit wir bis jetzt
' wissen, kein Lebewesen aufzubauen.
Ihre Frage läßt sich also ganz allgemein dahin beant-
worten, daß es eine eingeborene Lebewelt in der Luft nicht
gibt, daß vielmehr nur passiv beförderte Keime oder zeitweilig
ins Luftmeer vordringende Organismen in Betracht kommen.
Daß bei den letzteren wieder alle möglichen Abstufungen der
Aufenthaltsdauer, der vertikalen und horizontalen Verbreitung
e.sislieren, ist selbstverständlich. Systematische Untersuchungen
darüber sind mir nicht bekannt, dagegen wird es eine große
Menge Einzelangaben über das Antreffen von Vögeln, In-
sekten usw. in verschiedenen Höhen, resp. ihre Wander-
fähigkeit geben. Die Angaben sind wohl für die betreffende
Tierart interessant, haben auch oft Kuriositätswert oder
können für besondere physiologische Probleme wichtig sein,
ihre Bedeutung für große allgemein - naturwissenschaftliche
Fragen aber, vergleichbar denen, wie sie uns das Leben im
Wasser stellt, dürfte aus den eingangs gegebenen Erwägungen
heraus nur recht gering sein. Vielleicht kann einer der Leser
besondere Angaben darüber machen, in welchen Höhen be-
stimmte Tiere bei gewissen Gelegenheiten angetroffen wurden.
M.
Zunahme der Elster in Deutschland. Wie bei Frankfurt a. M.
seit Herbst 1914, so hat auch bei Lüneburg wenigstens seit
Sommer 1916, wie mir von dorther mitgeteilt wird, die Elster
merklich zugenommen. Fr. Keyl wird gewiß nicht fehl-
gehen, wenn er den von ihm beobachteten Fall auf verminderten
Abschuß des Vogels infolge der Kriegsverhältnisse zurück-
führt und anderwärts ähnliches vermutet. Unterscheidet sich
doch die deutsche Ornis von derjenigen der beiden in Jagd-
und Forstpflege hinter ihm zurückstehenden östlichen und
westlichen Nachbarländer in kaum etwas anderem so augen-
fällig wie in der viel geringeren Häufigkeit der Elster, wie
zahlreiche Beobachtungen von Kriegsteilnehmern lehren.
V. Franz.
Herrn L. R. — Ein kleineres Bestimmungsbuch für die
bei uns kultivierten nicht einheimischen Slräucher und Bäume
(einschließl. Nadelhölzer) ist mir nicht bekannt. Gute Dienste
leistet jedenfalls das gründliche Werk von E. Koehne,
Deutsche Dendrologie (Stuttgart 1893, F. Enke; antiq. 9 Mk.),
das Nadel- und Laubgehölze umfaßt. Ein empfehlenswerter
Auszug daraus, der aber nur die Laubhölzer berücksichtigt,
ist O. E. Kunze, Kleine Laubholzkunde (Stuttgart 1899,
antiq. 2 Mk.). Für Nadelhölzer benutzt man sehr viel das
Werk von C. von Tubeuf, Die Nadelhölzer mit besonderer
Berücksichtigung der in Mitteleuropa winterharten Arten
(Stuttgart 1897; 4 Mk.). — Viele verbreitete Arten sind auch
in den gangbaren Bestimmungsbüchern von A. Garcke
(Fl. von Deutschland) und O.Wünsche (Die höheren Pflanzen)
enthalten. H. Harms.
Literatur.
Kunkel, K., Zur Biologie der Lungenschnecken. Er-
gebnisse vieljähriger Züchtungen und Experimente. Mit 48
Textabbildungen und einer farbigen Tafel. Heidelberg '16,
C. Winter. — 16 M.
Löhner, L., Die Exkretionsvorgänge im Lichte ver-
gleichend-physiologischer Forschung. Tena'16, G. Fischer. —
0,80 M.
Haberlandt, Dr. L., Über Stoffwechsel und Ermüd-
barkeit der peripheren Nerven. Jena '16, G. Fischer. —
0,80 M.
Eversheim, Prof. Dr. P., Angewandte Elektrizitätslehre.
Ein Leitfaden für das elektrische und elektrotechnische
Praktikum. Mit 215 Textfiguren. Berlin '16, J. Springer. — SM.
Inhalt: Alfred Cochn, Das Stickstotfproblem und seine Lösungen. S. 129. — Anregungen und Antworten: Schwebe-
fauna der Luft. S. 13b. Zunahme der Elster in Deutschland. S. 136. Bestimmungsbuch für Sträucher und Bäume.
S. 136. — Literatur: Liste S. 136.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den i8. März 1917.
Nummer 11.
Der Alraun (Mandragora).
Eine natur- und kulturhistorische Studie vo
[Nachdruck verboten.] Mit 4 Abb
Es war in dieser Zeitschrift schon einmal im
Rahmen eines größeren Aufsatzes ') die Rede von
der berühmten Zauberpflanze des Akertums und
iVIittelahers, der Alraunwurzel (Mandragora
officinarum L.). Ich möchte hier neue Lesefrüchte
vorlegen und namentlich an der Hand der Quellen
selbst den Fortschritt der Wahrheit und des Irr-
tums, der sich an diese Pflanze bindet, schildern.
Der Name mandragora, bei Dioskorides mandra-
goras (männlich), wird hergeleitet -j von mandra
(griech.) Stall und ageiro (griech.j sammeln, weil
die Pflanze außer anderen Wunderkräften auch die
Viehherden zusaÄimenhalten sollte, oder weil sie
vielfach in der Nähe von Viehställen auf gedüngtem
Boden gefunden wurde. Der deutsche Name Al-
raun hängt mit alrüna ■•) — die allwissende —
zusammen.
Die Mandragora ist kein einheimisches Gewächs,
sondern im Mittelmeergebiet zuhause. Sie gehört
zu den Solanaceen, ist im allgemeinen betrachtet
ein stengelloses, rübenförmiges Kraut mit dicker,
oft zweiteiliger Wurzel, großen, fast ganzrandigen
Blättern und Beerenfrüchten gleich der Tollkirsche.
Es ist eine kleine Gattung mit höchstens 4 Arten,
von denen eine auch im Himalayagebiete vor-
kommt. Abbildungen finden sich bei Engler-
Prantl, Natürliche Pflanzenfamilien IV. Teil,
3. Abt. b, Fig. 12 M, bei Reichenbach, Icones
Bd. XX (1862) Taf. 6 u. 7.; eine ältere, m. E. sehr
gute Darstellung im Herbarium Blackwellianum *),
Centuria IV, Tab. 364.
Nach E. de Haläcsy*) sind die mediterranen
Mandragora-Arten in zwei Gruppen zu bringen:
Die eine mit grünlichgelber Korolle, kugeliger
Beere, weißer Wurzel und stinkenden Blättern
M. officinarum L. — die andere mit violetter Ko-
rolle, länglicher Beere und schwarzer Wurzel
M. autumnalis Sprengel. Dazu gehört noch die
von Heldreich*) aufgestellte ebenfalls blau-
blühende M. Haußknechtii Heldr. Außerdem wird ein
Bastard officinarum ~ ■;^ Haußknechtii unterschieden.
') H. Marzell, Über Zauberpflanzen in alter und neuer
Zeit. Naturw. Wochenschr., N. F. VIII (1909), S. 160—169.
^) Leunis, Synopsis der Pflanzenkunde. 2. Bd., S. 586,
Anm. 9. So übrigens schon von M. de Lobelius, Nova
Slirpium adversaria (Antverpiae I=;76), p. 106.
3) J. A. Seh melier, Bayerisches Wörterbuch, I. Bd.
(München 1872), Spalte 56. Grimm, Wörterbuch, I. Bd., 246.
^) Vermehrtes und verbessertes Blackwellisches Kräuter-
buch usvi-. verlegt, gcmahlet und in Kupfer gestochen von
N. Fr. Eisenberger, Nürnberg 1760.
") Conspectus Florae graecae Volumen II, Lipsiae 1902,
S. 366—368.
"j Mitteil, der geogr. Gesellsch. Thüringen, V, S. 77.
a. Prof. Dr. S. Killermann, Regensburg.
M. officinarum findet sich in Griechenland auf
sonnigen unkultivierten Stellen der niederen Region,
in Thessalien, um Korinih, auf Kreta, den Kykladen
usw. und blüht im Winter, Dezember bis März.
M. autumnalis wächst an ähnlichen Orten, in Attika,
Eleusis usw.; sie scheint nicht so verbreitet zu sein
und blüht im Herbst von September bis November.
M. Haußknechtii hat ihren Standort im Küsten-
sand und ihre Blütezeit im März und April.
A. Bertoloni\), der diese Pflanzengruppe in
einer Monographie behandelte, stellt 3 Arten auf:
M. vernalis, officinarum L. und microcarpa. Die
erste davon, welche nach Bertoloni große
stinkende Blätter, grünlich- weiße Blüten und gelbe
Beeren größer als der Kelch hervorbringt, ist
unsere officinarum L. Die anderen zwei Berto-
loni'schen Arten, seine officinarum L. und die
microcarpa (s. Abb. i) werden wegen ihrer vio-
letten Blüten, kleinen Beeren und schmäleren
Blättern von Haläcsy wohl mit Recht zu autum-
nalis Sprengel gerechnet. Nach Bert o loni wird
die erste Art allgemein in den Gärten Italiens seit
ältester Zeit kultiviert; sie dürfte demnach schon
die wahre M. officinarum Linne's (Spec. 181) sein.
Die zweite .Art bekam Bertoloni aus Sizilien
und die dritte aus Sardinien von Professor Morisio.
Auch in Italien ist die Verbreitung der autumnalis
viel beschränkter als die der officinarum. Diese
letztere wird ferner angegeben v. Tenore-) für
Kampanien (Mte Kassino), von Reichenbach-')
für Ragusa. Die Funde bei Salzburg (vgl. Hoppe,
Taschenbuch 1799 p. 121) und Tirol sind irrtümlich.
Die Alraunpflanze ist wie viele Solaneen giftig.
Über das in ihr wirksame Alkaloid verlautet in
der Literatur nicht viel. H. Karsten*) gibt nach
Ahres an, daß es dem Hyoscyamin isomer er-
scheine, ein sprödes bei 77 — 79" schmelzendes
Harz sei, dessen Sulfat in glänzenden Blättchen
kristallisiere und gleich dem Atropin pupillen-
erweiternd wirke. Ich finde an meiner in meinem
Besitze befindlichen alten Wurzel das Zellgewebe
von dem anderer Pflanzen wenig verschieden;
es ist ziemlich hart, fast etwas holzig") oder
') Commentarius de Mandragoris. Bononiae 1835 mit
3 Tafeln.
2) Sylloge plantarum vascularium Florae neapolitanae etc.
(Neapoli 1831), S. 114.
- ■■') a. a. O. Bd. XX, S. 4-
*) H. Karsten, Flora von Deutschland, 2. Aufl., II. Bd.
(1895), S. 544. S. auch H. Molisch, Mikrochemie der
Pflanze (Jena 1913), S. 258.
'■'^ So schildert sie schon Albertus s. u. Auch die
Abbildung bei Post (Flora of Pal.iestina) gibt eine fast
holzige Wurzel.
138
Naturwissenschaftliche VVoclienschrift.
N. V. XVI. Ni
korkig. Mit Kalilauge aufgeweiciit riecht die
Wurzel ähnlich wie eine rohe Kartoffel. Einige
Zellen von etwas kubischer Form (6o /( groß)
enthalten eine gelbliche Substanz, wohl jenes
Harz. Mit Jodkali tritt keine Reaktion auf et-
waigen Stärkegehalt ein.
Die Beeren sind bei beiden Arten in reifem
Zustand durch scharfen Geruch ausgezeichnet.
Bertoloni sagt von der Art officinarum L. : cum
jucunditate quadam graveolens, odore caput ten-
tante, also etwas angenehm, aber betäubend
riechend; von der Art autumnalis Spr. : odore gravi,
tarnen non ingrato, praedita. Der Duft der Blüten
ist bei der ersteren leicht unangenehm (ingratus.
auf Brachfeldern vor und zwar nur die Art M.
officinarum L. 'J
Bertoloni'-) ist dagegen der Ansicht, daß
es sich in jenen Stellen nicht um eine der Man-
dragoraarten handelt ; denn sie blühen spät und tragen
im Frühjahr Beeren, nicht „zur Zeit der Weizen-
ernte"; ihr Duft sei auch nicht besonders ange-
nehm. F!r möchte die Dudaim für süßschmeckende
und aromatisch duftende Melonen anspreclien, viel-
leicht für die von Finne oben darnach genannte
Cucumis Melo var. Dudaim. Aber die Melonen
scheinen dem grauen Altertum nicht bekannt ge-
wesen zu sein. Weder wird diese Frucht in der
altägyptischen Flora ■') aufgeführt, noch für den
:%:Mä
.^^^
m
Kelch und Frucht (Mandragora autumnalis Sprengel),
raf. -'
sed levis), bei der zweiten etwas narkotisch (sub-
narcoticus).
Eingehend auf die Geschichte unserer Pflanze,
finden wir sie zum erstenmal erwähnt in der Bibel.
Die „Dudaim", welche Kuben zur Zeit der Weizen-
ernte auf den Feldern fand und seiner Mutter Lia
verehrte und die dann bei der Zeugung indirekt
eine Rolle spielten (s. Moses Kap. 30, 14 — 16),
werden als Alraunfrüchte erklärt; desgleichen die
„Liebesäpfel", welche auf dem Türgesimse nach
dem Hohenliede (Kap. 7, 14) duften. Das Wort
Dudaim wurde zuerst von den 70 Übersetzern der
hebräischen Bibel mit Mandragora wiedergegeben.
Die Pflanze kommt auch tatsächlich im hl. Lande
jetzigen Orient von Boissier als einheimisch be-
trachtet. Er wie auch Dinsmore^) sprechen sie
für Palästina nur als Kulturpflanze an, die sich
allerdings auf Schutthaufen und sich selbst über-
lassenen Böden mit Leichtigkeit einbürgere. Nach
De Candolle,'') der sich auf die Ausführungen
') Vgl. S. Killermann, Die Blumen des hl. Landes.
Leipzig 1915, S. 38 u. 132. j. E. Dinsraore, Die Pflanzen
Palästinas. Leipzig 1911, S. 64. Auch Boissier, Pos t u. a. m.
■') a. a. O. S. 3 u. 4-
■') S. Fr. Woenig, Die Pflanzen im alten Ägypten.
2. Aufl., Leipzig 1886.
*] J. E. Dinsmore, a. a. O. S. 40.
■') A. de C and olle, Der Ursprung der Kulturpflanzen,
übersetzt von E. Goeze. Leipzig 1884, S. 322—328.
N.
XVI. Nr. . I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
i.V;
N a u d i n ' s und H o o k e r ' s stützt, sind die Melonen
teils in Britisch-lndien und Beludschistan, teils in
Afrika zuhause und erst mit Anfang der christlichen
Zeitrechnung bei den Griechen und Römern ein-
geführt worden. So müßte man demnach doch
unter den „Dudaim" Alraune verstehen. Die Frage
wird niemals sicher entschieden werden können.
In der profanen Literatur des Altertums er-
scheint unsere Mandragorazuerstals«c,!/^iu7r(J,((o(ir/)ot;
(anthrupumorphos) in einer verloren gegangenen
Schrift des i^seudo - Pythagoras 'j und dann bei
Theophrast (hb. IX, Kap. 8 am Ende u. g).-)
Was sich aber Theophrast unter der Mandragora
vorstellte, ist nach Bertoloni zweifelhaft; nach
der Beschreibung scheint sie einen Siengel und
weintraubenähnhche schwarze Früchte zu besitzen.
Vielleicht hatte Theophrast (das ist mein Gedanke)
eine Bryonia im Auge. Noch seltsamer mutet uns
die Kunde an: „Den Mandragoras soll man drei-
mal mit einem Schwerte umschreiben und aus-
siechen mit nach Westen gerichtetem Antlitz; ein
anderer aber soll im Kreise herumtanzen und so-
viel als möglich von Liebessachen sprechen."
Eine ähnliche Erzählung, aber noch abenteuer-
licher und gruseliger, bringt Fl a vi US Josephus,
wie schon Marzell andeutet, in seiner Geschichte
„Vom Jüdischen Kriege" (7. Buch, 6. Kap.): „Das
Tal, welches die Stadt (Machärusj auf der Noid-
seite einschließt, heißt Baara, und erzeugt eine
wunderbare Wurzel gleichen Namens. Sie ist
flammendrot von I'^arbe. und wirft des Abends
Strahlen aus; sie auszureißen ist sehr schwer,
denn dem Nahenden entzieht sie sich und hält
nur dann Stand, wenn man Urin oder Blutfluß
vom Weibe daraufgießt. Auch dann ist bei jeder
Berührung der Tod gewiß, es trage denn Einer
die ganze Wurzel in der Hand davon. Doch be-
kommt man sie auf andere Weise geiahrlos und
zwar so. Man umgräbt sie rings so, daß nur noch
ein kleiner Rest von der Wurzel unsichtbar ist:
dann bindet man einen Hund daran, und wenn
dieser dem Anbinder schnell folgen will, so reißt
er die Wurzel aus, stirbt aber auf der Stelle als
ein stellvertretendes Opfer dessen, der die Pflanze
nehmen will. Hat man sie einmal, so ist keine
Gefahr mehr. Man gibt sich aber soviel Mühe
um sie, wegen folgender Eigenschalt. Die Dämonen,
d. h. bösen Geister schlechter Menschen, welche
in die Lebenden hineinfahren und sie töten, wenn
nicht schnelle Hilfe geleistet wird, werden von
dieser Pflanze ausgetrieben, sobald man sie den
Kranken auch nur nahe bringt." '')
') Vgl. auch L. Fuchs, New Kreuterbuch. Basell 1^43,
Cap. CCl.
''} Theophiasti Eresii histoiia plantarum ed. Kr.
Wimraer, VraUslaviae 1842, S. 314. Die Stelle lautet;
TTeoiyjjcicfeiv de x«i töi' fiavöoayöijai' eis Tpiä liy''' reiifeir
Oe Tioö^ eoneQni^ ^keTtOfja' töv ö' eieooi' y.vyÄm TteotoQyeTaüai
y.ai /.(yen- (hs Tikelaia rrepe äfpoÖioicot:
") Die Werke des Flavius Josephus, übers, von
Cotta und Gfrörer. Philadelphia 1838, S. 762. Die
Herausgeber bemerken zu dem Berichte: Schade, daß diese
naturhistorischc Merkwürdigkeit nicht mehr vorhanden ist I
Die erste naturwissenschaftliche Beschreibung
unserer Pflanze verdanken wir Dioskorides
(lib. IV cap. 76 und lib. VI cap. 16.)') „Die Man-
dragora, von einigen Gegengift, von anderen
Hexenkraut (Circaea) geheißen, weil die Wurzel
zu Liebeskünsten zu führen scheine, ist zwei-
geschlechtlich: die schwarze, welche für das Weib-
chen gehalten wird, thridacias genannt, hat schmä-
lere und kleinere Blätter als der Lattich; sie sind
gitiig, stinken und bilden eine Rosette auf dem
Boden; Äpfel hat sie, den Vogelkirschen ähnlich,
blaß, wohlriechend und birnartigen Samen; sie
haftet gut mit starken Wurzeln, die zu zwei oder
drei inemander verschlungen, außen schwarz, innen
weiß und mit einer dicken Rinde bekleidet sind;
die Pflanze ist ohne Stengel. Der andere Alraun
ist der weiße, das Mannchen, von einigen Norion
geheißen; seine Blätter sind groß, weit, breit und
glatt wie die der Runkelrüben. Die Äpfel sind
nochmal so groß als bei der vorigen, safranfarben,
angenehm, aber etwas betäubend riechend; von
ihnen werden manchmal die Hirten, wenn sie
davon essen, betäubt. Die Wurzel ist der anderen
gleich, dabei größer und weißlicher, auch sie ohne
Siengel . . . Man sagt, daß noch ein anderer
Alraun namens Morion vorkäme, der an schattigen
Orten neben Höhlen wächst; die Blätter sind ähn-
lich denen der weißen Mandragora, kleiner, weiß
und eine Rosette um die Wurzel bildend; diese
ist zart, weiß, etwas' größer als eine Hand und
etwa daumendick."
Über die Blütenverhältnisse, die P'arbe und
den Geruch derselben, schweigt sich Dioskorides
aus. Wir dürfen mit Bertoloni in den zwei
Geschlechtern, die Dioskorides vor allem unter-
scheidet, die zwei Hauptarien der Mandragora er-
kennen : Das Männchen mit den großen Früchten
und Blättern ist M. olficinarum L., das Weibchen
mit den schmalen Blättern und kleinen Früchten
autumnalis Spreng. (Bei Bertoloni sind die Be-
zeichnungen vertauscht.) Mit der dritten Art des
Dioskorides könnte eine der Nebenformen der
autumnalis (s. o.) gemeint sein.
Des Josephus Erzählung von ihr hat ungefähr gleichen Wert
mit seinen Nachrichten von Salomos Weisheit und Schriften.
'j Mandragoram, aliqui antimalum, alii circaeara vocant,
quoniam videatur radix ad amatoria conducere. Duo eins
gcnera: niger, quae femina cxistimatur, thridacias appellatus,
angusiioribus foliis , ac minoribus quam lactucae, virosis ac
graveolentibus, in terra spaisis ; mala gerit sorbis similia,
pallida, odoraia, in ijuibus Ecmen veluti pirorum : radicibus
inhacret bene raagnis, bims ternisve, inter se convolutis, nigris
foris , intus albis, crasso cortice vestitis; caule viduus est.
Alter candidus, qui mas dicitur, nonnuUis norion vocilatus ;
huius folia magna, alba, lata, laevia ut betae: mala quam
altcrius duplo maiora, colore in crocum inclinanle, iucunde
cum gravidate quadam olentia: quorum pomorum cibo , ali-
quantum opiliones soporamur. radix altenus similis, maior et
candidior, orbaia et haec caule . . . Alium tradunt esse
mandragoram, nomine morion, in opacis juxla specus enatum :
foliis aloi mandragorae, minoribus, albis, dodrantalibus, radicem
ambientibus; quae mollis est et Candida, paulo maior palmo,
pollicemque crassitudine aequat.
Dioscoriaes Lib. IV, Cap. 7b. Pariser Ausgabe 1549,
S. 218—220. In der Wellmann'schen Ausgabe iBerlin 1906}
Cap. 75 (nur griechisch).
140
Naturwissenschaftliche Wochenschrilt.
N. F. XVI. Nr.
Daß unsere Autfassung richtig ist, ergibt sich
auch aus den ältesten Bildern, die von der Man-
dragora erhalten sind und in einer der Wiener
Dioskorides- Handschriften, im sog. Codex Neapo-
litanus ') stecken (s. Abb. 2). Diese Handschrift
M. aulumnalis Spr.
(Co
großen Früchten
Alraunbilder aus Dioscorides
Vindob. Neapol. fol. 90.)
entstand im 7. Jahrh. in Neapel und führt uns wie
der gleichberühmte Codex Constantinopolitanus
über 400 Pflanzen in farbigen Abbildungen vor,
die in ihrer Art einzig dastehen und die
Neapolilanu.s, sacculi terc Vif.
Supplcni. gracc. Nr. 28.
ältesten botanischen Urkunden der Welt dar-
stellen. >j
In dem genannten Codex Neapolitanus er-
scheinen auf fol. 90 zwei Bilder (s. Abb. 2) von
der Mandragora als Weibchen {^r,h:) thelu und
Männchen ctQQiv (arren) bezeichnet; das erstere
mit kleinen Blättern, blauen, über die Blätter hinaus-
ragenden Blüten und roten, zwischen den Kelch-
zipfeln steckenden Früchten; das Männchen mit
großen Blättern und braunen, kugeligen Beeren
(Blüten fehlen). Die Wurzeln sind bei beiden
braungefärbt und sichtlich der Menschengestalt
nachgeformt. Das „Männchen" ist offenbar die
Art M. officinarum L., das „Weibchen" die Art
autumnalis Sprengel I microcarpa Bert.) '')
Der zweite Wiener Dioskorides, der sog. Codex
Constantinopolitanus, ■■) wäre noch älter, wurde
um 512 n. Chr. gemalt; aber es fehlen in ihm
(zwischen fol. 2l6 u. 217) die Mandragorenbilder,
die irgend einmal, wie es scheint, herausgeschnitten
wurden. Dafür aber weist er in dem einleitenden
Teile ein Bild (Nr. 5) auf, das für die nebenher-
laufenden abergläubischeMandragorenkunde charak-
teristisch ist. Es wird uns der Autor Dioskorides
vorgestellt, wie er nach der Mandragora greift,
welche in menschlicher Gestalt mit fünf Blättern
auf dem Kopf abgebildet ist und von einer weib-
lichen Figur, der tigioig (heuresis = inventio), ge-
halten wird, während zu seinen Füßen der eben
verendende Hund rücküber fällt. Auf einem anderen
Blatt ist als Schlußzeichnung ein springendes
Alraunmännchen zu sehen, dem die Blätter aus
dem Kopfe wachsen.
Der echte Dioskorides weiß von diesen Sachen
nichts, die offenbar eine spätere, aus jüdisch-christ-
lichen Kreisen stammende Zugabe darstellen. Er
behandelt die Gewinnung des Alraunsaftes durch
Pressen der Wurzel und Destillation, sowie die
Anwendung desselben als einschläferndes, schmerz-
stillendes Mittel bei chirurgischen Operationen.
Der Saft wurde mit Wein gereicht, die Dosis
wird genau angegeben. Die Blätter seien für
Augenleiden gut, die Wurzel gerieben für Schlangen-
bisse; die Früchte führen schon beim Riechen
Schlaf herbei, im Übermaß erzeugen sie Bewußt-
losigkeit; die Samen seien gut für Frauenleiden
u. a. m. Seltsam ist die Kunde, daß sich sogar
Elfenbein, wenn es in Alraunsaft gekocht werde,
weich machen lasse. Ähnliches erzählt auch
Plinius in seiner Naturgeschichte 25. Buch,
Kap. 13 (94).
Wenn wir ins Mittelalter hinaufsteigen, so
') Verfasser ist im Begriffe, diese Pflanzenbilder nach
ihrer Art zu identifizieren.
'■') Diese letztere Art soll zuerst 1562 Matthioli in
Italien und dann Tragus in Deutschland gekannt haben.
Vgl. P. A. Saccardo, Cronologia della Flora italiana
(Padova 1909), S. 233; ferner K. Wein, a. a. O., S. 506,
Anm. 3. F.igentlich war die Pflanze als besondere Form schon
den Alten bekannt.
') Codex Aniciae Julianae, picturis illustratus. W. Hof-
bibliothek Med. graec. Nr. I. Jetzt herausgegeben phototypisch
von A. W. .Sijtlioff. Lugduni Batav. 1906.
N. F. XVI. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
141
finden wir, daß sich vor allem mit dem Alraun
sehr eingehend die hl. Hildegard beschäftigt,
die als die früheste deutsche Naturforscherin gilt
(t 1179 als Äbtissin auf dem Rupertsberge bei
Bingen). Auf diese Quelle haben bereits P". A.R e u ß , ')
R. V. Fischer- Benzon ■) und in neuerer Zeit
P. Kaiser") aufmerksam gemacht. Hildegard
kannte kaum den Alraun selbst, höchstens vielleicht
die Wurzel ; sie beschreibt ihn auch nicht, sondern
weiß nur von seinen W'underwirkungen zu be-
richten. Volkskundlich ist dieses Kapitel (Physica
lib. I de plantis, Cap. de Mandragora) sehr interessant.
Nach Hildegard ') ist ,.die Mandragora warm,
'; F. A. Reuss, Der hl. Hildegard subtilitalum diver-
sarum naturarum crealurarum libri IX. Annalen des Vereins
für Nassauische Altertumskunde und Geschichte (1859), Bd. VI.
'') R. V. Fischer-Benzon, Altdeutsche Garteuflora
(Kiel 1894), S. 191.
') P. K:user, Die naturwissenschaftlichen Schriften der
Hildegard von Bingen. Berlin 1901. Programm des Königs-
städtisclien Gymnasiums, N. 59.
•■) Die ganze Stelle lautet im Urtexte: Mandragora
calida est et aliquantulum aquosa, et de terra illa, de qua
Adam crcatus est, dilatata est; homini aliquantulum assimilatur.
Sed tarnen herba haec, et propter similitudinem hominis,
suggestio diaboli huic plus quam aliis herbis adest et insi-
diatur. L'nde etiam secundum desideria sua homo, sive
bona, sive mala sint, per eam suscilatur, sicut etiam olim
cum idolis fecit. Cum autem de terra etfoditur, mox in
fontem, id est queckbormii, per diem et per noctem unam
ponatur, et sie omne malum et contrarius humor qui in ipsa
est ejicitur, id est ussge/'issm, ila quod amplius ad magica et
ad fantaslica non valet. Sed cum de terra eradicatur, si tunc
cum terra sibi adhacrente deponitur, ila quod in ijn,-/;6oni
non purgatur, ut dictum est, tunc ad multas utilitates magi-
corum et fantasmagorias nociva est, velut etiam multa mala
cum idolis aliquando facta sunt. Quod si quis vir aut per
magica, aut per ardorem corporis sui inconlinens est, recipiat
speciem leminae huius herbae quae in praeHicto fönte purgala
est, et hoc quod in eadem herba, inter pectus et umbilicum
suum per tres dies et per Ires nocies ligatum habeat, et
postea eumdem fruclura in duas partes dividat, atque super
utrumque lancktin (ilium) partem unam per tres dies et per
tres noctes ligatum teneat. Sed et sinistram manum eiusdcm
imaginis pulverizet, et huic pulveri modicum gamphora addat,
et cum ita comedat et curabitur. Quod si femina eumdem
ardorem in corpore suo patitur, speciem masculi eiusdem
imaginis inter pectus et umbilicum recipiat, et, sicut supra
dictum est, et ipsa cum ea faciat. Sed et dexteram manum
eins pulverizet et modicum de gamphora addat, et pulverum
istum, sicat praefatum est, comedat, et ardor ille in ca ex-
stinguilur. Sed qui in capite qualicumque infirmitate dolet,
de capite eiusdem herbae comedat, quomodocunque velit;
aut si in collo suo dolet, de coUo illius comedat; vel si in
dorso, et de dorso illius; vel si in brachio et de brachio
illius; vel si in manu et de manu illius, vel si in genu et de
genu illius, vel si in pede, et de pcde illius comedat; aut in
quocunque membro dolet et de simili membro eiusdem
imaginis raanducet, et melius habebit. Species autem masculi
eiusdem imaginis ad medicaraenta plus valet quam species
mulieris, quoniam masculus muliere fortior est.
Et si aliquis homo in natura sua indissinatns est, .[uod
semper tristis est et quod in aerumpnis est semper, ita quod
defectum et dolorem assidue in corde suo habet, recipiat
mandragoram, cum jam de terra eradicatur, et in qtiechborn,
ut praedictum est, per diem et per noctem ponat, et tunc de
fönte ablatum in lectum suum juxta se ponet, ita de sudore
suo eadem herba incalescat et dicat: „Deus, qui homincm de
limo terrae absque dolore fecisti, nunc terram istam, quae
nunquam transgressa est, juxta nie pono, ut etiam terra mea
pacem illani sential , sicut eam creasti." [Quod si mandra-
goram non habes, accipe inicium, id est primum ccspitem de
etwas wässerig und von der Erde, aus der Adam
geschaffen, bereitet; sie gleicht einigermaßen dem
Menschen. Doch wohnt dieser Pflanze eben wegen
ihrer Menschenähnlichkeit der teuflische Versucher
mehr inne, als anderen Kräutern und stellt (uns)
nach. Daher wird der Mensch in seinen Gefühlen,
ob sie nun gut oder schlecht, durch sie gereizt,
wie er es auch mit den Götzenbildern gemacht
hat. Wenn man sie nun aus der Erde gezogen,
soll man sie baldigst in Quellwasser (queckborn)
einen Tag und eine Nacht legen; so wird alles
Böse und jede schädliche Feuchtigkeit in ihr aus-
getrieben („ausgebissen"), so daß sie zu magischen
und zauberischen Künsten nichts mehr taugt.
Wenn man sie aber aus der Erde auszieht und
mit den anhaftenden Erdteilchen aufhebt, sie also
nicht in der beschriebenen Weise wäscht, dann
ist sie zu vielen magischen und zauberischen Ge-
bräuchen (verwendbar und wirkt) schädlich, wie
auch viele schlechte Dinge mit den Götzenbildern
ausgeführt wurden. Wenn nun ein Mann infolge
magischer Einflüsse oder aus Begierlichkcit des
Körpers unenthaltsam ist, dann soll er die weib-
liche Gestalt dieser Pflanze, nachdem sie in Quell-
wasser gereinigt worden ist, nehmen und ihren
Inhalt zwischen Brust und Nabel drei Tage und
drei Nächte lang anbinden; sonach diese FVucht
I Wurzel) in zwei Teile spalten und über beiden
Lenden (lanckum) ebensolang binden; ferner die
linke Hand dieser Gestalt zerreiben, mit etwas
Kampfer mischen und so essen, dann wird er
geheilt werden." Für das weibliche Geschlecht
wird von Hildegard natürlich dasselbe Mittel emp-
fohlen, nur mit dem Unterschied, daß die männliche
Gestalt und die rechte Hand benutzt werden soll.
P'erner wird die Mandragora als Heilmittel für
Kopf- und Halsweh usw. erklärt, wobei die ent-
sprechenden Teile der wie gesagt menschenähn-
lichen Pflanze verwendet werden müssen. Das
Männchen soll dabei wirksamer sein, als die weib-
liche Pflanze, wie eben auch der Mann stärker als
das Weib sei.
Endlich sagt Hildegard: Wenn ein Mensch
von Natur aus melancholisch (d. h. immer traurig,
bei seinen Leiden und Widerwärtigkeiten voll
Herzeleid) sei, dann nehme er die Mandragora und
lege sie gewaschen, wie oben beschrieben, neben
sich in sein Bett , bis das Kraut von seinem
Schweiße warm wird, und sage: „Gott, der du den
Menschen aus Erde ohne Schmerz geschaffen, jetzt
lege ich diese Erde, die niemals gesündigt, neben
mich, damit auch mein irdischer Leib den Frieden
fühle, wie du ihn geschaffen." Hat man keine
Mandragora, dann tügt Hildegard noch bei, dann
genügen auch Buchentriebe.
"Es eröffnet sich in diesem Kapitel ein großes
Stück Aberglauben, das in schroffem 'Gegensatz
zu den nüchternen Darlegungen des Dioskorides
fago, quoniam eamdem naturam feliciter in hoc opere
habent etc.]
S. Hildegardis Physica, lib. I de plantis cap. de Mandragora
Migne, S. lat. Tom. 197, Col. 1151 u. 11 52.
142
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 1 1
steht. Ob Hildegard wirklich des Glaubens
war, daß die Pflanze solche Wunder wirke, oder
ob sie nur die Anschauungen ihrer Zeit wieder-
gibt, kann ich nicht entscheiden. Es war ein
jugendliches Volk, das gleich den heutigen Natur-
völkern überall Spuk und Zauberei witterte, das
aber auch die Missionare und Klosterleute als
Heilkünstler und „Medizinmänner" verehrte (nach
P. Kaiser).
Die religiösen Ideen, die Hildegard in ihrer
Betrachtung der Alraunwurzel einflocht, scheinen
zu ihrer Zeit sehr im Schwange gewesen zu sein.
Wir begegnen der Pflanze öfters in theologischen
Werken jener Zeit. So bildet Swarzenski
in seinem Buch „Salzburger Malerei" ^) eine alte
Miniatur ab: eine nackte Frau hält in der Linken
einen Zweig, in der Rechten eine (Mandragora-)
Frucht. Noch merkwürdiger ist das Bild, das
J. A. Fndres") aus einem alten Kommentar des
mittelalterlichen Gelehrten Honorius Augusto-
dunensis veröffentlichte. Da wird die Mandra-
gora (so auch genannt in der Überschrift des
Bildes) als nackter Frauenleib von Christus und
den Heiligen zum Leben erweckt. Unter diesen
Abb. 3. Die drei SclioUenmönche
und links davon die Alr.iunwurzel,
am Portal der Schottenkirche in Regensburg.
(Phot. von Kill er mann.!
Umständen könnte man auch eine der seltsamsten
Gestalten an dem berühmten Jakobsportal in
Regensburg als Mandragora deuten. Die aus
Stein gehauene Figur (s. Abb. 3) hat etwas
Menschengestalt und ist in zwei lange schweif-
artige Extremitäten ausgezogen; der Kopf fehlt
oder wurde einmal weggeschlagen. Gewöhnlich
wird die Gestalt als Meerweibchen, wie auch
manch andere Tiergestalten des Bestiarius an dem
Portal als Symbole verewigt sind, angesprochen;
nach Endres könnte es aber auch die Mandragora
sein, als Symbol der Weisheit der neben ihr er-
scheinenden drei Stifter des Klosters, die aus Schott-
land stammten.
Echt naturwissenschaftlich gehalten ist dagegen
die Darstellung, welche der auf Hildegard
folgende Albertus Magnus^) von der Mandra-
gora bringt; er sagt von dem abergläubischen
Zeug keine Silbe, wie er auch sonst in seinen
Werken sehr wissenschaftlich verfährt. In der
Hauptsache sich an Avicenna anschließend, nennt
er die Mandragorawurzel iahro (auch labro). „Sie
ist groß, hat Menschenähnlichkeit; das Wort
mandragora klingt unserem Autor wie hominis
imago (Menschenbild). Die Wurzel ist hölzern,
aschenfarben und innen etwas schwarz. Sie ist
kalt und trocken, überhaupt ein starkes Desikkativ;
die Rinde der Wurzel ist schwach. Die Pflanze
hat narkotische Eigenschaften, hat eine tränen-
artige Flüssigkeit und einen Saft; der letztere ist
stärker als der erstere. Bei der Mandragora sind
zwei Geschlechter zu unterscheiden: Männchen
und Weibchen, ersteres mit rübenähnlichen, letzteres
mit lattichartigen, aber etwas rauhen Blättern."
Die Unterscheidung deckt sich ziemlich mit der
des Dioskorides und betrifft die beiden Arten
officinarum L. und autumnalis Spreng., wie schon
Jessen findet.
Der übrige Teil des Kapitels handelt von den
medizinischen Wirkungen; die erste Übersetzung
davon gibt (Mitte des 14. Jahrhunderts) Kon rad
von M e g e n b e r g -). Ev legt (Buch V. Nr. 48) der
Mandragora bereits den Volksnamen „Alraun" bei
und bemerkt: „Kinder, die die Wurzel fanden
und davon aßen, starben in großer Zahl, einigen
iedoch kam man mit Butter und Honig zu Hilfe.
Die Pflanze bringt sehr wohlriechende F'rüchte,
Erdäpfel genannt. Wurzel, Rinde, Blätter und
Früchte des Alrauns sind als Arznei zu gebrauchen
und wirken zusammenziehend und wegbeizend.
Will man einem Kranken Schlaf verschaffen, so
mische man gepulverte Alraunwurzel mit Frauen-
milch und Eiweiß, bereite daraus ein Pflaster und
lege es auf die Stirne und die Schläfen bei den
Ohren. Gegen Kopfweh durch Erhitzung soll
man die zerquetschten Blätter auf die Schläfen -
gegend legen. Alraunöl wird so hergestellt : man
zerquetscht Alraunblätter gründlich, mischt sie
mit Baumöl, siedet alles zusammen und seiht es
durch ein Tuch. Das ist dann das Alraunöl. Es
bringt den Schlaf, vertreibt Kopfschmerz und die
Fieberhitze, wenn man Stirn und Schläfen mit
') Lambacher Kodex in der Herliner Bibliolhelj.
tlieol. lat. IV 0 150.
-) J. A. Endres, Uas St. Jakobsportal in Regensbur;
KiMiipton 1903. Vgl. besonders S. 63--O5.
') Alberti Magni, ex ordine praedicatorum, de Vege-
tabilibus libri VII. Ausgabe von C. Jessen (Berolini 1867),
S. 535 — 536. Die Stelle lautet: Mandragora est herba, cuius
radix iabro vocatur. Et est radis magna, habens similitudinem
cum forma hominis, ut dicit Avicenna: et ideo etiam mandra-
gora vocatur, quod sonat hominis imago. Est autem radix
lignea, cinericia, et invenitur aliquando nigra. Est autem
frigida et sicca ; et radix eius est fortiter desiccativa, et cortex
radicis eius est dcbilis. Est autem narcoticam habens virtufem,
et habet lacrimam et succum , sed succus eius est fortior
lacrima ipsius. Est autem in mandragora masculus et femina;
et mas quidem habet folia similia foliis bliti; sed femina
habet folia sicut lactuca, sed asperiora aliquanlulum etc.
Der Ausdruck iabro hat sich als jabrüh jetzt noch in Palästina
im Volksdialekt erhalten; vgl. G. Dal man bei Dinsmore
a. a. O. S. 64.
■-) „Das Buch der Natur". Die erste Naturgeschichte in
deutscher Sprache. Ausgabe von II. Schulz (Grcifswald
1897), S. 349.
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
ihm einreibt. Koch Alraunwurzel mit Wein und
gib ihn dem zu trinken, dem ein Glied abgenommen
werden soll; er fühlt dann in dem tiefen Schlaf
die Schmerzen nicht. Bringt man ein Stückchen
der Wurzel, besonders der männlichen, in Wein,
so wirkt dieser schneller berauschend. Wenn
aber jemand die Wurzel öfter anwendet, auch
viel daran riecht, so bekommt er die fallende
Sucht (Apoplexia). Zur Erleichterung der Geburt
stellt man den Frauen etwas von dem Wurzel-
saft unter. Alraunsamen wirkt reinigend auf die
Gebärmutter, und wenn eine Frau über einer
Mischung des Samen mit Schwefel, der nie ans
F'euer gekommen ist, sitzt, so wird sie von Metror-
rhagie befreit."
Wir sehen, daß sowohl Albertus Magnus
wie Konrad von Megenberg, der sonst
Märchen nicht abhold ist, von den abergläubischen
Gebräuchen, die mit der Mandragora in Verbindung
stehen, nichts wissen wollen oder überhaupt keine
Kunde hatten. Mir scheint, daß erst mit der
llumanistenzeit diese Gebräuche sich einbürgerten.
Das Rankenwerk, daß sich in den eigentlich
nicht naturwissenschaftlichen Kreisen um den
Alraun wand, wurde immer krauser. Nach
Perger') erzählt die deutsche Mythe — aus
welcher Zeit, ist nicht angegeben; „Diese glück-
bringende Wurzel wächst nur unter dem Galgen
und zwar nur dann, wenn ein Erbdieb, der jedoch
noch vollkommen reiner Jüngling sein muß, ge-
hängt wird, der bei der Vollstreckung des Urteils
den Harn ließ aut sperma efü'undit. Sie schreit,
wenn sie ausgegraben wird, so entsetzlich, daß
man vor Angst stirbt, weshalb man. wie Odysseus
bei den Syrenen die Ohren mit Wachs verstopfen
muß" usw.
Der Alraun wurde zum glückbringenden Haus-
geist, zum Kobold und Heinzelmännchen, zum
Spiritus familiaris, -') den man in hohen Ehren hielt
und in Eiebes- aber auch wohl in anderen Nöten
um Hilfe rief.
Wie sehr die fabelhafte Mandragora auch die
Gedankenwelt der Renaissanze beschäftigte, er-
sehen wir aus dem Kupferstich A.Dürer 's, der
unter dem Namen der „vier Hexen'' geht, und
aus Machiavelli's Komödie ,,la Mandragola".
Dürer, der sich, wie ich hier schon öfters dar-
legte, für naturwissenschaftliche Dinge sehr in-
teressierte, hat in jenem aus dem Jahre 1491
stammenden Stiche über den vier nackten Frauen
deutlich einen Alraunapfel abgebildet (s. Abb. 4).
Der Stiel der F'rucht ist zwar knopfartig verdickt
und unrichtig wiedergegeben, aber die fünf Kelch-
blätter, die an der Beere erhalten bleiben, sind
deutlich gesägt und umfassen sie nur zu einem
Drittel, wie es für die Art M. officinarum L.
charakteristisch ist. Die Frucht selbst erscheint
gerieft, vielleicht weil es ein altes, eingetrocknetes
Separat. Wien lS62(?).
') Vgl. Schnicllci
Exemplar war, das Dürer abzeichnete. Wir er-
blicken darauf eingegraben die Jahreszahl 1491 und
die Buchstaben O. G. H. Nach R. W u s t ma n n ')
läge hier ein Fehler vor und müßte M gelesen
werden, die Abkürzung für omnium gentium matres,
d. h. der drei rheinisch-keltischen Mütter. Er sieht
in den F"rauen nicht gerade Hexen, deren Typus
bei Dürer ein anderer sei, sondern Alraunen,
die bei der Zeugung eine Rolle spielen. Eine
ältere Deutung, welche Sandrart (Deutsche
Akademie II 222) gibt, dünkt uns besser, zumal
hier auch wirklich der dritte Buchstabe für ein
H genommen wird: „O Gott hüte" (d. h. behüte
uns vor Zauberei). Ob dann nicht auch Kon rad
von Megenberg, den wir im Wortlaut vor-
führten und den Dürer sicherlich kannte, zur
Erklärung des Bildes herbeigezogen werden muß?
Machiavelli's Theaterstück '-) entstand etwas
später, wahrscheinlich um 1519. Die Idee ist
eine ähnliche; es soll durch den Alrauntrunk
leibliche Fruchtbarkeit verliehen werden.
Im Laufe des 16. Jahrhunderts artete die Vor-
liebe für die Alraunpflanze zu einer förmlichen
Manie aus — ein merkwürdiges Gegenstück zu
Abb. 4^ Die Alraunfrucht auf Uürer's .Stich
,,Dic %'ier Hexen" (Ausschnitt).
der damals auflebenden Naturwissenschaft und eine
Parallele zu der bekannten Tulpen- und Nelken-
manie. Bei den Pflanzenvätern wird natürlich die
Mandragora viel genannt und oft abgebildet. Nach
dem Zeugnis des Lobelius'') brachte man die
Wurzeln und den Samen aus Kreta und den Ky-
kladen in die Gärten von Italien, Frankreich und
Spanien; selbst in England gedieh die Pflanze in
Gärten und brachte es zu Blüten und Früchten.
In Deutschland mußte man sich anscheinend
mehr mit getrockneten Exemplaren begnügen,
oder mit Fälschungen, wozu hauptsächlich die
Zaunrübe (Bryania) verwendet wurde. Val.
Cordus bemerkt bezüglich der Verbreitung des
.\lrauns in deutschen Gärten im 16. Jahrhundert:
„apud nos a paucissimis colitur." ') Der berühmte
M Von einigen Tieren und Pllanzeu bei Uürer. Zeit-
schrift für bildende Kunst. N. F. XXII. Heft 5.
-) J. Sparapanato, la Mandragola ncUa comedia e
nella vita ilal. del 500. Noia 1897.
■') a. a. O. Nova Stirpium adversaria, S. lou.
'J Vgl. K. Wein, Deutschlands Gartenpflanzen um die
MiUc des 16. Jahrhunderts. Beihefte zum Bot. Contralbl,,
l;d. XXXI (I9I4\ Abt. II, S. 506.
144
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 1 1
Garten der F'ürstbischöfe von Eichstätt in Bayern
weist um i6oo die Pflanze, die auch heute noch
in botanischen Gärten eine Seltenheit sein dürfte,
gar nicht auf. ^)
Die Mandragoramanie, wie wir sie nennen
wollen, grassierte weniger in den naturwissen-
schaftlichen als in den sog. Liebhaberkreisen. Die
Pflanze, die einmal einen Ruf genoß und bei uns
nicht zu haben war, wurde um Gold gekauft, mit
ehrerbietiger Scheu betrachtet und aufs zärtlichste
behandelt. Besonders war für diese Seltenheiten
Kaiser Rudolf II. eingenommen, dem übrigens die
Gartenbotanik durch Einführung vieler orientalischer
Arten viel verdankt. In der k. k. Hofbibliothek
werden aus seiner Zeit noch zwei Alraune und
zwar ein Männchen und ein Weibchen, beide in
Sammtröcke gehüllt, aufbewahrt; sie sind nach
Perger aus dem „Cimeliarchicum physicum"
Kaiser Rudolfs II. i68o in die genannte Hofbiblio-
thek gelangt. Sie sind abgebildet in Nessel 's
Katalog der Handschriften der kaiserlichen Biblio-
thek, pars VII. -) P-ine Vorstellung von solchen
Alraunmännchen im Sinne des i6. Jahrhunderts
gibt uns eine Zeichnung bei Thümen"). Auch
bei Shakespeare*) wird die Mandragora genannt,
doch mehr in medizinischer Bedeutung als
Schlafmittel :
Mohnsaft nicht noch Mandragora,
Noch alle Schlummerkrafte der Natur
Verholfen je dir zu dem süßen Schlaf,
Den du noch gestern hattest.
((Jthello III. 3, 3}(<.-^
Im Laufe des i6. Jahrhunderts lassen sich be-
reits Stimmen gegen den Alraunaberglauben, der
von Betrügern weidlich ausgenutzt wurde, ver-
nehmen: so die Pflanzenväter L. Fuchs (1534)
und P. A. M a 1 1 h i o 1 i ( 1 563)^ ), auch Nichtbotaniker,
>) Vgl. J. Seh wert Schlager, Der botanische Galten
der Fürstbischöfe von Eichstätt. {Dortselbst 1890.) S. 65.
■-) Ich habe die Sachen in Wien nicht gesehen. Nach
Perger sind selbst diese Alraune gefälscht (vgl. März eil
a. a. O.).
3) F. V. Thümen, Die Pflanze als Zaubermittel. Wien
1881. Der Vortrag ist zum Teil nach einer Abhandlung
ünger's bearbeitet.
■*) Vgl. H. W. Seagcr, Natural Hislory in Shakespearc's
Time (London 1S96), S. 195— 19S. Dort auch zwei charakte-
ristische Zeichnungen von einem Alrauomännchcn u. -Weibchen.
Andere Stellen s. bei E. O. von Lippmann, ,, Naturwissen-
schaftliches aus Shakespeare". Zeitschr. f. Naturw., Bd. 74
(Stuttgart 1901), S. 347 u. 34S.
■■■') Die Stelle, welche bei Matthioli und Fuchs ziem-
lich gleich lautet, ist von II. März eil (1. c.) ausführlich
wie der Jurist Martin del Rio (1578)') und
Anhorn (1674).^) Mit der Zeit hörte der Glaube
an die Wunderkraft der Mandragora, wie es scheint,
von selber auf. Um 1703 schreibt ein Anonymus:
„Die Historien von solcher Alraunwurzel oder
Kobolgen, welche meistens von alten Weibern und
einfältigen Leuten geglaubt werden, weil sie wider
alle Vernunft, Billigkeit und Ordnung der Natur
streiten, halte ich für unmöglich, abergläubisch
und bloße Einbildungen." ^)
Man kennt jetzt in deutschen Landen den
Alraun wohl nur mehr vom Hörensagen; ') nur in
Volkssprüchen hat sich das Wort da und dort er-
halten: Z. B jetzt schaust grad aus wie „D'Olrau"
d. h. Hexe (so in Oberfranken, Oberpfalz) *) oder
„Der muß ein Oranel (Alräunchen) im Sack haben",
wie man in Wien ") sagt, wenn einer besonderes
Glück im Kartenspiel hat. Die östlichen Länder
Europas (Walachei, Südrußland) sollen noch Gegen-
den sein, wo der Mandragorakult in Blüte steht. ')
Vielleicht könnten unsere Feldgrauen dort noch
wirkliche Alraune und Heinzelmännchen entdecken.
wiedergegeben. L. Fuchs, New. Kräuterbuch. Basel 1534,
S. 201.
') Als ich anno 1578 das Richterliche Ampt anoch ver-
waltet, ist mir unter eines beklagten Licentiaten'confiscirten
Schriften , neben einem mit wunderlichen Charakteren und
Zeichen erfüllten Zauberbuch auch ein Lädlein, wie ein Todten-
sarg formiret, zur Hand gekommen, in welchem ein alt schwarz
Alraun-Männlein gelegen , mit sehr langem Haar aber ohne
Bart, welches zu Zauberei und Vermehrung des Geldes ge-
braucht worden. Ich habe die Arme von dem .Alraun weg-
gerissen. Die welche das gesehen, haben gesagt, es werde
mich zu Hause ein großes Unglück angehen. Ich hab' aber
darüber gelacht und gesagt, wer sich fürchte, der könne wohl
hinweg gehen. Ich hab endlich das Buch, Lädlein und Allraun-
Männlein in das F'eucr geworfen und hievon keinen anderen
Gebrauch, als den einer verbrannten Wurzel gerochen." Dis-
<|uisitiones magicarum (Lovanii 1595), !. IV. c 2. m 547 (nach
Pe rgcr).
'-) ,, Diese Allraun ist nichts Anderes, als eine natürliche
Wurzel, in und bei deren der lebendige Teufel selber sich,
dem Geizigen zu dienen, darstellet, damit er von ihnen als
ihr Gott und Gutthäter hinwiederumb geehrt werde und reißet
endlich anstatt des Zinses die Seele in den Abgrund der Höllen !''
Magiologia Basel, 1674, 8. P. II, Cap. 3 (nach Perger").
3) Nach Thümen a. a. O. S. 16.
■*) Eine sehr drastische, kaum wahrscheinliche Schilderung
des Mandragorakulles aus der Gegend von Neuötting am Inn
s. im bayer. Familienblatt, lahrg. VIII, Nr. 1 (l. X. 1910I;
Verfasser der Novelle M. ]. Lehn er.
••■•) Schmeller's Wörterbuch s. o. Bd. II, Sp. 107.
") Daselbst soll noch in den 70 er Jahren ein damals
viel genannter Minister in wichtigen Angelegenheiten sein
kostbar gehaltenes Alräunchen gefragt haben.
•j Vgl. Mar Zell a. a. Ü., S. 163.
Der Sang der Unsichtbaren im Fölirenwalde.
Von Prof. Dr. Wilhelm von Reichenau.
Ein warmer Tag im Sominerhalbjahr lädt uns
ein, den von Mainz aus viel besuchten Lenneberg-
wald zu begehen, wo köstlicher Kiefernadelduft
uns umgibt und, oben angekommen, eine herrliche
Aussicht dem überraschten Spaziergänger lohnt,
In dem Föhrenbestand herrscht zurzeit völlige
Windstille. Kein Zweiglein zuckt an den Wipfeln,
nicht der schwankste Grashalm am Boden regt
sich. Auch der Horizont teilt die allgemeine Ruhe,
denn die Umrisse jener weißen Wolke hinter dem
N. F. XVI. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
145
Taunus bleiben gänzlich unverändert. Die Sonne
hat für heute ihren höchsten Stand erreicht und
spendet uncrehindert ihre lebenerweckenden Strahlen.
Kein Vogellaut ertönt ringsum, denn die befiederten
Waldeskinder halten Mittagsruhe — Pan schläft.
Dennoch ist die Luft nicht klanglos: Wie aus
unbekannten Fernen trifft eine eigentümliche Musik
unser Ohr, ein Summen, wie sich verlierender
Glockenklang. Und dieses Tönen ist überall ver-
breitet, auf stundenweges weit, wohin wir uns
nur wenden in diesem singenden Walde.
Welches sind nun die Hervorbringer des Sanges
— oder sollte gar jener Physiker das richtige ge-
troffen haben, der ausströmende Elektrizität aus
den Nadelspilzen für jenes Konzert verantwortlich
machen wollte?
Schon Landois in Münster schrieb ganz all-
gemein'): „Auch jede Gegend bietet ihre eigenen
Klänge. Der hohe Berg, das tiefe Tal; die öde
Heide wie die fruchtende Flur, Sumpf, Wald,
Röhricht und weite Wasserflächen haben ihren
eigenen Ausdruck, ihren Dolmetscher, in der
Stimme ihrer Bewohner."
Vor Jahren hat jener Sang in hohem Grade
meine Aufmerksamkeit angezogen, doch gelang mir
es damals nicht wie jetzt, die Chorsänger mit
Sicherheit zu ermitteln. '-) Der freundliche Leser
soll aber Mitentdecker dieser Wesen sein. Er
strenge sich daher an, den vielleicht schon ge-
übten Blick in die lichten Räume zwischen dem
Gezweige zu richten ... sie müssen zu weit ab
sein, die Summer, denn wir sehen nichts. Aber
Geduld! Die Wolke da drüben hebt sich, ein
leichter Wind streicht über die Wipfel : Sogleich
kommt der Gesang näher, denn er wird viel lauter!
Der Wind verstärkt sich, der Sang, dessen Viel-
stimmigkeit jetzt außer allem Zweifel steht, senkt
sich zwischen die Wipfel herab, endlich unter die-
selben. Stärkere und feinere Stininien sind zu
unterscheiden. Endlich, es rauschen die Wipfel,
sehen wir auch kleine dunkle Punkte durcheinander
sausen oder auch wie angenagelt in der Luft
schweben: Insekten sind es, Zweiflügler!
Mit vielen weißen Wölkchen, die einen Schirm
nach dem anderen vor der Sonne bilden, fährt ein
kühlerer Windstoß daher, und die Schtvebcr kom-
men mehr und mehr herab: Zweiflügler vieler
Gattungen, das Hauptkontingent der himmlischen
Heerscharen aber stellen die Schweb- oder
Seh wirr fliegen (Syrphus). Wir hören nun
-deutlich, daß gerade sie den Grundton angeben
und festhalten. Im Weiterschreiteii geht es überall
„summ summ", bald näher, bald ferner, von Kopf-
höhe bis zu den sausenden Zweigen hinauf
schweben die Syrphiden. Hier kleinere, dort
größere. Alle schwirren und singen mit ihren
Bruststimmen. Denn es ist der mit Leidenschaft,
') Tierstimmen. Von Dr. II. Landois, Professor der
Zoologie. Freiburg i. B., 1874, Herder'sche \'erlagshandlung.
-) Bilder aus dem Naturleben. Nacli eigenen Erfahrungen
alsjägeru. Sammlergeschildert von W il hei m v. Reichcnau
Leipzig, Ernst Günther's Verlag, 1892, S. 70.
bald stärker, bald mäßiger willkürlich ausgestoßene
Ton, den wir vernehmen, eine richtige Singstimme,
kein Flügelgeräusche. Für die Gattung Eristalis
hat in dem angeführten Werke Landois sehr
schön die Tonapparate erläutert (S. 73 ff), Syrphus
hat er nicht untersucht, und doch macht gerade
diese Gattung den Wald si n gen. Sie ist wirk-
lich tonangebend und spielt ihre Instrumente zu
Millionen im Chorus, soweit es Bäume gibt, den
Wald erfüllend. Aber auch zudringliche Sänger
gibt es unter der Masse, freilich nur zufällig an
ihrem Schwebeort von uns aufmerksam gemachte
einzelne und dabei nur die ganz großen Arten mit
dem fast papierdünnen, eiförmigen schwarzen
Hinterleib, dessen Ringe querüber mit zwei Mond-
flecken gezeichnet sind. Sobald wir nämlich vor-
bei sind, wittern sie unseren warmen Dunstkreis.
„Hier ist gut sein", so empfinden sie wohl, und
die Stimme hinter uns erhöht sich, wird nahezu
piepend, wie bei Immen und Mücken, die stechen
wollen, und unwillkürlich fahren wir herum, ziehen
den Nacken ein und erheben die abwehrende Hand.
Doch wir fassen uns, denn es ist ja lächerlich,
sich von einer ganz unschädlichen Zierfliege ein-
schüchtern lassen zu sollen. Wir lassen sie ruhig
gewähren. „Uüh, ühi hiiü" (jetzt hätte der Stich
zu kommen — aber er bleibt aus) und das hübsche
Fliegentier sitzt stille am Rande unseres Kragens,
da, wo im Nacken die warme Körperluft unterm
Hemde aufsteigt. Es wärmt sich an uns als seinem
willkommenen Kachelofen. Mittlerweile hat die
Bewölkung abgenommen, der Wind hat aufgehört,
die Sonne brütet wieder unbehindert, die Wärme-
.strahlen heben sich vom Boden aufwärts — und
mit ihnen die Waldessänger, die Syrphiden. Beim
Verlassen des Waldes ertönt wieder hoch über
den Wipfeln, vom Himmel herab, der Sang der
Unsichtbaren. ,L'ns bleibt nur noch übrig, die
Gegenwart der Jahr für Jahr in unzählbarer und
unschätzbarer Menge den Föhrenwald bewohnender
Syrphusarten zu erklären. Dies geschieht un-
schwer, wenn man ihre Lebensweise in Betracht
zieht. Die F"iiege leckt Blumensäfte, aber auch den
süßen Auswurf, d. h. den flüssigen, dextrinhaltigen,
mittels der Hinterfüße fortgeschleuderten Kot der
Blattläuse. Die letzteren finden sich in einer so
trockenwarmen Gegend zwischen den Nadeln der
jungen Triebe in unübersehbaren Massen. Sie
dienen vielen Tieren als Nahrung, vornehmlich den
Singvögeln für die erst kürzlich ausgebrüteten
Jungen, als ausschließliche Nahrung u. a. für die
Sonnenkälbchen, Herrgotts- oder Marienkäferchen
(Coccinellae) und deren Larven, für die Blattlaus-
löwen oder Florfliegen (Chrysopa), dann für die
Maden der Schwebfliegen. Diese haben einige
Ähnlichkeit mit Blutegeln, sofern letztere ausge-
streckt sind, doch auch wieder mit Spannerraupen,
wiewohl diese ja einen Kopf besitzen. Es sind
wurmförmige, köpf- und beinlose, vorn gegen den
Saugmund zu allmählich zugespitzte grünliche oder
rötliche Larven, die mittels geeigneter Wülste ihrer
hintersten Leibesringe sich fortbewegen, mit dem
146
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. I
Rüssel dabei wie echte Bünde umhertastend. Haben
sie eine Blattlaus erwischt, so wird dieselbe flugs
ausgesaugt, so daß nur die farblose Haut übrig bleibt.
So leben sie zwischen ihren Nährtieren, bis sie
sich verpuppen. ') Aus der Puppentonne erscheint
') Näheres hierüber bei Brehms
Dr. E. L. Taschen berg.
erleben, Di(
nach einiger Zeit durch Absprengung der deckei-
förmigen vordersten Ringe die Schwebfliege. Sie
zeigt zunächst noch Flügelläppchen und pumpt
mit gewaltiger Wirkung Luft in ihren Körper. Ist
sie erst „trocken hinter den Ohren", so beginnt
ihr Flugwesen, das lediglich der Lebens-
freude gilt.
Einzelberichte.
Medizin. In der Neuzeit wurde häufig zu theore-
tischen und praktischen Zwecken von dem Ver-
fahren der Transplantation Gebrauch gemacht;
dieselbe besteht darin, daß Gewebsstücke von
einem lebenden Tier oder Menschen auf ein anderes
Individuum verpflanzt und dort zum Einheilen ge-
bracht werden. Letzteres gelingt um so leichter,
je gleichartiger das Serum des Organismus, von
welchem das Transplantat genommen wurde, und
der Gewebssaft des anderen Lebewesens ist, mit
dem das Transplantat verbunden werden soll. Die
Übereinstimmung im Gewebssaft des Transplantats
und des Empfängers ist am größten, wenn dieses
nur an eine andere Stelle des gleichen Körpers
verpflanzt wird (autoplastische Transplantation).
Etwas größere Schwierigkeiten bietet die Trans-
plantation auf ein zwar arilich gleiches, aber
individuell verschiedenes Lebewesen (homoioplasti-
sehe Transplantation). Bis zum Nichtgelingen ist
die Schwierigkeit gesteigert bei der Überpflanzung
zwischen zwei minder oder mehr verschieden ge-
arteten Organismen (heteroplastische Transplan-
tation). In diesem Fall stirbt der nicht genügend
eingeheilte und daher schlecht ernährte Pfropf ab,
zersetzt sich, die dabei gebildeten Toxine gelangen
in den Säftestrom des Individuums, auf welches
transplantiert wurde, und vergiften es.
In der Kriegschirurgie ist häufig eine Trans-
plantation von Hautstücken, Nerven oder Knochen
nötig.
In der Sitzung der Pariser Akademie der
Wissenschaften vom 26. Dezember 19 16 sprach
O. Laurent über die vorübergehende Vereinigung
zweier Individuen zum Zwecke der sicheren Ernäh-
rung des Transplantats (Realisation du siamoisisme
chez les animaux. Presentce par Ed. Perrier. C. R.
Ac. sc. Paris No. i , 1917). Er habe zweimal
zwei Verwundete miteinander verbunden, um das
Transplantat lebend zu erhalten. Den Wert dieses
neuen Verfahrens hätte er im Tierversuch erprobt,
indem er zahlreiche Versuche mit den verschie-
densten Wirbeltieren anstellte, mit Säugetieren,
Vögeln, Reptilien, Lurchen und Fischen. Die
Versuche waren in der Veterinärschule von Alfort
im Laboratorium von Professor Roule ausge-
führt worden. Beim Betreten des neuen Gebietes
in der Biologie sei er auf bedeutende Hindernisse
gestoßen, sowohl auf solche allgemeiner als
spezieller Natur. Mit Chamäleon, Salamander,
Frosch, Goldfisch und Schleie hätte er positive
Resultate ' erzielt. Bei Vögeln und Säugetieren
hätte er sehr interessante Entdeckungen ge-
macht. So wären zwei Hühnchen während eines
ganzen Monats miteinander verbunden geblieben.
Ein anatomisches Präparat zeigte deutlich die
Verlötung zweier Hühnchen miteinander nach
I Monat; ein anderes Präparat bezöge sich auf
dieselbe Erscheinung bei zwei Pferden, welche die
Operation 34 Tage überlebten. Während es sich
in den genannten Versuchen um einen „siamoisisme
homologue" (homoioplatische Transplantation) ge-
handelt hätte, wäre es ihm gelungen auch ganz
verschiedenartige Tiere miteinander zu verbinden
(heteroplastische Transplantation), z. B. eine Taube
und ein Huhn, sowie einen F"asan und eine Ente.
P'reilich seien diese Versuche sehr zeitraubend und
es käme häufig vor, daß sich die Tiere ganz un-
erwartet voneinander trennten. Der ,, Siamoisisme"
eröffnete seiner Ansicht nach ganz neue Aus-
bücke in Medizin, Biologie und Botanik.
Laurent denkt vielleicht zu optimistisch über
die von der Transplantation zu erhoffenden Erfolge.
Viel weniger verheißend klingt der Bericht von
H e n r i J u d e t in der Sitzung der Pariser Akademie
der Wissenschaften vom 26. Dezember 1916. Bei
drei Verwundeten, welchen durch einen Schuß die
Vorderarmknochen bis 7- ihrer Länge zerschmettert
worden waren , wurden Überpflanzungen der
Knochenhaut der Rippe vom Kalb vorgenommen.
Obwohl das aseptisch übertragene Transplantat
ohne jede Komplikation vertragen wurde, galt es
doch wie in allen anderen Fällen von heteroplasti-
scher Transplantation nur als Fremdkörper und
gab zur Knochenneubildung keinerlei Anstoß. Noch
viel merkwürdiger war das Resultat bei einer
autoplastischen Transplantation. Hier wurde näm-
lich Knochenhaut vom Schienbein desselben
Patienten genommen und zwar solches mit und
ohne Knochenbildungskerne, aber auch hier kam
es nicht zu einer davon ausgehenden Knochen-
neubildung.
In allen 3 I-'ällen wurde nur in kosmetischer
Beziehung etwas erreicht, indem die eingesunkenen
Narben verschwanden. In funktioneller Beziehung
dagegen war der Mißerfolg vollständig; das
fibröse Bindegewebe um das eingekapselte Trans-
iMantat trat als mechanische Stütze an die Stelle
N. F. XVI. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
147
des verschwundenen Knochens, aber nicht einmal
Pro- und Supinationsbewegungen konnten dadurch
von einem Stück des Radius auf das andere über-
tragen werden. (gTc.) Kathariner.
Eine der merkwürdigsten Beobachtungen auf
medizinischem Gebiet hat im gegenwärtigen
Weltkrieg ihre Bestätigung und eine, wie es
scheint, befriedigende Erklärung gefunden. Es
ist das im Jahre 1867 von dem amerikanischen
Forscher entdeckte und nach ihm benannte
Weir-Mitscheir sehe Phänomen.
Es besteht darin, daß jemand, welcher durch
Amputation Hand oder Fuß verloren hat, noch
längere oder kürzere Zeit nach der Operation,
bisweilen monatelang glaubt, er mache noch
Gefühlswahrnehmungen mit den längst nicht mehr
vorhandenen Körperteilen. Er glaubt Hand oder
Fuß noch zu fühlen und zwar, als wenn er damit
die gewohnte Tätigkeit ausübte, also etwa die
Hand, als hielt er darin ein Werkzeug, den Fuß,
als triebe er damit eine Schleifmaschine oder ein
Rad. Gewöhnlich geht dem Eintritt der eigen-
tümlichen Empfindung ein Kribbelgefühl, das sog.
„Ameisenlaufen" der Medizin, in der Umgebung
der Amputationsnarbe voraus. Nach dem fran-
zösischen Forscher Amar ist diese Erscheinung
nicht die Folge einer Veränderung in der Sinnes-
sphäre des Gehirns, wie der Entdecker glaubte,
sondern erklärt sich folgendermaßen. Die von
den Hautsinnesorganen der Hand oder des Fußes
gemachten Gefühlswahrnehmungen gelangen durch
die den Aim bzw. das Bein durchziehenden zentri-
petalen Nerven ins Gehirn. Hier wird jede Er-
regung eines Sinneszentrums ohne weiteres auf
eine entsprechende Erregung des normalen End-
apparats bezogen, auch wenn derselbe wie hier
durch Amputation entfernt wurde. Die Erregung
der zentripetalen Nerven kommt nun nach A. in
folgender Weise zustande: Der in umgekehrter
Richtung vom Gehirn nach der Hand verlaufende
zentrifugale motorische Reiz, welcher früher die
dort vorhandenen Muskeln in Tätigkeit setzte,
kann am Ende des Amputationsstumpfes angelangt,
nicht wie normalerweise in die Nervenbahnen der
Bewegungsmuskeln ausstrahlen, und wird sich des-
halb an der Amputationsnarbe stauen, um schließ-
lich auf den umgekehrt leitenden Gefühlsnerven
überzuspringen; diese Stauung kommt im Gefühl
des „Ameisenlaufens" zum Ausdruck. Mutatis mu-
tandis gilt das Gleiche für den Fuß." Dafür, daß
mit dieser Deutung das Richtige getroffen wird,
spricht die Erfahrung, daß sich die Erscheinung mit
der Zeit verliert, und zwar um so eher, wenn durch
zweckmäßige Apparate die Betätigung des Am-
putationsstumpfes und somit der normale Verbrauch
des zentrifugalen motorischen Nervenreizes er-
möglicht wird. (G.C.) Kathariner.
Hygiene. Mückenvertilgung durch Fische.
Das schon im .Mtertum bekannte und gefürchtete
Wechselfieber, die Malaria, ist in ihrem Auftreten an
das Vorhandensein freier Gewässer in den von ihm
heimgesuchten Gegenden gebunden, was schon in
dem Namen „Sumpffieber" zum Ausdruck kommt.
Jahrhundertelang schrieb man die Schuld an der
Ungesundheit eines von ihm heimgesuchten Land-
striches aus den Sümpfen aufsteigenden Dünsten,
„Miasmen", zu. Erst Ende der 90er Jahre des
vorigen Jahrhunderts fand der italienische Forscher
Grassi, daß das Wechselfieber lediglich von
im Blut lebenden einzelligen Tieren, „Sporozoen"
verursacht wird und daß der Malariaerreger
durch eine Stechmücke, Anopheles, vom kranken
auf den gesunden Menschen übertragen wird.
Die Mücke nimmt mit dem Blutkörperchen
auch den darin enthaltenen Malariaerreger auf;
derselbe vermehrt sich in ihr, und beim Saugen
ati einem gesunden Individuum überträgt sie Sporen
des Malariaparasiten auf dieses. Grassi zeigte
durch den Versuch, daß man in den gefürchteten
Fiebergegenden unbedenklich weilen, selbst im
Freien übernachten kann, wenn man sich nur vor
der Anophelesmücke, der Trägerin des Malaria-
kcinis, schützt.
Schon den .Alten war es bekannt, daß durch
Entwässerung die Gesundheitsverhältnisse in einem
wegen des Fiebers verrufenen Land gebessert
werden konnten. Der Grund, warum dies infolge der
Trockenlegung eintrat, blieb neuerdings noch
Jahrhundertelang unbekannt. Jetzt wissen wir,
daß die Zahl der Überträger der Krankheit und
somit auch die der Krankheitsfälle dort geringer
sein, eventuell verschwinden muß, weil die Ano-
lihelesmücke aus einer in Gewässern lebenden
I.arvc entsteht. Alles, was die Larve vertilgt,
kommt also auch der Gesundung des betreffenden
Landes zugute.
In der Sitzung der Pariser Akademie der
Wi-ssenschaften vom 9. Okt. 1916 berichtet
Jean Legendre über die Erfahrungen, welche
man mit der Einbürgerung von Süßwasserfischen
bezüglich der Mückenvertilgung in den fran-
zösischen Kolonien gemacht hat. (Destruction
des moustiques par les poissons. Presentee par
Ed. Perrier. C. R. Ac. sc. Paris Nr. 15, 1916.)
Für die Reisfelder in den Kolonien kämen
namentlich solche Cypriniden in Betracht, welche
in ruhigem warmem Wasser gediehen. Der
Generalgouverneur der Insel Madagaskar, deren
Reisfelder eine Fläche von über 300000 Quadrat-
kilometern einnehmen und deren Bevölkerung
vom Sumpffieber dezimiert wurde, hätte es ihm
ermöglicht, in der Bannmeile von Tananarivo dies-
bezügliche Versuche vorzunehmen. Er hätte zu
dem Zweck zwei Arten von Cypriniden eingeführt,
den Spiegelkarpfen aus Frankreich und Maillard-
Karpfen von der Insel Reunion. Er hätte außer-
dem Versuche mit dem Goldfisch (Carassius
auratus) angestellt und gefunden, daß der Goldfisch
in den Reisfeldern Mückenlarven vertilgte und
ungemein schnellwüchsig würde. Dafür wolle er
nun ein Beispiel angeben. Ende Januar 1916
148
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
hätte man auf ungefähr i ha 1300 Fische im
Gesamtgewicht von 6 kg ausgesetzt; dieselben
vermehrten sich in 5 IVIonaten auf 18000 Stück
im Gesam.tge wicht von 120 kg; das schwerste
Stück wog 1 59 g. Daraus ginge hervor, daß der
Goldfisch in den Reisfeldern außerordentlich gut
gedeihe. Derselbe nähme, wie die Magen-
untersuchungen zeigten, an der Vertilgung der Ano-
pheleslarven intensiven Anteil, trage also wesent-
lich zur Sanierung des betreffenden Landstriches
bei. Kathariner.
Geologie. Das französisch -lothringische Indu-
striegebiet, besonders das Becken Briey-Longwy,
bildet nach Joh. Wütschke (Geographischer
Anzeiger S. 164, 1916) zusammen mit dem deutsch-
lothringischen und luxemburgischen Erzgebiet wie
mit dem südlicher gelegenen Becken von Nancy
das lothringisch-luxemburgische Minetterevier, das
am Ostrande des Pariser Beckens gelegen ist. Die
Mi nette ist ein 30— 40"^, phosphorhaltiges ooli-
thisches Eisenerz, welches in kalkigen und mehr
kieseligen Lagen vorkommt und so durch Mischung
eine unmittelbare Verhüttung ohne Zusätze ermög-
licht. Es sind ursprüngliche Meeresablagerungen,
die dem unteren Dogger angehören.
Der reiche \\'echsel harter und weicher Schichten
hat ein vielgestaltiges Landschaftsbild geschaffen.
Auf der Fahrt von Metz nach Longuyon-Montmedy
fallen 2 Geländestufen auf, die sich auch in der
langsamen Fahrt des Zuges von beiden Seiten
her bemerkbar machen; einerseits die Moselhöhcn
mit der Woevre-Ebene (Lias-Dogger), andererseits
die mehr gegen das Beckeninnere (nach Frankreich
hinein 1) gelegenen Maashöhen (Cote Lorraine, aus
Malm bestehend).
Der nördliche Teil der Woere-Ebene, etwa die
Gegend östlich der Bahn Conflans-Longuyon bis
zu den Moselhöhen, ist der wichtigste Teil des
französisch lothringischen Industriegebiets und um-
faßt das Becken von Briey-Longwy. In die ein-
tönige Hochebene sind die Täler der unteren
Orne, Crusnes, Chiers usw. tief eingeschnitten.
Weiter nordwärts im nordöstlichen Zipfel F'ranzö-
sich-Lothringens, Südbelgiens und Südluxemburgs
wird die Landschaft mit ihren tiefen Tälern und
romantischen Schluchten reizvoller. Überall deuten
Hochöfen, Fördertürme und Schornsteine darauf-
hin, daß wir uns inmitten des Erzgebietes befinden.
In den Tälern der Chiers, F>nsch, Orne und ihrer
Nebenflüßchen ist teilweise Tagebau möglich, weiter
westwärts um Conflans und Landres sind Schächte
bis über 200 m Tiefe abgeteuft. Die Verhüttung
ist auf einige engbegrenzte Gebiete beschränkt;
in F"ranzösisch-Lothringen um Briey und Longwy
mit ca. 50 Hochöfen, in Deutsch-Lothringen im
Ornetal (de Wendel), im FenSchtal (de Wendel),
Moseltal (Röchling bei Diedenhofen, Stumm bei
Uckingen) und um Deutsch Oth (Gelsenkirchener
B.A.G.) mit zusammen 60 Hochöfen, in Luxemburg
bei Esch, Differdingen und Petingen mit 30 Hoch-
öfen und in Belgien um Halanzy und Athus mit
6 Hochöfen.
Der abbauwürdige Vorrat an Minetteerzen wird
in F'ranzösisch- Lothringen auf 3 Milliarden t ge-
schätzt gegen nahezu 2 Milliarden t in Deutsch-
Lothringen und ^j^ Milliarde t in Luxemburg.
Der etwa 5 Milliarden t betragende Erzvorrat
entspricht einer Roheisenmenge von etwa iV., Mil-
liarden t. Es sind das ungeheure Werte, von
denen der Hauptanteil auf Frankreich entfällt. Die
Erze kommen uns heute um so mehr zu gute.
Die Förderung betrug:
Franz.Lothr. Deutsch-Lothr. Luxemburg
1872 1009000 t 678000 t I 174000 t
1892 2928000 „ 3571000 „ 3370000 „
1902 4129000 ,, 8753000 „ 5130000 „
1913 18499000 „ 21 134000 „ 7331000 „
Aus diesen Zahlen geht hervor, daß Frankreichs
Förderung seit 1892 von Deutschland überflügelt
worden ist.
DieGesamteisenförderung von Frankreich betrug
1912 18500000 t, wovon 93*'/o (17235000 t)
auf F"ranzösisch-Lothringen entfallen. Wir sind also
augenblicklich im Besitze fast der gesamten Eisen-
erzförderung Frankreichs. Die französisch-lothrin-
gischen Erze hatten schon im Frieden eine große
Bedeutung für unsere deutsche Roheisenproduktion.
Die Erzausfuhr nach Deutschland ist von 900 000 t
im Jahre 189S auf über 3 800 000 t im Jahre
1913 gestiegen. Etwa 20"/,, der in P"ranzösisch-
Lothringen geförderten Erze wandern nach Deutsch-
land, wo eine ständig wachsende Plisenindustrie
ihrer bedarf Den Wert der französisch lothringi-
schen Eisenerze hat Geh. Rat F'rech auf ca.
8 Milliarden Mark geschätzt, also das Doppelte der
Kriegsentschädigung von 187 1.
Wir haben somit ein gutes Faustpfand in unseren
Händen, das uns im Kriege wertvolle Dienste
leistet und das wir unbedingt uns angliedern
müssen. Der P'ranzose allerdings denkt anders.
Er trachtet nach unseren Kalisalzlagern im Ober-
el>aß und nach unserem lothringischen Erzgebiet.
Da er mit den Erzen allein bei der in PVankreich
herrschenden Kohlenarmut nichts anzufangen ver-
mag, so möchte er auch noch nach'den Kohlen
des Saargebietes greifen. Demgegenüber ist zu
betonen, daß die Angliederung des französisch-
lothringischen Minettereviers Briey-Longwy für
die deutsche P.isenindustrie und wegen des etwa
1,2 — 1,6"/,, betragenden Phosphorreichtums der
Minette (Thomasmehl) auch für die deutsche Land-
wirtschaft eine Lebensfrage ist. V. Hohenstein.
Die Bodenschätze Elsaß - Lothringens werden
in einem Vortrag des Straßburger Geologen
Leopold vonWerveke (Schriften der Wissen-
schaftlichen Gesellschaft in Straßburg) zusammen-
fassend behandelt.
In erster Linie sind Kohlen zu nennen. Doch
sind die P^rwartungen, die man an die Bohrungen
N. !■ . XVI. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliclie Woclienschrift.
149
in Französisch- l.othringen geknüpft hat, nicht so
erfreulich gewesen. In der Kreuzwalder Ebene
findet sich das Kohlengebirge bei Rossein unter
einer Bedeckung von 75 m, in Spittel unter 172 m.
Unter Muschelkalk lagert es in Falkenberg bei
590 m, in Baumbiedersdorf bei 405 m und in
Bolchen bei 462 m Tiefe. InFranzösisch-Lolhringen
liegt bei P^ply die Kohle 659 ni und bei Greey in
955 m Tiefe. Bei Fply hat man zwischen 1273 m
und 1505 m Tiefe 8, davon 7 abbauwürdige Flöze
gefunden. Bei Dombasle fand man unter 4 Flözen
3 abbauwürdig. Ebenfalls 4 bauwürdige Flöze wies
man bei Aboucourt nach. Hohe Temperatur und
allzu reichliches Wasser werden einen gewinn-
bringenden Abbau erschweren. Weitere Bohrungen
waren aussichtslos und in Luxemburg ist mit
einem Vorkommen der Kohlenformation nicht zu
rechnen. Auf deutsch -lothringischem Gebiete
liegen die Saarbrückener Schichten nur in einem
Sattel, nicht aber an den Flügeln, in denen nur
die flözarmen Oitweiler Schichten angetroffen
wurden. Mit der Tatsache, durch neuere Bohrungen
günstigere Aussichten zu bekommen, darf nicht ge-
rechnet werden.
Von Bedeutung ist das Kohlenbecken von
Ronchamp am Südfuß der Vogesen. Es reicht
zwar nicht bis ins Gebiet des Reichslandes, aber
der Vorrat von Fett- und Kokskohle wird als sicher
3 Millionen Tonnen, wahrscheinlich noch weitern
3 Mill. Tonnen, möglicherweise 10 Mill. Tonnen
angegeben.
Aus dem Rotliegenden und dem Buntsandstein
sind keine Erzlager bekannt geworden, wohl aber im
Vogesensandstein und Oberen Buntsandstein Durch-
setzungen von Blei- und Kupfererzen, die in der
Gegend von Hargarten, Lubeln und St. Avold
früher abgebaut wurden.
Salz lagert in Lothringen im mittleren Muschel-
kalk und im unteren Keuper. Das Gebiet zwischen
Saralben, Mulsach, Luneville, Nancy und Salzburg
ist salzführend. In einer Bohrung bei Duss (Dieux)
wurden im Salzkeuper in 19 Lagern 70 m Salz,
im mittleren Muschelkalk in 6 Lagern 15,65 m
Salz angetroffen. Bergbau auf Salz betreibt man
nicht mehr. Alles Salz gewinnt man aus Solen,
während in Französisch Lothringen das Salz so-
wohl durch Bergbau als auch durch Solen ge-
wonnen wird. 1905 wurden in Deutsch-Lothringen
I 475070 m Salz gewonnen. Auf der Salzgewinnung
baut sich die Sodabereitung auf. Die Nester von
Polyhalit in der Keupersalzlagerstätte sind für einen
Abbau zu wenig mächtig, wie nach L. v. Wer-
veke in Deutsch- sowie Französisch-Lothringen
keine Kalilager zu erwarten sind.
In der mittleren Abteilung des Muschelkalkes
und in dem Roten Mergel des Keupers findet sich
Gips, der aus Anhydrit entstanden ist.
Die Keuperkohlen bei Balbronn im Elsaß, bei
Pieblingen und Hilsprich in Lothringen sind wegen
des Reichtums an Eisenkies (bis 58 "/o) "'cht ab-
bauwürdig.
Toneisensteinknollen aus dem Keuper im Wald
von Walwingen wurden früher für die Hochöfen
von Kreuzwald ausgebeutet.
L. v. Werveke weist auf den Posidonien-
schiefer des Oberen Lias hin als Lieferant von
Öl, der in Lothringen wegen seiner ungestörten
Lagerung mehr als im Elsaß dazu geeignet ist.
Die wichtigen Eisenerze aus dem Unteren
Dogger, die sogenannten Minetten, deren Ver-
breitung in Lothringen zur Grenzfestlegung nach
dem Kriege 1870/71 von Einfluß war, sind auf
größerem Räume verteilt, wie man damals ange-
nommen hatte. Aber auch heute halten wir be-
setzt, was die Franzosen nach 1871 auf ihrem
Gebiete neu entdeckt haben. Die Minetten ver-
teilen sich auf zwei Becken; das eine liegt bei
Nancy auf französischem Gebiete, das andere bei
Briey verteilt sich auf französisches und deutsch-
lothringisches Gebiet. Sie reichen auch nach
Luxemburg und Belgien hinein. 70 — 80 000 abbau-
würdige Lager verteilen sich so, daß 40—50000 ha
auf Französisch-Lothringen, 27 — 2800 ha auf
Deutsch-Lothringen und 2500 ha auf Luxemburg
kommen. Belgien bekommt davon nur einige
hundert Hektar. Nach der Meinung von Fach-
leuten stimmen die Angaben nicht ganz und es
wäre zu wünschen, wenn neue Beobachtungen
über die Verbreitung der Minetten gesammelt
würden. Einen weiteren bedeutenden Wert
besitzen die Minetten wegen ihres Phosphor-
gehaltes, den man der deutschen Landwirtschaft
zuführt. Seit 1874 entphosphorisiert man die
Minetten, gewinnt Stahl daraus, während die
Schlacke den Phosphor bindet. Die Thomas-
schlacken haben unsrer Landwirtschaft in dem
Kriege großen Nutzen gewährt, da alle Einfuhr
von Rohphosphaten aufhörte.
Wichtig sind die tertiären Bohnerze, die früher
trotz ihrer geringen Mächtigkeit von i- — 2 m,
selten 5 m im Kreise von Altkirch und Hagenau,
in Lothringen westlich der Mosel abgebaut wurden.
Im Eocän lagern Braunkohlenlager, die ebenfalls
früher im Unterelsaß bei Buxweiler und Lobsann
von 1816 — 1881 abgebaut wurden. 0,50 — 2,00 m,
selten 2,20 m ist sie bei Buchsweiler mächtig,
enthält aber in den oberen 0,50 m 12 — 13% Eisen-
kies, aus dem man Alaun gewann.
Im Oberelsaß erbohrte man bei Niederbruck
in 445 m Tiefe Steinsalz mit Kalisalz. Zwei
Lager Kalisalze hat man bis jetzt entdeckt. Die
Kalisalze sind Sylvinit, Sylvin und Chlornatrium.
Das untere Lager ist 4,15 m, das obere 1,16 m
mächtig. Bei einer Flächenausdehnung von 172 qkm
für das untere Lager hat man 6o3 250000cbm be-
rechnet, für das untere 84 qkm große 1 7 750000 cbm.
Dem Werte nach sind für gegen 50 Milliarden Mark
Kalisalze dem Boden eingelagert. Nach der Bur-
gundischen Pforte hin sind Kalifunde aussichtslos.
Im Unteroligocän des Unterelsaß findet sich
Petroleum und gegen das Mitteloligocän hin zeigen
sich Asphaltablagerungen. „Keine der zahlreichen
Bohrungen im Oberelsaf.^ hat Ol in nennenswerter
ISO
Natuiwissenschaftliclic Wochenschrift.
N. R XVI. Nr. I
Länge aufgeschlossen. Das Salzgebiet schließt,
wie es scheint, das Erdölvorkommen aus." Nur
das Pechelbronner (Tcbiet läßt Petroleumschätze
erwarten. Asphalt ist nur auf eng umgrenztem
Gebiet nachgewiesen. Zu bituminösen Schiefern
gehören die Fischschiefer des mittleren Oligocäns,
aus denen Bitumen zu gewinnen ist.
Die diluvialen Eisenerze, die ehemals ge-
wonnen wurden, bieten keine Aussicht wieder,
abgebaut zu werden. Gold enthält der Rheinkies,
dessen Gewinnung daraus durch die Reinkorrektion
und die Steigerung des Tagesverdienstes zum Er-
liegen gekommen ist. Daubree berechnete den
Goldwert aus den Rheinkiesen zwischen Rheinau
und Philippsburg auf 1 14 ',,, Mill. Gold.
Torf findet sich an verschiedenen Stellen des
Reichslandes in der Umgebung von Siürzelbronn,
Neudörfel, Dambach, Haspelheid, im Gebirge auf
der Nordseite und Westseite des Weißen Sees,
auf dem Hochfelde, am Schneeberg, am Donon
und bei Salm. (g. c.) Rudolf Hundt, z. Z. i. F.
Über den Krusteneisenstein in den deutsch-
afrikanischen Schutzgebieten. — In den afrikanischen
Tropen treten im Boden weitverbreitet harte Eisen-
krusien auf, die man in der älteren Literatur viel-
fach Raseneisenstein, in der neueren als Laterit
bezeichnet hat. Da für die Begriffsbestimmung
des Laterits mehr und mehr die chemische Be-
griffsbestimmung M. Bau er 's, in welcher be-
sonders auf den Gehalt freier Tonerde verwiesen
wird, eingebürgert ist, so schlägt W. Koert')
den Namen Krusteneisenstein vor. W. Koert
hat solchen eingehend in Togo und im Hinter-
lande von Tanga (Deutsch Ostafrika) studiert.
Der Form nach sind unter den Kisenkrusien zu
unterscheiden: Rinden, welche zumeist aus zahl-
reichen dünnen Lagen von dichtem Brauneisen ge-
bildet sind; Konkretionen wie Knauern und Bohn-
erz; Bindemittel im Sand, Kies und Gesteinsschutt,
welche zu Eisensandsteinen, Konglomeraten und
Breccien verkittet sind; Imprägnationen z. B. in fein-
sandigen Schiefertonen. Alle diese sind von Koert
chemisch und mineralogisch sorgsam untersucht
worden. In Togo fehlt der Krusteneisenstein gänzlich
auf der sandigen, alluvialen Nehrung der Togoküste,
auf den tonigen Bildungen der hinter der Nehrung
gelegenen, zeitweise austrocknenden Lagune und
in den tonigen und sandigen Flußalluvionen, in
welchen gelegentlich hÄhstens eisenschüssige
Tone angetroffen werden. Auf dem fluviatilen
Diluvialgüriel des südlichen Togo tritt Krusten-
eisen noch wenig hervor, nur im Steilufer der
Lagune war ein Maschenwerk von Eisensandstein
im grünlichgrauen sandigen Lehm als beginnende
Bildung einer Eisenkruste anzusehen. Eine ober-
flächliche Eisenkruste ist aber im Süden des
') Beiträge zur geologischen Erforschung der deutschen
Schutzgebiete. Heft 13: W. Roert, Der Ivrusteneisenstein
in den deutsch-afrikanischen Schutzgebieten, besonders in
Togo und im Hinterland von Tanga. Berlin 1916.
Diluvialgürtels noch nirgends vorhanden, dies ist
erst am Nordrande des Gürtels der Fall, wo im
t^bergang zu der noch auf primärer Lagerstätte
befindlichen Verwitterungsboden des altknstallinen
Gebietes größere Blöcke auf einer mit Busch und
Ölpalmen bedeckten Platte auftreten. Häufiger
trifft man Krusteneisenbildungen auf den Rumpf-
ebenen des südlictien und östlichen Togo, welche
in das aus Gneisen und alten Tiefengesieinen ge-
bildete Grundgebirge eingeschnitten sind. Von
hier werden überaus wertvolle Profile von Brunnen -
bohrungen und Bahnbauten mitgeteilt, welche
zeigen, daß Krusteneisen häufig unter humosen,
meist sandigen Oberkrumen auftritt. Auf dem
Togogebirge sind W. Koert 's Krusteneisen
hauptsächlich in dem plateauartig entwickelten
Teil, weniger im Bereich der Ketten und der
Vorberge. Auf den Gipfeln und Kämmen wurde
es nicht beobachtet, sondern höchstens an den
Flanken. Im Westen wird das Togogebirge von
Vorgebirgen und Vorhügeln begleitet, welche
sich aus den stark gestörten Sedimenten der wohl
paläozoischen Buemformation zusammensetzen. In
dieser Schollengebirgsiandschatt findet sich Krusten-
eisen hauptsächlich in den Längstälern und auf
den Stufen zwischen den Gebirgsteilen, weniger
auf den Rücken und Hügeln. Der Nordwesten
Togos wird von einem weiten Becken durchzogen,
dessen Schichten, Schiefertone mit Kalklagen und
Sandsteine, wahrscheinlich mesozoischen Alters
sind. Die Schichten liegen flach, außerdem
herrscht nur geringes Gefälle, so daß während der
Regenzeit weite P'lächen unter Wasser stehen und
versumpfen. Hier ist vielfach Krusteneisen flächen-
artig verbreitet und hat nicht selten auch beträcht-
liche IVlächtigkeit. So sah W. Koert an einer
Stelle ein kleines Gewässer über eine i in hohe
Stufe von Krusteneisen herabfallen. Die Stufe
war unterspült und zahlreiche große Blöcke von
ihr abgebrochen.
Bei Tanga und dessen Hinterland in Deutsch-
Ostafrika weisen schon die Diluvialschichten
deutlich Anfänge der Krusteneisenbildung auf.
In einem Siraßeneinschnitt sah W. Koert 1902/3
einen grünlichgrauen Lehm mit haselnußgroßen
Brauneisenknauern erfüllt. 11 Jahre später war
die Wand des Einschnittes stark verfestigt und
von löcherigen Eisenkrusten durchzogen. Weiter
andeinwarts war Krusteneisen auf den Karoo-
schichten weit verbreitet, wo ebenfalls während
der Regenzeil starke Überschwemmungen herrschen
und Parklandsciiaft auftritt. Dagegen lehlt Krusten-
eisen in der Rumpfebene von Bamba, deren Boden
eluvialer Rotlehm bildet, welcher von Hoch- und
Buschwald bestanden ist. .An der Südostseite von
Ostusambara, wo noch 1902 Baumsavanne vor-
herrschte, fand sich Krusteneisen häuhg, während
es im Gebirgslande von Ostusambara fehlte. Hier
waren im Lateritlehm gelegentlich eisenreiche
dichte Konkretionen ohne den Lagen- oder
Schalenbau der Krusteneisensteine zu finden. Aus
anderen Teilen Deutsch-Ostafrikas werden diese
N. I<'. XVI. Ni
Naturwlsseiiscliaftliclic VVocheiisclirift.
nach Literaturstellen nachgewiesen, ferner z. T.
nach Sammlungsproben aus Kamerun und Südwest.
Den Eingeborenen hat früher Krusteneisenslein
vielfach als tisenerz zur Verhüttung gedient, doch
erreicht der Eisengehalt selten 30 "/„. Als Eisen-
erz im europäischen Sinne kommt es nicht in Frage.
Dagegen ist es ein wertvolles Schottermatenal,
auch vermögen die Eingeborenen einen brauch-
baren Estrich daraus herzustellen. Agronomisch
ist Krusteneisen als sehr schlechter Boden an-
zusehen, doch gedeiht \'amskultnr auf dem mit
Knauern und Bohnerz durchsetzten Boden, während
Baumwolle auf einem solchen schlecht gedeiht.
Da VV. Kocrt Krusteneisenstein hauptsächlich
bei Savannenvegetation fand, so muß nach seiner
Ansicht dieser die bezeichnende Oberflächenbildung
der Savanne bilden. Zu einem beträchtlichen
Teile seien beide das Werk des mit dem Feuer
rodenden und jagenden Menschen. Doch war an
der Ostseite des Viktoriasees Krusteneisen bereits
in voruniermiocäner Zeit gebildet. Den Haupt-
anleil an der lagenweisen .Ausbildung der Rinden
habe die periodische V^ersumpfung während der
Regenzeit, w-elche Eisen- und Manganverbindungen
zur Lösung und zum Absatz als kolloide Oxyd-
hydrate bringt. Stramme.
Bücherbesprechuugen.
H. Boruttau, Fortpflanzung und Ge-
schlechtsunterschiede des Menschen.
„Aus Natur und Geisteswelt", Bd. 540. Leipzig
1916, B. G. Teubner.
Dieses neue Bändchen der Te ubne r 'sehen
Sammlung gibt eine Zusammenfassung vieler
schon geraume Zeit bekannter Tatsachen aus der
.Sexualbiologie, es gewährt aber auch einen Ein-
blick in die neuesten Forschungen auf diesem
Gebiet. Wir lesen zunächst von den anatomischen
Erscheinungen bei der Fortpflanzung der Ein-
zelligen und denen der geschlechtlichen Fort-
pflanzung, sodann über die physiologischen Grund-
lagen der Befruchtung. Es folgt eine Besprechung
der Geschlechtsunterschiede und der allmählichen
Entwicklung der Geschlechtsfunktion bis zu ihrem
Erlöschen. Dabei wird auch der Geschlechts-
bestimmung gedacht. Zwei volle Kapitel sind
den modernen I-'orschungen über die Funktion
der Geschlechtsdrüsen, insbesondere auch ihrer
inneren Sekretion und Korrelation mit anderen
Drüsen und ihrem Einfluß auf die Geschlechts-
merkmale, eins den Beziehungen des Geschlechts-
lebens zum Nervensystem (Geschlechtsirieb !) ge-
widmet. — Von den Erscheinungen der Brut-
pflege bei den höheren Tieren leitet Verf. sodann
auf die Rolle des weiblichen Geschlechts im
Leben der höheren Tiere und des Menschen über
und kommt so auch zu einer biologischen Be-
trachtung der Frauenfrage. Ein Schlußkapitel ist
den für die Erhaltung der Art wichtigen Faktoren
gewidmet. Hiermit ist in ganz kurzen Umrissen
der Inhalt des Buches angedeutet. Im einzelnen
hat es einen erstaunlich reichen Inhalt und ist
dabei so klar geschrieben, daß es auch einem
Neuling verständlich und lehrreich sein wird.
Hübschmann.
K. Baisch, Gesundheitslehre für Frauen.
„Aus Natur und Geisteswelt", Bd. 5 38. Leipzig
1916, B. G. Teubner.
„Die Unkenntnis unserer Frauen und Mädchen
über ihren eigenen Körper, seine einzelnen Organe
und Aufgaben ist unglaublich groß. Es muß im
Interesse der kommenden Generationen als eine
dringende Aufgabe angesehen werden, den künftigen
Müttern klarere Vorstellungen über alle diese sie
am nächsten berührenden Dinge zu vermitteln.
Alle Gründe , die rückständige Prüderie gegen
diese Aufklärungsarbeit anführt, sind leicht zu
widerlegen. Der überreiche Zuspruch, den Vor-
träge und Lehrkurse über diese Gegenstände beim
weiblichen Publikum aller Kreise finden , ist ein
untrügliches Zeichen, daß ein lebhaftes Bedürfnis
nach einer solchen Fortbildung besieht, und wir
haben nicht nur das Recht, sondern vielmehr die
zwingende Verpflichtung, dieses Bildungsbedürfnis
zu fördern und zu befriedigen. Sache der Lehrenden
ist es, den richtigen Mittelweg zwischen ober-
flächlichem Dilettantismus und spezialärztlicher
Detaildarstellung zu finden."
Das sind Worte des Verf. selbst, denen ich
mich anschließen möchte, indem ich zugleich be-
tone, daß ihm die Darstellung in seinem Sinne
wohl gelungen ist. Wir lesen in 9 Kapiteln von
dem Bau und den Funktionen der weiblichen
Geschlechtsorgane, von der Menstruation, von der
Hygiene der Kindheit und der Pubertätsjahre, von
den Gefahren des Geschlechtsverkehrs, von der
Hygiene der Schwangerschaft, der Geburt, des
Wochenbetts, der Wechseljahre und endlich von
der Verhütung der Frauenkrankheiten. Das Büch-
lein kann allen Kreisen warm empfohlen werden.
Hübschmann.
Leopold Löhner, Pri v.-Doz. Dr., DieExkretions-
vorgänge im Lichte vergleichend-
physiologischer Forschung. (Sammig.
anatom. u. physiol. Vorträge u. Aufsätze, Heft 28).
Jena 1916. — Preis o,.So M.
Durch jeden Organismus ergießt sich dauernd
ein Strom von Stoffen. Der Austritt der Stoff-
wechselendprodukte aus dem Stoffwechsel des Orga-
nismus ist (im weitesten Sinne) als Exkretion zu
bezeichnen. So unendlich mannigfaltig die Auf-
nahme von Stoffen in den Organismus ist, ebenso
mannigfaltig die verschiedensten Methoden der
Abgabe. Die vorliegende Arbeit will einen
knappen Überblick über diese Mannigfaltigkeit
geben , indem sie versucht , die verschiedenen
IS2
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 11
Methoden der Kxkreliun nach Ähnlichkeiten zu
gruppieren und die Gruppen nach Differenzierungs-
stufen zu ordnen.
Zunächst wird eine U e f i n i t i o n der Exkretion
gegeben als „Ausscheidung der nichtgasförmigen
Abfallstoffe unter Ausschluß der unresorbierten
Nahrungsreste" (nach Burian), wobei leider das
Wort „Abfallstoff" bereits sehr schwer zu be-
handeln ist, weil sich ein Gegensatz zur Sekretion
so schwer begriinden läßt: wie wollen wir den
„Nutzen" erkennen? Besser wäre es, als Defini-
tion das Prinzip zu wählen: „die Beseitigung, d. h.
also Unschädlichmachung der Stoffwechselend-
produkte".
Dann wird ein System versucht, das in seinen
Hauptteilen erstens die räumliche Trennung der
Abfallstoffe von der Zelle (Zellularexkretion),
zweitens die räumliche Trennung von dem Orga-
nismus (Individualexkretion) enthält. Die Zell-
arbeit erfolgt im ersten Fall im ganzen Umfang
der Zelle oder an besonderen Fxkreiiünspunklen
oder durch besondere Organellcn. Die Individual-
exkretion dagegen geschieht auf sehr mannig-
fache Weise: direkt durch Ausscheidung in Leibes-
höhlen oder an Oberflächen, indirekt durch Trans-
port vermittels Wanderzelleii oder durch Auf-
sammlung in bestimmten Emunktorien (Burian).
Die einzelnen Typen sind gekennzeichnet durch
Benennung der betreffenden Tierarten, bei denen
sie, wieder mannigfach variiert, vorkommen, was
den Vorteil hat, daß dem Zoologen viele Tier-
gattungen vorgeführt werden, aber den Nachteil,
daß nur er ein wirkliches Bild der Differen-
zierungssteigerung bekommt, da der Vortrag sich
jeder Einzeldarstellung und jedesßildes enthält. Dem
Fachmann aber bietet sich eine recht interessante
Gedankenarbeit zur vergleichenden Physiologie,
die sich müht, eine ebenbürtige Schwester der
älteren vergleichenden Anatomie zu werden.
Gottwalt Chr. Hirsch.
Anregungen und Antworten.
Vor wenig Wochen brachte die Frankfurter „Umschau"
eine Mitteilung von W. Lamprecht über ein von ihm zu-
fällig in dem fernen, hoffentlich in nicht zu langer Zeit wieder
reichsdeutschen Milau in dessen kurliindischem Museum auf-
gefundenes „eigentümliches llerbar", über eine in die Form
von Büchern gebrachte Sammlung von 45, zum Teil nicht
kurländischen Hölzern. Er konnte feststellen, daß sie von
einem Generalleutnant is'icol. Friedr. Gg. von Korff,
zweifellos von einer seiner vielen Reisen nach Deutschland
mitgebracht, und nach seinem Tode im Jahre 1823 etwa dem
Museum gespendet worden ist. Bald darauf teilte Prof.
Seb. Hillermann aus Regensburg mit, dafl auch dort ein
ähnliches Herbar sich befände, und daß von einem Kardinal
Haynal, einem berühmten Botaniker, ein anderes dem
Museum in Budapest vererbt worden sei, das er dort zu
sehen Gelegenheit gehabt hätte. Die beiden Sammlungen
gehen auf eine zurück, über die ich im Jahre 1905 schon in
einer offenbar nur sehr wenig bekannt gewordenen Schrift
„Pflanzensammlungen und Kräuterbücher mit besonderer Be-
rücksichtigung der dem Casseler Museum gehörigen", hin-
gewiesen habe. Außer dem damals ältest bekannten Ratzen-
ber ge r 'sehen liegt hier noch eine sog. „Holzbibliothek",
340 ,, Bücher", mit Säge und Hobel in Buchform gebrachte
Siücke zumeist von Hölzern aus den weltbekannten herr-
lichen den bei der Stadt gelegenen damals landgräflichen
Parkanlagen. Ihr Kücken zeigt die charakteristische Rinde
mit ihren Epiphylen; in dem .ausgehöhlten Innern sind
Blätter, Blüten, die auf dem Baume lebende Tierwelt, phyto-
chemische und technische Angaben usw., schön übersichtlich
angebracht, ähnlich, aber natürlich wesentlich anscliaulichcr
als es in den vielen Abbildungswerken geschehen kann.
Karl Schildbach, seit 1771 der Verwalter der von Land-
graf Carl angelegten, jetzt nur dem Namen nach noch be-
kannten „Menagerie" (kein geringerer als Sömraerring hat
seine Studien an Präparaten angestellt, die aus ihren Resten
angefertigt wurden, und Goethes Augen haben hier mit
Interesse auf ihnen geruht!), hat, als der sparsame Nach-
komme Wilhelm IX. sie eingehen ließ, als Direktor der
•Jkonomie Weißenstein sich die Mühe gemacht, nach von ihm
erdachten Plan die Sammlung anzufertigen. „Die Arbeit
stellt vom wissenschaftlichen Standpunkt sich als eine äußerst
geistreiche und zweckentsprechende dar und verdient auch
von rein technischem Standpunkt die größte Hochachtung.
Durch Beigabe von Präparaten, wie sie die moderne Zeit er-
möglicht, durch Beigabe weiterer Ergebnisse phytochemischer
Arbeiten usw. ergänzt, gäbe sie oder ihres gleichen ein un-
übertreffliches Lehrmittel ab", sagte ich damals, und ich bin
der gleichen Meinung auch jetzt noch. Camper, Buffon,
Günderode, der Gießener Professor Müller zollten ihr
uneingeschränktes Lob und stellten sie weit über die Gleiches
bezweckenden von Albert Seba, Ilitzcl in Coblenz und
eine Holzsammlung in Dresden. 1788 schon erschien im
nd für Deutschland" eine Beschreibu
ng aer
Seh ildbach 'scheu Holzbibliothek, 1816 starb der
schlägische Mann, nachdem es ihm gelungen war, sein Werk
für ein lebenslängliches Ruhegehalt von 450 Tl. jährlich, dem
Landgrafen zu verkaufen. Wenngleich die Casseler Samm-
lungen bis in die preußische Zeit kaum, und dann nur gegen
ein hohes Eintrittsgeld, das in die landgräfliche, dann kur-
fürstliche Tasche geflossen sein soll, dem Volk zugängig
waren, drängten sich doch viele Fremde, darunter Ritler vom
Geiste dazu , die Wunder der Stadt zu sehen. Daß unsere
Sammlung auch in Rußland bekannt war, erhellt daraus, daß
Kaiserin Catharina dem Verfertiger 2000 Taler für sie ge-
boten hat. Jene Sammlung in Dresden, die Prof. Ernst
Dominik Wittmann angelegt hat und von der 1812 viel
„Spektakel" gemacht wurde, stützte sich gewiß auch auf die
Seh il d bach 'sehe, das Mitauer und das Regensburger und
Budapester tun es aller Wahrscheinlichkeit auch. Die Holz-
bände machen auf jeden Beschauer in der Tat den allerbesten
Eindruck und erwecken den Wunsch des Besitzes. Für Lehr-
zwecke kann ich mir, wie schon gesagt, kaum etwas zweck-
mäßigeres denken. Hermann Schelenz.
Inhaiti S. Killermann, Der Alraun (Mandragora). (4 Abb.) S. 137. Wilhelm von Reicbenau, Der Sang der
Unsichtbaren im Föhrenwalde. S. 144. — Einzelberichte: O. Laurent, Transplantation. S. I46. Amar, Weir-
Mitschell'sche Phänomen. S. 147. Jean Legendre, Mückenvertilgung durch Fische. S. 147. Joh. WUtschke,
Das französisch-lothringische Industriegebiet, besonders das Becken Briey-Longwy. S. 148. Leopold von Werveke,
Die Bodenschätze Elsaß-Lothringens. S. 148. W. Kocrt, Über den Krusteneisenstem in den deutsch-afrikanischen
Schutzgebieten. S. 150. — Bücherbesprechungen: H. Boruttau, Fortpflanzung und Geschlechtsunterschiede des
Menschen. S. 15t. K. Baisch, Gesundhcilslehre für Frauen. S. 151. Leopold Löhner, Die Exkretionsvorgänge im
Lichte vergleichend-physiologischer Forschung. S. 151. — Anregungen und Antworten: „Eigentümliches Herbar". S. 152.
Manuskripte und Zuschriften werden
Druck der G. I
Prof. Dr. H. M
Fisch
Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena,
■ätz'schen Buchdr. I.ippert .^ Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 25. März 1917.
Nummer 13.
Einige Betrachtungen über die Begriffe Parasit, Raubtier
und Pflanzenräuber.
[Nachdruck verboten.) Von Prof. Dr. O.
Über Parasiten und Parasitismus ist in der
letzten Zeit sowohl auf streng wissenschaftlichem
Gebiete wie in der allgemeinverständlichen Literatur
so oft und so viel geschrieben worden, daß man
meinen könnte, dies Thema sei nachgerade er-
schöpft. Doch eine solche Annahme müßte sich
bei eingehender Beschäftigung mit diesem ebenso
umfangreichen wie interessanten Gegenstande sehr
bald als Irrtum des urteilenden Laien erweisen;
denn der Fachmann ist sich nur zu gut bewußt,
daß beim Studium der Natur und im besonderen
der organischen Schöpfung von einer wirklich ab-
schließenden Erkenntnis kaum je die Rede sein
kann; denn für ihn bleibt das Wort eine ewige
Wahrheit, daß man sehr viel wissen muß, um zu
wissen, wie wenig man weiß. Aber auch dem
Laien, der ernstlich nach Bereicherung seiner Kennt-
nisse strebt, kann es nicht verborgen bleiben, daß
gerade die eigenartige Lebensweise, die man
Parasitismus nennt , immer von neuem zur Er-
weiterung und Vertiefung unseres Wissens anregt,
da der Mensch selbst gar zu häufig Gefahr läuft,
in den Wirkungskreis solcher Organismen hinein-
gezogen und an seiner Gesundheit geschädigt, so-
gar mit dem Tode bedroht zu werden. Haben doch
gerade die Erfahrungen, die im Laufe des schwer
auf der Menschheit lastenden Weltkrieges gemacht
sind, in nicht mißzuverstehender Weise gezeigt,
wie die gewaltigen Anstrengungen und Leiden
der wackeren Streiter für Sein und Nichtsein
unserer Zukunft noch um vieles vermehrt werden
durch jene lästigen Parasiten, die es ebenfalls nach
unserem Blute gelüstet und die uns überdies noch
mit viel schlimmeren Feinden zu infizieren ver-
mögen und so zu Vermittlern todbringender Krank-
heiten werden können. Doch über die Wichtigkeit
der Kenntnis solcher Parasiten vom sanitären
Standpunkte aus und über die großen Schwierig-
keiten, einen klaren Einblick in deren oft ver-
wickelten und geheimen Lebensgang zu gewinnen,
soll hier nicht gehandelt werden, auch soll nicht
auf einzelne, besonders interessante Vertreter aus
der gewaltigen Schar derer, die den Namen
Parasiten mit Recht verdienen, eingegangen werden
— darüber findet der Belehrungsbedürftige in
Büchern und Einzelartikeln genügende Aufklärung
— es liegt vielmehr in der Absicht des Verfassers,
auf gewisse allgemeine Fragen etwas näher •
einzugehen, die nur dann aufgeworfen und beant-
wortet werden können, wenn man das Gesamtgebiet
der parasitischen Lebensweise und deren Zusammen-
hang mit anderen Formen der Betätigung tierischen
und pflanzlichen Lebens und Kämpfens um die
Taschenberg.
Existenzbedingungen zu überschauen und damit
zu beurteilen vermag, wo wir überhaupt berechtigt
sind, von Parasitismus zu sprechen, wo die Grenzen
gegenüber anders gearteten Lebenserscheinungen
zu ziehen sind und daß sich auch hier, wie überall
im Reiche des Organischen, dem prüfenden Blicke
des Forschers allmähliche Übergänge da er-
schließen, wo der Laie schroffe Gegensätze zu
erblicken geneigt ist. Wenn ein solcher nach dem
Wesen des Parasitismus gefragt wird, so pflegt
er wohl einzelne prägnante Beispiele für diese
eigenartige Lebensweise anzuführen, wie etwa den
Bandwurm, die Trichine, vielleicht auch gewisse
auf mikroskopische Organismen zurückzuführende
Krankheitserscheinungen, aber eine Definition
des Begriftes „Parasitismus" zu geben, wird er
schwerlich imstande sein, und das ist auch keines-
wegs zu verwundern; denn die Beantwortung
dieser Frage ist auch für den Fachmann so
schwierig, daß er ihr in seinen eigenen Dar-
stellungen über diesen Gegenstand in der Regel
aus dem Wege geht und nach einigen allgemeinen
Bemerkungen kühn medias in res hineinspringt, um
über Einzelfälle zu berichten. Es ist tatsächlich
nicht leicht, eine Definition, d. h. eine scharfe Um-
grenzung und für alle Einzelheiten gültige Charak-
terisierung da zu geben, wo es sich nicht um
Dinge handelt, die lediglich der menschlichen
Psyche ihr Dasein verdanken, sondern um Vor-
gänge der „lebendigen Natur, da Gott den Men-
schen schuf hinein". Der menschliche Geist, dem
gewisse Schranken der Erkenntnis gesetzt sind,
vermag sich in einer Vielheit von Dingen und Er-
scheinungen nicht anders zurechtzufinden als da-
durch, daß er Gleiches oder genauer gesprochen,
das ihm als gleich Erscheinende von dem davon
Verschiedenen trennt, beides einander gegenüber-
stellt und durch Über- und Unterordnen ein System,
eine Art Fachwerk schafft, wie es ihm für seine
Zwecke am geeignetsten erscheint. Anders kann
er auch der unendlichen Mannigfaltigkeit der Natur
nicht gegenübertreten, und da kommt er gar
häufig in Kollision, besonders im Reiche des Orga-
nischen, wo „alles fließt", nirgends Stillstand herrscht,
ein ewiges Werden und Sichverändern sich voll-
zieht und der Tod nur ein „Mittel ist, viel Leben
zu haben". Einem solchen dauernden Entwick-
lungsprozesse gegenüber hat das Ruhebedürfnis
der menschlichen Psyche wahrlich keinen leichten
Stand. In diesen Tatsachen liegt die Begründung
für die Schwierigkeit der Definition organischer
Vorgänge, und diese wird noch dadurch erhöht,
daß eine kurzgefaßte klare Fassung, wie sie von
154
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
vornherein erwünsclit ist, selten erschöpfend, eine
allen Anforderungen entsprechende aber langatmig
und schwerfällig ausfällt. So ist es, wenn man
die Begriffe „Organismus", „Leben", „Tier", „Para-
sitismus" usw. definieren will. Bei diesem letzteren
wollen wir nun nach den einleitenden Betrachtungen
stehen bleiben.
Eine der wenigen Definitionen dieses Begriff"es
verdanken wir dem hervorragendsten Forscher auf
diesem Gebiete, unserem Rudolf Leuckart,
der in die zweite (von 1879 an veröffentlichte)
Auflage seines berühmten Werkes „Die Parasiten des
Menschen" wörtlich heriibergenommen hat, was er
bereits in der ersten (1863) ausgesprochen: „Als
Parasiten bezeichnen wir im weiteren
und eigentlichen Sinne des Wortes alle
diejenigen Geschöpfe, die bei einem
lebendigen Organismus Nahrung und
Wohnung finden." Diese Fassung ist kurz
und klar, sie läßt im großen und ganzen auch
nichts unberücksichtigt, was in das Bereich dieser
eigenartigen Lebensweise hineingehört; was viel-
leicht zu Irrungen Veranlassung geben könnte,
werden wir im Laufe unserer weiteren Betrach-
tungen noch zu berühren haben. Das Wort „Ge-
schöpfe" umfaßt Tiere und Pflanzen — und tat-
sächlich treft"en wir in beiden organischen Reichen
Parasiten. Als Erfordernis, einen Organismus so
nennen zu dürfen, steht im Vordergrunde die
Nahrung, die bei einem anderen lebenden
Organismus gefunden wird. Tiere oder Pflanzen,
die ihre Nahrung von toten Organismen entnehmen,
können nie und nimmer Parasiten genannt werden.
Man hat es alsdann mit Aasfressern, „Leichen-
würmern", Saprophytcn und Saprozoen, d. h.
Fäulnisbewohnern zu tun, und an diese reihen
sich solche Tiere an, die ihr Leben mit den un-
verdauten, nach außen abgegebenen Speiseresten
anderer zu fristen vermögen, die Kotfresser oder
Koprophagen.
Der Parasitismus ist in erster Linie eine Form
der Ernährung und, wie wir des weiteren noch
sehen werden, nicht sowohl was die Art der
Nahrung, den Nährstoff anlangt, als vielmehr
die Art und Weise, wie diese gewonnen wird.
Um auf diesen wichtigen Punkt näher eingehen
zu können, müssen wir zunächst einmal die Pflanzen
beiseite lassen und uns nur den Tieren zuwenden;
denn beide Naturreiche unterscheiden sich im all-
gemeinen wesentlich in ihrem Nahrungsbedürfnis.
Während die Pflanzen hauptsächlich anorganische
Stoffe aus dem Erdboden und der Atmosphäre
aufnehmen und durch den chemischen Prozeß in
ihren Geweben höher zusammengesetzte, organische
Verbindungen aufbauen, bedarf jedes Tier vor allen
Dingen organischer Stoffe, die sich zum mindesten
in den Resten abgestorbener Organismen, auch im
Schlamme, im Sande und in der Erde finden, wo-
mit manche Tiere ihren Nahrungskanal anfüllen.
Halten wir also vorläufig einmal daran fest,
daß die parasitische Lebensweise im wesentlichen
eine besondere Form der Ernährung: dar-
stellt. Und das offenbart sich dem Sprachkundigen
schon durch das bloße Wort; denn „Parasit", aus
dem griechischen jniQÜatioc, in fast alle modernen
Sprachen herübergenommen, bedeutete im Alter-
tume ursprünglich einen, der neben, mit oder bei
einem anderen ißt, und wurde in durchaus unver-
fänglichem Sinne ' von den beim Opfer gemein-
schaftlich und wohl auf öffentliche Kosten speisen-
den Priestern gebraucht, deren Versammlungsort
darum auch naqaaiTinv genaimt wurde und gleich-
zeitig auch das Gebäude bezeichnete, in dem die
den Tempeln zufallenden Getreideabgaben auf-
bewahrt wurden. Denn die zweite Hälfte des
Wortes (a/TOi,') heißt zunächst Weizen, Getreide,
Korn, dann auch, was daraus bereitet wird, Mehl,
Brot, und noch mehr verallgemeinert: Nahrung,
Speise, Lebensmittel im Gegensatz zu Fleisch,
schließlich sogar auch dies einbegriffen im Gegen-
satz zu Getränk. So die ursprüngliche und
einzige Bedeutung des Parasiten. Erst durch die
neuere attische Komödie erhielt das Wort eine
ganz andere, stark anrüchige Bedeutung, indem es
für die in der älteren Komödie Schmeichler
[y.olai) genannten Persönlichkeiten gebraucht wird,
die für ein gutes Gericht und leckere Bewirtung,
zu der sie sich auch ungeladen einfinden, sich zur
Zielscheibe des ausgelassenen Spottes machen oder
sich die schmachvollste Behandlung seitens des
Wirtes und seiner Gäste gefallen lassen müssen
und zu jedem Dienste benutzt werden. Diese
Gattung Komödie ist auch von den Römern nach-
geahmt, so von Plautus in seinem 'Curculio' und
von Terentius in seinem 'Phormio', wo in beiden
Fällen der Titel gleichlautend ist mit dem Namen
des im Stücke gekennzeichneten „Parasiten"; denn
auch diesen Ausdruck (Parasitus, und auch als
Femininum Parasita) haben die Römer von den
Griechen angenommen. Und so ist denn dieses
Wort zur Anwendung auf eine Kategorie von
Menschen gelangt zu einer Zeit, in der man nicht
entfernt ahnte, eine wie große Menge anderer
Organismen es gibt, die denselben Namen mit
einem gewissen Rechte verdienen, nur daß sie
für eine derartige Lebensweise nicht ebenso ver-
antwortlich gemacht werden können, wie jene
Subjekte, die uns noch heutzutage genau so be-
lästigen und darum unter der gleichen Bezeichnung
zum Vergleiche mit gewissen Tieren herausfordern.
Wir Deutschen haben für sie noch einen anderen
Namen, der, soviel uns bekannt, von keiner anderen
Sprache angenommen ist, nämlich Schmarotzer,
früher vielfach auch Schmarutzer und ferner
Schranze, besonders in der Zusammensetzung
von Hofschranze, da die „Höfe" der Großen
und Reichen die beste Entwicklungsstätte für
„Höflinge" d. h. Schmarotzer abgeben. Woher das
Wort „Schmarotzer" und das gleichlautende Zeit-
wort „schmarotzen", das seit dem i 5. Jahrhundert
bekannt ist, stammt, wie es abzuleiten ist, weiß
man nicht; ebenso ist es zweifelhaft, ob „Schranze",
gelegentlich auch als Femininum auf einen Mann
angewandt, und selten auch als Verbum (schranzen,
N. F. XVI. Nr. 12
Naturwi-ssenschaftliche Wochenschrift.
155
cl. h. sich nach Schranzenart benehmen) gebraucht,
mit dem mittelhochdeutschen Wort Schranz („d^
Riß") zusammenhängt. Schranze bedeutete übrigens
früher noch nicht den typischen Schmarotzer,
sondern einen „jungen Mann" mit der Eigenschaft
sich zu putzen, dann verächtlich den „Stutzer"
oder „Gecken", also in gewissem Sinne eine Vor-
stufe des eigentlichen Schranzen. In der Zoologie
und Botanik ist die Bezeichnung Schmarotzer voll-
kommen gleichbedeutend mit Parasit; man spricht
vielleicht häufiger von „Schmarotzerpflanzen" und
tierischen Parasiten, aber lediglich aus Gewohnheit;
jedenfalls ist das international verständliche „Parasit"
und „parasitisch" vorzuziehen, namentlich das Adjek-
tivum dem schweraussprechbaren „schmarotzerisch",
wogegen wiederum das Partizip „schmarotzend"
bequemer erscheint als „parasitierend".
Kehren wir nach dieser sprachlichen Ab-
schweifung zum Ausgangspunkt unserer Betrach-
tungen zurück, daß der Begriff des Parasitismus in
der Nahrungsaufnahme wurzelt und daß die Nahrung
der Tiere neben gewissen anorganischen Stoffen
(Salzen und Wasser) aus organischen Stoffen
bestehen muß. Diese können von anderen Tieren
und deren Produkten oder von Pflanzen herrühren,
stammen aber, da nur die Pflanze imstande ist,
aus anorganischen Substanzen organische aufzu-
bauen, in letzter Instanz aus dem Pflanzenreiche.
Für die Ernährung des Tieres sind also drei Mög-
lichkeiten vorhanden: sie leben ausschließlich von
tierischer oder ausschließlich von pflanzlicher
Kost oder verbinden beiderlei Nahrung mitein-
ander, wie es der Mensch zu tun pflegt, sofern
er nicht aus Gesundheitsrücksichten oder Schrulle
reiner Vegetarianer ist, der es aber dennoch meist
so hält wie der strenggläubige Katholike an Fasten-
tagen mit dem Fleische. Wenn diese verschiedenen
Ernährungsweisen für die Tiere in ihrer Allgemein-
heit in F"rage kommen, so können auch die Para-
siten unter ihnen keine Ausnahme machen, und
das tun sie auch nicht. Sie berechtigen uns daher,
zwischen tierischen Parasiten bei Tieren und
tierischen Parasiten bei Pflanzen, zwischen Zoo-
parasiten und Phytoparasiten zu unter-
scheiden. Wenn die Verhältnisse aber tatsächlich
so liegen, so drängt sich uns unwillkürlich die
Frage auf, woran erkennen wir dann eigentlich
den Parasiten? Er entnimmt seine Nahrung ent-
weder einer Pflanze, z. B. die Blattläuse und
Schildläuse, welch letztere im weiblichen Ge-
schlechte sogar ihren Saugrüssel dauernd in das
Pflanzengewebe versenken und darum fest mit ihm
verbunden sind, oder einem Tiere, wie etwa der
Floh, der auf Blutsaugen angewiesen ist oder der
Bandwurm, der seine Nahrung denselben Stoffen
entnimmt, die seinen Träger, seinen „Wirt" am
Leben erhalten. Dasselbe gilt aber auch von den
Nicht Parasiten, unter denen man in bezug auf ihre
Nahrung zu unterscheiden pflegt nach der volks-
tümlichen Ausdrucksweise zwischen: Alles-
fressern (Omnivora), Pflanzenfressern (Herbi-
vora) und P'l eise hfr esse rn (Carnivora). Diese
Klassifizierung ist für unsere weiteren Auseinander-
setzungen von besonderer Wichtigkeit. Der auf-
merksame Leser wird leicht eine gewisse Inkonse-
quenz in der Benennung dieser drei Kategorien,
genauer gesprochen, im Namen der dritten davon
herausmerken: warum stellt man den Pflanzen-
fressern nicht die „Tierfresser" gegenüber? Weil
man sich daran gewöhnt hat, in diesem Zusammen-
hange „F'leisch" statt „Tier" zu sagen und dabei
doch das ganze Tier zu meinen. Und das kommt
daher, daß man zu der Zeit, wo man jene Aus-
drücke einführte und sie aus dem Lateinischen zu
Termini technici erhob, in erster Linie nur die
höheren, dem Menschen selbst am nächsten
stehenden Tiere im Auge hatte und in der Um-
gangssprache das Fleisch, worunter man streng
genommen ausschließlich die Muskulatur zu ver-
stehen hat, als das allein Genießbare „Haut und
Knochen" gegenüberzustellen pflegt. Vielleicht
hat man sich auch des biblischen Sprachgebrauchs
erinnert, wo das Wort „Fleisch" in gewissen
Redewendungen nicht nur mit Tier, sondern mit
Lebewesen überhaupt identifiziert wird. So: „alles
Fleisch ist wie Heu", „den Weg alles Fleisches
gehen"; dann im Gegensatze zum Geiste „der
Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach".
Um auch niedere Tiere als Nahrung anderer be-
sonders hervorzuheben, hat man den besonderen
Namen der Insektenfresser (Insectivora) eingeführt
und ihn weitgenug gefaßt, darunter auch solche
mitzubegreifen, die sich mit „Würmern" ernähren,
wie denn der Name „Wurm" vom Volke sehr
gewöhnlich da gebraucht wird, wo ihn der Fach-
mann nicht gelten lassen kann. Daß „Fleisch-
fresser" sowohl wie „Insektenfresser" zu den „Tier-
fressern" gehören, wird niemand bestreiten, aber
der Sprachgebrauch ist gegen diesen Ausdruck,
wie man sich auch gescheut hat, den entsprechen-
den lateinischen Namen Animalivora zu schaffen,
obgleich er grammatikalisch nicht zu beanstanden
wäre. Aber Carnivora „liegt" unserer Zunge
besser! Damit jedoch nicht genug! Man hat
sich in der Umgangssprache daran gewöhnt, dem
Gegensatze von Tier- und Pflanzenfressern noch
anderen Ausdruck zu verleihen und von Raub-
tieren und Pflanzenfressern als Gegen-
sätzen zu sprechen. Darin liegt der Kernpunkt
dieser Betrachtungen, die vielleicht manchem ziem-
lich banal erscheinen, die aber nicht unterbleiben
konnten, wenn die w eiteren Folgen unseres Sprach-
gebrauchs ins richtige Licht gestellt werden sollen.
Wenn man von Raubtieren spricht, denkt man
unwillkürlich an die ausgeprägtesten Vertreter
dieser Ernährungsweise, man denkt an Löwe,
Tiger, Wolf, Marder u. a., die man tatsächlich auch
in der Zoologie speziell in eine besondere Ordnung
unter dem Namen Carnivora vereinigt; ebenso
spricht man von Raubvögeln und meint Geier,
Adler, Falken usw.; gewöhnlich vereinigte man
auch diese im zoologischen Systeme in eine Gruppe,
die Rapaces. Nur ganz beiläufig sei hier bemerkt,
daß man neuerdings die tiulen oder Nachtraub-
156
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i:
vögel im Systeme von den übrigen oder Tagraub-
vögeln trennt. Man ist sich wohl auch in Laieii-
kreisen bewußt, daß manches Tier, das nicht zu
den „Raubtieren" unter den Säugern und nicht
unter die „Raubvögel" gestellt wird, nichtsdesto-
weniger eine ganz ähnliche Lebensweise führt,
z. B. Krähen und Würger. Da pflegt man dann
von argen „Räubern" zu sprechen, wie man be-
kanntlich auch „Raubfische" den „Friedfischen"
gegenüberstellt. Wenn nun aber der Sachkenner
kommt und erklärt Nachtigall und Schwalbe für
Raubtiere, da macht mancher große Augen und
denkt, man will ihn zum besten haben. Aber wie
soll man einen Vogel, der notorisch ausschließlich
von Tieren lebt, die er noch dazu im Fluge lebend
verschluckt, anders nennen als Raubtier, wenn
man nicht daran gewöhnt ist, von „Tierfressern"
zu sprechen! Durch die pointierte Gegenüber-
stellung von Raubtier und Pflanzenfresser erscheint
andererseits der letztere in einem zu milden IJchte.
Man denkt dabei an „harmlose" Tiere, etwa an
das gutmütige Schaf („fromme Schäfchen") und
vergißt darüber, daß auch der wilde Stier mit
seinen gefährlichen Hörnern, das Wildschwein mit
den erdaufwühlenden Hauern, der Hirsch mit seinem
kampfbereiten Geweih dahin gehören; man erinnert
sich vielleicht auch nicht der Vögel, die durch
ihre Nahrungsgelüste unseren Getreidefeldern und
Obstpflanzungen gewaltigen Schaden zufügen, gar
nicht hervorzuheben die in den Plantagen der Tropen
arg hausenden Papageien und Affen. Freilich
bleiben alle diese Tiere Pflanzenfresser, man wird
sich aber nicht wundern dürfen, wenn wir sie
nachher als „Pflanzen r ä u b e r" brandmarken, weil
sie .ihrer pflanzlichen Nahrung genau so gewalt-
sam zusetzen, wie ein Raubtier seiner Beute. Mit
dem Begriffe „Pflanzenräuber" wird aber der
Gegensatz von Pflanzenfresser und Raubtier illu-
sorisch. Doch zunächst werden wir wieder zu
der Frage zurückgedrängt, wie unterscheiden sich
die bei Tieren lebenden Zooparasiten von den
Raubtieren? Beide gehören nach ihrer Nahrung
zweifellos zu den Tierfressern, wie auch die Aas-
fresser, die aber durch die Art ihrer abgestor-
benen Nahrung in keine der beiden anderen
Gruppen hineinpassen. Wenn Parasiten wie Raub-
tiere auf lebende tierische Nahrung angewiesen
sind, so kann eben nicht die Nahrung als solche,
sondern die Art und Weise ihrer Ge-
winnung den Unterschied, den wir zwischen
ihnen festzustellen berechtigt und genötigt sind,
bedingen. Und das ist es, worauf unsere Be-
trachtungen hinauswollen. Das Charakteristische
des Raubtieres liegt in dem Gewaltsamen , mit
dem der Stärkere den Schwächeren überfällt, um
ihn entweder „mit Haut und Haaren" zu ver-
schlingen oder ihn, nachdem er getötet, allmählich
ganz oder teilweise zu zerreißen und zu fressen.
In jedem Falle handelt es sich bei dieser Er-
nährungsweise um Vernichtung der Beute,
um Aufhebung der Individualität. Dem-
gegenüber ist der Parasit, der seiner Nahrungs-
quelle, seinem „Wirte" gegenüber von vornherein
?ils der Schwächere erscheint, darauf angewiesen,
in weniger gewaltsamer Weise seinen Zweck zu
erreichen, ja er ist es, so zu sagen, sich im eigenen
Interesse schuldig , schonend zu Werke zu
gehen, denn durch öftere Anzapfung und allmähliche
Nahrungsentziehung gewinnt er den V^orteil, seine
Ernährungsquelle möglichst lange zur Verfügung
zu haben; er richtet seinen Wirt, wenn überhaupt,
was durchaus nicht immer der Fall ist, nur nach
und nach zugrunde. Somit kann man auf den
Parasiten mit Recht jenes Wort anwenden, welches
Faust dem Mephisto ins Gesicht sagt
„Nun kenn' ich deine würd'gen Pflichten.
Du kannst im Großen nichts vernichten
Und fängst es nun im Kleinen an."
Ich hoffe, gezeigt zu haben, daß parasitische
und räuberische Lebensweise aufs engste mitein-
ander zusammenhängen, daß sie eigentlich prin-
zipiell übereinstimmen und nur zwei verschiedene
Wege darstellen, um das gleiche Ziel zu erreichen.
Das würde freilich nicht ohne weiteres einleuchten,
wenn man zwei eklatante Beispiele einander gegen-
überstellen wollte, Beispiele, die das höchste Maß
jeder Art der Nahrungsgewinnung verkörpern.
Man vergegenwärtige sich einen Tiger, der in den
indischen Dschungeln auf der Lauer liegt und mit
einem kühnen Sprunge den Büffel überfällt und
mit Pranken und Zähnen trotz seiner Größe und
Stärke niederzwingt, oder man erinnere sich an
des Dichters Schilderung, wie der Wüstenkönig
die Girafie bewältigt: „Plötzlich regt es sich im.
Rohre; mit Gebrüll auf ihren Nacken springt der
Löwe; welch ein Reitpferd 1" Und dann stelle
man sich einen Bandwurm vor, jene lange Glieder-
kette, die mittels eines „Kopfes" (dem sog. Skolex),
der Saugnäpfe und dazu vielleicht auch noch
Haken trägt, in der Darmschleimhaut seines Wirtes
— es kann der Mensch sein — festgeheftet, gleich-
sam umspült von ernährender Flüssigkeit, die in
Ermangelung eines Mundes und Darmes auf der
ganzen Oberfläche in das Innere des Körpers ein-
dringt und ihn so reichlich ernährt, daß Glied
an Glied sich reiht, bis ein oft meterlanges Band
zur Ausbildung gelangt ist, das von der Stelle
losgerissen und auf natürlichem Wege aus dem
Darme ins Freie gelangt, nie mehr imstande ist,
in dieser Form unter Bedingungen der Fortexistenz
zu geraten — ein Bild der Ohnmacht und Schwäche
trotz der gewaltigen, muskeldurchsetzten Körper-
massel Oder man wähle gar die Trichine zum
Vergleiche, die, wenn sie erst einmal in die Mus-
kulatur gelangt ist, in der charakteristischen zitronen-
förmigen Zyste eingekapselt Jahre lang wohl lebens-
fähig bleibt, aber niemals geschlechtsreif wird,
wenn sie nicht samt ihrer fleischigen Umwallung
in den Magen und Darm eines anderen Wirtes
übertragen wird, also vollkommen auf passive Be-
freiung angewiesen ist. Wenn es nur solche Raub-
tiere und solche Parasiten gäbe, würde man sich
nicht zu bemühen brauchen, eine Grenze zwischen
N. F. XVI. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
15;
beiden Formen der Nahrungsgewinnung zu suchen
und zu finden. Demgegenüber aber gibt es
Fälle, wo ein und dasselbe Tier, dasselbe Indivi-
duum bald die Rolle eines Parasiten, bald die eines
Raubtieres übernimmt. Gewisse Blutegel, die im
Wasser leben, und darauf angewiesen sind, sich
von den Säften anderer Tiere, zuweilen vom Blute
eines Warmblüters zu ernähren, zu dem sie sich
mittels einschneidender Kiefer den Zugang ver-
schaffen, saugen sich, wenn die Gelegenheit günstig
ist, an ein wassersaufendes Lasttier, an einen
badenden Menschen an und bleiben da so lange
angeheftet, bis sie, völlig gesättigt, abfallen. So
macht es der Parasit. Wenn ihm aber ein solcher
Wirt nicht zur Verfügung steht, dann überfällt er
ein kleineres Tier, etwa eine Kaulquappe, und
tötet seine Beute ohne weiteres, damit wird er
zum Raubtiere!
Was man hier von derselben Tierart beobachten
kann, das zeigt sich in anderen Fällen auf nahe
verwandte Tiergruppen verteilt. Die bekannten,
wegen ihres beim Fliegen erzeugten brummenden
Tones als Bremsen bezeichneten Fliegen sind,
soweit es sich wenigstens um die Weibchen handelt,
auf Blutsaugen angewiesen und können oftmals,
besonders bei schwüler Witterung, für Mensch
und Tier eine Plage werden. Eine im System
nahestehende P'amilie der Fliegen führt nach ihrer
Lebensweise den Namen der Raubfliegen
(Asilidae); sie überfallen andere Insekten, denen sie
regelrecht wie die Wegelagerer auflauern, und
saugen sie aus. So gibt es auch unter den von
anderen Tieren sich ernährenden Wanzen — die
meisten saugen Pflanzensäfte — solche, die ein
Räuberleben führen und danach genau so wie die
eben genannten Fliegen, benannt werden : Raub-
wanzen (Reduviidae), wegen ihrer Bewegungsart,
die sie mit ihren langen dünnen Beinen ausführen,
auch Schreit Wanzen geheißen, und andere, die
das Blut höherer Tiere saugen, wie die unrühm-
lich bekannte Bettwanze (Cimex lectularius),
der Schrecken schlaf bedürftiger Menschen, die
übrigens gelegentlich einer in unseren Behausungen
vorkommenden Raubwanze (Reduvius personatus)
zum Opfer fällt.
Wenn es nun aber auch nach diesen Mitteilungen
zugegeben werden muß, daß die Grenze zwischen
Parasit und Raubtier willkürlich ist und auf schwan-
kenden Merkmalen beruht, so werden wir darum
die Unterscheidung dieser beiden Formen der
tierischen Ernährungsweise doch ebensowenig auf-
geben, wie wir nach wie vor Botanik und Zoologie
nebeneinander bestehen lassen müssen, obgleich
wir längst zu der Überzeugung gelangt sind, daß
die beiden Reihen von Organismen, die wir als
Pflanzen und Tiere zu unterscheiden von altersher
gewöhnt sind, in einer gemeinsamen Basis wurzeln,
vergleichbar zweien Stromgebieten, die aus einer
Quelle entspringen, im Laufe der eingeschlagenen
Bahnen aber immer weiter sich voneinander ent-
fernen, nun schließlich den gemeinsamen Ursprung
nirlit mehr erkennen zu lassen, während sie doch bis
zuletzt aus dem gleichen Stofife bestehen und sich
am Ende in dem großen Weltmeere wieder ver-
einigen.
Übrigens hat man es in der Wissenschaft in
der letzten Zeit aufgegeben, neben den Pflanzen-
fressern von Raubtieren statt von Tierfressern zu
sprechen, pflegt für beide Kategorien die Termini
technici auch nicht mehr dem Lateinischen zu ent-
lehnen, sondern der Sprache der alten Griechen,
die für solche Zwecke dank ihrer Bildsamkeit und
besonders leichten Möglichkeit der Wortzusammen-
setzung viel geeigneter erscheint. Man spricht
darum jetzt meist von Phytophagen und
Zoophagen, die man in weitere Untergruppen
zu zergliedern gelernt hat. Wenn man aber kon-
sequenterweise auch die „Allesfresser" nicht mehr
als Omnivora bezeichnen will, so sollte man sie
nicht sowohl Polyphaga, wie vielfach geschieht,
sondern Pantophaga oder Pamphagen —
ein schon von Aristoteles für eine biologische
Gruppe von Tieren gebrauchter Ausdruck —
nennen. Denn Polyphaga bedeutet im Grunde
das, worunter wir mit einem Anfluge von Miß-
billigung manchen Menschen als „Vielfraß" kenn-
zeichnen, und das nimmt lediglich auf Quantität
und nicht auf Qualität der Nahrung Bezug, während
wir doch unter dem alten Ausdruck Omnivora
Tiere verstehen, die sowohl aus dem Tier- wie aus
dem Pflanzenreiche ihren Nahrungsbedarf wählen.
Darum könnte man sie auch, ohne Mißverständnisse
zu veranlassen, Amphoterophagen nennen.
Ebensowenig wie Polyphaga trifft der entsprechende
Name Oligophaga den Kern der Sache; denn
er soll nicht Tiere bezeichnen, die mit einer ge-
ringen Nahrungsmenge vorlieb nehmen, sondern
solche, die bezüglich ihrer Auswahl zwischen
Monophagen und Pantophagen stehen: ,, Wahl-
fresser"; man kann sie folgerichtig Pleophaga
heißen — ein Ausdruck, der, wie ich nachträglich
gesehen habe, in der Botanik in dem gleichen
Sinne schon Anwendung gefunden hat.
Doch wir sind mit unseren Erörterungen über
das Schwankende der Begriffe Parasit und
Raubtier noch nicht am Ende; denn wir haben
bisher lediglich die Tiere untereinander zum Gegen-
stande unserer Betrachtungen erhoben, und müssen
nun auch einen Blick auf das Verhältnis der Tiere
zu den Pflanzen vom ernährungsphysiologischen
Standpunkte aus werfen. Da ist denn zunächst
zu betonen, daß es auch unter den pflanzen-
fressenden Tieren, den Phytophagen, sehr viele
Parasiten gibt, so daß man, wenn man nicht etwa
behaupten will, sie seien sämtlich so zu bezeichnen,
von vorneherein einen ähnlichen Gegensatz wie unter
den Zoophagen erwarten muß. Da komme ich zu-
rück zu der Einleitung Leuckart's in sein großes
Parasitenwerk. Nach der oben angeführten kurzen
Kennzeichnung des Parasiten, mit der er seine
Einleitung „Natur und Organisation der Parashen"
beginnt, fährt er also fort: „Nach dieser Definition
gibt es nicht bloß pflanzliche und tierische Para-
siten (Phytoparasiten und Zooparasiten), sondern
158
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 12
auch Parasiten an Pflanzen und an Tieren. Die
Larve, die das Holz eines Baumes oder
das Fleisch einer Frucht bewohnt, ist
danach ebensogut ein Parasit, wie der
Spulwurm imDarmkanale des Me nschen,
und der Käfer, der unsere Waldungen
entblättert, ebensogut wie die Spinn-
fliege zwischen den Federn der Schwalbe."
Hier kann ich unserem großen Helminthologen und
hervorragenden Zoologen nicht beistimmen!
Wohl darin, daß ein Holzbohrer und Fruchtbohrer
den typischen Parasiten beizuzählen ist, nicht aber
darin, daß auch der „Käfer" — es darf im speziellen
dabei an den Maikäfer gedacht werden — „der
unsere Waldungen entblättert". Wo bleibt da der
Begriff des Parasiten, wenigstens in dem Sinne,
wie wir vorher den Unterschied zwischen der
Nahrungsgewinnung eines Raubtieres und eines
Parasiten zu charakterisieren versucht haben '
Leuckart freilich beruft sich auf seine Definition,
nach der jedes Geschöpf, „das bei einem lebenden
Organismus Nahrung und Wohnung findet" ein
Parasit sei. Wo bleibt dann aber überhaupt die
Berechtigung zwischen einem solchen und einem
anderen Tier- bzw. Pflanzenfresser zu unterscheiden r
Findet nicht auch das ausgeprägteste Raubtier seine
Nahrung bei einem anderen Tiere? Von der
weiteren Voraussetzung, die sich auf die „Wohnung"
bezieht, sehen wir zunächst ab, wollen aber
schon jetzt bemerken, daß sie auch für einen
zweifellosen Parasiten nicit bedingungslos zu
fordern ist. Und wenn der Maikäfer den Parasiten
zugezählt werden soll, warum dann nicht auch
die Heuschrecken, von denen gewisse Arten die
blühendsten Gefilde in wenigen Stunden in ver-
ödete, wie vom Hagel vernichtete Steppen zu
verwandeln vermögen, oder die Raupen des Kohl-
weißlings, die ganze Felder bis auf die Strünke
entblättern oder der „Nonne", die tatsächlich ganze
Wälder für immer vernichten kann? Leuckart
müßte und würde, nach dem von ihm gewählten
Beispiel, auch die hier hinzugefügten in seinem
Sinne in Anspruch nehmen. Aber muß dann nicht
auch der Hase, der in strengen Wintern schon
manchmal die auf den Ertrag edeln Spalierobstes
gesetzten Hoffnungen gründlich zerstört hat, oder
das Hochwild, das namentlich in den Alpenländern
so manchen Bauern das Gewehr in die Hand ge-
zwungen und aus Verzweiflung zur schweren Be-
strafung als Wilddieb verführt hat, überhaupt jeder
„harmlose" Krautfresser zu den Parasiten gerechnet
werden? Im Prinzip vermag ich in der Ernährungs-
weise eines Maikäfers und eines Wiederkäuers
keinen Unterschied zu entdecken. Wenn man
aber zugibt, daß der Laubentblätterer ein Parasit
sei, wo soll man noch die Grenze zwischen einem
solchen und einem „Pflanzenfresser'' schlechthin
ziehen ? Und diese Grenze ist tatsächlich nicht zu
ziehen, so lange man auf die Nahrungsstoffe aus-
schließlich Rücksicht nimmt und nicht gleichzeitig
die Art und Weise betont, wie sie gewonnen
werden. Legen wir aber an die parasitischen und
die gewöhnlichen Pflanzenfresser denselben Maß-
stab, den wir oben zur Unterscheidung von Zoo-
parasiten und Raubtieren vorgeschlagen haben —
und was kann uns hindern, in beiden Fällen mit
dem gleichen Maße zu messen? — dann können
und, wie mir scheint, müssen wir logischerweise
einander gegenüberstellen Pflanzenfresser, die nach
Parasitenart ihre Nahrung gewinnen und solche,
die es auf Raubtierart tun, wobei im ersteren
Falle also das Schonende, im anderen das Ge-
waltsame in den Vordergrund tritt und so einen
Unterschied, wenn auch nicht in der Nahrung als
solcher, so doch in der Form der Erwerbung zu
formulieren berechtigt. Ich nehme keinen Anstoß,
von diesen Gesichtspunkten aus von Parasiten an
Pflanzen und von Pflanzenräubern zu sprechen
und habe seit Jahren in meinen Vorlesungen für
letztere die wissenschaftliche Bezeichnung Phyto-
harpakten vorgeschlagen. Wo man zwischen
beiden die Grenze ziehen soll, das ist allerdings
mit so großen Schwierigkeiten verbunden, daß
ich es hier nicht wage, ihr näherzutreten. In
vielen Fällen, wie bei den von Leuckart ge-
wählten des Holz- und Fruchtbohrers, ist es nicht
zweifelhaft, sich für den Parasitismus zu entscheiden,
ebensowenig bei den außerordentlich zahlreichen
Blattminierern unter den Insektenlarven, bei den
Bewohnern von Pflanzensamen, den Borkenkäfern,
den säftesaugeriden Pflanzenläusen — in allen diesen
Fällen liegen die Analogien mit Blutsaugern und
Krätzmilben auf der Hand; aber es bleiben noch
genug andere Formen des Insektenfraßes übrig,
wo berechtigte Zweifel über die Einordnung in
das von unserem beschränkten Verstände aufge-
baute Fächerwerk — oder sollen wir gleich
sagen „Kartenhaus"? — bestehen, und das noli
längere vorsichtiger erscheint als Vergewaltigung.
Eine besondere und hoch interessante Form von
tierischen Parasitismus, die aber auch vom Ge-
sichtspunkte der Symbiose im allgemeinen Sinne
betrachtet werden kann, zeigt sich in den sehr
zahlreichen Pflanzen gall e n, die durch Insekten
verschiedener Ordnungen und andere Organismen
(auch Pilze), verursacht werden.
Daß auch hier die Grenze keine natürliche,
sondern nur eine vom praktischen Standpunkte
eingegebene, also eine künstliche ist, kann und
soll nicht einen Augenblick geleugnet werden.
Hier befindet man sich eben in der Lage, von der
früher die Rede war, die Schwierigkeiten zu er-
kennen, die sich durch die Natur der Dinge dem
Wunsche nach einer ,, Definition" entgegenstellen.
Und diese Schwierigkeiten sind in diesem Falle
noch erheblich größer als bei dem Versuche, einen
Gegensatz zwischen Raubtier und Parasit zu kon-
struieren. Denn dort durften wir als unausbleib-
hche Folge des gewaltsamen Nahrungserwerbs
eines Raubtieres die Aufhebung der Individualität
des Beutetieres feststellen. Das Gleiche gelingt
uns nicht beim Pflanzenräuber. Das liegt aber
nicht daran, daß hier etwa die gleichen Vorbe-
dingungen in der Wahl der Mittel fehlten — denn
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
159
Räuber bleibt Räuber — sondern daran, daß die
Organisation der Pflanze eine andere ist als die des
Tieres, daß die einfacher gebaute Pflanze viel
widerstandsfähiger gegen feindliche Eingrift'e als
das viel komplizierter gebaute und darum viel zarter
besaitete Tier ist. Ein Baum kann unter Um-
ständen völlig entlaubt, zum mindesten eines großen
Teils seines aus so zahlreichen Einzelorganen zu-
sammengesetzten Rlätterwerks beraubt werden, die
Adventivknospen entwickeln sich noch im gleichen
Jahre zu neuen Blättern ; eine Wiese kann in ihrem
ganzen oberirdischen Bestandteile abgegrast sein,
so lange die „Grasnarbe" unversehrt ist, läßt sie
neues Grün emporsprossen; von einem Baum-
stamme ist zuweilen nicht viel mehr als eine Wand
übrig — man denke an Weiden- und Olivenbäume
— und oben grünen die Blätter und reifen eventuell
die Früchte. Die Pflanzen — abgesehen natürlich
von den niedrig organisierten Einzelligen — können
mit Recht als aus zahlreichen Einzelindividuen
zusammengesetzt angesehen werden, und eben
darum können sie einer ganzen Anzahl solcher
Individuen entbehren, um doch noch lebensfähig
zu bleiben. Aus diesem Grunde also ist die Ein-
wirkung gewaltsamer P^ingriffe von selten pflanzen-
fressender Tiere auf Pflanzen zumeist viel weniger
wirkungsvoll als die gleiche Schädigung eines
Tieres. Nichtsdestoweniger gibt es noch gerade
genug Beispiele, wo die Angriffe von Pflanzen-
räubern zu dem gleichen Resultate führen, wie
die Ernährungsart eines Raubtieres: einzellige
Pflanzen sind selbstverständlich vernichtet, wenn
sie Tieren zum Opfer fallen; ferner sind es die
einjährigen Pflanzen viel leichter als mehrjährige,
jugendliche leichter als alte. Wenn ein Weidetier
eine einjährige Pflanze mit der Wurzel herausreißt
und, wie man hier zu sagen pflegt, „mit Stumpf
und Stiel" in seinem Maule verschwinden läßt, ist
sie natürlich ebenso umgebracht wie ein Tier,
das „mit Haut und Haaren" hinuntergewürgt war,
und dem jungen Bäumchen geht es nicht anders,
wenn es aus dem Boden gerissen ist, wie anderer-
seits das Absterben jedweder Pflanze die fast un-
vermeidliche P'olge vom Durchnagen ihrer Pfahl-
wurzel ist. Werden dieselben Pflanzen von ver-
einzelten Raupen an- oder auch über der Erde
abgefressen, so braucht ihre Individualität durchaus
nicht immer aufgehoben zu sein — eben dank
der eigenartigen Organisation der Pflanze gegen-
über dem Tiere, das aber auch vielfach gewisse
Verstümmelungen seines Körpers zu überstehen
vermag. Die Unterschiede zwischen Raubtier und
Pflanzenräuber, auf die besonders hinzuweisen wir
für unsere Pflicht hielten, sind also schließlich doch
nur relative und gradweise und können unserer
Parallesierung beider Ernährungsformen nicht
hinderlich sein.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die
Beutetiere sowohl wie die Wirte durch die
Nahrungsaufnahme anderer Tiere in jedem Falle,
bald mehr bald weniger geschädigt werden.
Es soll aber noch besonders darauf hingewiesen
sein, daß manche Geschöpfe, namentlich die im
Boden festgewurzelten Pflanzen, die vor einem
Feinde nicht Reißaus nehmen können, zuweilen
ganz unabhängig von dessen Ernährungsgelüsten
Schaden erleiden und zwar durch rein mechanische
Eingriffe. Eine Krähe z. B. bricht zuweilen durch
ihr Körpergewicht von einem jungen Bäumchen
einen Zweig ab, was bei wertvollem Spalierobste
für den Gärtner sehr verdrießlich ist ; Wühlmäuse,
Maulwürfe und die in ihrer Erdarbeit ähnliche
Maulwurfsgrille unter den Insekten, richten oft
großen Schaden an durch Entblößen junger Wurzeln,
die damit ihrer Ernährungsfunktion verlustiggehen
und die Pflänzchen zum Absterben bringen;
Hirsche beschädigen beim ,, Fegen" d. h. bei dem
Versuche die Geweihe von der anfänglich darüber
gelagerten Haut zu befreien, die Bäume des Waldes;
wo Herden der großen Huftiere, der Büffel, Nas-
hörner, Elefanten sich umhertreiben, da lassen sie
„kein Gras wachsen", und auf andere Weise, näm-
lich durch ihre massenhaft abgelagerten Exkre-
mente, vernichten die Kolonien von Krähen, Reihern,
Kormaranen den Untergrund der Wälder; in
Nordamerika lichtet der Biber die Urwälder durch
sein Baumfällen, das er zum Deichbauen betreibt.
In allen diesen Fällen kann der Schaden nicht
dem Nahrungserwerb zur Last gelegt werden,
kennzeichnet also weder einen Räuber noch einen
Parasiten. Wir werden später auch gewisse
Pflanzen zu erwähnen haben, die auf rein mecha-
nischem Wege andere Pflanzen so zu schädigen
vermögen, daß sie zum Absterben gelangen. Man
spricht dann in bezeichnender Weise von „Pflan-
zenwürgern", hat sie aber früher vielfach als
Schmarotzerpflanzen angesprochen. Mit Unrecht,
denn die Grundbedingung für den Parasitismus,
die Entnahme der Nahrung von einem lebenden
Organismus, liegt nicht vor.
Um dies Kennzeichen der parasitischen Lebens-
weise als eine besondere Form der Ernährung, die
ganze Angelegenheit in erster Linie als eine er-
nährungsbiologische Frage in das rechte Licht zu
stellen, haben wir bisher ein anderes Merkmal, das
sehr häufig, sogar in den weitaus meisten Fällen den
Parasiten viel eher verrät, als uns seine Ernährungs-
art klar wird, absichtlich außer Acht gelassen, um
es nunmehr besonders zu besprechen. Ich meine die
Tatsache, die in der Leuckart 'sehen Definition
so deutlich hervortritt: daß als Parasiten alle die-
jenigen Geschöpfe anzusehen seien, die bei einem
lebenden Organismus nicht nur Nahrung, sondern
auch Wohnung finden. Diese Vereinigung zweier
verschiedener Tierarten zu einem engeren Ver-
bände, wie sie in den meisten Fällen des Para-
sitismus hervortritt, ist tatsächlich ein so in die
Augen springendes Merkmal, daß es auch dem
-Laien nicht entgehen kann, der sich darum den
Parasiten meist nur in dieser Abhängigkeit von
einem anderen Tiere denkt und zu dieser An-
nahme um so mehr berechtigt zu sein scheint, als
sehr viele Parasiten, von ihrem Wohntiere getrennt,
völlig hilflos, dem Untergange geweiht sind, wie
i6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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sie denn auch in ihrer körperlichen Beschaftenheit
einen durchaus unvollkommenen, man darf sagen,
heruntergekommenen Zustand darstellen. Diese
hilfsbedürftige Verfassung des Parasiten findet
darum auch weiteren Ausdruck in der Bezeichnung
seines VVohntieres und Wohltäters als seines
Wirtes. Das klingt freilich ein wenig euphe-
mistisch, wenn man sich bewußt wird, daß ein
solcher Gast sich ungeladen einstellt und von
seinem Wirte nicht nur einen Anteil an seinen
Nahrungsvorräten erwartet und fordert, sondern
es auf dessen „Fleisch und Blut" abgesehen hat.
Und lediglich in diesem Gelüste des Parasiten liegt
die Berechtigung, ihn so zu nennen. Wenn er
bloß einen Anteil von dem beansprucht, was sein
Wirt für den eigenen Bedarf erworben und als
guter Hausvater angesammelt hat, dann wäre er
eben kein Parasit — wir werden noch sehen, wie
ihn in einem solchen Falle die heutige Wissen-
schaft zu benennen pflegt — , sein eigentlicher
Zweck ist die Gewinnung einer ganz bestimmten
Nahrung, und es ist lediglich die Folge dieses
seines natürlichen Ernährungsinstinktes, daß er da,
wo er die Bedingungen dafür verwirklichen kann,
sich auch häuslich niederläßt. Die „Wohnung",
die er bei dem anderen Organismus findet und
sucht, ist erst etwas Sekundäres, etwas allmäh-
lich Erworbenes, eine besondere Anpassungs-
erscheinung, die um so begreiflicher erscheinen
muß, als die Vorteile, die mit der Aufgabe der
P'reiheit gewonnen werden, unschwer zu erkennen
sind. Das Leben der Tiere und ganz besonders
das Ernährungsbedürfnis, hat so viel Ähnlichkeit
mit den Verhältnissen, unter die der Mensch selbst
gestellt ist, daß sich die Vergleichspunkte uns
geradezu aufdrängen. Man denke an eins von
jenen Subjekten, die wir in unserem sozialen Leben
von altersher als Schmarotzer zu bezeichnen
pflegen. Angeborene Unlust zur Arbeit führt zum
Müßiggang und damit allmählich zur Verarmung;
der Hunger macht den Bettler, die Wohltätigkeit
der Mitmenschen schützt vor dem Untergange,
erhöht aber gleichzeitig die Sucht nach dieser
bequemen Versorgung; der Bettler, der anfanglich
nur in gewisser Zeit, ab und zu, um ein Almosen
bitten kam, stellt sich allmählich immer häufiger
ein ; wenn es ihm nicht gewehrt wird, nächtigt er
auch in der Nähe seiner Nahrungsquelle, er wird
immer dreister und seßhafter; denn er findet es
viel bequemer, den gedeckten Tisch gleich vor-
zufinden, wenn es ihn hungert, als erst die Wander-
schaft danach anzutreten ; die Gabe , die früher
mit Bitten erlangt und mit Dank in Empfang ge-
nommen wurde, wird schließlich zur selbstverständ-
lichen Forderung; eine Verweigerung zeitigt den
heimlichen Dieb, der unter Umständen seine
schmachvolle Karriere mit dem Räuberhandwerke
abschließt, das zur P>reichung seines Zweckes
auch nicht vor Totschlag und Mord zurückschreckt.
So der Lebensgang manches Verbrechers, wie ihn
nicht nur die Phantasie ausmalt, sondern ,,dic
himmlischen Mächte" ihn entstehen lassen.
In ähnlicher Weise haben wir uns den Werde-
gang vorzustellen, den die Natur solche Geschöpfe
nehmen läßt, denen mit dem Mangel eines „mora-
lischen" Bewußtseins auch die Verantwortlichkeit
für ihre Handlungsweise fremd ist. Der Hunger
ist überall das Leitmotiv, die jedesmalige Organi-
sation schreibt den Weg vor, ihn zu stillen, die
Konkurrenz mit vielen gleichzeitigen Bewerbern
lehrt Gewalt oder List, schafft je nachdem Räuber
und Mörder oder Bettler, Schmarotzer und Ein-
mietler. Alle diese Abstufungen treffen wir tat-
sächlich im Tierreiche verwirklicht und wir haben
berechtigte Veranlassung, sie als allmähliches
Resultat des ganz allgemein hin und her wogenden
Kampfes ums Dasein aufzufassen. Der Parasitismus
im besonderen erklärt sich uns als Anpassungs-
erscheinung an eine ganz bestimmte Art des
Nahrungserwerbs, die Aufgabe der freien Orts-
bewegung, die von vornherein einer der hervor-
ragendsten Charaktere des Tieres ist, wird Mittel
zur bequemeren Erreichung des Zieles; je seß-
hafter der Parasit wird, um so mehr büßt er an
Selbständigung und Vollkommenheit der Organi-
sation ein, aber um so leichter fließen ihm die
Nährstoffe zu, er wird schließlich ein degenerierter
Körper, der nur eine Fortpflanzungsmaschine dar-
stellt. Diesen rückschreitenden Entwicklungsgang
brauchen wir uns nicht auf dem Wege der Kom-
bination künstlich zu konstruieren, wir können ihn
in vielen Fällen im Leben eines Individuums
Schritt für Schritt verfolgen und damit den Ge-
danken der Deszendenztheorie verkörpert sehen.
Aber nicht nur im Entwicklungsgange desselben
Tieres, sondern auch in Form verschiedener Ab-
stufungen durch die Reihe der Tiere hindurch,
von denen die einen auf diesem, die anderen auf
jenem Stadium der Ontogenie stehen bleiben und
dann verschiedene Grade des Parasitismus ver-
gegenwärtigen. Es wurde schon hervorgehoben,
daß die „VVohnung" bei einem anderen Organis-
mus für den Parasiten erst etwas Sekundäres, etwas
allmählich Erworbenes, man könnte sagen; durch
die Not Anerzogenes ist. Wenn das wirklich wahr
ist — so wird der aufmerksame Leser unsere
Darlegung mit Recht unterbrechen — so müßte
es also auch Parasiten geben, die ihre Freiheit völlig
bewahren und sich bei keinem „Wirte" vor Anker
legen ! Und solche Parasiten gibt es in der Tat,
und damit wird das Kennzeichen der Wohnung
als conditio sine qua non für den Begriff des
Parasitismus hinfällig I Zu einer solchen Einsicht
sind wir allerdings erst allmählich gelangt; nicht
als ob man in früheren Zeiten die freilebenden
Parasiten nicht gekannt hätte, man hat sie aber
nicht unter diesen Gesichtspunkten beurteilt, weil
man durch die Analogie mit den tausenden von
anderen Beispielen verleitet und im Urteil be-
fangen war und meinte, mit dem Begriffe des
Parasiten wäre eo ipso die dauernde Vergesell-
schaftung mit einem Wirte unzertrennbar verknüpft.
Damals formulierte man nicht nur den Gegensatz
von „Parasit" und „freilebendes Tier", sondern
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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man sah in den ersteren sogar eine Gruppe von
Lebewesen, die allen anderen Tieren gegenüber
eine unüberbrückbare Stellung einnahmen und
hauptsächlich unter dem Namen der Helminthen
eine hervorragende Rolle spielten. Die Blutegel,
die wir früher als Beispiel für die Schwierigkeit
einer Abgrenzung von Raubtier und Parasit heran-
gezogen haben, rechnet man erst seit Leuckart
zu den letzteren, und doch lag diese Auffassung
gerade hier gar nicht so fern, weil man eine An-
zahl von Arten fast immer auf dem Körper von
Fischen oder Krebsen antrifft, ohne daß sie dazu
gezwungen wären, denn sie vermögen unter
Schlängelung ihres Körpers sehr geschickt frei im
Wasser zu schwimmen.
Jedenfalls gibt es aber auch solche, die ihren
Wirt lediglich zum Blutsaugen aufsuchen und ihn
nach Stillung ihres Hungers für ziemlich lange
Zeit wieder verlassen, ein völlig freies, durchaus
nicht an die Lebensweise eines typischen Parasiten
erinnerndes Wasserleben führen. Zu dieser gehört
auch der medizinische Blutegel , mit dem es
Leuckart in seinem Werke über Parasiten des
Menschen in erster Linie zu tun hatte. Daß er
ihn den Parasiten einreihte, war durchaus berechtigt,
weil er, wenn auch nur im erwachsenen Zustande,
und zur Erlangung der Geschlechtsreife seine Nah-
rung einem warmblütigen Tiere in Form von
flüssigem Blute zu entnehmen genötigt ist. Daß
er sich zu diesem Zwecke eine gewisse Zeitlang
an seinem Wirte festsaugen muß, kann aber wohl
kaum dazu berechtigen, diesen als „Wohnung" in
Anspruch zu nehmen. Denn sonst gehörte auch
eine Spinne, die ihre Beute niemals vollständig
verzehrt, sondern nur aussaugt und sich natür-
licherweise dazu eine Zeillang bei ihr aufhalten
muß, zu den Tieren, die „bei einem lebenden
Organismus Nahrung und Wohnung finden"; es
würde damit also der Unterschied zwischen Raub-
tier und Parasit im Sinne der Leuckart 'sehen
Definition des letzteren hinfällig werden.
Die Blutegel, ich meine die ganze Klasse der
Hirudinea, die man jetzt längst nicht mehr mit
den Saugwürmern vereinigt, sondern dem Formen-
kreise der Ringelwürmer (Annelides) zurechnet,
sind übrigens ein sehr lehrreiches Beispiel für das
Ineinandergreifen von räuberischerund parasitischer,
von freilebender und festsitzender Lebensweise.
Nicht nur, daß manche Arten in einer Person bald
Raubtier bald Parasit darstellen, es gibt auch solche,
bei denen das Raubtiernaturell ausschließlich zu
Tage tritt und damit stets eine freie Ortsbewegung
Hand in Hand geht, wie z. B. bei dem bekannten
„Pferdeegel" (Aulostomum gulo, nach der neueren
Nomenklatur Haemopis sanguisuga zu nennen)
unserer stehenden Gewässer, der sehr zu Unrecht
und nur vom Laien mit dem medizinischen Blut-
egel identifiziert wird, sowie bei den nahe verwandten
Clepsine-Arten gleicher Aufenthaltsorte — beide
fressen Schnecken und Würmer, zuweilen auch
junge Fischchen — und es gibt andererseits typi-
sche Parasiten, von denen aber die einen nur zeit-
weise ihren Wirt aufsuchen, während andere dauernd
auf seiner Haut oder seinen Kiemen ihren Wohn-
sitz aufschlagen. Den letzteren Sitz wählt ein
Parasit unseres Flußkrebses, den man die längste
Zeit hindurch den Blutegeln zurechnete, neuerdings
aber den Oligochäten einreiht, Branchiobdella
parasita. Sehr zutreffend nennt darum Leuckart
(in der 2. Auflage seines Parasitenwerkes) die
Lebensweise der Hirudineen nicht so ausschließ-
lich eine parasitische, wie etwa die der Trema-
toden. „Sie gestaltet sich im großen und ganzen
freier und selbständiger und zeigt die mannigfachsten
Übergänge von dem parasitischen Leben zum
räuberischen. Deutlicher, als irgend wo anders,
zeigt sich hier die Gemeinschaft der in ihren
Extremen anscheinend so verschiedenen Lebens-
formen. Unverkennbar, daß der Parasit eigentlich
ein Raubtier ist, nur ein solches, daß zu schwach
und zu klein, seine Beute zu überwältigen, sich
darauf beschränkt, dieselbe zu plündern". Diese
Tatsachen haben aber für uns auch darum ein
besonderes Interesse — und sind aus diesem Grunde
hier ausführlicher auseinandergesetzt — weil das,
was uns hier als „Übergänge" des gegenwärtig
bestehenden Zustandes erscheint, im Laufe der
Zeiten erst so entstanden sein muß. Anders aus-
gedrückt: aus der ursprünglichen Lebensweise des
freilebenden Raubtieres hat sich durch Anpassung
an besondere Existenzbedingungen allmählich ein
Parasit herausgebildet, der bei seiner Gewohnheit
nur von Zeit zu Zeit ein Wohntier aufzusuchen,
als „temporärer" Parasit gekennzeichnet ist,
sehr leicht aber durch dauernden Aufenthalt auf
jenem zum „stationären" wird und seine frühere
freie Lebensweise nach wie vor als „Ekto-
parasit" dokumentiert, ebensogut aber, wozu
der erste Schritt durch die Kiemenbewohner ge-
tan ist. zum Entoparasitismus übergehen
kann und damit die intimste Form des Parasitis-
mus anzunehmen begotmen hat. Mit diesen ver-
schiedenen Bezeichnungen sind gleichzeitig die
verschiedenen Gruppen von Parasiten hervorge-
hoben, die man zu unterscheiden pflegt, um
die einzelnen Grade dieser im allgemeinen so
außerordentlich mannigfaltigen Lebensweise ins
richtige Licht zu stellen. Immer wieder erkennen
wir, daß das Wesentlichste für die Kennzeich-
nung des Parasitismus nicht sowohl die Vergesell-
schaftung mit dem Wirtstiere als vielmehr die
An der Nahrungsgewinnung ist, für die ein engerer
Anschluß an die Nahrungsquelle freilich ein viel
wirksameres Mittel wird.
Derartiges lehren uns aber keineswegs nur die
zunächst als Beispiel gewählten Blutegel. Noch
viel befremdender könnte es erscheinen, namentlich
im Vergleiche mit den Anschauungen früherer
.Zeiten, wenn wir auch für die Stechmücken
die Bezeichnung Parasiten geltend machen : sie, die
mit Hilfe ihrer Flügel als freie Bewohner der Luft sich
betätigen, in ihr „spielen" und „Tänze" aufführen,
Rauchwolken ähnlich zu gewaltigen Schwärmen
vereinigt, hier bald unbeweglich still zu stehen
l62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 12
scheinen, um im nächsten AugenbHcke weiter
hinaufzusteigen oder wie im Falle sich herabzu-
stürzen, Bewegungsmodulationen, die eben zu jenen
volkstümlichen Ausdrücken Veranlassung gegeben
haben. Und leise, ganz vorsichtig naht sich so ein
leichtbeschwingter Scheinheiliger, nimmt auf unserer
entblößten Haut unbemerkt Platz — die Empfindung
eines feinen Stiches schreckt uns aus der beschau-
lichen Ruhe unserer Naturbetrachtung, und da ist
der Plagegeist auch schon wieder entflohen, nach-
dem er ein winziges Tröpfchen unseres Blutes mit
seinem spitzen Rüssel dem Nahrungskanale zu-
geführt hat. Haben wir ihn für den Bruchteil
einer Minute als „Wohnung' gedient? Diesen
Ausdruck zu wählen, würde uns wohl schwerlich
einfallen ; aber den Wirt für einen Parasiten haben
wir tatsächlich abgeben müssen — für einen
Parasiten, der ein völlig freies Leben führt. Und
was noch eine besondere Eigentümlichkeit der
Stechmücken ist: sie betätigen sich nur im weib-
lichen Geschlecht als Blutsauger, die Herren
Gemahle begnügen sich mit ein wenig Feuchtig-
keit und überlassen den besonderen Saft ihren
Weibern, die ihn brauchen, um die Eier in ihrem
Leibe zur Reife zu bringen ! So ist es auch bei
gewissen anderen blutsaugenden Fliegen, die nicht
in die nähere Verwandtschaft der „langhörnigen"
Mücken gehören, wie z. B. die Viehbremse n
(Tabanidae), zu denen auch die dem Menschen
besonders unangenehmen Blind fliegen oder
Grünaugen (Chrysops) und Rogenbremsen
(Haematopota pluvialis) zu zählen sind. Diese
Tatsachen zwingen uns, unweigerlich anzuer-
kennen, daß es Tiere gibt, die nur in einem Ge-
schlechte mit Recht als Parasiten angesprochen
werden können, während das andere, wie wir
sahen, das männliche nicht unter den gleichen
Gesichtspunkten zu betrachten ist — wahrlich
ein Beispiel für das ganz gelegentliche Auf-
treten dieser eigenartigen Lebensweise, wie es
geeigneter nicht gedacht werden kann, uns vor
einer schablonenmäßigen Behandlung der Er-
scheinungen in der Natur zu warnen und zugleich
ein Beweis dafür, daß Parasitismus überall Platz
greifen kann, wo es für die Ernährungsfrage von
Vorteil ist.
P^s gibt nun noch eine ganze Gruppe von
eigenartigen F"liegen, die in allen ihren Mitgliedern
und auch in beiden Geschlechtern blutsaugende
Parasiten enthält und uns ähnliche Übergänge von
der freien zur festsitzenden Lebensweise zeigt wie
die Blutegel. Das sind die sog. Laut fliegen oder
Pu ppengebärer (Pupipara), wie sie nicht ganz
mit Recht genannt werden — sie sind lebendig
gebärend und entledigen sich ihrer Larven in
einem so weitvorgeschritienen Larvenstadium, daß
dieses alsbald zur Puppe wird und deshalb früher die
Meinung des Puppengebärens vorgetäuscht hatte — ;
sie schmarotzen auf Säugetieren und Vögeln,
gewisse Arten auf beiden zugleich; nur eine einzige
Art entnimmt ihre Nahrung der Honigbiene. Mit
manchen „Spinn fliegen", wie sie auch noch
heißen, kann auch der Mensch gelegentlich nähere
Bekanntschaft machen, wenn er an schönen Herbst-
tagen in gewissen Waldungen spazieren geht und
von den schnellfliegenden, plattgedrückten Tierchen
umschwärmt wird, die sich nicht selten auf seinem
Anzüge niederlassen oder im Barthaar verfangen.
Sie saugen Blut von gewissen Waldvögeln (Hühner-
vögeln), denen gegenüber sie sich als temporäre
Parasiten benehmen, wozu ihnen einerseits die
F"lügel, andererseits die Einrichtung ihrer Klammer-
füße als geeignete Hilfsmittel zur Verfügung stehen.
In einer bestimmten Zeit aber geben sie die vaga-
bundierende Lebensweise auf und schlagen dauernd
ihren Wohnsitz auf einem Wirte auf, den sie darum
nicht wieder verlassen, weil sie nunmehr ihre
Flügel verlieren. Eine verwandte Art, diePferde-
lausfliege (Hippobasca equine) behält ihre Flügel
dauernd, macht daher auch gelegentlich davon
Gebrauch, um den Wirt zu wechseln oder auch
nur eine Körperstelle desselben mit einer anderen
— am liebsten wählt sie die wenig behaarten —
zu vertauschen. Wieder andere Arten, wie die
„Schaf zecke", Schafteke (Melophagus ovinus)
und ganz eigenartig gestaltete Schmarotzer auf
Fledermäusen, die Nycteribiidae, sind zu stationären
Parasiten geworden und bringen überhaupt niemals
Flugorgane zur Entwicklung, zeigen also den am
weitesten vorgeschrittenen Grad der Anpassung
an diese Lebensweise; haben z. T. auch die Seh-
organe verloren, wie auch die ebenfalls völlig
flügellose Bienenlaus (Braula coeca), die nach
neueren Beobachtungen wegen ihrer Ernährungs-
weise vom wirklichen Parasitismus ausgeschlossen
werden zu müssen scheint. Solche allmäh-
liche Übergänge von freilebenden zu fest-
sitzenden Parasiten sind auch unter Milben, Krebsen
usw. zu beobachten, worauf hier unmöglich weiter
eingegangen werden kann. F'ür unsere Zwecke
genügt es, auf die verschiedenen Abstufungen in
der parasitischen Lebensweise und auf ihre ver-
mutliche oder tatsächlich nachweisbare Entstehung
hinzuweisen.
Aber etwas anderes muß in diesem Zusammen-
hange noch zur Sprache kommen. Wir sahen,
daß mit dem Parasitismus eine Vergesellschaftung
mit dem Wirtstiere verknüpft sein kann, sogar in
den weitaus meisten Fällen verknüpft ist. Dürfen
wir daraus den Schluß ziehen, daß da, wo eine
solche Vergesellschaftung tatsächlich zur Beobach-
tung kommt, immer ein F"all von Parasitismus vor-
liegt? Nein, und abermals nein I Diesen F'ehler
hat man früher nicht selten gemacht, indem man
das Zusammenleben zweier verschiedener Tierarten
ohne weiteres als das Verhältnis von Parasit und Wirt
angesehen hat, ohne zu untersuchen, ob der Name
des ersteren durch seine Ernährungsweise berechtigt
wird. Diese Berechtigung besieht nur dann, wenn
das eine der beiden eine Gemeinschaft verschiedener
Arten bildenden Individuen den Geweben oder
Säften des anderen seine Nahrung entnimmt;
nicht aber, wenn es nur an den Nahrungsmitteln
des anderen Anteil hat. Daß das letztere aber
N. F. XVI. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
163
oft genug der Fall ist, hat man schon vor ge-
raumer Zeit erkannt, und der ältere van Beneden
hat für eine derartige „Bewirtung" den Namen
T i s c h g e n o s s e n s c h a f t (C o m m e n s a 1 i s m u s)
eingeführt; die Beteiligten heißen Kommen-
salen oder Mitesser. Doch da diese F'orm
der Vergesellschaftung wieder nur eine besondere
Form eines noch allgemeiner auftretenden gegen-
seitigen Anschlusses darstellt, wollen wir gleich
etwas weiter ausholen und dem Begriffe des
Parasitismus noch von einem anderen Gesichts-
punkte als dem des bisher in den Vordergrund
gestellten Nahrungserwerbs zu Leibe zu gehen
suchen.
^.Schluß folgt.)
Siliciunu'heiiiie und Kohleustotfcheinie.
Ein unter besonderer Berücksichtigung der neueren Arbeiten von Alfred Stock erstatteter Bericht.
üie PVage, ob sich der vom vierwertigen
Kohlenstoffatom abgeleiteten Kohlenstoffchemie
eine vom vierwertigen Siliciumatom abzuleitende
.Siliciumchemie gegenüber stellen lasse, ist oft dis-
kutiert worden und besonders in der allerletzten
Zeit, seitdem Stock sein großes experimentell-
präparatives Geschick in den Dienst der Silicium-
chemie gestellt hat, wieder in den Vordergrund
des Interesses getreten.
Stocks Untersuchungen gehen von den Sili-
ciumwasserstoffen aus, die bei der Zersetzung des
Magnesiumsilicids durch Säuren entstehen. ^) Das
„Magnesiumsilicid", ein MagnesiumSiliciumKom-
plex von unbestimmter Formel, entsteht bei der
Entzündung eines Gemisches von i Teil ganz ge-
ringe Mengen von Alkali als Verunreinigung ent-
haltenden, wasserfreien Siliciumdioxyds mit 2 Teilen
Magnesiumpulver mittels eines Sturmstreichholzes
„magnesio- thermisch" unter Selbsterhitzung des
reagierenden Gemisches bis zur Weißglut als eine
schön blau gefärbte, krystallinisch glänzende Masse,
die mit Salzsäure unter Hinterlassung eines weiß-
lichen Rückstandes ein aus einem Gemisch von
Siliciumwasscrstoften und gewöhnlichem Wasser-
stoffbestehendes selbstentzündliches Gas entwickelt.
Die Ausbeute von Siliciumwasserstoffcn hängt von
den Versuchsbedingungen ab, und zwar erwies es
sich am zweckmäßigsten, das Magnesiumsilicid in
Form eines groben Pulvers in lO^gige .Salzsäure
zu schütten. Der bei Berührung mit Luft ein-
tretenden Selbstentzündung der Siliciumwasser-
stoffe wegen mußte diese Reaktion in einem mit
Wasserstoft' gefüllten geschlossenen Apparat vor-
genommen werden. Das Rohgas wurde mittels
flüssiger Luft kondensiert und die Flüssigkeit dann
durch fraktionierte Destillation im Vakuum in eine
Reihe einheitlicher Fraktionen zerlegt. Diese be-
standen zum weitaus größten Teile aus Monosilan
SiH^ und enthielten daneben auch beträchtliche
Mengen von Disilan Si.,H,. und Trisilan Si^H,,,
eine geringe Menge von Tetrasilan Si^H^ sowie
>) Alfred Stock und Carl SomiesUi, Silicium-
wasserstoffe. I. Die aus Magnesiumsilicid und Säuren ent-
stehenden Siliciumwasscrstoffe. Ber. d. D. c:heni. Ges. 4!»
1916), S. 111 — 157.
Werner Mecklenburg.
möglicherweise etwas Pentasilan SijHj.^; so betrug
bei einem Versuche das Molekularverhältnis
SiH, : Si.Hß : SigHs : Si^Hj,,
I : 0,39 : 0,15 : 0,06
Von der Gesamtmenge des im Magnesiumsilicid
enthaltenen Magnesiums wird bei den Stockschen
Versuchsbedingungen etwa ein Viertel in Silicium-
wasserstoffe verwandelt; der Rest geht im wesent-
lichen in eine amorphe, nichtflüchtige, wasserun-
lösliche Substanz, die sog. „Silico-oxalsäure"
/SiO-OH\
VSiO-OHA
über.
Der Besprechung der im einzelnen erhaltenen
Resultate muß eine kurze Besprechung der von
Stock vorgeschlagenen Nomenklatur derSilicium-
verbindungen ') vorangeschickt werden: Die den
gesättigten Kohlenwasserstoffen C„H_,n_^, Methan
CH^, Aethan C.,H„, Propan QH^, Butan C,Hju usw.
entsprechenden gesättigtenSilicium Wasserstoffe wer-
den allgemein als S i 1 a n e und die einzelnen Glieder
der Reihe SinH^^ ___ , nach der Anzahl der in ihnen
enthaltenen Siliclumatome als Monosilan SiH^, Di-
silan SioH,,, Trisilan Si.,H^ usw. bezeichnet. Von
den Namen der Silane werden die Bezeichnungen
für die anderen Siliciumverbindungen nach den
Regeln der rationellen Nomenklatur der Kohlen-
stofifverbindungen abgeleitet, z. B. SiH., : SiH, =
Disilen , SiH, _ = Monosilyl , SiHCL = Trichlor-
monosilan, SiH^ • OH = Monosilanol, (SiO • OH)j =
Disilandisäure usw. -) Nur für die in der Sili-
ciumchemie sehr wichtigen sauerstoffhaltigen Ver-
bindungen, deren Sauerstoft' ebenso wie in der
Kohlenstoffchemie der Äthersauerstoff gebunden
ist, wird eine Ausnahme gemacht, da die Äther
der Kohlen^toffchemie und die ihnen formell ent-
sprechenden SauerstoHVerbindungen der Silicium-
chemie in ihrem Verhalten einander so unähnlich
') .-Mfred Stock, Die Nomenklatur der Silicium- und
Borverbindungen. Ber. d. D. Chem. Ges. 49 (iqi6), S. 108— UI.
-) In gleicher Weise läßt sich eine Nomenklatur der
Borverbindungen mit dem — noch nicht bekannten — Mono-
boran BH^ als Ausgangspunkt ableiten.
104
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 12
sind, daß eine gleichartige Nomenklatur unange-
bracht erscheint. Die von Stock für sie vorge-
schlagene Nomenklatur ') geht von den als Stamm-
formen betrachteten, bisher nicht dargestellten
wasserstofifhaltigen Verbindungen
H,Si— 0-SiHo usw.
■ ' 0—
H^Si— O— SiHs
aus, die allgemein Siloxane und im einzelnen
nach der Zahl der vorhandenen, abwechselnd mit-
einander verbundenen Sl- und OAtome Disiloxan,
Disildioxan, Trisildiox-an usw. benannt werden
sollen. So heißt z. B. die Verbindung ClaSi— O— SiClg
Hexachlordisiloxan und die Verbindung
{C6Hi),Si— O— Si(CeH,)o- O -Si(CoH6)j-0-Si(CeH.,)2
'l -0 '
Octaphenyl-tetrasil-tetroxan.
„Ist die Summe der Si- und 0-Atome eine un-
gerade Zahl, so handelt es sich um eine ofifene
Kette, ist sie gerade, um einen geschlossenen Ring;
die ringförmigen Siloxane sind Polymere von
H^SiO." Bei den Polykieselsäuren und den Poly-
silikaten soll die eingebürgerte Bezeichnungsweise
zunächst beibehalten werden.
Nach diesen Zwischenbemerkungen über die
Stock 'sehe Nomenklatur der Siliciumverbindungen
kehren wir zur Siliciumchemie zurück und wenden
uns zunächst der Besprechung der gesättigten
Siliciumwasserstoffverbindungen, der Silane, zu,
von denen einzelne Glieder, besonders das schon
im Jahre 1857 vonWöhler und Buff entdeckte
und später häufig untersuchte Monosilan, bereits
seit langem bekannt sind.
Die Affinität zwischen Siliciuni und Wasser-
stoff ist klein, viel kleiner, als die zwischen
Kohlenstoff und Wasserstoff. Selbst das bei
weiten beständigste Silan, das Monosilan SiH^
zerfällt bereits bei 300 bis 400" in seine Kompo-
nenten; durch Wasser wird es langsam schon
bei Zimmertemperatur nach der Gleichung
SiH, + 2H.,0 = SiO. + 4H.,
in Kieselsäure und Wasserstoff zerlegt. Mit Laugen
reagiert es, je konzentrierter sie sind, um so
rascher nach der Gleichung
SiH, + 2NaOH + H^O =- SiO.Na., + 4H2 ;
mit 30 "/o igei' Natronlauge geht die Zersetzung
bei Zimmertemperatur quantitativ bereits inner-
halb etwa zwei Stunden von stattefi, so daß sie
zur quantitativen Bestimmung des Monosilans be-
nutzt werden kann. An der Luft fängt das
Monosilan, auch wenn es ganz rein ist, häufig
Feuer: „augenscheinlich hängt es von Zufällig-
keiten ab, ob sich SiH^ an der Luft entzündet
oder nicht".
Die anderen Siliclumwasserstofi'e , die von
Stock näher untersucht worden sind, nämlich
das gasförmige Disilan sowie das flüssige Trisilan
und das ebenfalls flüssige Tetrasilan zeigen im
wesentlichen das gleiche Verhalten wie das Mono-
silan.
Silicium-Kohlenstoffverbindungeni) sind in
großer Zahl bekannt; außer dem Siliciumkarbid
(SiC)„ , dem Karborundum, sind einige Verbindungen
von dem Typus SiHRg sowie zahlreiche Verbin-
dungen vom Typus SiRj hergestellt worden -),
von denen insbesondere die mit asymmetrischem
Bau, wie die komplizierte Sulfosäure
C0H3 CH-,
r r
SOH3 . C,;H, • CR,- Si— O— Si-CH,j . C„H, • SO3H
C3H, QH,
interessant sind, weil sie die von der Theorie vor-
ausgesehene Erscheinung des optischen Drehungs-
vermögens besitzen.
Die Festigkeit der Siliciumhalogenverbindungen
ist ziemlich groß; sie steigt vom Jod über das
Brom und Chlor zum Fluor. Auch Verbindungen
mit Silicium - Stickstofifbindungen sind gewonnen
worden.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den
Silicium- und den Kohlenstoffverbindungen liegt
in der Neigung zur Kettenbildung. Die Stabilität
der Bindung ^Si— Si:, ist verhältnismäßig ge-
ring, und darum zerfallen alle Verbindungen mit
mehreren, kettenartig aneinander gereihten Silicium-
atomen mehr oder minder leicht. Verbindungen
dieser Art, die eine definierte Struktur hätten,
sind, von den nichtsubstituierten Silanen abge-
sehen, überhaupt nur vom Disilan bekannt. Die
bereits erwähnte „Silicooxalsäure"
SiO-OH
/biU-UM\
Isio-ohA
sowie die „Silico-mesoxalsäure"
SiO-OH^
Si(OH),
I
.SiO-OH
entsprechen ihren organischen Namensvettern
nicht; sie sind amorphe, nicht-flüchtige, wasser-
unlösliche, also aller Wahrscheinlichkeit nach hoch-
molekulare, aber trotzdem wenig beständige Ver-
bindungen; die Silico-oxalsäure zerfällt beim Er-
wärmen, die Silico-mesoxalsäure sogar schon in
der Kälte explosionsartig unter Abgabe von
Wasserstoff.
Verbindungen mit doppelter oder dreifacher
Bindung zwischen den Siliciumatomen sind — das
erscheint nach dem Gesagten ja begreiflich —
i) Alfred -Stock, Zur Nomenkbtur der Siliciumver-
bindungen. Ber. d. U. Chem. Ges. 50 (191 7). i^- 169— i?"-
') Vgl. zum Folgenden: Alfred Stock, „Siliciumchemie
und Kohlenstoffchemie", Ber. d. D. Chem. Ges. 50 (1917).
S. 170—182.
■') R bedeutet hier wie -stets in derartigen Darstellungen
ein aliphatisches oder aromatisches Radikal.
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliclie Wochensclirift.
165
bisher nicht bekannt. Auch kennt man zur Zeit
nur eine Verbindung mit der Atomgruppe
= Si = C=,
das i. J. 191 2 von Seh lenk hergestellte
(QH,),Si:CH2.
Von größter Bedeutung und vielleicht charak-
teristisch für die Siliciumchemie ist die Festigkeit
der Bindung zwischen Silicium und Sauerstoff. Das
einzige Beispiel, in welchem die Bindung Si — O
schon bei gewöhnlicherTemperatur gelöst wird, liegt
in der Einwirkung der Flußsäure auf die Kiesel-
säure und ihrer Salze vor:
SiOi, + 6HF =3 SiF„H., + 2H.,0.
Neben den weniger interessanten Verbindungen
wie den Silanolen RgSi-OH, den Silandiolen
R,,Si(OH)o und den sofort bei ihrer Entstehung
in"SilansäürenRSiO-OH übergehenden Silantriolen
RSi(0H)3 und ähnlichen Verbindungen sind hier
als besonders wichtig die sich außerordentlich
leicht bildenden Siloxane, d. h. Verbindungen von
der Kettenstruktur
. . . -Si-O-Si-0— Si- . . .
anzuführen. So liefert z. B. das Tetrachlormono-
silan SiCl^ bei der Oxydation das Hexachlordisil-
oxan SiCla-0'SiC].j, während der Tetrachlorkohlen-
stoff unter ähnlichen Bedingungen in das Phosgen
COCU übergeht. Die den Ketonen der Kohlen-
stoffchemie entsprechenden Silanone R„SiO, die
durch Wasserabspaltung aus Silandiolen R„Si(OH).,
entstehen sollten, polymerisieren sich den Unter-
suchungen von Kipping zufolge sogleich bei
ihrer Entstehung zu Abkömmlingen des Di-, Tri-
oder Tetrasiloxans; als Beispiel sei das Diphenyl-
monosilandio! (C„H,-,).2Si(0H)., angeführt, unter
dessen Kondensationsprodukten sich ein Tctrasil-
trioxan-Derivat von der F'ormel
(HO)(CaH,)sSi— 0-Si(C,H6)2-0— Si(C8H5)„-0-Si(CeH5)j(OH)
sowie das bereits weiter oben erwähnte Octaphenyl-
tetrasil-tetroxan haben nachweisen lassen. Auch
die Kieselsäure und ihre Salze sind nach Stock
ein Beweis für die Neigung des Siliciums zur Bil-
dung von Siloxanen.
Schon diese wenigen hier angeführten Beispiele
lassen erkennen, daß zwischen dem Kohlenstoff-
und dem Siliciumatom ein wesentlicher Unter-
schied besteht. „Die Kohlenstoffchemie, sagt
Stock, verdankt ihre Mannigfaltigkeit hauptsäch-
lich den gleichmäßigen Bindungskräften des
Kohlenstoffatomes gegenüber den verschieden-
artigen Liganden. ') Positive und negative Höchst-
•) Als „Liganden" (von ligare binden) bezeichnet Stock
in sehr zweckmäßiger Weise allgemein die Atome oder Atom-
gruppen, die von einem Atom oder einer Atomgruppe ge-
bunden sind oder gebunden werden können.
Wertigkeit des Kohlenstoffs sind übereinstimmend
gleich vier", auch ist die Bindung zwischen dem
Kohlenstoffatom und positiven und negativen
Liganden ungefähr gleich fest. „Wasserstoff, Sauer-
stoff, Schwefel, Stickstoff, Halogene, andere Kohlen-
stoffatome werden vom Kohlenstoff mit annähernd
gleicher Festigkeit gebunden." Anders das Silicium.
Obwohl in maximo vierwertig wie der Kohlenstoff,
besitzt es doch zu negativen Liganden vor allen
Dingen zum Chlor, zum Fluor und zum Sauerstoff
eine viel größere Verwandschaft als zu positiven
Liganden. So erklärt sich der ausgesprochene
Gegensatz im Verhalten des verhältnismäßig sehr
beständigen, nach Schlenk bei 354" unzersetzt
siedenden Hexaphenyldisilans
(QU,).ßi - Si(C,;H, ).
und des sich spontan in zwei Moleküle Triphenyl-
methyl, d. h. zwei Moleküle mit je einem drei-
wertigen Kohlenstoffatom spaltenden Hexaphenyl-
aethans :
(C,H5)3C-C(C„H,), :<=> 2(C«HJX.
Hierzu kommt die ausgesprochene Neigung der
Silicium-Sauerstoffverbindungen zu spontaner Kon-
densation durch Sauerstoffverkettung, eine Neigung,
die sich z. B. schon dadurch bemerkbar macht,
daß im Gegensatz zu dem im wesentlichen mono-
molekularen Kohlenstoffdioxyd des Siliciumdioxyd
SiO., ein alle Anzeichen starker Polymerisation
aufweisender Stoff ist.
„Der Existenz des stabilen gasförmigen Oxydes
CO., verdankt der Kohlenstoff zum wesentlichen
Teil seine Rolle in der Natur. Nachdem es in
Pflanze und Tier zahllose chemische Verwand-
lungen durchgemacht hat, erscheint es dank der
oxydierenden Wirkung der Atomsphäre immer
wieder als flüchtiges, überall hindringendes CO^,
dank seiner reichen Affinitätsfähigkeiten von neuem
bereit, die F'üUe organischer Verbindungen zu er-
zeugen. Beim Silicium dagegen muß die ausge-
sprochene Neigung zur Bindung von Sauerstoff
und zur Kondensation der einfacheren Moleküle
zur „Petrifizierung" führen. Wie die Mannigfaltig-
keit der Kohlenstoffverbindungen dem vielseitigen
Charakter des Kohlenstoft'atomes entspricht, so
erklärt sich das natürliche Vorkommen des Sili-
ciums in der starren Form der Kieselsäure und
der Silikate durch die einseitigen Affinilätsverhält-
nisse der Siliciumatome. Auch dort, wo Silicium
in der organischen Natur auftritt, wie in Pflanzen,
Seetieren, Haaren, F"edern , geschieht dies wohl
immer als Kieselsäure oder Silikat. Das von
Ladenburg für möglich gehaltene Vorkommen
organischer Siliciumverbindungen ist wenig wahr-
scheinlich, weil es eben in der Natur für die Sili-
ciumoxvde kein Zurück zu andere Verbindungen
gibt."
166
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i:
Bücherbesprechuugeu.
Ludwig Haberland, Priv. Doz. Dr., Ü b e r S t o f f -
Wechsel und Ermüdbarkeit der peri-
pheren Nerven. (Sammlung anatomischer
und physiol. Vorträge u. Aufsätze, Heft 29.)
Jena 1916. — Preis: 0,80 M.
Jedem ist der Zustand der Ermüdung bekannt.
Die Physiologie arbeitet nun seit vielen Jahren
daran, das Wesen der Ermüdung und mit ihr das
Wesen der Arbeitsleistung eines Organs kennen
zu lernen. Da sind Skelettmuskeln und Ganglien-
zellen die vorzüglichsten Objekte gewesen, und
ihre Ermüdung durch andauernde Arbeit und
ihre Erholung zurzeit der „Ruhe" sind urts heute
in vielen Phasen des Arbeitsablaufs bekannt. All-
gemein gesagt: in einem nicht arbeitenden
Organ herrscht Stoffwechselgleichgewicht, d. h.
Stoffaufbau und Sioffabbau halten sich die Wage.
Trifft nun ein Reiz das betreffende Organ, so gibt
dies eine erkennbare Arbeit nach außen ab, was
in vielen Fällen so geschieht, das bestimmte Stoffe
plötzlich abgebaut werden und nun wieder von
neuem aufgebaut werden müssen. Ist nun der
Abbau größer als der Aufbau, so werden nach
einiger Zeit die Reserven knapp und die Abbau-
produkte als schädliche „Ermüdungsstoffe" häufen
sich an : das Organ kann zuletzt keine Arbeit mehr
leisten und ermüdet.
Eine solche Ermüdung ist an vielen Organen
nachweisbar. Aber seit längerer Zeit wurde be-
hauptet, daß es im Körper der höheren Tiere ein
Funktionssystem gäbe, daß nicht ermüdbar sei:
die periphere Nervenfaser. Die Geschichte dieser
Frage: gibt es von der allgemeinen Erscheinung
der Ermüdbarkeit eine Ausnahme, behandelt sehr
geschickt vorliegender Vortrag. Er gibt nach
einigen einleitenden Abschnitten zunächst die Ver-
suche, die für eine Unermüdbarkeit der peripheren
Nervenfaser sprachen, und dann ausführlicher die
Versuche, die auch ihre Ermüdbarkeit nachweisen.
Zwei Wege gab es für diesen Zweck: Die Beob-
achtung des allmählichen Sinkens des Aktions-
stroms und zweitens der Fortpflanzungsgeschwindig-
keit. Zum Schluß werden die Bedingungen der
Ermüdung kurz angegeben, die denen anderer
Organe gleich sind, woraus man schließen kann,
daß auch die Vorgänge der Ermüdung in allen
verschiedenen Organen prinzipiell ähnlich sind.
Es wurde nämlich erstens beobachtet, daß die bei
den Stoffwechselvorgängen während der Arbeit in
den Nerven abgespaltene Kohlensäure hemmend
wirkt; und zweitens, daß Sauerstoffmangel die
gleiche Wirkung hat. Es muß also bei nor-
maler Nervenleitung Kohlensäure abtransportiert
und Sauerstoff zugeführt werden.
Also auch die peripheren Nerven sind ermüd-
bar, d. h. sie besitzen einen Stoffwechselkreislaul,
der bei starker Arbeit einer gewissen Zeit bedarf
um abgelaufen zu sein. Aber diese Zeit, in welcher
die abgebaute Substanz durch neuaufgebaute er-
setzt wird, ist bei ihnen so kurz, daß man unter
normalen Verhältnissen von einer praktischen „Un-
ermüdbarkeit" sprechen darf.
All dies setzt vorliegender Vortrag klar aus-
einander. Goltwalt Chr. Hirsch.
V'erhandlungen der außerordentlichen Tagung der
Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge,
E. V. (Deutsche Krüppelhiffe, Ergänzungs-
hefte der Zeitschrift für Krüppelfürsorge, heraus-
gegeben von K. Biesalski und H. Würtz).
Leipzig 1916, Leopold Voß.
Es ist wohl nicht nötig, im allgemeinen auf
die großen Aufgaben hinzuweisen , die dem
deutschen Volke nach der siegreichen Beendigung
des Krieges erwachsen. Unter diesen Aufgaben
wird die Krüppelhilfe eine hervorragende Stellung
einnehmen, und sie wird nicht nur die Ärzte-
schaft, sondern die weitesten Volkskreise in An-
spruch nehmen. Ein Hinweis, was heute schon,
der hohen Bedeutung der Sache entsprechend,
geschieht, erscheint darum auch an dieser Stelle
zweckmäßig. Die Deutsche Vereinigung für
Krüppelfürsorge besteht schon seit 1909. Die
Richtlinien für ihre neuen Aufgaben, für die Kriegs-
krüppelfürsorge, wurden vor etwa 2 Jahren fest-
gelegt und unter der Förderung einflußreicher
Persönlichkeiten energisch in Angriff genommen.
Das vorliegende Heft, ein stenographischer Be-
richt der außerordentlichen Tagung im Reichstag-
gebäude am 7. Februar 1916, gibt einen guten
Einblick in die bisherige Tätigkeit und die weiteren
Ziele. Der Inhalt ist so reich, daß er im Rahmen
dieses Hinweises auch nicht annähernd erschöpft
werden kann. Die Vorträge sind nur zum Teil
von Ärzten gehalten; in Anbetracht der Viel-
seitigkeit des Gegenstandes wenden sie sich an
jedermann. Und jeder, der an der Hand dieses
Berichtes sich mit der Sache beschäftigen wird,
wird auch einen Weg finden, wie er selbst bei
der Erfüllung der hohen Aufgaben mitwirken
kann. — Es möge noch betont werden, daß die
„Deutsche Krüppelhilfe" im Buchhandel erhählich
ist und daß Mitglieder der Vereinigung öffent-
liche Verbände, Korporationen, Vereine und
Einzelpersonen werden können. Die Satzungen
der Vereinigung sind dem Bericht angefügt.
Hübschmann.
F. Thedering, Das Quarzlicht und seine
Anwendung in der Medizin. Olden-
burg i. Gr. 1916, Gerhard Stalling.
Diese Monographie ist wohl nur für Ärzte
geschrieben und wird auch wohl nur diesen ver-
ständlich sein. Im ersten Teil sind die physi-
kalischen Grundlagen der Quecksilber-Quarzlampen
oder , .künstlichen Höhensonnen" besprochen, so-
wie die allgemein biologischen und physiologischen
Wirkungen des Ouarzlichtes kurz zusammengefaßt.
N. F. XVI. Nr
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
167
Im zweiten reii bringt Verf seine eigenen Er-
fahrungen über die Anwendung der neuen Licht-
behandlung auf mannigfache Hautkrankheiten und
auch auf Allgemeinerkrankungen. — Willkommen
ist das ausführliche Literaturverzeichnis.
Hübschmann.
Der Ameisenlöwe, Eine biologische, tierpsycho-
logische und reflexbiologische Untersuchung
von Dr. Franz Doflein. Mit 10 Tafeln und
43 Abbildungen im Text. Jena 1916, Verlag
von Gustav Fischer. — Geh. 9 M.
Die moderne Tierpsychologie hat mit dem
Standpunkt, als ob allen Tieren menschliche
Empfindungen und Gefühle zukommen würden,
gründlich aufgeräumt. Ein Werk wie Maeterlink's
Leben der Bienen ist eine wissenschaftliche Un-
möglichkeit. Haben doch die neueren Unter-
suchungen ergeben, daß die Bienenkönigin durch-
aus kein volks- beherrschendes Wesen, sondern
im Gegenteil ein Mitglied des Staates ist, dem
sogar zahlreiche Fähigkeiten seiner Volksgenossen
abgehen. Sie ist zur Eierlegemaschine herab-
gesunken.
Die neueren Ergebnisse lassen sich kurz zu-
sammenfassen. Der eine Teil der Handlungen
eines Tieres geht rein reflektorisch vor sich. Was
man als Instinkt bezeichnet, sind komplizierte
Reflexe. Der andere Teil der Handlungen wird
durch die Fähigkeit zu lernen ermöglicht. Während
die reflektorischen Vorgänge starr und unver-
änderlich sind, gewährleisten die mnemischen
Leistungen dem Tier eine gewisse Regulierbarkeit
der Handlungen , eine Anpassungsfähigkeit des
Individuums an die wechselnde Umgebung. Die
Fähigkeit zu lernen, und sich die Bedingungen
der Außenwelt unterzuordnen, ist bei den höheren
Tieren verschieden entwickelt; das Höchstmaß
wird dort erreicht, wo das Individuum die re-
flektorischen Vorgänge bemeistert, die Reize der
Außenwelt in Assoziationen, Gedankengängen und
logischen Verknüpfungen verarbeitet , wo nicht
nur örtlich, sondern auch zeitlich verschiedene
Eindrücke dem immer reicher werdenden Ge-
dächtnisschatz einverleibt werden. Umgekehrt
steht ein Tier auf einer ganz niederen Stufe
psychischer Fähigkeiten, wenn kaum von einer
Lernfähigkeit gesprochen werden kann, während
die reflektorischen Vorgänge sein Leben und
Treiben beherrschen.
Bisher sind nur wenige Tiere nach dieser
Richtung hin monographisch bearbeitet worden.
Das Buch von H. von Buttel-Reepen über
Leben und Wesen der Biene hat mit einer großen
Zahl von Reflexen und mnemischen Handlungen
der verschiedenen Stockinsassen bekannt ge-
macht. Hier liegen die Verhältnisse aber außer-
ordentlich schwierig. Die Biene ist nicht an den
Ort gebunden und erschwert dadurch die Be-
obachtung. Sie hat aber außerdem einen Reichtum
von psychischen Fähigkeiten aufzuweisen, der der
übergroßen Mehrzahl der anderen Insekten abgeht.
Wesentlich günstiger gestaltet sich die wissen-
schaftliche Untersuchung an Tieren, die wegen
ihrer beschränkten Beweglichkeit beinahe als fest-
sitzend betrachtet werden können. Sie unter-
stehen der ständigen Kontrolle. Als ein außer-
ordentlich günstiges Objekt hat sich hier die Larve
des Ameisenlöwen erwiesen.
Man findet Ameisenlöwen meist an sonnigen
Waldrändern, wo sie in der Tiefe eines in feiner
Erde oder Sand eingesenkten Trichters auf Beute
lauern. Während nämlich den meisten seßhaften
Tieren in genügendem Maße Nahrung zur Ver-
fügung steht, ist der Ameisenlöwe gezwungen,
sich selbst zu versorgen. Er lebt von den Insekten,
die der Zufall ihm in seine Falle spielt. Eine
Menge von Lebensschwierigkeiten, die ihm die
Außenwelt bereitet, hat er durch diese spezielle
Art, sich Nahrung zu verschaffen, zu überwinden.
Er wird ihrer Herr durch die Eigenart seiner
psychischen Verfassung.
Seit Rösel von Rosenhof, also seit etwa
150 Jahren ist der Ameisenlöwe das Schulbeispiel
von Ausdauer und Schlauheit. Diese wesent-
lichen Eigenschaften sollen ihm ersetzen, was ihm
durch den Mangel anderer Naturanlagen versagt ist.
In seinem ausgezeichneten Buch : Der Ameisen-
löwe zerstört Doflein dieses alte Märchen, das
der Larve höchste psychische Fähigkeiten an-
dichtet. Seine Untersuchung führt ihn dazu den
Ameisenlöwen geradezu als Reflexautomaten zu
bezeichnen. Trotz der jahrelangen Beobachtungen
hat Doflein kaum Anklänge an mnemische
Fähigkeiten feststellen können. Alle komplizierten
Handlungen des Trichterbaues, des Ameisenfanges,
die Bewegungen beim Umdrehen, beim Einbohren
in den Sand, bei der Ortsveränderung sind auf
ganz einfache Reflexe zurückzuführen.
Die eingehende Untersuchung der körperlichen
Verhältnisse des Ameisenlöwen ergibt, daß das
Tier in engster, einseitigster Weise an das Leben
im Sand und an die Art der Nahrungserwerbung
angepaßt ist. Die äußere Form des Kopfes, Halses
und Rumpfes, die Zuspitzung des Hinterleibes, der
Bau und die Einlenknng der Beine und vor allem
die Menge der in zweckmäßigster Weise ange-
ordneten Borsten bedingen die Art der Bewegungen
des Tieres. Was an allen anderen Orten unter
allen anderen Bedingungen der Umgebung den
Ameisenlöwen zu einem hilflosen Geschöpf macht,
das gibt ihm im lockeren Sand eine vollkommene
Überlegenheit über andere Tiere.
So innig die körperliche Abhängigkeit des
Tieres von seiner Umgebung ist, so eng ist der
Zusammenhang zwischen den morphologischen
Eigenschaften und den Reflexen. Nur so ist es
■dem Tier möglich, seine Hauptlebensfunktionen
zu erfüllen, noch dazu mit einer geradezu staunens-
werten Armut an Reflexen.
Sobald die Larve die Eihülle verläßt, sucht sie
eine geeignete Stelle für den Trichter aus. Die
Reaktion auf das einfallende Licht und den
i68
Natur wisseiischaftliclie Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Wechsel der Wärme, sowie die auf den iastsinn
wirkenden Reize bestimmen die Auswahl des
Ortes. Phototaxis, Thermotaxis und Thigmo-
taxis beherrschen das Tier. Nun beginnt der
Trichterbau. Hier spielt der Einbohrreflex die
ausschlaggebende Rolle. Taktile Reize der Unter-
seite des Abdomens lösen wiederholte zuckende
Bewegungen der Hinterleibsspitze aus, und der
Körper gleitet nach rückwärts in den Sand hinein.
Kaum beginnt der Kopf in ihn einzutauchen, so
daß sich einige Sandkörner auf seiner Oberfläche
ansammeln, so schnappt der Kopf mit dem Hals
und den ersten Brustsegmenten nach rückwärts:
Der Tastreiz erzeugt den Schleuderreflex. Solche
Schleuderbewegungen erfolgen schnell und ruck-
weise aufeinander nach verschiedenen Richtungen
hin. Alle Sandkörnchen, die den Kopf berühren,
werden weggeschaufelt und der entstehende
Trichter wird tiefer und tiefer, wobei das Tier
selbst einsinkt. Ist der von der Größe des Tieres
abhängige Trichterumfang erreicht, so bleibt dieses
ruhig am Grunde sitzen, Augen und Fühler aus
dem Sand hervorstreckend. Wenn Sand herab-
rieselt, so wird er hinausgeschleudert, gleitet aber
ein Beutetier in die Falle, so tritt ein neuer Reflex,
der Schnappreflex, in Tätigkeit. Er wird aus-
gelöst, wenn die Mundgliedmaßen und die vorderen
Regionen des Kopfes berührt werden und kann
für sich oder in Verbindung mit dem Schlcuder-
reflex erfolgen. Die Beute wird mit den Mandibeln
ergriffen und ausgesaugt in der gleichen Weise,
wie dies von den Larven der Leuchtkäfer oder
von Dytiscus bekannt ist. Die unverdaulichen
Reste nach der Mahlzeit werden aus dem Trichter
herausgeschleudert.
Außer den geschilderten Reflexen läßt sich
wohl noch eine Reihe anderer feststellen, man
kann sie aber alle auf diese drei zurückführen.
Einbohrreflex, Schleuderreflex und Schnappreflex
beherrschen also die Lebenserscheinungen des
Ameisenlöwen.
Hat der Ameisenlöwe bei seinen anfänglichen
Suchbewegungen keinen für seinen Trichter ge-
eigneten Platz gefunden, an dem auch Ameisen
vorhanden sind, so verläßt er seinen Trichter und
wandert ruhelos, um in neuer Umgebung einen
neuen Trichter zu bauen und dort auf Beute zu
lauern. Diese Wanderungen erstrecken sich aber
kaum über weite Entfernungen, denn schon das
Imago hat, dem Triebe aller Insektenmütter
folgend , bei der Eiablage den geeigneten Platz
gewählt.
Alle Bewegungen, alle Handlungen vom Ver-
lassen des Eies an bis zur Verpuppung verlaufen
also gesetzmäßig. Der Ameisenlöwe ist tatsächlich
ein echter Reflexautomat. Keine Handlung, kein
Vorgang deutet auf eine höhere psychische Fähig-
keit hin, nicht einmal komplizierte Instinkte
konnte Doflein ausfindig machen. Damit
stimmt auch der primitive Bau des Xerven-
systemes und des Gehirnes überein.
So klar und sicher die Reflexe ablaufen, wenn
das Tier normale Verhältnisse findet, so gefährlich
wird die Lage unter ungewohnten Bedingungen.
Als ausgeprägter Lebensspezialist, der nur mit
ererbten Fähigkeiten operiert und nichts dazu
lernen kann, muß das Tier dann unrettbar zu-
grunde gehen.
Schon aus dem Wenigen, was hier mitgeteilt
werden konnte, geht hervor, welch wesentlichen
Fortschritt das Doflein 'sehe Buch bedeutet.
lO Tafeln und 43 Textabbildungen erläutern den
Inhalt. Slellwaag.
Literatur.
Leidecker, C, Im Lande des Paradiesvogels. Ernste
und heitere Erzählungen aus Deutsch-Neuguinea. Leipzig '16,
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Henning, H. Privatdozent Dr., Der Geruch. Leipzig'i6,
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Schaffer, Prof. Dr. Fr. X., Grundzüge der allgemeinen
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■ipzig
Wien '16, F. Deuticke
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Rabenhorst's, Kryptogamen- Flora. 6. Band; Die
Lebermoose. Mit vielen Textabbildungen von Dr. K. Müller.
2S. Lieferung (Schlußheft). Leipzig '16, E. Kummer. — 4M.
Hegi, Prof. Dr. G., Illustrierte Flora von Mittel-Europa.
VI. Band, 9. Lieferung. München, J. F. Lehmann. — 1,50 M.
Th orbecke, F., Im Hochland von Mittelkamerun,
2. Teil. Mit 37 Abbildungen und 2 Kartenskizzen. Hamburg
'16, L. Friedrichsen u. Co. — 6 M.
Inhalt a O. Taschenberg, Einige Betrachtungen über die Begriffe Parasit, Raubtier und Pflanzenräuber. S. 153.
Werner Mecklenburg, Siliciumchemie und Kohlenstoftchemie. S. 163. — Bücherbesprechungen: Ludwig
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Verhandlungen der außerordentlichen Tagung der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge, E.^V. S. 166.
F. Thedering, Das Quarzlicht und seine Anwendung in der Medizin. S. 166. " ^ - •
löwc. S. 167. — Literatur: Liste S. 16S.
inz Dofl
.\meisen-
Manuskripte und Zuschriften
Druck d
den an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42,
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
G. Pätz'schen Buchdr. I.ippert S: Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
rbeten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den i. April 1917.
Nummer 13.
Einige Betrachtungen über die Begriffe Parasit, Raubtier
und Pflanzenräuber.
(Nachdruck vcrbutcu.] Von Prof. Dr.
Bei der imponierenden Harmonie, die das All
durchdringt und die sich auch in dem unentwirr-
baren Getriebe der Lebewesen geltend macht, ist
das Einzelwesen an sich gar nicht denkbar und
kann nur als winziges Glied einer großen Gemein-
schaft, in der alles in gegenseitiger Abhängigkeit
steht, beurteilt und verstanden werden. Diese Ab-
hängigkeit ist nicht nur bedingt durch die innere
Beschaffenheit d. h. durch die Organisation jeder
Art, sondern ebenso von den äußeren Lebensver-
hältnissen, von der umgebenden Natur, von der
anorganischen sowohl wie von den zahllosen
Mitgeschöpfen, die alle von dem einen Triebe
beherrscht werden: zu leben. Darum kann man
die Gesamtheit der Geschöpfe, die unsere Erd-
oberfläche bevölkern, als eine große Lebens-
gemeinschaft ansehen, die zwar in Abhängigkeit
von der geographischen Verteilung je ein anderes
Bild zeigt, aber im großen und ganzen sich durch
lange Zeiträume im Gleichgewicht erhält, besonders
wenn „der kleine Gott der Welt" seine Hand dabei
aus dem Spiele läßt. Solche Lebensgemeinschaften
oder Biozönosen, wie sie die neuere Wissen-
schaft genannt hat, nehmen einen anderen Charakter
an, je nachdem sie zwischen Mitgliedern einer
Art Zustandekommen und dann zu dem führen,
was man in Analogie mit menschlichen Verhält-
nissen, als Ehe, Familie, Herde, Staat bezeichnen
kann — das gemeinsame Band ist hier in der
Erhaltung der Art, also in letzter Instanz in der
Ausübung des Geschlechtstriebes zu erkennen —
oder sich aus verschiedenen Arten zusammensetzen,
die der Selbsterhaltungstrieb zusammenführt. Es
erscheint hier im großen Rahmen für die Allgemein-
heit dasselbe Antlitz, mit dem uns das menschliche
Leben von altersher anblickt:
„Warum treibt sich das Volk so und schreit ? Es
will sich ernähren,
Kinder zeugen und die nähren, so gut es
vermag.
Merke dir, Reisender, das und tue zu Hause des-
gleichen!
Weiter bringt es kein Mensch, stell' er sich,
wie er auch will".
Im Zusammenhange mit unserem Thema gehen
uns hier nur die Vergesellschaftungen zwischen
Mitgliedern verschiedener Arten an, wobei nicht
nur Tiere und Pflanzen je untereinander, sondern
auch Vertreter beider organischer Reiche in Frage
kommen können. Man kann, ohne dem Begriffe
Gewalt anzutun, auf diese Art von Lebensgemein-
schaft das ursprünglich in viel beschränkterem
O. Taschenberg. (Schluß.)
Sinne gebrauchte Wort Symbiose^) anwenden
das schon durch seine Bedeutung „Zusammen
leben" den weiten Umfang andeutet, in dem es
gebraucht werden kann und die bequeme Ablei
tung Symbionten für die Beteiligten zuläßt
Aber eben wegen dieser großen Dehnbarkeit des
Begriffes der Symbiose werden weitere Unterab
teilungen nötig. Da das Zusammenleben zweier
verschiedener Tierarten ein mehr oder weniger
zufälliges, ihre Existenzfähigkeit nicht direkt be-
dingendes sein, andererseits aber sich zu einem
Verhältnis ausbilden kann, bei dem der eine der
Symbionten notwendig auf den anderen angewiesen
ist oder bei dem beide einander gegenseitig be-
dürfen, so liegt es nahe, von Symbiose mit ein-
seitiger und solcher mit gegenseitiger An-
passung zu reden, und dann dürfte es nicht
schwer fallen, dem Parasitismus seinen richtigen
Platz innerhalb dieser Lebensgemeinschaften an-
zuweisen. Denn daß er eine bymbiose darstellt,
muß selbstverständlich erscheinen. Jemand, der
bei einem anderen „Nahrung und Wohnung tindet",
ist eben ohne den anderen nicht denkbar; der
„andere" aber hat nicht nur kein Interesse daran,
den Wirt zu spielen, sondern wird von seinen
ungebetenen Gasten sogar benachteiligt, zuweilen
in so hohem Grade, daß er unter dieser „PVeund-
schafi" zugrunde geht; die Anpassung ist also eine
sehr einseitige. Da bei dem Verhältnis zwischen
Beutetier und Raubtier der Vorteil genau so ein-
seitig und die Lage für ersteres insoiern noch viel
bedenklicher ist, weil es von vornherein im Kampfe
zu unterliegen pflegt, so hatte es seine Schwierig-
keiten, zwischen beiden Lebensweisen eine scharte
Grenze zu ziehen. Vom Gesichtspunkte der Ver-
gesellschaftung aus ist es leichter; denn das Beute-
tier wird sich hüten, mit einem ausgesprochenen
l*"einde ein Bündnis einzugehen, und das Raubtier
kann nur bei seinesgleichen, aber auch da keines-
wegs immer auf Freundschaft rechnen. Wenn
') Kraepelin (Die Beziehungeu der Tiere und Pflanzen
zueinander, 2. Aufl., Leipzig 1913, TeubnerJ gebraucht den
Namen Symbiose nur lür ein Zusammenleben mit gegen-
seitiger Anpassung, im Sinne von iMutualismus , und
nennt das, was hier als Symbiose bezeichnet ist, Synökie im
weiteren Sinne, der mithm ein solche im engeren Sinne unter-
geordnet ist. Namen tun hier nichts zur Sache, die Auf-
lassung der Verhältnisse ist in beiden Fällen die gleiche.
B.emerljenswert ist übrigens, daß gerade derjenige Fall von
Genossenschaft, für den zu allererst von de Bary der Name
Symbiose in Anwendung gebracht ist, von den Botanikern
der heutigen Zeit, nicht mehr in diesem Sinne aufgefaül,
nämlich die Vereinigung gewisser Pilze mit Algen zu den
F'lechten, sondern als He 1 o tis m us , d. h. eine Art von
„Sklaverei", in der sich die Alge seitens des Pilzes befindet.
170
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
wir also außer dem Parasitismus noch andere
Formen von Symbiose zu erwarten haben, so
müssen sie auf weniger einseitigen, wenigstens auf
solchen Neigungen beruhen, die mit denen des
Partners nicht direkt kollidieren. Tatsächlich sind
die Motive zu einem für beide Teile erträglichen
Zusammenleben so zahlreich, die damit verbundenen
Vorteile für einen oder für alle beide so ver-
lockend, daß wir in sehr passender Weise mit Karl
Kraepelin') drei große Gruppen von Symbionten
unterscheiden können: Epöken, Synöken und
Paröken. Wenn ein Gast auf oder in dem
Körper seines Wirtes lebt, erscheint er als Epök;
wenn er nur die Wohnung desselben mitbenutzt,
als Synök und wenn er sich gar nur in der
Nähe des ihm sympathischen Wesens aufhält, als
Parök. Mag nun die räumliche Vereinigung so
oder so, enger oder weniger eng stattfinden, eine
besondere Stellung nimmt der Gast dann ein,
wenn er bei diesem Zusammenwohnen auch noch
einen gewissen Anteil an der Nahrung seines
Wirtes erhält. Solche Mitbewohner heißen dann
Mitesser; der Kommensalismus ist mithin nur
eine besondere Form der Symbiose mit einseitiger
Anpassung. Damit sind wir an dem Punkte an-
gelangt, von dem wir im Zusammenhange mit
dem Einmieten ausgingen. Jetzt werden wir aber
hoffentlich etwas besser darüber Bescheid wissen,
warum man nicht berechtigt ist, aus dem Zu-
sammenleben zweier verschiedener Organismen
ohne weiteres auf das Verhältnis von Parasit und
Wirt zu schließen. Das Kriterium dafür bildet
immer erst der Nachweis, daß der Gast seine
Nahrung dem „Fleische und Blute" seines Wirtes
entnimmt. Daß dieser immer leicht zu führen
sei, soll keineswegs behauptet werden. Daher
sind auch heute noch in manchen Fragen auf
diesem Gebiete die Ansichten der Fachleute ge-
teilt, ganz abgesehen davon, daß man in gewissen
Fällen darüber streiten könnte, ob ein Nährstoff
des Symbionten noch mit Recht als integrierender
Teil eines lebenden Organismus angesprochen
werden darf; darüber später noch einige Worte.
Auf die mannigfachen und sehr interessanten
Fälle der hier angedeuteten Verhältnisse genauer
einzugehen, liegt nicht in der Absicht dieser Dar-
legungen. Nur einige Bemerkungen zum näheren
Verständnis des Gesagten erscheinen unerläßlich.
Es ist hervorgehoben, daß neben dem Nahrungs-
bedürfnis auch noch andere Motive zur Symbiose
hinführen. Unter diesen spielen der Wunsch nach
persönlichem Schutze, nach Sicherung der hilfs-
bedürftigen Brut und nicht an letzter Stelle die
Notwendigkeit, irgendwo in der Welt „festen Fuß zu
fassen"u.dgl.,einehervorragendeRolle. Was letzteren
Punkt anlangt, so muß daran erinnert werden, daß
außer festsitzenden Parasiten auch noch eine
nicht geringe Zahl von anderen Tieren eine
festsitzende Lebensweise führt, zu der sie aller-
dings in der Regel erst nach einer Zeit des freien
') In dem oben bereits zitierten Werkchen.
Herumschwärmens sich anschicken. Solche Tiere
finden ihre Lebensbedingungen fast ausschließlich
im Wasser, denn, weil sie nicht wie die Pflanze ihre
Nahrung dem Erdboden und der Atmosphäre zu
entnehmen vermögen, im festsitzenden Zustande
aber unmöglich auf die Nahrungssuche „ausgehen"
können — darum ist die freie Ortsbewegung im
allgemeinen ein Hauptcharakter des Tieres — , so
bleibt ihnen, da Parasiten hier nicht in Frage
kommen, nichts weiter übrig, als es so zu machen,
wie der Junge im Märchen, der sich die gebratenen
Tauben ins offene Maul fliegen läßt, d. h. auf die
nüchterne Wirklichkeit reduziert: sie sind auf das
angewiesen, was ihnen von außen zugetragen wird,
und die Rolle des Zuträgers kann eben nur das
flüssige und fließende Medium, das Wasser, über-
nehmen. Daher finden wir festsitzende, nicht
parasitische Tiere sowohl im Süßwasser als auch,
und zwar noch unendlich viel zahlreicher, in den
weiten und tiefen Gründen des Meeres, der Ge-
burtsstätte alles Lebens. Da handelt es sich nun
zuerst darum, eine Stätte zu finden, wo ein solches
Tier festen Fuß faßt. Dazu bieten sich mannig-
fache Gelegenheiten und beim Ergreifen irgend-
einer solchen dürfte häufig der „Zufall" den Aus-
schlag geben. Der Untergrund des Wassers, der
Stein, der darin liegt, der Rand des Ufers, die
Klippe des Meeres, die Wand eines Schiffes, ein
treibendes Stück Holz usw. usw., aber ebensogut
auch eine Pflanze oder ein anderes Tier, vor allem
ein Weichtier mit fester Schale, ein Krebs mit
derbem Chitinpanzer, aber auch die Haut des
Fisches, des Wales, kurz alles, was einen Halt
bietet, und daß dazu auch lebende Organismen
gehören, ist der brennende Punkt in dem uns hier
interessierenden Zusammenhange ; denn der lebende
und besonders der sich einer treien Ortsbewegung
erfreuende Organismus gibt wieder neue Gelegen-
heit zur Anknüpfung von mancherlei intimeren
Beziehungen. In der Seßhaftigkeit vieler Tiere
haben wir also den Schlüssel zum Verständnis des
Zusammenltbens verschiedener Arten. Der lebende
Träger bietet nicht nur den festen Stützpunkt,
durch den er zum „Wohntiere" für andere wird,
sondern vielfach auch Schutz vor feindlichen Ele-
menten, Gelegenheit, hier und da einen Bissen
aufzuschnappen, der von des Wirtes Mahle abfällt,
in nahrungsreichere Regionen versetzt zu werden,
das Atmungswasser häufiger zu wechseln usw. —
alles Vorteile, die den einen der Symbionten
wesentlich fördern, ohne daß für den anderen
Nachteile damit verbunden zu sein brauchen. Man
versteht, wie die mannigfaltigsten Beziehungen
zwischen beiden zustande kommen können, wie
sich ein Kommensalismus ausbildet, wie der Epöke
durch Benutzung freier Zugänge von der Ober-
fläche seines Wirtes in dessen Inneres (Kiemen,
Mantelhöhle, Rachen oder auch in die entgegen-
gesetzte Öffnung des Nahrungsrohres) eindringt,
wie er sich nicht bloß an seiner Haut anklammert,
sondern auch tiefer in sie eingräbt, wie er aber
auch den eigentlichen Körper seines Trägers ver-
N. F. XVI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
171
lassen und nur dessen Wohnung (Muschel- und
Schneckenschalen, Wurmröhren) mit benutzen,
mithin vom Epöken zum Synöken und schließlich,
wenn es sich z. B. nicht um Einzeltiere, sondern
um Tierstöcke (Korallenriffe) handelt, auch zum
Paröken werden kann; man begreift aber auch,
wie sich aus einem solchen Zusammenleben für
den anderen Teil Vorteile herausstellen können,
Vorteile, die für jeden unentbehrlich werden und
zu einem dauernden und ganz intimen Freund-
schaftsbündnisführen, wie sich mit anderen Worten
eine Symbiose mit gegenseitiger Anpassung, die
Symbiose im engsten Sinne, oder der Mutualis-
mus entwickelt.
Es braucht wohl nicht bezweifelt zu werden,
daß solche Erwägungen nicht bloß theoretischer
Natur sind, sondern daß man zu der Annahme
berechiigt ist, daß in dieser Weise die mannig-
fachen Formen des Zusammenlebens verschiedener
Tierarten wirklich zustande gekommen sind und
auch noch weiter zustande kommen können.
Ebensowenig aber kann bestritten werden, daß in
der Synökie im weiteren Sinne Kraepelin's die
Basis tür gewisse Fälle des Parasitismus zu erkennen
ist und daß speziell der Kommensalismus dem
letzteren so ähnlich ist wie ein Ei dem anderen,
ein Vergleich, der bekanntlich nur dazu dient,
gewisse Verschiedenheiten bei scheinbarer Gleich-
heit aufzudecken. Dasselbe Ziel wird oft auf ver-
schiedenen Wegen erreicht: der Parasitismus kann
ebensogut als abgeschwächtes Raubsystem wie
als gesteigerte Tischgenossenschaft erscheinen, der
Parasit im ersten Falle einem heruntergekommenen
Raubritter, im anderen einem frechen Mitesser ver-
glichen werden. Es ist darum nur zu leicht ver-
ständlich, driß man früher beiderlei Lebensformen
miteinander verwechselte und erst verhältnismäßig
spät unterscheiden lernte. Das soll noch an
einigen Beispielen erläutert werden.
Der in der Mantelhöhle von Muscheln unserer
deutschen Meere, besonders regelmäßig von
Cypridina islandica lebende Schnur wurm
(Nemertine), Malacobdella grossa, ein 3 — 4cm langes,
ziemlich breites Tier, galt lange Zeit als typischer
Parasit und schien nicht nur durch diesen Aufenthalts-
ort, sondern auch durch den an seinem hinteren
Körperende befindlichen großen Saugnapf, dessent-
wegen man ihn früherden Blutegeln zurechnete, als
solcher gekennzeichnet zu sein, vergreift sich aber
nie an den Geweben der Muschel , sondern lebt
lediglich von den Diatomeen, anderen kleinen Algen
und Krebschen, die die Muschel ebenfalls genießt
und dem umgebenden Wasser, das von ihr herbei-
gestrudelt, ständig durch die Mantelhöhle zirkuliert,
entnimmt. Unser Wurm erweist sich somit im
wirklichen Sinne des Wortes als ein Mitesser, dem
die Erreichung seines Zwecks durch den gewählten
Aufenthaltsort sehr bequem gemacht wird. Ein
noch etwas intimeres, höchst originelles Verhältnis
hat sich zwischen einem sehr eigenartigen scheiben-
förmigen, in seiner systematischen Stellung lange
Zeit unsicheren und jetztden Anneliden zugezählten
Wurme, Myzostoma geheißen, und einem im
Mittelmeere häufigen Haarsterne (Comatula medi-
terranea, nach neuerer Nomenkiaiur: Aniedon
bifida) herausgebildet. Der Wurm krallt sich mit
Hilfe seiner Fußhaken in der Umgebung des
Mundes seines Wirtes derart ein, daß sein Rüssel
direkt in den ersteren hineinreicht und so unmittel-
bar an den aus den zehn Armen des Haarsterns
hier zusammenmündenden Nahrungsströmen abzu-
schöpfen vermag. Da der Wirt gar nicht selten
mehrere solcher liebenswürdigen Gäste auf einmal
zu Tische hat, so wird er immerhin ziemlich stark
ausgenutzt und benachteiligt, so daß man einer
Definition der Synöken als „Tieren, welche mit
anderen Arten in enger Gemeinschaft leben, ohne
jenen zu sc had e n , sich selberaberzum Nutzen"
nicht vollkommen beipflichten möchte. Man hat
Tiere, die bei anderen Organismen nur Unter-
kunft finden, ohne ii'gendwelchen Anspruch auf
Ernährung zu erheben, vielfach als Raumpara-
siten bezeichnet und diesen Ausdruck zuerst auf
gewisse Rädertierchen angewandt, die sich dauernd
in den sog. Wasserschläuchen von Lebermoosen
einnisten. Meines Erachtens ist diese Bezeichnung
durchaus unstatthaft; denn sie ist eine Art von
contradictio in adjecto. Wenn Parasitismus eine
besondere Art der Ernährung ist, die in vielen
Phallen durch die Einmietung beim Wirte noch
wirkungsvoller wird, so ist der bloße Anteil an
der Wohnung ohne gleichzeitige Nahrungsent-
ziehung aus dem Körper des Wirtes überhaupt
kein Parasitismus; also ist „Raumparasitismus",
oder wie von anderer Seite gesagt wird, „Woh-
nungsparasitismus" Nonsens. Man nenne
sie Wohnungsgenossen, wodurch sie in
einen gewissen Gegensatz zu den Tischgenossen
gestellt werden, aber lasse den „Parasitismus" bei-
seite, wo er nicht hingehört. Am meisten ver-
unglückt dürfte der gelegentlich in der Literatur vor-
kommende Ausdruck „T ransportschmarotzer"
sein zur Bezeichnung der Gewohnheit jenes als
Schiffshalter (Echeneis naucrator) bekannten
Fisches, der sich mit Hilfe seiner kopfständigen
Saugscheibe an Schiffen oder größeren anderen
Frischen oder Walen festsaugt, lediglich um bei der
damit erzielten schnelleren Durchsegelung des
Meeres bessere Beute machen zu können, die er
nach Räuberart gewinnt. Wenn man in solchem
Zusammenhange das Wort „Parasit" verwendet,
so gibt man ihm einfach die Bedeutung von Mit-
bewohner. Um einen völlig indifferenten Namen
für einen solchen zur Verfügung zu haben, schlage
ich Öket (vom griech. oiy.iii]^) vor. Damit hat
man die Möglichkeit, einmal eine gemeinsame Be-
zeichnung für Epöken, Synöken, Paröken und
Kommensalen anzuwenden, dann aber den allge-
meinen Begriff, wenn es erwünscht ist, durch Vor-
setzung eines geeigneten Adjektivs zu spezialisieren,
indem man von einem kommensalen, murualisti-
schen (bzw. symbiontischen) , sogar parasitischen
Öketen spricht; jedenfalls würden Mißverständnisse
durch solche Bezeichnungen nicht zu befürchten und
172
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
der Pleonasmus „Nähr ungsparasii" (der sich
zusammen mit dem Transportschmarotzer findet)
zu vermeiden sein. Etwas anders verhält es sich
mit wieder einer besonderen und zwar besonders
interessanten Lebensgemeinschaft, die man als
Brutparasitismus bezeichnet hat. Es würde
aber zu weit führen, darauf an dieser Stelle näher
einzugehen, vielleicht einmal in einem eigenen
Artikel, nur die Bemerkung mag hier noch Platz
finden, daß auch in diesem Zusammenhange der
„Parasitismus" nicht recht hingehören dürfte. Die
Gewohnheit des Kuckucks, seine Eier in fremden
Nestern von anderen Vögeln ausbrüten und die
Jungen alsdann ebenso grolälüttern zu lassen, scheint
mir, bei all ihrer Eigenart, noch am ehesten dem
Kommensalismus angereiht werden zu können; es
ist eine Tischgenossenschaft, die bis zur Unver-
schämtheit gesteigert ist, und für die Pflegeeltern
mit dem Verzicht auf eigene Nachkommenschaft
zusammenfällt. —
Auch sonst gibt es noch Biozönosen, die nicht
ohne Berührungspunkte mit dem Parasitismus sind,
gewissermaßen (jrrenzgebiete darstellen, wie sie bei
der großen Mannigfaltigkeit der Existenzbe-
dingungen und der Anpassungsfähigkeit der Orga-
nismen nicht unerwartet erscheinen können, aber
dem schematisierenden menschlichen Geiste Schwie-
rigkeilen bereiten. Um so mehr sollte man im
Gebrauche der Worte Parasitismus und Parasit
etwas gewissenhafter sein und an dem alten Grund-
satze tesihalten „doch ein BegrifT muß bei dem
Worte sein". Ein rühmlichst bekannter, auf ver-
schiedenen Gebieten hervorragender französischer
Zoologe, E. L. Trouessart, hat ein recht brauch-
bares populäres Büchelchen geschrieben unter
dem Titel „Les parasites des habitations humaines
et des densees alimentaires ou commerciales", der
eigentlich schon genügt, um den Verdacht eines
Mißbrauches des Wortes „Parasiten" aufkommen
zu lassen. Das Buch behandelt tatsächlich nicht
etwa nur die bekannten Plagegeister des Menschen,
wie Wanzen, Flöhe, Läuse, Stechmücken, Milben
und ferner gewisse Zooparasiten bei Pflanzen,
sondern ist eine Art von Fauna der Gliederfüßer
der menschlichen Behausungen in der Heimat des
Verfassers. Wenn der Gegenstand nicht auf diesen
Verwandtschaftskreis beschränkt wäre, hätten folge-
richtig auch Ratten und Mäuse und wer weiß was
noch zur Sprache gebracht werden müssen. Und
das alles unter der Bezeichnung „Parasiten"!
Dann freilich ist es nur noch ein kleiner Schritt,
um das bekannte Wort gelten zu lassen, der
Mensch sei ein „Parasit der Erde"; aber das ist
nur eine bildliche Ausdrucksweise, die nicht in
eine wissenschaftlicheBetrachtunggehört; überigens
ist der Vergleich nicht einmal zutreftend, denn der
Mensch ist nach seinem wahren Charakter das
größte und brutalste Raubtier unter der Sonne:
„er nennt's Vernunft und braucht's allein, nur
tierischer als jedes Tier zu sein"!
Von anderer Seite wird für den Begriff des
Parasiten der Grad der Schädlichkeit, die er
dem Wirt gegenüber hat, in Anspruch genommen.
Das ist meines Erachtens prinzipiell unrichtig.
Daß jedes Geschöpf, welches „auf Kosten" eines
anderen lebenden Organismus sich ernährt, mag
es ein Raubtier oder ein Parasit sein, dieses andere
mehr oder weniger schädigt, ist einlach selbst-
verständlich, verschieden ist nur der Grad des
Schadens, der in dem einen Falle vollständig
gleich Null sein kann, d. h. so gering, daß er sich
der Beobachtung völlig entzieht und gar nicht
empfunden wird, im anderen Fall eine Intensität
erreicht, die den Ausdruck „Schaden" beinahe
als Zynismus erscheinen läßt, weil er mit der
völligen Vernichtung des Beutetieres identisch
ist! Im ersteren Falle ändert die geringe Ein-
wirkung ebensowenig an der Berechtigung, von
Parasitismus zu sprechen, wenn die Nahrungs-
entnahme sich in dem von uns genügend hervor-
gehobenen Sinne vollzieht, wie ein das Leben
bedrohender Eingriff die Anwendung dieser Be-
zeichnung verbieten würde, wenn der Schaden
auf rein mechanischem Wege, ohne durch die
Nahrungsaufnahme bedingt zu sein, ') zustande
kommt. Eine Krankheit kann in sehr ver-
schiedener Weise entstehen, unter anderem auch
durch tierische und pflanzliche Parasiten, aber
solche Krankheitserreger bleiben ihrer Natur nach
auch dann „Parasiten", wenn sie im gegebenen
Falle es einmal nicht zur Krankheit kommen
lassen. Wenn also P. Megnin die van Be-
neden'sehe Definition, nach der Parasiten im
eigentlichen Sinne solche Organismen sind 'qui
ont besoin, pour vivre des humeurs qui entretiennent
la propre vie de leur höte', nicht gelten läßt und
einen Unterschied konstituiert zwischen 'les para-
sites inoffensives et les parasites dangereux ou
pathogeniques', so ist das für die Bestimmung des
Begriffs „Parasit" nicht berechtigt, sondern nur
für die PVage von Wichtigkeit, ob man gegen den
F"eind energisch vorgehen oder ihn als zu un-
bedeutend ignorieren soll. Dabei verhält es sich
beim Übergange vom „Harmlosen" zum „Gefähr-
lichen" beinahe ebenso wie mit dem vom Guten
zum Bösen, und der gilt bekanntlich als Maßstab
für den Begrift' der Schnelligkeit!
Wie wenig genau es übrigens Megnin mit
seinen Begriflsbestimmungen nimmt, geht auch
daraus hervor, daß er gleich im Anfange seines
Buches behauptet, van Beneden teile die Para-
siten in drei Klassen: in Kommensalen, Mutualisten
und eigentliche Parasiten, während er den Tat-
sachen entsprechend sagen mußte, der belgische
Zoologe habe die zahlreichen Tiere, die man bis-
her unter dem Namen von Parasiten zusammen-
zufassen pflegte, in solche geteilt, die diese Be-
') Es gibt auch Schädigungen, die mit der xNahrungs-
aufnähme der Parasiten eng verbunden und mechanischer
Art sind, wie die Verstopfung von Hohlräumen, Durch-
bohrungen von Organen, Uruckerscheinungen, Reize infolge
von Körperbewegungen u. dgl., was besonders bei den von
manchen Parasiten innerhalb des Wirtstiers vorgenommenen
Wanderungen zur Beobachtung liommt.
N. F. XVI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
173
Zeichnung wirklich verdienen und andere, für die
er die Namen Kommensalen und Mutualisten vor-
schlägt; denn bei van Beneden heißt es am
Schlüsse seiner Einleitung — mir liegt allerdings
nur die Übersetzung vor — „in dem ersten Buche
wollen wir uns mit den Mitessern, in dem zweiten
mit den Mutualisten und in dem dritten mit den
Schmarotzern beschäftigen", und an einer früheren
Stelle ist zu lesen : „wir glauben ihnen gegenüber"
— nämlich denen, die gegenseitig aufeinander ange-
wiesen sind — „gerechter zu sein, wenn wir sie
Mutualisten nennen und dem Mutualismus einen
Platz neben dem Kommensalismus und dem Para-
sitismus einräumen." Deutlicher kann man sich
doch nicht ausdrücken, um den Parasitismus den
beiden anderen Formen des Zusammenlebens
gegenüberzustellen.
In der Wissenschaft ist mit der landläufigen
Redensart „der Name tut nichts zur Sache"
schlechterdings nichts anzufangen. Man könnte
zwar in Anlehnung an das bekannte Dichterwort
auch in unserem Zusammenhange sagen: was ist
ein Name? Das, was wir Parasiten nennen, bleibt's
seinem Wesen nach, auch wenn es anders hieße!
Ja „with any other name" — aber einen Namen
muß es tragen, wenn unsere Sprache sich darüber
äußern soll, und ein Begriff" muß bei dem Namen
sein, wenn wir uns durch die Sprache über ein
Ding verständigen wollen. Und eben darum ist
es sehr wünschenswert, daß die Vertreter der
Wissenschaft eine gegenseitige Verständigung nicht
erschweren durch Ungenauigkeit im Ausdruck und
Unstimmigkeit zwischen Name und Begriff. Wir
alle empfinden die Segnungen der seit I. inne
eingebürgerten binären Nomenklatur und leiden
gegenwärtig nicht wenig unter den Schwierigkeiten
der Durchführung einer einheitlichen Benennung
aller Lebewesen in völliger Unabhängigkeit der
zahlreichen Sprachen; aber man sollte es nicht
weniger ernst mit unseren Kunstausdrücken, den
sog. Termini technici, nehmen, die oft unter den
Mitgliedern einer Nation zu Mißverständnissen
führen müssen, wenn man die Sorgfalt in ihrer
Handhabung beiseite läßt! Dafür liefert unser
Thema mancherlei Beispiele und sie sind z. T.
schon in diesen Darstellungen entgegengetreten:
ich erinnere nur an den verschiedenen Gebrauch
des Wortes „Symbiose". Wendet man es so
an, wie es hier geschehen — und darin ist uns
Oskar Hertwig in seinem hübschen Schriftchen
„Die Symbiose im Tierreiche" (Jena 1S83) voran-
gegangen — , dann vermeidet man leicht die zwei-
malige Wiederkehr von Synökie, einmal im weiteren
und dann im engeren Sinne. Die sehr mannigfachen
Formen des Parasitismus haben eine Reihe be-
sonderer Bezeichnungen nötig gemacht, die meist
leicht verständlich sind und auch keine Mißdeutungen
veranlassen: wie Ekto- und Entoparasiten
(Außen- und Binnenschmarotzer) nach dem räum-
lichen Verhalten — durch die freie Kommuni-
kation gewisser innerer Organe mit der Körper-
oberfläche nicht ohne Übergänge ; tempo-
räre (zeitweilige) und stationäre (dauernde)
Parasiten nach der Zeitdauer, wobei die
ersteren auch als freie den festsitzenden
gegenübertreten — natürlich nur Stadien im
NA'crdegange. Ferner hat man gelegentliche
(fakultative) und konstante oder obligato-
rische Parasiten darum einander gegenüberstellen
zu müssen gemeint, weil zuweilen Tiere, die unter
normalen Verhältnissen als Saprozoen auftreten,
in die Lage kommen, sich als Parasiten zu be-
tätigen, dann nämlich, wenn sie bei einem lebenden
Organismus ähnliche Bedingungen (faulende und
gärende Stoffe — in eiternden Wunden , im
Magen — ) vorfinden, unter denen sie im Freien
zu leben pflegen (Beispiele sind verschiedene
Fliegenlarven, gewisse Rundwürmer). Als „ge-
legentliche" hat man manche Parasiten aber
auch in einem anderen Sinne bezeichnet : nämlich
nicht als Tiere, die gelegentlich schmarotzen,
während sie sonst in Unabhängigkeit von anderen
Organismen leben, sondern als Parasiten, die statt
ihres gewohnten Wirtes gelegentlich einen anderen
Wirt wählen. Im letzteren F'alle bezieht sich das
„gelegentlich" eigentlich auf den Wirt und nicht
auf den Parasiten, das kann man aber der Zu-
sammenstellung „gelegentlicher Parasit"
nicht ansehen; man sollte sie also lieber ver-
meiden, um keine Mißverständnisse herbeizuführen.
Es handelt sich hier im Grunde um etwas, was
auch Nicht-Parasiten betrifft, nämlich um die
Beschränkung oder Ausdehnung in der Wahl der
Nahrungsquelle. Denn ein Parasit, der nur eine
geringe Anzahl verschiedener Tier- oder Pflanzen-
arten zu seiner Nahrung wählt, verhält sich
schließlich nicht anders als ein Räuber, der beim
Beutemachen ebenfalls wählerisch ist. Man kann
also recht gut auch von monophagen und
pleophagen Parasiten reden und unter
ersteren noch besondere „Spezialisten" mar-
kieren. Eine besondere Bezeichnung für einen
„Wechselbalg", dem ausnahmsweise einmal ganz
besondere Gelüste überkommen, fehlt bisher, und
doch deutet ein solcher Befund vielleicht nur den
Weg an, wie ein Spezialist zum Monophagen usw.
geworden ist, vielleicht auch — und das wäre
noch interessanter — wie ein Parasit entstanden
ist, der regelmäßig im Laufe seiner Entwicklung
zwei oder mehrere verschiedene Wirte heimsucht,
der, wie man es bekanntlich nennt, eines Wirts-
wechsels bedarf. Dieser komplizierte Ent-
wicklungsgang kommt, wenn auch viel seltener
als bei Tieren, auch bei Pflanzen zur Beobachtung,
und danach unterscheidet der Botaniker heter-
ökische Parasiten von autökischen. Aus-
drücke, die man in demselben Sinne auch in der
Zoologie anwenden könnte, bisher aber, soweit
mir bekannt, nicht gebraucht hat. Doch um auf
die „gelegentlichen Parasiten" in der Bezüglichkeit
auf den Wirt zurückzukommen, so könnte man
vielleicht von verirrten Parasiten sprechen und,
wenn es dann ohne Terminus technicus nicht ab-
gehen darf, dafür das Adjektivum paratropisch
'74
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
einführen. Auf die gelegentlichen Parasiten im
anderen Sinne, also auf die fakultativen, hat man
wohl auch manchmal den Ausdruck „Pseudo-
parasiten" angewandt, wovor aber schon
Leuckart warnt, um Mißverständnisse zu ver-
meiden; denn auch dieser Terminus tritt in ver-
schiedenem Sinne auf. In der Botanik spricht
man gelegentlich von Scheinschmarotzern
— und das ist doch nur die Verdeutschung da-
von — , um „Überpflanzen", die zwar auf
anderen Pflanzen wachsen , ohne aber diese ihre
Unterlagen der Nahrungssäfte zu berauben , den
wirklichen Schmarotzern gegenüberzustellen,
während sie in früheren Zeiten vielfach mit diesen
auf gleiche Stufe gestellt wurden. Es verhält sich
also damit genau so wie mit den Epöken
unter den Tieren. In der Zoologie dagegen hat
man von Pseudoparasiten gesprochen, um Tiere,
die vollkommen irrigerweise, zum Teil sogar in
absichtlich irreführender Weise als gelegentliche
Bewohner des menschlichen Körpers vorgewiesen
sind, wie Frösche, Eidechsen, Spinnen, ja nicht
nur Tiere, sondern überhaupt Fremdkörper, wie
Pflanzenfasern, Apfelsinenzelien , Rosinenstengel,
Knöchelchen, Zwirnsfäden usw., mit einem Namen
zusammenzufassen. Und Leuckart meint, auf
solche Dinge möge man den Ausdruck „Pseudo-
parasiten" beschränken. Wenn es an und für
sich recht gewagt erscheinen muß, von wahren
oder echten und falschen oder unechten Parasiten
zu sprechen, denn ein Wesen ist entweder ein
Parasit oder es ist kein Parasit und im letzteren
P'alle könnte man den Gegensatz am einfachsten
mit „Nicht-Parasit" hervorheben (sein oder nicht
sein, das ist hier die Frage I), so möchte man
eigentlich die Berechtigung eines besonderen
Kunstausdruckes überhaupt bestreiten, wenn es
sich um nichts anderes handelt, als die einfältigen
Ansichten von Laien oder die betrügerischen
Absichten von Gaunern mit einem besonderen
Gewände zu bekleiden. Sollte nicht auch hier
die bekannte Nebenbedeutung von „Blech" am
Platze sein? Zum mindesten im AIltagsge>ipräche,
und in die Wissenschaft gehört die Durhmheit nur,
wenn sie Gegenstand der Analyse oder sanktio-
niert ist, d. h. nicht dafür gehalten wird. Man
hat auch wohl von „Hyperparasitismus"
gesprochen und damit die gar nicht so selten
vorkommenden Fälle besonders hervorheben
wollen, wo ein Parasit zum Wirt eines anderen
Parasiten wird (bei gewissen Krebsen und be-
sonders bei Schlupfwespen und Verwandten). Der
Name „Überp arasi t", wie es zu deutsch heißen
würde, scheint mir nicht besonders glücklich ge-
wählt zu sein; denn das, was der Parasit des
Parasiten in seiner Lebensweise betätigt, geht
keineswegs über das Maß irgendeines anderen
Parasiten hinaus, und das müßte man doch von
dem „Über" oder „Hyper" in der Wortzusammen-
setzung erwarten , wie man von einem ,, Über-
menschen" oder in anderem Zusammenhange von
„Überstunden" bezüglich der Arbeit spricht. So
gut wie man Zoo- und Phytoparasiten unter-
scheidet, könnte man für die in Rede stehenden
Geschöpfe das Wort Parasitoparasiten ge-
brauchen und auch noch Zooparasitoparasiten von
Phytoparasitoparasiten trennen, obgleich man für
gewöhnlich sich nicht bewußt wird, daß nicht
nur eine Schlupfwespe, die von einer anderen
Schlupfwespenart bewohnt wird, als Beispiel dient;
denn die erste Schlupfwespe ist stets ein Parasit,
z. B. bei einer Schmetterlingsraupe, sondern daß
sich der Parasit eines Apfelwicklers in genau der
gleichen Lage befindet, da letzterer sich auch
als Parasit ausweist, aber freilich als Phytoparasit.
Man hat übrigens statt Hyperparasitismus ange-
messener auch von einem Parasitismus
zweiten Grades und von einem sekun-
dären Parasiten dem primären gegenüber
gesprochen.
Es war vorher davon die Rede, daß zuweilen
ein Tier, das der Regel nach zu den Saprozoen
gehört, zum Parasiten werden kann, wenn nämlich
die „Gelegenheit Diebe macht". Daß es auch
Fälle gibt, wo man im Zweifel sein könnte, ob
man es mit einem Kotfresser oder mit einem
Parasiten zu tun hat, sollte man von vornherein
kaum für möglich halten, zumal man voraussetzt,
daß ein Kotfresser in keinem anderen Abhängig-
keitsverhältnisse zu einem anderen Tiere steht,
als daß er auf dessen nicht verdaute Nahrungs-
reste angewiesen ist. Wenn er es nun aber nicht
abwartet, bis diese den Weg aus dem Darme des
anderen ins Freie gefunden haben, sondern ihnen
gewissermaßen entgegengeht, indem er sich im
Enddarme des betreffenden Tieres häuslich nieder-
läßt? So machen es tatsächlich gewisse Infusorien
(Opalina), die im Enddarme von Batrachiern leben,
und gewisse Rädertiere (Albertia), die denselben
Teil des Nahrungsschlauches bei Schnecken und
Regenwürmern zur Wohnung wählen und in beiden
Fällen nichts als die verdauten Nahrungsreste be-
anspruchen. Übrigens dürfte es hier immerhin
gewiesen sein , die genannten Organismen nicht
den Koprophagen einzureihen, sondern unter dem
Gesichtspunkte des Kommensalismus zu beurteilen;
denn ihre Nahrung besteht wörtlich aus Abfallen
von des Wirtes Mahlzeit. Ähnlich liegen die Ver-
hältnisse in einem anderen Falle. Es gibt Krebse
verschiedenen Verwandtschaftsgrades, die den
volkstümlichen Namen „Fischläuse" führen,
weil sie in ähnlicher Weise wie wirkliche Läuse
auf der Haut von Fischen, Seeschildkröten und
Walen leben und sich hier hauptsächlich von dem
ausgeschiedenen Schleim dieser ihrer Wirte er-
nähren. Man kann K. Kraepelin nur bei-
stimmen, wenn er in diesem Zusammenhange
bemerkt: „Es gehört entschieden eine gute Dosis
juristischen Scharfsinns dazu, um mit Sicherheit
zu entscheiden , ob diese Abscheidungsprodukte
der Haut noch als „Teile" des betreffenden
Wirtskörpers aufzufassen sind oder nicht."
Wenn übrigens der genannte Forscher fortfährt:
„Ähnlich verhält es sich mit den Haarlingen
N. F. XVI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
•75
(Trichodectes) und Federungen (Mallophagen),
denen vornehmlich die Abfallprodukte der Haut
von Landtieren, also die Schuppen und Feder-
scheiden, aber auch wohl die Haare zur Nahrung
dienen" , so kann ich ihm in dieser von
P. van Beneden angebahnten Auffassung nicht
beistimmen. Der verdiente ehemalige Professor
von Loewen sagt in seinem schon einmal
herangezogenen Buche „Die Schmarotzer des
Tierreichs" (Leipzig 1876, F. A. Brockhaus) wört-
lich, wie folgt (5. 78): „Eine Anzahl Insekten
siedeln sich im Pelz von Säugetieren, andere in
den Flaumfedern von Vögeln an , um von den
Haaren oder Federn die herumliegenden Haut-
schuppen und Epidermisreste aufzulesen. Indem
sie so für die Toilette ihres Wirtes sorgen, leisten
sie ihm gleichzeitig einen großen Dienst in
hygienischer Hinsicht." Van Beneden führt
daher die Mallophagen als Vertreter der Mutualisten
an. Diese optimitische Auffassung von der Er-
nährungsweise der Mallophagen, die seitdem von
vielen Seiten wiederholt ist, trifft aber keineswegs
mit der Wirklichkeit zusammen. Man muß Vögel
gesehen haben , die von zahlreichen Federungen
bewohnt — und zuweilen „wimmelt" es in ihrem
Gefieder von diesen zierlichen Tierchen — und
zugerichtet sind. Ihre Toilette ist arg „derangiert";
die Federn sind abgebissen und gelichtet, so daß
das Gesamtgefieder zerschlissen erscheint; sie
sehen mit einem Worte „ruppig" aus. Ebenso
lehrt eine Untersuchung des Mageninhalts solcher
Läuse, daß keineswegs bloße „herumliegende"
Hautschuppen und Epidermisreste „aufgelesen"
sind, ^] er ist oft gefüllt mit einem ganzen Ballen
von Feder- und Haarteilchen (wenn es sich um
die Bewohner von Säugetieren handelt), die in
einem mikroskopischen Präparate als unschöne
Flecke im Körper ihrer Wirte erscheinen und so
von manchem Zoologen auch im Bilde wieder-
gegeben sind. Aber noch etwas anderes spricht
gegen die Annahme, daß die Mallophagen („Pelz-
fresser") lediglich mit abgestorbenen Teilen der
Epidermis vorliebnehmen. Wenn der Wirt eines
solchen Insekts mit Tode abgegangen ist (bei
geschossenen oder geschlachteten Vögeln ist das
leicht zu beobachten), so verlassen ihn diese Be-
wohner ebenso schleunig wie es blutsaugende
Läuse tun , obgleich doch die Pelzfresser nach
wie vor im Vollbesitze ihres Nahrungsmaterials
') Die Mundwerkzeuge der Mallophagen sind auch durch-
aus geeignet zum Beißen, nicht nur zum Ergreifen loser
Hautschüppchen. Davon können sich oft genug die Mägde
auf dem Lande an ihrem eigenen Körper überzeugen; wo
nämlich die Sitte oder vielmehr Unsitte, noch richtiger Roheit
besteht, lebende Gänse, ehe sie zum Schlachten reif sind,
mehrere Male zur Bettfedergewinnung zu rupfen , kriechen
nicht selten Federlinge, von denen eine ziemlich grofle (etwa
6 mm lange) Art (Trinotum comspurcatum) unsere Hausgans
bewohnt, auf die Mägde, die den Vogel bei dieser grausamen
Beschäftigung zwischen den Beinen festzuhalten pflegen, über
und zwicken sie ganz empfindlich in die Haut; daher nennt
man die Parasiten auch mit einem volkstümlichen Namen
,, Gänsekneifer".
bleiben. Sie rühren es nicht mehr an, wenn die
Blutwärme aus dem Körper ihres Wirtes gewichen
ist; sie werden darum auch niemals unabhängig
von einem solchen an Hornsubstanzen angetroffen,
wie es doch sonst eine Anzahl von anderen In-
sekten gibt, die das Kreatin als Nährstoff aus-
beuten. Die Mallophagen suchen nach dem Tode
ihres ursprünglichen Trägers möglichst schnell
einen anderen Wirt zu erreichen, wobei es vor-
kommen mag, daß sie einen „falschen" erwischen
und dadurch Irrungen in den Angaben der
Spezialforscher veranlassen; denn die sehr zahl-
reichen Arten, die man von solchen Mallophagen
bisher kennt, haben ebenso wie andere Parasiten
im allgemeinen ihre ganz besonderen Wirte, von
denen einer öfter mehrere Parasitenarten be-
herbergt als eine solche verschiedenen Wirten
eigen zu sein pflegt ; wo dies der Fall, stehen die
Wirte in näherer Verwandtschaft, und Einzelbefunde
von Abweichungen davon erwecken von vorn-
herein den Verdacht, daß hier unfreiwillige Ver-
hältnisse vorliegen. Jedenfalls wird durch die an-
geführten Tatsachen bewiesen, daß die Mallophagen
sich von Teilen eines lebenden Organismus er-
nähren und damit gehören sie zu den Parasiten.
Wie es sich mit den Krebsegeln, Würmern
verschiedener und z. T. unsicherer systematischer
Stellung, verhält, die man zwischen den am
Schwänze von Krebs- und Krabben - Weibchen
befestigten Eierballen herumkriechend antrifft,
mag dahingestellt bleiben. Man sagt ihnen nach,
daß sie nur die abgestorbenen Eier verzehren ;
ob das wirklich so sichergestellt ist? Und wenn
es so wäre, so könnte man das Verhältnis der
Würmer zu ihren Trägern wohl kaum als
Kommensalismus bezeichnen; denn bei den Eiern
handelt es sich nicht um Nahrungsreste des Wirts,
sondern um eine Schutzeinrichtung im Zusammen-
hange der Brutpflege. Wer die normalen lebenden
Eier frißt, ist ein Raubtier, darüber ist kein Streit;
wenn er nur abgestorbene aussuchte, müßte er
unter die Aasfresser, bzw. Saprophagen gerechnet
werden.
Man sieht aus solchen und ähnlichen Bei-
spielen, daß es keineswegs immer leicht ist, die
biologischen Gruppen der Tiere gegeneinander
abzugrenzen und daß infolgedessen wohl Irrungen
in den Deutungen der einzelnen Autoren unter-
laufen können, daß sich vielleicht auch noch
manches im Laufe der Zeit als irrig erweist, was
man gegenwärtig für sichergestellt ansieht.
Das sehr interessante Gebiet des Mutualis-
mus näher zu betreten, liegt nicht im Zwecke
dieser Betrachtungen; denn, wenn es richtig ab-
gegrenzt ist, kann es weder mit dem Parasitismus
noch mit der Lebensweise des typischen Raub-
tieres verwechselt werden. Aber ein anderes
muß dem ursprünglichen Plane gemäß, wenigstens
noch angeschnitten, wenn auch nicht ausführlich
behandelt werden, nämlich der Parasitismus
im Pflanzenreiche. Dies Thema ist bisher
absichtlich beiseite geschoben worden und zwar
^^6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
wegen des im allgemeinen verschiedenen Er-
nährungsprozesses bei Tieren und Pflanzen.
Wenn von den letzteren ausnahmslos gelten
würde, was früher als das Charakteristische im
Gegensatz zu den Tieren hervorgehoben ist, daß
sie nämlich mit anorganischen, der Erde, dem
Wasser, der Luft entnommenen Substanzen sich
ernähren, dann wäre ein Parasitismus bei ihnen
von vornherein und grundsätzlich ausge-
schlossen, denn, wie wir sahen, ist die Grund-
bedingung für diese Ernährungsweise die Entnahme
der Nährstoffe von anderen lebenden Or-
ganismen. Wie notwendiges ist, dieses Kenn-
zeichen des Parasitismus immer und immer wieder
in den Vordergrund zu stellen, werden unsere
Betrachtungen zur Genüge klargestellt haben;
darum aber wurden in ihnen die Pflanzen zunächst
ganz ausgeschaltet, um nicht immer auf gewisse
Gegensätze und Ausnahmen hinweisen zu müssen.
Denn eine parasitische Pflanze kann im allgemeinen
als Ausnahme von der Regel angesehen werden.
Die Fähigkeit der Pflanze, sich mit anorg^anischen
Stoffen zu ernähren, beruht auf der Zerlegung der
in der atmosphärischen Luft vorhandenen Kohlen-
säure in ihre Bestandteile: Sauerstoff und Kohlen-
stoff; der dabei freiwerdende Kohlenstoff geht
die verschiedenartigsten Verbindungen mit den
durch die Pflanzenwurzeln aufgenommenen Nähr-
salzen ein und so entstehen die organischen Stoffe,
aus denen sich ieder Organismus aufbaut, nämlich
Kohlehydrate, Eiweißkörper, P'ette usw., die wieder-
um dem Tiere zur Ernährung notwendig sind,
ohne daß es imstande ist, sie selbst aufzubauen.
Die Kohlensäurezerlegung, ein als Reduktion be-
zeichneter Prozeß, wird der Pflanze ledielich durch
jenen grünen Farbstoff, der für diese Organismen
so charakteristisch ist, durch das Chlorophyll
ermöglicht und nur unter Einwirkung des Sonnen-
lichts. Wenn der Pflanze das Chlorophyll fehlt,
ist sie unfähig Kohlensäure zu reduzieren und
damit auch unfähig, aus anorganischen Stoffen
organische aufzubauen; dann muß sie, um leben zu
können, sich den Kohlenstoff auf eine andere Art
verschaffen, und das ist genau dieselbe, die auch
das Tier hat, nämlich organische Nahrung. Und
in dieser Lage sind gewisse Pflanzen, denn es
gibt solche, die des Chlorophylls entbehren und
darum auch nicht grün aussehen. Dahin gehört
vor allem die große Menge aller Pilze, aber auch
eine Anzahl von Samenpflanzen, wie in unserer
engeren Heimat die Arten von Sommerwurz
(Orobanche), die durch ihre weißliche, gelblich-
braune oder rötliche Färbung sofort auffallen, und
der ihnen ähnliche strohgelbe „F i c h t e n s p a r g e 1"
(Monotropa hypopitys), während in wärmeren
Zonen noch andere solche wachsen. Diese be-
dürfen also, um sich ernähren, um leben zu können,
unbedingt eines organischen Substrats, und das
finden sie in der Natur entweder in Form von
abgestorbenen und der Fäulnis ausgesetzten Lebe-
wesen oder als lebende Geschöpfe; im ersteren
Falle erscheinen die chlorophyllfreien Pflanzen als
Fäulnisbewohner (Saprophyten), im anderen
als Schmarotzer (Parasiten oder, wie der Bo-
taniker auch sagt, als paratroph e*) Pflanzen).
Nun gibt es aber auch chlorophyllhaltige
Pflanzen unter den Algen wie unter den Blüten-
pflanzen, die dennoch als Parasiten leben; sie
entnehmen aber ihren Wirten nur einen Teil ihrer
Nahrung, nämlich Wasser und mineralische Nähr-
salze, während sie die organischen Stoffe (Kohle-
hydrate usw.) in eigener Fabrik herstellen, wie
die vollständig frei lebenden chlorophvllführenden
Pflanzen, d. h. durch Assimilation von Kohlensäure
mittels ihres Chlorophylls. Zu dieser Kategorie
von Parasiten gehören aus unserer Heimat die
bekannte Mistel (Viscum) die mit zahlreichen
anderen in den Tropen lebenden Arten zur
Familie der Loranthaceen gehört und, wie auch
diese, auf Bäumen und Sträuchern schmarotzt,
während noch andere Familien, die Santalaceen
und Rhinantaceen, erstere durch Thesium, letztere
durch Melampyrum, Rhinanthus und Euphrasia
bei uns vertreten, Wurzelparasiten sind. Der Bo-
taniker unterscheidet die chlorophyllhaltigen Para-
siten als H em i parasi t en von den übrigen, den
Holoparasiten, ohne aber scharfe Grenzen
zwischen ihnen aufstellen zu können, ebensowenig
wie solche bestehen zwischen Saprophyten und
Parasiten, so daß man sogar von Hemisapro-
phyten spricht und darunter gewisse Schlauch-
pilze (Botrytis z. B.) versteht, die höhere Pflanzen
befallen, deren Gewebe aber, ehe sie von ihnen
zehren, durch Ausscheidung von Giften, abtöten.
Darin die Lebensweise von Saprophyten zu er-
kennen, erscheint mir allerdings eine eigenartige
Auffassung, über deren Berechtigung man doch
wohl streiten könnte. Bei uns Zoologen wenigstens
ist man zu einer ähnlichen Deutung bisher nicht
gelangt, und doch kennen wir Beispiele genug,
wo dem Verzehren der Nahrung eine Vergiftung
vorausgeht. Wir halten eine Spinne wie eine
Viper für Raubtiere, die ihre Giftsekretion dazu
benutzen, um Beute zu fangen und festzuhalten;
und ob diese Beute vergiftet oder einfach tot-
gebissen wird auf mechanischem Wege, ist dabei
gleichgültig. Wenn man dem Tropfen Gift, mit
dem eine Mordwespe die Raupe paralysiert, die
sie für ihre Nachkommenschaft als Nahrung ein-
trägt, gleichzeitig die Eigenschaft zuschreibt, den
Tierkörper zu konservieren, so kann man ihn
noch nicht einmal zu den Fäulnisprodukten
rechnen und die Wespenlarve nicht zu den Sapro-
zoen.
Doch mag dem sein, wie ihm wolle, uns in-
teressiert hier vor allen Dingen, daß in den beiden
') Das Wort besagt genau dasselbe wie parasitisch , nur
daß seine zweite Hälfte in letzterem auf ein griechisches Sub-
stantiv, das Nahrung bedeutet, in ersterem auf ein griechisches
Verbum, das „ernähren" heißt, zurückzuführen ist, daher könnte
paratrophisch ebensogut auf tierische Schmarotzer angewendet
werden. — Paratrophisch ist nicht zu verwechseln mit dem
oben vorgeschlagenen paratropisch, das auf dasselbe Verbum
zurückzuführen ist wie polytropes, das bekannte Beiwort des
„in der Welt herumgeworfenen" Odysseus.
N. F. XVI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
177
großen Reichen der Organismen trotz eines im
allgemeinen entgegengesetzten Stoffwechsels doch
ganz ähnliche Ernährungsverhältnisse zur Be-
obachtung kommen. Der Begriff des Parasitismus
basiert für Tiere und Pflanzen auf genau den
gleichen Voraussetzungen ; in der Botanik hat
man sein eigentliches Wesen sogar eher scharf
hervorzuheben verstanden, als in der Zoologie;
denn in der 1720 erschienenen Sciirift von Micheli
,De Orobanche' wird zum ersten Male der Aus-
druck „Schmarotzer" gebraucht für Gewächse, die
lebenden Pflanzen und Tieren organische Ver-
bindungen entnehmen und sich die Arbeit ersparen,
selbst solche Verbindungen aus Wasser, Nährsalzen
und Gemengteilen der Luft zu bilden. Wenn
man in der Botanik früher auch zahlreiche „Über-
pflanzen" (Epiphyten), bloß weil sie auf anderen
Pflanzen wachsen, jedoch ohne diese ihre Unter-
lagen der Nährungssäfte zu berauben, zu den
Schmarotzern rechnete, so war das genau der
gleiche Irrtum, der in der Zoologie gegenüber
den Epöken, Synöken und Paröken, bzw. den
Kommensalen herrschte. Was wir heutzutage
unter den letzteren Namen verstehen, be-
zeichnet Kerner von Marilaun als Schein-
schmarotzer. Da das Wort dasselbe bedeutet
wie Pseudoparasiten, so würde die Anwendung
dieser Bezeichnung in der Botanik und Zoologie
sich nicht decken. Beiläufig sei noch einmal
hervorgehoben, worauf schon bei früherer Gelegen-
heit hingewiesen wuide, daß solche Überpflanzen
die von ihnen bewohnten Pflanzen in ihren
Lebensfunktionen arg beeinflussen (u. a. durch Be-
schränkung des Atmungsprozesses) und sogar töten
können — man nennt gewisse Arten mit Recht
Baumwürger — , daß derartige mechanische
Wirkungen aber als Kriterium für einen Parasiten
nicht geltend gemacht werden dürfen. Der
Laie ist wohl auch geneigt, in Flechten und
Moosen, die unter Umständen durch ihren dichten
Überzug der Baumrinde die Bäume schädigen —
man erinnere sich des kümmerlichen Aussehens,
das z. B. die so belagerten Ebereschen in unseren
Gebirgen häufig zeigen — , Schmarotzer zu er-
kennen, was natürlich vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus ebensowenig berechtigt ist. Die
heutige Botanik kennzeichnet unzweideutig und
präzise die Schmarotzerpflanzen als solche Ge-
wächse, die andere Lebewesen befallen, sich auf
oder in ihnen ansiedeln und ihnen Nahrung ent-
ziehen, ohne ihnen Gegendienste zu leisten. Mit
den letzten Worten werden die Mutualisten aus-
geschlossen, durch das sehr passend gewählte
Wort „befallen" auch die nicht stationären, frei-
lebenden Parasiten einbegriffen. Zu den letzteren
gehören die einzelligen Vampyrellen (die aller-
dings von manchen Forschern den Tieren zu--
gerechnet werden). „Wenn sich eine länger
dauernde Lebensgemeinschaft zwischen Parasit
und Wirt ausbildet, die dem ersteren zum Nutzen
gereicht", so liegt „symbiotischer Para-
sitismus" vor. Dieser Ausdruck deckt sich also
mit dem bei den Zoologen üblichen „stationärer
Parasitismus." Man darf sich daher durch die Be-
zeichnung des Botanikers nicht irreleiten lassen
und etwa an eine Identifizierung mit Symbiose
im Sinne von Mutualismus denken; den letzteren
unterscheidet auch der Botaniker, wenngleich von
mancher Seite, wie schon gelegentlich bemerkt
wurde, die von de ßary zuerst als Symbiose
bezeichnete Form des auf Gegenseitigkeit be-
ruhenden Zusammenlebens jetzt unter dem Gesichts-
punkte des Helotismus beurteilt wird. Es beruht
das wieder auf einer sehrpeniblen, vielleicht zu penib-
len Abwägung, wieweit der Nutzen beiden Symbion-
ten zu gleichen Teilen oder in Bevorzugung des einen
davon zufällt; obgleich Eug. Warming von
vornherein bemerkt, „ob es einen Mutualismus
mit vollkommener Gegenseitigkeit, einem für beide
Teile gleich vorteilhaften Zusammenleben, gebe, ist
zweifelhaft". W. Niemburg (in seinem Artikel
„Symbiose" im Handwörterbuch der Naturwissen-
schaften, IX. Bd. iqi3, S. 938) sagt bezüglich des
Verhältnisses von Pilz zur Alge in den Flechten:
„er gleicht einem klugen Herren, der seine Sklaven
gut füttert, damit er sie dann um so besser aus-
nutzen kann". Dieser Vergleich paßt vollkommen
auf das Verhältnis des Menschen zu seinen Haus-
tieren — und auch dies muß als eine Symbiose,
als ein Fall von Mutualismus angesehen werden,
der bis zu einem gewissen Grade sogar als Ideal
bezeichnet werden darf und sein Ebenbild in den
sklavenhaltenden Ameisenstaaten findet. Ideal
glaube ich dies Gegenseitigkeitsverhältnis nennen
zu dürfen, weil auch im menschlichen Leben
dauernde Beziehungen viel leichter unter nicht
völlig gleichen, sondern verschieden beanlagten,
einander aber in richtiger Weise ergänzenden
Individuen möglich sind und zustande kommen.
So ist es in der Ehe, in der Freundschaft und im
Geschäftsleben. Darum darf man auch annehmen,
daß das symbiotische Zusammenleben verschiedener
Arten von Organismen als das Resultat eines langen
Entwicklungsprozesses im Kampfe ums Dasein
gerade auf den beiden Teilen adäquaten Eigen-
schaften und Bedürfnissen beruhen werde, wobei
es gleichgültig ist, ob in menschlicher Beurteilung
der eine von beiden besser weggekommen zu sein
scheint, zumal zugegeben werden wird, daß es in
vielen P'ällen recht schwer sein dürfte, einen
richtigen Einblick in diese verwickelten Verhält-
nisse und daher ein richtiges Urteil zu gewinnen.
Doch, mag dem sein, wie ihm wolle, für uns
kommt es hier nur darauf an, festzustellen, in
wieweit in der Botanik und Zoologie bezüglich
des Zusammenlebens verschiedener Arten analoge
Verhältnisse bestehen und darum auch die gleichen
Bezeichnungen dafür zu erwarten, jedenfalls für
ein leichteres Verständnis zu wünschen wären.
Da kann dann bemerkt werden, daß auch der
Botaniker zwischen Ekto- und Entoparasiten')
') Wenn man bald Entoparasiten , bald Endoparasiten
geschrieben findet, so handelt es sich dabei weder um einen
178
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
unterscheidet, wobei die Kriterien ein wenig anders
ausfallen, als in der Zoologie, da die Ernährungs-
organe beider Organismen einen wesentlich anderen
Charakter haben. Bei der ektoparasiiischen Pflanze
müssen die der Nahrungsaufnahme dienenden Or-
gane selbstverständlich in das Innere der Wirts-
pflanze eingesenkt werden (beim Tiere event. nur
der Saugapparat bis in die Haut). Eine Mittel-
stellung nehmen unter den Pflanzen diejenigen
ein, die zwar ihre vegetativen Organe im Innern
des Wirtes ausbilden, ihre Fruktifikationsorgane
aber ins Freie ragen lassen.
Ferner unterscheidet auch der Botaniker zwischen
obligatorischen und fakultativen Parasiten
und versteht unter letzteren solche, die bald sapro-
phytisch, bald parasitisch oder autophytisch leben.
Wenn er aber auch von temporären Para-
siten spricht und damit solche meint, die im
Laufe normalen Entwicklungsganges zeitweise
saprophyt leben (wie z. B. Ustilago und Cordiceps
militans unter den Pilzen), so deckt sich dieser
Begriff nicht mit dem, was der Zoologe mit
temporären Parasiten bezeichnet, nämlich ein im
allgemeinen frei lebendes Tier, das seinen Wirt
nur behufs der Nahrungsentnahme befällt. Für
den Zoologen ist der temporäre Parasit im Sinne
des Botanikers ein periodischer stationärer
gegenüber dem lebenslänglichen Parasiten.
Wenn wir nach dem langen Wege, den wir
zusammen über das ins Auge gefaßte Thema
zurückgelegt haben, zum Schluß noch einmal auf
die L e u ckar t 'sehe Definition des Parasiten einen
prüfenden Blick werfen, so erscheint uns der Begriff
dieser eigenartigen Lebens- und Ernährungsweise
an fünf Grundbedingungen geknüpft: es
handelt sich i. um Organismen im Gegensatz
zu anorganischen Naturkörpern ; 2. um andere
Organismen, von denen sie abhängig sind,
3. diese müssen im lebenden Zustande zur
Verfügung stehen — dies im Gegensatze zu sapro-
trophischen Geschöpfen; 4. die Abhängigkeit be-
ruht nicht auf einer morphologischen Beschaffen-
heit, sondern auf einem physiologischen Prozesse,
nämlich der Ernährung und 5. die Nahrungs-
entnahme macht eine, wenn auch zeitlich noch so
geringe, räumliche Vereinigung (die gleiche
„Wohnung") zur Notwendigkeit. Fragen wir uns
nun, ob bei der Le u ckar t' sehen sehr präzisen
Fassung „Geschöpfe, die bei einem lebenden
Organismus Nahrung und Wohnung
finden" alles, was wir bei unseren langen Be-
trachtungen in den zahlreichen Einzelfällen para-
sitischer Lebensweise kennen gelernt haben, ein-
begriffen und nichts ausgeschlossen ist, aber auch
nichts darunter Platz finden kann, was nach der
gewonnenen Überzeugung nicht hineingehört, so
Druckfehler noch um eine falsche Schreibweise ; im Griechischen
gibt es den Stamm fi'itoi' und ttjoi in der Bedeutung von
„innen" und „innerhalb". In der Zoologie hat jetzt die
Schreibweise mit dem t eine weitere Verbreitung gewonnen.
können diese Fragen nicht ohne weiteres in be-
jahendem oder verneinendem Sinne beantwortet
werden; denn fassen wir Nahrung und Wohnung
gleichsam als eine Bedingung auf, d. h. als zwei
inhärente Bedingungen, von denen eine nicht ohne
die andere gedacht werden kann, dann sind i. die
sog. freilebenden ,. temporären" Parasiten aus-
geschlossen, es sei denn, man täte der üblichen
Auffassung des Begriffes „Wohnung" starken
Zwang an; und 2. findet die Definition auch An-
wendung sowohl auf die Kommensalen wie auf
die Raubtiere und Pflanzenräuber und auf die
Mutualisten, lassen wir dagegen Nahrung und
Wohnung auch getrennt voneinander gelten, dann
gehören der ersteren nach auch Raubtiere zu den
Parasiten, der zweiten entsprechend aber alle
Epöken, Synöken und Paröken, sofern sie nicht
gleichzeitig Kommensalen sind.
Da es nicht dem geringsten Zweifel unterliegt,
daß Leuckart in Wirklichkeit den Begriff „Para-
sit" nur darin etwas anders hat aufgefaßt wissen
wollen, als es hier geschehen, daß er ihn auch
noch auf die „Pflanzenräuber" ausgedehnt hat, so
ergibt sich aus der scheinbaren Unstimmigkeit,
daß seine Definition zu allgemein gehalten
ist und wahrscheinlich absichtlich, um sie durch
Einengung nicht zu langatmig und vielleicht gar
unklar zu gestalten. Die meisten Autoren, die
über dies Thema von allgemeineren Gesichts-
punkten aus gehandelt haben, sind in ihren Be-
griffsbestimmungen des Parasitismus im wesent-
lichen Leuckart gefolgt, wenn sie auch seine
Worte nicht einfach wiederholt haben. Der häufig
gebrauchte Ausdruck, „auf Kosten anderer Or-
ganismen ('aux depens' bei den Franzosen) sich
ernähren" ist zu allgemein gehalten, um nicht
auch die Ernährungsweise des Räubers mit ein-
zuschließen. Über die unzulässigen Zusammen-
setzungen mit -parasiten und -parasitismus ist zur
genüge gesprochen worden.
Vielleicht wird der Zweck einer etwas ge-
naueren Definition unter Vermeidung zu großer
Breite und Unverständlichkeit erreicht, wenn
folgende Form vorgeschlagen wird:
Parasiten (Schmarotzer, paratrophe
Tiere und Pflanzen) sind solche Orga-
nismen, die ihre Nahrung einem anderen
lebenden Organismus entnehmen (wie
die Raubtiere), aber ohne dessen
Existenz damit gleichzeitig zu ver-
nichten (oder dies wenigstens erst
allmählich tun können), vielmehr sehr
gewöhnlich sich auf oder in dessen
Körper einquartieren und auf kürzere
oder längere Zeit mit ihm vereinigt
bleiben, sogar infolge bestimmter
Anpassungen an diese Lebensweise
nicht mehr ohne ihren „Wirt" existiere n
können, ihm dafür aber keine Gegen-
dienste leisten.
N. F. X\l. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Einzelberichte.
Geologie. Die schwäbischen Eisenerzvor-
kommen. Der würltembergische Landtag hat in
seiner Sitzung vom 14. Dezember 1916 das Berg-
gesetz von 1874 und 1906 dahin abgeändert, daß
das Schürfen nach Eisen und Eisenerzen ebenso
wie schon vorher nach Steinsalz und anderen
Salzen, sowie nach Solquellen dem Staate vor-
behalten bleibt. Durch königl. Verordnung kann
das Schürfen dritten Personen gestattet werden.
Die württembergischen Eisenerze gehören dem
unteren Dogger (Brauner Jura) an und finden sich
zwischen Geislingen und Aalen (schwäbischer Jura)
in horizontal liegenden Flözen. Stratigraphisch
liegen sie etwas höher als die lothringischen
Minetten. Bei Wasseralfingen sind es 2 Flöze,
ein oberes (1,7 m) und ein unteres (1,4 m) Flöz, von
denen aber nur das untere abgebaut wird; bei
Kuchen und Aalen ist nur noch ein Flöz entwickelt.
Nach Schätzungen von Geh. -Rat Wüst in Aachen
sind 1600 Millionen t verhüti barer Toneisenerze
vorhanden, die eine lohnende Eisenindustrie im
Neckartal mit Eisen versorgen könnten. Das Erz
ist ein 40"/,, kieselhaltiges oolithisches Toneisen-
erz (ca. 31 "/o Ausbeute), das der Qualität nach
zur Minette, wenn auch nicht erster Güte, gehört.
Leider enthalten die Erze sehr viel Kieselsäure,
die nur durch einen starken Zuschlag von Kalk
bei einem erheblichen Aufwand an Kohle als
Schlacke abgeschieden werden kann. Das Fehlen
von Kohlen in Württemberg und die ungünstigen
Verkehrsverhältnisse haben bisher die Konkurrenz
mit den weit günstiger gelegenen rheinischen und
lothringischen Industriegebieten erschwert. Dies
hat zur Einstellung verschiedener Erzgruben z. B.
bei Kuchen geführt und das staatliche Eisenwerk
in Wasseralfingen arbeitet ohne großen Nutzen.
Ein lohnender Abbau der an sich abbaufähigen
Eisenerzlager wird einmal möglich sein, wenn
der geplante Neckarkanal bis Plochingen geführt
sein wird und Kohle auf dem Wasserwege billiger
als auf der Eisenbahn herangeschafi"! werden kann.
Das Gesetz bezweckt, der Allgemeinheit einen
entsprechenden Anteil an dem bereits eingetretenen
und noch zu erwartenden Wertzuwachs der Eisen-
erzlager zu sichern. (OTC.) V. Hohenstein.
Über die Bodenschätze Belgiens hat Geh. Berg-
rat Krusch eine Reihe von Abhandlungen in
der „Berg- und Hüttenmännischen Zeitschrift
Glückauf" erscheinen lassen. Er geht zunächst
auf Belgiens Reichtum an Kohlen ein.
Das belgische Kohlenvorkommen ist vorzugs-
weise auf den Norden und den Süden des Brabant-
Plateaus, dessen Silur- und Kambriumkern seine
Entstehung der vordevonischen kaledonischen
Faltung verdankt, beschränkt. Das Südbecken
ist das von „Haine Sambre-Maas", das nördliche
das der „Campine". Das Haine Sambre-Maas-
Gebiet ist ini Süden von der großen Überschiebung
begrenzt, die bewirkte, daß ältere Schichten —
Kambrium, Silur, Devon — weit nach Norden,
die Kohlen bedeckend, verschoben wurden, so
daß die Kohlen viel weiter nach Süden reichen
wie sie im Norden ausstreichen. Nördlich lagern
sich dem Brabant Plateau Kohienkalke an. Wenn
man das Brabant Plateau nördlich überschreitet,
so liegt an dessen Nordkante ebenfalls Kohlen-
kalk und weiter nördlich der ahpaläozoischen
Schichten, dem Plateau angelagert, produktives
Karbon.
Am weitesten südlich tritt das Steinkohlen-
gebirge in der Devonmulde von Dinant zu Tage.
Nördlich davon liegt die Haine-Sambre-Maas-
Mulde, die wieder in einzelne kleinere Mulden
zerfällt. Und weiter nördlich vom Brabantplateau
liegt das Kohlengebiet der Campine.
In der Dinantmulde streichen die Steinkohlen-
gebirgsschichten aus, während sie in der Haine-
Sambre-Maas-Mulde erst in den tieferen Tälern
angeschnitten sind, weil sie hier wie in der
Campine unter einem Deckgebirge ruhen. Die
Abrasion der Ardennen hat auch das Kohlen-
gebirge der Dinantmulde stark mitgenommen,
so daß nur noch in den tiefsten Teilen der Mulden
Karbon vorhanden ist. Dagegen sind die beiden
anderen belgischen Kohlenvorkommen noch zu-
sammenhängende Flächen. Bergbaulich ist das
Kohlengebiet von Dinant ohne Bedeutung, während
die Haine-Sambre-Maas-Mulde schon seit Jahr-
hunderten ein wichtiges Kohlengebiet darstellt.
In der Campine entdeckte man die Kohlen
erst 1901, und jetzt ist man durch Abteufen von
12 Schächten im Begriff, diese wichtige Kohlen-
gebiete zu erschließen.
Die belgischen Kohlengebiete hängen mit dem
deutschen, dem rheinisch-westfälischen zusammen.
Die herzynische Faltung läßt nach Westen hin
immer mehr nach und macht dort einem Schollen-
gebirge Platz. Aber trotz aller tektonischen
Störungen, aller postkarbonischen Abrasionen,
aller F"altungen besteht ein zusammenhängendes,
ununterbrochenes Kohlenbecken von Münster und
Aachen bis nach Kent. Nach Krusch 's neuen
Forschungen bildet das Kentkarbon nördlich von
Stour eine Decke, die flach auf alte paläozoische
Schichten aufgeschoben und von der herzynischen
Bewegung losgerissen wurde, während die ähnlichen
Vorgänge im Süden von Brabant nur zu einer
Überschiebung führten.
Die Mulde von Haine-Sambre Maas ist in
Belgien 170 km lang, 3 — 17 km breit und von
einem Flächeninhalt von 1400 qkni. Getrennt
wird die Mulde durch einen Qiiersattel im Samson-
tale bei Lüttich, der im mittleren Oberkarbon
hochgefaltet wurde. Von da aus fallen die Schichten
sowohl nach Westen als auch nach Osten ein, so
daß eine Parallelisierung der Schichten unmöglich
ist. Das Gebiet gehört zu den paralischen, die
[8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
in der Nähe des Meeres sich bildeten. Man teilt
die Kohlen nach ihrem Gasgehalt so ein :
Gasgehalt
Antei
an
der Gesamtförderung
7o
Flenus
25
rd 10
Gras
16-25
„ 26
Demi-gras
11—16
.. 43
Maigre
unter il
>• 21
Das südliche belgische Kohlengebiet ist eine
überkippte Mulde, die ein überkippter Sattel im
Süden begrenzt. Di^e Grenze zwischen Sattel und
Mulde bildet eine Überschiebungszone. So trügt
das Deckgebirge beim Aufsuchen von Kohlen
sehr oft. Man setzt z. B. die Bohrung im Devon
an, durchsinkt Silur und stößt dann erst im
Liegenden auf Kohlen. Die Mulde zerfällt in
einzelne Teile, die rein verwaltungstechnisch zu
ihrer Abgrenzung und Bezeichnung kamen. Das
östliche Becken ist das von Lüttich, in dem die
tektonischen Verhältnisse sehr kompliziert sind.
Das produktive Karbon ist hier 17 — 1800 m
mächtig und enthält 59 bauwürdige Flöze, wovon
20 in ihrer ganzen Ausdehnung ertragreich sind
und 45 Flöze zusammen 35 m Kohle enthalten.
An dieses Becken schließt sich das des Henne-
gaus. Hier steht Karbon im Osten unter Alluvium,
bei Charleroi unter Tertiär und Kreide an, die
bei Mons eine Mächtigkeit von 300—350 m er-
reicht. Die tektonischen Verhältnisse sind hier
noch schwieriger wie im Osten. Mitten im Karbon
treten wurzellose Stöcke von Devon und Silur
auf, die Spuren der Überschiebungsdecke dar-
stellen. Man kennt 8 solche Überschiebungen,
die schuppenartig übereinander liegen und man
hegt Vermutungen, daß sogar die Karbonschichten
eine Verschiebung nach Norden erlitten hätten.
Die Flöze des Süd- und Nordrandes sind nicht
leicht zu identifizieren, da die Störungen zu groß
und die Faltungen von Nord nach Süd zunehmen.
So durchsank der Bohrer bei Ressaix 126 m Devon,
dann 209 m Silur, darauf unter einer Über-
schiebungszone 419 m unteres Oberkarbon, eine
zweite Überschiebung, im Liegenden dieser 8 Flöze
des oberen Oberkarbons mit 21,2 — 11% Gas, da-
runter eine dritte Überschiebung, in deren Unter-
grund ein 9. Flöz mit 20% Gas in 907 m sich
fand. Hier wie im Becken von Lüttich kann man
eine flözreiche, obere Partie und eine flözarme,
untere Partie unterscheiden. Im großen und
ganzen ist man über die stratigraphische Stellung
der Flöze nicht klar. Als man die Überschiebungen
noch nicht erkannt hatte, zählte man lOO — 125
Flöze, die nach dieser wichtigen Erkenntnis auf
29 im Becken von Charleroi zusammenschmolzen.
Man kennt Flöze von 90 cm Mächtigkeit und
darunter, die aber nicht in ihrer ganzen Strecke
bauwürdig sind. Der Gasgehalt der Kohlen nimmt
mit der Tiefe ab, nach Westen hin und von Norden
nach Süden hin zu.
Ein neues belgisches Kohlengebiet hat man in
der Campine zwischen der südlichen Kulmgrenze
von Brabant und dem nördlichen holländischen
Grabeneinbruch durch Bohrungen abgetastet. Das
Deckgebirge ist außer alluvialen Sauden, Tonen,
Eisenerzen, Diluvium, Tertiär, Kreide und Permo-
Trias. Unter dem Steinkohlengebirge lagern
Kohlenkalk, Devon und Silur-Kambrium. Das
Deckgebirge macht im Westen 700 m und im
Osten 600 m aus. Die Fossilien des Campine-
SteinkohlenGebietes deuten auf ein gleiches Alter
der Kohlen hin, wie der Englands, Nordfrankreichs
und Westfalens. Die Zahl der bisher erkannten
Flöze beträgt 46 (Westfalen "](>, Mons 112). Die
Campine steht, nach dem Kohlenreichtum geschätzt,
zwischen dem niederrheinisch-westfälischen (0,9 m)
und dem belgischen Gebiet (0,68 m). Den Vorrat
an Kohlen in der Campine schätzt man auf
8 Milliarden t, davon kommen 7 Milliarden auf
die Provinz Limburg und i Milliarde auf Antwerpen.
Die Campine enthält also über eine große Fläche
hingebreitet einen reichen Kohlenschatz, so daß
man ernstlich daran geht, jährlich 6 Millionen t
zu fördern, um nach Fertigstellung weiterer
Schächte eine Jahresförderung von 20 Millionen t
zu erreichen.
Von dem Gebiet der Campine hat sich der
belgische Staat drei Flächen von 200 qkm, zwei
querschlägig, eine im Streichen verlaufend, be-
wahrt. Die beiden östlichen Reservate sind wert-
voller wie das dritte westliche.
Belgien liefert mit seinem Blei-Zinkerzbergbau
ungefähr 1000 t. Dagegen beträgt Hüttengewinn
aus den östlichen deutschen und importierten
überseeischen Erzen im Jahre 191 2 für Zink
205490 t und für Blei 54940 t.
An die Schnittstellen der Kalke mit den Ver-
werfungen sind Blei- und Zinkerze gebunden. Die
Verwerfungen durchsetzen vom Karbon bis zum
Kambrium alle Schichten des Paläozoikums nord-
westlich des hohen Venns. Die Spalten entstanden
schon vor der Senontransgression. Bis zum Dilu-
vium geschahen auf diesen Spalten im Westen
Erdbewegungen. Wo Mitteldevon- bis unter
Oberdevonkalk und Kohlenkalk auftritt, fanden
sich auch die Erze. Die Gruben von Eschbruch
und Mützhagen bauen die Vorkommen im Kohlen-
kalk ab. Gänge, Höhlenfüllungen, hydrometaso-
matische Körper liefern die Erze.
Die Erze sind sulfidisch als Schalenblende,
Bleiglanz, Schwefelkies und Markasit, oxydisch als
Galmei und Willamit vertreten.
In Belgien gewann man bis 1900 aus 5 Gruben
233031 t Galmei, 27080 t Blende und 11 811 t
Bleierz. In Moresnet gewann man von 1850 — 1904
2150000 t Galmei und die preußischen Gruben
lieferten 195543 t Galmei, 201 619 t Blende und
1 1 624 t Bleiglanz. In Belgien ist der Blende-
Bleiglanzbergbau im Erlöschen, denn im Jahre
191 2 betrug die Ausbeute i 167 t Zinkblende für
141 500 Fr. und 107 t Bleiglanz für 26850 M.
N. F. XVI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Woch enschrift.
r8i
Von 1854 — 1873 lieferten die belgischen
Eisenerzgruben jährlich durchschnittlich 778 000 t.
Heute sind viele Gruben eingegangen. Mit dem
Belgisch-Luxemburger Minettevorkommen, Ver-
witterungslagerstätten in der Campine zusammen
beträgt die jetzige Jahresförderung 200000 t. Da-
gegen brauclit Belgien jährlich 3 Millionen t.
Vier Lager kann man unterscheiden: Das wenig-
wichtige oolitiiische mitteldevonische Roleisenlager
der Givetien in den Provinzen Namur und Lüttich,
das sehr wichtige oberdevonische F'amennelager,
daß das Kohlenlager von Lüttich und Namur ein-
faßt und bis 2 m starke Lager aufweist. Die
Erze haben hier 45 "/o und mehr, die ärmeren
29% Gehalt. Die Famenne-Erze kommen auf
einer Fläche von 450 qkm vor, die Vs bauwürdig
ist. Eine Erzplatte von i m Mächtigkeit, 15 qkm
Fläche, von einem spez. Gewicht von 3,5 hätte
50 Millionen t. Erz.
Die Eisenkarbonate des Steinkohlengebirges
von Lüttich kommen für einen Abbau nicht in
Frage.
Die oolithischen Roteisenerze der Juraformation
bei Longwy mit einer jetzigen jährlichen Ausbeute
von 80000 t gelten als erschöpft. Bei Ligny und
Tregrinne baut man gangförmige und hydro-
metasomatische Eisenerze ab, die nicht nur auf
die Provinz Namur, sondern auch in Hainaut und
Lüttich sich finden. Sie sind an die Zerrüitungs-
zonen der Kalkgebiete gebunden. In der Campine
hat man in den Provinzen Antwerpen und Limburg
das Verwitterungsprodukt eisenhaltiger Sande
(Tertiär) abgebaut. I m mächtig in 40 — 50 cm
Tiefe gewinnt man auf I ha 6 — booo t Erz. Das
3''/o Phosphor enthaltende Erz bildet sich sehr
schnell (Gebiete, die man seit 1846 dreimal
schon abgebaut hat) und enthält bis 5o"/o Eisen.
Wegen des Phosphorgehaltes sah man die Erze,
deren Vorrat man auf 7,5 Millionen t schätzt,
sehr gern.
Die Manganerzlagerstätten ließen eine sehr
wechselnde Förderung zu. 1902 erreichte sie mit
14400 t die Höhe, um seit dieser Zeit immer
mehr abzunehmen. Die Lagerstätten liegen im
südlichen hohen Venn, im kambrisch-silurischen
Kern der Ardennen. Die Erzlagerstätten ent-
standen durch Oxydation und Verlehmung der
Manganschiefer mit metasomatischer Verdrängung
des Gesteins. In Polianit, Eisenmanganerz und
Mangan-Schiefereiz tritt Mangan gewinnbringend
auf.
Phosphate kennt man aus der Kreide von
Bergen bei Mons und bei Lüttich. Man baut
Phosphatkalke ab. Die von Bergen zieht man
wegen ihrer Eisenlosigkeit denen von Lüttich vor.
R. Hundt, als Kriegsgeologe im Felde.
Chemie. Das Kohlenoxysulfid (COS), das
interessante gasförmige Zwischenglied zwischen
Kohlendioxyd und Schwefelkohlenstoff, ist der
Gegenstand einer neueren Veröffentlichung von
A. Stock und E.Kuß aus dem Kaiser- Wilhelm-
Institut für Chemie (Berichte d. D. Chem. Ges.
50 (191 7), Nr. i). Man erhält das Kohlenoxy-
sulfid leicht und rein durch Zersetzen des käuf-
lichen thiocarbaminsauren Ammoniums mittels
Säure. Es wird durch Wasser langsam unter
Bildung von Kohlendioxyd und Schwefelwasser-
stoff angegriffen. Zur völligen Reinigung kann
man das Kohlenoxysulfid mit flüssiger Luft kon-
densieren und dann im Vakuum fraktioniert destil-
lieren. In reinem , trockenem Zustand ist die
Verbindung vollständig geruchlos. Bei Ausschluß
von Feuchtigkeit hält sie sich auch in der Sonne
bei Zimmertemperatur unverändert. Mit Baryt-
wasser gibt sie im ersten Augenblick keine er-
kennbare Reaktion, zum Unterschied von Kohlen-
dioxyd; nach einigen Sekunden erfolgt eine
Trübung, und bei längerem Schütteln wird das
Gas vollständig absorbiert. Von Alkalilaugen wird
es mehr oder weniger rasch absorbiert, wobei sich
primär Thiocarbonat bildet. Dr. B.
Versuche über die Löslichkeit von Kohlensäure
in Chlorophyliösungen haben Robert Kremann
und Norbert Schniderschitsch im Che-
mischen Institut der Universität Graz ausgeführt;
sie berichten darüber im letzten Heft des Jahr-
gangs 1916 der Wiener Monatshefte für Chemie.
Die Assimilation der Kohlensäure in den grünen
Blättern ist bekanntlich eine photochemische Re-
aktion, bei der das Chlorophyll als Katalysator
wirkt. Da bei den meisten chemischen Reaktionen
zunächst eine einfache Addition der reagierenden
Stoffe vorhergeht, so liegt es nahe, anzunehmen,
daß sich auch bei der Assimilation der Kohlen-
säure zunächst eine Additionsverbindung von
Kohlensäure mit Chlorophyll bildet. Zur Prüfung
dieser P>age untersuchte Kremann mit seinem
Mitarbeiter, ob und bis zu welchem Betrage
Chlorophyll und Kohlensäure Additionsgleich-
gewichte eingehen. Wenn ein derartiges Gleich-
gewicht im Licht oder Dunkeln mit erheblichem
Grade bestände, müßte die Löslichkeit der Kohlen-
säure in einer geeigneten Lösung von Chlorophyll
erheblich größer sein als im reinen Lösungsmittel.
Es ergab sich also die Aufgabe, die Löslichkeit
der Kohlensäure in Chlorophyliösungen mit der
in den betreffenden reinen Lösungsmitteln zu ver-
gleichen. Als Lösungsmittel wurde 95'7oiger Al-
kohol gewählt, in dem das Blattgrün hinreichend
löslich ist, und chemische Veränderungen dieser
Substanz beim Lösen bei gewöhnlicher Temperatur
nur in geringem Grade eintreten, also die in der Natur
vorliegenden Verhältnisse sehr gut nachgeahmt
werden. Die Versuche haben nun ergeben, daß
die Löslichkeit von Kohlensäure in Alkohol und
alkoholischen Chlorophyliösungen unter vergleich-
baren Verhältnissen praktisch gleich ist. Die oben
gestellte Frage ist also dahin zu beantworten, daß
weder im Lichte noch im Dunkeln eine Addition
von Kohlensäure durch Chlorophyll in alkoholischer
l82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
Lösung in analytisch nachweisbarem Betrage statt-
findet. Ebenso konnte auch eine Adsorption von
Kohlensäure durch in etwa 45''/„igem Alkohol
aufgeschwemmtes kolloidales Chlorophyll in nen-
nenswertem Betrage nicht beobachtet werden.
Petrographie. Der charakteristische Bestand-
teil der im wesentlichen auf das eigentliche
Laacher See-Gebiet beschränkten grauen Trachyt-
tuffe ist der nach H. v. Dechen sog. „Laacher
Trachyt". An der Hand einer großen Reihe von
Analysen uniersuchte nun R. Braun's die Be-
ziehungen desselben zu anderen Gesteinen dieser
Gegend (Neues Jahrb. f. Mm. usw., Beil.-Bd. 41,
420, 1916). Man unterscheidet den hellen und
dunklen Laacher Trachyt, die recht verschieden
in ihrer Zusammensetzung sind, zwischen denen
jedoch eine kontmuierliche Ubergangsreihe be-
steht. — Der helle Laacher Trachyt, das ver-
breiteste Gestein im engeren Gebiet des Sees, ist
mit dem weißen Bimsstein und dem Dachsbusch-
trachyt der benachbarten Lagerstätten so nahe
verwandt, daß alle drei als aus einem Magma
stammend betrachtet werden können. Die Unter-
schiede im Habitus sind auf die Wirkung der ge-
spannten Gase, die am Anfang der Eruption — beim
weißen Bim->stein — am stärksten war. Man kann
diese Gesteme ihrer Zusammensetzung nach als
phonolithoide Trachyte bezeichnen. Eine kleine
Gruppe dieser Auswürflinge zeigt mehr den Cha-
rakter trachytoider Phonolilhe; ihre Bildung kann
durch geringfügige Spaltungen im Magma und
Auflösung kristalliner Schiefer erklärt werden.
Beim Dachsbuschtrachyt fehlt im Gegensatz zum
Laacher Trachyt und weißen Bimstein der Hauyn,
dagegen führt er häufig Nosean, der wahrscheinlich
nachträglich pneumatolytisch gebildet worden ist.
Der dunkle Laacher Trachyt erhält seinen
Namen nur durch seinen Zusammenhang mit dem
hellen Trachyt. Er nähert sich chemisch mehr
den tephritischen Laven des Gebietes. Hier hat
wahrscheinlich trachytisches Magma in der Tiefe
Bestandteile tephritischer (lesteine aufgenommen.
Die genannten Laven sind die ältesten und zu-
gleich basischsten Ergußgesteine des Laacher
See-Gebietes. Dann folgen nach Alter und Säure-
gehalt: Noseanphonolithe, weißer Bimsstein und
als jüngstes der Laacher Trachyt. Ob der noch
säurereichere Dachsbuschtrachyt noch jünger ist,
läßt sich bis jetzt nicht entscheiden. Den Aus-
wurfmassen des Laacher Gebietes fehlt im Gegen-
satz zu den Noseanphonolithen und Leuzitphono-
liihtuffen des Riedener Gebietes der Leuzit voll-
kommen, ohne daß es bisher gelungen wäre, eine
Erklärung dafür zu finden. — Verf weist dann
noch auf die Möglichkeit hin, daß sich aus
Laacher Trachyt pneumatolytisch Hauynsanidinit
entwickeln kann Er nimmt an, daß in der Tiefe
unter dem Einfluß heißer Gase eine Um-
kristallisation stattgefunden hat. Darauf deuten
vor allem die Auswürflinge vom Charakter der
Nephelinsynite im Riedener Gebiet hin.
Scholich.
Meteorologie. Bemerkenswerte Unterschiede
in der vertikalen Gliederung der täglichen Wind-
periode in Zyklonen und Antizyklonen konnte
W. Koppen an der Windmeßstelle Eilvese
feststellen (Ann. d. Hydrogr. 44, 537, 191 6). Sechs
Anemographen registrieren dort die Windstärke
in 2 bis 124 m Höhe. Die Pentadenmittel zeigen
bei zyklonaler Wetterlage in allen Höhen ein
Maximum der Windstärke zu Mittag und ein
Minimum in der Nacht. In der Antizyklone zeigt
sich bereits von etwa 80 m Höhe aufwärts eine
ausgesprochene Umkehrung dieser Periode und
zugleich die Überlagerung einer schwachen Doppel-
periode. Bemerkenswerte Unterschiede im Tages-
mittel der Windstärke waren dabei nicht zu be-
obachten, wie früher bei ähnlichen Untersuchungen
von Hellmann, Hergesell und Spitaler.
Verf führt daher die Unterschiede auf das ver-
schiedene Maß des vertikalen Luftaustausches zu-
rück. Frühere Arbeiten hatten ergeben, daß
der Austausch die Geschwindigkeitsunterschiede
zwischen den Schichten verringert. Steht bis zu
einigen hundert Metern über dem Erdboden eine
bestimmte Luftschicht mit höheren im Austausch,
so wird die Windgeschwindigkeit in ihr erhöht,
durch eine tiefere aber vermindert. Dement-
sprechend ist bei der Tag und Nacht fortdauernden
Abnahme der Temperatur mit der Höhe in den
unteren Luftschichten der Zyklone ein fort-
währender vertikaler Luftaustausch bis weit über
120 m Höhe vorhanden, so daß auch in dieser
„Zirkulationsschicht" durchweg die gleiche Perio-
dizität des Windes zu beobachten ist. Dagegen
lagert in der Antizyklone des Nachts eine starke
Temperaturumkehr auf dem Boden, in der keine
merkliche vertikale Zirkulation stattfindet. Durch
die Erwärmung des Bodens hebt sich des Morgens
diese „Sperrschicht" in die Höhe. Die unmittelbar
unter ihr liegende Luft vermag nur mit den tieferen
Schichten in Austausch zu treten. So wird am
Vormittag in einer bestimmten Höhe etwa zur
Zeit des Durchganges der unteren Grenze der
Inversion ein Minimum der Windgeschwindigkeit
eintreten. Durch weitere Ausrüstung der Wind-
meßstelle insbesondere mit Thermohygrographen
sollen diese Verhältnisse noch eingehender unter-
sucht werden. Scholich.
N. F. XVI. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
183
Bücherbesprechuugen.
Wasmann, S. J. E., Das Gesellschafts-
leben der Ameisen. Das Zusammenleben
von Ameisen verschiedener Arten und von
Ameisen und Termiten. Gesammelte Beiträge
zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. 2. be-
deutend vermehrte Auflage. I. Band. XVIII u.
413 S. Mit 7 Tafeln und 16 Figuren im Texte.
Münster i. W. 191 5, Aschendorff'sche Verlags-
buchhandlung. — Preis 12 M.
Seit 12 Jahren war des Verfassers Buch „Die zu-
sammengesetzten Nester und gemischten Kolonien
der Ameisen" (1891) völlig vergriffen. Anstatt
eine Durcharbeitung auf veränderter Grundlage
vorzunehmen, entschloß Wasmann sich, einen
Neudruck zu veranstalten unter Beibehaltung der
Seitenzahlen der ersten Auflage. Anmerkungen
verweisen auf die seither gemachten Fortschritte,
die in den folgenden Teilen des Werkes besprochen
werden. Die zweite Hälfte bringt die Neuauflage
der verschiedenen Abhandlungen über „Neues
über die zusammengesetzten Nester und die ge-
mischten Kolonien der Ameisen", unter starker
Vermehrung des Inhalts auf Grund seither ge-
machter Beobachtungen.
Leider verbietet der jetzt herrschende Raum-
mangel ein näheres Eingehen auf den Inhalt des
eine unendliche Fülle interessanter Tatsachen
bietenden Werkes, dessen II. Band noch aussteht
und wohl erst nach Beendigung des Krieges er-
scheinen dürfte. In diesem II. Bande soll einer-
seits die Stammesgeschichte der Sklaverei und
des sozialen Parasitismus behandelt und anderer-
seits eine ganz neu ausgearbeitete kritische Über-
sicht über die Tatsachen der sozialen Symbiose
bei den Ameisen und über die zu ihrer Erklärung
aufgestellten Hypothesen gegeben werden.
Während andere Werke (Escherich,
Wheeler) eine zusammenfassende Darstellung
des ganzen Ameisenlebens bieten, hat Wasmann,
dessen ausgezeichnete, wissenschafthch gründliche
Leistungen auf diesem Gebiete nicht weiter hervor-
gehoben zuwerden brauchen, in der vorliegenden
Arbeit nur das Gesellschaftsleben der Ameisen,
d. h. die Beziehungen dargestellt, die in den zu-
sammengesetzten Nestern und den gemischten
Kolonien zwischen Ameisen verschiedener Arten
oder Rassen und zwischen Ameisen und Termiten
walten. Zugleich ergiebt sich durch die besondere
Art der Veröffentlichung ein lehrreicher Überblick
über die Geschichte der biologischen Theorien
und deszendenztheoretischen Betrachtungen.
Besonderes Interesse verdienen auch die Aus-
führungen über die Psychologie der Ameisen-
gesellschaften. Hier liegt die Gefahr nahe, daß
der Verfasser als Jesuitenpater aus dogmatischen
und sonstigen Rücksichten von der Bahn streng
wissenschaftlicher Forschung abgleiten könne.
Das Gebiet liegt aber so günstig, daß die
Forschungsergebnisse nicht hierdurch berührt er-
scheinen, trotzdem mancherlei besondere Auf-
fassungen dadurch gezeitigt werden. So heißt
es beispielsweise bei der Ablehnung einer
Ameisenintelligenz in bezug auf den Instinkt der
Amazonenameise (Polyergus): „aber mit einer
kunstreichen Maschine hat er" (nämlich dieser
Instinkt) „doch die eine treffende Ähnlichkeit,
daß die Intelligenz, welche das ganze Getriebe
der Federn und Rädchen geordnet, nicht im Tiere
selber zu suchen ist, sondern in einem höheren
Werkmeister" (p. 205). Tatsache ist, daß die Re-
sultate, die bei Wasmann über die Psychologie
der Ameisen herausspringen, sich so gut wie
völlig decken mit den Ergebnissen, die bei anderen
staatenbildenden Insekten — den Bienen — auf
diesem Gebiet seitens der Referenten gewonnen
wurden. Auch hier mußten eine eigentliche In-
telligenz und die Vermenschlichungen abgelehnt
werden, die so vielfach in diese Insektenkolonien
hineingeheimnißt worden sind.
Für die Stellung Wasmann's zur Deszen-
denztheorie genüge folgender Satz: „Wir können
daher mit vollem Recht sagen, daß die Deszendenz-
theorie allein uns den Schlüssel biete zum ein-
heitlichen Verständnis der Erscheinungen des
Sklavenhaltens und des sozialen Parasitismus bei
Ameisen" (p. 334).
Das Werk, über das beim Erscheinen des
II. Bandes noch Eingehenderes zu sagen sein
dürfte, erscheint für den Ameisenforscher un-
entbehrlich und bietet auch weiteren Kreisen viel
Interessantes, zumal die Darstellung eine leicht
verständliche ist. v. Buttel-Reepen.
Sommer, G., Geistige Veranlagung und
Vererbung. ,,Aus Natur und Geisteswelt",
Bd. 512. B. G. Tcubner, Leipzig-Berlin 1916.
Das vorliegende Büchlein, eine der letzten
Errungenschaften der Teubnerschen Sammlung,
bedeutet für sie einen recht schönen Zuwachs.
Klar und fließend werden die nicht immer gerade
leichten Probleme entwickelt und erörtert, so daß
der Leser von Anfang bis zum Ende gefesselt ist.
Nach kurzen Vorbemerkungen über die Grund-
lagen der Vererbungsforschung auf psychischem
Gebiet werden die psychischen Eigenschaften und
damit die Grundzüge der Psychologie überhaupt
besprochen, sodann das körperliche Substrat der
Seele, das Nervensystem; inwieweit hier die physio-
logische Forschung mit der Psychologie Hand in
Hand zu gehen vermag, ersehen wir aus diesem
Kapitel. In dem Abschnitt „Die ererbte seelische
Konstitution" werden dann diese Fäden weiter
gesponnen und insbesondere die Anwendung der
X'ererbungslehre auf seelische Eigenschaften im
allgemeinen näher zergliedert. Am anziehendsten
wirkt dann aber das nächste Kapitel, das sich
mit speziellen Anlagen, Instinkt, Sprache, Be-
gabung, Talent und Genie, und ihren Beziehungen
zur Vererbung beschäftigt. Mannigfache Beispiele
[84
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 13
aus Geschichte und Literatur beleben dies Kapitel
auf das Vorteilhafteste. Auch das letzte Kapitel,
das sich mit der Vererbung im Individualleben
erworbener psychischer Eigenschaften beschäftigt,
hat dieselben Vorzüge und gibt außerdem einen
lehrreichen Beitrag zur Frage der Vererbung er-
worbener Eigenschaften überhaupt. Nicht nur
gebildeten Laien, sondern auch engeren wissen-
schaftlichen Kreisen dürfte dies Büchlein wertvoll
sein. Hübschmann.
ist aber nicht zu leugnen, daß diese leicht faßliche
Physiologie des Menschen dem wißbegierigen
Laien von Nutzen sein wird. Hübschmann.
Sachs, H., Bauund Tätigkeitdesmensch-
lichen Körpers. „Aus Natur und Geistes-
welt" Bd. 32. 4. Auflage. B. G. Teubner, Leipzig-
Berlin. 19 16.
Das Büchlein stellt eine Einführung in die
Physiologie des Menschen dar. Der Sache und
dem Zweck entsprechend sind aber auch die
anatomischeu Verhältnisse recht genau geschildert.
Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte. Der
erste behandelt allgemeine Gesichtspunkte: der
Körper wird als Zellenstaat bezeichnet, seine
Funktionen mit denen einer Maschine verglichen,
wobei einige chemische und physikalische Gesetze
kurz gestreift werden, endlich die Art seiner
Erhaltung, insbesondere durch Zuführung der
Nahrungsmittel, geschildert. Der zweite Abschnitt
handelt von der Ernährung, bzw. den vegetativen
Funktionen: Verdauung, Blutumlauf, Atmung, Ab-
sonderung, einschheßlich der Drüsen mit innerer
Sekretion, und der VVärmeproduktion. Das dritte
Kapitel spricht von den Leistungen des Körpers:
Funktion der Knochen und Gelenke, der Muskeln,
des Nervensystems und der Sinnesorgane. Der
vierte Abschnitt endlich enthält die Lehre von
der Entstehung neuer Zellen und Organismen. —
Die Darstellung ist sehr populär und leicht ver-
ständlich, oft durch Bilder aus dem alltägUchen
Leben unterstützt, die Abbildungen sind rein
schematisch. Das Erscheinen des Büchleins in
vierter Auflage spricht für seine Beliebtheit. Um
so mehr ist es vielleicht angebracht, bei ferneren
Auflagen etwas anspruchsvoller gegen die Leser
zu werden, vielleicht auch hier und da das Tat-
sachenmaterial noch etwas zu kontrollieren. Nur
ein Beispiel möchte ich bemerken. Daß der
Besprechung des menschlichen Kostmaßes die
Voit'schen Zahlen ohne Kommentar zugrunde
gelegt werden, kann zumal in der jetzigen Zeit
nur verwirrend wirken. — Im ganzen genommen
Anfangsgründe der Chemie und Mineralogie.
mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse
des praktischen Lebens. 9. erw. Auflage.
Unter Mitwirkung von W. Haber, Hildesheim,
neubearbeitet von M. Mittag, Cöthen. Mit
112 in den Text gedruckten, z. T. farbigen
Abbildungen und einer farbigen Nahrungsmiitel-
tafel. Hildesheim und Leipzig 1916. August
Lax, Verlagsbuchhandlung.
Das äußerlich unscheinbare Büchlein hat einen
erfreulich gediegenen Inhalt. Die Notwendigkeit,
zu vereinfachen und gemeinverständlich im Aus-
druck zu sein, führt hier und da natürlich zu
Kompromissen in der Darstellung des Stoffes;
trotzdem sind Unrichtigkeiten und offenbare Ver-
flachungen des Themas vermieden. Überall wird
geschickt angeknüpft an die Bedürfnisse des täg-
lichen Lebens, und auch die volkswirtschaftliche
Bedeutung der Chemie findet gebührende Hervor-
hebung. Daß die im Kriege erschienene Neu-
auflage auch die Wichtigkeit der Chemie für
Deutschlands Heer und Volk betont, ist selbst-
verständlich. Der Leser, der das Büchlein mit
Verständnis durchgearbeitet hat und sich auch
über die zahlreichen Fragen am Schluß jedes
Kapitels Gedanken gemacht hat, wird es, auch
wenn ihm chemische Vorkenntnisse gefehlt haben,
reich belehrt wieder aus der Hand legen. (Für
die nächste Auflage ein kleiner Wunsch des Re-
zensenten : Streichung des Wortes „Asche", das
häufig an Stelle von Oxyd gebraucht wird; der-
artige termini technici durch deutsche Wörter er-
setzen zu wollen, heißt das Wesen der Sprach-
reinigung verkennen 1) Bugge.
StofT und Kraft im Kriege. Von Prof. Dr.
V. Pöschl, Direktor des Instituts für Waren-
kunde an der HandelsHochschule Mannheim.
Verlag von J. Bensheimer. Mannheim, Berlin
und Leipzig. 1916. — Preis 1,20 M.
Eine nützliche kleine Broschüre, die in an-
schaulicher Darstellung schildert, was Chemie und
Physik im Kriege von heute leisten. Ein Anhang
geht näher aut Einzelheiten ein; auch die ge-
schichtliche Entwicklung der Kriegswerkzeuge und
-hilfsmittel wird gestreut. Bugge.
Inhalts ü. Tascheaberg, Einige Betrachtungen über die Begriffe Parasit, Raubtier und Pflanzenräuber. (Schlufl.) S. 169. —
Einzelberichte: V. Hohenstein, Die schwabischen Eisenerzvorkommen. S. 179. Krusch, Über die Bodenschätze
Belgiens. S. 179. A. Stock und E. Kuß, Das Kohlenoxysulfid. S. l8i. Robert Kreraann und Norbert
Schniderschitsch, Versuche über die Löslichkeit von Kohlensäure in Chlorophyllösungen. S. 181. R. Braun,
„Laacher Trachyt". S. 182. W. Koppen, Vertikale Gliederung der täglichen Windperiode in Zyklonen und Anti-
zyklonen. S. 182. — Bücherbesprechungen: E. Wasmann, Das Gesellschafisleben der Ameisen. S. 183.
G. Sommer, Geistige Veranlagung und Vererbung. S. 183. H. Sachs, Bau und Tätigkeit des menschlichen
Körpers. S. 184. M. Mittag, Anfangsgründe der Chemie und Mineralogie. S. 184. V. Pöschl, Stoff und Kraft
im Kriege. S. 184.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 8. April 1917.
Nummer 14.
Der Arbeitsrhythmus der Ganglienzellen.
[Nachdruck verboten.] Von Gottwalt Chr.
Rhythmische Vorgänge aus unserem eigenen
Körper sind jedem eine ganze Anzahl bekannt:
z. B. die Herzarbeit, die Atmungsarbeit, Wachen
und Schlafen. Die Physiologie ist nun seit ihrem
Entstehen darauf aus, das Wesen solcher perio-
discher Erscheinungen, das heißt ihre Bedingung;en
näher zu analysieren. Aber wie schwer das ist,
zeigt die Tatsache, daß es bisher weder für die
Herz- noch die Atemperiodizität vollkommen ge-
lungen ist, ihre Bedingungen aufzudecken; über
viele Punkte herrschen große Meinungsverschieden-
heiten, über andere haben wir nicht einmal eine
Meinung. Der Grund dafür ist einfach der: das
Arbeitssystem, welches in beiden Fällen rhythmisch
arbeitet, ist sehr kompliziert, setzt sich aus so
vielen Einzelsystemen, die sich gegenseitig be-
einflussen, zusammen, daß es bis heute schwierig ist,
in das Getriebe eines solchen Teils hineinzublicken.
Schwieriger noch ist es, das Ganze zu überschauen.
Ebenso steht es mit den Untersuchungen des
Rhythmus pflanzlicher Organismen.
Man hat infolgedessen sich mit der Arbelt
kleinerer Arbeitssysteme beschäftigt, hat deren
Rhythmus beobachtet und zu ihrem Verständnis
manches gewonnen. Es stellte sich dabei heraus,
daß vielerlei lebendige Systeme imstande sind,
rhythmisch zu arbeiten: z. B. Muskeln, Nerven,
Ganglienzellen. Ich möchte hier den Rhythmus
der letzten: der Ganglienzellen referierend ab-
handeln, indem ich mich vorwiegend dazu jenes
schönen Werkes Verworn's bediene: Erregung
und Lähmung (Jena 1914), das, als Muster-
beispiel starker gedanklicher Verarbeitung eines
Tatsachenmaterials, über den Rhythmus der
Ganglienzellen zerstreut Ausgezeichnetes bringt,
das auch für weitere Kreise interessant ist.
Um die Bedeutung der Ganglienzellarbeit
zu würdigen, wollen wir aus ihren Aufgaben einen
Teil herausschneiden. Es ist jedem bekannt, daß
die Bewegung, also die Kontraktion der Glied-
maßenmubkeln, in hohem Maße von der Erregung
durch Ganglienzellen abhängt. Es hat nun seiner-
zeit berechtigtes Aufsehen erregt, als man fand,
wie groß die Anzahl der Muskelkontraktionen in
der Sekunde sein kann, fand man doch bei In-
sekten weit über 100, für die Stubenfliege sogar
330 Kontraktionen in der Sekunde. Es ist nun
wahrscheinlich, daß jede solcher einzelnen Kon-
traktion auf einer besonderen Erregung durch
Reize der betreffenden Ganglienzellen des Insektes
beruhen. Auch wenn wir Menschen einen Muskel
Hirsch, z. Zt. im Felde.
längere Zeit hindurch anspannen, so erhält er
von seinen Ganglienzellen in der Sekunde viele
Impulse, deren Zahl man früher auf 20 — 50 angab,
neuerdings auf 120 — 180 schätzt. Tatsache ist also,
daß die Ganglienzellen in großer Zahl Impulse in
rhythmischer Folge aussenden können; ob nun
alle Muskelkontraktionen in der Sekunde allein auf
das Diktat der Ganglienzellen zurückgeführt werden
können, oder ob die Muskeln auch in diesen
Fällen den Rhythmus der Impulse transformieren
in einen besonderen Eigenrhythmus, diese Frage
steht noch offen, und wir begnügen uns zu-
nächst mit der Arbeit der Ganglienzellen, deren
Bedeutung einleuchtet.
Wir erforschen die Arbeit der Ganglienzellen
so, daß wir sie vermittels des elektrischen Stromes
(oder durch andere Einwirkungen) in verschiedener
Stärke, Dauer und Reizfolge reizen und nun den
Reizerfolg beobachten entweder an den Zuckungen
desjenigen Muskels, welcher zu den betreffenden
Ganglienzellen gehört, oder an den Schwankungen
eines Saitengalvanometers. Die zunächst zu be-
obachtenden Tatsachen sind sehr einfach: reizen
wir z. B. die motorische Sphäre des Großhirns
am Hund mit langsam aufeinanderfolgenden In-
duklionsschlägen , so bewirkt jeder Reiz eine
Zuckung in dem zugehörigen Muskel. Wenn
wir jetzt die Reize schneller aufeinander folgen
lassen, so ruft nicht mehr jeder Reiz, sondern
nur noch jeder zweite, dritte oder vierte eine
Muskelzuckung hervor. Es wird also nicht mehr
nach Diktat gearbeitet, sondern nach einem
Eigenrhythmus, nur unter Mitwirkung der
fremden Reize. Dasselbe zeigt sich, wenn die
Erregbarkeit der Ganglienzellen durch Strychnin
stark erhöht wurde; dann genügt ein einziger
Öffnungsinduktionsschlag auf die Ganglienzellen,
um eine lange Reihe rhythmischer Impulse in
diesen auszulösen, d. h. ein unrhythmischer Reiz
wird rhythmisch (im Eigenrhythmus) beantwortet.
In dem ersten Falle dagegen wurde ein rhyth-
mischer Reiz in demselben Rhythmus beantwortet;
Verworn nennt einen solchen einen exonomen,
dagegen den zweiten Fall (Eigenrhythmus) einen
endonomen Rhythmus. ') Von der Exonomie
wollen wir nun in der Folge ganz absehen, weil
hier die Bedingungen klar sind. Dagegen soll
■ uns jetzt bei dem endonomen Rhythmus die
Frage beschäftigen: welches sind die Bedingungen
1) Von weiteren begrifflichen Fassungen anderer Eigen-
rhythmen, die Verworn gibt, sehe ich hier ab. Zur Nomen-
klatur des Eigenrhythmus s. Hirsch, Gottwall, Arbeits-
rhythmus der Verdauungsdrüsen. Biol. Zenlralbl. 1917.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 14
eines solchen rhythmischen Vorgangs, wie ent-
steht er?
Zunächst ist es eine alte Beobachtung, daß
dieser Rhythmus aus einer Folge von Perioden
besteht, von denen jede aus einem Impuls und
der darauf folgenden Pause sich zusammensetzt;
auch ein konstanter Reiz vermag in den Ganglien-
zellen nicht einen konstanten Impuls zu wecken,
den diese durch den Nerven versenden, sondern
immer nur den Wechsel: Impuls -Pause -Impuls-
Pause usw. Darin also besteht zunächst das
Wesen des endonomen Rhythmus, daß diese zwei
Phasen: Impuls und Pause notwendig hinter-
einander koordiniert sind, mag nun ein ein-
zelner, ein rhythmischer oder ein dauernder Reiz
die Ganglienzellen treffen.
Um noch tiefer einzudringen, machen wir
uns klar, was auf den die Zellen treffenden Reiz
in ihnen geschieht. Verworn hat hier eine
Theorie aufgestellt, die auch an anderen Objekten
eine Bestätigung erfahren hat.
Es befindet sich die Zelle, wenn kein Reiz
sie trifft, im sogenannten „Ruhestoffwechsel", d. h.:
Aufbau und Abbau halten sich die Wage. Der
Begriff „Ruhe" ist natürlich nicht als ein völliger
Stillstand der P'unktionen anzusehen, vielmehr
nur als ein Gleichgewicht von Einnahme und
Ausgabe der Zelle, verbunden mit chemischem
Gleichgewicht des zellulären Systems. Trifft nun
ein Reiz die Zelle, so wird der Ruhestoffvvechsel
dadurch gestört, daß an einem bestimmten, be-
sonders labilen Punkte des Stoffwechsels plötzlich
ein Körper zerfällt; die uns heute näher bekannten
Reize haben vorzüglich diese dissimilatorische
Wirkung. Dieser plötzlich zerfallende Teil des
sich in der Zelle abspielenden Ruhestoffwechsels
ist der „primäre Angriffspunkt des
Reizes"; der Zerfall ist dessen erste Wirkung.
Diesen plötzlichen Abbau eines bestimmten
Körpers stellt auch nach außen die erste spezi-
fische Arbeitsleistung des betreffenden Systems
dar, in unserem Falle den Impuls der Ganglien-
zelle. Der Abbau kann durch mannigfache
Änderung der Lebensbedingung der Zelle hervor-
gerufen werden ; z. B. auch durch erhöhte Tempe-
ratur: bringe ich meinen Frosch in einen Wärme-
kasten von 40" C, so zeigen sich an ihm in Kürze
tetanische Krämpfe, was vermutlich darauf zurück-
zuführen ist, daß die „Temperatursteigerung den
Umfang des Ruhestoffwechsels mehr und mehr
erhöht. Damit steigt die Erregbarkeit, bis ausschließ-
lich explosionsartige Entladungen erfolgen."
Wäre es nun möglich, daß dieser explosions-
artige Abbau in gleichem Maße fortschritte, so-
lange ein gleichmäßiger Reiz die Zelle trifft, dann
würde der Impuls der Zelle auch gleichmäßig
dem Nerven zufließen. Da dies letztere aber nicht
geschieht, so ist offenbar, daß der Abbau einmal
sein Ende haben muß, d. h. der abgebaute Körper
muß ersetzt werden. Nach einiger Zeit setzt also
eine „Restitution" in der Zelle ein.
Diese besteht erstens in einem Ersatz des ab-
gebauten Körpers. Dies kann entweder aus den
Vorratskammern der Zelle geschehen oder durch
sofortige Neubildung der betreffenden Substanz.
Zweitens aber ist für die Begrenzung des Abbaus
eine andere Bedingung wichtig, zum Abbau ge-
hört Sauerstoff. Besitzt die Zelle ihn nicht mehr
ausreichend, so muß sie den Abbau einstellen,
was sich in einem Nichtreagieren auf die äußeren
Reize kundtut: die Zelle erstickt, wird gelähmt.
Das konnte Verworn's Schule demonstrieren
durch Versuche, bei denen das Blut eines Frosches
ersetzt wurde durch kreisende physiologische
Kochsalzlösung, die sauerstofffrei gemacht war.
Die Pausen der Ganglienzellarbeit wurden immer
länger, bis zuletzt die Zellen nicht mehr erregbar
waren; wurde dann aber sauerstoffhaltige Koch-
salzlösung durchgespült, so trat die Erregbarkeit
wieder auf
Die dritte Bedingung ist die Fortschaffung der
Abbaureste vor allem durch den Blutstrom.
Zirkulierte in den Versuchen die Kochsalzlösung
nicht, sondern stand in den Gefäßen, dann trat
die Nichterregbarkeit erheblich schneller ein als
beim zirkulierenden Strom. Häufen sich also die
Abbauprodukte in den Zellen an, so wird der
Abbau ebenso begrenzt wie durch Sauerstoff-
mangel.
Neubau der abgebauten Substanz, Sauerstoff-
zufuhr und Resteabfuhr sind also vorzügliche Be-
dingungen der Reizfähigkeit, d. h. desjenigen Stoff-
wechsels, der auf den Reiz hin einsetzt, des Reiz-
stoffwechsels. Ob er von dem Ruhestoffwechsel
qualitativ verschieden ist, das müssen weitere
Untersuchungen lehren, jedenfalls ist er bezüglich
der Zeit seines Ablaufs verschieden, so daß man
wohl den die Zelle treffenden Reiz als einen Be-
schleuniger (Katalysator) bezeichnen kann.
Die primäre Reizwirkung ist der Zerfall eines
bestimmten Körpers in der Ganglienzelle, die se-
kundäre Wirkung dagegen das Einsetzen der
Restitution dieses Körpers. Diese Wiederher-
stellung ist (nach Hering) die „Selbststeuerung
des Stoffwechsels" genannt worden. Durch die
primäre Reizwirkung ist das Gleichgewicht der
Zelle gestört und dieses wird nun durch eine
Reihe von Arbeiten selbsttätig wiederhergestellt;
dies erfolgt vermutlich, indem die Zelle aus den
Reserven Stoffe herbeiholt oder sie neubaut und
indem der Organismus Sauerstoff liefert und Reste
fortschafft. Diese Beteiligung des Organismus hat
aber letztenendes und direkt mit dem Aufbau
des spezifischen Stoffes nichts zu tun, sondern
ist nur eine allgemeine Arbeitsbedingung der
Zelle, ebensowenig wie Kohlt-nzufuhr und Aschen-
abfuhr nicht besondere Bedingungen des spezi-
fischen Arbeitsablaufs in der Maschine sind, sondern
nur allgemeine Bedingungen unendlich verschie-
dener Maschinen.
N. F. XVI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
[87
Während dieser sekundären Reizwirkung, der
Restitution, ist die GangUenzelle nicht erregbar;
wir bemerken eine Pause nach dem Impuls. Ein
solches Stadium der Unerregbarkeit nennt man
allgemein das Refra ktärstadiu m, welches
bei sehr verschiedenen lebenden Systemen zu be-
obachten ist. Der erste Versuch über ein Re-
fraktärstadium bei Ganglienzellen ist folgender-
maßen aufgestellt worden: ein Hund hatte
Veitstanz, und gewisse Muskeln zuckten rhythmisch
in Intervallen von I Sekunde; wurde nun seine
Großhirnrinde elektrisch gereizt, so zeigte es sich,
daß 0,5 Sekunden nach einer Zuckung die Ganglien-
zellen nicht erregbar waren, in den darauffolgenden
0,25 Sekunden nur schwach, in weiteren 0,25 Se-
kunden voll erregbar. Es befanden sich also
0,5 Sekunden nach einem Anfall die Ganglien-
zellen im Refraktärstadium. Seitdem ist für die
normale Großhirnrinde ein solches von o, i Sekunden
festgestellt; ferner ist ein solches bei dem Lidreflex,
dem Hautreflex und dem Kniereflex beobachtet.
Das Refraktärstadium findet seine natürlichste
Erklärung in jener Restitution, hervorgerufen
durch die Selbststeuerung des Stoffwechsels.
Solange derjenige Körper, auf den der Reiz primär
einwirkt, nicht neugebildet ist, solange nicht Sauer-
stoff herbei — und Abfallstoffe fortgeschafft
sind — , solange ist die Zelle nicht reizbar, sie
ist refraktär. Daß vielleicht außerdem noch andere
Bedingungen eine Herabsetzung der Erregbarkeit
herbeiführen können, ist möglich.
Wenn wir eine Ganglienzelle in einer rhyth-
mischen P'olge reizen, so kommt es für den Erfolg
also darauf an, ob die Zeitspanne zwischen unseren
Reizen so weit ist, daß die Zelle Zeit hat, den
zerfallenden Körper neu aufzubauen oder ander-
weitig zu ersetzen. Es kommt also nicht nur
auf die Qualität und Quantität des Reizes an,
sondern auch ebenso auf den Zustand, in welchem
der Reiz das lebendige System gerade antrifft.
Wir können uns das an folgendem Bild veran-
schaulichen. Der Schlagbolzen eines Maschinen-
gewehres löst in seiner primären Wirkung durch
Explosion einer gewissen Pulvermenge den Schuß
aus; ehe aber ein neuer Schlag des Bolzens einen
neuen Schuß auslösen kann, muß eine bestimmte
Kette von Vorgängen in dem System des
Maschinengewehres abgelaufen sein, welche die
sekundäre Wirkung des Schlages vorstellt: Heraus-
werfen der alten Hülse, Neuspannung der Feder,
Hineinschieben einer neuen Patrone. Es ist selbst-
verständlich, daß der Schlagbolzen, wenn er in
der Zeit dieser Vorgänge aufschlüge, kein Pulver
zur Entzündung bringen könnte: das System be-
findet sich im „Restraktärstadium" solange, bis
derjenige Zustand wiederhergestellt ist, von dem
der Kreislauf der Geschehnisse bei der Reizwirkung
ausging.
Ich sprach oben von der Koordination
der Geschehnisse in der Ganglieiizelle: Impuls-
Pause - Impuls - Pause usw. ; die Notwendigkeit
einer solchen Koordination wird durch die
Annahme der Restitution des ursprünglichen Zu-
standes ver.ständlich. Aber auch innerhalb der
Restitutionszeit spielt die Koordination der Ge-
schehnisse eine ausschlaggebende Rolle; wir wissen
es bei anderen Reizwirkungen genauer als bei
Ganglienzellen, daß die Restitution sich in ganz
bestimmten Bahnen, die diesen Zellen eigentümlich
sind, abspielen muß. Ist es doch derjenige Stoff,
der auf den Reiz hin „explodiert" und die nach
außen erkennbare primäre Reizwirkung darstellt,
ein spezifischer Stoff, dessen Neubau sich in be-
stimmten spezifischen Bahnen abspielen muß.
Es kommt uns bei diesem Neubau wesentlich
darauf an, in welcher Zeit er sich vollziehen kann;
hängt doch davon die Zeit ab, binnen der die
Ganglienzellen wieder erregbar, das heißt arbeits-
fähig sind. Es kommt also auf die Reaktions-
geschwindigkeit des betreffenden lebenden
Systems an. Die Ganglienzellen und in noch
höherem Maße die Nerven gehören nun zu den
Systemen mit großer Reaktionsgeschwindigkeit,
das heißt die abgebaute Substanz wird mit großer
Schnelligkeit wieder ersetzt.
Ferner kommt es für die Wiedererregbarkeit,
die Überwindung des Refraktärstadiums, sehr
darauf an, ob das betreffende lebendige System
auf einen bestimmten Reiz hin viel oder wenig
der labilen „Angriffssubstanz" — wie ich mal kurz
sagen möchte — abbaut. Wird viel abgebaut,
so ist die Zeit der Erneuerung dieser Substanz,
der Zufuhr von neuem Sauerstoff und Abfuhr von
Resten natürlich länger als bei geringem Abbau.
Vergifte ich z. B. die Ganglienzellen des Frosch-
rückenmarkes mit Strychnin, so wird die Erreg-
barkeit, will sagen die Reaktionsgeschwindigkeit
in der Zelle, so sehr erhöht, daß auch schwächere
Reize, die in den normalen Zellen noch gar keine
Reaktion erzeugen, hier bereits eine vollständige
„Entladung" hervorrufen und daß es vor allem
nicht möglich ist, durch mehrere aufeinander-
folgende Reize die Reaktion zu summieren. Bei
anderen lebendigen Systemen wird die vollständige
Entladung auf einen bestimmten Reiz auch im
normalen Zustand beobachtet; das heißt, es löst
hier jeder überhaupt wirksame Reiz sogleich eine
maximale Wirkung aus, die durch stärkere Reize
also nicht überboten werden kann. Man hat
diese Erscheinung das „Alles-oder-Nichts-
Gesetz" genannt, weil ein Reiz alles oder Nichts
hervorruft. Zuerst glaubte man, daß diese Er-
scheinurg eine spezifische Eigentümlichkeit be-
stimmter lebendiger Systeme, z. B. des Herzens
wäre. Sollte es sich jedoch bewahrheiten, daß —
wie Verworn meint — sich das Alles - oder -
Nichts - Gesetz auch bei der einzelnen Nerven-
fibrille oder der einzelnen Muskelzelle und
Ganglienzelle bestimmten Erregbarkeitsgrades
findet, dann wäre dies Gesetz der Ausdruck
eines Erregbarkeitsgrades jedes lebenden Systems,
aber nicht mehr der Ausdruck einer spezifischen
chemischen Struktur eines besonderen lebenden
Systems. —
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 14
So ergibt sich im ganzen eine ziemlich klare
Vorstellung von der primären und sekundären
Wirkung der Reize. Sie ist vor allem dann klar,
wenn wir einen konstanten Reiz auf die
Ganglienzelle einwirken lassen, auf den sie nur
rhythmisch antwortet. Dieser plötzlich einsetzende
Reiz ruft einen starken Abbau der Angriffssubstanz
in der Zelle hervor, der bis zu einem Grade fort-
schreitet, welcher im Verhältnis steht zum Reiz
und zu den inneren Bedingungen der Zelle. Ist
also eine gewisse Menge der Substanz abgebaut,
dann setzt die Restitution ein und mit ihr die
Unempfindlichkeit, das Restraktärstadium. Ist
darauf eine gewisse Menge der Angriffssubstanz
wieder erneuert und ist — wie in normalen
physiologischen Umständen wohl meist — ge-
nügend Sauerstoff vorhanden und sind die Abfall-
produkte fortgeschafft, hat sich also ein kreis-
förmiger koordinierter Vorgang abgespielt, dann
ist der Dauerreiz erneut wirksam, eine neue
Menge Angriffssubstanz wird abgebaut, bis das
Refraktärstadium mit seiner Restitution erneut
eintritt.
Also die Erklärung des Eigenrhythmus bei kon-
stantem Reiz. Bei rhythmischem Reiz, der in
einem Eigenrhythmus der betreffenden Ganglien-
zelle transformiert wird, ist die Erklärung die gleiche.
Schwieriger dagegen wird die Vorstellung, wenn
auf einen momentanen Reiz, z. B. einen
kurzen Öffnungsinduktionsschlag, auch eine Reihe
von rhythmischen Entladungen sich abspielt.
Ist z. B. das Rückenmark des Frosches durch
Strychnin in einen Zustand starker Erregbarkeit
gesetzt, so genügt ein momentaner Reiz, um eine
lange Reihe rhythmischer Entladungen auszulösen.
Früher erklärte man diese auffallende Tatsache
so, daß man ein Zurückfließen des Reizes vom
Muskel zu den Ganglienzellen annahm, welches
ein Wiederreizen zur Folge hat. Ein solches
Rückfließen soll aber durch Verworn's Schüler
unmöglich gemacht worden sein, und trotzdem
zeigen die Ganglienzellen weitere rhythmische
Entladungen. Somit bleibt nach Verworn's
Ansicht nichts übt ig, als anzunehmen, daß von
dem einmaligen Reiz in den Ganglienzellen Reste
zurückbleiben, welche nach Überwindung des
Refraktärstadiums durch die Zellen von neuem
als Reiz wirken.
Das wäre in großen Zügen eine Übersicht
über rhythmische Vorgänge in Ganglienzellen und
ihre Erklärung. Wie ich eingangs andeutete, er-
scheinen mir diese Tatsachen und ihre gedankliche
Verarbeitung für das Verständnis auch anderer
rhythmischer Vorgänge in unseren Körper wie
bei allen anderen Organismen nicht ohne Be-
deutung. *) Mag sich auch im Einzelnen an der
Erklärung noch viel ändern — die Natur ist
immer differenzierter als unser Erkenntniswahn es
zugibt! — es ist hier jedenfalls eine klare
Arbeitshypothese gegeben, die Experimente ge-
stattet; denn es gibt nichts Praktischeres als eine
gute Theorie.
Zuletzt läuft diese Theorie meiner Meinung nach
darauf hinaus, daß es zwei Bedingungskomplexe
sind, welche den Arbeitsablauf bedingen :
Erstens die spezifische Energie der be-
treffenden Zellen. Diese besteht zunächst in einer be-
stimmten Arbeitskoordination der Gescheh-
nisse in den Zellen, ausgedrückt in unserem Falle
durch die Restitution der abgebauten Substanz.
Man könnte es so formulieren: In einem lebendigen
System rollen die physiologischen Geschehnisse,
ausgelöst durch einen Reiz, in einer bestimmten
Reihenfolge (Koordination) ab; diese ist bei
normalen Vorgängen (auf normale Reize) nicht
abänderbar; sie bedarf einer gewissen Zeit zum
Ablauf, die verschieden ist je nach der Reaktions-
geschwindigkeit des betreffenden Systems ; während
ihres Ablaufes ist die Reizbarkeit des Systems
herabgesetzt oder erloschen (Refraktärstadium).
Der zweite Teil der spezifischen Energie besteht
darin, daß der „Angriffspunkt" des Reizes
spezifisch ist. Verworn formuliert dies so:
„Jedes lebendige System, solange es sich in dem
gleichen funktionellen Zustand und der gleichen
Entwicklungsphase befindet, reagiert auf die
physiologischen Reize, welcher Art sie auch sein
mögen, stets primär mit einer Intensitätswanderung
seines spezifischen Lebensvorgangs. Dabei bildet
dasjenige Partialglied des Lebensvorganges, das
besonders labil ist, den primären Ausgangspunkt
für die Erregung oder Lähmung seiner spezifischen
Leistung." — Diese zwei Eigentümlichkeiten des
lebendigen Systems bilden den einen Bedingungs-
komplex des rhythmischen Ablaufs; sie stellen
sich als autonom den Bedingungen der Umwelt
gegenüber.
Den zweiten Bedingungskomplex bilden die den
koordinierten Ablauf treffenden Reize. Im nor-
malen Geschehen verändern sie weder die Koor-
dination noch den Angriffspunkt, sondern wirken
— wie gesagt — nur auf den einen Punkt der koor-
dinierten Kette der Geschehnisse hemmend oder
anregend ein, wirken also zeitbestimmend. Von
ihren weiteren metamorphotischen Wirkungen,
welche sich auch auf die innere Arbeit und seine
Koordination erstrecken, können wir hier absehen.
Wie der Rhythmus einer Melodie zustande
kommt durch eine bestimmte Koordination von
Tönen und durch eine bestimmte zeitliche Ein-
ordnung dieser Töne, so auch der Rhythmus der
Ganglienzellen (und gewiß noch vieler anderer
Zellen) durch eine innere Koordination der Arbeit
und äußeren Zeitbestimmung.
') S. die ausführliche Darlegung bei Hirsch, Gottwalt
Chr., ,, Arbeitsrhythmus der Verdauungsdriisen", Biol. Zenl-
ralbl. 1917, sowie angedeutet, „Erregung und Arbeitsablauf
der Verdauungsdrüseu", Naturw. Wochenschr. 1916, Bd. 31,
S. 553-
N. F. XVI. Nr. I.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Einzelberichte.
Geologie. Die Kohlenvorräte der Welt. Die
Redaktionskommission des I2. Internationalen
Geologenkongresses zu Toronto in Kanada 191 3
hat noch kurz vor dem Kriege eine Zusammen-
stellung der Kohlenvorräte der Welt in 3 Bänden
mit Atlas herausgegeben, zu welcher die geo-
logischen Landesuntersuchungen und verwandte
Anstalten ausführlicheÜbersichten des Vorkommens,
der Vorräte und der Produktionsziffern geliefert
haben. Einen kurzen Überblick über dieses große
Werk gibt Fr. Frech im Neuen Jahrbuch für
Mineralogie, Geologie und Paläontologie 1916,
II. Bd. Die Vorräte sind bis 2000 m Tiefe auf-
genommen. Es werden zumeist die tatsächlich nach-
gewiesenen und die wahrscheinlich vorhandenen
(eingeklammert!) Vorräte an Steinkohlen und
Braunkohlen unterschieden. Davon besitzt
Mill. t
Mill. t
Steinkohle
Mill. t Braunkohle
zusammen
Österreich
2970
(25417)'
12231
(663)^
41 281
Deutsches Reich
94865
(315 HO)
9313
(4268)
423556
GrOßbrit. u.
Irland
141 499
(48034)
—
189533
Rußland
57
(58391)
12
(1646)
60106
Frankreich
4203
(II 748)
301
{1331)
17583
Belgien
(II 000)
—
II 000
Spanien
5826
(2175)
394
(373)
8768
Spitzbergen
(8750)
—
8750
Niederlande
209
(4193)
—
4402
Serbien
2
(43)
58
(426)
529
Bulgarien
(30)
(358)
388
Italien
I
(143)
51
(48)
243
Europa
249632
(485034)
22360
(9 113)
766139
Vereinigte Staaten
Canada
29836
(1975205)
(256483)
384968
(1863452)
(563482)
3838657
1234269
Nordamerika
29836
(2231698)
384968
(2426934)
5 073 426
Südamerika
2087
(30010)
—
32097
Amerika
31923
(2261709)
384968
(2426934)
5 105 528
Australien
2504
(131 636)
I 569
(34701)
170410
Afrika
345
(56440)
154
(9001
57839
Asien
20205 (i 147 530)
297
554)
1279586
Davon entfallen 995587 Mill. t auf China, 174000 Mill. t auf Sibirien, 1210 Mill. t auf die
Mandschurei, 79000 Mill. t auf Indien, 20000 Mill. t auf Indochina, 7970 Mill. t auf Japan,
81 Mill. t auf Korea und i S58 Mill. t auf Persien.
Vergleicht man die Vorräte der einzelnen Erd-
teile, so steht Amerika an erster Stelle; dann
folgen Asien, Europa, Australien und Afrika.
Deutschlands Steinkohlenvorräte betragen 410
Milliarden t und sind 10 mal so groß wie die-
jenigen Österreichs. Die mittlere jährliche För-
derung in den Jahren 1906 — 1912 betrug in
Deutschland 222 Mill. t, so daß die deutschen
Kohlenvorräte 1 800 Jahre ausreichen
würden.
Großbrit. und Irland besitzen 190 Milliarden t.
Das jährliche Produktionsmittel beträgt etwa 268
Mill. t. Unter Zugrundelegung dieser Ziffern
würden die Kohlenvorräte in 700 Jahren auf-
gebraucht sein.
1) Die eingeklammerten Zahlen geben die wahrscheii
Torhandenen Kohlenvorräte an,
Rußlands Vorräte werden auf 58 ■/2 Milliarden t
geschätzt ; die järliche Produktion beläuft sich auf
27 Mill. t.
Frankreichs Vorräte betragen etwa 16 Milli-
arden t und würden bei einem jährlichen Abbau
von 38 Mill. t. etwa 420 Jahre reichen.
Belgiens Vorräte reichen bei einer jährlichen
Förderung von 24 Mill. t. etwa 450 Jahre.
Da der Steinkohlenbergbau immer tiefer geht
und dadurch die Selbstkosten mit wachsender
Teufe immer größer werden, so ist für künftige
Zeiten mit rasch anschwellenden Betriebskosten und
Kohlenpreisen zu rechnen. V. Hohenstein.
Zoologie. Die Nahrung des Fasans. All-
gemein gilt der Fasan, Phasianus colchicus L.,
hauptsächlich als Körnerfresser. Nach Brehm's
igo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 14
Tierleben, 4. Auflage, wurde er in den 90er Jahren
im westlichen Küstengebie der Vereinigten
Staaten als Getreidefresser so schädlich , daß
man erörterte, ob sein Nutzen den Schaden
überwiege, und dieselbe Frage stellt sich bei uns
mancher Landwirt, auch wenn die Fasanen nicht
so zugenommen haben, wie in dem amerikanischen
Ansiedelungsgebiet. Nach dem „Brehm" frißt
der Fasan Saat, Körner und Beeren, nebenbei
Tiere. Es wird interessieren, was A. L. Lörn
in der deutschen Jägerzeitung, Bd. 68, Nr. 24,
hierüber mitteilt. Der Kropf einer größeren An-
zahl von Fasanen barg überwiegend Schnecken
mit und ohne Gehäuse, daneben Käfer, besonders
Larven des „Blattkäfers", in einem Falle enthielt
der Kopf eines bei Salzburg erlegten Fasans fast
ausschließlich einen faustgroßen Ballen aus mehr
als 700 Larven des öfter überaus schädlichen,
namentlich in Österreich-Ungarn, Rußland, Posen,
Preußen und Sachsen wiederholt massenhaft auf-
getretenen Getreidelaufkäfers, Zabrus tenebrioides
Goeze, der als Volltier an den Ähren zehrt,
während die Larve im gleichen Maße der Saat
schadet. Nur in einem Falle enthielt ein Fasanen-
kropf Maiskörner; das war im harten Winter, und
die Körner stammten nachweislich von einem
Futterplatze. Der Gewährsmann stellt nicht in
Abrede, daß Körneräsung vom Fasan zur Er-
gänzung der tierischen Nahrung genommen
wird und regt zu weiteren Untersuchungen dieser
Frage an, wozu sich öfter auch in der Küche
Gelegenheit finden wird. V. F.
Eine entwicklungsgeschichilich begründete Ver-
erbungsregel. Nur auf einfache Weise verur-
sachte Merkmale, meint Valentin Haecker*),
fügen sich genau den Mendel' sehen Regeln,
oder, wie esHaecker in zwei Sätzen ausspricht:
„I. Merkmale mit einfach verursachter, frühzeitig
autonomer Entwicklung weisen klare Spaltungs-
verhältnisse auf. 2. Merkmale mit komplex ver-
ursachter, durch Korrelation gebundener Entwick-
lung zeigen häufig die Erscheinung der unregel-
mäßigen Dominanz und der Kreuzungsvariabilität
sowie ungewöhnliche Zahlenverhältnisse und deut-
liche Selektionswirkungen." Was auf einem all-
gemeinen Chemismus beruht, wie die Unterschiede
der Haarfarbe der Neger, soweit sie auf Farbe
und Dichtigkeit der Pigmentkörner beruht, oder
der Albinismus, spaltet sich rein nach den
Mendel' sehen Regeln , nicht aber das auf
Strukturverschiedenheiten beruhende Taubenblau,
ebensowenig die gelbe Haarfarbe der Mäuse, die
korrelativ mit Fettsucht und Sterilität auftritt,
also auf einem komplizierteren Chemismus beruht,
oder die Rotäugigkeit bei dunklem Haarkleid, die
durch einen Wechsel der Pigmentbildungsbedin-
') MitleilunKcn der Naturforschenden Gesellschaft zu
Halle a. S., Bd. 4, 1916. Eine ausführlichere Darstellung
wird in der Zeitschrift für induktive Abstammungslehre er-
scheinen.
gungen zwischen der Retina- und der Haar-
entwicklung beruhen muß. Das Wildgrau wiederum
beruht auf Anordnung der Pigmentkörner in Zonen
im Haar, somit auf einem ausgesprochen rhyth-
mischen und schon deshalb einfachen Wachstums-
und Differenzierungsprozeß, daher mendelt es regel-
mäßig.
Die Zeichnung der Wirbeltiere scheint
nach Haecker's Untersuchungen am Axolotl mit
der „Wachstumsordnung" des Integuments
zusammenzuhängen, gehäufte Zellteilungen liegen
bei frühen Stadien in einem bestimmten Muster,
dem später die Zeichnung entspricht. Bei der
primären Längsstreifung ist dieses Muster offenbar
ein einfaches, und dem entsprechen die zunächst
bei Hühnern und Schweinen nachweisbaren regel-
mäßigen Spaltungsverhältnisse. Anders die Mosaik-
und Metameroidscheckung der Säuger, bei der an
bestimmten hochwichtigen Körperstellen, wie am
Auge, Ohr, Schulterblatt und Kreuzbein, das
Pigment am zähesten festgehalten wird; ihren
komplexen Ursachen entsprechen eine hochgradige
individuelle und Kreuzungsvariabilität sowie häufig
unklare Zahlenverhältnisse. Die Zeichnung der
Vogelfedern beruht auf der Wachstumsordnung
des Federkeims, eines hochgradig autonomen und
rein epidermalen Gebildes; ist sie einfach, wie
bei gesperberten Hühnern, so mendelt sie; da-
gegen zeigt sie in der Regelmäßigkeit ihrer Aus-
bildung wie ihrer Vererbbarkeit alle Abstufungen
bis zu den kompliziertesten Typen bei Fasanen.
Unter den Kammformen der Hühner mendeln
die einfacheren regelmäßig, wie der „einfache"
und der Erbsenkamm, aber nicht der Rosenkamm
und der V-Kamm. Die hohen Nasenlöcher bei
den Polen und Houdans vererben sich unregel-
mäßig, weil sie, wie schon Darwin wußte, durch
Zusammenwirken vieler Skelett- und Mesenchym-
teile entstehen.
Die für einige der vorigen und ähnliche Fälle
geltende „Epidermis-Mesenchym-Rege 1",
nach der ein Merkmal um so besser mendelt, je
ausschließlicher es auf der Epidermis beruht, je
weniger auf dem Mesenchym, bestätigt sich auch
im klaren Mendeln des Angorismus der Kaninchen,
der gekräuselten Haarform des Menschen, der ge-
krümmten und zerschlissenen Federform bei Hühner-
rassen, des geschichteten Stars der Augenlinse,
wogegen wiederum die Körpergröße bei Menschen,
Tieren und Pflanzen in ihren Übertragungsverhält-
nissen unübersichtlich ist. Mikromelie oder Kurz-
gliedrigkeit des Menschen beruht wahrscheinlich
auf einer bestimmten Funktionsweise der Hypo-
physis, ebenso die Form der Nase und sonstigen
Gesichtszüge im Habsburger Familientypus, daher
mendeln diese Eigenschaften gleich wie Brachy-
daktylie und Hypophalangie, während sonstige
I-'ormen der Nase und die nicht korrelativ mit
anderen Anomalien auftretenden Erscheinungen der
Hyperdaktylie, Hyperphalangie und Syndaktylie
es nicht tun.
Wenn die Erblichkeitsverhältnisse des Chloro-
N. F. XVI. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
phyUmangels der Pflanzenkeimlinge, der Immunität
von Pflanzen gegen Brand und Rost und ihrer
Kältefestigkeit sich in die Haecker'sche Regel
nicht fügen, sondern von Art zu Art verschiedene
sind, so mag, meint Haecker, zu bedenken sein,
daß besonders bei chemisch physiologischen Vor-
gängen zurzeit noch ein wirklicher Maßstab für
die Beurteilung des Grades der Einfachheit oder
Komplexität fehlt.
Es liegt wohl zweifellos etwas Erklärendes in
der Anschauung, daß nur das einfach Ent-
standene einfache Vererbungsverhältnisse auf-
weisen kann. V. Franz.
Heidschnucken in freier VVildbahn. Nachdem
bekanntlich das Muffelwild, Ovis musimon, sich
auf deutschem Boden überall, wo es ausgesetzt
wurde, gut bewährt hat, gehen neuerdings Mit-
teilungen durch die landwirtschaftliche und Jagd-
presse, wonach man auch mit Heidschnucken
in freier Wildbahn gute Erfahrungen gemacht
hat. Über solche verfügt seit 6 Jahren Fürst
zu Leiningen in Schloßaue im Odenwald, und von
dorther erfahre ich, daß 1910 zunächst ein Bock
und zwei einjährige Lammschafe ausgesetzt wurden.
Später wurden noch weitere Stücke hinzugefügt.
Sie besuchen nie eine Schutzhütte, haben vielmehr
eine aus Fichtenholz erbaute aufgefressen, und
überstanden auch die kalten Wintertage 19 17 aus-
gezeichnet. Ihre Vermehrung ist sogar besser als
in der Lüneburger Heide, da die Schafe fast all-
jährlich Zwillingslämmer werfen. Sie fressen im
Winter gemeinsam mit Edel- und Dammwild das
diesem gebotene Heu, kratzen Äsung unter dem
Schnee hervor und nehmen auch gierig Kiefern-
und Fichtenreisig auf. Genutzt wird der Bestand,
der gegenwärtig infolge des Krieges eine Ver-
minderung erfahren hat und sich nur noch auf
16 Stück beläuft, durch regelmäßigen Abschuß —
die Stücke sind gut von ausgezeichnetem, im Ge-
schmack wildartig gewordenen Wildpret — und,
soweit möglich, durch Schur der Wolle; doch
sind die wilden Tiere oft gar nicht einzufangen.
Anderwärts, wo junge Tannenkulturen nicht
eingehordet sind, machen sich nach der Deutschen
Jägerzeitung vom 28. Januar 1917 wild gehaltene
Heidschnucken durch starkes Verbeißen der
Pflanzen schädlich. ^) Dort sowie gelegentlich in
Schloßaue hat man übrigens beobachtet, daß
Böcke sich mitunter mit ihrem Schneckengehörn
in die Hals- und Nackenwolle verwickeln und
dann elend verhungern müssen.
Herr Rittergutsbesitzer Wilke in Döbra bei
Kamenz, Königreich Sachsen, teilt mir mit,
daß er seit November 1916 gleichfalls Schafe, und
zwar langwollige Holsteiner, in freier
') Sollte nicht die ganze Lüneburger Heide ein allein
durch die Schafe in Ödland verwandeltes ehemaliges Wald-
gebiet sein?
Wildbahn hält. Sie sind noch in keinen Stall ge-
kommen und haben die kalten Januartage gleich-
falls gut überstanden. V. Franz.
Gelegentliches Überwintern von Zugvögeln,
wie es O. Natorp in Myslowitz im November
1916 an zwei Mönchsgrasmücken und einem
Gartenrotschwänzchen beobachtete, kann nach
gelegentlichen weiteren Beobachtungen des Ge-
nannten auf Verletzung der Vögel an Telegraphen-
drähten während des Herbstzuges beruhen. Über-
winternde Singvögel, die verheilte Verletzungen
trugen, sah Natorp 1909, eine Gartengrasmücke
und eine Weiße Bachstelze. Letztere trug übrigens
Anfang März noch Wintertracht, hatte also im
Gegensatz zu den inzwischen zurückgekehrten ^
Artgenossen die wohl in den Februar fallende
Wmtermauser nicht durchgemacht. (Ornithol.
Monatsschrift 191 7, Nr. 2.) V. Franz.
Der Krieg und die Wanderstraßen der Zug-
vögel. Die große Mehrzahl der Zugvögel hat
seit Wochen bereits die alljährliche Reise in
wärmere Gegenden angetreten, aber der Mensch
vermag ihnen, seitdem der Krieg in Europa wütet,
nicht mehr so leicht zu folgen, wie er es früher
vielleicht gewohnt war, denn die Bahnverbindungen
zwischen den feindlichen Ländern sind unter-
brochen, und selbst die Schiffahrt hat ihre Linien
der Minengefahr und sonstiger durch den Krieg
entstandener Hindernisse wegen zum Teil verlegt,
zum Teil sogar für die Kriegsdauer ganz auf-
gegeben. Aber es sind nicht nur die menschlichen
Verkehrswege, die durch den Krieg eine Änderung
erfahren haben, sondern auch die Wanderstraßen
der Zugvögel, aufweichen diese seit Zehntausenden
von Jahren daherziehen, sind durch den Weltkrieg
in Mitleidenschaft gezogen worden. Sowohl von
der Westfront wie auch von der Ostfront liegen
Mitteilungen darüber vor, daß die Vögel sich den
Schlachtgebieten möglichst fernhalten, vermutlich
weil der andauernde Kanonendonner und das
Explodieren der Granaten ihnen als eine Art
furchtbares Unwetter erscheinen, dem sie möglichst
aus dem Wege zu gehen trachten. — Natürlich
ist die Abneigung gegen das Schlachtfeld nicht
bei allen Vogelarten gleich entwickelt, sondern
richtet sich ganz nach dem Naturell und den
Gewohnheiten der betreffenden Art; so stört,
z. B., die Raben und Krähen das Schlachtfeld
nicht im geringsten und sie zeigen auch keine
Scheu oder Furcht, sondern sind vielfach in ihrer
unersättlichen Beutegier von einer früher nicht
gekannten Dreistigkeit.
Das bisher vorliegende Beobachtungsmaterial
über die Wirkungen des Krieges auf die Vogel-
welt ist allerdings noch nicht sonderlich reichhaltig
und wird sich wohl erst nach und nach vervoll-
ständigen lassen; einstweilen beziehen sich die
Beobachtungen natürlich vor allem auf die be-
kannteren Vögel, wie Stare, Schwalben, Lerchen
192
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
oder solche Vogelarten wie Schnepfen und Störche,
deren Körpergröße es möglich macht, sie während
des Fluges auch auf größere Entfernungen zu beo-
bachten. Die meiste Aufmerksamkeit ist in allen
kriegführenden Ländern, wo er noch vorhanden
ist, dem Storch zugewendet worden und alle Mit-
teilungen stimmen darin überein, daß der Storch
von allen Vögeln den Wirkungen des Krieges
gegenüber mit am empfindlichsten ist. Er verläßt
fluchtartig die Gegenden, in welchen sichkriegerische
Handlungen abspielen und kehrt nur in den sel-
tensten Fällen und auch dann voller Scheu und
Mißtrauen in sie zurück.
Es ist bekannt, daß die Wanderstraßen der
Zugvögel mit Vorliebe den Meeresküsten und den
Flußiälern folgen. Über Helgoland, das für die
riesigen Scharen der dort vorüberkommenden
Zugvögel bekannt ist, führt der Flug an der
deutschen und der holländischen Nordküste ent-
lang und schwenkt dann bei der Rheinmündung
über das Festland ein. Hier teilt der Zug sich
in zwei Teile; der eine folgt dem Rheintal und
der andere dem Maastal, und erst im im Rhöne-
tal treffen die beiden Züge wieder zusammen, um
sodann gemeinsam die Reise an die Miitelmeer-
küste fortzusetzen. Man sieht also, daß die eine
der großen europäischen Wanderstraßen, diejenige
durch Belgien und Ostfrankreich, gerade durch
diejenigen Gebiete führt, in denen der Krieg nun
seit zwei Jahren mit besonderer Erbitterung ge-
führt wird.
Die soeben erwähnte Zugstraße wird außer
von vielen anderen Vögeln auch von den in
Holland und Nordeuropa wohnenden Störchen be-
nutzt, da der Storch, dank dem Schutz, welcher
ihm dort zuteil wird, in diesen Ländern noch
ziemlich häufig ist, während beispielsweise in
Mittelfrankreich die Störche bereits seit längerer
Zeit vollständig verschwunden sind. Das Merk-
würdige ist nun, das seit Kriegsausbruch in
Mittel- sowohl wie in Westfrankreich die Störche
wiedergekehrt sind und zwar nicht in einzelnen
Exemplaren, sondern zu ganzen Scharen. Besonders
stark soll, wie die Iranzösische Presse angibt, die
Zuwanderung in der Umgegend von Orleans und
im Departement Seine-et Oise gewesen sein. Auch
über die Schnepfen und Lerchen liegen Beobach-
tungen vor, aus denen hervorgeht, daß diese
Vögel von ihren gewöhnlichen Zugstraßen ab-
gewichen sind und ihren Weg nun durch die
Gebiete des mittleren Frankreichs nehmen.
Auch die Mitteilungen, welche von der Ost-
front vorliegen, beziehen sich zum großen Teile
auf die Störche: so ist beobachtet worden, daß
sie in allen Gebieten der nördlichen russischen
Front, also in den baltischen Provinzen, in Polen
und selbst in Galizien seit Ausbruch des Krieges
ihre Herbstreise viel früher als gewöhnlich, antraten
und auch viel früher über Österreich hinzogen,
denn während sie dort sonst erst im September
einzutreffen pflegten, erschienen sie seit dem
Kriege stets berehs um die Mitte August. — Es
wäre natürlich von großem Interesse, möglichst
viele Einzelbeobachtungen zur Verfügung zu haben,
um sich auf Grund dieser ein vollständigeres Bild
über die Einwirkung des Krieges auf das Vogel-
reich machen zu können, leider aber sind diese
Beobachtungen zurzeit schwer zugänglich, da sie
in den verschiedenen ornithologischen und natur-
wissenschaftlichen Zeitschriften der kriegführenden
Länder verstreut sind. Einer dieser Zeitschriften
wird von einem Vogelfreund aus der österreichischen
Stadt Mastig mitgeteilt, daß er in diesem Jahre
bereits am i8. August nach Hunderten zählende
Scharen von Störchen ziehen sah, die sich auf
dem Wege nach dem Süden befanden; eine andere
Mitteilung aus den baltischen Provinzen besagt,
daß auch die Stare sich in diesem Jahre viel
früher als sonst auf die Reise gemacht haben,
trotzdem die Witterungsverhältnisse früheren Jahren
gegenüber keineswegs ungünstiger waren. Es
scheint demnach doch ein gar nicht so geringer
Zusammenhang zwischen den Wanderungen der
Zugvögel und den Kriegsereignissen zu bestehen,
der sich näher allerdings wohl erst nach der
Wiederkehr normaler Zeiten wird erforschen
lassen. W. P. L.
Inhalt: Gottwalt Chr. Hirsch , De
Die Kohlenvorräte der Welt. S. i8c
enlwicklungsgeschichtlich begründete
O. Natorp, Gelegentliches Cberwii
der Zugvögel. S. 191. — Literatur
Literatur.
Trabert, Prof. Dr. W., Meteorologie. 4., z. T. umge-
arbeitete Aufl. bearbeitet von Dr. A. Defant. Berlin u.
Leipzig '16, Sammlung Göschen. — i M.
Ligahn,"Dr. A., Physiologische Chemie. Mit 2 Tafeln.
2., neubearbeitete Aufl. Ebenda. — i M.
Vetter, Dr. R., Beiträge zur Kenntnis der anelytischen
Eigenschaften der Kohlcnstoffmodifikationen und orientierende
Versuche über ihre Entstehungsbedingungen. Berlin-Oldenburg
'16, G. Stelling. — 3,50 M.
Hirt, Dr. W., Ein neuer Weg zur Erforschung der Seele.
München '17, F. Reinhardt.
Graetz, Prof. Dr. L., Das Licht und die Farben. 4. Aufl.
17. Kd. der Sammlung ,,Aus Natur- und Geisteswelt". Leipzig
und Berlin 'ib, B. G. Teubner. — 1,25 M.
Heuseling, R., Sternbüchlein für 1917. Mit 55 Ab-
bildungen. Stuttgart '17, Frankh'sche Verlagshandlung. — I M.
Deutsches Fremdwörterbuch für die gesamte Optik. Als
Ratgeber beim Verdeutschen für Optiker, Augenärzte, Fein-
mechaniker, Photographen und verwandte Berufe. Berlin,
AI. Ehrlich.
■ Arbeitsrhythmus der Ganglienzellen. S. 185. — Einzelberichte; Fr. Frech,
. A. L. Lörn, Die Nahrung des Fasans. S. 189. Valentin Haecker, Eine
Vererbungsregel. S. 190. V. Franz, Heidschnucken in freier Wildbahn. S. 191.
tern von Zugvögeln. S. 191. W. P. Larsen, Der Krieg und die Wanderstraßen
Liste S. 192.
Manuskripte und Zuschriften werden
Ve
Druck der G. Pätz'schec
Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten,
von Gustav Fischer in Jena,
ichdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 15. April 1917.
Nummer 15.
Zur Entwicklung und Gliederung der Quartärbildungen des nördlichen
Deutschlands.
Von H. Menzel, (t)
A. Einleitung.
Während in den älteren Gebirgsformationen
und der zugänglichen Erdrinde in fast allen Stufen
und Ländern eine ebenso allgemeingültige wie
eingehende Gliederung durchgeführt worden ist,
während wir in Absätzen so weit zurückliegender
Epochen, daß ein nicht an geologische Zeitvor-
stellungen gewöhnter Geist sie gar nicht mehr
ausdenken kann, Abteilung für Abteilung, Zone
für Zone (ja mitunter auch ganz kleine Bänkchen)
über Meilen und Länder hinweg verfolgen können,
treten uns aus der — geologisch gesprochen —
jüngsten Zeit unserer Erde, aus der Quartärzeit,
noch Rätsel auf Rätsel, ungelöst und unergründet.
Schritt für Schritt entgegen, und die Ablagerungen,
die wir fast noch vor unseren Augen haben ent-
stehen sehen, sie wollen sich nicht dem Zwange
der schematischen Gliederung fügen, wenigstens
nicht in dem Maße wie ihre älteren Geschwister.
Das mag fast wie ein Spiel des Zufalls er-
scheinen, ist es aber keineswegs. Vielmehr hängt
es durchaus damit zusammen, daß die Faktoren,
die an ihrer Bildung in erster Linie beteiligt
waren, ganz anderer Art sind und rascherem
zeillichem wie örtlichem Wechsel unterworfen
waren: während in den älteren Formationen
unserer Gegenden, dem Mesozoikum und Paläo-
zoikum, die Meeresabsätze bei weitem vorherrschen,
treten dieselben — im nördlichen Deutschland
wenigstens — im Känozoikum mehr und mehr zu-
rück, und in der zweiten Hälfte derselben, zur
Zeit des jüngeren Tertiärs und vor allem zur
Quartärzeit, rücken an ihre Stelle die Festlands-
bildungen.
Dazu tritt noch eine andere Eigenschaft der
Quartärzeit. Während der zweite für die Ent-
stehung geologischer Absätze und für die Lebens-
bedingungen der gleichzeitigen Tier und Pflanzen-
welt ungemein wichtige Faktor, das Klima und
die meteorologischen Verhältnisse, sonst von
annähernder Konstanz waren und nur ganz gesetz-
mäßigen, langsam wirkenden Änderungen unter-
worfen gewesen waren, setzten zum Beginn der
Quartärzeit jene eigenartigen abnormen Klima-
schwankungen ein, die uns unter dem Namen
der Eiszeiten geläufig sind. Beide Eigenschaften
der Quartärbildungen unserer Gegenden, die Ent-
stehung auf dem Festlande mit seinen zeitlich
wie örtlich rasch wechselnden Bildungsbedingungen,
sowie der noch erheblich verstärkte und ver-
mehrte Wechsel infolge der meteorologischen
Schwankungen, haben die ungemein mannigfache
Ausbildung und Entwicklung unserer Quartär-
bildungen hervorgerufen, aber auch ihre Sprödig-
keit gegenüber allen Gliederungsversuchen be-
dingt, besonders wenn dieselben auf größere
Erstreckung ausgedehnt oder gar verallgemeinert
werden sollten.
B. Die vorquartäre Zeit.
Festlandsbildungen sind immer in erhöhtem
Maße abhängig von dem Untergrund und den
älteren P^ormationen , sowohl hinsichtlich ihrer
Verbreitung und Erscheinung wie auch ihrer
stofflichen Zusammensetzung.
Die Gebirge Mitteldeutschlands werden wie
bekannt aufgebaut aus Schichten fast aller Forma-
tionsglieder vom Cambrium ab. Im Rheinischen
Schiefergebirge, im Thüringer Wald, Franken-
wald , Erzgebirge , Vogtland , Schlesien , Bayern,
Böhmen usw., im Harz und an einigen anderen
Stellen wie Magdeburg usw. treten Gesteine des
Paläozoikums an die Tagesoberfläche. Alle übrigen
Gebirge werden von mesozoischen Gesteinen zu-
sammengesetzt. Paläozoische wie mesozoische
Formationen bestehen zum weitaus größten Teile
aus den weithin gleichbleibenden und gut ver-
folgbaren Absätzen meist ruhiger Meere. Am
Schlüsse des Paläozoikums schiebt sich eine Fest-
landsbildung ein, zur Zeit des produktiven Karbons,
während der die gewaltigen Süßwasser- und Sumpf-
bildungen entstanden. Gleichzeitig ereigneten sich
die großen tektonischen Vorgänge, die unter dem
Namen der erzgebirgischen Faltung bekannt sind
und in nicht geringem Maße zur späteren Ober-
flächengestaltung des Landes beitrugen.
Auch im Mesozoikum überwiegen die marinen
Absätze noch. Wohl schwankt der Meeresspiegel
zeitweise auch stark, wohl wechseln positive und
negative Strandverschiebungen stetig miteinander
ab. Es kommt zur Festlandsbildung zur Keuper-
zeit. Dasselbe wiederholt sich am Ende der Jura-
periode und dauert bis tief in die Kreide. Hand
in Hand gehen starke Erosionen , Abrasionen,
Süßwasser-, Sumpf- und Strandbildungen. Aber
immer wieder überzieht das Land die Meeresflut
und deckt seine Ablagerungen darüber.
Erst von der Zeit der Oberen Kreide an neigt
sich im Kampf des Meeres mit dem Festlande
das Zünglein der Wage zugunsten des letzteren.
Über weite Strecken hin fehlen die obersten
Kreidebildungen und haben wohl immer gefehlt.
Das gleiche gilt von den tiefsten Schichten des
Tertiär, dem Paleozän und Eozän. In Frankreich,
194
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. IS
England, Belgien und Dänemark vorhanden, sind
sie im nördlichen Deutschland zum Teil nur durch
Geschiebe und durch Bohrlochfunde angedeutet.
Eine der ältesten im nördlichen Deutschland auf-
tretenden tertiären Schichten besitzt ein unter-
oligozänes, richtiger wohl eozänes Alter, sie be-
stehen aus Festlandsbildungen, Braunkohlen, Tonen
und Sanden, wie sie in der Gegend von Halle
und von Frohse, Egeln usw. auftreten. Ihrer
Ablagerung vorausgegangen ist eine Zeit meist
der Abrasion und Erosion, die noch eine Zeillang
anhält und begleitet ist von ganz erheblichen
Bewegungen der Erdrinde, die stellenweise zu
Verwerfungen geführt haben. Diese Festlands-
bildungen werden wieder von marinen Schichten
des Unteroligozän bedeckt, sodann folgt das
Mitteloligozän und das Oberoligozän. Zur unteren
Miozänzeit hebt sich aber das Land wieder weithin
aus dem Meere heraus, und weite Süßwasserseen
und Sümpfe nehmen Norddeutschland ein. Es
entstehen die Märkischen Braunkohlenbildungen
mit ihren Sanden, die weit über die Mark hinaus
sich nach Osten, Westen und Süden fortgesetzt
hatten.
Am Ende der Untermiozänzeit erreichen die
tektonischen Bewegungen der Erdrinde wieder
seinen Höhepunkt in der weithin wirksamen
herzynischen Faltung, die den Gebirgsbau
Mitteldeutschlands am eingehendsten beeinflußt
hat. Mit ihr trat in dem weitaus größten Teile
Norddeutschlands die Festlandszeit endgültig ihre
Herrschaft an.
Nur ganz im Nordwesten, an der unteren
Elbe, im nördlichen Hannover, in Schleswig-
Holstein usw. war ein Teil des Miozänmeeres
zurückgeblieben. Dazu gesellte sich ganz im Osten
von Norddeutschland ein weiteres umfangreiches
Süßwassersee- und Sumpfgebiet: im Bereich der
Bildung der Posener Flammentone. In beiden
Wasserbecken ergossen sich die Wasserläufe der
damaligen Zeit und zwar wahrscheinlich aus den
Posen benachbarten Gegenden von Brandenburg,
aus Schlesien und den anliegenden russischen
Gebieten in den Flammentonsee; aus dem weit-
aus größeren Gebiete des mittleren Norddeutsch-
lands, also aus Pommern, Brandenburg, Mecklen-
burg, Sachsen, Hannover, Westfalen usw. in das
Miozänmeer der heutigen Unterelbe. Die heutige
Verbindung durch den Rhein nach Süddeutsch-
land war anscheinend noch nicht offen. Denn in
der Gegend des heutigen Mainzer Beckens bis in
die Gegend der Wetterau befand sich vom älteren
Miozän ab ebenfalls ein Brackwasserbecken, das
im Laufe der Zeit sich immer mehr aussüßte.
Nach der Donau zu war das nördliche Deutsch-
land in hydrologischer Beziehung durch eine
ähnliche wie die heutige verlaufende Wasserscheide
gelrennt.
In dem zum Festlande umgestalteten Teile
des nördlichen Deutschlands herrschte von der
Miozänzeit ab bei weitem die Erosion vor. Es
begannen damals sich die Gebirge und die Fluß-
läufe herauszugestalten, wie sie vor Eintritt in die
Quartärzeil beschaffen waren und wie sie sich in
ihren Grundzügen heute noch unserem Auge
darbieten. Ablagerungen aus jener Zeit fehlen
auf dem Festlande entweder ganz oder sind recht
selten. Zur Pliozänzeit finden sich an einigen
Stellen, in Thüringen, der Rhön, im Maingebiet,
Ablagerungen mit Mastodonresten, wie sie in
Süddeutschland, Frankreich, Italien und an anderen
Orten sich aus dieser Zeit erhalten haben.
Ganz im Nordwesten, in England, befand sich
die ganze jüngere Miozän- und Pliozänzeit über
das Crag-Meer, in dessen Ablagerungen marine
Bildungen mit Festlandsabsätzen wechseln und in
denen deutlich ein Kühlerwerden des Klimas und
ein allmähliches Zunehmen der vorher weiter
nördlich lebenden Mollusken erkennbar ist. Den
Beschluß dieser pliozänen Schichtenreihe bilden
die Forest-beds von Cromer, in denen unter anderem
noch Hippopotamus und Elephas meridionalis
vorkommen. Gleichaltrige Bildungen sind un-
längst auf dem Festlande in Belgien entdeckt
worden. Ihnen möchte ich in der Hauptsache
Ablagerungen gleichstellen, die sich u. a. im süd-
lichen Hannover bei Eime und in den Braun-
kohlen von Wallensen gefunden haben. Alles in
allem sind die Funde aus dieser Zeit noch selten.
Am Ende der Tertiärzeit war also unser nörd-
liches Deutschland schon ganz ähnlich gestaltet
wie heutzutage das Gebirgsland. Es war ein
Festland, von Flüssen durchschnitten, die aller-
dings teilweise wenigstens eine andere Richtung
halten, und sich in Meere oder Süßwasserseen
von etwas abweichender Lage ergossen. Auch
die klimatischen Verhältnisse halten sich im Lauf
des Miozäns und Pliozäns den heuligen Verhält-
nissen erheblich genähert. Damit war eine der
jetzigen schon ganz ähnliche Flora und F"auna
erwachsen , denen allerdings eine große Anzahl
jetzt ausgestorbener Arten eigen waren.
Ganz am Schlüsse der Pliozänzeit scheinen
Bewegungen der Erdrinde stattgefunden zu haben,
die die Ablagerung mariner Schichten, z. B. noch
über den Porestbed-Bildungen verursachten. Dahin
rechne ich auch die Cardiensande, die von Maas
in Westpreußen über den Posener Plammentonen
und als Liegendes der Glazialbildungen nachge-
wiesen worden sind. Vielleicht sind hierher auch
die präglazialen Cardiensande G. Müller's von
Lauenburg a. Elbe zu stellen. Ich kann hier nicht
ganz den Gedanken unterdrücken, ob nicht die doch
nur kurze Zeit andauernde marine Transgression vor
Ablagerung der ältesten Glazialbildungen schon
mit dem Herannahen der Eiszeit zusammenhängt
und z. T. mit durch das Verdrängen des Meeres
in nördlicheren Gegenden durch das vorrückende
Eis bedingt gewesen ist.
C. Die Quartärzeit.
Den Beginn der Quartärzeit rechnet man im
nördlichen Deutschland von dem Zeitpunkte ab,
wo die ersten Spuren der Eiszeil auftreten.
N. F. XVI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
195
Man mag über die Ursachen der Eiszeiten
denken und Theorien entwickeln , welcher Art
sie auch sein mögen. Über die Tatsache ihres
Vorhandenseins wird man nicht hinwegkommen.
Man wird auch über die Tatsache nicht hinweg-
kommen, daß die Eiszeit nicht eine rein örtliche,
nordeuropäische und nordamerikanische Erschei-
nung war, sondern eine Erscheinung, die auch an
den Gebirgen tropischer Länder zum Ausdruck
kommt, ja auch in der südlichen Hemisphäre
nachgewiesen ist, also eine gewisse Allgemein-
gültigkeit für unsere Erde besitzt. Aus diesem
Grunde kann auch der Versuch von E. Geinitz,
die Ursachen der Eiszeit auf örtliche meteoro-
logische Verhältnisse, bedingt durch andersartige
Konfiguration der Kontinente, zurückzuführen, nicht
ganz befriedigen, obwohl derartige, wie die von
ihm geschilderten Verhältnisse mitgespielt haben
können.
Will man das Wesen der Eiszeit und zwar
vorerst nur in unserem nördlichen Deutschland
definieren, so ergibt sich als untrennbar von ihr
1. ein kühleres Klima und
2. eine Vermehrung der Nieder-
schläge. *
Es soll hier nicht weiter darauf eingegangen
werden, ob und wie diese beiden Erscheinungen
in einem ursächlichen Verhältnis zueinander stehen
und welcher das primäre ist. Die fossilen Funde
von Pflanzen und Tieren weisen mit voller Be-
stimmtheit darauf hin, daß das Jahresmittel
während der Glazialzeit niedrigerer gewesen sein
muß als vorher und nachher; und die ungeheuren
Mengen von glazialem, fluvioglazialem und fiuvio-
tilem Schutt und Schotter ,aus jener Zeit sind
ein unumstößlicher Beweis für reichere Nieder-
schlagsmengen, mögen sie nun Schnee und
Gletschereis oder Regen gewesen sein.
Überraschend, plötzlich, katastrophenartig brach
nun die Eiszeit nicht herein; aber schnell und
rasch im Verhältnis zu der vorherigen Wandlung
der klimatischen Verhältnisse scheint es doch bei
der Erniedrigung der Temperatur vor sich ge-
gangen zu sein, voi- allem aber unvermittelt
scheint die gewaltige Vermehrung der Nieder-
schläge gekommen zu sein.
Die auffälligsten Folgeerscheinungen derselben,
die ihr auch den Namen gegeben haben, sind die
Vereisungen, d. h. die Überdeckung großer,
vorher eisfreier Länderstrecken mit Inlandeis,
wenn dieses auch lange nicht die einzigen F"olgen
sind.
Den Vorgang bei einer Vereisung werden wir
uns etwa folgendermaßen denken müssen. Durch
die vermehrten Niederschläge bei gleichzeitiger
Erniedrigung der Temperatur wuchsen in dem
skandinavischen Heimatgebiet der Vereisungen
die dort schon vorher vorhandenen Gletscher fort
und fort an. Das Eis fing infolgedessen physi-
kalischen Gesetzen folgend an, sich auszubreiten
und vom Innern nach den Seiten zu fortzuschreiten.
Dieses Fortschreiten der Ränder dauerte so lange,
als die Zufuhr auf dem Eise die Menge überwog,
die durch Abschmelzen alljährlich im Sommer
verloren ging. Es lassen sich nun zwei Phasen
des Vorschreitens der Vereisung und damit zwei
verschieden zu betrachtende Gebiete unterscheiden.
Die eine reicht von dem Ausgangsgebiet bis an
die heutige Ost- und Nordsee, die, wenn auch in
anderer Gestalt, so doch als wassererfüllte Senken
zwischen Deutschland und Skandinavien lagen.
Bis zu dieser Senke flössen die Gletscher gewisser-
maßen in normaler Weise bergab. Die Schmelz-
wasser sammelten sich vor dem Rande in der
Senke und wurden in ihr wahrscheinlich nach
Westen abgeführt.
Nachdem indessen das Eis die Ost- und Nord-
see überschritten hatte, tritt es in eine andere
Phase seines Vorstoßes ein. Es mußte von nun
an sozusagen bergauf strömen, denn das Gelände
Norddeutschlands senkte sich im allgemeinen, wie
oben ausgeführt worden ist, auch damals schon
von Süden nach Norden. Das hatte aber zur
Folge, das von nun ab nicht mehr nur die
Schmelzwasser des Eises sich vor dessen Rande
aufstauten, sondern auch das Wasser der von
Süden her nach Norden dem Meere zustrebenden
Flußläufe. Da nun aber die Niederschläge in der
Eiszeit nicht nur über dem Eise selbst eine Ver-
mehrung erfahren hatten, sondern diese vermehrten
Niederschläge auch noch südlich des Eisrandes, in
dem bis dahin eisfrei gewesenen Gebiete wirk-
sam gewesen waren, so waren die Flußläufe auch
über ihr normales Maß angeschwollen und führten
infolgedessen in erhöhtem Maße aus ihrem Ober-
laufe Schutt, Geröll und suspendierte Teile mit
sich. Sobald diese Binnenwasser aber in den Be-
reich des vor dem Plise aufgestauten Schmelzwassers
kamen, mußten sie notgedrungen ihren Strom
verlangsamen und waren dadurch gezwungen, die
mitgeführten Massen wenigstens insoweit fallen zu
lassen und abzulagern, wie ihre Stoßkraft und
Transportfähigkeit nachlies. Je weiter nun das
Eis vorschritt, desto höher wurden auch die
Wasser angestaut, desto höher erfolgte auch in-
folgedessen die Aufschüttung und desto geringer
war das Gefälle der Binnenflüsse. Und infolgedessen
mußten die Flüsse immer eher und weiter fluß-
aufwärts ihre Schotter fallen lassen, und so schritt
die Akkumulation immer weiter nach rückwärts
vor. Das Eis schritt aber ebenfalls immer weiter
nach Süden und überdeckte die kurz zuvor vor
seinem Rande aufgeschütteten Sande und Kiese.
Am Rande unseres heutigen Gebirgslandes
etwa machte das Eis halt. Stellenweise drang es
noch in die Täler desselben nicht unerheblich ein.
Dadurch gewann es aber einen Einfluß auf ein
drittes Gebiet, das sich wieder von dem vorigen
■scharf unterscheidet. In diesem nicht vereist
gewesenen Gebiete hatten die Niederschläge
dieselbe Wirkung gehabt, wie in dem nachher
vom Eis überschrittenen zweiten Gebiet. Die
Flußläufe waren wasserreicher geworden und
hatten in verstärktem Maße Geröll und Schlamm
196
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 15
talabwärts geführt. Nachdem das Eis bis in ihre
Täler vorgedrungen war und ihnen den Weg tal-
abwärts verlegt hatte, mußten auch sie einen
großen Teil ihrer Lasten ablegen, ihre Betten er-
höhen und sich andere Wege zum Meere suchen.
So macht sich auch in dem nie vereist gewesenen
Gebiete der Einfluß der Vereisung hoch hinauf
geltend, indem er Anlaß gab zu immer weiter
rückwärts schreitender Akkumulation. Die Ab-
lagerungen dieses Abschnittes unterscheiden sich
von denen der zweiten in gleicher Weise ge-
bildeten durch ihren völligen Mangel an
nordischem Material und dadurch, daß das Eis
sie nachmals nicht mehr überzog. Aber die Eis-
zeit hatte nicht nur auf die Art und Beschaffen-
heit der unter ihrer Herrschaft abgelagerten
Bildungen bestimmend gewirkt, sie hat auch einen
bedeutenden Einfluß auf die zeitgenössische Flora
und Fauna ausgeübt.
Vor dem Herannahen der Eiszeit war die
Verteilung des Klimas und der klimatischen
Zonen völlig ähnlich der heutigen. Dem Pol zu-
nächst folgte die arktische Zone, der sich südwärts
die subarktische anschloß, die noch weiter nach
Süden in die gemäßigte überging. Eine jede
Zone, innerhalb deren nun wieder kleinere Unter-
schiede stattfanden, hatte ihre eigene Flora und
Fauna.
Mit dem Beginn der Eiszeit und dem Vor-
rücken des Eises beginnt eine Verschiebung der
klimatischen Zonen nach Süden. Hand in Hand
damit findet eine Verschiebung der arktischen
und subarktischen Floren und Faunen nach Süden
zu statt. Doch ist der Vorgang bei dieser Ver-
schiebung nicht ganz einlach. Schon in der
Vermehrung der Niederschläge liegt ein bedeut-
samer Unterschied. Sodann ist eine Faunen- und
Florenverschiebung nicht so ohne weiteres mathe-
matisch möglich. Die Vorgänge dabei sind viel-
mehr recht kompliziert. Betrachten wir nur
einmal den II. Abschnitt, das vereist gewesene
Gebiet Norddeutschlands. Vor dem Heranrücken
der Vereisung herrschte hier ein gemäßigtes
Klima und war eine gemäßigte Flora und Fauna
einheimisch. Diese setzt sich in beiden Fällen
zusammen einmal aus der großen Masse weit
verbreiteter indifferenter und sehr anpassungs-
fähiger Pflanzen und Tiere; zum anderen aus
einer kleinen Zahl von Geschöpfen, die ihre
Hauptverbreitung in südlicheren Gegenden haben,
in diesem Gebiete ihre nördlichste Verbreitung
besitzen. Diese wird gegen ein Sinken der
Temperatur am empfindlichsten sein. Und schließ-
lich lebt eine Anzahl von Pflanzen in dem Gebiet,
die weiter nördlich zuhause sind, in unserm Ge-
biete aber die Südgrenze ihrer Verbreitung haben.
Wenn nun das Klima infolge der einbrechenden
Eiszeit sinkt, so werden vorerst die Masse der in-
differenten Pflanzen und Tiere ruhig weiterleben,
vielleicht nur ein wenig ihre Gewohnheiten ändern
und geschützte Stellen aufsuchen. Auch die süd-
licheren Geschöpfe werden nicht ohne weiteres
aufhören zu existieren. Die erwachsenen Exem-
plare ertragen die veränderten klimatischen Be-
dingungen, ohne Schaden zu nehmen. Sie können
sich ja, bei den Tieren wenigstens, durch bessere
Unterschlüpfe schützen. Im übrigen ist es ja
auch nur das Jahresmittel, das insgesamt fällt.
Die Sommer der Eiszeit werden durchaus, wenn
auch nicht lang, so doch warm gewesen sein.
Und das genügt vielen Geschöpfen völlig zum
Wachstum. Nur wenn der junge Nachwuchs unter
der Kürze der warmen Jahreszeit zu leiden be-
ginnt und die Zahl der heranwachsenden Jungen
immer geringer wird, dann beginnt eine Tier-
oder Pflanzenart an einem Orte auszusterben. So
ist das Erlöschen der wärmeliebenden Tiere und
Pflanzen in der Eiszeit außerhalb der Vereisungen
auch nur ein allmähliches gewesen.
Die Klasse der kälteliebenderen Organismen
dagegen ist rascheren Veränderungen unterworfen
gewesen ; vor allem in der Verbreitung der größeren
Tiere. Die anwachsenden Eismassen verdrängten
sie von Norden her aus ihren Wohnplätzen. Die
an Strenge zunehmenden Winter zwangen sie, ihre
winterlicHen Wanderungen, die ja die nordische
Säugetier- und Vogelwelt noch heute unternimmt,
länger und weiter nach Süden auszudehnen. So
kamen schon nordische Gäste in unsere Gegenden,
als auch die wärmeliebenden Tiere hier ihr Leben
noch fristeten. Die große Zahl der weniger be-
weglichen Tiere, der Schnecken z. B., und der
Pflanzen kam erst später, teils langsam sich aus-
breitend infolge größerer Vermehrung unter günsti-
geren Lebensbedingungen, teils mechanisch durch
diese und auf dem Rücken des Eises oder durch
die größeren Tiere verschleppt. So erlischt all-
mähüch, in den dem Eise näher gelegenen, den
nördlicheren Gegenden, schneller, im Süden lang-
samer, die Zahl der wärmeliebenden Geschöpfe,
und es stellten sich zu den überlebenden indiffe-
renten Formen immer mehr nordische Gäste ein,
die zum Schlüsse überwiegen.
Nachdem der Höhepunkt erreicht und ein
weiteres Vordringen des Eises nicht mehr möglich
war, weil die alljährlich an den Rändern und an
der Oberfläche abschmelzende Menge den Nach-
schub überwog, einmal, weil vielleicht die Tem-
peratur wieder gestiegen war und zum anderen,
weil, was wahrscheinlicher ist, die Menge der
Niederschläge nachgelassen hatte, begann das
allgemeine Abschmelzen, der Rückgang der Ver-
eisung, sowie der Vorstoß in zahlreichen Schwan-
kungen (Oszillationen).
Die dabei frei werdenden ungeheuren Mengen
von Schmelzwasser im Bunde mit den aufgestauten
Binnenwässern der Flüsse suchten ihren Abfluß
in den weiten Urstromtälern, aus denen sich nach
und nach unsere heutigen P'luß- und Seesysteme
entwickelten. Das vom Eis und Wasser ver-
lassene weite Sand- und Schuttfeld aber besiedelte
sich allmählich mit den Pflanzen und Tieren, die
vor dem Eisrande außerhalb der vom Wasser
eingenommenen Gegenden gelebt hatten. Ehe
N. F. XVI. Nr. IS
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
197
sie jedoch noch Besitz ergriffen hatten von der
gesamten Schuttlandschaft, war diese der nahm-
haften Erosion ausgesetzt, die die heftigen herr-
schenden Stürme ausübten und die an anderen
Stellen wieder zu einem Absatz führten. So ent-
standen an der Wende der Eiszeit die ausgedehnten
Flug(Dünen-)sand- und die Lößbildungen, die erst
nach und nach aufhörten, als die Vegetation alle
Flächen überzog. Von da ab wirkte nur noch
die Wassererosion in den sehr wasserarm ge-
wordenen Flußläufen und die Abspülung an
den Steilhängen. Dafür begannen sich aber an
gewissen Stellen Ablagerungen zu bilden, die von
denen der vorangegangenen Glazialzeit durchaus
verschieden waren. Während dort entsprechend
der vermehrten Wassermengen in der Hauptsache
gröberes IVIaterial, Kies und Sand, zur Ablagerung
gekommen war, entstanden -nun fast ausschließlich
feinkörnigere Absätze, wie wir sie z. B. heute
noch entstehen sehen : feinsandige und tonige
Ausfüllungen langsam fließender Wasserbecken
oder Überschwemmungsgebiete (Schlick) oder
kalkige, eisenhaltige oder humose Absätze
stehender Gewässer oder schließlich die große
Menge der Torfbilduhgen.
Nach dem Abschmelzen des Eises und mit
der Rückkehr des trockneren und wärmeren
Klimas ging auch wieder eine Änderung der
Flora und F"auna Hand in Hand. Die Masse der
indifferenten Lebewesen , soweit sie ausgedauert
hatte, blieb bestehen und nahm etwas mehr
überhand. Die zum Schlüsse der Eiszeit über-
wiegenden kälteliebenden Formen hielten wohl
noch eine Zeitlang dem Klima stand, nahmen
aber nach und nach an Häufigkeit ab und ver-
schwanden schließlich fast ganz. Von Süden her
aber dringen erst vereinzelt, dann immer zahl-
reicher die wärmegewohnten Wesen heran, die
nun wieder günstigere Lebensbedingungen haben.
So sehen wir, daß bei der Beurteilung von
Floren und Faunen aus der Eiszeit und Nach-
eiszeit mit großer Vorsicht verfahren werden
muß. Vor allem ist sehr auf die petrographische
Beschaffenheit der die Flora und Fauna um-
schließenden Schichten zu achten. Sodann, und
das gilt natürlich nur im vereist gewesenen Ge-
biete, auf ihre Lagerungsverhältnisse zu Eis-
ablagerungen (Grundmoräne). Erst nach Fest-
stellung dieser Verhältnisse ist eine Beurteilung
der Floren und Faunen nach ihrer Zusammen-
setzung möglich.
Wenn nun das Eis abgeschmolzen und aus
unserer Gegend verschwunden gewesen ist und
Flora und Fauna Zeit gehabt hatten, sich wieder auf
dem verlassenen Gebiete niederzulassen und es
erfolgte dann ein neuer Vorstoß des Eises, der
diese bis dahin nacheiszeiilichen Gebilde wieder
mit eiszeitlichen Ablagerungen deckt, so wird
diese Nacheiszeit zur Zwischeneiszeit. Solche
Zwischeneiszeit und damit eine Wiederkehr der
Vereisung ist ohne Zweifel bei uns mindestens
einmal vorhanden. Und bei der Wiederkehr der
Eiszeit und damit der Vereisung wiederholten sich
ganz genau die Vorgänge wie bei der ersten Ver-
eisung.
Um aber von einer wirklichen Interglazialzeit
nach der üblichen Definition sprechen zu können,
verlangte man also, daß das Eis in ihr zum
mindesten bis aus dem II. Abschnitt ganz ver-
schwunden gewesen ist und zwar für so lange
Zeit, daß die gemäßigte Flora und Fauna von
dem verlassenen Lande wieder hat Besitz ergreifen
können. Denn außer einem oder mehreren großen
Rückzügen haben unzweifelhaft noch zahlreiche
kleinere Vorstöße und Rückzüge stattgefunden,
während deren sich im Grunde genommen die
gleichen Vorgänge abspielten: Erosion, Bildung
feinkörniger Ablagerungen, Nachdrängen der
Pflanzen- und Tierwelt usw., wenn auch alles nicht
in dem Maße wie bei einem längeren Rückzuge
des Eises. Wir werden aber ohne weiteres zu-
geben müssen , daß beide Erscheinungen nur
graduell verschieden sind und man sich darüber
verständigen muß, ob man beides als Interglazial-
zeiten anerkennen will oder nur die Ablagerungen
aus der großen Rückzugsperiode. Es ist aber
mitunter ungemein schwer, Ablagerungen beider
Art auseinanderzuhalten. Denn es ist durchaus
denkbar, daß durch einen Zufall in der Zeit des
Abschmelzens — äußerhalb der Schmelzwasser-
straßen etwa auf einer Hochfläche — , während
das Eis noch in der Nähe lag, eine Ablagerung
sich bildet mit einer Flora oder Fauna, die keine
arktischen Beimengungen enthält, sondern nur
eine Gemeinschaft von Pflanzen oder Tieren, die
auch noch heute bei uns lebt, die aber auch
weiter im Norden munter gedeiht. Wenn dieser
Ablagerung Formen, die unbedingt für wärmeres
Klima sprechen, durchaus fehlen, so sind wir
auch nicht gezwungen , ein solches anzunehmen
und die Ablagerung als eine Interglazialbildung
anzusprechen, man wird es aber auch keinem
verargen können , die Ablagerung nicht als eine
Glazialbildung betrachten zu wollen. Hier wie
überhaupt bei der Beurteilung fossilführender
Diluvialablagerungen ist äußerste Sorgfalt und Be-
rücksichtigung aller Umstände und vor allem ein
ausgedehnteres Vergleichsmaterial nötig, als wir
bisher zur Verfügung haben.
Es erübrigt nun noch, an einer Reihe von
allgemein bekaniiten Diluvialablagerungen zu ver-
suchen, sie in dieser theoretischen — aber immer-
hin der Natur entnommenen und durch zahlreiche
Beobachtungen gestützte — Stockwerke einzu-
reihen und so an der Hand der Vorkommnisse
versuchen das Diluvialgebäude zu errichten.
Die vorquartäre Erosionsfläche als Unterlage
ist überall da.
Ablagerungen der sog. Präglazialzeit, d. h. der
jüngsten Tertiär- oder Pliozänzeit sind selten.
Das ist naturgemäß, denn einmal gab es deren
im Verhältnis zur Erdoberfläche überhaupt nicht
sehr ausgedehnte, und zum anderen sind die
198
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. IS
wenigen noch zum weitaus größten Teile tief
unter den quarlären Bildungen verschüttet. Einzelne
mögen auch noch übersehen oder verkannt sein.
Im Abschnitt III zähle ich zu ihnen die wenigen
Mastodonfundstücke Mitteldeutschlands. Es sind
aber auch noch unzweifelhaft eine Reihe Vor-
kommnisse kalkiger und humoser Art, vor allem
kleinere Braunkohlenbildungen hierherzuzählen.
Im II. Abschnitt, dem vereist gewesenen Gebiet
Norddeutschlands, gehören hierherdie Ablagerungen
von Edertsleben, die Torfe von Eime und die
Braunkohlen von Wallensen. Es ist mir auch
nicht ganz unwahrscheinlich , daß die obersten
Schichten der Posener Flammentone bis ins Pliozän
und zwar bis ins jüngere Pliozän hineinragen.
Immerhin sind die Fundorte noch selten.
Aus dem II. Abschnitt, dem außerdeutschen
Gebiete, wenn auch dicht an der Grenze, haben
die Dänen eine Reihe solcher Bildungen be-
kannt gemacht: Die Ablagerung von Gudbjerg
und die Corbicula - Sande aus dem Freihafen
von Kopenhagen und von Ffirslevgaard. Außer-
halb des besprochenen Gebietes gehört hierher
vor allem die klassische Lagerstatt von Cromer
und völlig gleichartige Bildungen, die vor kurzem
Dubois in Belgien gefunden und beschrieben
hat. Alle diese Bildungen haben das gemeinsam,
daß sie nach Flora und Fauna durchaus auf ein
gemäßigtes, vielleicht noch etwas wärmeres Klima
als das heutige hindeuten und in einer keinesfalls
niederschlagsreicheren Zeit als die heutige ent-
standen sind.
Diese präglazialen Bildungen werden, wo sie
nicht zutage liegen, bedeckt von Bildungeil einer
Eiszeit, d. h. einer Zeit, die reicher an Nieder-
schlägen und kühler war, als die vorhergehende
und die nachfolgende Zeit. Diese Bildungen sind
im nicht vereistem Gebiete Kiese und Schotter,
im vereist gewesenen glaziale Sande, Kiese und
Grundmoränen. Alle diese eiszeitlichen Bildungen
rechne ich zu einer und derselben und zwar zur
ältesten Eiszeit, zu der ich in gleicher Weise alle
Ablagerungen der tiefsten Vereisung rechnen muß,
so lange nicht ihr jüngeres Alter erwiesen ist.
Alsdann ist aber immer an dieser Stelle eine
Schichtenlücke. Denn vorausgesetzt — und mit
dieser Voraussetzung steht und fällt meine Aus-
führung — die Eiszeiten sind nicht nur lokale,
sondern weitverbreitete Allgemeinerscheinungen
gewesen, so müssen auch ihre Spuren ungefähr
gleichzeitig auftreten. Also der Beginn der Eis-
zeit ist überall annähernd gleichzeitig, der Beginn
der Vereisung aber nicht.
Von diesem Satze also ausgehend, rechne ich
zur ältesten überhaupt vorhandenen Vereisung
die Grundmoränen und glazialen Schotter des
südlichen Hannovers, die älteren Glazialablage-
rungen des nördlichen Hannovers und daran an-
schließend Schleswig -Holsteins, Mecklenburgs,
Brandenburgs, Sachsens, Pommerns, Posens usw.
Also überhaupt die ältesten Glazialablagerungen
Norddeutschlands.
Aus derselben Zeit stammen nach meiner
Auffassung sodann weiter die ältesten Kiese des
außerglazialeii Teiles Norddeutschlands, die hoch-
gelegenen Kiesterrassen des südl. Leinetales und
des südl. Wesertales, die G r u p e beschrieben, u. a. m.
Ferner die nördlichen Fortsetzungen dieser süd-
lichen, einheimischen Kiese in dem vereist ge-
wesenen Gebiet, wie z. B. in der Hallenser Gegend.
Die Kiese von Süßenborn. Hierher stelle ich
auch die Mosbacher Sande. Die beiden letztge-
nannten zeigen eine Mischfauna, die zur reinen
Pliozänzeit unmöglich ist. Die nordischen Bei-
mengungen im Bunde mit der augenscheinlichen
Verflachung der Wasserläufe , die sie abgesetzt
haben, deutet den Beginn der Eiszeit an. In diese
Zeit möchte ich auch die Entstehung der älteren
Rheinterrassen setzen, und ich möchte an die
Herren T i e t z e und S c h u c h t die Frage
richten, ob nicht auch ihre präglazialen Bildungen
in der Emsgegend aus dieser Zeit stammen
könnten.
Diese Kiese führen außerhalb des vereisten
Gebietes oder an den Rändern der Vereisung
eine reiche Fauna, vor allem von Conchylien und
Säugetiere. Als leitend im gewissen Sinne kann
man für sie Elephas antiquus Falc. und Rhinoceros et-
ruscus Falc. bezeichnen. Nähere vergleichende
Studien werden wahrscheinlich noch weitere
Leitformen, vor allem von Conchylien ergeben.
Nach Beendigung der Eiszeit, d. h. nach Nach-
lassen der Niederschläge und Zunahme der Tem-
peratur trat ausgedehnte Erosion ein, und es
bildeten sich die ältesten Interglazialschichten.
Dazu stelle ich vor allem die Paludinenbänke der
Berliner Gegend. Da ich aber den dieselben
unterlagernden Geschiebemergel für gleichaltrig
halte mit dem südhatmoverschen — aus den oben
angeführten Gründen — , so parallelisiere ich die
Paludinenbänke, allerdings ohne faunistischen Be-
weis, mit dem Wallenser Interglazial. Dasselbe
ist aber faunistisch gleichaltrig mit Taubach, mit
den Beiziger Kalk- und Torfbildungen, mit den
Nordhannoverschen Kalk- und Diatomeenlagern,
mit dem Schwanebecker Kalktuft", dem Kalktuff
von Cannstadt und einer Reihe anderer Bildungen,
die erwiesenermaßen diesen Bildungen gleichaltrig
sind. Allzugroß ist ihre Zahl indessen nicht. Vor
allem fehlen uns im nördlichen Deutschland, in
Pommern, Mecklenburg, Posen, West- und Ost-
preußen, Schleswig-Holstein noch fast ganz oder
völlig ident mit diesen durch Art der Ausbildung
und Fossilführung erwiesene Bildungen. In
West- und Ostpreußen einerseits und an der
unteren Elbe (Stade) wie in Schleswig-Holstein
andererseits scheinen an ihre Stelle marine Ab-
sätze zu treten.
Aus diesen Ablagerungen bestimmte Leit-
fossilien zu nennen , bin ich heute noch nicht
imstande. Dazu wird wohl mit in erster Linie
die Paläobotanik berufen sein. Im übrigen zeigt
sich in der Fauna dieser Schichten deutlich, daß
ebenso wie heute oder vielleicht noch schärfer
N. F. XVI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
199
ein allmähliches Abnehmen wärmeliebenderer
Wesen nach Norden zu zu bemerken ist.
Es kam die zweite Vereisung, von unten ge-
rechnet, und damit wieder reichere Niederschlags-
mengen und ein kühleres Klima. Als Absätze
aus dieser Zeit haben in erster Linie die Glazial-
bildungen zu gelten, die über den genannten
Interglazialschichten liegen. Im südlichen Han-
nover, bis wohin diese zweite Vereisung nicht
gelangt ist, sind in dieser Zeit die Schotter der
Leine und Weser entstanden, in denen sich eine
ziemlich reiche Fauna sowohl an Säugetieren, wie
an Conchylien gefunden hat. In dieser Fauna
herrscht bei weitem das Mammut und das woll-
haarige Rhinozeros vor. Vereinzelt hat sich Ovibos
gefunden. Auch die ziemlich reiche Conchylien-
fauna deutet durchaus kühleres Klima an. Für
ungefähr gleichaltrig mit diesen Kiesen halte ich
nun auch den Rixdorfer Horizont. Dieser ent-
hält allerdings eine Mischfauna, in der Elephas
antiquus und Rhinoceros etruscus vorkommt. Be-
denkt man aber, daß diese Tiere vor Anbruch
der jüngeren Eiszeit, in der Interglazialzeit, in der
Gegend lebten, wie ihr Vorkommen im Kalktuff
von Taubach beweist, und bedenkt man, daß die
Rixdorfer Sande und Kiese nach meinen obigen
Ausführungen südlich des Eisrandes durch die
Staugewässer aufgeschüttet worden sind, so wird
man sich diese Mischung der F'auna ohne weiteres
erklären können, zumal der übrige Teil derselben
durchaus ident ist mit der Säugetierfauna aus
den Weserkiesen bei Hameln. Gleichaltrig mit
den Rixdorfer Sanden, d. h. gebildet während der
jüngeren Eiszeit, aber außerhalb der Vereisung,
sind aber nach meiner Ansicht eine ganze Reihe
anderer fossilführender, bisher großenteils als in-
terglazial angesehener Bildungen, so die Velvaten-
sande in der großen Kiesgrube am Schilling bei
Posen und andere derartige Velvaten führende
Spatsande. Gleichaltrig sind meiner Meinung
nach auch die Eberswalder Kiese und Sande, in
denen Herr P. G. Krause die menschlichen
Spuren gefunden hat. Gleichaltrig sind auch die
Hundisburger Schotter, die Herr Wiegers an
das Ende der Interglazialzeit stellt. Ich kann auch
ferner nicht den Verdacht unterdrücken, daß
hierher ebenfalls die einheimischen Kiese des
Flämings zu stellen sind, über die die Herren
Keil hack und Schmierer seinerzeit be-
richtet haben.
In Süddeutschland zeigen eine fast völlig idente
Fauna, wie die jungdiluvialen Leine- und Weser-
kiese, die Sandlößbildungen des Rheintales. Hier-
her gehörte unzweifelhaft auch die sog. Lößfauna
Nehring's von Thiede und Westeregeln sowie
die von Ed. Wüst von Osterode und anderen
Orten beschriebenen Bildungen. Hauptcharakter-
tiere der fossilführenden Bildungen dieser Zeit
sind außer einigen Schnecken wie Succinea Schu-
macheri und Sphyredium Columella, vor allem das
Mammut, das wollhaarige Rhinozeros und der
Moschusochse.
Es ist im Anschluß hieran nötig, noch einmal
mit einigen Worten auf die Rixdorfer Sande
zurückzukommen. In der alten Rixdorfer Kies-
grube ist von Berendt festgestellt worden, daß
der die Säugetierreste führende Horizont von
einem Geschiebemergel überlagert ist, der sich in
die Teltower Hochfläche fortsetzt und allgemein
als Oberer gilt. Desgleichen sind die Rixdorfer
Sande von einem Geschiebemergel unterlagert
gewesen, der von Berendt und anderen als
Unterer angesprochen worden ist. Da nun die
Rixdorfer Sande eine fossilführende Bildung
zwischen zwei Geschiebemergeln, also zwei
Glazialbildungen, darstellte, mußte sie interglazial
sein. Dieses interglaziale Alter ist aber seitdem
von vielen Seiten angezweifelt und von mir un-
beschadet der Beimengung von El. antiquus und
Rhin. etruscus nie recht geglaubt worden. Wenn
ich ich daher in meiner kleinen Notiz „Über die
älteste Vereisung bei Rüdersdorf und Hamburg
und die Altersstellung der Paludinenschichten der
Berliner Gegend" die Rixdorfer Sande nicht
erwähnt habe, so hat es mir völlig fern gelegen,
weder denselben, noch den Herren Geheimrat
Wahn schaffe und Schroeder zu nahe zu
treten. Ich habe sie stillschweigend zum oberen
Diluvium gerechnet, zumal auf keine Weise
bisher der strikte Nachweis geliefert worden war,
daß die Rixdorfer Sande von der Paludinenbank
durch die Grundmoräne einer Vereisung getrennt
war. Die Geschiebemergelbank unter denselben
konnte auch zu derselben Vereisung gehören, die
die Paludinenbänke unterlagerte, wenn auch da-
gegen durchaus die so verschiedene Höhenlage
beider sprach. Als ich meine oben genannte
Notiz schrieb, tat ich es hauptsächlich aus dem
Grunde, um eine Klärung dieser Frage herbei-
zuführen. Die in der Literatur angeführten Gründe
für eine 3. ältere Vereisung schienen mir wie
vielen anderen nicht zu genügen. Ich erwartete
von kompetenter Seite eine genügende Auf-
klärung, zum mindesten wollte ich die Diskussion
darüber in Fluß bringen. Das letztere ist mir
gelungen. Meine erste Hoffnung hat sich nicht
erfüllt. Auch die Antwort des Herrn Geheimrat
Wahn seh äffe hat mir nicht die nötige Klarheit
gebracht. Ich kann ihm nicht beistimmen, wenn
er daran festhält, die Rixdorfer Sande als inter-
glazial anzusehen. Wohl stimme ich ihm wie
Herrn Schroeder rückhaltslos bei, wenn die
genannten Herren die Rixdorfer Fauna nicht
für rein sekundär ansehen. Ich bin sogar
derselben Ansicht wie Herr Schroeder, daß
dieselbe zum Teil sogar gar nicht gerollt ist,
sondern die Reste wohl ursprünglich teilweise als
Kadaver eingebettet sind. Das ist ja nur natürlich
in einem großen wirbelnden Wasserstau, aus dem
ich mir die Sande abgesetzt denke.
Nun ist aber in die ganze Frage ein neues
Moment gekommen durch das Auffinden des
Motzener Torflagers und den Nachweis des dilu-
vialen Torflagers im Teltowkanal durch Herrn
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 15
Dr. Korn. Der Motzener Torf wird von Ge-
schiebemergel überlagert, also ist er noch einmal
vom Eis überdeckt gewesen. Er wird aber von
einer Grundmoräne überlagert, die Paludina dilu-
vina führt. Demnach muß diese Grundmoräne
jünger sein als die Paludinenbänke. Der Rixdorfer
Horizont findet sich aber auch anscheinend hier
wieder zwischen dem Torf und der überlagernden
Grundmoräne. Also hätten wir zweifellos be-
wiesen eine dreimalige Vereisung und eine zwei-
malige Interglazialzeit. — Vorausgesetzt, daß diese
Beobachtungen alle so zutreffen — und ich habe
gar keinen Grund, daran zu zweifeln — erkenne
ich eine dreimalige Überdeckung mit Eis, also
eine dreimalige Vereis ung der Berliner Gegend
jetzt rückhaltslos an.
Aber — und das ist der Haupterfolg meines
kleinen Fehdeartikels — nicht in dem Sinne
der früheren Wah n schaff e'schen Dreiteilung,
sondern ich werde dazu gedrängt, die Vermutung
auszusprechen, daß wir zur jüngeren Eiszeit ein-
mal schon ein ganz erhebliches Abschmelzen ge-
habt haben, auf das dann wieder ein Vorstoß
erfolgt ist. Dieser Gedanke ist ja auch keines-
wegs neu. Er ist ja für andere Gegenden schon
so oft ausgesprochen worden, so erst kürzlich
wieder von Herrn A. Jentzsch für die Weichsel-
gegend. Ja die ganze baltische Endmoräne ist
ja als einer besonderen jüngsten Eiszeit angehörig
gedeutet worden. Ob aber diese Torfe von
Motzen und vom Teltowkanal echte Interglazial-
bildungen sind und ob die darüber liegende
Grundmoräne einer wirklichen gesonderten Eis-
zeit angehört, ob also das Eis zur Bildungszeit
der Motzener Torfe bis hoch nach Skandinavien
hinauf abgeschmolzen war, das ist selbst für einen,
der sich redlich bemüht, nicht rückständig im
Sinne von Weißer mel zu sein, sehr schwer zu
entscheiden. Hier wird eine eingehende Unter-
suchung der Flora einsetzen müssen. Auf jeden
Fall halte ich den Gedanken für wert, einer
Prüfung unterzogen zu werden, zumal da ähnliche
Verhältnisse ja auch schon z. B. für die Gegend
von Lauenburg a. d. Elbe ausgesprochen und wahr-
scheinlich sind, wo in der Tat die G. M ü 1 1 e r ' sehen
Präglazialschichten ein Interglazial, das weit ver-
breitete marine Interglazial der Gegend, zu sein
scheinen und die bekannten Lauenburger Torfe
ein zweites Interglazial oder auch nur ein Inter-
stadial darstellen.
Am Ende der jüngsten Glazialzeit beginnen
sich dann unsere Alluvialabsätze zu bilden, ein-
geleitet durch Übergangsgebilde mit gemischter
Fauna und Flora. An diesen läßt sich trefflich
beobachten, wie zuerst das Nachlassen der ver-
mehrten Niederschläge einsetzt und das Ab-
schmelzen des Eises begünstigt, das Klima aber
noch kühl bleibt und eine arktische Flora und
E'auna vorerst noch ausharrt. Denn aus dieser
Zeit stammen die Dryastone, die arktischen
Schneckenrelikte am Grunde unserer Moor- und
Kalklager und die Dünen- und Lößbildung.
Auf die weiteren alluvialen Bildungen soll hier
nicht mehr eingegangen werden. Faziell sind sie
ebenso beschaffen wie die Präglazial- und Inter-
glazialbildungen.
Völlig übergangen sind in dieser Darstellung
auch die Bewegungen der Erdrinde zur Inter-
glazialzeit, obwohl auch sie jedenfalls von großer
Bedeutung für die Eiszeitprobleme sind. Zum
Verständnis meiner Ausführungen sind sie nicht
nötig.
Wenn wir nun am Schlüsse noch einmal
zurückschauen auf diese gesamten Ausführungen,
so möchte ich noch einige Punkte als besonders
wichtig herausgreifen.
1 . Eiszeiten sind Zeiten vermehrter Nieder-
schläge und verminderter Temperatur. Sie sind
nicht lokale Erscheinungen, sondern besitzen zum
mindesten für unsere nördliche Hemisphäre all-
gemeine Gültigkeit.
2. Vereisungen sind Teilerscheinungen der
Eiszeiten lokaler Natur. Eiszeitliche Ab-
lagerungen außerhalb von Vereisungen
bestehen in Aufschüttungen gröberen Materiales
mit einer gemischten Flora und Fauna. Diese
Ablagerungen können nochmals von dem Eise
derselben Eiszeit überdeckt gewesen sein.
3. Zwischeneiszeiten (Interglazialzeiten)
sind Zeiten mit normalen metereologischen Ver-
hältnissen, gleich oder ähnlich den Verhältnissen,
wie sie zur Voreiszeit geherrscht haben und wie
sie heute herrschen. Ihre Ablagerungen sind in
der Hauptsache gleich denen der heutigen Zeit:
im Gegensatz zu den eiszeitlichen also feinkörniger
und reicher an organischen Resten , besonders
Pflanzen. Ihre Flora und Fauna kann ebenfalls
noch eine Mischfauna sein.
4. Bei Beurteilung eiszeitlicher und
zwischeneiszeitlicher fossil führender
Ablagerungen muß mit allergrößter Vorsicht
vorgegangen werden und nicht nur auf Flora und
Fauna, sondern ebensosehr auf alle anderen Um-
stände, wie Lagerung zu echten Glazialbildungen,
Verbreitung, Zusammensetzung und Entstehungs-
bedingungen geachtet werden, und vor allem ihr
Verhältnis zu ähnlichen oder gleichartigen Bil-
dungen in Betracht gezogen werden.
Lim aber heute schon zu einem ersprießlichen
Ergebnis über die Gliederung der Glazialbildungen
zu kommen, fehlt uns vor allem noch ein ge-
nügendes Vergleichsmaterial. Wir kennen
noch zu wenig fossilführende eiszeitliche Ab-
lagerungen, und die bekannten sind noch nicht
in ausreichender Weise durchforscht. Meine Über-
zeugung ist aber, daß wir ebenso wie in älteren
marinen Bildungen, so auch im Quartär nur durch
sorgfältigste Beachtung und Vertiefung in die er-
haltenen Lebewesen uns ein klares Bild der
Bildungsverhähnisse werden machen können.
N. F. XVI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sind die Maskarenen und die zeutralpazifischen Inseln ozeanisch
Von Dr. A. C. Oudemans in Arnhem.
[Nachdruck verboten.]
Im vergangenen Jahre mit Dodo-Studien be-
schäftigt '), kam ich auch in das spekulative
Gebiet der Abstammung, der Artspaltung und
des geologischen Alters dieser interessanten Gruppe
von ausgestorbenen Vögeln.
In obengenannten Studien beschrieb ich mög-
lichst genau die Unterschiede zwischen den beiden
Dodo-Formen, welche die Insel Maskarenhas
(Bourbon) und die Schwaninsel (Mauritius) be-
wohnten, und kam zu dem Schluß, daß eine
Trennung nicht nur in Arten , sondern auch in
Genera nötig sei.
Es gibt aber noch zwei andere Gründe, durch
welche die Scheidung der zwei Dodo Arten wissen-
schaftlich verteidigt werden kann; diese sind ein
geologischer Faktor: die Zeit, und ein biolo-
gischer: die Isolation.
Die drei Maskarenen-Inseln sind in ihrer
gegenwärtigen Gestalt gewiß in oder nach
der Miozänzeit, aber noch im Neozän entstanden.
Auf diesen Inseln wurden Riesenlandschildkröten
[Tcsfudo] gefunden, jedoch keine anderen Land-
tiere, was dieser Vorstellung Nachdruck verleiht.
Diese drei Berggipfel eines unterseeisch versunkenen
Berglandes — denn als solches müssen sie be-
trachtet werden — sind also nach menschlicher
Berechnung zwischen 6^.. und 3 Millionen von
Jahren alt, also wahrscheinlich ungerähr 3 Millionen
von Jahren getrennt, und die drei darauf lebenden
Dodo- Arten (Raphidae) ebensolange isoliert ge-
wesen. Welche Ursachen man nun annehmen
will, innere (Jordan, Kon i ngsberger) oder
äußere (Eigenman, Plate, Hertwig), nach
solch einer langen Isolation müssen drei ver-
schiedene Arten entstanden sein, welche so von-
einander abweichen, daß ein Biologe sie, den
gegenwärtig herrschenden Begriffen gemäß, in
drei Genera unterbringt {Raplins cuciillatus L.,
Apfcrornis soUtarms S e 1 y s , Pezophaps folitarius
Gmel.).
Ich bin mir wohl bewußt, daß einige Geologen,
u. a. mein Freund Dr. G. A. F. Molen graa ff,
Universitäts-Professor in Delft, einer ganz anderen
Meinung über die Maskarenen zugetan sind. Sie
betrachten diese und die Inseln des Zentralen
Pazifischen Ozeans als „wahre ozeanische Inseln,
d. h. vulkanische Inseln, welche nicht mit ihrem
Fußgestelle mit kontinentalen Schollen zusammen-
hängen, sondern unmittelbar vom Boden der
Ozeane emporsteigen und niemals Teil eines
Kontinentes ausmachten" ") (1. c. S. 224).
n Verhandelingen der Wis-
Koninklyke Akademie van
') Sie erscheinen bald in <
en Natuurkundige Afdeeling de
Wetenschappen te Amsterdam.
2) G. A. F. Molengraaff in literis. — Derselbe, Het
probleem der koraaleilanden en de isostasie. In: Verslagen
der gewone Vergaderingen der Wis- en Natuurkundige Afdeeling
der Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam,
V. 25, 1916, p. 215—231.
Auf meine briefliche Frage: „wie erklären Sie
dann das Vorkommen jener Riesenlandschildkröten
auf den Maskarenen und Seyschellen ?" erhielt ich
eine Gegenfrage : „können jene nicht anderswoher
eingeführt sein?"
Meine Antwort lautet, und alle Zoologen
werden mir beipflichten: unmöglich.
Wohl erkennen die Zoologen die Möglichkeit
der Verschleppung von Sauriern (Eidechsen u. dgl.)
und Schlangen auf durch Banjirs losgerissenen
und mitgeführten im Meere treibenden Bäumen;
sie haben dafür selbst Beweise; aber gerade
diese Tiere fehlten auf den Maskarenen zur Zeit
als sie entdeckt wurden ! Außerdem sind Land-
schildkröten sehr empfindlich für Meerwasser.
Obwohl sie einige Tage darin lebend bleiben,
sind sie darauf sowohl aus- wie inwendig durch
das ihnen schädliche Element so angegriffen und
werden dabei von der Brandung so gehauen, daß
sie nur noch ein paar Tage leben. Vermischung
der Inselrassen untereinander auf dem Wege über
das Meer ist daher gänzlich ausgeschlossen. ')
Die Riesenlandschildkröten waren früher auch
auf der Insel Madagaskar weit verbreitet und
verschwanden dort vielleicht allmählich, nachdem
sie von Menschen bewohnt ward. Lebend sind
sie auf den Maskarenen. Aldabras, Amiranten und
Seyschellen gefunden. ") Sie sind Beweise dafür,
daß diese Inseln alle einmal mit Madagaskar zu-
sammenhingen. Ein Studium der Karte genügt,
um einzusehen, daß die Tschagos-, Maldiv- und
Lakkadiv-Inseln ein Ganzes bildeten, das offenbar
eine Fortsetzung des westlichen GhatsGebirges
der Malabarküste war. Die Indischen Ozean Inseln
sind also jedenfalls keine „wahren ozeanischen
Inseln". Der Verband zwischen allen den kleineren
Inseln des Indischen Ozeans einerseits und Mada-
gaskar andererseits war ganz bestimmt unter-
brochen, bevor diese letztere größere Insel von
Menschen bewohnt ward; denn als Madagaskar
entdeckt wurde, war es von Menschen bewohnt
und waren die Riesenlandschildkröten schon von
diesen ausgerottet, während, als kurz darauf die
übrigen Inseln des Indischen Ozeans entdeckt
wurden, diese nicht von Menschen bewohnt waren
und von Riesenlandschildkröten wimmelten.
Diese sind weder im Ei, noch als lebendige
Tiere, junge oder alte, auf die Inseln irgendwoher
gekommen, ebensowenig wie die Elefanten von
Zeylon und Sumatra dorthin transportiert sind.
Ebenso sicher wie diese zwei großen Inseln
einmal zusammenhingen , ebenso gewiß bildeten
alle genannten Inseln des Indischen Ozeans einmal
einen Kontinent.
') JohnVanDenburgh, The Gigantic Land Tortoises
of the Galapagos Archipelago. — In: Proc. Calif. Acad. Sei.
s. 4, V. 2, Pt. I, p. 202 — 374, tab. 12—124, Sept. 30. 1914.
2) A. Günther, The President's Anniversary Address,
In: Proc. Linn. Soc. Lond. 189S, p. 14 — 29.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 15
Auch die Galapagos-Inseln sind von Riesen-
schildkröten bewohnt, welche näher denen des
Indischen Ozeans verwandt sind als denen des
amerikanischen Festlandes. — John Van Den-
b u rgh hat diesen Tieren ein ausgedehntes Studium
gewidmet und kommt zu dem Schluß:
„The evidence offered by these tortoises,
therefore, seems to be against the view that these
are oceanic Islands, which have been independently
thrust above the surface of the water, and have
received such animals as have drifted to them.
V\'e must rather adopt the view that the Islands
are but the remains of a larger landmass which
formerly occupied this region, and was inhabited
by tortoises, probably of but one race ; that the
gradual partial submersion of this land separated
its higher portions into various Islands; and that
the resulting Isolation of the tortoises upon these
Islands has permitted their differentiation into
distinct races or species."
Allen Geologen sei die Beachtung dieser
Studien sehr empfohlen.
Merkwürdigerweise waren diese Inseln bei ihrer
Entdeckung nur von Riesenschildkröten und einigen
Eidechsen, nicht von Menschen bewohnt, während
fast alle zentralpazifischen Inseln bewohnt waren,
aber keine Riesenschildkröten (mehr?) aufwiesen.
Hier begegnen wir also demselben Fall wie im
Indischen Ozean. Dort bildeten, wie wir oben
sahen, die von Menschen und die von Riesenland-
schildkröten belebten Inseln einmal ein Ganzes. —
Haben wir nun Grund zu vermuten, daß die
Galapagos ebenfalls mit den übrigen zentral-
pazifischen Inseln einmal zusammenhingen? Ganz
gewiß! Betrachten wir mit Aufmerksamkeit die
Karte des Pazifischen Ozeans, worauf John Murray,
der berühmte Leiter der Challenger-Tief-ee- Expe-
dition, den Gehalt an kohlensaurem Kalk in. den
Ablagerungen auf dem Meeresboden angegeben
hat, so sehen wir im Geiste ein ausgedehntes
Festland emportauchen, das vielleicht folgende
Gestalt hatte. Ein großes Land umfaßte die
Galapagos-, Clipperton-, Markesas-, Manahiki-
(Penrhyn-), Sozietäts-, Paumotu-, Rapa-nui- (Oster-),
Sankt F"elix- und Juan Fernando- (bei Chile) Inseln.
Ein schmaler Streifen zwischen 50 und 60" s. Br.
verband dieses Land mit der Campbell-Insel süd-
lich von Neu-Seeland. Von dort streckte es sich
nordwärts aus und umfaßte die Kermadek-, Tonga-,
Fidschi-, Neu-Kaledonien-, Neu Hebriden-, Salomon-
und Bismarcklnseln. Über Neu-Guinea hing es
mit Indien zusammen. ^)
Merkwürdigerweise haben wir in den Riesen-
bauwerken auf Tonga-tabu und Rapa-nui die
Beweise, daß dieses Festland einmal bewohnt war
von einer viele Millionen zählenden Bevölkerung,
welche eine Entwirklungshöhe erreichte, die
mindestens der der Chinesen, Indier und Ägypter
') Australien (Neu -Holland) nenne ich nicht, weil von
dort, selbst fossil keine Riesenlandschjldkröten (^Testitdo) be-
kannt sind.
glich. — Der Verband zwischen allen den kleineren
Inseln des zentralen pazifischen Ozeans einerseits
und den Galapagos andererseits muß also unter-
brochen sein, bevor die ersteren von Menschen
bewohnt wurden, denn auf den Galapagos waren
niemals Menschen, wohl aber Riesenschildkröten. —
Dieses Festland versank also, als es schon von
Menschen bewohnt war, vielleicht schon vor einem
oder mehreren Millionen von Jahren, aber es hat
bestanden! Vielleicht war selbst dieses Land
die Wiege der Menschheit!
Bekanntlich hat man auf Rapa-nui über 500
kolossale Bilder gefunden, wie kein Volk der Erde
sie je geschaffen hat. Sie bestehen nur aus dem
Haupte und einem Teile der Brust, oder nur aus
dem Haupte und dem Rumpfe; fast allen fehlen
Hinterhaupt und Rücken; einige tragen einen
Hut; andere sind gekrönt. Das Gesicht ist nicht
unschön, gut geschnitten; die Unternase ist breit
und weist malaiische Züge auf; Bartwuchs und
-tracht dagegen sind mehr den der altpersischen
Satrapen ähnlich. Das Volk war also ganz be-
stimmt ein anderes als die Süd -Amerikaner und
ebenso als die jetzt lebenden Polynesier! Aus dem
Zustand, worin sich die Bilder befinden — ver-
schiedene sind noch nicht aufgerichtet, viele noch
nicht gekrönt, viele Kronen schon fertig, aber
noch nicht auf die Häupter gesetzt — meint man
schließen zu dürfen, daß die Bevölkerung die
Bilder in aller Eile gehauen und aufgerichtet hat,
wie um eine nähernde gewaltige Katastrophe zu
beschwören, und während sie damit beschäftigt
waren, die Insel in aller Eile verlassen hat. Man
hat dabei an eine vulkanische Eruption gedacht.
Nach meiner bescheidenen Meinung war es keine
vulkanische Eruption, welche die Bevölkerung be-
unruhigte und zur Flucht veranlaßte, denn die
Bilder, welche an der Binnenneige des Kraters
der drei gelöschten Vulkane stehen, haben ihre
Gesichter nicht nach dem Zentrum des Kraters
gerichtet. Vielmehr war es die Absicht, das alles
verschlingende Meer zu beschwören, denn alle
Bilder sind so aufgestellt, daß ihre Gesichter,
welche eine böse oder verachtende Miene zeigen,
nach dem Meere zugewandt sind. Das
Land scheint also ziemlich schnell gesunken zu
sein. Bei der F"lucht haben die Bildhauer und
die Bevölkerung überhaupt alle Gerätschaften
mitgenommen, denn man hat auf der ganzen
Insel, trotz sorgfältigen Absuchens, nur ein Ob-
sidianmesser gefunden.
Die Hypothese der „wahren ozeanischen Inseln"
ist (oder scheint?) übrigens so logisch, daß da-
gegen im allgemeinen wohl wenig Bedenken an-
geführt werden können; doch haften ihr noch
einige Fehler an; sie gibt nämlich von einer un-
erwarteten Seite noch zu lästigen Fragen Ver-
anlassung, welche vorher gehörig aufgelöst werden
müssen, bevor die Hypothese Theorie genannt
werden kann.
Ist es nicht möglich, zu der Hacke einen Stiel
zu finden? M ol engraaff sagt selber (1. c. S. 224),
N. F. XVI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
203
daß: „diese vulkanischen Inseln, welche sich als
Kegel oder Gruppen von Kegeln von ansehnlicher
Masse unmittelbar aus der plastischen Sima"
(basaltischen Unterlage) „erheben, nicht bestehen
bleiben können; sie werden vielmehr durch die
Einwirkung der Gravitation allmählich, schneller
oder langsamer, sinken müssen, alle, ohne Unter-
schied, und so lange dieser Kraft nicht von
anderen Kräften entgegengewirkt wird, unter
dem Meeresspiegel verschwinden und schließlich
mehr und mehr die Gestalt des Ozeanbodens an-
nehmen müssen." — Weiter (I.e. S. 230): „Viel-
leicht darf man in den merkwürdigen Mittel-
Atlantischen Tiefseerücken das Ergebnis sehen
einer vulkanischen Tätigkeit längs einer gewaltigen
Spähe von der Ausdehnung des Tiefseerückens,
wo aus zahlreichen Öffnungen vulkanisches Material
gepreßt wurde, wodurch vulkanische Rücken und
Kegel gebildet wurden, welche gegenwärtig fast
alle, infolge der Isostasie, durch die Einwirkung
der Gravitation, bis zum Durchschnittsniveau des
unterseeischen Rückens zurückgesunken sind,
während nur hier und dort einzelne Inseln, wo
die vulkanische Tätigkeit länger fortdauerte oder
noch fortdauert, sich jetzt noch über den Meeres-
spiegel erheben und andere (wovon der Natur
der Sache nach nur einzelne zufällig durch Lotung
entdeckt sind) sich zwar noch zu verschiedener
Höhe über dieses Niveau erheben, aber nicht bis
an den Meeresspiegel reichen. Zu den letzteren
gehören drei unterseeische Berge, welche sich in
der Nähe des westlichen Teils der Azoren vom
Ozeanboden, welcher hier ungefähr 3000 m tief
ist, zu 146, resp. 128 und 88 m unter dem
Meeresspiegel erheben. Die Veranlassung zum
Hinausfließen von solchen gewaltigen Massen
vulkanischen Materials möchte man vielleicht
suchen im Abreißen des amerikanischen Kon-
tinents vom europäisch-afrikanischen, womit er
früher zusammenhing. . ."
Wenn wir nun die Hypothese auch auf das
Indische Festland „Lemuria" und das zentral-
pazifische Fe.stland, das füglich „Tonga-Rapa" ge-
nannt werden kann, anwenden, und dabei erwägen,
daß die Möglichkeit gar nicht ausgeschlossen ist,
daß die Spalten entstanden und deshalb die ge-
waltigen Massen basaltischen Magmas aufwärts ge-
preßt wurden, als die Kontinentalblöcke noch
nicht so hoch und die Ozeanbecken noch nicht
so tief waren (was meines Erachtens sehr be-
greiflich ist), dann können wir uns vorstellen, wie
es möglich war, daß eine ,, Atlantis", eine
„Lemuria" und eine „Tonga-Rapa" über das Meer
als basaltische Festländer hinausragten, welche
später, da sie als plastische Massen ineinander
sanken, wieder verschwanden — später, viel
später, als sie schon von Landpflanzen und
Landtieren bewohnt waren — die „Tonga-Rapa"
seihst von einer viele Millionen zählenden Be-
völkerung von Menschen. —
Einzelberichte.
Zoologie. Neue Untersuchungen über den
Farbensinn der Insekten. ') Das Problem, wie
sich das Insektenauge zur Farbe verhält, ist erst in
jüngster Zeit aufgetaucht. Der Münchener Ophthal-
molog C. von Heß kam bei seinen Untersuchungen
des Farbensinns der höheren und niederen Tiere,
die er unter Anwendung der Methoden der
wissenschaftlichen Farbenlehre ausführte, zu dem
überraschenden, mit allen früheren Annahmen in
Widerspruch stehenden Ergebnis, daß die Insekten
die Farben nicht als solche, sondern nur als
Helligkeitsunterschiede wahrnehmen, daß sie total
farbenblind sind. Damit schien die Dar win'sche
Annahme einer Wechselwirkung zwischen der
Farbenpracht der Blüten und den Insektenbesuchen
widerlegt zu sein. Allerdings konnte es zunächst
noch fraglich erscheinen, ob die Ergebnisse der
Heß' sehen Untersuchungen hinreicliend sicher
seien. Auch diesen Zweifel muß man jedoch nach
der letzten Heß 'sehen Veröff'entlichung -') fallen
lassen. Wir haben bei jenen Ergebnissen den
') C. Heß, Messende Untersuchungen des Lichtsinns der
Biene. Arch. f. d. ges. Physiologie, 19 16.
^) Fr. Stellwaag, Die Blumenstetigkeit der Hummeln.
Zeitschr. f. wiss. Insektenbiologie, 1916.
Schluß, der von Heß zu seiner Auffassung führte,
und die Prämissen dieses Schlusses zu unterscheiden.
Der Schluß, daß die Insektenaugen total farben-
blind sind, weil ihre Empfänglichkeit für die
Lichtstärke des farbigen Lichtes vollständig mit
der des total farbenblinden Menschen übereinstimmt,
ist ein Analogieschluß, der nach den Regeln der
Logik nur eine bedingte Gültigkeit besitzt, die
Prämissen des Schlusses hat von Heß dagegen
in seiner „Messenden Untersuchung des Licht-
sinnes der Biene" mit voller Sicherheit festgestellt.
Er beweist hier ein Dreifaches. Zunächst eine
große Empfänglichkeit des Insektenauges für
Unterschiede in der Lichtstärke. Sie ist bei dem
Bienenauge mindestens so groß wie die des
menschlichen Auges. Zweitens zeigt er, daß bei
dem Menschen das normale, das rotblinde und
das total farbenblinde Auge in ganz verschiedener
Weise die Lichtstärken der gefärbten Lichter
empfinden. Für das normale Auge wird die
Lichtstärke durch Rot und Orange erhöht, durch
Blau erniedrigt; für das rotblinde Auge durch
Orange erhöht, durch Rot und Blau erniedrigt;
für das total farbenblinde Auge durch Blau erhöht,
dnrch Rot und Orange erniedrigt. Dabei sind die
Unterschiede in der Stärke der Lichtempfindung
204
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 15
sehr groß. Sie verhält sich bei den Farben rot,
orange und blau für das normale Auge wie die
Zahlen
(9-11) : (16,5-20,8) : (1,5-2,5)^)
für das rotblinde Auge wie die Zahlen
(1,5-2,2) : (11,8-13,2) : (2-3)
für das totalfarbenblinde Auge wie die Zahlen
0,6 : 6 : (9,9—11,8)
Man hat daher nur die Stärke der Licht-
empfindung bei farbigen Lichtern zu ermitteln,
wenn man wissen will, ob man es beim Menschen
mit einem normalen, einem rotblinden oder einem
total farbenblinden Auge zu tun hat. Die dritte
wichtigste Feststellung, die von Heß machte,
war die Tatsache, daß sich das Auge der Biene
hinsichtlich der Empfindung der Lichtstärke genau
so verhält wie das Auge des total farbenblinden
Menschen. Die betreffenden Zahlen sind bei
den Bienen für
rot orange blau
0,6 : 6 : (8,3-11,1).
Die Zahlen sind mit Hilfe eines messenden Ver-
fahrens und unter Ausschluß des subjektiven Mo-
mentes in exakter Weise ermittelt. Es war dies
möglich, weil die Empfindung der Lichtstärke sowohl
bei dem Menschen wie bei den Bienen bestimmte
unwillkürliche Bewegungen auslöst. Die Bienen
laufen in einem verdunkelten Räume nach dem
Orte, der ihnen am stärksten beleuchtet erscheint,
während bei dem Menschen sich die Puppille je
nach der Stärke der Lichtempfindung vergrößert
oder verkleinert. Das Verfahren von Heß be-
stand nun im Prinzip darin, daß er in einem ver-
dunkelten Kasten, in dem sich die Beobachtungs-
objekte befanden, von zwei kleinen Fenstern, die
sich an den beiden sich gegenüberliegenden
Schmalseiten befanden, das eine mit stetigem
farbigen, das andere mit farblosen Lichte, dessen
Stärke verschieden reguliert werden konnte, be-
leuchtete und nun genau bestimmte, wieviel
Prozente der benutzten Lichtquelle auf das farb-
lose Fenster fallen mußten, wenn dieses die gleiche
Reaktion hervorrufen sollte — also die Bienen
ebenso anlocken und beim Menschen die gleiche
Zusammenziehung der Pupille bewirken sollte —
wie das farbige Fenster. Die oben mitgeteilten
Ziffern sind die in den verschiedensten Versuchen
gewonnenen Prozentzahlen.
Wie die ermittelten Tatsachen als vollkommen
sicher angesehen werden müssen , so handelt es
sich auch bei dem Schluß, daß die Bienenaugen,
weil sie die gleiche Empfindlichkeit für die Licht-
stärke farbiger Lichter zeigen wie die Augen
total farbenblinder Menschen, total farbenblind
sein müssen, um einen strengen Analogieschluß.
Er wird noch dadurch verstärkt, daß die Augen
der anderen Insekten (Schmetterlinge, Libellen)
die gleiche Empfindlichkeit für die Lichtstärke
farbiger Lichter zeigen wie die Bienen.
Wenn nun auch der Analogieschluß wie gesagt,
eine nur bedingte Gültigkeit besitzt, so ist er doch
besonders in der Biologie , die ihn fortwährend
anwenden muß, so lange als zu Recht bestehend
anzuerkennen, als nicht sichere Tatsachen das
Gegenteil beweisen.
Die entscheidende Frage ist daher, ob solche
Tatsachen vorhanden sind.
Tatsachen, welche für die frühere Auffassung
sprechen, nach welcher die Insekten die Farben
in gleicher oder ähnlicher Weise wie der Mensch
wahrnehmen sollten, sind bisher nicht geltend
gemacht worden; diese Auffassung scheint definitiv
aufgegeben zu sein. Dagegen hat K. von Frisch')
durch eine große Anzahl von Versuchen den
Nachweis zu erbringen gesucht, daß das Bienen-
auge nicht total farbenblind, sondern nur rotblind
ist. Nach ihnen sollen die Bienen Gelb und Blau
an ihrem Farbenwert erkennen. Rot erscheint
ihnen dagegen wie Schwarz. Sie verwechseln
ferner Orange mit Gelb, Purpur und Violett mit Blau,
weil sie in diesen Mischfarben die rote Farben-
komponente nicht wahrnehmen. K. von Frisch
hat seine Resultate mit Hilfe des Dressurverfahrens
gewonnen. Er dressierte Bienen auf bestimmte
Farben, die sie später wieder zu erkennen schienen.
Auf dem Zoologenkongreß 1914 wurden die von
ihm vorgeführten Versuche mit Beifall aufge-
nommen. Doch haftet der von ihm angewandten
Methode zweifellos ein Mangel an. Durch die
Dressur wird ein neues Moment eingeführt, das
die Erscheinung noch weiter kompliziert und, weil
wir es in seinen inneren Zusammenhängen nicht
übersehen können, zu einer Quelle von Fehlern
werden kann. C. von Heß hat auf eine ganze
Reihe von Irrtümern, welche bei diesen Versuchen
unterlaufen können, hingewiesen. Jedenfalls ist
es wünschenswert, daß das Problem noch in
anderer Weise angefaßt wird. Das ist in der
Stell waag' sehen Untersuchung der Blumen-
stetigkeit der Hummeln geschehen. Stellwaag
sieht bei ihr von allen Dressurversuchen ab und
sucht durch die bloße Beobachtung des Ver-
haltens der Hummeln in der freien Natur Auf-
schluß über ihren Farbensinn zu gewinnen. Einen
Anhaltepunkt bietet ihm ihre Konstanz. Er unter-
scheidet dabei die Konstanz der Bienen und der
Hummeln. Die Biene bleibt, wie bekannt, der
Blütenart, die sie beim ersten Anflug beflogen hat,
treu. Bei älteren Bienen ist diese Konstanz außer-
ordentlich groß, es kommen aber auch bei ihnen
einzelne Abweichungen vor und es scheint,
daß sie sich in solchen Fällen durch die Farbe
täuschen lassen.'') Man kann dann daraus den
Schluß ziehen, daß sie Farbensinn besitzen. Doch
') Die in Klammern stehenden Zahlen geben die Grenzen
an, zwischen denen die Resultate bei den verschiedenen Ver-
suchen lagen.
') K. von Frisch, Zum Farbensinn und Formensinn
der Biene. 1916.
") H. Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. Biol.
Zentralblau 1915-
N. F. XVI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
205
ist dieser Schluß nur unter besonderen Bedingungen
zulässig. Es muß die Flora des ßeobachtungs-
feldes, wenn er gelten soll, nicht nur sehr reich
sein, so daß Individuen jeder Art in genügender
Anzahl vorhanden sind, sie muß auch Blüten in
den verschiedensten Farben und unter ihnen die
Lieblingsblüten der Bienen enthalten, es darf ferner
die gleichgefärbte Blüte, auf welche die Biene ab-
irrt, nicht zu diesen Lieblingsblüten gehören —
nur wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, sind
andere Deutungen der Abirrung von der Konstanz
ausgeschlossen. Direkter führt zur Beantwortung
unserer Frage die Konstanz, welche Stellwaag
bei der Hummel (Rombus agrorum) auffand. Sie
Tabelle i. Beobachtung vom 18. Mai 191 5.
Pflanzenart
Zustand
der Blüte
Zahl
der
Be-
suche
Art des
Besuches
Farbe
der Blüte
Lathyrusniontanus
aufgeblüht
saugend
rosaviolett
Vicia sepium
„
„
rotviolett
verblüht
umflogen
blauviolett
aufgeblüht
saugend
rotviolett
verblüht
„
schmutzigblau
aufgeblüht
,
rotviolett
verblühend
,
blauviolett
aufgeblüht
,
rotviolett
Knospe
,
lila
aufgeblüht
,
rotviolett
verblüht
,
blauviolett
aufgeblüht
,
rotviolett
verblühend
,
blauviolelt
aufgeblüht
'
,
rotviolett
Knospe
,
lila
aufgeblüht
,
rotviolett
„
umflogen
„
„
saugend
„
umflogen
„
„
saugend
„
„
„
umflogen
Lathyrus montanus
"
saugend
umflogen
saugend
rosaviolett
„
verblüht
"
blauviolett
"
aufgeblüht
umflogen
rosavioletl
•'
verblühend
aufgeblüht
verblühend
saugend
blauviolett
rosaviolett
blauviolett
aufgeblüht
..
rosaviolett
2 Pflanzenspezies
3 Wechsel
120
5 Nuancen
von violett
Tabelle 2. Beobachtung vom 27.
1915-
Zustand
der Blüte
Zahl
der
Be-
suche
Lathyrus vernus
aufgeblüht
verblüht
aufgeblüht
verblüht
34
saugend
hellpurpur
schmutzig blau
hellpurpur
blauweiß
„
aufgeblüht
19
hellpurpur
Polygala
umflogen
blau
Lathyrus vernus
„
12
saugend
hellpurpur
Lathyrus montanus
„
röüich-violett
Lathyrus vernus
verblüht
7
"
hellpurpur
blau
„
aufgeblüht
„
hellpurpur
Trifolium pratense
"
^^-
fleischfarben
5 Spezies
7 Wechsel
ss
6 Nuancen
Art des
Besuches
war hinsichtlich der Blüten art nur schwach, hin-
sichtlich der Blüten färbe sehr stark ausgebildet.
Während die Hummeln die Blütenarten bei den
einzelnen Flügen ziemlich oft wechselten, blieben
sie der Farbe der zuerst beflogenen Blüte treu.
Dabei handelte es sich nicht um eine Vorliebe
für eine bestimmte Farbe — denn es war diese
zwar in den von Stellwaag beobachteten Fällen
in der Regel blau, in zwei Fällen aber auch gelb
und weiß — sondern nur um Konstanz — d. h.
um Farbenstetigkeit. Diese letztere war über-
raschend groß. Stellwaag teilt die Protokolle
von 15 von ihm beobachteten Flügen mit im
ganzen 1015 Blütenbesuchen mit. Nur zweimal
irrten dabei die Hummeln auf anders gefärbte
Blüten ab. Daß man bisher diese merkwürdige
Eigenschaft der Hummeln nicht erkannt hat, ist
nach Stellwaag darauf zurückzuführen, daß die
F"arbenstetigkeit der Hummeln die des rotblinden
Auges ist, die unserem normalen Auge nicht als
solche erscheint.
Es mag das noch an zwei St eil waag'schen
Protokollen gezeigt werden.
Die Hummeln besuchten in beiden Fällen
nacheinander rosaviolette, rotviolette, blauviolette,
lilafarbene, purpurfarbene und blaue Blüten, sie
wechselten so für unser Auge die Farben, für das
rotblinde Auge hatten die Blüten aber nur eine,
die blaue Farbe. Man kann aus den Protokollen
übrigens mit Stellwaag noch weitere Schlüsse
ziehen. Nicht selten waren die Blüten, welche
die Hummeln anzogen, schon verblüht oder noch
nicht voll aufgeblüht, sie hatten also in beiden
Fällen keinen Nektar. Dieser kann daher nicht
das gewesen sein, was sie anlockte. Daß sie sich
bei ihren Flügen nach der Farbe richteten, tritt
besonders bei dem Besuch der Polygala in
206
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 15
Protokoll 2 hervor. Die Hummel suchte sie auf,
obgleich sie abseits stand und der Weg zu ihr durch
Grasbüschel vers[)errt war. Bei ihr angekommen,
umflog sie dieselbe aber nur und verschmähte
den gedeckten Tisch. Auch die etwaige Deutung,
daß bei der Farbe für die Hummeln nicht der
Farben- sondern nur der Helligkeitswert in
Betracht gekommen sei, kann gegenüber der Tat-
sache, daß bei den besuchten Blüten wohl der
Farbenwert, nicht aber der Heiligkeilswert gleich
blieb, nicht aufrecht erhalten werden.
Es ist zu hoffen, daß der von Stellwaag
eingeschlagene Weg auch von anderen durch
Beobachtungen im Freien weiter verfolgt wird.
Sollten sie die von ihm beobachtete Farben-
stetigkeit der Hummeln bestätigen und als all-
gemeine Regel erweisen, so würde in ihr eine
starke Instanz gegen die sonst so einleuchtenden
Schlußfolgerungen von Heß gegeben sein.
Kranichfeld.
Springende Insektenlarven sind auch dem Laien
mehrfach bekannt. Es sei nur an die Larve des
Wicklers Ocnophthira pilleriana erinnert^» die von
ihren lebhaften Springbewegungen den Namen
Springwurmwickler führt. Berührt man sie, so führt
sie lebhaft schlängelnde Bewegungen aus, wobei sie
sich rückwärts fortbewegt. Sie entrinnt dadurch
der Gefahr ergriffen zu werden, denn bei der
Berührung schnellt sie sich sofort aus ihrem Ge-
spinnste heraus und läßt sich zu Boden fallen, wo
sie sich verkriecht.
Den Springvorgang hat schon Reaumur be-
obachtet und er ist seitdem auch an verschiedenen
Objekten beschrieben worden. 1893 hat Giard
die Bewegungen der Gallmückenlarve Diplosis
jakobaeae analysiert und eine genaue Beschreibung
seiner Beobachtungen gegeben. In der Zeitschrift
für wissenschaftliche Insektenbiologie 1916 hat nun
H. Prell weitere Angaben über das Springen von
Diplosislarven veröffentlicht. Er machte seine
Studien an Diplosis quinquenotata Low.
Die Larven wurden an Hemerocallis fulva ge-
funden, wo sie in den Blutenknospen eine auf-
fällige Verkrüppelung erzeugten. Um sie besser
beobachten zu können, brachte sie Prell zwischen
zwei Uhrschälchen unters Mikroskop. Sobald sie
von unten beleuchtet wurden, sprangen sie an den
Glasdeckel, um sich von dort aus aufs neue fort-
zuschnelien. Dabei war es leicht, den Verlauf
des Springaktes zu verfolgen.
Schickt sich die Larve zum Sprung an, so hält
sie in ihren gewöhnlichen Kriechbewegungen
plötzlich still und macht nur noch mit dem Vorder-
körper tastende Bewegungen. Dann streckt sie
sich gerade und preßt ihr Vorderende fest gegen
die Unterlage. Gleichzeitig lockert sie ruckweise
ihr Hinterende von der Unterlage ab, reckt es in
die Höhe und krümmt es nach der Ventralseite
ein, so daß die Larve die Gestalt eines stehenden
Hakens bekommt. Das Körperende gleitet nun
an der Bauchseite entlang bis an die Grenze von
Pro- und Mesothorax. Hier stellt sich ihm eine
chilinartige Verdickung, der Stiel der Brustgräte
entgegen. Da dieser nicht wie die übrige Haut sich
ohne weiteres biegen läßt, wird hinter ihm die
weiche Sternalhaut tief grubenförmig eingedrückt
und in dieser Grube findet das Hinterende festen
Halt. Der Körper hat nun etwa die Form eines
nicht ganz geschlossenen Ringes, steht aber mit
dem Kopfende fest auf der Unterlage. Hat
das Hinterende festen Halt gefunden, so beginnt
sich in der Mitte des Körpers die dorsale Längs-
muskulatur zu kontrahieren und die anfangs hoch-
gewölbte Kurve etwas abzuflachen. Damit wächst
einerseits die Spannung des Bogens, andererseits
verringert sich aber auch der Halt, welchen das
Hinterende am Thorax findet. Schließlich muß
dann das Hinterende ganz abgleiten und der
Körper der Larve schnellt in eine leicht gebogene
Normallage zurück. Durch den Rückstoß dieser
Bewegung, die ganz dem Auseinanderschnellen
eines gebogenen Drahtes entspricht, wird die
Made fortgeschleudert.
Der Springprozeß wäre nicht möglich, wenn
außer der Chitinverdickung an der Brust nicht
auch das Hinterleibsende stärker chitinisiert wäre.
Da der übrige Körper weichhäutig ist, so besteht
eine ganz ausgesprochene Anpassung an eine be-
stimmte Art der Fortbewegung, und es ist zu
vermuten, daß das Springvermögen für das Tier
eine gewisse Bedeutung haben muß. Giard
nimmt an, daß die Larve auf diese Art die Ver-
breitung der Art begünstigt. Dagegen wendet
Prell ein, daß die Sprungweite der Maden relativ
gering ist und daß diese wegen der Gefahr des
Eintrocknens sich nicht lange im Freien aufhalten
können. Aus der Tatsache, daß sie sich nach dem
Sprung stets einzugraben versuchen, zieht Prell
den Schluß, daß das Springen eine Fähigkeit sei,
welche gegenüber der kriechenden Fortbewegung
vor allem ein rascheres Einbohren in die Erde
zur Verpuppung ermöglicht. Diese Anschauung
wird sicher durch die Beobachtungen gestützt,
die eingangs von der Larve des Springwurm-
wicklers mitgeteilt worden sind. Stellwaag.
Plates Fauna ceylanica. Unter dem Titel
Fauna ceylanica gibt L. Plate in der Jenaischen
Zeitschrift für Naturwissenschaft Untersuchungen
zur Tierwelt Ceylons nach Studien an dem von
ihm im Winter 1913/14 gesammelten Material
heraus. Bisher erschienen 3 Teile ^), von denen
der zweite über biologische Beobachtungen im
Forschungsgebiete berichtet. Als Korailenkenner
interessierte sich Plate lebhaft für das Korallen-
') I. L. Plate, Über zwei ceylonische Temnoccphalen.
Jenaische Zeilschr. LI, 1914, S. 707 — 722. — II. Dersi-lbe, Über-
sicht über biob'gische Studien auf Ceylon. Ebenda. Bd. LIV,
1916, S. I— 41, 9 Taf. -- III. Derselbe: Die rudimentären
Hinterflügel von Phyllium pulchnfolium Serv. 9. Ebenda,
Bd. LIV, 1916, S. 43—66, I Taf.
N. F. XVI. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
207
riff von Galle an der Südwestküste der Insel,
und unter anderem beschreibt er an ihm eine
Riff platte, wie er es nennt, eine dicht von
grünen Algen und Kalkalgen überzogene poröse
Deckschicht über toten, aufeinandergewachsenen
Korallen. Sie kann das Körpergewicht eines
Mannes tragen. Da sie samt den unter ihr be-
findlichen, zwar abgestorbenen, aber an Ort
und Stelle übereinandergewachsenen Korallen
'/., — -i^o m Dicke hat, so kann die Darwin'sche
Senkungslheone der Entstehung der Korallenriffe
nicht wohl mit der Begründung bekämpft werden,
die lebenden Korallen hätten nicht die Fähigkeit,
auf den toten sich immer weiter in die Höhe zu
bauen in dem Maße, wie der Boden sinkt und
die versenkten Korallen absterben. Zu der reichen
Tierwelt jener Riffs gehört die Schnecke Harpa
conoidalis, die biologische Eigentümlichkeiten
hat: starke plötzliche Reizung führt zur Auto-
tomie des Vorder fußes, vielleicht eine An-
passung, die ein rasches Zurückziehen in die
Schale erleichtert. Ferner ist diese Art neben
Cypraea tigris der einzige Prosobranchier, an dem
nunmehr Farbenwechsel festgestellt wurde.
Ausgesprochene Schutzfarbe ist zwei Epizoen
der Seegurke Holothuria atra eigen ; der bisher
unbeschriebene Ringehvurm Polynoe freudenbergi
und die Krabbe Lissocarcinus orbicularis ahmen
durch braune Färbung mit gelben Flecken genau
die Farbe der schwarzbraunen , mit hellgelben
Sandkörnern beklebten Holothurie nach.
Sehr auffallenden Farbenwechsel zeigten auch
Fische aus der Familie der Gobiiden, Salarias
lineatus, die sich oft in der Gezeitenzone über
Wasser aufhalten. Gegen lautes Schreien, Pfeifen,
Hammerschläge an einen Blecheimer und sonstige
starke Geräusche verhalten sie sich völlig reak-
tionslos, ebenso ein Periophthalmus, also zwei
Fischarten mit vielfach terrestrischer Lebensweise.
Wenn somit diese Fische anscheinend nicht hören,
wird man das bei rein Wasserlebigen noch weniger
vermuten.
Noch mit einem dritten an Land gehenden
P'isch beschäftigt sich Plate, mit Anabas scandens,
dem Kletterfisch. Die auf einen dänischen
Leutnant Daldorf und das Jahr 1791 zurück-
gehende Angabe, dieser Labyrinthfisch klettere
auf Bäume, dürfte sich höchstens auf eine zu-
fällige, eigenartige Beobachtung stützen. Die
Bewegung an Land erfolgt nach Plate
weniger oft in Bauch- als in Seitenlage, dann mit
der Geschwindigkeit eines langsamen P'ußgängers
und zwar dadurch, daß die Dornen am Hinterrand
des Kiemendeckels gegen den Boden gestemmt
werden und gleichzeitig der Schwanz hin und her
schlägt. Außer Wasser sterben selbst in feuchten
Glasschalen die Tiere in 20 bis 24 Stunden stets
ab, sie können also auch die trockene Jahreszeit
zwar im Erdreich, aber nicht nach Dipnoerart
ganz ohne Wasser verbringen. Dagegen lebte
ein Anabas, von dem nur ein Kiemendeckel und
ein Teil der rechten Seite ins Wasser tauchte,
der ganze übrige Körper aber auf feuchtem Sande
der Luft ausgesetzt war, in dieser seitlichen Lage
4*/., Wochen ohne jede Nahrung und ließ nach
Abbruch des Versuchs nicht die geringste
Schädigung erkennen. Offenbar hat das Labyrinth,
ein wichtigeres Atmungsorgan als die Kiemen,
eine gewisse Anfeuchlung nötig, um die unent-
behrliche gasförmige Luft verarbeiten zu können.
Die Fische, die in der Küche ungewöhnlich zäh-
lebig sein sollen, lebten auch in 45 "/,, igem Alkohol
noch ca. 20 Minuten und in Alkohol-Sublimat-
Eisessig etwa Vi Stunde.
Von den Feststellungen an Land seien zu-
nächst Plate's Ausführungen über den heiligen
Bobaum in Anuradhapura, der alten Kultusstätte
des ceylonischen Buddhismus, erwähnt. Staunend
stehen Pilger und auch P"orscher vor dieser Ficus
religiosa, deren hohes Alter von mehr als
2000 Jahren die Priester und Mönche bei der ge-
ringen Stärke des Stammes glaubhaft zu machen
suchen, indem sie erklären, er scheine im Wachstum
nicht fortzuschreiten. Bestenfalls kann man, meint
Plate, annehmen, daß der ursprüngliche, aus Indien
eingeführte Ableger jenes Baumes, unter welchem
einst die Erleuchtung über Buddha gekommen
sein soll, längst bis auf einen basalen Strunk zu-
grundegegangen ist und aus dem Wurzelstock
die zwei schwachen, wohl höchstens
200jährigen Äste hervorgingen, die jetzt dort
stehen. Von einem 2000jährigen Alter dieses
Baumes dürfen wir, füge ich hinzu, also höchstens
in dem Sinne sprechen, wie Kobelt^) von
looojährigen Erlen im Frankfurter Stadtwald.
VVeitere Notizen beziehen sich auf das Leuchten
der schon viel bewunderten Leuchtkäferart
Luciola sinensis, deren nächtliches Funkeln in den
Baumkronen dem Glanz der Sterne vergleichbar
ist. Die Rhythmik des Leuchtens ist in-
sofern nur eine scheinbare, als sein stetes Aufhören
und Wiederbeginnen bei frischen Tieren nur auf
dem häufigen Abkehren der Unterseite des
Hinterleibs vom Beschauer beruhen kann; denn
in der Nähe beobachtete frische Käfer leuchten
ununterbrochen ; jedoch ist das Licht nicht ruhig,
sondern zitternd, mit ständigen Pausen von Bruch-
teilen einer Sekunde, und nur bei Nacht wird es
erzeugt. Da das Leuchten auch durch Dunkelheit
tags nicht hervorgerufen werden kann, erinnert
es an den P'arbenwechsel von Dixippus morosus,
der gleichfalls dem Tiere „in Fleisch und Blut
übergegangen" ist, und würde wohl gleich den
Schlafbewegungen der Acacia lophanta auch ohne
Fortbestehen der ursprünglichen Ursachen, des
Tag- und Nachtwechsels, erblich auftreten.
Papilio hector erwies sich in vier Einzel-
versuchen als ein für Eidechsen unschmack-
hafter Schmetterling, was für die Mimi-
krylehre spricht, denn eme Weibchenform von
Papilio polytes ahmt ihn nach. Andere Schmetter-
') Sitzungsberichte derSenckenbergischen Naturforschenden
Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1912.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 15
Hnge wurden von den Eidechsen gefressen. Als
wenig findig erwiesen sich Eidechsen gegenüber
Gespenst- und Blatt h eu seh recken, denn
solange sich diese nicht bewegten, wurden sie
von den Kriechtieren nie gefunden. Die Be-
obachtungen wurden teils im Käfig, teils in Freiheit
mit angebundenen Insekten angestellt. Alte „Wan-
delnde Blatter", Phyllium pulchnfolium, sehen auf
Kakaobäumen rostfleckig aus wie die Blätter dieser
Bäume selbst und scheinen sogar einander zu täu-
schen und daher manchmal von Artgenossen ange-
fressen zu werden, selten sind sie ganz rotbraun wie
tote Blätter, doch haben diese Farbe immer die
neugeschlüpften Tiere, die durch ihren negativen
Geotropismus an die braun beblätterten Zweig-
spitzen klettern. Unbedingt geschützt gegen die
Entdeckung durch Kriechtiere sind diese Heu-
schrecken aber nicht, und noch mehr als ihre
bloße Pflanzenähnlichkeit schützt sie ihre auf-
fallende Neigung zur Kat al ep si e. Diese Starr-
sucht, oft in den absonderlichsten Stellungen, aus
der die Tiere auch durch Beträufelung mit Alkohol
oder durch Hammerschläge auf den Tisch, bei
denen sie höchstens umfallen, nicht erwachen, wohl
aber durch energisches Schütteln, erhöht zweifellos
ihre Astähnlichheit, da innerhalb vieler Stunden
nur gerinfügige Veränderungen der Beinstellung
wohl durch die Schwere eintreten; sie ließ sich
auch künstlich hervorrufen, indem man die Tiere
auf den Rücken legte, die beiden hinteren Beinpaare
ausspreizte und einen sanften Druck auf das Bauch-
mark und die Beine ausübte. Dies gelang sowohl
bei Stabheuschrecken wie bei dem erwähnten
wandelnden Blatt, aber nicht bei zwei Mantisarten.
Als rudimentäre Organe interessierten Plate
die Afterklauen der Riesenschlange
Python molurus. Die bekanntlich nicht völlig
geschwundenen Hinterbeine variieren in der Größe
und liegen zu drei Vierteln in der Haut verborgen.
und auch am lebenden Tier wurde ihre Hervor-
streckung nicht beobachtet. Plate hält sie da-
her gegenüber der Meinung, daß es nutzlose Organe
nicht gebe, für völlig bedeutungslose Rudimente
und betont dieselbe Auffassung auch für die
rudimentären Hinterflügel von Phyllium
pulchrifolium, denen er im dritten Teil eine aus-
führlichere Studie widmet. Diese nur 4 mm langen,
zusammengefalteten und auf embryonaler Stufe
stehengebliebenen Gebilde sind unbeweglich und
mit Sinnesborsten und Sinnesknöpfen ausgerüstet,
die nicht innerviert sind. Die Epidermis ist stets
syncytial bei verschiedenen Graden des Kern-
schwundes unter Histolyse und wahrscheinlich
Phagocytose. Die Phagocyten zerfallen dann
selbst und geben damit die von ihnen gefressenen
Stoffe als Nährmaterial frei. Die zur Blatt-
ähnlichkeit führenden Eigenschaften von Phyllium,
führte Plate aus, wie die Verbreiterungen der
Vorderflugel, der Schenkel und des Hinterleibes,
können nur durch Selektion entstanden sein, da-
gegen ist die in sich harmonische Rudimentation
der Hinterflügel durch Vererbung des Erworbenen
zu erklären — weniger durch Nichtgebrauch als
durch geschmälerte Stoffzufuhr zu den peripheren
Determinanten, was auf die zentralen zurück-
wirkte; während eine unmittelbare Schädigung der
Keimplasmadeterminanten zur Disharmonie hätte
führen müssen , und als unschädliche Organe
diese Hinterflügel nicht durch Selektion ausgemerzt
werden konnten.
Weniger biologisches als systematisches Inter-
esse hat die im ersten Teil, 1914, gegebene ana-
tomische Behandlung zweier Temnocephaliden,
winziger auf einer Garnelenart schmarotzender
Würmchen, die in mancher Hinsicht zwischen
Turbellarien und Trematoden vermitteln. Die
eine der beiden Arten, Monodiscus parvus, ist neu.
V. Franz.
F. Bronsart v. Schellendorf. Afrikanische
Tierwelt, III und IV. Leipzig, 1916. E.
Haberlandt. — Geb. 4 M.
Aus dem reichen Schatz seiner Erfahrung als
Naturbeobachter und Jäger in Oatafrika schöpfend,
setzt der Verf. mit den beiden obigen Bänden die
Reihe seiner afrikanischen Tierschildeiungen fort,
die wir bereits mehrfach charakterisierten. Be-
sonderesinteresse wird der Band „Löwen" erregen;
der Verf. teilt in ihm eine Menge wichtiger Be-
obachtungen mit, so z. B. über die in Höhlen
lebenden Löwen. Obwohl er mit seinen sechzig
Bticherbesprechungen.
auf freier Wildbahn erlegten Löwen den Welt-
rekord hält, rückt er seine Jagderlebnisse — so
aufregend sie sich auch lesen — , nicht in den
Mittelpunkt, vielmehr ist stets die genaue Be-
obachtung der Tiere sein wesentlichstes Ziel.
Das gleiche gilt für den anderen Band, In
welchem wieder mehr in tiernovellestischer Form
das Leben und Treiben von Elefanten, Büffeln,
Leoparden usw. dargestellt wird und aus dem
wieder ein starkes sympathisches Naturgefühl
spricht. Miehe.
Inhalt! H. Menzel(f), Zur Entwicklung und Gliederung der Quartärbildungen des nördlichen Deutschlands. S. 193.
A. C. Oudemans, Sind die Maskarenen und die zentralpazifischen Inseln ozeanisch? S. 201. — Einzelberichte:
C. von Heß und Fr. SteUwaag, Neue Untersuchungen über den Farbensinn der Insekten. S. 203. H. Prell,
Springende Insektenlarven. S. 206. L. Plate, Plates Fauna ceylanica. S. 206. — Bücherbesprechungen: F. Bronsart
V. Schellendorf, Afrikanische Tierwelt, 111 u. IV. S. 20S.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 22. April 1917.
Nummer 16.
Stützgewebe und Integumente der Tiere.
I. Niedere Tiere.
Die Vielgestaltigkeit der Natur, die Unzahl der
tierischen Formen bringt auch parallel damit eine
große Variation der Stütz-, Gerüstsubsianzen und
Integumente mit sich. Relativ einfach erscheinen
diese Stoffe bei den Wirbeltieren, um so mannig-
faltiger jedoch, wenn wir über die hochorganisierten
Lebewesen hinausblicken und auch die Klasse der
wirbellosen Tiere in unsere Betrachtungen mit hin-
einziehen. Neben einer Art gewöhnlicher Eiweiß-
stoffe, der Albuminoide, werden wir brom- und
jodhaltigen Eiweißstoffen bei Schwämmen und
Korallen begegnen und neben der Zellulose der
Tunicaten einem außerordentlich weit verbreiteten
Stoffe, dem Chitin. Wir wollen zuerst die Klasse
der niederen Tiere auf Stützgewebe und Inte-
gumente hin untersuchen, um dann zu den Wirbel-
tieren emporzusteigen.
Bei niederen Tieren sind es Kombinationen von
organischen und anorganischen Stoffen, welche als
Stützgewebe oder Integumente fungieren; aber da
das organische Material der Masse nach in den
Vordergrund tritt und auch sonst biologisch
wichtiger erscheint als das anorganische Material,
so waren es besonders die organischen Substanzen,
welche die zahlreichen Forscher interessierten, die
zum größten Teile diesen Problemen ihre Lebens-
arbeit opferten. Es war vor allem Krukenberg,
der die außerordentlich große Formenfülle der
Tegumentgebilde niederer Tiere nach einem be-
stimmten Prinzip ordnen wollte. Die 4 Klassen
seines Systems umfassen; i. reine, stickstoffreie
Zuckerarten, 2. stickstoffhaltige, schwefelfreie Sub-
stanzen, welche einige Eiweißreaktionen zeigen,
aber einen großen Gehalt an Zuckerarten besitzen
(Skeletine); 3. gewisse Stoffe, welche die meisten
Eiweißreaktionen geben (Albuminoide) und end-
lich 4. echte Eivveißstoffe. Dabei ist die Tatsache
ganz besonders interessant, daß wir bei den Pflanzen
ausschließlich den Zuckerarten (Zellulose) als Stütz-
substanzen begegnen, welche dann beim Aufstieg
in der Tierreihe allmählich zugunsten der Eiweiß-
stoffe in den Hintergrund treten, da ja das
Knochengewebe der Wirbeltiere — was organische
Substanz betrifft — völlig aus Eiweiß besteht.
Ein tieferer Einblick lehrt uns jedoch, daß von
der besprochenen idealen Regelmäßigkeit nicht
die Rede sein kann. Die chemischen Studien
dieser Stoffe sind noch so gering, eine genaue
Kenntnis der chemischen Konstitution durch eine
besonders schwierige Isolierung so erschwert, daß
sogar die typischen Vertreter noch gar nicht oder
nur sehr mangelhaft untersucht sind; nur das
Von Dr. Emil Lenk (Darmstadt).
Chitin hat bis nun das Interesse einer Anzahl
von Autoren erweckt.
Bei der niedersten Tierklasse, den einzelligen
Protozoen scheinen es Eiweißsubstanzen zu
sein, welche das Körperprotoplasma vom Außen-
medium scheiden , die vielleicht einer Art von
Gerinnungsprozeß ihre Entstehung verdanken.
Bei den Rhizopoden z. B. finden wir die innere
Schicht zumeist aus organischer Substanz be-
stehend, während die äußere aus Sandkörnern
oder aus verschiedenartigsten Plätichen, wie Diato-
meenschalen, Glassplittern besteht, die mittels
einer organischen Leimsubstanz aneinander haften.
In fast allen diesen Gehäusen ist die anorganische
Kieselsäure vorherrschend, die durch eine Eisen-
oxydverbindung mehr oder weniger dunkel ge-
färbt erscheint. Die außerorderulich mannigfaltige
Gehäuseform der Radiolarien besieht zumeist
aus Kieselerde, organischen Silicaten und dem
vielfach untersuchten Akanthin, das sich als anor-
ganisch, als Strontiumsulfat (Coelestin) erwies.
Bei den Schwämmen (Spongien) bildet teils
kohlensauerer Kalk das Skelett (Kalkschwämme,
Calcispongien), teils Kieselsäure (Silicospongien),
teils Spongin (Ceraospongien), und schließlich
entbehren einige Vertreter überhaupt der Skeleit-
bildung. Besonders interessant erscheinen uns
die Ceraospongien, die als Gerüstsubstanz Spongin,
ein typisches Albuminoid enthalten, das jod-
haltig ist. Es bleibt vorläufig rätselhaft, wie
diese marinen Schwämme, die ganz minimalen,
im Meerwasser enthaltenen Jodmengen in sich zu
konzentrieren vermögen, v. Fürth hat berechnet,
daß I g eines solchen Schwammgerüstes den
Jodgthalt von 130 1 Meerwasstr in sich aufnehmen
kann. Dieses Auswahlvermögen der Tiere für
bestimmte Substanzen, finden wir öfters in der
Tierreihe; so bei den Purpurschnecken,
welche das Brom des Meerwassers zum im Alter-
tum viel gerühmten Purputfarbstoff(Dibromindigo)
verwandeln, das von Paul Friedländer syn-
thetisch hergestellt wurde. Es haben in den
letzten Jahren besonders zwei amerikanische
Forscher W h e e 1 e r und Mendel Badeschwämme
auf Jodgehalt untersucht und das Jod an eine
organische Substanz gekettet gefunden, die auch
sonst als Eiweißbruchstück , als Aminosäure er-
scheint (Tyrosin); dieses Dijodtyrosin, dem
wir auch noch weiter unten begegnen werden,
ist auch synthetisch zugänglich.
Von den Hohltieren (Coelenteraten) ist nur
die Klasse der Anthozoen (Korallentiere) auf Stütz-
gewebe und Integumente hin untersucht worden,
weil der Gehalt des organischen Baumaterials an
2IÖ
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
Jod und Brom vor allem interessant war. Auch
hier hat sich die jodhaltige Komponente als Dijod-
tyrosin erwiesen. Neben dieser Gorgonin ge-
nannten organischen Substanz findet sich in den
Skeletten von anorganischen Bestandteilen kohlen-
sauerer Kalk.
Die Stachelhäuter (Echinodermen) ver-
danken ihren Namen den Kalkgebilden, welche
oft zu Stacheln ausgestaltet, ihren Körper panzern.
Das Substrat, in welches diese Kalkplatten ein-
gebettet sind, trägt den Charakter der Albumi-
noide, jener Eiweißstoffe, von denen früher die
Rede war. Die Tegumente der Echinodermen
und namentlich die der Seewalzen, sind durch eine
in der Tierreihe einzigartige Erscheinung aus-
gezeichnet, derzufolge die verschiedensten Reize,
wie Einwirkung der Luft genügt, um sie in einen
formlosen Schleim zu verwandeln; dieser Ver-
schleimungsprozeß kann sogar ganz spontan hervor-
gerufen werden, wenn man ein abgeschnittenes
Hautstück mit einer Nadel stichelt. Die Natur
dieses Vorganges ist noch fast gar nicht aufgeklärt;
jedenfalls dürfte dieser Prozeß nicht fermentaiiver
Natur sondern kolloidchemisch derart zu erklären
sein, daß eine Wasserverschiebung innerhalb der
einzelnen Formelemente vor sich geht, möglicher-
weise dem Vorgange der Ausbildung der normalen
Totenstarre nach der Theorie von Otto v. Fürth
und Emil Lenk. Diese eigenartig sich ver-
haltenden Integumente werden unter dem Namen
Trepang in Ostasien als Nahrungsmittel benutzt
und sollen wie der Wirbeltierknorpel durch
einen hohen Gehalt an gepaarter Schwefelsäure,
der Chondroitinschwefelsäure, ausgezeichnet sein.
Bei den Würmern sind die Integumente zum
allergeringsten Teil untersucht worden. Vor allen
ist CS das Verdienst Ostwald Schmiedeberg's,
die Hüllen des Röhrenwurmes Onuphis tubicola
einer chemischen Analyse unterworfen und im
Onuphin eine Substanz gefunden zu haben, die
aus einer Zuckerart und aus einer stickstofi"-
haltigen, relativ einfach gebauten Komponente
(Aminosäure) bestehen soll. Auch die Hüllen des
schönen Röhrenwurmes Spirographis Spalanzanii,
dessen Kiemen einer Palmkrone gleich, aus einem
schlanken, am Meeresgrunde wurzelnden Rohre
hervorragen, sollen aus einem onuphinartigen
Stoffe bestehen.
Wenden wir uns nun den Weichtieren
(Mollusken) zu, so begegnen wir einem eiweißartigen
Stoff, für den der Sammelname Conchiolin
geprägt wurde, von dem wir allerdings so gut
wie gar nichts wissen. Neben dieser organischen
Substanz findet man in den Gehäusen zum größten
Teil kohlen- und phosphorsaueren Kalk, der
durch Farbstoffe oft ein farbenschönes Aussehen
erhält. In der innersten 3., der irisierenden Perl-
mutterschicht dieser Gehäuse, bilden sich bei
vielen Muscheln (echte Perlmuschel Meleagrina
margaritifera, Flußperlmuschel Margaritana marga-
ritifera und bei Unio, Haliostis usw.) die Perlen
als pathologische Gebilde. Die Veranlassung zur
Perlbildung in der Natur geben vielfach kleine
Organismen oder auch künstlich eingebrachte
Fremdkörper. Chemische Analysen von Perlen
sind besonders von Harley ausgeführt worden,
wonach sie aus ca. 92 "/g kohlensauerem Kalk,
6 % Conchiolin und aus 2 " „ Wasser bestehen. —
Neben diesen Integumenten begegnen wir bei den
Mollusken auch Stützgebilden, die als organisches
Material Chitin enthalten, das als Stüizgewebe
der Arthropoden (Gliederfüßer) überaus cha-
rakteristisch ist. In der Rückenschulpe der Sepia,
sowie bei Loligo, in der Leber vom Mollucken-
krcbs (Limulus) ist Chitin nachgewiesen worden.
Das Chitin ist, wie erwähnt, die charakte-
ristische organische Substanz der Siützgewebe der
Arthropoden, denn es bildet hier nicht nur die
äußere Bedeckung, die durch Kalk verstärkt ist,
sondern auch die Tracheen und oft das Darm-
rohr. Die Flügeldecken (das Epidermoidalgewebe)
der Insekten und die Panzer der Krustaceen (Krebs,
Hummer) bestehen was organische Substanz be-
trifft ausschließlich aus Chitin, jener Substanz, die
vielleicht von allen Stützgeweben der niederen
Tiere, am genauesten, besonders in den letzten
Jahren, untersucht wurde. Das Chitin zeichnet
sich durch eine außerordentlich große Wider-
standsfähigkeit aus, da es noch in Fossilen z. B. im
Panzer von Pterogytus osiliensis aus dem Silur
anzutreffen ist. Aber auch gegen chemische Rea-
genzien ist es so resistent, daß es tagelang mit
der konzentriertesten Alkalilauge gekocht werden
kann, ohne sich zu verändern; natürlich ist es in
allen möglichen Lösungsmitteln unlöslich. So
günstig diese Schwerlöslichkeit des Chitins ist, so
ungünstig wird dieselbe für seine chemische Er-
forschung. So war es denn ein großer Fortschritt,
als man gelernt hatte, das Chitin dem schmelzen'den
Ätzalkali eine '/■, Stunde hindurch bei 180" aus-
zusetzen; diese Prozedur genügt um das Chitin
bei Erhaltung der äußeren Struktur in ein in ver-
dünnten Säuren lösliches Produkt, das Chitosan
umzuwandeln, das durch wiederholtes Umfallen
gereinigt werden kann. Epochemachend war nun
vor mehreren Jahren, als v. Fürth und Russo
das Chitosan mit Säuren in eine kristallinische
Veibindung überführen konnten, die von Emil
Lenk einer genauen Analyse unterworfen wurde.
Auf Grund dieser Arbeit hat dann Brach auch
das Chitin selbst untersuchen können. Durch
diese und ältere Forschungen wurde die Ver-
wandtschaft des Chitins mit anderen komplizierten
Zuckerarten, vor allern der Zellulose, dem Pflanzen-
stützstoff erkannt, der ausnahmsweise auch in der
Tierwelt aus den Hüllen der Tunicaten (Manteltiere)
isoliert werden konnte. Diese vor einer Anzahl
von Jahren erschienenen Arbeiten hatten auf die
Naturforscher einen mächtigen Einfluß ausgeübt,
da damit eine der festeststehenden Mauern zwischen
der Pflanzen- und Tierwelt gestürmt zu sein >-chien.
Spätere Arbeiten haben jedoch noch eine Unzahl
von Untersuchungen gezeitigt, die die Kluft
zwischen den beiden Reichen nicht nur schmälerten,
N. F. XVI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
sondern sogar vollständige Übergänge schufen.
Speziell in der letzten Zeit hat der bekannte
Physiologe Emil Abderhalden gemeinsam
mit Zemplen dieser Tunicatenzellulose ein ein-
gehenderes Studium gewidmet und daraus Abbau-
produkte isolieren können, die sich mit denen
aus der Pflanzenzellulose erhaltenen als identisch
erwiesen.
Nicht direkt zu den Tegumenten zu zählen,
aber dennoch im Zusammenhange damit seien
noch einige Gespinste der Wirbellosen zu er-
wähnen, wie das erhärtete Sekret der Byssusdrüse,
das Byssus, wclclies sich im Jugendstadium bei
vielen Muscheln findet und zum Anheften von
Fremdkörpern dient. Hierher gehört auch die
Seide, das zur Herstellung des Kokons benutzte
Sekret der Seidenraupe (Bombyx mori). Beim
Kochen mit Wasser spaltet sich die Seide in
zwei Bestandteile, in den wasserlöslichen Seiden-
leim und das unlösliche Seidenfibroin , das auch
das Material des Byssus bilden soll. Praktische
Versuche haben gezeigt, daß die sezernierte
Menge des Seidensekretes mit der Menge der
gefütterten Blätter parallel läuft. Die anderen
Gespinste, die Spinnen usw. sezernieren, sind so
spärlich untersucht, daß man von ihnen — und
dies auch nicht mit voller Bestimmtheit — nur sagen
kann, daß sie auch aus Eiweiß bestehen. Den
Grund zu diesen mangelhaften Untersuchungen
bietet die außerordentlich geringe Menge, welche
die Tiere produzieren und bei fertigen Gespinsten
verhindern wieder die Verunreinigungen mit
Staub usw., die Fäden rein zu isolieren.
II. Wirbeltiere.
Schreiten wir in der Tierreihe weiter, so finden
wir bei den Wirbeltieren ein Skelett, das gleich-
sam die Basis für den weiteren Aufbau des Körpers
bildet. Das Knochengewebe besteht aus
organischen (zumeist Ossein, Osseomukoid usw.)
und aus anorganischen Substanzen (Knochenerde:
Kalzium, Magnesium, Natrium, Kalium, Prisen, Chlor,
Kohlensäure, Schwefel- und Phosphorsäure). Viel-
leicht eines der interessantesten Probleme des
Knochens ist die reichliche Ablagerungsfähigkeit
von Kalk in diese Gewebe. Die auffallend kon-
stante Aschenzusammensetzung hat Hoppe-
Seyler dazu geführt, die Relation der Phosphor-
säure zum Kalk in den Knochen und Zähnen
dem Mineral Apatit gleichzusetzen, während
andere Autoren diese einfache Annahme nicht be-
stätigen konnten. Das Verhältnis der anorganischen
Bestandteile im Knochen ist keineswegs konstant ;
wir sehen vielmehr bei der später noch
weiter zu erwähnenden Rachitis, daß mit dieser
Krankheit eine pathologische Veränderung der
Knochen einhergeht, indem die Aschenabnahme
wahrscheinlich mehr auf Kosten des Kalkes als
der Phosphorsäure vor sich geht und der relative
Gehalt an Magnesium zunimmt. Vielleicht können
wir auch somit die Talsache, daß die Zähne der
Jetztzeit einen höheren Magnesiumgehalt besitzen
als die prähistorischen, auf eine pathologische Er-
scheinung zurückführen.
Außerordentlich schwierig wird die Beantwortung
der Frage, wie die Kalksalze abgelagert und resor-
biert werden. Bei einer oberflächlichen Betrachtung
der Blutzusammensetzung in bezug auf Kohlen-
säure, Phosphorsäure und Kalzium muß es uns
wundernehmen , weshalb es nicht im Blute zur
Abscheidung des schwerlöslichen tertiären Kalzium-
salzes der Phosphorsäure kommt und welche Ein-
richtungen das Blut besitzt, um diese Abscheidung
zu hindern. Es hat speziell in der letzten Zeit der
große Straßburger Physiologie Franz Hofmeister
zeigen können, daß die Gegenwart der Eiweißstoffe
im Blute die Bildung des schwerlöslicheu Nieder-
schlages hindert und so gleichsam zum Schutz-
körper wird. Die Fragen, ob sich beim Ver-
kalkungsprozeß erst Kalkseifen bilden , oder ob
der Knorpel eine besondere Neigung hat, Kalk-
salze in sich aufzunehmen, und ähnliche, sind alle
noch lange nicht gelöst. Auch die Rachitis harrt
noch ihrer Erklärung. Eine große Anzahl von
Autoren hat die Ursache der Rachitis in
einem primären Kalkmangel sehen wollen und
denselben teils auf eine verminderte Kalkaufnahme,
teils auf eine vermehrte Kalkabgabe bezogen.
Außerordentlich genaue Versuche haben jedoch in
dem Kalkstofifwechsel normaler und rachitischer
Kinder keine eindeutigen Unterschiede gefunden;
es nimmt zuvor zwar der Kalkgehalt der Knochen
ab, dabei bleibt jedoch der Kalkgehalt der VV'eich-
teile auf gleicher Höhe. Es nehmen somit die
meisten Forscher an, daß das Knochengewebe nicht
imstande ist, rechtzeitig Kalksalze aufzunehmen,
obzwar ihm dieselben genügend zur Verfügung
stehen, wie es Pfaundler mit der fehlenden
Eigenschaft der Kalkadsorption ausgedrückt hat.
Die Rachitishypothese des Kalkmangels hat aber
dennoch noch Anhänger: so sind vor einigen
Jahren aus dem Zuntz'schen Institute einige
Arbeiten erschienen, die beweisen, daß der Säug-
ling nur ein knappes .Auskommen mit dem er-
haltenen Kalk hat, wenn man den normalen Kalk-
gehalt der Milch und die normale Gewichtszunahme
des Säuglings berücksichtigt. Jede Überernährung
mit kalkfreier Nahrung, jedes raschere Wachstum
hat einen Kalkmangel zur Folge, der nach diesen
Untersuchungen mit der Rachitis einhergeht. Ja
es soll auch die Milch der Mütter rachitischer
Kinder besonders kalkarm sein und der Kalk der
Kuhmilch bzw. der Kindermilchpräparate schlecht
ausgenuizt werden. Man sollte deshalb annehmen
daß man durch Kalkzugaben zur Säuglingsnahrung
der Rachitis vorbeugen und damit viel Elend aus
der Welt schaffen könnte. Es ist aber merkwürdig,
daß man damit noch nicht zum erwünschten
Ziele kam und wahrscheinlich deshalb, weil man
mit der Kalkzufuhr viel zu spät und erst dann
begonnen hat, als sich deutlich klinische Symptome
zeigten. Es scheint auch aus einer Arbeit aus
dem Zuntz'schen Institut hervorzugehen, daß das
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
Sterilisieren der Milch den Kalkansatz ungünstig
beeinflußt.
Man hat auch vielfach versucht eine Rachitis
bei Tieren künstlich zu erzeugen, indem man den
Tieren entweder eine kalkarme Nahrung gab oder
durch Säure/ufuhr eine Entkalkung des Knochens
herbeiführen wollte; hierzu gesellen sich noch Ver-
suche über Ernährung mit Futtermitteln, welche
eine Asche von sauerer Reaktion zeigen (Zerealien-
körner, Rübenschnitzel usw.). Bei allen diesen
Versuchen wurde aber keine echte Rachitis er-
zeugt, sondern eine Osteoporose genannte Er-
scheinung, wobei der Knochen dünn, wasserreich,
kalkarm und brüchig wird. Man hat z. B. oft ge-
sehen, daß ein so ernährtes, anscheinend ganz
gesundes Tier bei einem Sprunge zusammenbrach,
weil seine morsche Wirbelsäure entzwei geknickt
war. Aber eine echte Rachitis kam nie zur Aus-
bildung, welche in einer mangelhaften Kalkablage-
rung zu bestehen scheint, während bei der Osteo-
porose das verkalkte Knochengewebe zum Teil
verschwindet.
Eine andere Störung im Mineralstoffwechsel
tritt bei der Osteom alacie ein, einer Krankheit,
welche der Straßburger Pathologe E"riedrich
von Reckling hausen nicht scharf von der
Rachitis getrennt haben will. Es ist eigenartig,
daß das eigentliche Wesen der Osteomalacie noch
vollkommen unbekannt und nur das eine bekannt
ist, daß diese Krankheit mit den Vorgängen im
weiblichen Sexualapparat im Zusammenhange steht.
Die von Fehling angegebene Entfernung der
Keimdrüsen hat sich vielfach bewährt. Ferner hat
man sich bemüht auch die Funktionen anderer
Drüsen mit sog. ,, innerer Sekretion" mit den
Knochenwachstumsvorgängen in Zusammenhang
zu bringen, wie der Thymusdrüse, Schilddrüse,
Hypophyse und Nebenniere. Eine der auf-
fälligsten Folgen der mangelnden Schilddrüsen-
funktion ist das Zurückbleiben im Wachstum, das
mit einer erheblichen Verzögerung der Ver-
knöcherungsvorgänge parallel geht, und man hat
auch wiederholt bemerkt, daß auch andere Aus-
fallerscheinungen nach Exstirpation der Schild-
drüse (Kachexia strumiprioa und Myxödem) durch
Schilddrüsenverfütterung zum Rückgang zu bringen
sind. Eine systematische Behandlung des Kreti-
nismus ist ja nicht nur ein humanitäres, sondern
direkt ein nationalökonomisches Problem. Um
nur ein Land hervorzuheben, hat die letzte Volks-
zählung in Frankreich die erschreckende Zahl von
I20 000 Kretins ergeben. Auch eine teilweise
Entnahme des Hirnanhangs (Hypophyse) hat ein
Zurückbleiben des Wachstums zur Folge; das
Skelett behält seine kindlichen Proportionen, die
Knochen bleiben zart und unterliegen leicht Ver-
krümmungen, so daß die Versuchstiere nicht nur
zwerghaft klein, sondern auch mißgestaltet er-
scheinen. Die vollständige Entfernung der Hypophyse
ist mit dem Leben unvereinbar. Neuere Arbeiten
haben gelehrt, daß diese Wachstumstörung auf
dem Wegfall des Vorderlappens beruht. Beim
Menschen werden Hypophysenerkrankungen eben-
falls beobachtet. So glaubt man die Erscheinung
der Akromegalie und des Gigantismus mit einer
Funktions>teigerung der Hypophyse im Zusammen-
hang bringen zu können. Das Bild der Akromegalie
ist durch auffällige Wachslumsstörungen gekenn-
zeichnet, die insbesondere an den Extremitätf n und
am Gesicht kenntlich sind. Das ganze Gesicht,
Hände und Füße sind stark und plump vergrößert,
Kiefer und Jochbogen ist vorspringend. Der
schlagendste Beweis jedoch für den Zusammen-
hang zwischen Hypophysenfunktion und Akro-
megalie lieferte der Wiener Chirurg Julius
Hochenegg, als er durch operative Behand-
lungf der Hypophyse erreichen konnte, daß bereits
loTage nach der Operation die Zähne aneinander-
rückten und Hände und Füße bedeutend kleiner
wurden. Die ungeheure Literatur die sich mit
der Therapie dieser Krankheiten beschäftigt, hat
allerdings noch sehr wenig Brauchbares zutage
gefördert. Die besten Resultate dürfte noch die
Phosphordarreichung zeitigen, welche seit Wegn er's
Untersuchungen angewendet wird, um rachitische
Prozesse günstig zu beeinflussen.
Von der Veränderung der Knochen bei der
Rachitis und der Osteomalacie ist die Knochen-
brüchigkeit der Rinder, Lecksucht, Nage-
oder Hinsiechkrankheit genannt, verschieden, die
besonders Kälber betrifft und als erstes Symptom
die Knochenbrüchigkeit aufweist. Es ließ sich
zeigen, daß verschiedene Heusorten, die zur
Fütterung der Tiere dienten, einen stark ver-
minderten Natrium- und einen erhöhten Kalium-
gehalt aufwiesen.
Eine andere den Mineralstoffwechsel betreffende
Krankheit sehen wir auch in einer der unheim-
lichsten Tropenkrankheiten, dei Beriberi, welche
durch eine dauernde Ernährung mit poliertem,
weißem Reis verursacht sein soll. Durch den
Vorgang des Polierens wird das phosphorreiche
Perikarp des Reiskorns entfernt; eine phosphor-
reiche Nahrung soll gute Heilerfolge haben.
In der Praxis werden die Knochen neben
anderen tierischen Abfallstoffen, wie Haut, Fisch-
schuppen, Fischabfällen usw. zur Leimbereitung
verwertet. Diese Stoffe enthalten die schon früher
erwähnte organische Substanz Ossein oder
Kollagen (leimgebendes Gewebe) genannt, die
durch Behandlung mit Wasser in Glutin (Leim)
übergeht. Glutin ist ein Eiweißstoff, der mit
fremden Beimengungen als Leim und Gelatine in
Handel kommt. Die auf den Aufbereitungs-
maschinen sortierten Knochen gelangen auf ein
breites Transportband und von da auf den
Knochenbrecher, eine Maschine, die die Knochen
in kleine Stücke bricht. Die zerbrochenen Knochen
gelangen nun in einen Entfettungsapparat, der bis
lOOOO kg „Knochenschrot" aufnehmen kann, wo-
bei durch Benzin das Knochenfett entfernt wird.
Das Knochenschrot wird nochmals gereinigt und
poliert, indem man es über Putztrommeln passieren
läßt, wobei man aus lookg Rohknochen ca. 50 — 60kg
N. F. XVI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
2IJ
Knochenschrot, 8 — lo kg Knochenfett, 6—12 kg
Putzmehl (Staub beim Vorgang auf der Putz-
trommel, zu Düngezvvecken verwendet) und 5 kg
Abfälle erhält. Aus dem Knochenschrot, der oft
mazeriert (mit i "/'oiger schwefliger Säure behandelt)
wird, wird dann die Leimbrühe nach dem Dampf-
verfahren im Autoklaven hergestellt, wobei durch
überhitzten Dampf das Kollagen in das Glutin
umgewandelt wird. Die enileimten Knochen
werden dann auf den Kugelmühlen zum „ent-
leimten" Knochenmehl vermählen. Die Leim-
brühe wird nach der Klärung und eventuellen
Bleichung mit schwefliger Säure in Vakuum-
apparaten nach Kestner konzentriert, in Zink-
kästen gegossen und von Schneidemaschinen zu
Tafeln zerschnitten oder auf andere Weise ver-
arbeitet. Das Trocknen dieser Platten bildet den
heikelsten Teil der Leimfabrikation, es wird ge-
wöhnlich so ausgeführt, daß man die Tafeln auf
Trockenhorden mit Baumwoll- oder Drahtnetz
bespannte Rahmen in lange Trockenkanäle bringt,
durch welche eine Luft von 20—25" gesaugt
oder gepreßt wird. Die deutsche Jahreserzeugung
an Leim betrug (1901) 30000 t, die an Gelatine
für Speisezwecke und photographischen Gebrauch
etwa 2000 t.
Weit verbreiteter als das Knochengewebe ist
das Knorpelgewebe bei den Wirbeltieren.
Bei den niederen Wirbeltieren ist der Knorpel
das einzige Stützgewebe (Knorpelfische), das all-
mählich bei den höheren Vertretern der Tierreihe
dem Knochengewebe Platz maclit. Je jünger der
Knochen, desto knorpelreicher ist er; nur allmählich
wandelt sich der Knorpel in Knochen um. Beim
Kochen unter erhöhtem Druck (im Papinschen To|)f)
zerfällt der Knorpel, wobei das Chondrigen in
eine löbliche Modifikation, das Cho ndrin, über-
geht. Das Chondrin ist jedoch keine einheitliche
Substanz, sondern ist aus 4 verschiedenen Stoffen
zusammengesetzt, von denen die Chondroitin-
schwe feisäure den wichtigsten und charakte-
ristischsten Bestandteil bildet, deren chemische
Konstitution trotz zahlreicher Studien noch nicht
klar ist. Am besten wird zur Darstellung der
Chondroitinschwefelsäure die Nasenscheidewand
des Schweines benutzt. Außer den genannten
organischen Verbindungen enthält der Knorpel
noch 40 — 70'7o Wasser und 2 — 10 "„ Mineral-
bestandteile (Asche); bei der Aschenzusammen-
setzung ist der völlige Mangel an Kalium auf-
fallend; dagegen ist er das an Natrium reichste
Gewebe. In der Asche sollen ca. 95 " g Nairium-
chlorid sein (Petersen). Unter pathologischen
Verhältnissen kann der Knorpel verändert werden,
indem sich darin, vor allem bei der Gicht, Salze
der Harnsäure anhäufen. In der Praxis wird auch
der Knorpel zur Leimberehung mit verwendet, -
obgleich der daraus entstehende Chondroitinleim
viel geringwertiger ist als der Glutinleim.
Eme andere Art von Siützsubstanz bildet das
Bindegewebe und das elastische Gewebe.
Unter dem Bindegewebe treten die Sehnen in
den Vordergrund, welche ca. 60 "/^ Wasser, 40%
organische und 0,5 % anorganische Stoffe ent-
halten. Unter den organischen Stoffen stellt
wieder das Kollagen, also die leimgebende, früher
beschriebene Substanz die Hauptmenge dar, ihm
folgen der schwt- felhaltige Eiweißstoff Elastin und
andere Eiweißkörper, wie Reticulin usw. Unter
den Mineralstoffen ist die Kieselsäure auffallend.
Interessant sind die Untersuchungen des Binde-
gewebes in der Arterienwand, besonders ihre
chemischen Veränderungen, die bei der Arterio-
sklerose (Arterienverkalkung) entstehen. Während
die normale Arterienwand 0,2 — 4,2 anorganische
Stoffe, darunter 0,43 % Kalk enthält, besitzt sie
bei einer arteriosklerotischen Erkrankung bis zu
18,33 "1, Asche, darunter 8,79 "0 Kalk, also eine
Vermehrung um das 20 fache.
Mit den Knochen chemisch nahe verwandt
sind die Zähne der Säugetiere, die aus 3 Be-
standteilen bestehen : Aus dem Zement, welches
den unsichtbaren Teil des Zahnes, die Wurzel,
umhüllt und mit Knochen identisch ist, dem
Zahnbein oder Dentin, welches die Hauptmasse
des Zahnes ausmacht, und dem Schmelz, der den
sichtbaren Teil des Zahnes, die Krone umgibt.
Das Zahnbein unterscheidet sich chemisch sehr
wenig vom Knochen, vielleicht nur durch seinen sehr
niedrigen Gehalt an organischen Substanzen. Der
Schmelz ist jedoch vor dem Knochen ganz besonders
durch seinen außerordentlich hohen Gehalt an anor-
ganischen und seinen sehr geringen an organischen
Substanzen ausgezeichnet. Die letzteren betragen
nur etwa 2 — 10 "^ und bilden kein Glutin. Was
die anorganischen Substanzen anbelangt, so ent-
hält der Schmelz weniger Magnesium und des-
halb mehr Kalzium als die Knochenasche. Im
Zusammenhang mit der P'rage, inwieweit die Zu-
sammensetzung der Nahrung für den chemischen
Bau des Knochens von Bedeutung ist, hat man
sich ebenso bemüht, den Kalkgehait der Nahrung
mit seiner Ablagerung in den Zähnen in Zu-
sammenhang zu bringen, hat jedoch konstatieren
können, daß die Zähne davon viel weniger be-
einflußt werden als der Knochen. Es ist aber
doch beachtenswert, daß in Gegenden mit kalk-
reichem Wasser die Bewohner bessere Zähne
haben als in solchen mit kalkarmen Wasser. Die
Zahnkaries besteht ja aus einer Loslösung von
mineralischen Bestandteilen aus dem Zahn und
damit natürlich aus einer relativen Vermehrung
der organischen Substanz.
Schließlich seien noch die Haut und ihre
Gebilde zu besprechen, welche die eigentlichen
Integumente bilden und vielfach chemischen Unter-
suchungen unterzogen wurden. So ist der geringe
Schwefelgehalt der Epidermis beobachtet worden;
die Haut der Neger enthält mehr Asche als die
der Weißen. Unter den Hautgebilden sind vor
allem die Haare, Hufe, Hörner, Federn, Wolle usw.
zu nennen. Die Horngebilde, wie Nägel, Hufe
Schildpatt usw. sind durch ihren relativ hohen
Schwcfelgehalt ausgezeichnet, den sie dem Ei-
214
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
weißstofif Keratin verdanken, das sich vor dem
anderen Gewebe noch durch seine UnlösJichkeit
in allen Lösungsmineln unterscheidet, also durch
seine besonders große Widerstandsfähigkeit
hervortritt. Ferner sei noch erwähnt, daß
täglich 5 mg Hornsubstanz an den Ungernägeln
produziert wird. — Die Haare sind wohl die
am intensivst untersuchten Hauptgebilde und be-
sitzen ebenfalls als integrierenden Bestandteil
Schwefel im Eiweiß; die roten Haare sind die
schwefelreichsten. Charakteristisch ist auch bei
den Analysen der Haare, daß die weißen Haare
am kalkreichsten sind, also wieder ein Beweis,
daß Altererscheinungen in den verschiedensten
Geweben mit einer reichlichen Ablagerung von
Kalksalzen parallel gehen. Besonders sei noch
hervorgehoben, daß die Haare Kieselsäure ent-
halten, wie der bekannte Physiologe Gorup-
Besanez festgestellt hat. — Über die chemischen
Arbeiten an Federn sei nur erwähnt, daß der
Flaum und die Flügelfedern einen energischeren
Mineralsti ffvvechsel haben als die mittleren P'edern
und daß auch der Kalkgehalt der älteren Federn
höher ist als der der jüngeren. — Schließlich
seien noch Hautgebilde, wie Fischschuppen er-
wähnt, die sich eigentlich nur durch ihren
höheren Gehalt an organischen Substanzen von
den Knochen unterscheiden, denen die Geweihe
vollkommen gleichen. Auch sie können ebenso
wie die Knochen Jahrhunderte überdauern und
sich dabei in ihrer chemischen Zusammensetzung
nur außeiordentlich wenig verändern. ~
Zur Bestinimiing fossiler Blattabdriicke.
Von Dr. R. Krauset.
[Nachdruck verboten.] Mit 9 ■■\bbi
Hand in Hand mit dem Bestreben der Bo-
taniker, das System der lebenden Pflanzen ,, natürlich"
zu gestalten, d. h. es mehr und mehr zum Aus-
druck der Entwicklung und des Stammbaums zu
machen, geht das Bemühen, auch die vorweltlichen
Pflanzen, soweit sie uns bekannt sind, in dieses
System einzufügen. Und in der Tat müssen ja
gerade sie für stammesgeschichiliche Fragen von
höchstem Interesse sein. Je tiefer wir in die
Vorzeit der Erde hinuntersteigen, um so fremd-
artiger ist auch die F'lora, man denke nur an die
Pflanzenwelt der Steinkohlenzeit. War es lange
schwierig, ihre Beziehungen zur Flora der Jetzt-
zeit richtig zu deuten, so haben eingehende
Untersuchungen, an denen neben andeien auch
deutsche Gelehrte wie Solms-Laubach und
Potonie rühmlichen Anteil hatten, doch zahl-
reiche, wenn auch noch lange nicht alle Fragen
gelöst, so daß wir in großen Zügen immerhin ein
Bild von dem Werdegange der Pflanzenwelt be-
sitzen. Allgemein gilt das ja eigentlich selbst-
verständliche Gesetz, daß, je jünger eine fossile
F'lora ist, sie auch um so mehr der heutigen ähnelt.
Erst in der Kreide treten die echten Blütenpflanzen,
die heute das Bild beherrschen, in den Vorder-
grund, und in noch höherem Maße ist dies im
Tertiär der Fall. Bei der Beschreibung solcher
Reste jüngeren Alters gewinnt die Vergleichung
mit lebenden Formen besondere Bedeutung. Ein
Beispiel möge dies erläutern. Wenn wir etwa in
nördlichen Gegenden fossile, palmenähnliche Blatt-
reste finden, oder im Tertiär Norddeutschlands
häufig Koniferenzweigen begegnen, die völlig der
heute nur noch in Nordamerika lebenden Sumpf-
zypresse (Ta.xodiiiiii disfic/itim (L.) Rieh.) oder
ihrem merkwürdigen auf Ostasien beschränkten
Verwandten Glyp/as/rob//s JictcropliyUiis E n d 1.
gleichen, so weist dies zwingend im einen Falle
Idungen.
auf entscheidende klimatische Umwälzungen, im
anderen auf pflanzengeographische Fragen von
hohem Interesse hin.
Vorausssetzung derartiger paläoklimatischerund
pflanzengeographischcr Folgerungen ist natürlich
die richtige Bestimmung der vorliegenden Fossilien.
Ihr stellten und stellen sich aber mancherlei
Schwierigkeiten entgegen, die teils in der Natur
des fossilen Materials, teils aber auch in der Art
und Weise der Bearbeitung begründet sind. Wo
immer fossile Pflanzenreste gefunden werden, wo-
bei es sich stets in erster Linie um Blätter handelte,
während Blüten und Früchte viel seltener sind,
wird eine solche „Lokalflora" meist von einem
Autor bearbeitet, während es an einer mono-
graphischen Durcharbeitung einzelner Pflanzen-
gruppen auf Grund von Material verschiedener
Herkunft mit ganz wenigen Ausnahmen bis in
die jüngste Zeit gefehlt hat. Wenn dann, wie es
häufig der Fall ist, der Autor von Hause aus
kein Botaniker ist, so ist klar, daß zahlreiche Irr-
tümer die P'olge sind. In der Tat kann nicht ge-
leugnet werden, daß gerade die Paläobotanik ein
Gebiet ist, auf dem viele Unberufene ihr Rößlein
tummeln, was Potonie einmal zu seinem drasti-
schen, aber die Zustände treffend charak-
terisierenden „paläobotanischen Stoßseufzer" ver-
anlaßt hat (vgl. diese Zeitschrift N. F. VIIL 1909).
Beachtung hat er allerdings bei denen, die es
anging, nicht gefunden, und noch heute besteht
sein Wort von den „mihijägern" zu vollem
Rechte. Ein besonderes Kapitel bildet in dieser
Hinsicht die Bestimmung fossiler Holzreste, doch
soll davon hier nicht weiter die Rede sein. So
kommt es auch, daß zahlreiche Reste, deren un-
genügende Erhaltung eine sichere Bestimmung
ausschließen, mehr oder weniger phantasievoll
„ergänzt" und dann unter einem schönen Namen
N. F. XVI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
be?!chrieben werden. Der Wert der so erhaltenen
„Arten" ist gleich Null. Sie sind ein unnützer, be-
schwerlicher Ballast für jeden, der gezwungen ist,
sich mit ihnen auseinander zu setzen. Dies ist
auch überall dort der Fall, wo den Beschreibungen
keine oder nur oberflächliche Abbildungen bei-
gegeben werden. Hierdurch wird ein Vergleich
mit neuen Funden oder deren Zurückführung auf
schon beschriebene sehr oft erschwert, wenn nicht
unmöglich gemacht. Ein junger, viel zu früh im
Felde gefallener Breslauer Botaniker, Reimann,
hat demijegenüber die Forderung aufgestellt, daß
in paläobotanischen Arbeiten nur die photo-
graphische Wiedergabe als allein naturgetreu an-
gewandt werden dürfe. *) Das ist nur zum Teil
richtig. Sehr oft handelt es sich um Darstellung
gewisser Einzelheiten, die auch die beste Photo-
graphie nicht erkennen läßt. Hier kann man die
Zeichnung nicht entbehren. Gegen ihre An-
wendung wird sich zumal dann nichts einwenden
lassen, wenn man sich ihrer neben dem Lichtdruck
bedient. Aber man kann doch auch nicht
jedes behandelte Blatt photographisch abbilden!
Reimann's allzu skeptischer Standpunkt ist ja
angesichts mancher Arbeiten verständlich, er geht
aber dabei wie auch in seinen übrigen Ausführungen
über den Wert oder besser „Unwert" palä-
ontologischer Schlußfolgerungen entschieden weit
über das Ziel hinaus. Daß auch Zeichnungen
von Wert sein können, beweisen die klassischen
Werke eines Heer oder Goeppert. Sie ent-
halten — neben manchen allerdings ungenauen
und ungenügenden — doch auch zahlreiche gute
Abbildungen, die ein Erkennen und Vergleiche
sehr wohl möglich machen.
Wie leicht die unvollkommene Erhaltung der
Fossilien und ihre Ergänzung zu Trugschlüssen
führen können, soll ein Beispiel lehren (Abb. i. u. 2.).
Es handelt sich um zwei Blätter aus dem tertiären
Ton von Schoßnitz in Schlesien, die aus der
Sammlung der Geologischen Landesanstalt, bzw.
dem geologischen Institut in Breslau stammen.
Beides sind unzweifelhaft Weidenblätter und als
solche stets richtig bestimmt worden. Ihre
Blattform erscheint ganz verschieden. Abb. i
zeigt ein von der Mitte ab sich ziemlich
schnell zuspitzendes Blatt (man achte be-
sonders auf den scharfen Blattrand links oben!),
eine Form, die Goeppert als Salix iiitcgni
beschrieben hat, während das andere (Fig. 2) viel
länger und allmählicher zulaufend zu sein scheint
und eher an Salix loiis^a A. Br. erinnert. Die
beiden Abdrücke sind auch stets, so noch in aller-
jüngster Zeit bei erneuter Durchsicht der
Goeppert'schen Sammlungen zu zwei ver-
schiedenen Arten gezogen worden. Bei zu-
fälligem Nebeneinanderlegen der beiden Stücke
fand ich aber, daß wir hier Druck und Gegendruck
ein und desselben Blattes vor uns haben! Ein
genauer Vergleich der beiden Bilder zeigte dies
deutlich; noch stärker tritt es an den etwa hand-
großen Originalen selbst hervor. Die Zuspitzung
und der so scharfe Blattrand der vermeintlichen
Salix i)itcora sind nur eine Folge schlechter Er-
haltung, während Abb. 2 die wahre Blattform
erkennen läßt. Läge aber das Stück i allein vor,
so müßte man unbedingt zu einer ganz falschen
Auffassung über den Bau des Blattes gelangen.
Wie viel größer kann der Fehler nun gar sein,
wenn Bruchbtücke, denen Blattgrund wie Spitze
ganz fehlen, vom Autor „ergänzt" werden. Zum
mindesten muß man dann verlangen, daß das Un-
gewisse derartiger Bestimmungen deutlich hervor-
gehoben wird. Noch besser ist es aber, sie bleiben
von der Bearbeitung ganz ausgeschlossen. Dann
würde zwar manche Arbeit an Volumen beträcht-
1
,^
1
S^' -
J
1^
^
"r-v
s<-' _
nn, Die Betulaceen und Uln
Breslau 1913.
Salix longa K. Br. (Druck und Gegendruck).
lieh verlieren, dafür aber an innerem Wert eben-
soviel gewinnen.
Auch die schon genannten „Klassiker" der
Paläobotanik genügen dieser Forderung nicht
immer. Was uns an ihren Arbeiten aber am
meisten auffällt, ist die große Anzahl von Arten,
die sie innerhalb einer Gattung aufstellen. So
unterscheidet Goeppert in seiner „Flora von
Schoßnitz" allein elf Ulmenarten und ähnlich ist
es bei Bctiila, Carpiiins, Qucrciis usw. Dennoch
trifft für ihn der Vorwurf der leichtfertigen
Schaffung neuer Arten nicht ohne weiteres zu,
wie berechtigt er auch leider vielen anderen
Autoren gegenüber ist. Die reichhaltige Sammlung
Schoßnitzer Fossilien, die Goeppert anlegte — ,
noch jetzt sind an lOOO Stück vorhanden — , be-
ii6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
steht zum weitaus überwiegenden Teil aus Blatt-
abdrücken. Darin liegen große Schwierigkeiten
für die Bestimmung. Die Systematik der lebenden
höheren Pflanzen ist in erster Linie auf den Bau
der Fruktifikationsorgane gegründet, die, wie die
Erfahrung lehrt, sehr konstant sind, während alle
vegetativen Teile, in erster Linie also die Blätter,
in Bau und Form sehr oft weitgehenden Schwan-
^if
A
i-
Abb. 3.
Ulraus loDgifolia Uag
vir
Abb. 5.
•f;-'-
Ulmus carpinoides Goepp.
kungen ausgesetzt sind. Unkenntnis dieser
Variationsmöglichkeiten ist es, die in vielen
Arbeiten bei der Aufstellung neuer Arten zu
Tage tritt. Anders bei Goeppert, der sich ihrer,
wie man es bei einem so sorgfältigen Beobachter
gar nicht anders erwarten kann, wohl bewußt war.
Wenn er dennoch aufGrund geringer Abweichungen
der Blattform so zahlreiche Arten unterschied,
Arten, die einer kritischen Prüfung häufig nicht
standhalten, so tat er dies nur, um erst einmal
Ordnung in den damals neuen und überraschenden
Formenreichtum der Fossilien zu bringen und
einen Vergleich späterer Funde mit denen von
Schoßnitz zu ermöglichen. Bei der Durchsicht
seiner Originale konnte ich aber feststellen, daß
in den dazugehörigen Bemerkungen von seiner
Hand zahlreiche der späteren „Arten" als Varia-
tionen ein und derselben Art bezeichnet sind.
Danach gehören z. B. die vier Pla/aiiits-Yormcn
der Schoßnitzer Flora zu einer einzigen Spezies,
wie es auch den heutigen Anschauungen entspricht.
Die Gründe, die Goeppert dann später be-
wogen, dem allgemein üblichen Brauche zu folgen
und diese Formen als getrennte „Arbeiten" zu be-
schreiben, werden von vielen Autoren noch heute
in gleichem Sinne gewertet. Aber mögen sie
auch zu Goeppert's Zeiten, wo die Faläo-
botanik noch in den Anfängen war, in gewissem
Grade berechtigt gewesen sein; heute gilt dies
nicht mehr in gleichem IVlaße. Der Bausteine
sind schon genug zusammengetragen, nun heißt es,
Ordnung hineinzubringen und zwar eine Ordnung,
die mit dem System der lebenden Pflanzen in
weitestgehender Übereinstimmung steht. Hierbei
müssen überall, wo es sich um Blätter handelt,
die Variationsgrenzen der rezenten Pflanzen mehr
als bisher berücksichtigt werden. Abweichungen,
die innerhalb einer lebenden Art auftreten, be-
rechtigen auch nicht zur Aufstellung neuer fossiler
Arten. Nicht selten sind auch Übergangsformen,
auch treten sehr ähnliche Blätter mitunter an
verschiedenen Arten auf Derartige Zwischen-
typen von etwas unsicherer Stellung sind deutlich
als solche zu bezeichnen. Bei Berücksichtigung
dieser Grundsätze gelangen wir zu einer weit-
gehenden Einschränkung der Zahl fossiler Arten,
die dann natürlich eine etwas andere Bedeutung
gewinnen und mitunter auch mehreren lebenden
Arten entsprechen werden. Der Name „F"ormen-
kreis" würde diese Verhältnisse sehr gut zum
Ausdruck bringen. So lassen sich Goeppert's
Ulmenarten, wenn wir von zwei unbestimmbaren
Stücken absehen, zwei Formenkreisen zuweisen,
die den lebenden ( limis cainpcstris L. und
C aincricana Willd. entsprechen. Unsere Ab-
bildungen (Abb. 3 — 6) zeigen eine Anzahl solcher
Formen von Uhiiiis loiigifolia Ung. und U. carpi-
iioides Goepp., die früher als eigene Arten an-
gesehen worden sind, in ihren L'nterschieden aber
die innerhalb jener lebenden Formen auftretenden
Schwankungen nicht überschreiten. Das gleiche
gilt von den fossilen Carpinusarten Goeppert's
(F'g- 7 — 9)> die alle mit Carp. Jicfuliis L. ver-
glichen werden können.
Zu ähnlichen Ergebnissen führt eine Revision
bei den meisten, auf Blätter gegründeten fossilen
Arten. Es fragt sich nun angesichts der in
manchen Fällen nicht wegzuleugnenden Unsicher-
heit, welcher Wert der Bestimmung fossiler Blätter
überhaupt beizulegen ist. Eine gewisse Vorsicht
ist nach allem geboten , wenn die Grundlage
N. F. XVI. Nr. 16
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
217
nicht fragwürdig und damit die daran geknüpften
Folgerungen werllos werden sollen. Dennoch
wird man R ei mann 's Bedenken, der allen der-
artigen „Schlußfolgerungen" eigentlich jeden Wert
abspricht, nicht beipflichten können, denn dann
wäre im Grunde alle paläobotanische Arbeit
nutzlos und überflüssig. So liegen die Verhält-
nisse nun doch nicht. Gewiß kann vor über-
eilten Schlüssen nicht genug gewarnt werden.
Wenn aber wie bei der Betrachtung der deutschen
und Entwicklung werden und auch für andere
Gebiete Bedeutung erlangen , wenn sie unter
steter Berücksichtigung der lebenden Pflanzen
in weiser Beschränkung und bei gehöriger Selbst-
kritik erfolgt. Beides lassen allerdings zahlreiche
Abb.
m
Tertiärfloren immer wieder innerhalb der ver- 1
schiedensten Pflanzengruppen die gleichen Be- 1
Ziehungen etwa zur lebenden Flora Nordamerikas
auftauchen und die Untersuchung gleichaltriger '^^^' ^'
Früchte und Hölzer in dieselbe Richtung weisen, ■''^^- '' ^ "• 9- Carpinus grandis Ung.
dann hieße es nicht sehen wollen, würde man
diesen Verhältnissen gegenüber auf Folgerungen Arbeiten heute noch vermissen, und so lange dies
verzichten. der Fall ist, wird es sich die Paläobotanik ge-
Sicher kann auch die Untersuchung fossiler fallen lassen müssen, daß sie mitunter mit mehr
Blattreste zu einer Quelle zahlreicher Kenntnisse Geringschätzung behandelt wird, als sie eigentlich
über die vorweltliche Flora, ihre Geschichte verdiente.
Einzelberichte.
Zoologie. Chromosomengarnituren in der
Gattung Drosophila. (Mit I Textfigur.) Durch die
seit einer Reihe von Jahren im Gange befindlichen
ausgedehnten Vererbungsexperimente Morgan 's
und seiner Schule an Drosophila ampelophila, der
Apfel- oder Bananenfliege, ist dieses Dipter zu
einem der wichtigsten Objekte der neueren Ver-
erbungsforschung geworden. Die Deutung der
interessanten Befunde Morgan's, eines überzeugten
Anhängers der Chromosomentheorie der Vererbung,
setzt eine genaue Kenntnis der Vererbungsträger,
ihrer Konstitution und ihres Verhaltens, voraus.
Metz, einer der Mitarbeiter Morgan's, machte
sich die möglichst genaue zytologisrhe Durch-
forschung der Gattung Drosophila zur Aufgabe. ')
') Metz, C. VV., Chromosome studies in the Diptera.
I. A preliminary survey of five different types of ch:
Fr untersuchte bisher die Chromosomenverhältnisse
von 29 verschiedenen Drosophiliden, und zwar von
26 Arten der sehr formenreichen Gattung Droso-
phila, von I Art der nahe verwandten Gattung
Cladochaeta und von 2 Arten der Gattung
Scaptomyza. Bei diesen 29 Arten konnte er 12
verschiedene Typen von Chromosomengarnituren
(außer einigen Untertypen) feststellen, von denen
1 1 in der Gattung Drosophila vorkommen. Reichen
auch die bisherigen Beobachtungen noch nicht
aus, um Schlüsse zu ziehen über die phylo-
genetischen Beziehungen der einzelnen Typen zu-
einander, so verdient doch immerhin schon die
groups in the genus Drosophila. Journ. of exper. Zool.,
Vol. 17, 1914.
— , Chromosome studies on the Diptera. III. Additional
types of chromosome groups in the Drosophilidae. Amer.
Natur., Vol. 50, 1916.
2l8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
Tatsache besonderes Interesse, daß in einer
Gattung eine so große Zahl von verschiedenen
Typen vorkommen kann; bisher fehlten derartige
Beobachtungen. Durch die geringe Zahl von
Chromosomen und die Größe der einzelnen Elemente
sind Dipteren für derartige Untersuchungen ver-
hältnismäßig geeignete Objekte.
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M A Mb II c II d
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Der erste Typ, Typ A in der nebenstehenden
Figur, ist die am häufigsten vorkommende Chromo-
somengarnitur. Er findet sich bei zwölf Arten der
Gattung Drosophila (darunter auch Dios. ampelo-
phila) sowie bei einer Scaptomyza-Art. Es sind
vier Paar Chromosomen vorhanden. Zwei Paar
(in der Figur rechts und links) sind in Größe
und Form ungefähr gleich; sie sind größer als
die beiden anderen Paare und haben hantel- oder
U-förmige Gestalt. Das dritte Paar besteht aus
zwei kürzeren geraden Elementen, während das
vierte Paar sich aus zwei kleinen kugelförmigen
Chromosomen zusammensetzt. Ein Vergleich
der Chromosomensortimente in den beiden Ge-
schlechtern sowie die Untersuchung der Spermato-
genese führt zu dem Resultat, daß die beiden
kurzen geraden Elemente die Geschlechtschromo-
somen oder Heterochromosomen sind. Beim
Weibchen sind beide Geschlerhtschromosomen
gleich groß (es sind zwei X-Chromosomen vor-
handen), beim Männchen hingegen ist das eine
Chromosom etwas kleiner als das andere (es ist
ein X- und ein Y-Chromosom vorhanden). Daraus
folgt, daß bei der Reifung der männlichen Ge-
schlechtszellen zwei Sorten von Gameten gebildet
werden, solche mit einem X- und solche mit
einem Y-Chromosom, d. h. weibchen- und
männchenbesümmende Spermatozoen. Die Eier
sind alle gleich hin-^ichtlich ihres Chromosomen-
bestandes, alle erhalten je ein X-Chromosom.
Typ B fand Metz bisher nur bei einer
Droso|^>hila-Art. Er weist nur drei Chromosomen-
paare auf die geringste bisher bei höheren Fliegen
beobachtete Zahl. Jedes Paar unterscheidet sich
hier deutlich von den beiden anderen. Zwar sind
auch zwei Paar hanteiförmige Chromosomen vor-
handen, aber an Größe sind diese sehr verschieden.
Das dritte Paar ist ähnlich gestaltet wie die Ge-
schlechtschromosomen des Typus A und entspricht
diesen wohl auch; ob Verschiedenheiten im männ-
lichen und weiblichen Geschlecht vorhanden sind,
wurde bisher nicht festgestellt.
Die Chromosomengarnitur des dritten Typus,
Typ C, setzt sich aus fünf Paaren zusammen.
Außer den beiden geraden Geschlechtschromo-
somen, die im männlichen Geschlecht deutlich
verschieden sind, finden wir zwei ähnlich gestaltete
aber etwas kürzere Paare, ein Paar hanteiförmiger
sowie ein Paar kleiner kugeliger Chromosomen.
Der Typ kommt bei einer Drosophila- und einer
ScaptomyzaSpezies vor. Typ D unterscheidet
sich von C durch das Fehlen der kleinen runden
Chromosomen, auch fehlt ein morphologischer
Unterschied zwischen den beiden Geschlechts-
chromosomen im männlichen Geschlecht. Der
Typ ist nur für eine der bisher untersuchten
Drosophila-Arten charakteristisch. Ebenso auch
der nächste Typus, Typ E, der wieder fünf
Chromosomenpaare aufweist und Typ C ähnelt;
statt des einen geraden Paares ist aber hier ein
Paar kleiner hanteiförmiger Chromosomen vor-
handen. Die beiden Geschlechtschromosomen
sind wahrscheinlich in beiden Geschlechtern gleich.
Typ F ist nächst dem Typus A die häufigste
Garnitur (bei sechs Drosophila-Arten). Von den
sechs Paar Chromosomen sind fünf gleich ge-
staltet, es sind kleine gerade Elemente. Das
sechste Paar besteht aus kleinen kugelförmigen
Chromosomen. Der nächste Typus, Typ G, ist
dem vorhergehenden sehr ähnlich, jedoch sind
außer den Geschlechtschromosomen alle Paare be-
trächtlich kleiner, besonders die runden Chromo-
somen sind so minutiös, daß sie anfangs ganz
übersehen wurden. Eine Drosophila-Art gehört
zu diesem Typus.
Typ H scheint in der Gattung Drosophila zu
fehlen. Er wurde nur bei Cladochaeta nebulosa,
der einzigen Art dieser Gattung, gefunden, die
aber mit Drosophila nahe verwandt ist. Von den
drei hanteiförmigen Paaren dürfte eines das Ge-
schlechtschromosomen-Paar sein; Männchen von
Cladochaeta wurden nicht untersucht.
Den vier letzten Typen, I — M, sind stark
differente Geschlechtschromosomen im männ-
lichen Geschlecht gemeinsam. In der Figur sind
deshalb von diesen Typen die Garnituren beider
Geschlechter wiedergegeben. Während beim
Weibchen die beiden X- Elemente hufeisen- oder
hanteiförmige Gestalt haben, ist beim Männchen
nur das X Element hufeisenförmig, das YElement
ist viel kürzer und gerade. Wie sich die vier
Typen unterscheiden, zeigt die Figur. Besonderes
N. F. XVI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
219
Interesse verdient Typ I, der auf eine Varietät
von Drosophila repleta beschränkt ist. Die
meisten Formen dieser Art gehören dem Typus F
an. Äußerhch unterscheiden sicli die beiden Varie-
täten fast gar nicht, daß aber sogar sehr weit-
gehende physiologische Differenzen vorhanden
sind, geht zur Genüge aus der Tatsache hervor,
daß eine Kreuzung der beiden Varietäten nicht
möglich ist!
Zu den Vererbungsstudien wurde bisher fast aus-
schließlich die zum Typus A gehörige Drosophila
ampelophila benutzt. Entsprechend den vier Paaren
von Chromosomen bei dieser Art landen Morgan
und seine Schüler vier Gruppen von unabhängig
voneinander sich vererbenden Merkmalen, und
zwar — wieder entsprechend der Größe der
einzelnen Paare — drei große und eine kleine
Gruppe von Merkmalen; die Gene für die kleine
Gruppe dürften in dem kleinen runden Chromo-
somenpaar lokalisiert sein. Eine Gruppe von
Meikmalen ist geschlechtsgebunden; ihre Gene
befinden sich in den Geschlechtschromosomen.
In neuester Zeit haben Morgan und seine
Schüler ihre Studien auch auf Drosophila repleta
(Typ F und I) ausgedehnt. Ist die oben skizzierte
Theorie richtig — und das scheint in der Tat
der Fall zu sein — , so muß es bei repleta sechs
Gruppen von selbständig mendelnden Merkmalen
geben, während eine dem Typus B angehörige
Drosophila nur drei Gruppen besitzen kann. Bei
dem großen Eifer, mit dem die Morgan 'sehe
Schule diese Untersuchungen betreibt, dürfen wir
bald eine Aufklärung dieser Verhältnisse erwarten.
Nachtsheim.
Zur Farbenwirkung auf Schmetterlingspuppen.
Bernhard Dürken'j ließ Raupen des Koiil-
weißlings, Pieris brassicae, auf verschieden
gefärbtem Untergrunde sich verpuppen und
prüfte die Einwirkung der Umgebungsfarbe auf
die Puppenfärbung und -Zeichnung. Die er-
zielten 219 Schmetterling-puppen ordnet er in
fünf Färbungsklassen, Färbungsklasse u bis c,
deren erste weiß mit viel schwärzlicher Zeichnung
ist, während b bei weniger Schwarz meist schwach
rötliche Grundfarbe hat, c noch weniger Schwarz
bei grünlicher Grundfarbe; Klasse d und c sind
ungefähr Steigerungen von c. Hierzu Abb. i
und 2. Das schwarze Pigment liegt in der
obersten Chitinschicht. Weißes liegt in der Hypo-
dermis und macht sie um so undurchsichtiger,
je reichlicher es entwickelt ist, während bei seiner
schwächeren Entwicklung, besonders in den
Färbungsklassen J und c, das stets grüne Körper-
gewebe der Puppe s'ark durchscheint. Dieses
ist übrigens in der F'ärbungsklasse c besonders
lebhaft grün.
Die Einwirkung der Umgebungsfarben, von
•) B. Dürken, Über die Wirkung verschiedenfarbiger
Umgebung auf die Variation von SchmeUerlingspuppen.
Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. CXVI, Heft 4, 1916.
denen auch die spektrale Zusammensetzung be-
rücksichtigt wurde, ist nun einmal derart, daß in
Übereinstimmung mit den Heiligkeilswerten die
Farben Braun, Rot, Blau und Violett im ganzen
die Faibe der Puppen durch zunehmendes Schwarz
verdunkeln, während Weiß, Gtlb und Grün sie
aufhellen. Aber auch der Farbwert der Umgebung
hat Wirkung, da Weiß, Schwarz, Grau, Rot und
Violett besonders häufig die Färbungsklasse b er-
zeugen, Braun, Gelb und Blau die Färbung der
Puppen nach Grün hin, zur Klasse c, verschieben,
was noch mehr von grüner und am meisten von
orangenfarbener Umgebung gilt ; jene erzeugt vor-
nehmlich die Färbungsklasse d, diese die extrem
grüne e.
Eine Einwirkung der Temperatur auf die
Färbung der Puppen war nicht zu erkennen. In
Abb. I. Kohlweifilingspuppe, Färbungsklasse a.
Abb. 2. Kohlweißlingspuppe, Färbungsklasse b.
Beide Abbildungen nach Dürken, Zeitschr. f. wiss. Zool. 1916.
Übereinstimmung mit Pou 1 ton's Ergebnissen an
der gleichen Art wurde als entscheidender Zeit-
punkt der Einwirkung die Zeit vor der Verpuppung
erkannt. Doch geht der Prozeß nicht durch die
Augen der Raupe, sondern es handelt sich offen-
bar um eine unmittelbare Einwirkung auf das
Integument.
Es geht aus den gewonnenen Ergebnissen, so
aus dem Auftreten des rötlichen Einschlages der
Farbklasse b in roter, weißer und schwarzer
Umgebung, aus der gleichsinnigen Wirkung von
Gelb und Blau und vor allem aus der vorwiegend
grünen Färbung in der Orangezucht, ganz ein-
wandfrei hervor, daß die Reaktionen, obschon
spezifische, durchaus n'cht ,, gleichsinnige" sind,
es liegt meist keine Farbenangleichung an die
Umgebung vor. Trotzdem könnte es nicht völlig
zwingend erscheinen, wenn Dürken damit zugleich
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
den Anpassungs-, also Zweckmäßigkeitswert der
Reaktionen bestreiten möchte; eine zweckmäßige
schützende Farbenwirkung unter natürlichen Ver-
hältnissen wäre wohl doch nicht ausgeschlossen,
denn Anpassung braucht nicht unbedingt An-
gleichung zu sein. Die Aufgabe der Pigmente,
meint Dürken zum Schluß, scheint nicht mit
der Bildung von Färbungen erschöpft zu sein,
sondern es mag wohl den Pigmenten noch eine
weitergehende physiologische Bedeutung zu-
kommen. V. Franz.
Geologie. Die Grundwasserverhältnisse im
Namalande, Deutsch-büdwestafrika. Von 1900 bis
kurz vor Ausbruch des Krieges war der Kaiser-
liche Regierungsgeologe Dr. Paul Range in
Deutsch-Südwest mit dem Aufsuchen des für die
Kolonie so wichtigen Grundwassers beschäftigt.
Etwa 40000 m Bohrarbeit wurden in dieser Zeit
von den beiden staatlichen Bohrkolonnen im
Wasserdienste geleistet. Die Buhrkolonne Nord
unterstand dem Bohrinspektor K i r c h h c f f ,
während Dr. Range die Bohrkolonne Süd
führte. Außer den staatlichen Bohrungen wurden
auch noch etwa 23000 m Bohrarbeit von Privaten
geleistet. Dr. Range stellt jetzt die Ergebnisse
von 352 Bohrungen der ihm unterstellten Kolonne
zusammen,^) zu diesen kommen noch 148 im
gleichen Gebiet von anderen geleistete Bohrungen.
Auf Grund dieser 500 Bohrergebnisse und semer
geologischen Aufnahmen kommt P. Range zu
folgenden Anschauungen über die Hydrologie des
Landes: Im wesentlichen ist das Grundwasser
von der Menge der Niederschläge, zumeist des
Regens, abhängig. Nur wo im Küstengebiet
Dünensand über Ton lagert und die Dünen häufig
vonschweren Nebeln umlagert werden, entstehtetwas
Grundwasser aus der Kondensation des Nebels
im Sande. Einzelne warme Quellen mögen auch
Wasserdämpfen entstammen, welche Magmen ent-
strömen. — Das Namaland hat Regenmengen,
welche von 10—20 mm an einztlnen Siellen der
Küstenwüste bis etwa 300 mm im Kalahanbezirk
Gibeon schwanken. Im Durchschnitt sind etwa
150 mm anzunehmen. Bei dieser geringen Menge
ist obei irdisch abfl eßendes Wasser nur im Oranje
vorhanden, und auch dieses entstammt wesentlich
dessen weiter östlich gelegenem Ouellgebiete. Das
übrige Grundwasser verbleibt im Lande und kann
durch geeignete Maßnahmen wiedergewonnen
werden. Das Verhältnis von Niederschlag, Ver-
dunstung und Grundwasser ist noch nicht fest-
gelegt. Bei schwachen Regen dürfte alles ver-
dunsten, bei starken kommt ein Teil in den
Bachbetten zum Abfluß, um bald zu versickern und
') Beiträge zur geologischen Erforschung der deutsche
Schutzgebiete. Heft 1 1 : P. R a n g e , Ergebnisse von Bohrunge
in Deutsch-Siidwestatrilja. Berlin 1915.
langsam als Grundwasser weiterzufließen. Von
dem im Niederschlagsbereich des Konkip ge-
fallenen Wassers gelangten in einem bei Betha-
nien festgelegten Profil i '"„ zum Abfluß. — In-
folge der geringen Regenmenge kann nicht überall
ein Grundwasserspiegel vorhanden sein. Solches
ist in erster Linie in den Fluß- und Bachbetten
(Rivieren) und in flachen mit Aufschüttungs-
material erfüllten Mulden zu erwarten. In den
Gebieten der oft tief verwitterten Urgesteine ist
stellenweise Wasser vorhanden. Zumeist führen
diese nur Spaltenwasser. Die jüngeren geschich-
teten Formationen liegen meist flach. Von diesen
ist der Schwarzkalk ein guter Wasserträger. In
den Fischflußschichten und in der Karrooformation
finden sich ausgedehntere Grundwasserhorizonte,
wo Sandstein mit Letten wechsellagert. In den
durchlässigen Deckgebilden der Kalahari sinkt das
Grundwasser bis auf die nächste undurchlässige
Schicht und ist fast überall durch tiefe Bohrungen
zu erschließen. — Die Durchschnittstiefe des
Grundwassers wechselt. Stellenweise ist eine
starke Abhängigkeit von dem Khma festgestellt
worden. So ging es an der Schakalskuppe nach-
langer Dürre um 15 m zurück. — Die Durch-
schnittsergiebigkeit, die ähnlich wechselt, ist ge-
ring. — Oft ist das Grundwasser brackig. Der
Salzgehalt stammt aus den Wasserträgern und ist
besonders unangenehm, wo es sich um die ge-
sundheitsschädlichen Magnesiumsalze handelt. Da-
gegen ist das Flußwasser naturgemäß salzarm.
Auch nur langsamfließendes Grundwasser verbrackt,
während schnellerfließendes gut ist. — In der
Kalahari wurde ergiebiges artesisches Wasser er-
schlossen, ebenso bei Keetmannshoop, wo sich
das Grundwasser der oft klüftigen, dickbankigen
Karrooschiefer an Diabas staut. Dort trat es
mit 20 cbm in der Stunde frei aus. Auch an
anderen Stellen sind schwächere artesische Brunnen
erschlossen. — Von den einzelnen Bezirken des
Namalandes ist am ungünstigsten der Bezirk
Lüderitzbucht daran. Dieser erhält die geringsten
Niederschläge und besteht in der Hauptsache aus
Urgestein. In flachen Senken der Küsten wüste
dagegen, so 40 km n. von Lüderitzbucht, ist eine
recht ergiebige Wassermenge erschrotet worden.
Auch die Hochflächen des Distriktes Bethanien
sind wasserarm, nur in den Senken des Konkip
und des Ositeiles von Bethanien ist Wasser ge-
funden worden. Ebenso ist Warmbad infolge des
dort vorhandenen Urgesteins ungünstig. Erheblich
besser ist der Bezirk Keetmannshoop daran, in
dessen Nama- und Karrooschichten häufig, wenn
auch meist brackiges Wasser gefunden wurde.
Ähnliches gilt für Maltahöhe. Am besten ist der
Bezirk Gibeon gestellt, in welchem das ausgedehnte
Druckwassergebiet vorhanden ist. Aber auch
sonst ist hier Grundwasser in nicht zu großer
Tiefe in der weitverbreiteten Fischflußformation
anzutrefi'en. Stremme.
N. F. XVI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Das Holz, seine Bearbeitung und seine
Wendung. Von Josef G roßmann , Inspektor
der Lehrwerkstätten und Leiter der technolog.
Kurse für Holzbearbeitung in München. Mit
39 Originalabbildungen im Text. 473. Bd. der
Sammlung: ,,Aus Natur und Geistesweli".
B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1916.
Das vorliegende kleine Werk ist im wesent-
lichen eine Zu.-^ammenfassung der Darstellungen,
wie sie der Verf in seiner großen „Gewerbe-
kunde der Holzbearbeitung" (Teubner, Leipzig)
gibt, bearbeitet für Laien und solche Fachleute,
die im Nebenberuf mit Holz und seiner Verar-
beitung zu tun haben. In allen Dingen, die das
Technische betreffen, scheint der Verf. mit Glück
das Richtige getniffen zu haben. Die Darstellung
ist klar und verständlich für Jedermann und mit
Hilfe der einfachen und instruktiven Abbildungen
wird sich auch der Laie ein Bild von der Be-
arbeitung und Verwendung des Holzes machen
können.
Der botanische, dem Zweck des Buches ent-
sprechende kürzere Teil der Arbeit enthält manche
Schiefheiten und Fehler, die leicht hätten vermieden
werden können. Das Kambium eine schleimige,
schlüpfrige durchsichtige Masse zu nennen, die
bei starker Vergrößerung kleine Bläschen darstellt,
welche „meist" von einer zarten Haut, der Zell-
haut umschlossen sind, dürfte wohl keine ganz
richtige Vorstellung vom Kambium beim Leser
erwecken. Falsch ist z. B., was der Verfa'^ser von
den Markstrahlen sagt: „Durch die Markstrahlen
werden die von dem Kambium aus dem Erdboden
gelösten Nährstoffe und das Wasser in das Innere
des Holzkörpers mit großer Schnelligkeit fort-
geleitet; sie bilden also gleichsam ein vielver-
zweigtes Wasserleitungssystem." — Hin sehr lehr-
reiches Kapitel ist das 12., das sich mit den
wichtigsten in- und ausländischen Holzarten, ihren
Eigenschaften, ihrer technischen Verwendbarkeit
usw. befaßt. Den deutschen Baumnamen hätten
die botanischen Namen hinzugesetzt werden können,
und wenn auch die Herkunft mancher ausländischer
Holzarten strittig ist, so sollten doch die wahr-
scheinlichrichtigen Abstammungspflanzen angeführt
sein. Dadurch würde diese an sich sehr nützliche
Zusammenstellung sehr gewonnen haben.
Wächter.
Das Pflanzenreich. 66. Heft: Cucurbitaceae —
Fevilleae et Melothrieae. 14 M. — 67. Heft:
Saxifragaceae-Saxifraga I. Leipzig 1916. W.
Engelmann. 22,80 M.
Das erste Heft bringt auf l"]"] Seiten von den
fünf Unterabteilungen der Cucurbitaceen die
Fevilleae und Melothrieae in der Bearbeitung des
kürzlich verstorbenen ausgezeichneten belgischen
Systematikers A. C o g n i a u x. Hier wird z. B. auch
die hochkletternde Liane Macrozanonia macrocarpa
Bücherbesprechungen.
und seine Ver- behandelt, deren breitgeflügelte Samen aus den
dreiklappig- geöffneten , rundlich - glockenartigen
großen Früchten herausfallen und zu Boden
flattern. Die Gattung ist von Cogniaux von
Zanonia abgetrennt worden.
Das zweite Heft, noch stärker an Umfang (451 S.)
behandelt ausschließlich die Gattung Saxilraga und
stellt noch dazu erst den ersten Teil dar, dem ein
zweiter noch folgen wird. Engler, der Heraus-
geber des Riesenwerkes, beschreibt hier gemeinsam
mit seinem Schüler Irmscher 232 Arten des
Steinbrechs.
Jedes neuerscheinende Heft des stetig und
sicher voranschreitenden Werkes, das ohnegleichen
in der Well ist, erweckt von neuem ein berech-
tigtes Gefühl des Stolzes auf die deutsche Wissen-
schaft und gleichzeitig der Anerkennung der hohen
Verdienste der Preußischen Akademie der Wissen-
schaften, der Förderin des großen Unternehmens,
und nicht zum wenigsten der Leistungsfähigkeit
des hervorragenden Verlages. Miehe.
Rabenhorsts Kryptogamen-Flora. 6. Band.
Die Lebermoose. Mit vielen Textabbildungen
von Dr. K. Muller. 28. Lieferung (Schlußheft).
Leipzig, 1916. E. Kummer — 4M.
Mit dem vorliegenden Hefte erreicht der VI.
Band der Rabenhorst' sehen Kryptogamenflora,
der die Lebermoose Europas behandelt, seinen
Abschluß. Die Literatur der Lebermooskunde
ist damit um ein sehr wertvolles und unent-
behrliches Buch bereichert worden, auf das wir
hier besonders hinweisen möchten.
Der Verf, K. Müller, unternimmt am Ende
seiner mühevollen .Arbeit den interessanten und
zum ersten Male gewagten Versuch, die geo-
graphische Verbreitung der Lebermoose nach den
Richtpunkten darzustellen, welche die heutige
Pflanzengeographie aufgestellt hat. Ein solcher
Versuch ist sehr dankenswert, da bisher die
Pflanzrngeographie niederer und niederster Ge-
wächse ein noch sehr vernachlässigtes Gebiet war.
Bei ihnen spielt die Art der Verbreitungs-
möglichkeit eine wichtige Rolle. Überraschender-
weise kommt Verf zu dem Schlüsse, daß bei
Moosen und auch bei Farnen dem Transport der
Sporen und Gemmen durch Wind und Wasser
auf weitere Entfernungen keine Bedeutung zu-
gemessen werden könne, auch die Verbreitung
durch Vögel ist nur vereinzelt sichergestellt, so
z. B. bei Machantia polymorpha, die auf Spitz-
bergen nur an den Stellen sich finden, wo sich
Seevögel aufhalten. Der Mensch greift auch nur
gelegentlich ein; ihm ist z. B. die allgemeine
Verbreitung der Lunularia cruciata in Gewächs-
häusern zu danken. Die eigentlichen pflanzen-
geographischen Faktoren treten also reiner hervor,
als man erwarten konnte.
Verf unterscheidet nun zwischen gewissen, in
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
viele kleinere Arten auflösbaren Sammelarten und
formenstarren Arten, die gleichzeitig dadurch aus-
gezeichnet sind, daß sie fast alle zweihäusig, sehr
oft aber steril, ja sogar ohne Gemmen sind und
dicke Zellwände besitzen. Die letzeren, die eine
eigentümliche Verbreitung besitzen, hält er für sehr
alte Formen, Überbleibsel tertiärer Floren. Über die
ganze Welt verbreitet sind nur sehr wenige Leber-
moose, alles thallose Formen (Rebouha hemi-
sphaerica, Ricciocarpus natans,Targionia hypophylla
usw.); dagegen ist die Zahl der auf der ganzen nörd-
lichen Halbkugel vorkommenden Arten beträcht-
licher, doch sind davon häufig nur Marchantia
polymorpha, Fegatella conica, Scapania undulata,
Radula cauplanata. Die übrigen sind an bestimmte
Landstriche gebunden, wo sie meist zusammen-
hängende Gebiete besiedeln, seltener eingesprengt
sind. Zu den letzteren gehören gerade die Formen,
die als tertiär anzusehen sind und seither in ihrer
weiteren Entwicklung stillstanden. Sie bilden auch
gelegentlich Endemismen in Gebirgen. Dagegen
ist es merkwürdig, daß das holoarktische Element
unter den Lebermoosen im Unterschiede von den
Phanerogamen und auch den Laubmoosen viel
weniger reich in Untergruppen geschieden werden
kann, z. B. sich die für letztere so charakteristischen
Gebirgsendemismen hier nicht nachweisen lassen.
Verf. meint infolgedessen, daß seit den großen
Vereisungen eine Weiterentwicklung der Leber-
moose überhaupt nicht stattgefunden habe.
Es wird nun nacheinander das holoarktische,
das mediterrane und das tropische Element im
einzelnen geschildert, woran sich eine tabellarische
Übersicht der europäischen Lebermoose in anderen
Erdteilen sowie in einigen europäische Ländern
schließt. In einem Kapitel über die Höhenstufen
wird die vertikale Verbreitung in den Gebirgen
geschildert. Am höchsten steigen die Gymno-
miirien empor, die an nackten, aus den Schnee-
feldern herausragenden Felsspitzen noch gedeihen.
In dem ökologischen Teil macht sich, wie
übrigens so häufig bei pflanzengeographischen Er-
örterungen, der Mangel ausreichender experimentell-
physiologischer Daten und genauer biologischer
Beobachtungen bemerkbar, wenn auch der Verf.
seiher manche Beiträge dazu geliefert hat. Wie
anregend und für unsere allgemein-botanischen
Vorstellungen fruchtbar würde es sein, wenn die
die Sammler sich nicht begnügten, die Moose zu
trocknen, einzupacken und zu etikettieren, sondern
wenn sie dieselben besser beobachten, kultivieren
und mit ihnen planmäßige Versuche anstellen
würden 1 Schon das Anlegen kleiner Moosgärtchen
überall da, wo es der Wohnort gestattet, wäre
gewiß sehr verdienstlich. Es wird im einzelnen
der Einfluß von warmer Luft, Feuchtigkeit, Boden
auf die Lebensweise der Lebermoose dargestellt,
wobei sich Bemerkungen auch physiologisch-
anatomischer Art finden. Ob die Kammerung des
Thallus der Riccien, Marchantien, Exormotheken
allein einen Lichtschutz darstellt, scheint mir nicht
überall eine zwingende Annahme zu sein, eine
Bedeutung für den Gasaustausch unter durch
Trockenheit erschwerten Bedingungen wäre da-
neben auch zu erörtern. Unter dem Absatz über
die Beziehungen der Lebermoose zu anderen Lebe-
wesen, in dem auch die Symbiosen behandelt
werden, interessiert die große Widerstandskraft
der Lebermoose gegen pflanzliche und tierische
Parasiten sowie Tierfraß. Viele haben ätherische
Öle, andere schmecken außerdem noch bitter oder
scharf Der Einfluß des Bodens auf das Vor-
kommen der Lebermoose wird zum Schluß in
einer allerdings vorläufig nur topographisch-
statistischen Form erörtert. Miehe.
Die Asseln oder Isopoden Deutschlands von
Prof Dr. F r i e d r. D a h 1. Mit 107 Abbildungen
im Text. Jena IQ16, Verlag von Gustav Fischer.
— Broschiert 2,80 M.
Wie der Leitfaden zum Bestimmen der Vögel
Mitteleuropas nimmt auch dieses Buch eine
Sonderstellung unter den gebräuchlichen syste-
matischen Werken ein. Es ist aus dem gleichen
Bedürfnis entstanden wie jenes, ein leichtes und
zugleich sicheres Bestimmen der Tiere zu er-
möglichen. Jeder, der im Begriff' ist, sich in
eine neue Tiergruppe einzuarbeiten, hat die
Schwierigkeiten in der Beurteilung der Grad-
unterschiede, wie klein und groß usw. kennen
gelernt. Schon in seinem Vogelbuch hat Da hl
daher die Unterscheidungsmerkmale in absoluten
Zahlen gegeben , oder den Gegensatz durch
schematische Zeichnungen veranschaulicht. Um
die Sicherheit der Be>timmung zu erhöhen,
wurden auch gleichzeitig mehrere Merkmale an-
gegeben. Dieselben Gesichtspunkte hat Da hl
im neuen Buche angewandt. Entsprechend der
Kleinheit der Asseln benutzte er besonders solche
Merkmale, die am ganzen unterlegten Tier mit
einem Mikroskop, meist auch schon mit einer
guten Lupe leicht erkennbar sind, ferner Eigen-
schaften , die auch bei jüngeren Tieren fest-
gestellt werden können. Damit verzichtet er
darauf, so weit es geht, die Geschlechtscharaktere
zu benutzen.
Eine weitere Eigentümlichkeit, die die Dahl-
schen Bücher von ähnlichen unterscheidet, ist die
Tatsache, daß er die .Autornamen hinter den
Speziesnamen wegläßt. Dieses Verfahren ist um
so auffallender, als gerade in der gegenwärtigen
Zeit der Nomenklaturregeln der Autor für die
Beurteilung des Speziesbegnfi'es eine ausschlag-
gebende Rolle spielt. Dahl motiviert dies schon
im Vogelbuch damit, daß die Nomenklatur etwas
historisch Gewordenes sei, und daß an der klaren
Benennung einer Art zahlreiche Autoren, nicht
einer oder zwei mitgearbeitet haben. Meist sind
außerdem die Arbeiten der späteren Autoren viel
wichtiger als die des ursprünglichen Autors.
Diese Auffassung ist unbestreitbar richtig, Dahl
wäre aber entschieden anzugreifen, wenn er nicht,
was sehr zu begrüßen ist, statt des Autornamens
N. F. XVI. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
223
eine wichtige Literaturstelle, bisweilen auch zwei
oder drei dem Artnamen beigeben würde. Mit
Recht hält er dies für wichtiger und wissenschaft-
licher als die Anfügung der bloßen Autornamen,
da man oft nicht weiß, ob der Autor des Namens
die Art, die wir jetzt mit dem Namen benennen,
wirklich vor sich hatte. Außerdem ist derjenige,
der tiefer in den Stoff eindringen will, sotort in
den Stand gesetzt, sich an die richtige Quelle zu
wenden.
Wie schon der Titel sagt, werden im vor-
liegenden Buch nur die deutschen Arten berück-
sichtigt. Dabei sind allerdings auch die Tiere,
die sich in der Nähe der deutschen Küsten im
Meere finden , mit inbegriffen. Entsprechend
dem Zweck des Buches nimmt die Übersicht der
Gattungen und Arten den größten Raum ein.
Daran .schließt sich ein Kapitel über die geo-
graphische Verbreitung der Asseln in Deutschland
und die Art ihres Vorkommens. Hier werden
die Asseln zuerst nach ihrem Aufenthaltsort, d. h.
nach ihren Lebensbedingungen in einem Be-
stimmungsschlüssel übersichtlich geordnet. Die
Ausführungen über die chorologischen Faktoren
sind durch eine Verbreitungskarte der Landisopoden
erläutert. Kin Anhang behandelt die wichtigste
Literatur. Das Buch wird ebenso wie das Vogel-
buch ganz vorzügliche Dienste tun. Außer seinem
Wert als klares Besiimmungsbuch eröffnet es neue
Gebiete der Forschung durch den Hinweis auf
die ökologischen Verhältnisse. Stellwaag.
Anregungen und Antworten.
über die Flora der Wekien leilt B. Galli-Valerio in
Nr. I dieses Jahrganges interessante Einzelheiten mit. Das
klassische Gebiet der Überpflanzen auf Stumpfweiden ist die
flandrische Niederung in Belgien, besonders die „Veurne-
Ambacht" bei dem Polderstädichen Furnes, das ja häufig in
den Kriegsberichten genannt wurde. Vor acht Jahren hat
V. Gallemaerts in den Annalen der medizinisch -natur-
wissenschaftlichen Gesellschaft zu Brüssel eine eingehende
Untersuchung der Kopfweiden und ihrer Bewohner ver-
öffentlicht, in welcher er besonders das genannte Gebiet be-
rücksichtigt; daraus seien einige .Angaben mitgeteilt.
Die Gegend ist absolut flach und von unzähligen Kanälen
und Gräben durchflössen. An den Rändern dieser Wasser-
streifen werden seit ältester Zeit Weiden gezogen, die man
in wechselnden Zeitab^tändcn köpft, und welche der Land-
schalt einen ungemein charakteristischen Zug verleihen. Kreu«
und quer ziehen sich die Linien der Kopfbäumc und ver-
laufen am Horizonte; in der windgepeilschten Ebene kommt
anderer Baumwuchs nicht oder kaum auf, und auch die
Weiden würden unfehlbar fortgefegt, wenn man sie frei in
die Länge wachsen ließe. Manche Individuen sind mehr als
100 Jahre alt und über und über mit Flechten und Moosen
bedeckt. Die Köpfe der Weiden vermodern allmählich, und
der Wind setzt Siaub und Erde auf ihnen ab, so daß nach
gewisser Zeit Samen, die dort hineingeraten, auflaufen und
keimen wie im Blumentopf; das gibt dann die typische
Überflora der Stümpfe, deren Beobachlung in der eintönigen
Ebene viel Anregung bietet. Gallemaerts hat in der
Veurne-Ambacht 92 Arten von epiphytischen Gefäßpflanzen
gezählt, deren keine habituelle Überpflanze ist, d. h. gewohn-
heitsmäßig auf anderen Gewächsen horstet ; 9 Arten kommen
im Gebiete -nur auf Kopfweiden und nicht am Boden vor,
und das sind meist Baumarten, wie Eiche, Birke, Buche,
Ahorn, Eberesche, nebst zwei Farnkräutern.
Es finden sich außer den Weiden auch wohl einige ge-
köpfte Pappeln (P. monilifera), und ihre Überflanzen sind ge-
nau die gleichen wie für die Weiden, es besteht kein spezi-
fisches Verhältnis zwischen der Unterlage und dem«Epiphylen.
Desgleichen hat durch das Zusammenleben der beiden Ge-
wächse eine adaptative Umgestaltung weder am Epiphyten noch
an der besiedelten Pflanze siallgefunden, der Fall stellt nach
Schimper die erste Stufe dieses pflanzengeographischen
Vorkommens dar. Gallemaerts macht auch auf die häufig
sehr starke Verlängerung von Achsen und Blättern bei Über-
pflanzen aufmerksam. Im Gewirr der jungen Weidenblätter
herrscht im ersten Jahre des neuen Aus^chlagens großer Licht-
mangel, den die vorhandenen Überpflanzen durch Streckung
ihrer Organe entgegenarbeiten können. Die Blätter von
Gramineen wachsen oberhalb und unterhalb der Ligula über
die gewohnten Maße hinaus, bei Dactylis wurde sogar eine
Verlängerung um bo Prozent gemessen. Ein Stengel von
Dactylis brachte es auf anderthalb Meter, ebenso eine
Köpfchenröhre des Löwenzahnes.
Edm. J. Klein-Luxemburg.
Hörbarkeit des Kanonendonners. In der Nummer I der
Naiurw. Wochenschr. S. 16 wurde erwähnt, daß man in Unter-
ständen ferne Kanonaden besser hört als im Freien. Dies
wurde dort auf Leitung der Erde zurückgeführt. Dagegen
scheint mir folgendes zu sprechen: I. Einen Flieger hört man
im Unterstande weit eher als im Freien. 2. Schlägt eine
Granate ein, so hört oder fühlt man (besonders im Liegen)
im Unterstande einen dumpfen schwachen Schlag, dann erst
die Detonation. Die Zeitdauer ist abhängig von der Ent-
fernung des Einschlagis.
Ich gebe deshalb nur der Resonanz die Schuld ander
besseren Höibarbeit ferner Kanonaden.
Heine, Lt. d. Res.
Ein Leser fragt: „Wie kommen die Pfeiftöne zustande, die
man mit dem Munde erzeugt? Handelt es sich um bloße
Drosselung eines Luftstromrs, oder ist die Zunge daran be-
teiligt? Da auch zweistimmiges Pfeifen möglich ist — vor
etwa drei Jahren oder mehr stand in Pflüger's Archiv ein
Beitrag hierzu — ist auch die psychologische Seite der Frage
interessant. Mir selbst, so kann ich hinzufügen, sind einige
Personen bekannt, die zugleich Pfeiftöne mit den Lippen und
Summtöne mit dem Kehlkopfe hervorbringen können und
etwa zwei>timmige Musikstücke , auch zweistimmige Inven-
tioncn oder auch zwei völlig voneinander unabhäntige Musik-
stücke gleichzeitig vorführen." Vielleicht ist jemand aus dem
Leserkreise imstande, Auskunft zu erteilen.
Kant und Herder als Vorläufer Weismann' s.
Bei meinen btudicn über die Geschichte des Veretbungs-
problems traf ich in den Werken Kant 's und Herd er 's
auf An!.ichten, die Weismann's Lehre von der Nichtver-
erbbarkeit erworbener Eigenschalten vorausnehmen. Kant
versucht in seinen anthropologischen Schriften die Entstehung
der Abartungen, speziell der Rassen, nach teleologischen
Grundsätzen zu erklären. Er nimmt an, daß die Natur eine
Vorsorge zeigt, indem sie ihr Geschöpf durch versteckte
innere Vorkehrungen für allerlei künitige Umstände ausrüstet,
damit es sich erhalten könne und der Verschiedenheit des
Klimas oder des Bodens angemessen sei. Er führt zahlreiche
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i6
Beispiele für die Veränderungen an, die bei den Tieren unter
dem Einfluß des Klimas, der Nahrung und der Bodenbe-
schaffenheit hervorgerufen werden. Aber diese Faktoren sind
nach ihm nur Gelegenheitsursachen, die gewisse von .Anfang
an in den Organismen liegende Keime zur Entfaltung bringen
und andere Keime an der Ausbildung verhindern. Luft,
Sonne und Nahrung können einen tierischen Körper in seinem
Wachstum wohl modifizieren, aber diese Veränderung nicht
zugleich mit einer zeugenden Kraft versehen, die vermögend
wäre, sich selbst auch ohne diese Ursache wieder hervor-
zubringen, sondern was sich fortpflanzen soll, muß nach Kant
in der Zeugungskraft schon vorher gelegen haben, als vor-
herbestimmt zu einer gelegentlichen Auswickeluiig, den Um-
ständen gemäß, darein das Geschöpf geraten kann.
Aus diesem Grunde leugnet unser Philosoph die Ver-
erbbarkeit erworbener Eigenschaften. Er erinnert daran, daß
das Ausrupfen des Bartes ganzer Völkerschaften, das Stutzen
der Schwänze an englischen Pferden und die künstliche Ab-
plattung der Nasen bei neugeborenen Kindern keine erblichen
Veränderungen hervorrufen und alle gegenteiligen Behauptungen
nur durch Aufhaschung zufälliger Wahrnehmungen bewiesen
werden können und gar kein Experiment verstatten. ,,Ich
nehme es mir zum Grundsatz'', schreibt er, ,,gar kein Ver-
mögen des Menschen, durch äußere Künstelei Abänderungen
in dem alten Original der Gattungen und Arten zu bewirken,
solche in die Zeagungskraft zu bringen und erblich zu machen,
gelten zu lassen."
Nur was als Keim oder Anlage von Anfang an vor-
handen ist, kann sich somit nach Kant vererben, und die
erblichen Veränderungen der Organismen unter dem Einfluß
neuer E.\istenzbedingungen werden nur durch die Auswickelung
dieser vorhandenen Anlagen möglich. So liegen in den Vögeln
derselben Art, die in verschiedenen Klimaien leben sollen,
Keime zur Auswickelung einer neuen Schicht federn, wenn
sie in kalten Klimaten leben, die aber zurückgehallen werden,
wenn sie sich im gemäßigten Klima aufhalten sollen. Im
Weizenkorn liegt eine voiher bestimmte natürliche Anlage,
nach und nach eine dickere Haut hervorzubringen, weil es in
einem kalten Land mehr gegen feuchte Hitze geschützt werden
muß als in einem trockenen und warmen. Der Mensch war
für alle Klimate bestimmt und für jede Beschaffenheit des
Bodens, daher lagen in seiner Slammgattung mancherlei Keime
und natürliche Anlagen bereit, um gelegentlich ausgewickelt
oder zurückgehalten zu werden.
Was bei Kant die inneren verborgenen Anlagen sind,
ist bei Herder die genetische Kraft, der das Klima feindlich
oder freundlich nur zuwitkt. Nur solche Veränderungen, die
durch die innere genetische Lebenskraft bedingt sind, können
vererbt werden. Herder leugnet daher die Vererbung künst-
licher Verletzungen und Verslümmelungen des Körpers.
„Jahrhundertelang", schreibt er, ,, haben Nationen ihre Köpfe
geformt, ihre Nasen durchbohrt, ihre Füße gezwungen, ihre
Ohren verlängert ; die Naiur blieb auf ihrem Wege, und wenn
sie eine Zeitlang folgen, wenn sie den verzerrten Gliedern
Säfte zuführen mußte, wohin sie nicht wollte: sobald sie
konnte, ging sie ins Freie wieder und vollendete ihrm voll-
kommenen Typus. Ganz anders, sobald die Mißbildung gene-
tisch war und auf Wegen der Natur wirkte; hier vcrfrbten
sich Mißbildungen, selbst an einzelnen Gliedern." Herder
unterscheidet also hier scharf zwischen erworbenen und an-
geborenen Eigenschaften bezüglich ihrer Vererbbarkeit, zwischen
dem, was wir jetzt somatogene und blastogene Veränderungen
nennen.
Das hindert ihn jedoch nicht, an einer anderen Stelle
seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte" Gedanken zu
entwickeln , die wir heute als lamarckistische bezeichnen
würden. Er wirft die Frage nach den Ursachen der Kalmücken-
und Mongülenbildung auf und denkt an die Möglichkeit einer
Beeinflussung durch die Lebensweise, wenn er schreibt: „Die
gebogenen Kniee und Beine finden am ersten ihren Grund in
der Lebensweise des Volkes. Von Kindheit auf rutschen sie
auf ihren Beinen oder hangen auf dem Pferde; in Sitzen oder
Reiten teilt sich ihr Leben. . . . Sollte nun nicht auch mehreres
von ihrer Lebensart in ihre Bildung übergegangen sein? Das
absiehende, tierische Ohr, das gleichsam immer lauscht und
horchet, das kleine, scharfe Auge, das in der weitesten Ferne
den kleinsten R.iuch oder Staub gewahr wird, der weiße,
hcrvorbläckende, knochenbenagende Zahn, der dicke Hals
und die zurückgebogene Stellung ihres Kopfes auf demselben ;
sind diese Züge nicht gleichsam zur Bestandheit gediehene
Gebärden und Charaktere ihrer Lebensweise? . . . Sollte es
nicht wahrscheinlich sein, daß vor Jahrtausenden schon, da
vielleicht einige dieser Ursachen noch viel stärker wirkten,
eben hieraus ihre Bildung entstanden und zur erblichen Natur
übergegangen wäre?"
Hier ist die Möglichkeit einer Vererbung von Gebrauchs-
wirkungen klar ausgesprochen. Doch behauptet Herder
diese Vererbung nicht dogmatisch, sondern wirft nur eine
Frage auf. Wie sein Lehrer Kant, war er sich bereits der
Schwierigkeiten bewußt, die ihrer entschiedenen Beantwortung
gegenüberstehen. Walther May.
Druckfehlerberichtigung.
Im Artikel Farbenvariationen von Helix nemoralis muß
uf S. 121, Spalte b, Zeile 37 von oben heißen Sehn irk ei-
necke statt Zirkelschnecke.
Literatur.
Programme für geobotanische Arbeiten, im Auftrage der
Schweizerischen Pflanzengeographischen Kommission verfaßt
von E. Rubel, C. Schröter, H. Broc kraann- Jerosch.
Zürich '16, Rascher & Co. — I Fr.
Marbe, A. , Die Siedelungen des Kaiserstuhlgebirges.
5. Heft der Abhandlungen zur badischen Landeskunde. Karls-
ruhe i. B. '16, G. Braun. — 2.40 M.
Junk, W., Bibliographia Botanicae Supplementum. Berlin
■16, W. Junk.
Killermann, Prof. Dr. S., Die Blumen des heiligen
Landes. Mit einer Bestimmungstabelle sowie 5 Tafeln und
60 Abbildungen im Text. Leipzig '16, J. C. Heinrichs. — 6 M.
Eng. Warming's Lehrbuch der ökologischen Pflanzen-
geographie. 3. umgearbeitete Auflage von E. Warming und
P. Graebner, 2.— 4. Lieferung (Bogen 6— 40). Berlin '15/16,
Gebr. Bornträger. — 30,80 M.
Heim, A., Geologie der Schweiz. Lieferung 2. Leipzig
'16, Chr. H. Tauchniiz. — 6 M.
Beiträge zur Kenntnis der Land- und Süßwasserfauna
Deutsch-Südwcstafrikas, herausgegeben von W. Michaelsen.
Lieferung 4. (Nematodes, Hymenoptera V.) Hamburg '16,
L. Kriedrichsen »S: Co. — 5 M.
Inhalt; Emil Lenk, Stützgewebe und Integumente der Tiere. S. 209. R. Kräusel, Zur Bestimmung fossiler Blatt-
abdrücke. (9 Abb.) S. 214. — Einzelbeiichte Metz, Chromosi.mengarnituren in der Gattung Drosophila. (I Abb.)
S. 217. Bernhard Dürken, Zur Karbenwirkung auf Schmetlerlmgspuppen. (2 Abb.) S. 219. Paul Range, Die
Grund Wasser Verhältnisse im Namalande, Deutsch-Südwestafnka. S. 2 20. — Bücherbesprechungen: Josef Großmann,
Das Holz. S. 221. Das Pflanz, nreich. S. 221. Rabenhorsts Kryptogamenflora, Die Lebermoose. S. 221. Friedr. Dahl,
Die Asseln oder I^opoden Deutschlands. S. 222. — Anregungen und Antworten: Über die Flora der Weiden. S. 223.
Hörbarkeit des Kanonendonners. S. 223. Wie kommen die Pfriftöne zustande, die man mit dem Munde erzeugt? S. 223.
Kant und Herder als Vorläufer Weismann's. S. 223. Druckfehlerberichtigung: Farbenvariationen von Helix nemoralis.
S. 224. — Literatur: Liste S. 224.
Ma
jskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 29. April 1917.
Nummer 17.
Zur mathematischen Behandlung des Inzuchtgrades.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Fr. Bretschneider, Stuttgart.
In der Naturw. Wochenschrift 191 7, Nr. 6,
S- 73 — 78 führt uns J. Kfizenecky eine von
Pearl aufgestellte Formel zur mathematischen Be-
stimmung des Inzuchtgrades vor und bringt zu-
gleich eine offensichtliche Verbesserung an jener
Formel an, indem er nicht nur die einzelne
Generation, sondern den ganzen Stammbaum be-
rücksichtigt. Beide Formeln haben deri Vorzug
großer Einfachheit. Doch wird wohl manchem
Leser aufgefallen sein, daß sie auch noch ziem-
liche Mängel aufweisen und für manche Fälle das
Verhältnis nicht richtig ausdrücken. Dies zu zeigen
und eine genauere, allerdings auch kompliziertere
Methode anzugeben, sei im folgenden versucht.
Wir nehmen Inzucht nicht für gegeben an bei
bloßer Verwandtschaft durch gleiche Abstammung,
sondern erst bei Kopulation verwandter Individuen,
d. h. erst wenn die beiden kopulierenden Indi-
viduen in ihrem Stammbaum einen oder mehrere
gleiche Ahnen haben; wir können auch sagen,
wenn bei der Zeugung ein gewisser Teil der zu-
sammentreffenden Erbwerte gleichen Ursprungs
ist. In Stammbaum 4 beginnt also die Inzucht
erst mit der Kopulation von a und b und der Zeugung
des Individuums x. Es ist daher nicht wörtlich
zu nehmen, wenn Krizenecky S. 73 in Hinsicht
auf die notwendige Inzucht innerhalb der Menschheit
sagt, daß zur Vermeidung von Inzucht aus jeder
Ehe nur ein Kind entpringen dürfte, vielmehr
können beliebig viele Kinder erzeugt werden;
freilich wird es diesen dann bald unmöglich
werden, Ehegatten zu finden, die nicht Inzucht
bedingen. Wäre z. B. ursprünglich nur ein Eltern-
paar mit 10 Kinder vorhanden, so müßten diese
unter sich kopulieren und bereits die 2. Deszen-
dentgeneration wäre Inzuchlsprodukt. Bei 2 Eltern-
paaren mit je 10 Kindern könnten diese 20 Nach-
kommen gegenseitig kopulieren und so 100 inzuchts-
freie Kinderzeugen, dann aber wäre in der 3. Gene-
ration Inzucht nötig. Bei 4, 8, 16 . . . Elternpaaren
wären looo, loooo, looooo . . . inzuchtsfreie Des-
zendenten möglich und das notwendige Eintreten
der Inzucht würde sich in die 4., 5., 6., ... Genera-
tion verschieben. Mit der Entfernung von den ge-
meinsamen Voreltern nimmt aber wie der Grad der
Verwandtschaft, so auch der Inzuchtsgrad rasch
ab. So zeigen diese Zahlen, daß wir die not-
wendige Inzucht innerhalb der Menschheit in
ihrer Wirkung nicht hoch veranschlagen dürfen.
Praktisch kommen für die Bestimmung des
Inzuchtgrades in Betracht die 5—10 ersten Ahnen-
generaiionen des Individuums, dessen Inzucht-
grad festzustellen ist. Die Zahl der benützten
Generationen stellt den Genauigkeitsgrad der Be-
stimmung dar; man muß daher jedem Inzuchts-
koeffizienten die Zahl der Ahnengenerationen bei-
setzen, für die er bestimmt wurde. Zum Ver-
gleich zweier Individuen muß der Koeffizient in
bezug auf die gleiche Ahnengeneration fest-
gestellt werden. Wir können somit die von
Krizenecky S. 76 für das Pferd Postumus und
die Kuh Beß Weaver festgestellten Koeffizienten
nicht unmittelbar vergleichen, da beim Pferd 5,
bei der Kuh nur 4 Generationen in Betracht ge-
zogen sind. Ziehen wir auch beim Pferd nur
4 Generationen herbei, so ermäßigt sich der schon
vorher kleine Wert noch mehr.
UmnundieBrauchbarkeitdergenanntenFormeln
zu erproben, betrachten wir zuerst einen einfachen
Stammbaum mit geringer Inzucht: Stammbaum i.
Pearl Krizenecky j Bretschneider
ab cd cf ab ^3 25' 21,43 6,25
g h i g j 2 25 1 16,66 6,25
Stammbaum I.
Ist nur die i. .Ahnengeneration bekannt, so ist
der Inzuchtskoeffizient natürlich = o. Bei Be-
trachtung der 2. Generation ergibt sich nach Pearl
I oder 25 ",'0, nach Krizenecky^ oder 16,66 "/g.
Durch Hinzufügen der dritten Generation tritt
nun offensichtlich keine weitere Inzucht ein, nach
Pearl ergibt sich wirklich auch wieder 25, nach
Krizenecky jedoch f\ oder 21,43. Für jede
weitere Generation gibt — bei sonst inzuchtfreiem
Stammbaum — Pearl konstant 25 "j,, Krize-
necky für die 4. y^ oder 23,33, für die 5. ^|
oder 24,2, für die 6. j\'^ oder 24,5. Die Werte
Krizenecky 's folgen aus der Formel —^-^ ,
wo n die Generationszahl ist. Dieser Wert strebt
mit steigendem n dem Grenzwert \ oder 25 "/„
zu, also dem Wert, den Pearl schon immer er-
gab. Wo liegt der F'ehler bei Krizenecky? Er
liegt darin, daß k und I je den Erbwert - in sich
enthalten, so daß es logischerweise bei Berech-
nung des Koeffizienten der 2. Generation st^tt
^ vielmehr '-^^ heißen müßte, was den richtigen
Wert 25 "/o ergeben würde. Dies müßte daher
bei der Benutzung der Kr i z e n ecky 'sehen Formel
für solche Fälle berücksichtigt werden. Zugleich
zeigt dieser Fall, daß bei der Bestimmung des
Inzuchtkoeffizienten die Voraussetzung gemacht
wird, daß in den früheren, nicht zur Berechnung
236
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 17
benützten Generationen keine weitere Inzucht
vorliegt. Diese an und für sich, wie oben ge-
zeigt wurde, falsche Annahme darf aber ruhig
gemacht werden, da wir diese unbekannten
Inzuchtsfakioren aus zwei Gründen praktisch ver-
nachlässigen dürfen: i. weil wir sie für alle ver-
glichenen Fälle als gleich annehmen dürfen,
2. weil die weit zurückliegenden Faktoren nur
eine geringe Wirkung auf den Koeffizienten aus-
üben. Wie dies geschieht, zeigt uns Stammbaum 2,
der von Krizenecky S. 74 als erstes Beispiel
angegeben wird:
gh
gh
Pearl
4
87,5
3
75
2
50
'
°
Krizenecky
73,33
57.14
33.33
Bretschne
37,5
25
12,5
Stammbaum 2.
Die Werte der Inzuchtkoeffizienten sind für
die einzelnen Generationen je nach den ver-
schiedenen IVlethoden bestimmt beigefügt. Auch
hier sind die Krizenecky'schen Werte mit dem
gleichen Fehler behaftet wie in Stammbaum i.
Bei Stammbaum 2 zeigt sich bei Hinzunahme
jeder weiteren Generation, daß die Inzucht konse-
quent forlgesetzt wurde, daher vergrößert sich
der Koeffizient jedesmal, aber um immer kleinere
Beträge, um mit wachsendem n einem Grenzwert
zuzustreben. Dieser Wert ist bei Pearl, wie er-
sichtlich, loo^/n. Bei Berechnung des Pearl 'sehen
Wertes für eine frühere Generation, z. B. die 4.,
ist es gleichgültig, ob innerhalb späterer Genera-
tionen, in dem genannten Beispiel der 3. u. 2.,
auch wieder Inzucht auftritt oder nicht. Wenn
also in Stammbaum 2 in der 2. u. 3. Generation
keine Wiederholung von e, f. u. c, d eintreten
würde, welchen F'all ich in Stammbaum 3 vor-
führe, so würde trotzdem die Fear l'sche Methode
hinsichtlich der 4. Generation den Wert 87,5 bei-
behalten, obgleich die Inzucht augenscheinlich in
Fall 3 sehr viel geringer ist wie in Fall 2. Es
ergibt sich, daß Pearl den Fehler macht, daß er
nur eine Generation berücksichtigt, statt den
ganzen Stammbaum, welchen Fehler Krizenecky
sehr richtig erkannt hat. So kommt es, daß hier
die Krizenecky 'sehe Methode ein besseres Re-
sultat gibt, denn bei Stammbaum 3 ermäßigt sich
f
gh gh
\/ \ ^
i k
d
gh gh
\/ \/
1 m
P
gh
n
Y
Pearl
87,5
0
c
b
0
a
0
Stammbaum 1.
der Inzuchtskoeffizient nach Krizenecky auf ^^
oder 46,66 "/„ gegenüber 73,3 für Stammbaum 2.
Dieser Wert ist aber seinerseits mit dem früher
erwähnten Fehler behaftet, denn durch Herbei-
ziehen der 5. Generation unter Vermeidung
weiterer Inzucht (Eltern von g z. B. o u. p, von
h m u. n) erhöht sich der Wert 46,66 auf 67,7 usw.
Trotzdem beweist dieser Fall klar, daß im all-
gemeinen die Krizenecky 'sehe Methode besser
ist als die Pearl'sche. Dies zeigt am besten die
extreme Annahme, daß wir alle von 2 Stamm-
eltern abstammen. Dann würde nach Pearl, da
die Zahl der Generationen sehr groß ist, unser
aller Inzuchtskoeffizient nahezu 100% betragen,
wobei es gleichgültig wäre, ob wir unsere Ge-
schwister oder fremde Personen heiraten würden.^)
Nach der Krizenecky'schen Methode würde der-
selbe selbst für den günstigsten , praktisch un-
möglichen Fall, daß in späteren Generationen
keine weitere Inzucht mehr eintreten würde, sich
auf etwa 50 ermäßigen, denn die Individuensumme
von n Generationen ist nur um 2 kleiner wie die
der (n-|- I)- Generation.
Unsere seitherigen Betrachtungen haben zum
Ergebnis: i. ist bei der Bestimmung des Inzucht-
koeffizierten der ganze vorliegende Stammbaum
zu berücksichtigen (für die nicht zugänglichen
früheren Generationen wird die Annahme gemacht,
daß sie keine weitere Inzucht enthalten); 2. dürfen
die Formeln nicht zu so extremen Beispielen wie
das eben angeführte verwendet werden; diese sind
ja auch mehr Spielereien, während für die Praxis
die Bestimmung des Wertes für die Generationen
der jüngsten Vergangenheit genügt; die weit
zurückliegenden Inzuchlfaktoren können vernach-
lässigt werden; 3. zeigt uns doch der übermäßig
hohe Wert, den der Koeffizient für den extremen
Fall, sowie für den Fall des Stammbaums 3 im
Vergleich zu Stammbaum 2 annimmt, daß hier
noch ein Faktor unberücksichtigt ist, der stark
ins Gewicht fällt. Es ist dies die Tatsaehe, daß
die Inzucht desto geringere Wirksamkeit zeigt, je
größer der Generationsabstand ist, der die Inzucht
bedingenden Aszendenten von dem Individuum
trennt, bei dem die Inzucht erstmals wirksam wird.
Das letztere Individuum ist jedoch nicht immer
mit demjenigen identisch, für das der Koeffizient
bestimmt werden soll. Dies zeigt deutlich der
') Es ist leicht einzusehen, daß dieser hohe Wert nur
für konsequente Geschwisterehe stimmen würde.
N. F. XVI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
227
Vergleich von Stammbaum 4 und 5. Man könnte
diesen Faktor, der offenbar von der Zeit und der
Zahl der Zeugungen abhängt, den Tilgungsfaktor
der Inzucht nennen. Wie groß sollen wir diesen
veranschlagen? Die exakte Antwort hierauf könnte
nur die Vererbiingsforschung geben, doch ist diese
heute noch weit davon entfernt, quantitative Größen
dieser Art festzulegen '). Man muß dabei vorerst
mit den dem Stammbaum entnommenen Größen
arbeiten. Ich habe im folgenden als Tilgungs-
faktor für die i., 2., 3. . . . n. Generation
^, |, ^ . . . ^ benutzt, also den reziproken Wert
der Aszendentenitahl der betreffenden Generation.
Das Hypothetische dieser Annahme ist mir wohl be-
wußt, doch habe ich mich an einer großen Zahl
von Stammbaumvariationen überzeugt, daß da-
durch der Inzuchtgrad in viel deutlicherer Weise
sich ausdrücken läßt als durch obige Methoden.
Ein Vergleich von Stammbaum 4 und 5 zeigt
gh
Stammbaum 4.
i k i k g h Im
cd e f
a 12,5 b o
Stammbaum 5.
auffällig, daß nicht nur der Generationsabstand
der sich wiederholenden Ahnen (i k) von dem
Individuum x in Betracht zu ziehen ist, sondern
auch die Zeit der Vereinigung der Erbwerte dieser
Ahnen.
Nach den Methoden von Pearl und Krize-
iiecky kommt der Unterschied von Stammbaum
4 und 5 im Inzuchtskoeffizienten nicht zum Aus-
druck. Und doch zeigt die Praxis, daß die In-
zucht bei Geschwisterehe (Fall 5) ganz anders
hervortritt wie bei Geschwisterkinderehe (Fall 4).
Die Vereinigung der die Inzucht bedingenden Erb-
einheiten tritt im P^all 5 eine Generation früher
ein als im Fall 4. Daher haben a und b im Fall 4
noch beide den Koeffizienten o, im Fall 5 hat nur
b O, für a ergibt sich nach unserer Methode
■j-i = i oder 12,5 (Berechnung: ^ bedeutet die
Wiederholung der Großeltern i k von a analog
den beiden anderen Methoden, | ist der Tilgungs-
faktor für die 2. Generation). Da b inzuchtfrei
ist, so ermäßigt sich der Wert der Koeffizienten
für X im Fall 5 auf 6,25. Im Fall 4 tritt die In-
zucht erst bei x auf, es ergibt sich als Koeffizient
|-i = -sV oder 3,12.
Für den Stammbaum i ergibt sich nach
unserer Methode hinsichtlich der 2. Generation'),
wo g 2 mal auftritt, ^-1^^,^ oder 6,25. Die
nach dieser Methode bestimmten Koeffizienten ver-
halten sich beim Vergleich von Geschwisterkinderehe
(Fall 4 mit 3,12) mit Stiefgeschwisterehe (Fall i
mit 6,25) und Geschwisterehe (Fall 5 a mit 12,5)
wie 1:2:4, während derselbe Vergleich bei
Pearl 1:1:2 (25:25:50), bei Krizenecky
14,3 : 16,66: 33,33 ergibt. Für diese einfachen Fälle
dürfte somit die Überlegenheit unserer Methode
klarliegen.
VVir wollen jetzt den Inzuchtgrad von Fall
4 und 5 allmählich steigern und sehen, wie sich
das im Koeffizienten von x äußert. Setzen wir
in 5 an Stelle von g h auch i k, so kommt für x
ein neuer Koeffizient hinzu, der analog Fall 4 sich
auf 3,12 berechnet; dann wird der Gesamtkoef-
fizient für X 6,25 "4- 3,12 ^ 9,37. Setzen wir je-
doch in 5 an Stelle von g h nun 1 m, so tritt die
Wirkung bereits eine Generation früher auf, b
erhält den Koeffizienten 12,5 wie a und damit auch
X. Noch größer wird offenbar die Inzucht, wenn
wir in 4 u. 5 g h u. 1 m gleichzeitig durch i k er-
setzen: auch dann haben a u. b je 12,5, somit
auch X 12,5; es tritt aber bei der Vereinigung
von a b noch der neue Faktor hinzu, daß i k in
der 3. Generation nun 4 mal auftritt, was sich
zu -^ -If = j'jj oder 6,25 berechnet; damit ergibt
sich für X 12,5 + 6,15 = 18,75.
3,12
0,25
■2,5
Stammbaum 6.
Kommt zum letzteren Fall noch die Wieder-
holung eines Individuums, z. B. c, in der 2. Gene-
ration, wie es Stammbaum 6 darstellt, so erhöht
sich die Inzucht aufs neue durch Stiefgeschwister-
ehe und es ergibt sich für c analog Fall 1 der
Wert 6,25. Nun ist aber mit diesem Wert für
c auch schon dessen Elternpaar i k erledigt, wir
dürfen daher für die 3. Generation nicht mehr
wie im letzten Fall 6,25 in Anschlag bringen,
sondern nur noch für i k als Eltern von e 3,12. So
ergibt sich im F"all 6 für X 12,5+6,25-1-3.12 = 21,87.
Wird nun endlich in 6 statt e noch d gesetzt
(oder umgekehrt), so ist der höchste Grad erreicht.
für die 2. Generation ergibt sich
oder
') Man könnte an eine Beziehung zur Chromosomenzahl
denken. Soweit mir die Literatur zugänglich war — infolge
Kriegsdienstes im 3. Jahr leider nicht viel — konnte ich keine
Anhaltspunkte finden.
') Man muß sich hier hüten , den Koeffizienten für die
-^. Generation zu bestimmen, da diese keine weitere Inzucht
mit sich bringt. Noch weniger darf man etwa einen so be-
stimmten Wert dem der 2. Generation additiv hinzufügen.
Bei Bestimmung des Koeffizienten für die 3. Generation
-|-^=-j'j oder 3,12 macht man die .'\nnahme, daß in der
2. Generation statt dem einen der g ein anderer nicht im
Stammbaum vorkommender Buchstabe, etwa m, stünde.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 17
b iS,75
0,78
i,S6
6,25
'8,75
12,5; die 3. Generation bringt dann nichts Neues
mehr, somit für x 12,5 + 12,5 = 25. Dieser letzte
Fall ist auch in Stammbaum 2 enthalten, wo die
Inzucht noch um eine Generation weitergeführt
ist, so daß sich dann für x 37,5 ergibt.
Wir betrachten noch rascii den zusammen-
gesetzten Fall 7. Bereits in der 2. Generation
sind c, d u. e durch Geschwisterehe (analog Fall 5)
mit 12,5 belastet. Für a u. b in der i. Generation
kommt zu diesen 12,5 je noch die Wirkung ge-
meinsamer Urgroßeltern mit 6,25 hinzu, somit
haben a u. b je 18,75, was auch x übernimmt.
Für X kommen noch 3 weitere Faktoren hinzu ;
I. die Wirkung von c in der 2. Generation (ana-
log Fall i) mit 6,25, 2. die Wirkung von i in
der 3. Generation mit ^--^ oder 1,56, 3. die Wir-
kung von mn als Eltern von k u. h mit yV-^V
oder 0,78 (die übrigen m n sind schon in den vor-
herigen Faktoren entlialten). So ergibt sich als
Summe für x der Koeffizient 27,34. Vergleichen
kann man dies Resultat, da für die 4. Generation
berechnet, nur mit Fall 2, wo bei ähnlichem Stamm-
baum durch weitere Steigerung der Inzucht sich
37,5 ergab.
Wir haben uns bisher auf Fälle mit Wieder-
holung eines Individuums nur in derselben Gene-
ration beschränkt. Die Berechnung von Fällen
mit Wiederholung eines Aszendenten in mehreren
Generationen zeigt der einfachste Fall, Stamm-
baum 8. Nach den IVIethoden von Pearl und
Stammbaum 8.
Krizenecky würde sich für Fall 8 derselbe
Koeffizient ergeben wie für Fall i, nämlich 25,
bzw. 16,66, während doch bei Fall 8 die Inzucht
viel größer ist wie bei Fall i '). Wäre a beide-
mal in der 2. Generation, so erhielten wir nach
unserer Methode analog Fall i 6,25, wäre a in
der I. Generation doppelt (Selbstbefruchtung), so
wäre der Koeffizient ^-^ oder 25. Wir vermuten
daher für Fall 8 den Mittelwert "^-"^---^ = 15,62.
Dies ist auch richtig, denn von a als Großvater
kommt auf x unter Berücksichtigung des Tilgungs-
faktors ^-^ = 3*^, von a als Vater j-^ = j\ an
') Das Strafgesetzbuch stellt die Kopulation zwischen
Vater und Tochter, bzw. Mutter und Sohn als schwere Blut-
schande, der Kopulation zwischen Stiefgeschwistern und Ge-
schwistern als gewöhnlicher Blutschande gegenüber,
Erbwerten. Folglich wird der Koeffizient für x
j^g:2 oder i|^ = 15,6. Unsere Methode bewertet
also wohl mit Recht die Copulation zwischen
Vater und Tochter, bzw. Mutter und Sohn noch
etwas höher als die Geschwisterehe^). Ich ver-
zichte auf Anführung weiterer Fälle dieser Art,
die sich in ähnlicher Weise komplizieren lassen
wie oben. Für den von Krizenecky auf S. 74
unten gegebenen Stammbaum mit theoretisch ge-
steigerter sehr intensiver Inzucht berechnet sich
der Koeffizient auf den hohen Wert 45,9. Er-
wähnt sei noch, daß unsere Methode auch für
Selbstbefruchtung brauchbare, natürlich ent-
sprechend höhere Werte ergibt, während hier
die beiden anderen Methoden noch mehr ver-
sagen.
Auf S. yj gibt Krizenecky den Stamm-
baum der Kuh Beß Weaver bis in die 4. Gene-
ration. Ihr Koeffizient hinsichtlich dieser Gene-
ration berechnet sich folgendermaßen : Kate
Weaver in der 2. Generation ist durch Balm
analog Fall 8 mit 15,62 belastet, davon kommt
^ 3,9. Davy Stoke Pogis ist noch
auf Beß
inzuchtfrei. Für Beß kommen noch zwei weitere
Irizuchtfaktoren hinzu: i. durch Siseras Stoke Pogis
in der 2. Generation analog Fall i 6,25. 2.
durch Patrick Fawkes in der 3. u. 4. Genera-
tion 0,98. So ergibt sich für Beß der Koeffizient
3,9 -f 6,25 +0,98 = 11,13.
Das Pferd Postumus hat einen viel reineren
Stammbaum (S. 76). Berechnung für die 5. Gene-
ration : Thormanby und Voltaire kommen in der
2. Generation zur Geltung, d. h. Orvieto und
Galopin haben je den Koeffizienten 1,56. Davon
kommt auf Postumus zusammen nur 0,78. Stock-
well belastet Ponton mit 0,39, gibt für Postumus
0,39+1.56
Vedette endlich gibt
0,98.
Somit der Endwert für Postumus 0,78-f 0,2-j-0,98
= 1,96, also ein der Reinheit des Stamm-
baums entsprechend geringer Wert. Wir sehen,
daß die Berechnung solcher Stammbäume gar nicht
so umständlich ist, wie es anfangs scheint,
da dieselben Werte immer wiederkehren und,
einmal berechnet, künftig nur eingesetzt werden
dürfen. Man kann sich eine kleine Tabelle an-
legen und daraus die Werte nach Bedarf ent-
nehmen. Ich bin mir wohl bewußt, daß auch diese
Methode noch ihre Mängel hat'), doch dürfte sich
') In der additiven Zusamnienfügung der Koeffizienten
egt ein Mangel , der bei künstlichem Aufbau von Stamm-
X. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
229
der Leser überzeugt haben, daß sie theoretisch
und praktisch den beiden anderen überlegen ist.
Zum Schluß gebe ich in Stammbaum 9 den-
jenigen einer mir bekannten Person wieder, um
zu zeigen, wie auch in der menschhchen Familien-
forschung die Inzucht gemessen werden kann.
Es sind nur die Inzucht bedingenden Ahnen auf-
geführt. Der Koeffizient beträgt für c 3,12, für a
1,56, bleibt für x 0,78, wozu von m n her nochmals
0,78 kommt. Somit ist der Inzuchtkoeffizient von
X hinsichtlich der 5. Generation 1,56, also noch
etwas niedriger als der des Pferdes Postumus.
Da der Krieg die Fragen der menschlichen
Rassenhygiene in den Vordergrund des Interesses
bäumen mit höchstmöglicher Inzucht durch viele Generationen
hindurch zutage tritt. Wird die konsequente Geschwisterehe
wie bei Fall 2 noch durch weitere Generationen fortgesetzt,
so ergibt sich hinsichtlich der 10. Generation der Koellizient 100.
Theoretisch ist dies zu viel, praktisch aber wird dagegen
nichts einzuwenden sein, da ein solch e-Ntremer Fall nie vor-
kommen wird. Wollte man auch diese F'älle mit lange Zeit
hindurch extrem gesteigerter Inzucht mit Zahlen unter 100
bezeichnen, so würde dadurch der Wert für die praktisch
vorkommenden Fälle mit mäßiger Inzucht so herabgedrückt,
daß seine Hrauchbarkeit in Frage käme. So, denke ich, hält
unsere Methode einen gangbaren Mittelweg inne.
gerückt hat, wird man vielleicht auch der Inzucht
neue Aufmerksamkeit widmen. Jedenfalls wird
der Wert der Familienforschung aufs Neue betont
werden. Schallmayer hat mit Recht darauf
hingewiesen, daß wir in dieser Hinsicht von den
Chinesen lernen können, die in ihrem Ahnenkultus
Stammbaum 9.
einen Faktor von hohem rassehygienischem Wert
besitzen. .\uch bei uns sollte es populär werden,
seinem Stammbaum und seiner Familie seine be-
sondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, an ihre Er-
haltung und Verbesserung nach rassehygienischen
Grundsätzen sein persönliches Interesse zu knüpfen.
A'it,aiiiiiie.
Von Dr. F. Schill
[Nachdruck verboten.)
Die Bewertung der Nahrungsmittel hat im
Laufe der letzten Jahrzehnte mannigfaltig ge-
wechselt, je nachdem sich die wissenschafi liehen
Ansichten änderten und man den zeitgemäßen
Fortschritten Rechnung tragen mußte. Seit
V. Lieb ig unterschied man zunächst respira-
torische, Wärme produzierende und plastische
Nutrimcnte, die entweder die Aufgabe erfüllten,
dem Organismus des Warmblüters die erforder-
liche Wärme zu liefern oder zur Neubildung der
lebenswichtigen Organe, als Ersatz des Verbrauches,
und zum Wachstum zu dienen. Während der
Kaltblüter weniger lebhaften Oxydations- oder
Umsatzprozessen unterworfen ist und der Winter-
schläfer seine Temperatur erniedrigt, um sparsam
von seinem wärmespendenden Vorrat an Glykogen
und Fett zu zehren, und bei Beginn des Frühlings
mit der Wiederkehr der Luft- und Bodenwärme
und zunehmenden Feuchtigkeit aus dem Ruhe-
zustande in das bewegte Leben zurückzukehren,
bedarf der Warmblüter dauernd, Sommer wie
Winter, eines Vorrates von Subsistenzmitteln,
welcher die biologischen Prozesse im Gange er-
hält und die Tätigkeit der Oxydations- und Des-
oxydationsvorgänge, den Auf- und Abbau der
einzelnen Organe bis zur Einzelzelle garantiert.
Mit dem Hervortreten der Kalorientheorie,
nach welcher der Körper des Menschen und
Tieres einer gewissen Anzahl von Kalorien oder
Wärmeeinheiten in Höhe von 2000 — 4000, ver-
g, Leipzig.
schieden nach dem Zustande der Ruhe oder
Arbeit, des Geschlechtes und Alters, der Rasse
und des Klimas, bedurfte, um Energien zu ent-
falten und Bewegungen in der Muskulatur, in dem
Herzen und der Lunge und Funktionen in den
Drüsen auszulösen, verloren die Eiweißstoffe
(Eier, Muskel, Milch und Blut als animalische,
Kleber und Legumin als vegetabilische) ihres ihnen
von Lieb ig vindizierten Charakters, da auch die
Fette und Kohlenhydrate als Gewebsbildner an
Bedeutung gewonnen. Auch sie füllten im Stoff-
austausch verlorengehende Stoffe neu aus und
schützten den Bestand vor schweren, die Existenz
bedrohenden Verlusten, die den Betrieb störten;
sie waren nicht bloß Beiriebsmaterial , während
das Eiweiß das Baumaterial repräsentieren sollte.
Ja, noch mehr erweiterte sich der Rahmen mit
der Zeit, als auch die Salze, insbesondere Koch-
salz, Eisen-, Kalium-, Natrium-, Kalzium- und
Phosphorverbindungen an Wert gewannen, mochten
sie frei oder gebunden zirkulieren, da ohne sie
die physiologischen Vorgänge der Resorption und
Exkretion, der Diffusion und Osmose, der Säfte-
austausch innerhalb der Gewebe und Einzelzelle,
die Tätigkeit der Drüsen und Fermente unmöglich
sind. Als lone und Salze regulieren sie die
Strömung in den Blutbahnen und Lymphwegen
und fördern die Ausscheidungen in den Nieren,
Schleimhäuten und der Haut. Daß ihre Menge
nicht unerheblich ist , ersieht man aus der Tat-
230
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i;
Sache, daß die Urne des im Krematorium ver-
brannten Erwachsenen nicht weniger als 3 — 4 kg
Asche birgt.
Keineswegs darf aber mit diesen Salzen die
fundamentale Bewertung des Eiweißes, wie es die
Diskussion letzthin vielfach hinsichtlich des er-
forderlichen Proteinquantums pro Tag auf Grund
von Veröffentlichungen Chittendens und
Hindhedes glauben machen will, herabgesetzt
werden, da sich das Wachstum , die Leistungs-
fähigkeit in schwerer Arbeit und die Anregung
zur Milchproduktion in erster Linie an ihr Vor-
handensein knüpft und neuerdings herausgestellt
hat, daß Gänse bei bloßem Gras- und Kartoffel-
futter ihre Befruchtungsfähigkeit einbüßen und
nur 10 "/o der bebrüteten Eier junge, lebensfähige
Tiere ausschlüpfen la>sen, während bei Zufuhr
von Getreide, Kleie und Kartoffeln aus 20 Eiern
18 — 19 Junge hervorgingen (Gramm es).
Auch mit der physiologischen Brennwerltheorie
war die Ernährungsfiage keineswegs erschöpft. In
den letzten Jahren reihten sich die organischen
„Nebennährstoffe" oder „akzessorischen Nährsioffe",
wie sie Hofmeister nennt, als Nova an, deren
Charakter und chemische Zusammensetzung nur
zum Teil bisher genauer bekannt wurde. Das sind
die lebenswichtigen Vitamine nach Casimir
Funk, zyklische Aminosäuren wie die längst be-
kannten Tyrosin und Tryptophan, deren Mangel
in der Kost oder im Futter der Tiere die Vita
gefährden und Avitaminosen, bestimmte Krank-
heiten oder Krankheitszeichen, hervorrufen. Das
Fehlen beruht nach Funk's Forschungen in
falscher Zubereitung der Speisen oder kulinarischen
Mißbräuchen bei der Herrichtung der Gemüse, dem
üblichen Trocknen des Obstes, dem zu lange aus-
gedehnten Sterilisieren der Milch, dem Entschälen
des Reis und Mais und dem Entziehen der Kleie
bei der Brotfabrikation, weil derartige Methoden
und Gepflogenheiten die Vitamine ausschalten oder
vernichten.
Zu diesen Erkrankungen gehört in erster Reihe
Beriberi, jene bei den Reisessern in Perconte
längst bekannte Nervenstörung, die mit Lähmung
der Glieder und Abzehrung beginnt und mit dem
Tode endigt, sobald geschälter Reis längere Zeit
hindurch als ausschließliche Nahrung dient; ähn-
liche Beobachtungen waren bereits bei uns an
Kindern gemacht, die mit Mehlsuppen aufgefüttert
waren und abmagerten, dabei an Nervenleiden mit
Wassersucht und Herzerweiterung erkrankten. Nicht
bloß Völkerschaften litten an Beriberi, auch die
Bewohner von Segelschiffen, einzelne Inselbewohner
der Südsee und in antarktische Gegenden ver-
schlagene Expeditionsteilnehmer. Auch Tiere
blieben davon nicht verschont. Ähnlich verhält
es sich mit der Pellagra, einer nicht bloß die
Haut, sondern auch die Verdauungsorgane und
das zentrale Nervensystem befallenden Krankheit.
Das Verfahren, den Mais, der den Italienern die
bekannte und gern genossene Polenta liefert, in
Dampfmühlen abzuschleifen und nur das nackte
Korn zu genießen, führte zu einer Mortalität von
20 — 25 "/o in Nordamerika und zu 4."!^ in Italien
und Ägypten. In Rhodesien wurden sogar Epi-
demien und im Kaplande Pellagra mit Skorbut
bei Mais- und Kartoffclkost beobachtet. Auch die
Barlow'sche Kinderkrankheit oder der kindliche
Skorbut, welcher mit Blutungen unter die
Knochenhaut und Schwellung der Gelenke ver-
läuft und früher nicht so ganz selten bei der da-
mals geübten künstlichen Ernährung mit lange
gekochter Kuhmilch konstatiert wurde, beruht
auf der Sterilisation oder Mehlnahrung. Nicht
anders steht es mit dem Skorbut, der jetzt
immer noch vereinzelt bei uns vorkommt und
früher die Segelschififer und Forscher auf Expe-
ditionen in entlegene Regionen aus Mangel an
frischen Gemüsen, frischem Fleisch und P'rüchten
arg heimsuchte. Nur die österreichischen geo-
graphischen Forschungsreisenden im P>anz-Josephs-
land blieben verschont, weil es ihnen gelang,
frisches Gemüse im Schiffsraum fortzuzüchten.
Wahrscheinlich, aber nicht erwiesen, also noch
Hypoihe-e ist, daß Rachitis oder die englisehe
Kindeikrankheit und Knochenerweichung im
späteren Alter, Sprue, Stizziekte und Lampiekte
der Rinder auf die gleiche Ursache zurückgeführt
werden müssen.
Die Vitamine sind nicht bloß in frischen Ge-
müsen und Obst, in der Reis- und Maiskleie oder
Roggenschale, sondern auch im frischen Fleisch,
in der frischen Kartoffel, im Zitronensaft, in der
Bierhefe und im Lebertran vorzufinden, so daß es
sich jetzt leicht erklärt, daß sie längst als Heil-
mittel im Volke und in der Heikunde Anwendung
fanden. Wenn man sie als „akzessorische Nähr-
stoffe" bezeichnet, so soll damit nichts anderes
gesagt sein, als daß sie neben dem unentbehr-
lichen Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten und Salzen
lebenswichtige Substanzen repräsentieren und daß
nicht bloß Körperersatz und Energiespenden,
sondern auch Vitaminegehalt die Prinzipien unser
Ernährung zu leiten haben.
Bisher haben wir die P'olgen kennen gelernt,
welche das längere Fehlen der Vitamine zu
unserm Nachteile hervorzurufen imstande ist. Was
wissen wir über ihre Natur und Konstitution?
Sind es Fermente oder Katalasen, die Prozesse
im Körper anregen und deren Wirkungen wir
verfolgen können, ohne daß wir sie den Eiweiß-
stoffen oder ihnen ähnlichen Stoffen zurechnen
können? Rufen sie gar Vergiftungen hervor, die
sich wie Nikotin oder Alkohol oder bakterielle
Toxine bald schnell, bald nach und nach Geltung
verschaffen? Die Vitaminelehre bedarf noch
mancher Klärung in der Zukunft, aber der experi-
mentelle Beweis für ihre Existenz ist längst er-
bracht, wie wir bald sehen werden.
Vitamine sind, obgleich von drei Arten bei
der Beriberi, sonst nur von Skorbut oder Pellagra-
vitaminen die Rede ist, kompliziert gebaut,
kristalhne Körper, schwer darstellbar und nur
in geringer Menge vertreten. Man hat mit
N. F. XVI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
231
AlI<ohoI Extraktionsversuche angesteUt, mit Phos-
phorwolframsäure Niederschläge, mit Silbernilrate
und Baryt Produkte gewonnen, ohne sie chemisch
genau analysieren zu können. Zusatz von Säure
und Alkalien zerstört sie wie große Hitze und
Austrocknen. Die Substanzen sind sehr thermo-
labil und mit dem Verfahren von Kjeldahl nur
zum geringen Teile frei zu machen. Aus hunderten
von Kilo Ausgangsmaterial ließen sich nur Dezi-
gramme gewinnen ; bei dem Auskristallisieren
schwindet die Wirksamkeit. In pharmazeutischer
Hinsicht bleiben sie indifferent; doch weiß man,
daß sie für die Nervenernährung absolut not-
wendig sind.
Mehr als alle Theorien und Hypothesen be-
weisen außer den bereits oben besprochenen
Krankheitsarten die experimentellen Versuche an
Menschen und Tieren. Caspar i und Mozy-
kowski verzehrten 220 Tage lang polierten Reis
und erkrankten in evidenter Weise an den Zeichen
der Beriberi, dabei beschuldigten sie den Eiweiß-
zerfall und Vergiftung als Ursache ihrer Erkrankung;
Reiskleie heilte und befreite sie von ihren Be-
schwerden. Weil und Mouriquand ernährten
Tauben mit Reis, Gerste, Roggen und Mais, wo-
bei sich die Tiere wohl befanden; sobald sie die
Zerealien enthülst gaben, folgten polyneurotische,
also nervöse Störungen und der Tod; wenn die
Körner nicht bloß enthülst, sondern noch sterilisiert
verfüttert werden, trat der Tod schneller ein.
Futter mit nur teilweise entschälter Gerste er-
hält die Tiere am Leben. Andere Beobachter
fütterten Katzen allein mit rohem oder gefrorenem
Fleische und bemerkten keine Änderung; dagegen
starben die Tiere bei der Ernährung mit aus-
schließlich sterilisiertem Fleische. Gab man Tauben
enthülstes Getreidekorn, so verloren sie rasch die
Freßlust, welche sich indessen wieder einstellte,
wenn natürliches Korn hinzugesetzt wurde;
während das P\itter aus rohem, gefrorenem und
und gesalzenem F"leische keinerlei Störungen be-
dingte, starben sie bei lediglicher Fütterung mit
gekochtem. Eijkman erlebte schon lange Jahre
vorher, ehe Funk 1914 mit einer größeren Arbeit
hervortrat, bei Hühnern, denen polierter Reis,
dem die Kleie und das Silberhäutchen fehlten,
Erkrankung mit Abmagerung, Beinlähmung,
Schwellungen und Atemnot, die schließlich mit
dem Tode endigte. Wiederum heilten Fräser
und Stanton Beriberi mit gedämpftem Reis,
auch Skorbut und Pellagra bekämptten sie mit
gleichem Erfolge auf diese Weise. Funk be-
seitigte Beriberi durch Vitamineeinspritzungen.
Hü SS ig stellte aus Reiskleie ein Heilpräi)arat
Oryzan her und Susuki benutzt das aus Reis-
kleie fällbare Oryzanin zu Heilzwecken. Natür-
licher Reis, F'leisch, Obst und Gemüse brachten
Beriberi zum Schwinden, wenn der Körper des
Patienten nicht bereits zu sehr entkräftigt war.
Aus diesen Beobachtungen, deren Zahl sich
leicht erhöhen läßt, ergibt sich für uns die Nutz-
anwendung, daß man das Vollkornbrot an Stelle
des We ßbrotes, das der Städter liebt und dem
Landbrot vorzieht, ebenso wie den Naturreis und
Naturmais wieder zur alleinigen Geltung bringen
muß, daß Milch nicht minutenlang über 100" C
erhitzt werden darf, wenn sie als Säuglingsnahrung
dienen soll, daß ferner der Wasserauszug, in dem
das Gemüse gekocht war, nicht fortzugießen ist,
die Kartoffel in der Schale reich an Vitaminen
bleibt und Trocknen des Obstes sie zerstört.
Nicht zu verwechseln ist mit der Vitaminen-
lehre der Vitalismus, bei dessen Namen man
an die alte Lehre von „Kraft und Stoff" oder von
Materie und Geist denkt, oder von den extremen
Verfechtern desselben auf eine psychische Lei-
tung aller Vorgänge in der Natur hingewiesen
wird. Mit den Lebenskräften läßt sich nichts an-
fangen, mag man Anhänger einer mechanistischen
Lebensentwicklung sein oder mehr zur biologischen
Theorie, der Plntelechie, zuneigen, die dem Stoffe
keine psychischen Eigenschaften, aber der orga-
nischen Entwicklung eine gewisse Gesetzmäßigkeit
beilegt, (g.'c.)
Kleinere Mitteilungen
Eine prähistorische Operation. Anläßlich
einer Studienreise nach Bern hatte ich Gelegen-
heit im historischen Museum der Stadt einen
seltenen prähistorischen Fund zu sehen. Er
betraf nämlich zwei menschliche Schädel mit
Trepanationsöffnungen. Unter Trepanation ver-
steht man in der Chirurgie die Eröffnung einer
von Knochen gebildeten Körperhöhle, um einen
Krankheitsherd der Behandlung zugänglich zu
machen. Bei Haustieren kommt hauptsächlich
die Kieferhöhle in Betracht, während beim
Menschen auf diese Weise die Schädelhöhle
häufig eröffnet werden muß. Um eine solche
Operation handelt es sich auch im vorliegenden
Falle. Die besagten Schädel stammen aus dem
an Funden reichen Gräberfeld bei Münsingen,
einem Orte unweit von Bern. Der Liebens-
würdigkeit des Direktors des Museums , Herrn
Dr. Zell er verdanke ich beistehendes Bild, als
auch die Erlaubnis den seltenen P'und einer ge-
naueren Besichtigung unterziehen zu dürfen.
Der eine Schädel, aus dem Grab Nr. 152
stammend , weist in der linken Parietalgegend
eine elliptische Öffnung, besagte Operaüons-
öffnung auf, die nach rückwärts in eine Spalte
ausläuft. Die vordere Grenze wird durch die
Kronennaht gebildet. Der eine Durchmesser
beträgt 5 cm, der andere nur 4 cm; es handelt
23-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
sich also nicht um ein kreisförmiges Loch, wie
es mit Hilfe der modernen Trepanationsinstrumente
gesetzt werden kann. Der zweite Schädel (Grab
Nr. i6) zeigt zwei, symmetrisch liegende Öffnungen
in den Scheitelbeinen. Die linke Lücke ist ge-
radezu kreisförmig und was besonders interessant
— die Ränder nehmen gegen die Öffnung hin
an Dicke ab , was deutlich erkennen läßt , daß
diese Öffnungen durchgerieben und nicht etwa
gesägt oder geschlagen sind, sonst müßten die
Ränder die ganze Dicke des Knochens zeigen,
wie dies beim Aussägen eines Knochenstückes
mit dem Trepan tatsächlich der Fall ist und wie
es auch der Fall sein müßte, wenn die Öffnung
mit dem Meißel gesetzt worden wäre. Außerdem
würde bei letzterer Eröffnungsmethode auch ein
ungleichmäßiger splitteriger Rand zu beobachten
sein. Die linke Öffnung des zweiten (von rück-
wärts gesehenen) Schädels weist einen Durch-
messer von 3 cm auf. Auch das rechte Loch ist
ziemlich kreisrund, sein Durchmesser beträgt etwa
4 cm.
Bei Betrachtung besagten Fundes drängt sich
die Frage auf, womit der vorgeschichtliche
Operateur die starke Schädeldccke des Menschen
durchsetzt haben mag, da ihm doch die not-
wendigen Instrumente, wie Meißel und Trepan,
fehlten. Es liegt nahe anzunehmen, daß zur
Ausführung der Operation Sand und Stein ge-
dient haben, solcher Art, daß man mit Stein-
werkzeugen den Knochen durcharbeitete, wobei
der Sand zur Erhöhung der Reibung zwischen
Knochen und Stein gebracht wurde. Wenigstens
spricht die Beschaffenheit des Randes für diese
Art der Eröffnung der Schädelhöhle. Man schliff
also das Schädeldach gleichsam durch. Das
Grab 152 enthielt außer dem Schädel auch noch
das zugehörige Skelet, das aber ziemlich mürbe
war. Am Schädel fanden sich zwei Bronzefibeln,
an einem P"'uß eine Rosette aus rotem Email.
Diese Schmuckgegenstände, sowie die Bestattung,
sprechen gegen die Annahme, daß es sich um
Mord oder Anthropophagie gehandelt habe, die
Deutung auf Operation also hinfällig wäre. Unter
solchen Umständen hätte man die Getöteten ja
nicht sorgfältig beerdigt und was die Anthropo-
phagie betrifft, so hätte man sich zur Gewinnung
des Gehirns nicht erst bemüht Löcher zu schaben,
sondern wäre vorgegangen, wie man es bei den
Tierköpfen zu tun gewohnt war, man hätte den
Schädel einfach zerschlagen. Ebenso ist die
Vermutung, daß es sich um einen Schädelbruch
handeln würde, aufzugeben, da bei diesem der
Rand des Loches nicht rund sein könnte, sondern
scharfe Zacken aufweisen müßte.
Mit Ausnahme des Schädels aus dem
Grabe 152 weisen die Trepanations-
öffnungen keine Symptome von Heilung
\(Kallusbildung) auf, ein Zeichen, daß der
so behandelte Patient gleich nach der
Operation zugrunde ging. Nur der
Schädel aus dem Grabe Nr. 152 spricht
dafür, daß sein Besitzer erst einige Zeit
nach dem schweren Eingriff verschied;
die Ränder der Öffnung weisen nämlich
in diesem Falle nicht mehr die Keilform
(nach der Öffnung hin dünner werdend)
auf, als Folge eines geringen Knochen-
zuwachses, wie dies bei Knochenwunden zu be-
obachten ist. Durch diese Kallusbildung haben
sich die Ränder verdickt , wodurch das typische
Bild der prähistorischen Trepanationsöffnung zum
Verschwinden gebracht wurde. Mit diesen inter-
essanten Funden wurden auch Bronzegegenstände
gehoben, als Beweis, daß die Schädel aus der
Bronzezeit stammen. Doch sollen bereits in der
Steinzeit solche Emgriffe vorgenommen worden
sein. Schließlich interessiert noch, bei welchen
Krankheiten die Operation ausgeführt worden
sein mag. Einen Fingerzeig geben uns bezüglich
dieser Frage die Naturvölker unserer Tage. Auch
bei ihnen wird die Trepanation vorgenommen
und zwar gegen Epilepsie, Irrsinn und vor allem
aus abergläubischen Gründen. Letztere werden
in vorgeschichtlicher Zeit die Hauptveranlassung
gegeben haben, da der Urmensch jenen hohen
Grad medizinischen Wissens, wie es gerade die
Trepanation voraussetzt, doch nicht innehatte.
L. R.
Zur Frage der Genese von Spirula und
anderer Tintenfische. In den australischen Meeren
lebt bekanntlich die merkwürdige Tintenfisch-
Gattung Spirula, deren posthornartig gewundenes
Gehäuse teils ganz vom Mantel verborgen im
hinteren Teile des Rumpfes liegt. Das Tier
nimmt unter den heutigen Vertretern der Dibran-
chiata eine durchaus gesonderte und eigentüm-
liche Stellung ein und während die Schalen des-
selben in den naturhistorischen Sammlungen
mannigfach vorhanden sind, gehören lebende
Exemplare zu den größten Seltenheiten. So
fanden die Challenger- und die amerikanische
Blake-Expedition je ein Tier auf, auch der
deutschen Expedition der Valdivia wurde Ende
der neunziger Jahre der gleiche Erfolg im Süd-
Xias-Kanal bei der Insel Sumatra beschieden.
Mag auch die systematische Stellung der
Spirula in die Ordnung der Dibranchiata oder
N. F. XVI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
233
Zweikiemer begründet sein, so ist doch heutzu-
tage keineswegs die Frage nach der Abstammung
der gekammerten, von einem ventralen Sipho
durchzogenen Schale endgültig gelöst und die
Meinungen der Naturforscher gehen darüber sehr
auseinander. Die nachfolgenden Zeilen mögen
daher etwas zur mutmaßlichen Deutung bei-
tragen.
In den paläontologischen Handbüchern findet
man die Spiruliden als zu den Belemnoidea oder
Belemniten-artigen Tieren gehörig und die beiden
Gattungen Spirulirostra und Spirulirostrina als
Verbindungsglieder angegeben. Diese letzteren
haben aber trotz anfänglich spiralig geformter
Schale ein untrügliches Rostrum, welches dem-
jenigen der Belemniten als analog zu betrachten
ist. Nun fehlt aber der Spirula-Schale jede Spur
eines Rostrums und namentlich des für voll-
ständige Belemniten typischen Proostracums, als
dessen Äquivalent man den heutigen Sepien-Schulp
ansehen kann. Der Mangel jener (irgane, die
evolute, sicii mit den einzelnen Windungen nicht
berührende Schale, wie sie in typischer Weise bei
den in der Kreide aussterbenden Endgliedern der
Ammoniten auftritt, sowie der interne, ventral
gelegene Sipho derselben lassen daher die Ver-
mutung zu, daß wir bei der Spirula es vielleicht
mit einem ammonitenartigen Tiere zu tun haben.
Diese Deutung ist keineswegs außer acht zu lassen,
denn sie würde unzweifelhaft die Dibranchiaten-
Natur wenigstens eines Teiles der früheren
Ammoniten beweisen. Bekanntlich hat man
letztere nach Analogie der gekammerten Nautilus-
Schale zu den Tetrabranchiata oder Vierkiemern
gestellt, aber was wissen wir denn eigentlich von
dem einstigen Ammoniten-Tiere selbst, da ja bis
heute kein lebender Vertreter desselben zutage
gefördert wurde, selbst nicht durch Tiefsee-
Hxpediiionen, welche ja schon so manchen Über-
rest längst vergangener geologischer Zeitperioden
auffanden!
Schon allein der gewichtige Umstand , daß
der Sipho- oder Atemstrang des Tieres stets eine
mehr oder weniger zentrale Lage in der Nantiius-
Schale einnimmt, spricht gegen die nähere Ver-
wandschaft mit den Ainmoniten. Unter den
letzteren finden wir nur solche Formen, deren
Sipho entweder intern, also ventral(IntraSiphoniata)
oder extern, resp. dorsal (Extra-Siphoniata) ge-
legen ist. Zu den ersteren gehören die schon
im Ober -Devon au.sgestorbenen Clymenidae, zu
den letzteren die bis in die Kreide- Periode
reichenden Ammoniten s. str. nebst den ihnen im
Alter vorausgegangenen Goniatiten. Von allen
fossilen Cephalopnden mit spiral gewundener
Schale teilen die Clymeniden allein den ventralen
Sipho mit Spirula. Wir dürfen daher recht gut
die letztere als den noch letzten lebenden
atavistischen Vertreter der richtigen
Clymeniden oder doch wenigstens Clymenien-
artiger Abkömmlinge, welche eventuell die
fehlenden Glieder (missing links Darwin's) bilden
und noch durch paläontologische Forschung ent-
deckt werden können, ansehen !
Nach dem vorher Angedeuteten behaupte ich
natürlich nicht, daß auch die echten Ammoniten,
welche mit den eigentlichen Clymeniden des
extern gelegenen Sipho halber wahrscheinlich
nichts zu tun haben, Dibranchiaten gewesen sein
müssen. Es ist als sicher anzunehmen, daß sämt-
liche heute lebenden Tintenfische, mag auch die
ursprüngliche Schale derselben durch Rückbildung
verloren gegangen sein, paläozoischen Vorfahren
und zwar den Orthoceratiden, bei welchen der
Sipho mehr oder weniger zentral, auch rand-
ständig in der geraden oder gekrümmten Schale
lag, ihren Ursprung verdanken. Von der letzt-
genannten Familie haben sich nun wahrscheinlich
einesteils die Nautiliden samt den echten Ammo-
niten als Vierkiemer, anderenteils die Belemniten,
als deren Nachkommen die heutigen Sepien zu
betrachten sind und die übrigen Tintenfische, allen-
falls auch die Clymeniden nebst ihren mutmaß-
lichen Abkömmlingen, den Spiruliden, als Zwei-
kiemer divergierend abgespalten.
Was die in heutigen Meeren lebenden Dibran-
chiaten im speziellen anbelangt, so haben sich
dieselben unzweifelhaft aus belemnitenartigen
Geschöpfen entwickelt. Der von den Weich-
teilen des Mantels umschlossene und auf der
Rückenseite gelegene Schulp der Sepien und ver-
wandter Gattungen, ist wie schon vorhin ange-
deutet, das analoge Organ des einstigen Belem-
nitenProostracums. Man beobachtet in demselben
noch den in der Endspitze angedeuteten Rest des
Rostrums oder der Scheide , das Phragmocon
ist anscheinend infolge von Rückbildung gänzlich
verloren gegangen, denn ein demselben analoges
Organ läßt sich nicht mehr nachweisen I
Die heutige Sepia stammt wahrscheinlich in
direkter Linie von der ein unvollkommen aus-
gebildetes Phragmocon besitzenden eozänen Belem-
nosepia ab. Die letztere tritt durch die flügel-
artigen .Anfänge des Rostrums in nahe Beziehung
zu der neogenen Spirulirostrina, welche sich wieder-
um auf das Engste an die miozäne Spirulirostra
anschließt.
In dem Sepien- Schulpe sehen wir somit nur
das rückgebildete Organ von einstigen mit ge-
kammerter Schale ausgerüsteter .'Ahnen. Wie sich
im Laufe der Generationen so manches ändert,
das Tier sich veränderten Lebensbedingungen
anpaßt, so mag auch die Funktion der Schale
und letztere somit selbst überflüssig geworden
sein und auf diese Weise können wir uns wohl
vorstellen, warum so viele noch lebende Dibran-
chiaten eine solche nicht mehr aufweisen. Unter
den Belemniten finden sich Riesenformen von
einem Meter und darüber, ich erinnere an den
Belemnites giganteus des Doggers. Gewiß hat
auch wohl das immerhin beträchtliche Gewicht
eines solchen „Rückenschulpes" die freie Beweg-
lichkeit des Tieres in hohem Maße eingeschränkt
und so läßt sich ebenfalls erklären, warum der
234
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
heutige Sepien-Schulp von einem integrierenden
sich nacli und nach zu einem nur akzessorischen
Organe umgestaltete, als welches es gewiß zu
betrachten ist. Schon die Reduktion des Rostrums
und des Phragmocons liefern uns untrügliche Be-
weise dafür, daß der Sepien-Schulp jede funktionelle
Bedeutung verloren hat, denn gewiß diente der
Phragmocon des einstigen Belemniten als hydro-
statisches Organ, welches wohl dem Tiere er-
möglichte infolge der vermehrten Leichtigkeit
gegenüber des ihm umgebenden Mediums sich
an der Oberfläche des Wassers schwimmend zu
erhalten. Das Rostrum oder Endstachel des
Belemniten deutete zuerst Ouenstedt in geist-
reicher Weise als ein dem rückwärts schwimmenden
Tiere förderliches und zwar die Stoßkraft der
Wellen brechendes Organ, zugleich mag es zum
Schutze des jedenfalls zarten und empfindlichen
Phragmocons gedient haben.
Wie dem auch sei, jedenfalls gibt sich schon
frühzeitig das Bestreben der Natur kund die ur-
sprünglich zylindrisch-konische Belemniien-Schale
zu einem möglichst leichten Organe umzugestalten
und es ist daher in Erwägung zu ziehen ob nicht
in den ganz unvermittelt auftretenden dorsoventral
abgeplatteten Dilataten des Neocoms der erste
Anstoß dazu gegeben ist, das bleibt freilich eine
noch offene Frage.
Die Genese der Octopoda oder Achtfüßer ist
nach den wenigen fossilen Resten, welche erhallen
geblieben sind, schwer zu erklären. Der heute
im Mittelmeere lebende Octopus vulgaris nebst
verwandten Arten ist bekanntlich nackt und ohne
jegliches Schalen Organ, wahrscheinlich haben
auch die Vorfahren desselben keine erhaltungs-
fähigen Hartteile besessen und so hat sich jede
vorweltliche Spur von ihnen verwischt. Von der
Argonauta- Schale, welche mit derjenigen aller
übrigen Cephalopoden in keine Übereinstimmung
zu bringen ist und welche nur dem Weibchen
als ein angeblich der Eierablage dienendes Organ
eigen ist, kennt man versteinerte Reste nur
aus dem Pliozän Ober-Italiens, was um so weniger
verwunderlich ist, da eine große Anzahl heute im
Mittelmeere lebender Mollusken, deren beginnender
Fossilisations Prozeß sich quasi täglich vor unseren
Augen abspielt, in jener F'ormation sich vor-
findet.
Weitere paläontologische und anatomische
Forschung mögen vereint zur Lösung mancher
der in diesem Aufsatze erörterten Problematica
beitragen! Leopold H. Epstein.
Einzelberichte.
Geophysik. Zur Bestimmung der Höhe des
Nordlichts bedienten sich L. Vegard und
O. Krogness am Haidde Observatorium im nörd-
lichen Norwegen photographischer Aufnahmen von
zwei Standpunkten aus, die 12 bis 40 km von-
einander entfernt sind (Ann. d. Phys. 51, 495, 1916).
Aus der Verschiedenheit der Lage identifizierbarer
Punkte der Erscheinung relativ zu den Sternen bei
gleichzeitigen Aufnahmen läßt sich die Parallaxe
und damit die Höhe berechnen. Die Lage
der oberen Grenze des Nordlichts ist nicht sicher
zu bestimmen, da die Empfindlichkeit der Platte
nicht ausreicht, um die allmählich nach oben ab-
nehmende Helligkeit festzuhalten. Es ergab sich
eine obere Reichweite von etwa 100 bis 330 km.
Die meist scharf ausgeprägte untere Grenze läßt
sich mit einer Genauigkeit von i bis lO^ fest-
stellen. Höhen von weniger als 85 km wurden
nicht beobacintet. Bei der Verteilung auf die ver-
schiedenen Höhenstufen wurden zwei deutlich aus-
geprägte Maxima bei 100 und bei 106 km ge-
funden. Sie treten nicht nur im Gesamtmittel
auf, sondern auch bei jeder der unterschiedenen
3 Hauptklassen: diffusen Bögen, Draperien und
draperieförmigen Bögen; sie sind also offenbar
reell. Daraus ist zu schließen, daß ein großer
Teil von kosmischen Strahlen aus zwei Gruppen
besteht, wovon jede eine ganz bestimmte Durch-
dringungsfähigkeit besitzt; und da die drei
häufigsten Nordlichtformen dieselben Maxima
zeigen, sind diese Formen durch dieselbe
Strahlungsart verursacht. Dies ist übrigens auch
aus anderen Gründen wahrscheinlich.
Scholich.
Zoologie. Der Wildstand im Bialowieser Urwald.
Der Bialowieser Forst hat von je als eines der be-
rühmtesten Jagdreviere Europas gegolten. Es hielten
denn auch hier früher die Polenkönige und später
die russischen Zaren ihre großen Hofjagden ab, zu
denen sie sich viel erlauchte Gäste einluden. Außer
dem Wisent, der sich hier, als dem fast einzigen
Gebiete in ganz Europa, auf freier Wildbahn bis
in unsere Tage zu hallen vermochte, kommt in
den sumpfigen Urwaldteilen auch der Elch-
hirsch noch in stattlichen Exemplaren vor.
Ebenso ist an Raub wild kein Mangel, Bär und
Wolf, Lux und Wildkatze, um nur die jagdbarsten
Vertreter zu nennen, bevölkern in großer Zahl
die ausgedehnten Walddickichte. Daneben ist
endlich auch das Nutzwild, Rothirsch, Reh
und Wildschwein, reichlich vorhanden. In diesem
idealen Jagdreviere ist, wie Wall her Günther-
Karlsruhe im, .Deutschen Jäger" (39. Jahrg.
191 7, Nr. 5) ausführt, im letzten Dezennium von
der russischen Hofjagdverwaltung zugunsten der
Hofjagden des Zaren schwer gesündigt worden.
Abgesehen davon, daß alles Raubwild unnach-
N. F. XVI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23s
sichtlich verfolgt und dadurch nahezu ausgerottet
wurde, i^t nach der Eui>etzung von zahlreichem
Rot- und Damwild die F"üiterung aller Arten von
Nutzwild in wiitgehendem Maße eingeführt
worden. So wurden allein zum Heumachen für
die VVisentfütterung rings um den Wald loo Familien
angesiedelt. Durch diese überaus sorgsame Hegung
des Nutzwildes wurde zwar einerseits ein hoher
Nutzwildstand erreicht, andererseits aber auch
eine Degencrierung des gesamten Wildbestandes
verschuldet-, ,,die Wisente waren fettgefütterte,
träge und zahme Tiere geworden, die ihren
Hegern wie Hunde nachliefen". Die Degenerierung
des Wildes zeigte sich vornehmlich durch das
Auftreten verheerender VVildseuchen (Sephikämie)
in den Jahren 1911 und 1912. Schließlich hatte
die Überproduktion an Rot- und Damwild die
Abwanderung des Elches zur Folge, der sich be-
kanntlich mit diesen Wildarten zusammen nicht
auf ein und demselben Standorte hält. Wie hoch
trotz dieser üblen Nachwirkungen der russischen
Jagdschutzmaßnahmen der Wildstand im Bialo-
wieser F"orst noch kurz vor Kriegsbeginn war,
erhellt aus den fLrgebnissen einer im Jahre 1914
von russischer Seite veranstalteten Zahlung, die
etwa 700 Wisente, 59 Flehe, 6778 Stück Rotwild,
1488 Stück Damwild, 2225 Stück Schwarzwild und
4966 Stück Rehwild ergab.
Der Krieg hat diese Zahlenverhältnisse natür-
lich von Grund aus verändert; nicht nur daß von
den durchziehenden Truppenmassen viel Wild ab-
geschossen wurde, war der Wald nach dem Rück-
zug der russischen Heereskörper, denen die
deutschen Kolonnen auf dem Fuße folgten, auch
voll von Wilderern, desertierten oder von ihren
Truppenteilen abgekommenen russischen Soldaten,
die sich in ihren Schlupfwinkeln lange verborgen
halten konnten und durch das Niederknallen jeg-
lichen Wildes ihren Unterhalt fanden. Als des-
halb von der deutschen militärischen Forstver-
waltung unter der Leitung des bayr. Forstrats Dr.
G. F sc h e r i c h im vergangenen Jahre eine Schätzung
des Wildstandes vorgenommen wurde, ergaben
sich nur mehr etwa 180 Wisente, 5 — 10 Flehe,
2—3000 Stück Rotwild, 4—500 Stück Damwild,
5 — 800 Stück Schwarzwild und 2 — 3000 Stück
Rehwild. Durch eine Reihe energischer Maß-
nahmen wurde von den deutschen Behörden vor
allem dem Wildererunwesen gesteuert und durch
die Einführung sti enger Jagdvorschriften der
Wildabschuß genau geregelt. Die kais. deutsche
Forstverwaliung ging von dem Grundsatz aus,
daß es „gänzlich verfehlt ist, das Raubwild aus-
zurotten. Gerade der Kampf in der Natur erhält
das Nutzwild auf seiner gesundheitlichen Höhe.
Das Raubwild hat eine ungemein feine Witterung
für krankes Wild, dem es nachstellt und es aus-
nahmslos beseitigt. Dadurch wird die Ausbreitung
von Epidemien am einfachsten und durchgreifend-
sten bekämpft". Auch die Fütterung des Wildes
wurde auf das unbedingt notwendige Maß be-
schränkt, das Wild, besonders das schwerfällige
Wisent, muß darauf angewiesen sein, sich seine
Nahrung selbst zu suchen, nur dann wird ein ge-
sunder Wildbestand erhalten werden können.
Durch diese im Gegensatz zu den russischen Ge-
pflogenheiten von Grund aus veränderte Praxis
der Wildhegung ist die Hoffnung berechtigt, daß
es unserer deutschen horstverwaltung während
ihres Wirkens in Bialowies gelingen wird, den
Wildbestand nicht nur auf seiner heutigen, durch
die Kriegsverhältnisse beschränkten Höhe zu er-
halten, sondern ihn auch noch zu vermehren.
H. W. Frickhinger.
Die Tollwut des Wildes. Die Tollwut ist eine
der ältesten dem Menschen bekannten Infektions-
krankheiten. Schon Aristoteles hat ihren
infektiösen Charakter richtig erkannt, wenn er in
seiner „Tierkunde" schreibt: „Die Hunde leiden
an der Wut. Diese versetzt sie in einen Zustand
der Raserei, und alle Tiere, welche dann von toll-
wütigen Hunden gebissen werden, werden gleich-
falls von der Wut betroft'en." Die Tollwut ist,
wenn sie in ihren Äußerungen auch bei anderen
Tiergattungen, so z. B. beim Geflügel auftreten
kann, doch eine spezifische Erkrankung des Hunde-
geschlechtes, insbesondere seiner wildlebenden Ver-
treter, wie des Fuchses, des Wolfes und des Schakals.
Unter diesen wilden Kaniden ist die Tollwut, vulgär
ja auch Hundswut genannt, wie schon eingangs er-
wähnt, seit alters bekannt und bis heute nie aus-
gestorben, so daß die Seuche, wie Bezirkstier-
arzt a. D. M. Reuter in einem längeren Aufsatz
in der „Zeitschrift für Forst- und Jagd-
wesen" (48. Jahrg. 1916 Heft 11) begründet,
„primär als eine Krankheit des Wildes ange-
sprochen werden muß". Da nun in der Nähe
von Gebieten, in denen die obengenannten wilden
Kaniden häufig vorkommen, in Europa vornehm-
lich in Südrußland und in den Karpathen, Haus-
tiere immer wieder einmal von der Krankheit be-
fallen werden, ohne daß es möglich ist, eine Infektion
durch Hundebiß nachzuweisen, zieht Reuter den
Schluß, daß in diesen Ländern, vor allem aber im
Innern Asiens, aus dem ja eine Zuwanderung
wilder Kaniden nach Europa herüber ständig er-
folgt, vielleicht eine spontane Entstehung der Toll-
wut in Frage kommt. Man müßte dann annehmen,
daß die Tollwut bei den wilden Kaniden „ähnlich
dem Milzbrand, durch einen möglicherweise im
Boden haftenden (miasmatischen) Infektionsstoff
entstehen kann"; ist das Gift von außen her in
den tierischen Körper eingedrungen, so würde
der Tollwuterreger erst durch sein Eindringen in
den Blutkreislauf des tierischen Organismus seine
ansteckende Kraft erlangen und es wäre dann
dadurch die Möglichkeit der infektiösen Weiterver-
breitung durch den Biß gegeben. Diese Theorie
des auiochthonen Entstehens der Toll-
wut bei wilden Kaniden ist von den ver-
schiedensten Seiten angezweifelt worden, ohne daß
aber, wie der Verfasser meint, wirklich stichhaltige
Gegengründe bis heute beigebracht worden wären.
236
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 17
Primär erkrankte Kaniden, so müßte weiterhin
angenommen werden, würden dann dadurch, daß sie
gesunde Artgenossen bzw. natürlich auch Haushunde
anfallen, die VVeiterbreitung der Seuche in Kultur-
gebiete verschulden. Damit wäre eine Erklärung
für die Tatsache gefunden, daß die Tollwut ge-
rade in den deutschen Grenzgebieten, welche in
ständigem Verkehr mit Rußland stehen, trotz aller
polizeilichen Maßnahmen niemals ganz ausgerottet
werden konnte.
Der Ansteckungsstoff der Tollwut ist nicht
flüchtig, d. h. er kann durch keinen Zwischen-
träger, wie wir solche bei den meisten der Infektions-
krankheiten kennen, übertragen werden. Das ist
wohl auch der Grund dafür, daß die Tollwut
eigentlich nie die Dimensionen einer großen
Seuche annimmt, sondern nur mehr sporadisch
auftritt. Bald nach dem Verenden der erkrankten
Tiere erlischt auch die Wirksamkeit des Infektions-
stofifes. Die Anxiahme, als seien bestimmte Hunde-
rassen empfänglicher für die Aufnahme der An-
steckungskeime, hat sich ebenso als irrig erwiesen,
wie die Hypothese, daß hohe Wärmegrade die
Entwicklung der Ansteckungskeime günstig be-
einflusse: diese Annahme wird am besten durch
den Hinweis auf die Tatsache widerlegt, daß die
Tollwut in der Türkei und in Ägypten, beides
Länder, welche sich doch eines sehr warmen
Klimas erfreuen, nur selten und nur durch Ein-
schleppung vorkommt.
Auch in Deutschland ist ja, dank der ein-
greifenden polizeilichen Vorschriften, die Tollwut-
erkrankung längst nur mehr eine sporadisch auf-
tretende, durch Einschleppung bedingte Krankheit.
Eine Weiterverbreitung der Seuche wird auch da-
durch noch eingedämmt, daß tollwütige Hunde
durch den hochgradigen Erregungszustand, in dem
sie sich befinden, meist nur sehr oberflächlich
beißen und dadurch nicht alle Bisse unbedingt
eine Infektion nach sich ziehen müssen ; nach
statistischen Feststellungen kommen beim Tiere
nur 5— 3o"(| und beim Menschen nur 8—47"',,
Erkrankungsfälle bei durch tollwütige Hunde Ge-
bissenen vor, welch letzteren Prozentsatz es
heutigentags überdies noch durch die Pasteur-
sche Schutzimpfung bekanntlich bedeutend her-
unterzuschrauben gelang. H. W. Frickhinger.
Die parasitäre Schlupfwespe der Kohlraupe
als indirekter Schädling des Weizens. Die
gclbbeinige Schluptwespe [Microgaster glome-
rafiis L.) befällt bekanntlich die Raupen des
großen Kohlweißlings (Pii'ris lirnssiciw L.), indem
sie ihre Eier in dieselben legt. Dermaßen an-
gesteckte Raupen suchen dann, wie um dem
Unheil zu entrinnen, Zuflucht auf hohen Objekten,
wie auf Zäunen oder Mauern. Dort oben gehen
die Tiere in kurzer Zeit ein, und späterhin
ist die Ursache ihres Todes deutlich erkennbar,
indem allüberall aus den Raupenleibern die Kokons
der Schlupfwespe hervortreten. ') An die Station
für Pflanzenkrankheiten bei der Kgl.
böhmischen Landwirtschaftl. Akademie
in Tabor wurden nun im vergangenen Sommer
von der Gemeinde Prennet bei Taus Weizenähren
eingesandt, welche an verschiedenen Stellen von
den Kokons des Microgaslcr glomcratiis um-
sponnen waren. Wie Adolf Kutin in der
Zeitschrift für Pflanzenkrankheiten aus-
führt (26. Bd. 1916 Heft 8), ist es wohl das erste
Mal, daß die Kohlraupen in ihrer Krankheit sich
auf Weizenähren geflüchtet haben. Durch diese
Wahl ihrer Zufluchtsstätte haben sie an den
Weizenbeständen einen ziemlichen Schaden ver-
ursacht; denn das dichte Kokongespinst, mit dem
die in ihnen ihre Entwicklung durchmachenden
Schlupfwespen die Ähren umgaben, hinderte in
nicht unbedenklicher Weise den Zutritt von Licht
und Luft zu den in der Entfaltung begriffenen
Blütenorganen und späterhin auch zu den PVucht-
körnern, so daß eine Fruchtreife in vielen Phallen
überhaupt ausblieb und „die Ähren in dem Teile,
wo die Kokons anhafteten, vollständig leer waren".
Es ist dieses Auftreten der Schlupfwespe an den
Ähren des Sommerweizens ein lehrreiches Beispiel
dafür, wie ein sonst nützliches Tier durch eine
geringe Veränderung seiner Lebensweise bzw. der-
jenigen seines Wirtstieres sich in einen Schädling
verwandeln kann. H. W. Frickhinger.
Über die Zucht des Edelseidenspinners im
Freien. Prof. J. Dewitz hat in der Preußischen
Station für Schädlingsforschungen in
Metz seit 2 Jahren Versuche darüber angtstellt,
ob es nicht möglich sei, die Raupen des Edel-
seidenspinners Boiiibyx iiion L. auch in unserem
Klima im Freien zu züchten. Im großen und
ganzen hatte Dewitz nach seinem Bericht in
der Entomologischen Rundschau (34.
Jahrg. 1917 Nr. I) dabei in biologischer Hinsicht
günstige Resultate zu verzeichnen : die überwiegende
Mehrzahl der Raupen machten ihre Entwicklung
im PVeien trotz der häufig starken Unbilden der
Witterung gut durch. Die biologischen Daten
waren dabei etwa folgende; „Das Leben der
Raupe dauerte von Anfang Juni bis .Anfang
August. Das Verspinnen geschah in der i. Hälfte
des August, die ersten Schmetterlinge zeigten
sich zwischen dem 22. und 26. .August." In
beiden Versuchsjahren waren die einzelnen Daten
der Entwicklungszeiten ungefähr die gleichen, im
2. Jahr war jedoch der Entwicklungsgang merklich
präziser. Im 2. Jahr konnte Dewitz sogar den
Versuch wagen, die an den Maulbeerästen ge-
sponnenen Kokons nicht abzunehmen, sondern
die Schmetterlinge im Freien schlüpfen zu lassen.
„Sie kamen denn auch hier in der i. Hälfte des
') Diese parasitäre Lebensweise des JMiaogaster glomerattis
maclit ihn zu einem sehr nützlichen Insekt, da die Schlupf-
wespe durch ihren Befall die schädlichen Kohlraupen in grofier
Zahl vernichtet.
N. F. XVI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
237
September noch aus und legten ihre Eier an
Blätter, an den Stamm oder an leere Kokons ab."
Auch die Eier wurden nicht entfernt, Dewitz
hofft aus ihnen im heurigen Frühjahr neue Raupen
zu erzielen, mit denen er seine dritte Zucht
unternehmen kann. Dieses gute biologische Über-
dauern auch der Unbilden unserer Witterung
würde uns vielleicht zu einer günstigen Beurteilung
der Freilandzuchten berechtigen dürfen, wenn die
Seidenraupen in den Dewitz'schen Versuchs-
zuchten nicht eine unangenehme Eigenschaft ge-
zeigt hätten, die sie für die Zucht im Freien
recht ungeeignet erscheinen läßt : die Raupen waren,
besonders im erwachsenen Zustand, dermaßen
trag, daß sie nur selten dazu zu bewegen waren,
einmal vor Regen oder Kälte aus eigenem Instinkte
irgendwo Zuflucht zu suchen und dann auch, wenn
sie einen Zweig abgefressen hatten, aktiv auf die
Futtersuche 7,u gehen. „Sitzen sie an einem ent-
blätterten Zweig, so nagen sie an den stehen-
gebliebenen Blattstielen oder Blattresten, während
an der Spitze des Zweiges oder sonst nicht weit
noch reichlich Laub vorhanden wäre." Auch vor
den Angriffen der Vögel, die sich gerade den
Seidenraupen gegenüber aus leicht erklärlichen
Gründen sehr zudringlich erwiesen, versuchten
die Raupen niemals zu enteilen oder irgendwo
eine geschützte Stelle zu erreichen. Die Maulbeer-
büsche oder die Äste von Maulbeerstämmen,
welche bei den Zuchten Verwendung fanden,
mußten daher mit Gazesäcken umhüllt werden,
um dadurch die Raupen wenigstens einigermaßen
vor der Dezimierung durch die Vögel zu schützen.
Gerade diese immer wieder bekundete Trägheit
der Seidenraupen steht ihrer Freilandzucht natürlich
äußerst hemmend im Wege. Es ist dabei aller-
dings die Hoffnung noch nicht ganz aufzugeben,
daß es im Verlaufe längerer Untersuchungen ge-
lingen wird, oder sagen wir besser, gelingen kann,
unter den zahlreichen Seidenraupenrassen eine
Spezies zu finden, deren Vertreter sich in dieser
Beziehung vorteilhaft von ihren Artgenossen unter-
scheiden. Ob freilich die Freilandzuchten, auch
wenn das glücken sollte, in Deutschland jemals
eine wirtschaftliche Bedeutung werden erlangen
können, das erscheint heute, wo die ganze Seiden-
baubewegung noch keinerlei greifbare Resultate
gezeitigt hat, zumindest fraglich. Prof. Dewitz
jedenfalls hat seine Versuche nur aus biologischem
Interesse und, wie er selbst sagt, nicht mit Rück-
sicht auf die praktische Seite unternommen.
H. W. Frickhinger.
Chemie. Über die Aktivierung von Chlorat-
lösongen^ durch Ösmiumtetroxyd und die Ver-
wendbarkeit dieser Reaktion in der analytischen"
Chemie hat K. A. TTo f m a n n ~in de~n letzten
Jahren, z. T. in Gemeinschaft mit einigen seiner
Schüler, eine Reihe interessanter Mitteilungen
gemacht, über die im folgenden kurz berichtet
werden möge.
Daß das Ösmiumtetroxyd OSO4 ein Oxydations-
mittel ist und, indem es oxydierend wirkt, selbst
zu tiefschwarzem Osmiumdioxyd OsOj reduziert
wird, ist bereits seit langem bekannt. Da nun
andererseits das Osmiumdioxyd von Oxydations-
mitteln mehr oder minder leicht wieder zu
Ösmiumtetroxyd oxydiert wird, so muß es, sofern
die verschiedenen Reaktionsgeschwindigkeiten in
einem geeigneten Verhältnis zueinander stehen,
d. h. sofern die Summe der Geschwindigkeiten
der beiden Reaktionen:
Osmiumdioxyd + Oxydationsmittel
= Ösmiumtetroxyd
Ösmiumtetroxyd + Oxydand= Oxydat
+ Osmiumdioxyd
größer ist als die Geschwindigkeit der direkten
Reaktion
Oxydationsmittel + Oxydand = Oxydat,
das Osmiumdi- oder -tetroxyd als Katalysator
wirken. In der Tat vermag so, wie schon seit
längerer Zeit bekannt ist, Ösmiumtetroxyd Oxy-
dationsreaktionen mit elementarem Sauerstoff als
Oxydationsmittel zu katalysieren, und zwar — darauf
macht K. A. Hofmann') aufmerksam — in be-
sonders starkem Maße, wenn der Sauerstoff unter
erhöhtem Druck steht und die Reaktionsgeschwindig-
keit gleichzeitig durch Temperaturerhöhung ver-
größert wird. Wesentlich bequemer und leichter
aber sind Oxydationsreaktionen auszuführen, wenn
man als Oxydans an Stelle elementaren Sauerstoffs
eine neutrale oder schwach saure Lösung von
Natrium- oder Kaliumchlorat verwendet, denn
überraschenderweise wird Osmiumdioxyd selbst
von neutralen Chloratlösungen, die ja bekanntlich
sonst nur ein außerordentlich träges Oxydations-
mittel sind, sehr leicht und rasch zu Ösmium-
tetroxyd oxydiert. So wird durch Chlorat —
bei Anwesenheit von ganz geringen Mengen von
Ösmiumtetroxyd — Arsenik zu Arsensäure, Hydra-
zinsulfat zu Stickstoff, Hydrochinon zu Chinhydron,
F'umarsäure zu Traubensäure, Maleinsäure zu
Mesoweinsäure, Anthracen zu Anthrachinon oxy-
diert, Reaktionen, die bei Abwesenheit von
Ösmiumtetroxyd praktisch vollkommen ausbleiben.
Auch die verschiedenen Arten von Kohle, wie
Ruß, Rohrzuckerkohle, Graphit usw., die gegen
Chlorat allein im allgemeinen recht widerstands-
fähig sind, werden von ihm bei Anwesenheit von
Ösmiumtetroxyd mehr oder weniger rasch oxy-
diert. Erscheint so das durch Ösmiumtetroxyd
aktivierte Chlorat in vielen Fällen als ein aus-
gezeichnetes Oxydationsmittel — Chlorierungen
traten hierbei nicht ein — , so wirkt es doch
keineswegs auf alle oxydierbaren Substanzen.
So erweisen sich nicht nur die gesättigten Kohlen-
wasserstoffe, wie Pentan und Hexan, sondern auch
— sofern sie nur vollkommen rein sind — das
') K. A. Hofmann, „Sauerstoff-Übertragung durch
Ösmiumtetroxyd und Aktivierung von Chloratlösungen", Ber.
d. D. Chera. Gesellsch., 45 (1912), S. 3329 — 3336.
238
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 17
Benzol und das Naphtalin und die gesättigten
Ketone, ja sogar die sonst doch gegenüber Oxy-
dationsmitteln ziemlich unbeständigen Aldehyde
als sehr widerstandsfähig.
Von medizinischem Interesse dürfte es sein,
daß auch die bakterizide Wirkung des Chlorats
durch Spuren von Osmiumtetroxyd gesteigert
wird.
Um eine Erklärung für die Katalyse der Chlorat-
oxydationen durch das Osmiumtetroxyd zu finden,
untersuchte K. A. Hofmann in Gemeinschaft
mit O. Ehr hart und Otto Schneider') die
Einwirkung von Chlorat auf die Oxyde des
Osmiums und kam dabei zu den folgenden inter-
essanten Ergebnissen: Erstens nehmen die
niederen Oxyde des Osmiums aus dem Chlorat
gerade so viel Sauerstoff auf als zu ihrer Oxydation
zu Osmiumtetroxyd erforderlich ist; die bisweilen
gemachte Annahme der Existenz eines höheren
Oxyds ist also nicht berechtigt. Zweitens wird
der Zerfall der endothermen Chlorate durch
Osmiumtetroxyd nicht, wie etwa durch Braun-
stein, Eisenoxyd oder Vanadinoxyd, katalysiert;
die Wirkung der Oxydationskatalyse ist also
nicht darauf zurückzuführen, daß etwa der
Sauerstoff, der bei dem durch Osmiumtetroxyd
beschleunigten spontanen Zerfall des Chlorats frei
wird, in statu nascendi die Oxydationen bewirkt.
Dagegen sprechen gewichtige Gründe für die An-
nahme, daß ein Additionsprodukt „Chlorat + Os-
miumtetroxyd" existiert, denn drittens wird die
Löslichkeit des Kaliumchlorats in Wasser durch
Osmiumtetroxyd erhöht und zeigt viertens das
Potential einer osmiumtetroxydhaltigen Chlorat-
lösung ein höheres Oxydationsp.otential als eine
wässerige Lösung von Osmiumtetroxyd oder von
Chlorat allein. Aus dem Verhalten des Oxydators
„Natriumchlorat -j- Osmiumtetroxyd" gegen wässe-
rige Jodkaliumlösung — es wird aus ihr Jod mit
einer, je nach den Konzentrationsverhältnissen
wechselnden, leicht meßbaren Geschwindigkeit frei
gemacht — schließen Hof mann und seine Mit-
arbeiter, daß das Additionsprodukt die Formel
NaClOg-OsO, hat.
Von besonderem Interesse sind nun die eigen-
tümlichen Erscheinungen, die bei der Einwirkung
der mit Osmiumtetroxyd aktivierten Chloratlösungen
auf gewisse Gase auftreten. Zunächst ergaben die
Versuche, daß, während von dem genannten Oxy-
dationsmittel das Kohlenoxyd ziemlich rasch zu
Kohlensäure und noch rascher das Äthylen CH, :
CH.3 zu Äthylenglykol CH.,(OH). CH,(OH) oxydiert
wird, der ja auch sonst ziemlich reaktionsträge
Wasserstoff unangegriffen bleibt. Es gelang aber
K. A. H o f m a n n und Otto Schneider^) durch
') K.A.Hofmann, O. Ehrhart u. O tto Schneid er,
„Aktivierung von Chloratlösung durch Osmium. II. Mitteilung",
ebenda 46 (1913), S. 1657— 1668.
=) K. A. Hofmann und Otto Schneider, „Aktivie-
rung von Chloratlösungen durch Osmium. 111. Mitteilung:
Trennung von Wasserstoff und Methan, Katalyse von Knall-
gasgemischen", ebenda 48 (1915J1 S. 1585 — 1593.
planmäßige Versuche leicht, indem sie die Oxyda-
tionswirkung des Osmiumtetroxyd- Chloratge-
misches durch Hinzufügung von metallischem
Palladium und Platin steigerten, diese Reaktions-
trägheit des Wasserstoffs so weit zu überwinden,
daß sie ihn in einer mit dem verbesserten Oxy-
dationsgemisch beschickten Hempelschen Pipette
mit einer für gasanalytische Untersuchungen aus-
reichenden Geschwindigkeit zu verbrennen ') und auf
diese Weise — das ist praktisch wichtig — insbeson-
dere von Methan zu trennen vermochten. Schwefel-
haltige Gase, Ammoniak, Phosphordämpfe und
Phosphorwasserstoff hemmen die 0.xydation, doch
kommen diese Gase bei der normalen Gasanalyse
nicht in Betracht, Stickstoff stört nicht, wohl aber
wirken sowohl Sauerstoff als auch Kohlenoxyd
störend: der Sauerstoff beteiligt sich an der
Oxydation des Wasserstoffs, das Kohlenoxyd
hemmt sie. Die Wirkung der beiden Gase wurde
nun von H o f m a n n und seinen Schülern einer sehr
genauen Sonderuntersuchung unterworfen. Diese
Untersuchung führte hinsichtlich des Sauerstoffs
zu dem Ergebnis, ") daß die Oxydation von
Sauerstoff- Wasserstoff- Gemischen an den mit
wässerigen Lösungen bedeckten Kontakten, wie
sie Hofmann bei der Absorption des Wasserstoffs
in Hempelschen Pipetten verwendet, ein elektro-
chemischer Vorgang ist. „Die geeigneten Stellen
der Kontaktfläche werden durch die Gasbeladungen
in Sauerstoff- bzw. Wasserstoff- Elektroden um-
gewandelt, und zwischen diesen spielt sich der
Umsatz wie bei einer Grove'schen Gaskette ab."
So interessant und — als Aufklärung eines kata-
lytischen Vorganges — allgemein wichtig dieses
Ergebnis aber auch ist, so kommt es doch für
die Praxis der absorptiometrischen Bestimmung
des Wasserstoffs darum nicht in Betracht, weil
der Sauerstoff im Gange der Gasanalyse stets
vor der Bestimmung des Wasserstoffs entfernt
wird und diese Entfernung auch leicht restlos
gelingt.
Ganz anders als beim Sauerstoff liegt nun
aber der Fall beim Kohlenoxyd. '■') Allerdings
') Weitere Verfahren zur absorptiometrischen Bestimmung
sind erstens das von Paal und Hart mann (ebenda 4:i,
S. 243, igio) vorgeschlagene und von O. Brunck (Chem.-
Zeit. 34, S. 1313, 1910) eingehend untersuchte Palladium-
verfahren , bei dem eine kolloidales Palladium enthaltende
wässerige Natriumpikratlösung als Absorptionsmittel dient, und
zweitens das Verfahren vonBosshard und Fischli (Zeitschr.
f. angew. Chem. 28, S. 365, 1915), bei dem der Wasserstoff
unter dem katalytischen Einfluß von Nickel von einer Natrium-
oleatlösung aufgenommen wird.
'') K. A. Hofmann und Ralf Eber t, „Katalyse von
Wasscrstofl-Sauerstoft'-Gemischen bei gewöhnlicher Temperatur
an wasserbenetzten Kontakten", Ber. d. D. chem. Gesellsnh.
49 (1916), S. 2369-2389.
■*) K. A. Hofmann, „Volumetrische Bestimmung von
Wasserstoff durch 0.\ydation mittels aktivierter Chloratlösung;
Beseitigung von Kohlenoxyd durch Quecksilberchromat",
ebenda 40 {1916), S. 1650— 1662. -- K. A. Hofmann und
Helge Schibsted, „Die Hemmung der Wasserstoff-
O.xydation in der Chlorat-Pipette durch Kohlenoxyd, ein
Beitrag zur Kenntnis der Kontaktgifte", ebenda 49 (1915),
S. 1663—1669.
N. F. XVI. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
239
wird auch das Kohlenoxyd im Gange der Gas-
analyse vor der Bestimmung des Wasserstoffs
absorbiert, aber diese Absorption '■ — ausgeführt
mit Hilfe einer ammoniakalischen oder salzsauren
Kupferchlorürlösung — ist bekanntermaßen un-
vollständig, und da nach Hof man n 's Versuchen
bereits äußerst geringe Mengen von Kohlenoxyd,
nämlich schon 0,2 Vol.-^/o , genügen, um die
katalytische Verbrennung des Wasserstoffs in der
Hempel 'sehen Pipette zu hemmen, so mußten
neue Wege zur vollständigen Entfernung des
Kohlenoxyds gesucht werden. Sie wurden auch
gefunden; in einer mit Merkurichromat und einer
wässerigen Chromsäurelösung beschickten Pipette
werden die der Absorption mittels Kupfer-
chlorür entgangenen Reste des Kohlenoxyds
entfernt — der Wasserstoff erleidet hierbei auch
eine geringe Oxydation, der durch eine kleine
Korrektur Rechnung getragen werden muß — ,
und dann wird der Wasserstoff durch das
verbesserte Chloratgemisch ^) absorbiert.
Wegen der sehr interessanten Einzelheiten, die
bei der Untersuchung des störenden Einflusses
von Sauerstoff und Kohlenoxyd auf die kataly-
tische Verbrennung des Wasserstoffs nach dem
H ofmann'schen Verfahren festgestellt worden
sind, sei auf die angeführte Originallitteratur ver-
wiesen. Mg.
') Die genaue Vorschrift für die Beschickung einer
Hempel' sehen Pipette mittels der aktivierten Chloratlösung be-
findet sich indenBer. d. D. ehem. Gesellsch. 49 (1916), S. 1653,
die der Beschickung einer H em p el'schen Pipette mit wässe-
riger Chromsäure und Mcrkurichromatpaste ebenda S. 1661
und die Vorschriften zur praktischen Ausführung der Wasser-
stoffbestimmungen ebenda S. 1662.
Bücherbesprechungen.
Fortschritte der Mineralogie, Kristallographie
und Petrographie. Bd. 5. Jena, 1916. G.
Fischer. 4", 324 S., 43 Abb. — Brosch. 1 1,50 M.
Die von der Deutschen Mineralogischen Ge-
sellschaft herausgegebenen „Fortschritte" gestalten
sich von Jahr zu Jahr zu einem wichtigeren Nach-
schlagewerke. Der vorliegende, wiederum unter
G. Linck's Redaktion herausgegebene 5. Band
des Jahres 19 16 enthält abermals wichtige Zu-
sammenfassungen und Übersichten über im Vorder-
grunde des Interesses stehende P>agen und die
sich damit befassende neuere Literatur. Einem
Bericht von R. Brauns über die Tätigkeit des
Damnu (Deutsch. Ausschusses f. math.nalurw.
Unierr.) in den Jahren 191 3 und 1914 folgen
Arbeiten von A. Johnsen über „Kristallstruktur",
ein Gegenstand, welcher seit Einfuhrung der
Laue 'sehen Röntgenometrie in die Kristallo-
graphie gewiß doppeltes Interesse erweckt, von
P. Niggli über „Neuere Mineralsynthesen", von
O. H. Erdmannsdörfer „Über Einschlüsse
und Resorptionsvorgänge in Eruptivgesteinen",
von F. Becke über „Fortschritte auf dem Gebiete
der Metamorphose", von Fr. Berwerth über
„Fortschritte in der Meteoritenkunde seit 1900"
und von Karl Schulz über „Die Koeffizienten der
thermischen Ausdehnung der Mineralien und
Gesteine und der künstlich hergestellten Stoffe von
entsprechender Zusammensetzung". Vor allem
die Arbeiten von Erdmannsdörfer, Becke
und Berwerth werden auch den Geologen in-
teressieren. Wenn letzterer die von Fr. Ed. Suess
für kosmische Erzeugnisse gehaltenen „Tektite"
für Kunstprodukte zu halten geneigt ist, so dürfte
Suess hierzu doch noch mancherlei zu bemerken
haben. Andree.
Hermann Lohns, Aus P'orst und Flur.
40 Tiernovellen. Mit einer Einleitung von
K. So f fei, einem Bildnis des Verfassers und
15 Tierphotographien nach dem Leben. 5. Aufl.
R. Voigtländers Verlag in Leipzig. — 5 M.
Diese Sammlung von Schilderungen ein-
heimischer Tiere gehört gleich anderen ähnlichen
Arbeiten des in diesem Kriege gefallenen Ver-
fassers zu dem Besten, was wir auf dem Gebiete
der Naturschilderungen haben. Ihren hohen Wert
verdanken sie der seltenen Vereinigung einer
scharfen und kritischen Beobachtungsgabe, eines
stark, ja leidenschaftlich mitschwingenden Natur-
gefühls und einer Gestaltungskraft, wie sie nur
dem echten Dichter zu Gebote steht. Es ist vor
allem die Heide, in ihrer einsamen und düsteren
Schönheit die Zuflucht selbständiger und in ihrem
Freiheitsdrang zur Einsamkeit neigender Naturen,
die nie versagende Heilerin und Trösterin, die
Lohns nicht müde wird, in ihrem tausendfältigen
Leben zu belauschen und zu besingen. Oft blättert
man beim Lesen zurück, um einen Blick auf das
Bild des Mannes zu werfen, auf das männliche
Antlitz mit dem klaren nach oben gewandten Blick,
aus dem so viel Menschliches hervorleuchtet.
Wir möchten jedem, den Beruf oder Liebe zur
Natur ins Freie führt, das Buch des Dichters,
Jägers und Helden empfehlen, der keiner jener
mit Bleistift und Lichtkammer durchs Dickicht
schlüpfende Naturspione war, sondern ein Natur-
kündiger wie selten einer. Miehe.
Novellen aus dem Tierleben. R. Voigtländers
Verlag in Leipzig.
Aus dem bekannten Werke von Meerwarth
und Soffel, das nach der mächtigen von
Schillings ausgehenden Anregung eine gewisse
240
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 17
Art von naturwissenschaftlicher Literatur einleitete,
sind hier sieben Stücke verschiedener Autoren, die
alle Schiderungen aus dem Vogelleben darstellen,
samt 116 Naturaufnahmen zu einem hübschen
Bande vereinigt. Wiederum ragt Hermann
Lohns mit zwei ausgezeichneten Beiträgen hervor,
aber auch die übrigen fügen sich in den Rahmen
geschmackvoll ein. Über die Bezeichnung „1 ier-
novellen", die neuerdings sich einer gewissen Be-
liebtheit erfreut, wäre zu bemerken, daß sie, wenn
man sie überhaupt aus rein sachlichen und nicht
aus geschäftlichen Gründen anwenden will, nur
da einen Sinn hat, wenn die Tiere als handelnde
Personen in den Mittelpunkt von Erzählungen treten.
Das trifft bei den obigen „Novellen" nicht überall
zu. Miehe.
Riebesell, Dr P., Die mathematischen
Grundlagen der Variatio ns- u n d Ver-
erbungslehre. Leipzig und Berlin, 19 16,
B. G. Teubner. — 80 Pf
Die bekannte Sammlung „Mathematische Biblo-
thek" ist mit diesem Heftchen um ein sehr zweck-
mäßiges Glied bereichert worden. Bei der steigenden
Bedeutung und dem zunehmenden Umfange ver-
erbungswisssenchaftlicher Untersuchungen kommt
eine knappe, für den Biologen zugeschnittene Dar-
stellung ihrer mathematischen Grundlagen einem
Bedürfnis entgegen. Wir möchten deshalb hier
ganz kurz auf das nützliche Büchlein aufmerksam
machen. Miehe.
Anregungen und Antworten,
Zum Studium der Höhlenfauna.
Und neue Schönheitswelten springen
Aus der Natur .... hervor.
Schiller.
In dieser Zeitschrift, schreibt Dr. Brehm: „Gewiß wird
die erst in den letzten Jahren beachtete Fauna kleiner Erd-
löcher, der Maulwurfsgänge und Nagelierhöhlen, de? in feinen
Erdklüften zirkulierenden Grundwassers usw. manchen wichtigen
Beitrag zur Besiedelung großer Höhlen gestellt haben". ')
Diese Worte haben mich auf den Gedanken gebracht,
daß es sehr interessant für die Zoologen wäre, auf einige
Gewässeransammlungen aufmerksam zu machen, die für ein
vergleichendes Studium der Höhlenfauna von größerer
Wichtigkeit sind. Schon seit dem Jahre 1912 habe ich in
Gemeinschaft mit Rochaz de Jongh und allein 5) viele Unter-
suchungen gemacht über kleinere Höhlungen, die sich sehr
oft in Baumstämmen von Roßkastanien, Tannen, Eichen und
vor allem von Buchen finden. Diese Höhlungen, die oft sehr
tief sind, stehen nur durch kleine Löcher von einigen Zentimeter
Durchmesser mit der Luft in Verbindung.
Zwei Culicidenarten: Culicada ornata und Ano-
pheles nigripes, im Ct. Waadt, setzen ihre Eier hier ab
und vollziehen idre Entwicklung nur in solchen Baumhöhlungen.
In der Tat habe ich Eier, Larven und Puppen dieser Arten
nie in anderen Gewässern gefunden.
Die Larven und Puppen von C. ornata und A. nigripes
sind an die Dunkelheit so gewöhnt, daß wenn man sie in
dunkelgelbe und in weißen Gefäßen setzt, sie sich besser in
den ersteren entwickeln.
') Nalurw. Wochenschr. 191 7, S. 50.
2) Centralbl. f. Bakt. 1. Abt. Orig. Bd. 63, 1912, S. 222;
Bd. 67, 1913, S. 472; Bd. 78, 1916, S. 90 und Bd. 79, 1917,
S. 139.
Stellt man die weißen Gefäße an das Tageslicht, so ver-
stecken sich diese Larven und Puppen im Bodensatz.
Es ist sehr interessant zu bemerken, daß nach Christo-
phers '■') auch in Indien und in Amerika A. nigripes in Baum-
liöhlungen lebt.
Bei diesen Untersuchungen habe ich Gelegenheit gehabt
zu bemerken, daß die Gewässer der Baumhöhlungen eine sehr
reiche und interessante Fauna enthalten, eine Fauna, deren
Vergleich mit derjenigen der Umgebungen und der großen
Höhlen sehr wichtig ist. Einige Formen, wie z. B. die Larven
von Chironomus, sind ganz weiß. Um die verschiedenen
Tiere, die in dem Gewässer solcher Baumhöhlungen leben,
zu fischen, ist das kleine Sieb, das ich konstruieren ließ, sehr
zu empfehlen. •*) Im Zusammenhang mit dem Studium der
Höhlenfauna scheint es mir auch interessant, die Aufmerksam-
keit der Zoologen auf die seit vielen Jahren verlassenen
Bergwerke zu lenken, wo sich oft in tiefen Höhlungen Wasser
ansammelt. So z. B. habe ich in Salanfe (Walliser Alpen)
einige solcher Bergwerke besucht, wo sehr wahrscheinlich
eine ganze Menge von Tieren in tiefen Brunnen sich an das
Höhlenleben angepaßt hat. Auch hier könnte der Vergleich
mit der Fauna der großen Höhlen und mit derjenigen der
umliegenden Gegenden vielleicht dem Studium der Höhlen-
fauna neue Anregungen geben.
B. Galli-Valerio (Lausanne).
^) Indian Journal of med. Res., Bd. 3, 1916, S. 489.
*) Centralbl. f. Bakt. Orig., Bd. 78, 1916, S. 90.
Literatur.
Beiträge zur Kenntnis der Meeresfauna Westafrikas, heraus-
gegeben von W. Michaelsen. Bd. II, Lieferung 1. (Cope-
poda, Dekapoda, Stomatopoda, Cumacea , Schizopoda.)
Hamburg '16, L. Friedrichsen. — 5. M.
Inhalte Fr. Bret schneid er. Zur mathematischen Behandlung des Inzuchtgrades. S. 225. F. Schilling, Vitamine. S. 229. —
Kleinere Mitteilungen: L. Reisinger, Eine prähistorische Operation, (i Abb.) S. 231. H. Epstein, Zur Frage
der Genese von Spirula und anderer Tintenfische. S. 232. — Einzelberichte: L. Vegard und O. Krogness,
Höhe des Nordlichts. S. 234. Walther Günther, Der VVildstand im Bialowieser Urwald. S. 234. M. Reuter,
Die Tollwut des Wildes. S. 23=;. Adolf Kutin, Die parasitäre Schlupfwespe der Kohlraupe als indirekter Schädling
des Weizens. S. 236. J. Dewitz, Über die Zucht des Edelseidenspinners im Freien. S. 236. K. A. Hofmann,
Über die Aktivierung von Chloratlösungen durch Osmiumtetroxyd und die Verwendbarkeit dieser Reaktion in der
analytischen Chemie. S. 237. — Bücherbesprechungen: G. Linck, Fortschritte der Mineralogie, Kristallographie und
Petrographie. S. 239. Hermann Lohns, .^us Forst und Flur. S. 239. Novellen aus dem Tierleben. S. 239.
P. Riebesell, Die mathematischen Grundlagen der Variations- und Vererbungslehre. S. 240. — Anregungen und
Antworten: Zum Studium der Höhlenfauna. S. 240. — Literatur: Liste S. 240.
Manuskripte und Zuschriften
Jen an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4,
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg
validenstraße 42, erbeten.
S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge i6. Band;
der ganzen Reihe 32. Band.
Sonntag, den 6. Mai 1917.
Nummer 18.
Über das Altern.
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Rößle, Vorstand des Patho
Das Altern des menschlichen Organismus ist
einer der unerforschtesten Lebensvorgänge. So
alltäglich uns die äußeren Erscheinungen des
Ältervverdens sind, so wenig wissen wir von dem
Wesen dieses Prozesses, wenn wir nicht an der
Oberfläche haften wollen.
Wenn uns in der Natur etwas besonders
rätselhaft erscheint, so tun wir gut, zu versuchen,
uns zunächst darüber Rechenschaft zu geben,
warum die fragliche Naturerscheinung uns so
dunkel vorkommt. Die Schwierigkeit des Alters-
problems scheint eine Reihe von Gründen zu
haben.
Zunächst ist die Schwierigkeit wohl dadurch
bedingt, daß der Ablauf des zu erforschenden
Vorganges ein so langsamer ist. Hierin gleicht
unser Problem vielen anderen biologischen Phäno-
menen , die durch ihr Tempo der Erforschung
widerstreben. Bewegungen mittlerer Geschwindig-
keit und Zustände ohne Bewegungen, dies sind
im allgemeinen diejenigen Gegenstände in der
belebten und unbelebten Natur, denen wir mit
unseren unbewaftneten, aber auch mit geschärften
Sinnen am ehesten beikommen. Sehr schneller
Ablauf physikalischer und chemischer Vorgänge
erschwert Beobachtung und Aufklärung bedeutend,
man denke nur an Muskelzusammenziehung, Herz-
bewegung, Nervenleitung, Explosionen u. dgl. ;
auf der anderen Seite bieten sehr langsame Ent-
wicklungen wieder ihre besonderen Hindernisse;
hier sei an gewisse Bewegungen der Gestirne, an
geologische und mineralogische Schichtungen, an
darwinistische und Erblichkeitsfragen erinnert;
der banale Hauptgrund für die schwere Lösung
dieser P>agen ist die Kürze des menschlichen
Daseins. Während wir aber bei sehr schnellen
Vorgängen uns durch gewisse Hilfsmittel die
einzelnen Phasen, etwa durch kinematographische
Auflösung, verlangsamen und dadurch dem Ver-
ständnis näher bringen können, besitzen wir meist
keine Möglichkeit, Vorgänge von sehr langsamem
Ablauf so zu beschleunigen, daß ein und der-
selbe menschliche Beobachter die Aufeinander-
folge der Einzelheiten erforschen konnte.
Aus diesem Grunde wird derjenige, welcher
sich mit der Untersuchung des Alterns beschäftigt,
gut tun, sich nicht bloß an den alternden
Menschen zu hallen, sondern sein Augenmerk
auch auf solche lebende Objekte zu lenken, welche
rascher altern. Nun ist zunächst auch für den
Laien kein Zweifel, daß das Altern eine im Tier-
und im Pflanzenreich weit verbreitete Erscheinung
') Nach einem Vortrag im Januar 191 7.
logischen Institutes der Universität Jena.
ist; jeder weiß, daß es alte Löwen, alte Pferde,
alte Karpfen, alte Eichen gibt. Es wäre logisch,
das Altern bei der Eintagsfliege zu untersuchen,
wenn es darauf ankommt, den Prozeß auf eine
möglichst kurze Zeitspanne beschränkt zu sehen.
Vorläufig wissen wir aber nicht, ob der physio-
logische Tod bei diesen Insekten durch einen
dem Altern entsprechenden Prozeß eingeleitet
wird. An länger lebigen Insekten und an Würmern
sind diese Verhähnisse besser studiert; es wird
davon später noch die Rede sein. Wenn man
bei noch niedrigeren Lebewesen, etwa bei Ein-
zelligen, von Altern spricht, so kann es sich
zunächst nur um Analogien handeln ; denn wie
wir sehen werden, ist der Altersprozeß der viel-
zelligen im wesentlichen dadurch begründet, daß
die Zellteilungen in den geweblichen Verbänden
ihre Beschränkung erfahren und damit die Möglich-
keit der Verjüngung den Gewebezellen — in
verschiedenem Maße - genommen ist.
In verschiedenem Maße, so sagten wir eben,
unterliegen die verschiedenen Gewebezellen dem
Altersprozeß. Darin liegt nun die zweite Haupt-
schwierigkeit des Studiums des Alterns beim
Menschen. Das Altern des Gesamtorganismus
setzt sich zusammen aus den lokalen Altersvor-
gängen in den verschiedenen Organen. Diese
haben ihr sehr verschiedenes Zeitmaß und z. T.
auch verschiedene Erscheinungsformen. Ein ob-
jektives Verfahren für die Bestimmung des Alterns
haben wir ebensowenig für den ganzen Menschen
wie für seine Teile. Wir vermögen zwar ungefähr
das Alter eines Menschen zu schätzen und zwar
im allgemeinen um so genauer, je jünger das
beurteilte Individuum ist. Pur die Erkennung des
Alters eines Menschen haben wir nur gewisse
Merkmale, die in den Gesichtszügen, in der
Haltung, in den Muskelbewegungen, vor allem
des Mienenspiels und des Ganges liegen. Be-
kanntlich verfügen wir bei anderen Lebewesen
über objektive Altersbestin)mungen; ich erinnere
an die Jahresringe der Bäume, an die Jahresringe
der Hörsteine (Otolithen) und die Schuppen vieler
Fische. Zwar gibt es auch beim Menschen ge-
wisse jahreszeitliche Schwankungen im Wachstum,
sie hinterlassen aber an keinem Gewebe, so viel
wir wissen, ihre Spuren. Eine wirkliche Diagnose
des Alters gibt es also beim Menschen nicht; sie
■ wäre ganz außerordentlich wichtig in wissenschaft-
licher und praktischer Hinsicht, für den Arzt wie
für den Richter, dabei haben wir erst jenes Alter
im Auge, das mit unserem Kalender gemessen
wird und das man das juristische oder standes-
amtliche Alter nennen könnte. Eine andere Frage
242
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
ist aber die, ob es nicht noch ein anderes Aher,
das wahre oder biologische Alter gibt; den Maß-
stab würde der Grad der Abnutzung angeben,
den ein Individuum in seinen wichtigsten Organen
darbietet und könnte somit nicht nach der Zeit,
sondern nur nach der mehr oder minder jugend-
Hchen Beschaffenheit seiner Gewebe bestimmt
werden. Es ist klar, daß auch diese Betrachtungs-
weise bei einer wissenschaftlichen Ausbeutung des
Altersproblems herangezogen werden muß, aber
nur dann, wenn nachgewiesen werden kann, daß
das Altern einer Abnutzung der Organe gleich-
kommt. Ob ein Individuum im Vergleich zu
seinem standesamtlichen Alter verhältnismäßig
jung oder gealtert ist, dies zu bestimmen würde
für den Staat in Fragen des Beamtendienstes, der
Wehrpflicht usw. und für Lebensversicherungs-
gesellschaften von großer Wichtigkeit sein. Wir
haben aber für die Bestimmung des wahren
oder biologischen Alters keine Mittel. Was das
juristische Alter anlangt, so vermögen wir da-
durch, daß die Menschen im allgemeinen sich
gleichmäßig entwickeln und altern, aus den ge-
nannten äußeren Formveränderungen das Alter
einer Person zu erraten. Wir irren uns aber sofort,
wenn jemand wesentlich jünger oder älter aus-
sieht, als seinem juristischen Alter entspricht. Ich
glaube nicht, daß dabei immer wirklich ein Irrtum
in naturwissenschaftlichem Sinne vorliegt; viel-
mehr haben wir allen Grund anzunehmen, daß
unser Blick uns nicht täuschte, wenn wir jemand
für 45 schätzen, der vielleicht 35 Jahre alt ist.
Denn bis zu einem gewissen Grade ist der Alters-
prozeß ein individueller, die Menschen altern ver-
schieden rasch und zwar sind die individuellen
Abweichungen in der Jugend meist gering, in
späteren Lebensjahrzehnten aber merklicher.
Der äußere Anblick kann für die Abschätzung
des wahren Alters aber nur maßgebend sein, wenn
bei einem und demselben Menschen Haut, Muskeln,
Fett und Skelet mit den anderen Organen im Altern
gleichen Schritt halten. Ist dies der h^all ? Bevor wir
diese Frage zu beantworten suchen, müssen wir eine
Vorfrage erledigen. Sie lautet : Sind wir denn in der
Lage, an den inneren Organen wenn auch nicht die
genaue, so doch die ungefähre Diagnose des
Alters ihres Besitzers zu stellen und sind wir also
mithin auch imstande, die Organe in ihrem Alter
zu vergleichen? Diese Frage kann nicht bejaht
werden. Während wir dem Gesicht durch jahre-
lange Übung seine ungefähre Jahreszahl ablesen
können , verfügt auch der erfahrenste Anatom
nicht über die Fähigkeit, aus der Beschaffenheit
der Eingeweide ihre Bejahrung zu erraten, ^) da
vielmehr fast jedes Organ in gewissen Zügen
seine eigenen Altersmerkmale hat, so kann man
weder Äußeres mit Innerem, noch eine Leber mit
') Es würde dies vielleicht dann noch eher möglich sein,
wenn alle Organe im selben Sinne Veränderungen durch das
Altern erlitten ; solche allen Geweben gemeinsamen, insbe-
sondere quantitativ vergleichbaren Altersschicksale kennen
wir aber vorläufig nicht.
dem Herzen genau vergleichen, leider ist deshalb
auch die wichtige Frage meist schwer zu lösen,
ob in einem bestimmten Fall ein Organ ungleich
stärkere Fortschritte im Alter gemacht hat als
ein anderes.
Sieht man zunächst von individuellen Fällen
ab, so erhält man doch bei längerer Beschäftigung
mit diesen Altersfragen den Eindruck, daß der
Körper nicht nur auf dem aufsteigenden Ast
seiner Entwicklung einen gewissen Weg mit be-
stimmter Aufeinanderfolge von Organreifungen
einschlägt, sondern daß dies auch auf dem ab-
steigenden Ast der Fall ist , wenn freilich auch
die Schwankungen und Störungen dieser letzteren
Entwicklung wesentlich größere zu sein scheinen.
Das Ergebnis wäre eine Lebensabwicklung, die
man „harmonisches Altern" nennen könnte.
Die Harmonie des Alterns kann schon sehr
früh gestört sein. Es wäre verkehrt , wenn wir
den Beginn des Altersprozesses etwa dann an-
setzten, wenn der Körper den Wachstumsabschluß
hinter sich hat. Vielmehr müssen wir Wachstum
und Altern begrifflich und dürfen beide nicht
zeitlich streng trennen. Das Wachstum ist nur
eine Nebenerscheinung des Alterns, zwar in
mancher Beziehung eine sehr wesentliche, aber
immerhin sind es keine gegensätzlichen Fhänome,
so wie sie sich andererseits auch nicht decken.
Es ist irrig , das Längenwachstum des Körpers
als Maßstab der Gesamtentwicklung oder des
Ablaufes des Lebens anzusehen und etwa zu be-
haupten, wir alterten erst von dem Momente an,
wo nach dem äußeren Anschein die jugendliche
Periode abgeschlossen ist und wo nach der ana-
tomischen Prüfung die körperliche „Entwicklung"
in Form von Ansatz und Reifung „aufgehört" hat.
Vielmehr müssen wir in naturwissenschaftlichem
Sinne den Altersprozeß mit der ersten Organ-
ausbildung, also mit den ersten embryonalen
Stufen beginnen lassen. Leider steht dem der
Sprachgebrauch im Wege, indem man unter
Altern gemeinhin das Auftreten greisenhafter
Eigentümlichkeiten oder zum mindesten die
Annäherung an höheres Alter versteht. Es fehlt
uns leider ein Ausdruck für den Vorgang, daß
wir von der ersten Minute unseres Lebens in
einer Verwandlung begriffen sind, die zuerst
schnell, dann immer langsamer erfolgt, aber nie
ganz aufhört. In diese Verwandlung inbegriffen
ist das Wachstum, welches jedes Organ für sich
vollendet; dieses Wachstum verdeckt sozusagen
den Altersprozeß bis zu einem gewissen Grade;
erst nachdem jedes Organ seine „definitive" Größe
erreicht hat, kommt der weitere Ablauf des
Altersprozesses klar zum Vorschein. Daß Wachs-
tum und Altern sich nicht decken, ergibt sich
aus anatomischen Beobachtungen pathologischer
Art: so aus der Tatsache, daß das Wachstum
wie beim Zwergwuchs stille stehen kann, ohne
daß die Zwerge deshalb aufhörten zu allern.
Nur in einem Punkte sind Wachstum und
Altern als gegensätzlich anzusehen : sie wirken
N. F. XVI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
243
einander entgegengesetzt. Um dies zu verstehen,
ist es notwendig, auf das Wesen beider Er-
scheinungen einzugehen. Das Wesen des
Wachstums besteht in der Vermehrung der leben-
den Substanz; sie geschieht durcli Größenzunahme
und durch Vermehrung der Zellen. Da das Wachs-
tum der Einzelzelle durch Größenzunahme bei den
meisten Lebewesen eng begrenzt ist, so spielt die
Zellteilung als Mechanismus des Organwachstums
die Hauptrolle. Das Wesen des Alterns hingegen
besteht in der spezifischen Ausreifung der Zellen,
in Ausbildung gewisser chemischer und struktu-
reller Eigentümlichkeiten, in der Zytomorphose,
wie Minot sagt. Diese beiden Grundfähigkeiten
der Zelle, zur Vermehrung und zur Differenzierung,
wirken nun insofern einander entgegengesetzt, als
die Fähigkeit zur Zellteilung entschieden mit der
Höhe des spezifischen Ausbaues der Zelle abnimmt
und umgekehrt Zellen, welche in starker Vermeh-
rung begriffen sind, keine Ausreifung zeigen, wie
wir es in stärkstem Maße bei den Zellen der bös-
artigen Geschwülste wahrnehmen, die schließlich
zu einer jeder besonderen ßaueigentümlichkeit ent-
behrenden Zellbrut entarten (Anaplasie). Wir
hätten damit einen Anhaltspunkt dafür, die Zeit
zu bestimmen, wann das Altern des Organismus
oder richtiger gesagt, der einzelnen Gewebe be-
ginnt. Es beginnt dann, wenn sich in und zwischen
den Zellen proto- und paraplasmatische Strukturen
bilden, wahrscheinlich sind damit auch definitiv
durch kolloidchemische Festigung Teile aus der
lebendigen Substanz abgegeben.
Mit der Erreichung einer gewissen Differen-
zierungshöhe scheint dann die Fähigkeit der Zellen
zur Teilung ganz aufzuhören. Wir haben allen
Grund anzunehmen, daß die Zellen des mensch-
lichen Herzens und die Ganglienzellen des Nerven-
systems sehr bald definitiv angelegt werden und
sich durch die Lebensjahrzehnte hindurch nicht
erneuern. Da sie mithin zu den längstlebigen
Zellen des Körpers gehören, müßten sie, zumal
sie auch zu den tätigsten zählen, die Zeichen des
Alterns am ausgeprägtesten tragen, wenn ihnen
nicht besondere Möglichkeilen der Verjüngung
oder sonstiger Altersvermeidung zu Gebote stehen.
Damit kommen wir zur Frage der Verjüngung.
Es liegt auf der Hand, daß die Möglichkeit der
Verjüngung einem Organismus Schutz vor dem
natürlichen Tod durch Alter und daher Unsterblich-
keit verleiht. Die Unsterblichkeit ist im Reiche
der lebenden Welt weit verbreitet. Bei den nieder-
sten Tierkreisen ist sie noch mit der Fortdauer
der Individualform verknüpft: das Individuum selbst
ist unsterblich und nur Teile von ihm gehen zu-
grunde; wir wissen das aus den schönen Unter-
suchungen von Woodruff und Erdmann; sie
haben gezeigt, daß einzellige Lebewesen (Paramäcien)
imstande sind, nach einer Reihe von Vermehrungs-
teilungen eine periodisch wiederkehrende Reor-
ganisation ihres Kernapparates durchzuführen.
Vor dieser inneren Umwälzung zeigen sie ein Ver-
halten, welches in einigen Grundzügen an das
Altern höher stehender Tiere erinnert. Sie ver-
mögen also, sich aus sich heraus immer wieder
zu verjüngen. Woodruff und E r d m an n nennen
diesen Vorgang „Endomixis" zum Unterschied
von der Amphimixis; diese ist bereits eine höhere
Form der Lebensauffrischung, sie geschieht durch
eine Vereinigung zweier Individuen und einen
Austausch von Kernstoffen zwischen diesen. Die
vorübergehende Zellverschmelzung in der Konju-
gation ist die älteste Form der Sexualität und
sichert den sich wieder trennenden Partnern neue
Lebensdauer. Der ursprünglichste Sinn der Sexu-
alität ist mithin die Neubildung jugendlicher leben-
diger Substanz. Die Sexualität ist das Mittel
gegen Alter und Tod oder genauer gesagt, gegen
den Tod durch das Alter. Mit der höheren Or-
ganisation der Tierklassen ändert sich dies nicht,
sondern es ändert sich bloß der Wert, den die
Natur auf das Individuum liegt. Bei den Einzelligen
hing die Erhaltung der Art von der Erhaltung des
Individuums ab, bei den Vielzelligen wird das
Individuum mehr und mehr zum vorübergehenden
Träger der unsterblichen Substanz der Keim-
stoffe.
Aus theoretischen Gründen müssen wir also
annehmen, daß das Altern eine Grundnotwendig-
keit der lebendigen, zellig organisierten Substanz
ist, sowie es eine Grundfähigkeit derselben ist, zu
wachsen. Aber auch die Erscheinungen, die
wir an der lange nicht erneuerten, nicht aufge-
frischten, nicht verjüngten Zelle des Infusors wahr-
nehmen, entsprechen in wesentlichen Punkten den
Alterserscheinungen bei den Geweben der höch-
sten Lebewesen, wie beim Menschen. Die eine
Erscheinung ist die fortschreitende Unfähigkeit
zur Zellteilung, zum Wachstum, zur Vermehrung;
vor der Endomixis wie vor der Amphimixis (Kon-
jugation) sinkt bei Paramäcium die Zahl der
Teilungen auf ein Minimum; das Nachlassen der
Zellvermehrung in den menschlichen Geweben mit
dem Alter haben wir oben als eines der wichtig-
sten Altersmerkmale verzeichnet. Jedoch müssen
wir hier eine Bemerkung einschalten: ein Organ
erreicht seine endliche Größe im wesentlichen
durch Vermehrung seiner spezifischen Zellen; die
Gründe für das Aufhören dieser Vermehrung, also
für den Wachstumsabschluß sind ganz dunkel; in
der Differenzierung der Zellen mag für manche
Gewebe die wichtigste Bedingung hierfür gegeben
sein; jedoch kann dies nicht für alle gelten; denn
wir wissen, daß auch hoch differenzierte Zellen
die Teilfähigkeit keineswegs immer einbüßen; so
schließen sich kleine Lücken in den Reihen der
Nieren- und Leberzellen, die durch physiologischen
Verschleiß oder Untergang durch Krankheit ent-
standen sind, sofort durch Teilungen der den
■Lücken benachbarten Epithelien; es ist uns Patho-
logen nichts darüber bekannt, daß etwa die re-
generatorische Zellneubildung im höheren
Alter versagte. Jedenfalls ergibt sich aus ihr, daß
bei vielen Organzellen auch des alten Menschen
eine gewisse, nicht näher bekannte chemische
244
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i8
oder physikalische Situation sofort den Teilungs-
apparat in Gang setzt.
Die zweite wichtige Erscheinung, durch welche
„alternde" Infusorien und alternde menschliche
Gewebezellen sich gleichen, sind die Anhäufungen
von abgenutztem protoplasmalischem Material.
Sowohl bei der Endo- als bei der Amphimixis
beseitigen die Paramäcien altes Kernmaterial durch
Ausstoßung und Auflösung. Eine große Anzahl
Individuen, bei denen offenbar die Beseitigung
dieser Altersschlacken nicht gelingt, geht zugrunde.
Wir kennen, wie gesagt, an den Gewebezellen
keinen Vorgang, der der Kernerneuerung der In-
fusurien gleichzusetzen wäre; und daher müssen
wir vorläufig die Verjüngung menschlicher Gewebe
auf diesem Wege als ausgeschlossen erachten; aber
wir werden nicht fehlgehen, wenn wir gewisse Kern-
produckte im Protoplasma der Gewebezellen in
Parallele zu den Zerfallsprodukten desMakronukleus
beim Infusor setzen. Der wesentliche Unterschied
ist der, daß offenbar gewisse Gewebezellen sich
dieser Altersschlacken nicht oder nicht ganz ent-
ledigen können; das sog. Abnutzungspigment
(Lipofuscin) ist als der sichtbare Ausdruck dieses
Altersprozesses anzusehen; dieses Pigment ist in
zahlreichen Geweben, mit dem Alter in steigender
Menge, anzutreffen; bemerkenswerterweise findet
es sich gerade in jenen Organen am frühesten
und später am massenhaftesten, die einer Selbst-
erneuerung durch Zellmauserung am wenigsten
fähig sind, nämlich Ganglienzellen (besonders ver-
schiedener bevorzugter Hirngebiete, Sympathikus,
Spinalganglien) Herzmuskelzellen, Muskelzellen der
quergestreiften Skelettmuskulatur (besonders wieder
des Atmungsapparates) und der glatten Muskula-
tur (besonders der Blutgefäße und des Darmes).
Der Beginn der Ablagerung reicht für das Herz-
pigment und für das Darmmuskelpigment in das
Kindesalter, auch für das Ganglienzellpigment in
das erste Lebensjahrzehnt zurück. Ich glaube, die
Beziehung dieses Pigments zu Kernstoffen nach-
gewiesen zu haben. Dadurch erhält die Hensen-
sche Hypothese von der Alterschlackenbildung der
Kerne eine wesentliche Stütze. Hensen führte
aus, daß das Altern auf einer allmählichen An-
lagerung von Stofifwechselschlacken an die chroma-
tischen Kernsubstanzen beruhen könne; bei der
Vorbereitung zur Befruchtung befreie sie sich
durch Ausstoßung der Richtungskörperchen davon.
Wir wollen hier nicht erörtern, weshalb die
Hensen 'sehe Hypothese nicht dieselbe Gültig-
keit für Geschlechtszellen wie für Gewebezellen
haben dürfte, sondern nur ihren Kern anerkennen.
Es hat wohl eine Bedeutung, daß gerade die
frühzeitig so hochdifferenzierten Zellen, wie die des
Herzens und der Ganglien die Produkte ihres
Altersprozesses sichtbar werden lassen, während
andere Gewebe davon frei zu bleiben scheinen,
insbesondere die Wechselgewebe, vor allem die
Epithelien der Haut und der Schleimhäute, sowie
die Blutzellen; in ihnen herrscht, z. T. über den
Tod des Individuums hinaus, Zellneubildung.
Vielleicht kann man das Liegenbleiben von —
natürlich toten — am Lebensprozeß nicht mehr
teilnehmenden Einschlüssen in hochdifferenzierten
Zellen bis zu einem gewissen Grade mit dem Vor-
gang dtr Differenzierung selbst vergleichen, indem
auch diese in der Ein- und Anlagerung nicht mehr
völlig lebender Plasmastrukturen besteht. Denn
die paraplastischen Differenzierungsprodukte wie
Fibrillen, Fasern, Stütz-Grundsubstanzen aller Art
sind keine voll lebendigen Gewebsteile mehr. Es
scheint nun, als ob Anwesenheit solcher halbtoten
und toten Zellteile die Zellvermehrungen hinderte und
wir hätten hierdurch eine Möglichkeit für die Er-
klärung, daß Differenzierung wie Alter, zwei an
sich so verschiedene Vorgänge, die Wachtums-
vorgänge hemmen.
Daß auch Gewebe sich gegenseitig im Wachs-
tum beeinflussen können, ist uns nicht nur aus
vielen Erfahrungen der normalen und patholo-
gischen Entwicklungsgeschichte bekannt, sondern
auch durch Experimente über das Wachstum von
Geweben in vitro deutlicher geworden. Züchtet
man z. B. Nervengewebe in Plasma, so kann man
sein Wachstum durch Zusatz von Bindegewebe
hemmen. Hierbei dürften weniger physikalische
als chemische Wirkungen im Spiele sein. Denn
umgekehrt vermögen Preßsäfte von lebhaft wuchern-
den Geweben, wie Embryonen, Geschwülste u. dgl.,
das Wachstum von anderen Geweben in vitro an-
zuregen.
Daß gewisse Säfte imstande sind, Wachstum
anzuregen und gleichzeitig eine Art Verjüngung
zu erzeugen, geht aus den berühmten Versuchen
Claude Bernards über die Injektion von Hoden-
saft und die späteren Experimente Harm's her-
vor und zeigt auch so wieder das Verhältnis von
Wachstum und Altern.
Es liegt auf der Hand, welche Bedeutung es
hätte, wenn sich die Bedingungen über die ver-
minderte Wachstumsfähigkeit der Gewebezellen
im Alter mehr aufklären ließen. Ferner wäre es
wichtig, genau zu erfahren, ob und inwieweit
auch die physiologische Regeneration im hohen
Alter nachläßt und schließlich, ob etwa neben
dem Größenschwund der Zellen auch eine nume-
rische Verminderung der senilen Parenchymzellen
eintritt.
Wenn wir uns an die sichtbaren Ver-
änderungen der Gewebe im Alter halten,
so wäre eine weitere Aufgabe, zu untersuchen, ob
sie untereinander irgendwie ursächlich zusammen-
hängen ; als die wichtigsten Veränderungen sind
aufzuzählen die eben genannte Atrophie, die schon
vorhin erwähnte häufige Pigmentablagerung, die
Vermehrung des Bindegewebes und der elastischen
Fasern, die Verfettungen.
Sind diese Erscheinungen einander gleichwertig,
etwa als Wirkungen derselben einheitlichen Ur-
sachen und sind sie gleichzeitig, oder ist eine
darunter, welche wir als zeitlich und ursächlich
primär ansehen könnten? Es kann uns hier nicht
mehr genügen, den Altersprozeß mit Schlagworten
N. F. XVI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
245
oder mit Umschreibungen charakterisieren zu
wollen, etwa indem wir sagen, er sei ein Ab-
nulzungsvorgang schlechthin oder indem wir, wie
es zuweilen geschehen, behaupten, die lebendige
Substanz jeder Art vermöge nur eine beschränkte
Zahl von Zellteilungen durchzumachen und nach
diesen trete das Greisenalter und der Tod durch
Erschöpfung ein. Vielmehr sehen wir, daß nicht
etwa das Gewebe langsamer altert oder das-
jenige Individuum länger lebe, welches sich schont,
sondern daß der Altersprozeß auch in hohem
Maße unabhängig erscheint von dem Zellver-
schleiß. 1)
Aber wir bedürfen der unbestimmten Kenn-
zeichnungen des Altersprozesses gar nicht. Wenn
wir vorhin auf Grund vergleichender Beobach-
tungen über des Altern der Gewebe theoretisch
zu der Anschauung gekommen sind, daß die
wesentlichste Erscheinung des Alters die mangelnde
Verjüngung durch Nachlassen der Zellerneuerung
ist und daß diese wiederum durch Zunahme der
Differenzierungsprodukte bedingt ist, so kommen
wir auch bei einer Abwägung der sichtbaren Ver-
änderungen in den senilen Geweben zu der Über-
zeugung, daß es die Vermehrung der paraplas-
tischen Substanzen, vor allem des Bindegewebes,
die Alterssklerose ist, von der die I'igmen-
tierung, der Schwund und die anderen Eigen-
tümlichkeiten der gealterten Gewebe abhängig
sind.
Von der Allerssklerose bleibt kein Organ ver-
schont. In allen Drüsen, in allen Parenchymen
überhaupt vermehrt sich das unspezifische Siütz-
gerüst; die Organe werden zäher, ob außer der
Quantität die Qualität des Bindegewebes sich
ändert, ist nicht genügend untersucht. Durch den
zunehmenden F"aserreichtum verliert das Binde-
gewebe selbst an Jugendlichkeit, aber auch die
Beziehungen zum Epithel werden andere, indem
allerorten die Hüllschichtcn dichter, die Basal-
membranen derber werden. Es mag sein, daß
die senile Atrophie der Zellen z. B. auch von den
hierdurch verschlechterten Ernährungsbedingungen
abhängig ist und dazu werden außerdem die Alters-
veränderungen der feinsten Gefäße selbst mit
Verdichtung der Gefäßwand beitragen. Die sich
zwischen funktionierende Zellen einerseits, Blut-
und Lymphbahn andererseits schiebenden Mem-
branen schlechterei- osmotischer Qualität erschweren
nun natürlich ebenso Stoffzu- als Stoffausfuhr; die
schlechtere Ernährung bedingt Atrophie, die
schlechtere Reinigung der lebendigen Zellmassen
bedingt Liegenbleiben von Stoffwechselprodukten.
So verstehen wir wohl die Verkleinerung, die
Alterspigmentierung und die Verfettungen seniler
Zellen. Die Pigmentatrophie finden wir in der
Niere nur in den Teilen, wo die senilen Ver-
') Die krankhafte Wucherung von Krebszellen aus Ge-
weben alter Leute als Beweis für die nicht erloschene Teil-
fähigkeit seniler Zellen anzusehen, geht nicht an, weil wir
über die Natur der ursprünglichen MutterzcUen der Ge-
schwülste nichts wissen.
änderungen des Zwischengewebes ausgeprägt zu
sein pflegen, nämlich im „Mark", an Leber und
Nebenniere an denjenigen Enden der Zellsäulen,
die schon physiologisch nur über eine Ernährung
zweiten Ranges verfügen und wir sehen besonders
starke Grade der Pigmentatrophie daselbst, wenn
sie durch Stauungszustände dritten Ranges wird.
Übrigens ist die Verbreitung bzw. die örtliche
Menge des im Alter abgelagerten Pigments starken
individuellen Schwankungen unterworfen. Die
Pigmentierung geht nach meinen Erfahrungen der
Sklerose parallel und andererseits zeigen im all-
gemeinen „gut konservierte" alte Leute wenig von
beiden Erscheinungen ; es spricht dies sehr dafür,
daß diese wichtigsten Alterprozesse ursächlich zu-
sammenhängen.
Das Auftreten von Verfettungen deutet auf
Störungen der Verbrennungsprozesse und damit
auf eine Beeinflussung des Stoffwechsels der
Zellen, wenn auch im Gesammstoffwechsel keine
deutlichen Unterschiede gegenüber mittleren
Altersstufen sich durch physiologisch-chemische
Untersuchungen ergeben haben. Solche Lipoid-
ablagerungen zeigen im Alter viele Epithelien
(Niere, Prostata, Schilddrüse, Hypophysis usw.),
Grundsubstanzen (Knorpel, Nierenmark, Linse,
Hornhaut; Greisenbogen I) ganz abgesehen davon,
daß das Alterspigment selbst — wenn auch wech-
selnd stark — lipoidhaltig ist.
Geht man der Neigung der alternden Gewebe,
ihr Bindegewebe anzureichern auf den Grund, so
kann man die Vermutung äußern, daß es sich
um einen kompensatorischen Vorgang handelt.
Nicht etwa in dem Sinne, daß wegen der Atrophie
der spezifischen Elemente der Organe, etwa der
Epithelien, eine Lückendeckung durch unspezi-
fisches P'üllgewebe, sozusagen ex vacuo auftritt, —
dies besorgt eher das Fettgewebe (Thymus, Nieren-
becken, Darmsubmukosa usw.) — vielmehr dürfte
es sich um eine sog. vikariierende Hypertrophie
handeln. Das alte Bindegewebe läßt nach, rück-
und neugebildet wird es nicht, es kann aber neues
Bindegewebe angesetzt werden.
Betrachten wir das Altern einen Augenblick
vom funktionellen Standpunkt, so ist es in dieser
Hinsicht vor allem durch den Nachlaß der Kräfte
gekennzeichnet und dies läßt sich für eine Reihe
von Organen durchführen; die Unfähigkeit älterer
Menschen zu einem körperlichen oder geistigen
Rekord ist der allgemein bekannte Ausdruck hier-
für. Die Zeit der möglichen Höchstleistungen ist
aber für jedes Organ verschieden; Gewebe, welche
jedenfalls sehr frühzeitig „nachlassen", sind Binde-
gewebe und glatte Muskulatur. Wir schließen die
Verschlechterung der Leistung am Bindegewebe
aus den physiologischen und pathologischen Ver-
schiebungen der Organe, die durch Nachgiebigkeit
des Bindegewebes gegenüber Druck und Zug be-
dingt sind, am Muskelgewebe z. B. besonders früh-
zeitig aus dem allmählichen Umbau der Arterien-
wände. Dem Nachlassen der Haltefähigkeit des
Bindegewebes kann nun durch Anhäufung weiteren
246
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 18
Bindegewebes abgeholfen werden. Wir werden
also nicht fehlgehen, wenn wir wenigstens zum
Teil die Reichlichkeit des Bindegewebes in allen
Organen auf eine kompensatorische Verstärkung
zurückführen.')
Man wird in einer solchen Annahme bestärkt
durch eine weitere Eigentümlichkeit alternder Ge-
webe, welche zu ähnlicher Auffassung drängt,
nämlich die Vermehrung elastischer Fasern an
vielen Stellen des Körpers. Die Stellen, wo wir
solche finden, haben das Gemeinsame, daß die
Gewebe daselbst starken Volumenschwankungen
ausgesetzt sind, wie die Blutgefäße, die Lungen,
der Magen, die Gebärmutter, die Milchdrüse, die
Leber, die Samenblasen, das Herz, die Prostata,
die Haut. Wenn bei Organen mit wechselnden
Füllungs- und Spannungszuständen elastische Faser-
netze gefunden werden, so nimmt uns dies ja
nicht \Vunder, wohl aber erfahren wir vielleicht
mit Überraschung, daß die Ausbildung des „defi-
nitiven" Gehalts an elastischen Fasern nicht etwa
sich an das Entwicklungsalter des Organs hält,
sondern da und dort sich erst am ausgewachsenen
und bereits länger Vollreifen Organe einstellt; wir
haben dafür vorläufig keine bessere Erklärung,
als daß auch das elastische Gewebe funktionell
für die Einbuße an Leistung an ähnlichen Ge-
weben, nämlich Bindegewebe und Muskulatur ein-
springt und so Schädigungen hintanhält, die durch
frühzeitiges Altern dieser eintreten könnten. Wenn
wir im vorhergehenden auf Veränderungen und
Zustände hingewiesen haben, die für das Verständ-
nis des Alterns deshalb von grundsätzlicher Be-
deutung sind, weil sie an allen oder fast allen
Organen anzutreffen sind, so muß doch nochmals
hervorgehoben werden, daß die einzelnen Verände-
rungen, wie die Altersatrophie, die Alterspigmen-
tierung, die Alterssklerose, die Anreicherung des
elastischen Gerüsts, die lipoiden Ablagerungen, in
den verschiedenen Geweben zu sehr verschiedenen
Zeilen erfolgen. Jedes Organ hat seine eigene
Entwicklungs- und Altersgeschichte und wir
sprechen von einem harmonischen Altern, wenn
die Organe in einer gewissen erfahrungsgemäßen
Reihenfolge und mit einer abgestuften Stärke jene
Veränderungen erleben. Der Begriff der Norm
ist auch hier wieder ein rein empirischer und wir
haben deshalb leider, wie schon hervorgehoben,
keinen absoluten Maßstab für das Alter; dies um
so weniger, je mehr die individuellen Befunde
schwanken. Wir schätzen diejenigen glücklich,
welche bis in hohe Lebensjahrzehnte im Besitz
ihrer körperlichen und geistigen Kräfte bleiben.
Aber wie wenigen ist dies vergönnt; nicht nur,
daß bei den meisten Menschen Krankheiten das
Bild des gesunden Alterns trüben, sondern auch
das Altern selbst kann aus seiner Bahn entgleisen
durch Disharmonien.
') In dieser Ansicht liegt die weitere inljegriffen, da6 die
physikalischen, bzw. physikalisch-chemischen Eigenschaften
der gebildeten Fibrillen mit der Zeit sich ändern und man
käme auch von da auf kolloidchemische Probleme des Alters.
Von „disharmonischem Altern" möchte ich
sprechen, wenn ein Organ aus jener normalen Reihen-
folge ausbricht; es kann dies in einem zweifachen
Sinne geschehen: entweder indem es seine Ent-
wicklung verlangsamt und dadurch zwischen anderen
ausgereiften Organen ein jugendlicheres Stadium
der Entwicklung darstellt; die Vollreife würde
also dann entweder verspätet erfolgen, oder über-
haupt ausbleiben, wenn die Entwicklungshemmung
eine dauernde wäre; man pflegt in solchen Fällen
von Infantilismus zu sprechen und wenn wir den
Begriff sehr weit fassen, und beachten, daß diese
Fehlentwicklung bald den ganzen Körper (gewisse
Formen von Zwergwuchs), bald gewisse zusammen-
gehörige Teile (Genital- und Zirkulationssystem),
bald nur einzelne Organe oder gar partielle P'unk-
tionen (Muskeln, Gehirn) umfdßt, so ist diese Be-
zeichnung ganz gut. Wenn ein erwachsener Mensch
zeitlebens „ein Kindskopf" bleibt oder eine Frau
ihre Backfisch-Neigungen beibehält, so sind dies
partielle Infantilismen, die auch dem Laien als
solche verständlich sind.
Im Gegensatz zu diesen verspäteten Jugend-
erscheinungen gibt es eine andere Art von „dis-
harmonischem Altern", das sind die Fälle von
vorzeitigem Altern bestimmter Organe. Wir meinen
damit z. B. die Erscheinungen der überstürzten
Geschlechtsreife (Pubertas praecox), ferner geistige
Frühreife, gewisse Formen des Zwergwuchses mit
zu frühem Verschluß der Epiphysenfugen, sodann
das isolierte Greisenalter einzelner Organe. Die
präsenile Relaxation des Bindegewebes ist eine
häufige Erscheinung; sie gibt an niannigfachen
Stellen des Körpers zu Störungen Veranlassung;
was sonst erst bei hoher Bejahriheit (wenn auch
nicht bei allen im gleichen Maße), auf/.utreten
pflegt, stellt sich dann schon in mittleren Lebens-
jahren ein; die vorzeitigen Senkungen der Hais-
und Baucheingeweide, des Brustkorbes, die soge-
nannten Ptosen, hierher gehört auch das vorzeitige
Ergrauen der Haare, die Verfrühung der Alters-
erweiterung und Alterssklerose der Blutgefäße, die
präsenile Involution der Milchdrüse (Hedinger),
die gelegentlich gefundene frühzeitige braune
Atrophie des Herzens. Nicht zu vergessen ist
schließlich die senile Verblödung. Dieses Beispiel
ist von besonderer Wichtigkeit; denn es zeigt uns
erstens, daß ein zusammengesetztes Organ von
topographisch unterschiedlichen Funktionen, wie
das Gehirn, örtlich verschieden stark altern kann
und zweitens, daß das krankhafte beim disharmo-
nischen Altern nicht nur in den zeitlichen Ver-
hältnissen, im Altern zur Unzeit, gegeben zu sein
braucht, sondern in der Übertreibung normaler
seniler Prozesse zur gehörigen Zeit bestehen kann.
Die senile Demenz ist keineswegs eine Krankheit,
die uns durch ihr zeitliches Auftreten, sondern
durch ihre anatomische und klinische Intensität
auffällt. Es ist eine sehr wichtige Feststellung
Alzheimer's, daß es sich bei der senilen
Demenz um dieselben Abbauvorgänge am Gehirn
handelt, wie sie beim normalen Altersschwund
N. F. XVI. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
247
der Hirnsubstanz gegeben sind und daß das
Pathologische nur in der krankhaften Verstärkung
dieser Vorgänge bestehe.
Unsere Betrachtungen über das disharmonische
Altern bestärken uns in der Anschauung, daß
die Altersprozesse, sobald die Erneuerung der
lebenden Substanz durch Aulhören des Wachs-
tums ausgeschlossen ist, zu einer endgültigen
Abnutzung, zu einem vollkommenen Aufbrauch
führen müssen. Findet dieser an einem lebens-
wichtigen Gewebe statt, so muß der Tod erfolgen.
Da es zahlreiche Organe im menschlichen Körper
gibt, welche lebenswichtig sind, so liegt es auf
der Hand, daß der physiologische Tod auf ver-
schiedene Weise wird eintreten können. Ob er
es tut, ist eine andere Frage. Bei dem disharmo-
nischen Altern wird der Tod eben von dem
Organ aus einsetzen, welches übermäßig — im
Vergleich zu den anderen — abgenutzt ist und
sofern es nur in irgendeinem Sinne lebenswichtig
ist, wird es die jugendlicher gebliebenen Organe
in seinen Untergang mit hineinziehen. Beim
harmonischen Altern aber liegt die Wahrschein-
lichkeit vor, daß der Tod, den wir alsdann einen
wahrhaft natürlichen Tod nennen können, doch
von einem bestimmten Organ ausgeht. Beim
Menschen ist diese Frage nicht zu entscheiden;
denn man bekommt so gut wie niemals Fälle
dieses natürlichen Alterstodes. Gewiß sterben
eine ganze Anzahl Menschen an „Altersschwäche",
aber gewöhnlich so, daß bei herannahendem Tod
sich noch irgendeine „interkurrente" Krankheit
einstellt, welche das Bild des reinen Alterstodes
zu trüben pflegt. Aus diesem Grunde muß auch
hier die vergleichende Forschung einsetzen; sie
befindet sich noch in den ersten Anfängen ; jedoch
liegen zwei bedeutsame Arbeiten in der ge-
wünschten Richtung bereits vor; so hat Harms
das natürliche Absterben bei einem Röhrenwurm,
V. Hansemann bei Stabheuschrecken verfolgt;
die Äußerungen des Alters sind bei den niederen
Tieren im Wesen die gleichen wie beim Menschen,
nämlich Nachlassen der Beweglichkeit und Er-
regbarkeit. Als anatomische Grundlage fanden
sich Entartungserscheinungen und Schwund der
Nervenzellen. Harms insbesondere konnte —
was auch für den Vergleich mit dem Menschen
nach dem oben Gesagten richtig erscheint —
zeigen, daß die verschiedenen Teile des Zentral-
nervensystems der spontanen Auflösung verschieden
rasch anheimfallen ; er stellte ferner fest, daß bei
seinem Objekt diejenigen Teile den anderen dabei
vorausgehen, welche die Blutversorgung und
Nervenleitung der Bauchhölilenorgane und der
Kiemen regieren. Der Tod greift dann in eigen-
tümlicher Weise vom Bauchteil auf den Brustteil
des Wurmes über.
Es gibt nicht nur Ästheten, welche das Sterben
für einen Unfug, sondern auch ernsthafte Natur-
forscher, welche eine körperliche Unsterblichkeit
für ein mögliches Ziel des Menschengeschlechts
halten. Müssen wir es aber schon für eine Utopie
hallen, den Tod durch Krankheit, Krieg und
Unfall auszumerzen, so erst recht, den natürlichen
Tod durch Alter beseitigen zu wollen. Denn das
Altern ist eine Naturnotwendigkeit, alle lebendige
Substanz strebt, wie sie auch gestaltet sein mag,
einem natürlichen Ende zu; der Mensch altert
schon vor der Geburt; Verjüngungen kommen
nur in Märchen vor. Gesund sein ist Alles; der
Tod durch Alter ist der schönste Tod; er ist der
einzig natürliche.
Einzelberichte.
Zoologie. Gesetzmäßigkeit beim Fortschreiten
der P'eldmäusepiagen in Süddeutschland. Seit dem
Jahre 1905 wurden in der kgl. Agrikulturbotanischen
Anstalt in München alle Bestellungen von Be-
kämpfungsmitteln gegen die Feldmäuseplagc genau
tabellarisch eingetragen. Je zahlreicher die Be-
stellungen aus ein und demselben Regierungsbezirk
einliefen, desto sicherer war daraus der Schluß zu
ziehen, daß dieser Kreis gerade zu der Zeit der
Hochflut der Bestellungen besonders unter den
Schädlingen zu leiden hatte. Um Irrungen aus-
zuschalten, wurden überdies immer noch die gut-
achtlichen Äußerungen der Vertrauensmänner der
Anstalt in den einzelnen Kreisen eingeholt. Prof
Dr. L. Hiltner hatte schon früher (Praktische
Blätter für Pflanzenbau und Pflanzen-
schutz, 13. Jahrg. 1915 Heft 9) nach seinen
tabellarischen Aufzeichnungen die Tatsache hervor-
gehoben, daß jede Feldmäuseplage in der bayer.
Rheinpfalz wesentlich früher bemerkbar wurde als
im rechtsrheinischen Bayern und „daß sich hier
wiederum die Feldmäuse stets zuerst in den west-
lichen Teilen des Landes und im Süden Ober-
bayerns geltend machten, um dann zu einer Zeit,
wo die Plage im Westen schon wieder im Ver-
schwinden war, erst in den östlichen Gebieten
aufzutreten." Aus dieser mehrmals erkannten
Verlaufsrichtung ging deutlich hervor, daß die
Feldmäuseplagen über Bayern im allgemeinen
von Westen nach Osten fortschreiten. Aber nicht
nur die Verlaufsrichtung, derzufolge sich die
Schädlinge über Bayern verbreiten, scheint einer
bestimmten Gesetzmäßigkeit zu unterliegen, auch
die Intervalle, welche zwischen dem Auftreten in
der Pfalz und im rechtsrheinischen Bayern zu er-
kennen waren, scheinen, darauf macht Prof.
Hiltner neuerdings in derselben Zeitschrift (14.
Jahrg. igiöHeft 12) aufmerksam, nach bestimmten
Gesetzen geregelt zu sein: Im 2. Halbjahr 1905
248
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. i8
war die Pfalz besonders stark von Feldmäusen
heimgesucht, während vom rechtsrheinischen
Bayern zu derselben Zeit — abgesehen von einem
nie verlöschenden Herd im südlichen Oberbayern —
nur wenig Klagen über die Schädlinge einliefen.
Erst im Frühjahr 1907 traten in Unter- und IVIittel-
franken die Mäuse häufiger auf und im 2. Halb-
jahr 1907 war im Gegensatz zu der Pfalz fast das
ganze rechtsrheinische Bayern stark befallen.
„Zwischen dem Auftreten der Plage in der Pfalz
und im rechtsrheinischen Bayern ist also damals
ein Zeitraum von i V2 Jahren Verstrichen." In der
Pfalz rührten sich dann die Mäuse erst wieder im
I. Halbjahr 1909, im rechtsrheinischen Bayern
dagegen — wiederum zuerst in den fränkischen
Provinzen, dann aber auch in Schwaben und Ober-
bayern — erst im i. Halbjahr 19 10. „Die Zeit
zwischen dem stärkeren Auftreten in der Pfalz
und im rechtsrheinischen Bayern betrug demnach
bei dieser Mäuseplage nicht mehr 1^/3 Jahre,
sondern nur mehr i Jahr." Die nächste Mäuse-
plage begann in der Pfalz im Frühjahr 191 2.
„Diesmal verlief aber nur '/.^ Jahr, bis sie auch in
Unter- und Mittelfranken hervortrat." Diese regel-
mäßige Verkürzung der Zwischenzeiten zwischen
dem Auftreten der Feldmäuse in der Pfalz und
in den westlichen Provinzen des rechtsrheinischen
Bayerns um ^2 J^'hr mußte notwendigerweise bei
der nächsten Plage zu einem Zusammenfallen der
Auftritiszeiten in den beiden Gebieten führen.
Tatsächlich ergab denn auch die in der 2. Hälfte
des Jahres 191 5 einsetzende P"eldmäusekalamität
ein gleichzeitiges Auftreten der Schädlinge in den
Gebieten der Rheinpfalz und der ostbayerischen
Regierungsbezirke. Wie sich diese Verhältnisse
nun in Zukunft gestalten werden, darüber läßt
sich natürlich heute ebensowenig noch etwas Be-
stimmtes aussagen, wie über die vermutliche
Ursache dieser zeitlichen Verschiebungen.
H. W. Frickhinger.
Geologie. Die Kohlenvorräte des Deutschen
Reiches bis zu einer Tiefe von 2000 m betragen
nach H. E. Böker (Archiv für Lagerstätten-
forschung 15. Heft 1915) und F. Frech (Neues
Jahrbuch f. Mineralogie, Geologie und Paläonto-
logie 19 16, II. Bd.
Min. t Stei
nk.
Mill. t Braunk. ||
Saardistrikt
16548
1
Westfalen
56 344 (
57222)
1
Niederschlesien
71S
(2 226)
1
Oberschlesien
i0325(
55662)
f
Sachsen
225
3000
Linksrhein. Gebiet
10458
—
Andere Distrikte
247
Norddeutschland
6069 (3876)
Bayern
75 (293)
Hessen
169 (99)
Deutsches Reich 94865(315110) 9313 (4268)
Summe der Kohlenvorräte Deutschlands :
432 556 Millionen t
Die deutsche Steinkohlenförderung (ohne die
Braunkohlen) mit 177 Mill. t betrug im Jahre
1912 im Ruhrrevier 103,1, in Oberschlesien 41,5,
in Gesamtsaarbezirk 16,8 (davon Preußen 12,5,
Lothringen 3,6, Bayr. Pfalz 0,8), in Niederschlesien
5,9, in Sachsen 5,5, im Linksrhein. Gebiet (Aachen,
Düren) 3,0, im Wäldertonkohlenbezirk 0,7 Mill. t.
Auffallend ist, daß das nur etwa i "q der deut-
schen Steinkohlenvorräte enthaltende Niederschle-
siscbe Kohlenrevier dagegen an der Gesamtstein-
kohlenförderung des deutschen Reiches mit 3,51 "/o
beteiligt ist. V. Hohenstein.
') Die eingeklammerten Zahlen geben di<
vorhandenen Kohlenvorräte an.
Anregungen und Antworten.
Erwiderung.
In Nr. 5 der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift"
veröffentlicht Herr v. Brücke eine Besprechung meiner
Schrift „Physiologie und Entwicklungsgeschichte". Dem Herrn
Referenten erscheinen meine Beispiele „nicht gerade glücklich
gewählt", „die Bedeutung der Homoiothermie für die Ent-
wicklung der Groflhirnfunktionen darf nach den Erfahrungen
an Winterschläfern und Vögeln sowie nach der fortschreitenden
Entwicklung der Großhirnfunktionen in der Reihe der poikilo-
thermen Vertebraten wohl nicht zu sehr in den Vordergrund
gestellt werden".
Die Behauptung, die Erfahrungen an Winterschläfern
sprächen gegen die Bedeutung der Homoiothermie für die
Entwicklung der Großhirnfunktionen , halte ich nicht für ge-
rechtfertigt. Gerade die Erfahrungen an Winterschläfern zeigen
mit aller nur erwünschten Deutlichkeit, wie hoch die Be-
deutung der Homoiothermie für die Entwicklung der Groflhirn-
funktionen anzuschlagen ist. In der poikilothermen Phase
des Winterschläfers steht es um seine Großhirnfunktionen doch
ganz anders als in der homoiotheimen Phase. Ich halte es
auch nicht für zutreffend, daß die Erfahrungen an Vögeln und
die unvergleichlich geringere Ausbildung der Großhirnfunk-
tionen bei den poikilothermen Wirbeltieren gegen die Be-
deutung der Homoiothermie für die Entwicklung der Groß-
hirnfunktionen sprechen. Alexander Lipschütz, Bern.
Die oben stehende Erwiderung (deren Kenntnis ich der
Liebenswürdigkeit des Herrn Herausgebers verdanke) konnte
mein Urteil ebensowenig ändern wie die erneute Lektüre des
betreffenden Abschnittes von Herrn Lipschülz's Vortrag.
V. Brücke (Innsbruck).
Inhalt! Rößle, Über das Altern. S. 241. — Einzelberichte: L. Hiltner, Gesetzmäßigkeit bei Fortschreiten der Feld-
mäuseplagen in Süddeutschland. S. 247. H. E. Köker und F. Frech, Die Kohlenvorräte des Deutschen Reiches.
S. 248. — Anregungen und Antworten: Erwiderung. S. 24S.
Manuskripte und Zuschriften
leu an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbete
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Pätz'schen Buchdr. Lippe
& Co. G.m.b.H., Naumburg
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 13. Mai 1917.
Nummer 19.
[Nachdruck verböte
Hanf.
Von Hermann Zillig, Würzburg.
Mit 3 Abbildungen.
Infolge des Krieges ist die vordem außerordent-
lich starke Einfuhr von Pflanzenfasern nach Deutsch-
land fast vollständig unterbunden und so eine
empfindliche Knappheit dieses wichtigen Roh-
stoffs der Textil- und verwandter Industrien her-
vorgerufen worden. Man sah sich genötigt zu
Ersatzstoffen zu greifen und, da diese in aus-
reichender Menge und befriedigender Beschaffen-
heit nicht aufzufinden waren, mußte man schließ-
lich der PVage, erprobte P^aserpflanzen des Aus-
Hanf als Faserpflanze gebaut. Von hier aus ver-
breitete sich diese Pflanze dann verhältnismäßig
spät über das übrige Europa.
Das erste Hanfland ist heute Rußland, das vor
dem Kriege von den etwa 500 Millionen Kilogramm
jährlich erzeugter Weltproduktion 150 Millionen
hervorbrachte, während Österreich-Ungarn mit
S- Millionen, Deutschland, Frankreich und die
Vereinigten Staaten von Nordamerika mit je
70 Millionen, Italien mit 50 Millionen Jahres-
.Abb.
landes oder ehedem bei uns gebaute, wenn mög-
lich, im eigenen Vaterlande zu kultivieren, näher-
treten.
Neben dem Flachs oder Lein (Linum usita-
tissimum) kommt hier vor allem der Hanf (Can-
nabis sativa) in Betracht. Diese zweihäusige, ein-
jährige, zur Familie der Moraceen gehörige Pflanze
ist wahrscheinlich im westlichen Asien und in
Indien heimisch. Hier wurde sie bereits Soo— 900
vor Christus hauptsächlich ihrer ölreichen Samen,
dann auch der ihr entstammenden narkotischen
Genußmittel und endlich der Faser wegen kulti-
viert. Auch die alten Ägypter kannten den Hanf
bereits als wertvolle Kulturpflanze, während er
bei den Griechen fehlt und bei den Römern erst
etwa 100 vor Christus erwähnt wird. Frühzeitig
wurde in Gallien und in den slavischen Ländern
Produktion folgten. In Deutschland wurde haupt-
sächlich in Baden und im Rheinland Hanf gebaut, je-
jedoch war der Anbau seit der Einführung
der Baumwolle und Jute in die Weltwirtschaft
in ständigem Rückgange begriffen. Der italienische
Hanf, der vornehmlich in den Provinzen Emilia
und r'errara in Oberitalien sowie Neapel mit Um-
gebung in Süditalien hervorgebracht wird, über-
trifft alle übrigen Sorten des Handels durch seine
Länge, Kraft und schöne P'arbe. Dies hängt mit
dem warmen Klima und den beim Röstprozeß
notwendigen Faktoren, reichlichem Wasser und
genügender Besonnung, die in diesem Lande
günstig vorhanden sind, zusammen. Deutschland
führte im Jahre 1913 rund 65000 Tonnen Hanf
und Hanfwerg im Werte von 45 Millionen Mark
vom Auslande, hauptsächlich Rußland und Italien,
250
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
ein, während demgegenüber eine Ausfuhr dieser
Produkte von rund 9000 Tonnen im Werte von
7 Millionen Mark zu verzeichnen war.
Die bis zu 2 Meter lange Faser stellt den
Abb. 2. Die Ilanfgarbcn am Röstc-Teic
Bast des etwa 3 Meter hoch werdenden Stengels
der Pflanze dar. Die Faser wird durch die soge-
nannte Röste gewonnen. Es ist dies eine Art
Fäulnisprozeß, bei dem unter Einwirkung von
Bakterien der Bast von den
übrigen Geweben des Stengels,
dem Mark, dem Holz und der
Rinde getrennt, von dem die
einzelnen Fasern verklebenden
Pflanzenschleim befreit und so
einer leichten mechanischen
Bearbeitung zugänglich ge-
macht wird.
Der in 90 — 105 Tagen vom
Samen aus herangewachsene
Hanf wird im Herbste un-
mittelbar über dem Boden ab-
geschnitten (Abb. i) und bleibt
dann etwa drei Tage auf dem
Felde ausgebreitet liegen um
zu trocknen. Nachdem die
Blätter von den Stengeln ab-
gestreift sind , werden diese
auf Garben gebunden und zum
Röstplatz gefahren (Abb. 2).
Hierzu sucht man sich stehende
oder langsam fließende klare
Gewässer von etwa i Meter
Tiefe aus, in welche die Garben
eingelegt und mit Steinen beschwert werden. Hier
verbleiben sie je nach der Wärme des Wassers
zwei bis vier Wochen, bis sich die Faser leicht
vom Stengel löst. Die gerösteten Garben werden
alsdann herausgenommen und in der Sonne zum
Trocknen aufgestellt. Zwecks Isolierung des
Bastes werden die getrockneten Stengel hierauf
durch eine Maschine gezogen, welche mit gerillten
Eisenwalzen ein Brechen des
j Holzes und der Rinde bewirkt.
Diese Abfallprodukte können
nun leicht in einer anderen
Maschine ausgekämmt und so
die Faser selbst gewonnen
werden. Meist jedoch be-
werkstelligt der Erzeuger diese
Arbeiten in vollkommenerer
Weise mit der Hand durch
Dreschen der Stengel und Ab-
schlagen von Holz und Rinde
an einem mit Holzmessern
versehenen rasch bewegten
Rad, das sogenannte Schwingen.
Die auf diese Art erzielte
schwach verholzte Faser ge-
langt, zu Ballen vereinigt, als
Rohmaterial in die Fabriken.
Das minderwertige Fuß- und
Kopfstück wird entweder be-
reits vom Erzeuger oder erst
in der Fabrik abgeschnitten
und kommt als sogenanntes
Werg, Hede oderStrappatura in
den Handel. In der Fabrik wird die Faser zunächst
unter schweren Eisenwalzen in der sog. Reibe in die
Einzelfasern weiter aufgespalten und geschmeidig
gemacht, dann ausgekämmt und gehechelt, um sie
Abb. 3. Zur Samengewinnung stehengebliebener weiblicher Hanf.
von den noch anhaftenden Holzteilchen und kürzeren
Fasern, dem Hechelwerg, zu befreien. So ist sie
zum Verspinnen fertig. Die reine Faser wird fast
ausschließlich zu Bindfaden und anderen Seiler-
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
251
waren verarbeitet. Als mittleren Ertrag rechnet
man in Baden lOOO kg getrocknete, entblätterte
Stengel auf ein Hektar Anbaufläche. Der männ-
liche Hanf liefert eine feinere und bessere Faser
als der weibliche. Fr wird daher vornehmlich
zur Fasergewinnung gebaut, während man die
weibliche Pflanze zur Samenerzeugung stehen läßt
(Abb. 3), um die alsdann stark verholzte Faser
für untergeordnete Zwecke zu verwenden.
Die eben beschriebene Kaltwasserröste kann
auch durch eine langwierige sog. Tauröste, wobei
die auf dem P'elde ausgebreiteten Stengel den
Fitiflüssen der Witterung ausgesetzt sind, oder
eine beschleunigte Warm wasserröste in künstlich
erwärmten Bottichen ersetzt werden. Es ist auch
möglich die Faser auf mechanischem Wege ohne
Röste durch Brechen und Schwingen des ge-
trockneten Stengels zu gewinnen. Die so erzeugten
Fasern sind jedoch durch den nicht entfernten
Pflanzenschleim noch mehr oder minder verklebt, mit
verunreinigenden Gewebselementen behaftet und
von schmutziger Färbung. Auch ist der Abgang
bei mechanischer Bearbeitung größer als bei Röste.
Wegen ihrer Ähnlichkeit und gleichartigen
Verwendung werden verschiedene andere, tropi-
schen Pflanzen entstammende Fasern mit dem
Beiwort „Hanf bezeichnet, so der Sisal-Hanf aus
den Blättern der Agave rigida, der Mauritius- Hanf
aus denen verschiedener ]<"ourcrnya .■\rten , der
IVIanilaHanf aus den Blattscheiden von Musa tex-
tilis und der Gambo-Hanf aus den Stengeln ostin-
discher Hibiscus-Arten. Sie wurden vor dem Kriege
in steigendem Maße für gewisse Zwecke z. B.
zur Herstellung von Schiffstauen verwendet, wozu
man vordem den echten Hanf benutzte.
Der Hanfbau wurde in Deutschland hauptsäch-
lich infolge der bereits erwähnten Konkurrenz
durch Baumwolle und Jute mehr und mehr auf-
gegeben, dann aber auch weil die raschwüchsige
Pflanze den Boden stark aussaugt und andere
Kulturpflanzen daher eine rentablere Bewirtschaf-
tunggestatteten, während in den Hauptproduktions-
ländern neben günstigen klimatischen und Boden-
verhältnissen insbesondere wohlfeile .Arbeitskraft
eine billigere Erzeugung ermöglichten. Nun
hätte man aber, nachdem in unserem Vaterlande
mancherorts geeignete Lebensbedingungen für
den wichtigen Rohstofflieferanten vorhanden sind,
bei den emporschnellenden Preisen den Anbau im
großen in die Wege leiten können. Dazu fehlte
jedoch das erforderliche Saatgut. Auch waren
unsere Fabriken daran gewöhnt, die fertige Faser
vom Auslande zu erhalten und daher nicht auf
ein Rösten etwa zur Verfügung stehender Stengel
eingerichtet. Der deutsche Landwirt konnte
aber ebenfalls diese .Arbeit aus Mangel an Er-
fahrung und den dazu erforderlichen Einrichtungen
nicht vornehmen. So erwiesen sich denn eigene
Röstanstalten mit künstlich beschleunigtem Röste-
verfahren als unbedingt nötig. Nachdem bereits
mehrere solcher Anstalten ihrer Fertigstellung
entgegengehen und auch eine ziemliche Menge
von Samen im vorigen Jahre herangezogen wurde,
ist zu hoffen, daß mit Hilfe der deutschen Land-
wirtschaft und durch die rührige Arbeit der „Deut-
schen Hanfbaugesellschaft m. b. H. in Berlin" der
empfindliche ^Iangel an Hanf durch Anbau im
eigenen Lande und im besetzten Gebiete im Jahre
1917 einigermaßen behoben werden wird.
Zum Trobleiii der Wünschelrute.
Schelenz hat in Nr. 3 des laufenden Jahr-
gangs dieser Zeitschrift in einer kenntnisreichen
und interessanten Zusammenstellung von Daten
die Rolle der Wünschelrute in Dichtung, Sage,
Aberglauben beleuchtet. Damit scheint ihm zu-
gleich jede reale Bedeutung des schon so viel
und eifrig diskutierten Talismans abgetan zu sein.
Nur ein Fortbestehen im Volksglauben wird auch
für die Zukunft zugestanden. Es wurde auch
Bezug genommen auf grobe, durch die Wünschel-
rute hervorgerufene Mißgriffe und Irrtümer, die
im vergangenen Jahre, z. T. nach Erfahrungen an
der Westfront, in dieser Zeitschrift bekannt ge-
macht worden waren.
Die heftigste Gegnerschaft ist der Wünschel-
rute ja von Seiten der Geologen erwachsen. Und
so klägliche Gesinnung setzt wohl niemand vor-
aus, daß er diese Tatsache etwa auf einen ge-
wissen Konkurrenzneid zurückführen wollte. Viel-
mehr ist gerade die sehr intensive und häufige
Edw. Hennig.
Beschäftigung mit Wasserfragen ein Umstand,
der dem Urteil des Geologen über die Wünschel-
rute, ihre Erfolge und ihren Wert einiges Gewicht
zu verleihen geeignet ist. Möge nun aus dem
gleichen Lager auch ein Vorbehalt zu ihren
Gunsten Raum finden.
Seien wir vorsichtig: so einfach läßt sich
Volksweisheit nicht durch einen Richterspruch
beiseite schieben. Wenn meteorologische Wissen-
schaft den Einfluß des Mondes auf die Gestal-
tung der Witterung nicht nur nicht festzu-
stellen vermag, sondern sogar immer wieder ein-
dringlichst leugnet, wenn andererseits Seeleute,
'Landbevölkerung und Naturvölker der ganzen Erde
ebenso fest auf diesen Einfluß vertrauen und
bauen, so ist das noch immer ein unentschiedener
Kampf zwischen Theorie und Praxis. Und Natur-
wissenschaft ist ein Kind der experimentellen
Erfahrung. Sie hat sich zur Möglichkeit des Falls
von Meteoriten bekehren lassen müssen. Aus
25:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
dem Okkultismus hat sich ein ihm ursprünglich
angehöriger Teil, die Hypnose, als auf tatsäch-
licher Grundlage beruhend, abgelöst und in hohem
Maße praktisch verwertbar erwiesen. Für die
Wünschelrute ist soviel ins Feld geführt worden,
daß es den Gegner unterschätzen heißt, wenn
man glaubt, ihn leichthin abtun zu dürfen. Be-
weise und Gegenbeweise stehen einander in un-
übersehbarer Zahl entgegen. Mit ihnen ist der
Streit nicht zu schlichten gewesen. Da heißt es
prüfen, ob die Frage richtig und ob sie klar ge-
nug gestellt gewesen ist.
Tatsache ist, solche Erfahrung steht auch mir
aus der Praxis zu Gebote, daß die Wünschelruten-
gänger nicht selten an ganz hoffnungsloser Stelle
Bohrungen auf Wasser angesetzt haben. An
anderen Stellen sind voll zufriedenstellende Er-
gebnisse verzeichnet worden. Natürlich liegen
auch auf geologischer Seite Versager vor und in
gewissen Gebieten wird eine Prognose erst auf
Grund einer Anzahl von Erkundungsbohrungen
möglich sein, die dem Wünschelrutenverfahren
gegenüber natürlich umständlich, zeitraubend und
kostspielig sind, ja für die es im Kriege oft ein-
fach an Zeit fehlen wird. Daß ich persönlich
das geologische Gutachten dennoch unter allen
Umständen für das sicherere und gegebene halte,
bedarf kaum der Erwähnung.
Aber, so frage ich mich, könnte der Wünschel-
rute nicht doch ein heuristischer Wert innewohnen,
der sie als Gehilfin des Geologen zuzulassen ge-
statten würde ? Nicht aut — aut, sondern et — et !
Die bisherigen Gegner könnten vielleicht mit
vereinten Kräften Ersprießlicheres leisten. Auf
beiden Seiten kommt natürlich viel darauf an,
wer die Untersuchungen anstellt, Pfuscher können
hier wie dort das Gesamtergebnis beeinträchtigen.
Daß es aber kritische, besonnene und völlig über-
zeugte Rutengänger gibt, ist gleichfalls unzweifel-
haft. Man kann sie nicht einfach durch billige
Hinweise auf die Fehlschläge der Methode samt
und sonders als (3pfer von Selbsttäuschung oder
gar direktem Betrug hinstellen wollen. Vielmehr
sind sie als geeignete „Medien" — der Ausdruck
ist von der Hypnose ohne weiteres zu über-
nehmen — zur Mitwirkung an der Lösung des
nach wie vor bestehenden Problems unbedingt
in größtem Umfange heranzuziehen.
Durch das große Entgegenkommen eines solchen
Herren durfte ich kürzlich Zeuge folgenden Vor-
ganges werden: Der Betreffende hatte mittels der
Wünschelrute in einem sandigen Plateaustück die
Stelle für eine Brunnenbohrung ausfindig gemacht
und war in der erwarteten Tiefe fündig geworden.
Der Wasserbedarf war gedeckt. Er führte mich
nun an den Ort, ließ sich ein paar beliebige Gabel-
zweige von Weiden abschneiden und schritt nun-
mehr mit diesen die Brunnenstelle in verschie-
densten Richtungen ab. Die Rutenenden wurden
so in der geballten Hand gehalten, daß der Hand-
rücken abwärts gerichtet war und der Bewegung
der Rute nicht, wie etwa beim „Tischrücken",
nachgegeben wurde. Es kommt nun keine Täu-
schung irgendwelcher Art darüber in P'rage, daß
das freie Ende des Zweiges jedesmal bei Annähe-
rung an den Brunnen in einem mir gänzlich un-
erwarteten Maße ausschlug und sich bei Entfernung
ehenso wieder beruhigte. Das Interessante und
Ungewöhnliche war dabei, daß der Ausschlag nach
oben stattfand. Der betreffende Herr hat diese
Beobachtung an sich fast regelmäßig, aber wohl-
gemerkt doch mit vereinzelten Ausnahmen, in
denen ein Ausschlag nach unten eintritt, zu machen.
Das Maß des Ausschlags war mehrfach — die
Ruten zeigen untereinander kleine Abweichungen
der Empfindlichkeit — 180" und darüber 1 Da ein
Ende unbeweglich festgehalten wurde, kam es
dabei vor, daß das Holz die Drehung nicht aus-
hielt und neben derHand im Stadium des
höchsten Ausschlages einfach durch-
brach. Ermüdung der Muskeln oder dergleichen
Erklärungsversuche sind unter diesen Umständen
völlig auszuschließen. Es hilft kein Drehen und
Deuteln: da ist ein physikalischer Vorgang am
Werke, vielleicht verstärkt durch physische, den
es zu erforschen, zu erkennen und — nutzbar zu
machen gilt.
Denn daß in diesem Falle und tausend ähn-
lichen ein ErfolgderWünschelrute vorliege,
bin ich durchaus noch nicht bereit zuzu-
geben. Wie wenn dort, wo sie nicht ausschlug,
ebenso reichlich Wasser zu finden wäre ? Das
ist nämlich hier wie anderwärts meine feste Über-
zeugung auf Grund der geologischen Verhältnisse.
In lockcrem Diluvialboden und unter vielen anderen
verwandten Bedingungen ist es ja ein Hauptirrtum
des Laienpublikums und insbesondere der meisten
Rutengänger, nach „Wasseradern" zu fahnden.
Dem liegt eine völlig falsche Vorstellung von
den Grundwasserverhältnissen zugrunde, als ob
nämlich ein unterirdisches Fluß- und Bachnetz
bestände entsprechend oder ähnlich dem der Ober-
fläche. Wo nicht besondere Zufälle (z. B. tiefer
hinabreichende Risse im Erdreich) Abweichungen,
lokale Ansammlungen des Grundwassers bedingen,
besteht vielmehr ein Wasserspiegel, den man
natürlicher einem unterirdischen See bzw. deren
mehrerer übereinander vergliche. Erbohre ich
dann Wasser, so ist dazu an sich wahrlich ein
besonderes Aussuchen der Stelle nicht erforderlich.
Schlägt aber die Rute an bestimmten Stellen
aus, so ist damit für mich nur bewiesen, daß
das Vorkommen von Wasser allein nicht
die Ursache dazu sein kann!
Dem gilt es, wie mir scheint, zunächst einmal
in erster Linie nachzugehen, wollen wir nicht mit
irreführenden Vorurteilen an die Untersuchung
herangehen. Daß es bisher nicht geschehen ist,
erklärt sich in einfachster Weise daraus, daß mit
dem Antreffen von Wasser die praktische Auf-
gabe in der Regel gelöst ist und weitere Mühe,
Zeit und Kosten an Fragen theoretischer Bedeu-
tung zu wenden selbstverständlich nicht Sache des
Privatunternehmers sein kann. Jedenfalls ist das
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
253
Erbohren von „Wasseradern" in derartig gekenn-
zeichneten Gebieten zunächst zu den JVI iß er-
folgen der Wünschelrute insofern hinzuzu-
rechnen, als sie die gleichermaßen wasserführende
Nachbarschaft als wasserfrei zu bezeichnen Veran-
lassung war. Der Irrtum entspringt aber
offenbar lediglich der Deutung, nicht
der Beobachtung, ist ein Fehler des
Trägers, nicht der Rute oder der sie
tatsächlich bewegenden und beein-
flussenden Kraft.
Der Kern des Problems würde damit lediglich
verschoben, zu beseitigen ist das Problem
nicht mehr, es sei denn durch die Lösung der
Fragen: Unter welchen Bedingungen schlägt die
Ruie aus? Welcher Art ist die Kraft, die da-
durch in Erscheinung tritt ? Für beide fehlt es tat-
sächlich noch immer an einer Antwort. Daß das
Wasser die Ursache, Elektrizität die wirkende
Kraft sei, ist möglich, vielleicht wahrscheinlich,
aber meines Erachtens durchaus noch Hypothese 1
Nun spielt ja eben ein anderes hinein: der
psychische-physischeFaktor, die Empfindlichkeit der
Rutenträgers. In meiner Hand war eine Bewegung
der Rute m dem genannten Falle so gut wie nicht
zu beobachten; als ich mit dem Herrn Hand in
Hand jeder ein Gabelende ergriff, war sie nur
schwach, aber immerhin vorhanden. Es gilt tat-
sächlich, so uralt das Problem ist und so lange
der Mensch nun schon beobachtet, erst einmal mit
aller wissenschaftlichen Gründlichkeit und mit den
unbedingt nötigen Mitteln genauestes und reich-
lichstes Beobachtungsmaterial ganz methodisch zu
sammeln. Mit Einzelfällen kommen wir nicht
weiter. Sehr wichtig schien mir z. B. zur Er-
kundung der Vorgänge die Methode beim Ab-
schätzen der Tiefe des erwarteten Wassers: Der
Beginn des Ausschlages war vom eigentlichen
Zentrum des Wirkungskreises, d. h. vom Brunnen
um etwa die gleiche Zahl von Metern entfernt, die
nötig war, um das Wasser zu ergraben. Doch
herrschen da je nach dem Rutengänger wieder be-
trächtliche Verschiedenheiten. Ebenso heißt es, daß
gewisse Personen in den Tropen sich empfänglich
zeigten, die es zu Hause nicht sind, und umge-
kehrt.
Von allen solchen doch zweifellos störenden
Zufälligkeiten und Abhängigkeiten müssen wir uns
meines Erachtens frei zu machen suchen. Der
menschliche Nervenapparat ist Schwankungen
aller Art unterworfen und deshalb nicht zuver-
lässig genug. Soll die Wünschelrute wirklich ver-
wendbar werden, so wäre sie durch einen ent-
sprechend konstruierten, noch viel feinfühligeren
und mathematisch genau arbeitenden und messenden
Apparat zu ersetzen. W'enn erst einmal in den
Grundzügen vorhanden, wird er sich bald an
Hand der Praxis zu einem äußerst brauchbaren
Instrument weiter entwickeln lassen. Natürlich
ist die erste Vorbedingung, daß wir endlich er-
fahren, welche Kraft denn eigentlich einwirkt.
Das sollte doch durch Experimentieren und Beob-
achten auszumachen sein, ganz gleich ob es sich
um Elektrizität oder gar eine noch unbekannte
Kraft handelt.
Niemand aber würde größeren Nutzen aus
einem solchermaßen hergestellten Hilfsmittel ziehen,
als — der Geologe. Könnte er doch alsdann ohne
Bohrungen etwa Ausdehnung, Verlauf, Tiefe von
Grundwässern aller Art und der sie tragenden
Schichten ermitteln und so nicht nur flächenhaft
kartieren, sondern in ganz anderer Weise als bisher
von außen her Einblicke in den Bau des Boden-
körpers gewinnen. Die Wünschelrute in so
veränderter, wissenschaftlich vorbedingter Gestalt
erhielte für ihn den Wert des Spektrums oder der
Röntgenstrahlen: sie würde neue bislang unzu-
gängliche Räume erschließen helfen und sich so
erst in vollstem Maße als ein Zauberstab er-
weisen I
Nachtrag: Weitere Beobachtungen haben
inzwischen den Verdacht voll bestätigt, daß neben
einer ermittelten sog. Wasserader im Diluvium
genügend Wasser vorhanden war. Über die Er-
gebnisse der weiteren Versuche kann hoffentlich
in nicht zu ferner Zeit einmal Näheres mitgeteilt
werden.
Kleinere Mitteilungen.
über die Hörbarkeit des Geschützdonners.
Eine Entscheidung für die eine oder die andere
der verschiedenen Erklärungen, die man für die
Fortleitung des Geschützdonners bis in große Ent-
fernungen von der Schallquelle aufgestellt hat,
ist nur möglich, wenn man sich die während der
langen Kriegsdauer von zahlreichen Beobachtern
bestätigte Tatsache vor Augen führt, daß die
Hörbarkeit des Geschützdonners von der Jahres-
zeit abhängt. Es hat sich herausgestellt, daß die
kühle Jahreszeit der Erscheinung am günstigsten
ist. Im Winter ist heftiger Geschützdonner fast
Tag für Tag in Entfernungen von 100 bis 200 km
von der Schallquelle, gelegentlich sogar noch
weiter, deutlich zu hören. Im Sommer dagegen
wird entweder nichts wahrgenommen, oder der
-Geschützdonner ist doch nur von Zeit zu Zeit
und im allgemeinen mit geringerer Kraft hörbar.
Steht dies fest, so folgt von selbst, daß die Fort-
leitung des Schalles im wesentlichen von Um-
ständen abhängen muß, in denen sich der Sommer
vom Winter unterscheidet. Die Erklärungen fran-
zösischer Gelehrter (vgl. das Referat in Nr. 4 der
254
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
Nat. Wochenschr. 191 7j, welche besondere Wind-
verhältnisse in den unteren und höheren Atmo-
sphärenschichten voraussetzen, sind daher von
vornherein zurückzuweisen; denn in allen Jahres-
zeiten können in verschiedenen Atmosphärenhöhen
Winde in allen Richtungen und in jeder Stärke
auftreten. Eine genauere Untersuchung der unteren
und oberen Luftströmungen durch van E ver-
dingen') ergibt außerdem, daß in vielen Fällen,
wo der Geschützdonner in großen Entfernungen
hörbar war, die wirklich beobachteten Windrich-
tungen der Erklärung nicht günstig sind.
Übrigens erfüllt die Erklärung von A. Perot,
welche die bessere Wahrnehmbarkeit des Geschütz-
donners bei Gegenwind zum Gegenstande hat,
ihre Aufgabe nur unvollkommen; denn sie würde
auch in dem Falle anwendbar sein, wo ein von
der Schallquelle her wehender Wind von einer
in derselben Richtung sich bewegenden schnelleren
Luftströmung überlagert wird.
Die andere Erklärung, daß der Schall bis auf
große Entfernungen durch den Erdboden fort-
geleitet werde, ist ebenfalls aufzugeben; denn
Sommer und Winter bieten für die Fortpflanzung
des Schalles im Boden keine wesentlich ver-
schiedenen Verhältnisse dar. Eis im Boden und
die Schneedecke spielen keine Rolle, da auch
ohne Frost und Schnee der Geschützdonner hörbar
ist. Die bessere Leitfähigkeit des Bodens für den
Schall macht sich nur in der Nähe der Schall-
quelle bemerkbar. Sie erklärt ohne weiteres die
Tatsache, daß man in den Unterständen den
Geschützdonner besser wahrnimmt als im Schützen-
graben, und manche andere, die sich ihr an die
Seite stellen lassen (Indianer lauschen am Boden
auf Pferdegetrappel; das Rollen eines Eisenbahn-
zuges macht sich in den Schienen deutlicher be-
merkbar als in der Luft). Aber sie kann nicht
zur Erklärung der Hörbarkeit des Geschützdonners
in großer Entfernung von der Schallquelle
herangezogen werden. Denn in mehr als 100 km
Entfernung wird der Geschützdonner nicht unter,
sondern über der Erdoberfläche wahrgenommen,
also nicht durch den Erdboden, sondern durch
die Luft fortgeleitet.
Kommen wir nunmehr wieder auf die Kern-
frage : „Wodurch unterscheiden sich die atmo-
sphärischen Verhältnisse des Sommers und des
Winters?' zurück, so gibt die Meteorologie die
Antwort : In den Temperaturverhältnissen
der übereinander lagernden Luftschichten. Im
Sommer nimmt die Temperatur im allgemeinen
mit der Höhe ab; im Winter aber bilden Tempe-
raturinversionen die Regel. Bei Temperatur-
abnahme mit der Höhe werden die Schallstrahlen
nach oben gebrochen; an und in Inversionsschichten
können sie aber zur Erdoberfläche zurückgebogen
werden. 2) Daher ist der Winter die für die
') The propagation of sound in the atmosphere, Kon.
Acad. V. Wet. te Amsterdam; Proceedings, Vol. 6, XVIII.
2) Vgl.: Zur Erklärung der beim Geschützdonner, bei
heftigen Explosionen usw. beobachteten Fortpflanzungseigen-
Hörbarkeit des Geschützdonners günstigste Jahres-
zeit. Da aber gelegentlich auch im Sommer
Inversionen auftreten, so besteht auch in der
warmen Jahreszeit die Möglichkeit weiter Aus-
breitung des Geschützdonners. Doch sind die
sommerlichen Inversionen meistens nur schwach
ausgeprägt und daher bleibt die Intensität des
Schalles gering. Daß der Wind unter Umständen
der Ausbreitung des Schalles sehr förderlich sein
kann, versteht sich von selbst. Fr. Nölke.
Weiteres zur Ethologie und Psychologie der
Anatiden, insbesondere des Schwarzschwanes,
in Nummer 42, Jahrgang 1914 dieser Zeitschrift,')
habe ich neue und z. T. wohl ganz außergewöhn-
lich interessante Beobachtungen an Männchen-
paaren aus der Anatiden-Familie in ethologischer
und psychologischer Hinsicht veröffentlicht. Die
folgenden Mitteilungen bilden den Abschluß meiner
Beobachtungen.
Nachdem im Frühsommer 1914 das in der
oben genannten Nummer dieser Zeitschrift näher
gekennzeichnete Männchenpaar Schwarzer Schwäne
getrennt und dem stärksten, zur Fortpflanzung
am meisten geneigten Männchen endlich ein
weiblicher Vogel zur Verfügung gestellt war, er-
losch merkwürdigerweise die noch kurz vorher
vorhandene Paarungslust augenblicklich. Die
Vögel vertrugen sich zwar sehr gut miteinander,
lockten sich auch durch Zurufe gegenseitig an,
blieben aber trotzdem nie so innig zusammen,
wie die beiden vortrefflich aneinander gewohnten
Männchen es zu tun pflegten, sondern trennten
sich häufig stundenlang, und jedes der beiden
Tiere schwamm auf dem ausgedehnten Gewässer
oft seine eigenen Wege. Auch als der Herbst
kam, war, entgegen meinen Erwartungen, bei den
beiden Australiern in keiner Beziehung etwas von
Fortpflanzungstrieb erwacht, wie es doch im
Jahre vorher der Fall war, als noch die beiden
Männchen zusammen waren. Auch im Frühjahr
191 5 war von Brütelust bei diesem Paare nichts
zu merken, und Ende April desselben Jahres
starb das Männchen aus unbekannter Ursache.
Es wurde nun dem weiblichen, nicht amputierten,
wohl aber im Spätherbst auf einem Flügel seiner
größten Schwungfedern beraubten Vogel ein
amputiertes, ungefähr 7 Jahre altes Männchen
beigegeben, das als Gatte eines Geschwisterpaares
schon wiederholt einige Junge mit seiner Schwester
gezeugt und groß gebracht hatte. Dieses Männchen,
welches seit seiner Geburt ständig sich nur in
Gesellschaft seiner schwesterlichen Gattin befand,
machte sich auch augenblicklich an seine neue
Gattin heran, aber zur F'ortpflanzung schritt das
Paar nicht. Und daß die Anhänglichkeit an das
Männchen nicht groß gewesen sein kann, geht
tümlichkeilen des Schalles; Phys. Zeitschr. 17, 31, 1916.
Ergänzung zu diesem Aufsatze, Phys. Zeitschr. 17, 283, 1916.
') „Neues zur Psychologie und Ethologie der Männchen-
paare der Anatiden, insbesondere von Schwänen und Gänsen."
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
255
daraus hervor, daß das flugfähige Weibchen im
Herbst 191 5, als ihm die zurückgeschnittenen
Schwungfedern nach der Mauser wieder gewachsen
waren, davon flog, ohne wieder zuiückzukehren.
Es trieb sich zwar noch einige Wochen auf ver-
schiedenen Gewässern der näheren und weiteren
Umgebung von Hildburghausen herum, wurde
aber dann nicht wieder beobachtet.
Interessant ist überdies eine bezüglich des
oben genannten Geschwisterpaares gemachte Be-
obachtung. Im März 191 5 hatte dieses Paar ein
anscheinend noch nicht vollzähliges Gelege von
4 Eiern zustande gebracht, war aber von seinem
Nistplatz durch ein wütendes Höckerschwanen-
männchen vertrieben worden, das vor allem den
männlichen Schwarzschwan verdrängte, um seiner-
Iseits das schwarze Weibchen gewaltsam zu treten,
wie einmal einwandfrei beobachtet wurde. Als
das Weibchen dieses Schwarzschwan-Paares dann
im Sommer 191 5 nach seiner Trennung von dem
Bruder- Männchen ein 1914 geborenes, fremd-
blütiges Männchen erhalten hatte, schritt dieses
Paar auch im P^rühling 1916 nicht zur Brut. Da
ein inniges Zusammenhalten dieses Paares über-
haupt nicht recht eintreten wollte, so erhielt das
Weibchen im Sommer 1916 ein außergewöhnlich
starkes und schönes Männchen , mit dem es be-
reits nach wenigen Tagen innig harmonierte, und
gegen Ende des Sonmiers schritt das Paar zum
Nestbau, aber ohne daß ein Gelege zustande
kam.
Jedenfalls zeigen diese Beobach-
tungen, daß nicht alle beliebigen Tiere,
die man zu Paaren zusammenstellt, auch
wirkliche Paare werden, daß vielmehr
auch bei den Vögeln, namentlich bei so
hochentwickelten, in strengerMonogamie
zusammenlebenden, wie es die Schwäne
sind, Abneigung und Zuneigung der
einzelnenlndividuen sich deutlich fest-
stellen lassen, um so mehr als das ehedem
mit dem älteren Schwarzschwanweibchen zu-
sammengebrachte, aber von diesem als Gatten
nicht angenommene jüngere Männchen von 1914
sich fast augenblicklich vortrefflich an ein anderes,
etwa ebenso altes Weibchen gewöhnte.
Auch noch in der 4. Auflage von „Brehms
Tierleben" heißt es im ersten Band der Vögel
S. 283 vom schwarzen Schwan: „Das Weibchen
brütet mit Hingebung, das Männchen hält treue
Wacht." Nun ist es aber eine bereits seit Jahrzehnten
bekannte Tatsache, daß beim Schwarzen Schwan
das Männchen sich durchaus regelmäßig am Brut-
geschäft beteiligt, insofern, als es während der
ganzen fünfwöchigen Brutzeit das Weibchen in
der Regel am frühen Nachmittag oft bis auf
mehrere Stunden täglich regelmäßig abzulösen
pflegt, indem es an das Nest herantritt und durch
Schreien das Weibchen gewissermaßen zum Auf-
stehen auffordert. Hat dieses das Nest verlassen,
so werden die Eier sofort vom Männchen be-
deckt, bis nach einiger Zeit das Weibchen wiederum
herankommt und seinerseits zur Ablösung auf-
fordert. Nur sehr selten kommt es beim Schwarzen
Schwan vor, daß die Eier einmal von einem der
beiden Gatten kurze Zeit nicht bedeckt werden,
indem sich beide zusammen auf dem Wasser be-
finden.
Die regelmäßige Beteiligung des Männchens
vom Schwarzschwan am Brutgeschäft in fast
völligem Gegensatze zu den anderen Schwanen-
arten ist aber beim ersten Blick um so auffallender,
weil doch gerade diese Schwanenart das wärmste
Gebiet bewohnt, in dem Schwäne überhaupt be-
heimatet sind. Vielleicht ist jene Gewohnheit
darauf zurückzuführen, daß bei der ungleichmäßigen
Regen- und Feuchtigkeitsverteilung in Australien
überhaupt angesichts der Gewohnheit der Tiere,
in Kolonien zu brüten, auch die brütenden Weib-
chen gezwungen werden, zur Nahrungsaufnahme
größere Strecken zu durchmessen und daher
längere Zeit vom Neste fernzubleiben. ')
Erwähnt sei noch zum Schuß die von mir bei
Schwänen gemachte Beobachtung, daß wirkliche
Paare, selbst wenn sie Junge führen, nie so wütend
und angriffslustig sind wie die Tiere eines Männchen-
paares, bei dem der Fortpflanzungstrieb erweckt ist.
W. R. Eckardt.
') Vgl. hierüber: W. R. Kckardt, Die geographische
Verbreitung der Schwäne unter besonderer Berücksichtigung
ihrer biologischen Verhältnisse. ,, Prometheus", Jahrgang 191 5,
Heft 1320/21.
Einzelberichte.
Botanik. Über alte Nutz- und Kulturpflanzen.
Die jüngsten F"orschungen zur Kulturgeschichte,
und ganz besonders die Untersuchungen von
Ed. Hahn, haben gezeigt, daß die Menschen auf
den untersten Kuhurstufen nicht (wie lange Zeit
angenommen wurde) ausschließlich oder haupt-
sächlich vom Ertrage der Jagd und Fischerei
leben, sondern vom Sammeln pflanzlicher und
tierischer Nahrungsmittel."') Schon die primitivsten
') Vgl. Fehlinge r, Anfänge der wirtschaftlichen Kultur.
Urania, 1917, Heft 4.
Entwicklungsstufen haben ihre Nutzpflanzen, die
zwar zunächst nur gesammelt, nicht angebaut,
werden. Aber um die gesammelten Pflanzenstofi'e
genußfähig zu machen, ist oft die Arbeit des
Zubereitens, Entbitterns, Entgiftens und Haltbar-
machens erforderlich, die ausschließlich den Frauen
zufällt. Dazu kommt noch auf der Sammlerstufe
das Schonen und Schützen der Nutzpflanzen. Es
ist eine allgemeine Erscheinung, daß in vorchrist-
licher Zeit nützliche Pflanzen und Tiere heilig
erklärt wurden. Dadurch waren diese dem Volke
unentbehrlichen Nahrungsquellen vor Schädigung
256
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
durch Eig^ennutz, Mutwillen oder Unachtsamkeit
geschützt. Es ist also nur ein kleiner Schritt, der
aus einer bloßen Nutzpflanze eine geschützte
Pflanze macht. Da der Mensch im mitteleuro-
päischen Waldgebiet einen fortwährenden Kampf
gegen die Bäume führen mußte, schon um ge-
nügend Weide für seine Tiere zu erhalten, kann
man sich leicht vorstellen, wie ein solcher Schutz,
durch Sitte und Religion vorgeschrieben, eine
Baumart vermehren konnte, so daß schließlich
selbst das Vegetationsbild dadurch beeinflußt er-
schien. Ein weiterer, aber eigentlich nicht sehr
großer Schritt ist es dann, wenn geschonte Nutz-
pflanzungen an günstigere Standorte versetzt
werden. Viel später folgt der Übergang zum
Bodenbau, der zu hoher Vollendung und inten-
sivem Wirtschaftsbetrieb führen kann. Nach dem
wichtigsten Arbeitsgerät wird die Anfangsstufe
der Bodenkultur als Hackbau bezeichnet. Wenn
später sozusagen die Hacke von Tieren gezogen
wird, so entsteht der Pflugbau. Diese Entwicklungs-
stufen lösen sich bei den einzelnen Volksstämmen
nicht der Reihe nach ab, sondern sie laufen teil-
weise nebeneinander her. In vielen Gebieten der
Erde ist jedoch bis heute der Pflugbau noch nicht
eingeführt, es herrscht dort noch ausschließlich
der Hackbau, wie z. B. in entlegenen Alpentälern.
Hier läßt sich auch den Anfängen der Pflanzen-
nutzung, dem Sammeln, sowie den Übergängen
zum Hackbau nachgehen. Einen derartigen Ver-
such hat Dr. H. Brockmann-Jerosch gemacht
und seine Ergebnisse in einem Vortrag vor der
geographisch -ethnographischen Gesellschaft in
Zürich dargelegt. Als Beispiele einer noch bis
in unsere Tage üblichen sammlermäßigen Nutzung
pflarizlicher Nahrungsmittel erwähnte Dr. Brock-
mann-Jerosch vor allem die Gewinnung ge-
wisser Beerenfrüchte. So werden in Amden am
Wallensee die getrockneten Beeren von Sorbus
Aria (Mehlbeere) in ärmeren Familien im Winter
häufig als Nahrung benutzt. Noch vor etwa 30
Jahren kochte man am Buchberg (Schaffhausen)
aus diesen Beeren Brei. Auch anderwärts in der
Schweiz war die Mehlbeere bis in die verhältnis-
mäßig jüngste Zeit ein wichtiges Volksnahrungs-
und Futtermittel und noch heute erinnern sich
alte Leute gerne an das süße, wohlschmeckende
Brot, das man in ihrer Kinderzeit aus Mehl und
Mehlbeeren buk. In den Alpen tritt die Alpen-
mehlbeere, Sorbus Chamaemespilus, stellenweise
an ihre Stelle, deren Nutzung aus dem Unter-
engadin und aus Fusio im Tessin bekannt ist; an
letzterem Ort dient sie, wie es scheint, zur Mehl-
bereitung. In anderen Gebieten war es wieder
der Vogelbeerbaum, Sorbus aucuparia, der eine
Rolle als Sammelpflanze spielte.
Ein Nährbaum war in Mitteleuropa in alten
Zeiten auch die Eiche, in den kultivierteren Ge-
genden bis etwa 1000 v. Chr., bei den Gebirgs-
bewohnern noch viel länger. Und selbst heute
bereiten manche Balkanvölker noch Eichelmehl,
das als menschliche Speise zu dienen hat. Im
nordafrikanischen Atlas bedecken Fruchthaine aus
alten Steineichen in ihrer süßfrüchtigen Abart die
Berghänge und liefern den Kabylen Mehlfrucht.
Auch in ärmeren Gegenden Italiens und Sardiniens
muß der Bauer noch heute mit Eichelmehl sein
Brot strecken. Man hat sich, wenn man diese
Beobachtungen auf unsere vorchristlichen und
mittelalterlichen Eichenwälder in Mitteleuropa an-
wenden wollte, meist daran gestoßen, daß unsere
Eicheln wegen ihres großen Gehaltes an Gerbstoff
zu bitter zur menschlichen Nahrung seien. Es ist
jedoch bekannt, daß schon ganz primitive Völker,
wie die Australier oder brasilianischen Indianer,
übelschmeckende, ja selbst stark giftige Substanzen
auf oft komplizierte Weise so zu bearbeiten ver-
stehen, daß sie sogar einen Hauptbestandteil ihrer
Nahrung bilden können. In mittelalterlichen
Quellen finden wir bezeichnenderweise die Eiche
öfters nicht nur den Obstbäumen gleichgestellt,
sondern sogar direkt als fruchttragender Baum be-
zeichnet.
Als ein Beispiel des Überganges von wild-
wachsenden zu angebauten Nutzpflanzen erwähnt
Brockmann-Jerosch die Ruderalpflanzen.
Unter diesen gibt es eine Zahl von Sammelpflanzen,
deren Nutzung sich noch heute feststellen läßt.
Da ist z. B. der Gute Heinrich, Chenopodium bonus
Henricus, der ebenso wie seine ganze Verwandt-
schaft als fremdes Einsprengsel in unsere boden-
ständige Flora erscheint, so sehr er sich auch bei
uns wohlzufühlen scheint. Trotz den überdüngten,
daher wenig appetitlichen Orten, an denen er aus-
schließlich vorkommt, wird er noch heute in ver-
schiedenen Gegenden als geschätztes Spinatgemüse
zubereitet.
Rumex alpinus, der Alpenampfer, ein groß-
blättriges Kraut, das allenthalben die wenig saubere
Umgebung der Alphütten und Ställe in großen,
oft ganz reinen Beständen umgibt, gehört in die
gleiche Gruppe. Während man in den meisten
Gegenden nichts mit ihm anzufangen weiß, ge-
nießt man im Lötschertal die erfrischend säuer-
lich schmeckenden Blattstiele als Leckerbissen.
Gleiches gilt für einzelne Walliser Täler, wo die
Blätter spinatartig zubereitet werden. Die Stelle
unserer Rhabarberstiele auf Kuchen vertraten sie
noch vor nicht langer Zeit im Kanton Bern und
noch heute im Wallis und im Engadin. Ihre be-
merkenswerteste Verwendung aber findet dieBlagge
allerdings nicht als Menschen-, sondern als Vieh-
nahrung, in Graubünden und auch in Savoyen.
Dann führt diese Nutzung des Alpenampfers dazu,
daß man anfängt, ihn zu schonen und zu schützen,
mit einem Zaun zu umgeben und schließlich,
allerdings nur in seltenen Fällen, sogar anzubauen.
Hier kann man einmal Schritt für Schritt den
Übergang von Sammelpflanze zu Kulturgewächs
beobachten. Falls so die Ruderalpflanzen bei der
Entstehung der Kulturpflanzen eine größere Rolle
gespielt haben, darf man annehmen, daß auch
andere Arten ähnlich wie diese an überdüngten
Stellen absichtlich gepflanzt worden sind, war
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
257
doch diese an Düngstofifen überreiche Umgebung
menschlicher und tierischer Wohnstätten unter
primitiven Verhältnissen vielleicht der einzige Ort,
wo man nicht fortwährend sich des in unserem
Klima iibermächtigen Waldes erwehren mußte.
In der Tat finden wir solche Misthaufenkulturen
unter primitiven Verhältnissen in unseren Alpen-
tälern. Im Maderanertal (Uri) wird, wenn man
im Frühling mit dem Vieh den tiefgelegenen Stall
verläßt, um auf die höhere Staffel zu ziehen, der
Misthaufen neben der Flutte vorher noch dicht
mit Setzlingen der Runkelrübe bespickt, die dort
natürlich ein fröhliches Wachstum entwickelt. Die
so gewonnenen Runkelrüben dienen hier nicht
nur als Viehfutter, sondern noch, allerdings ver-
einzelt, als menschliche Speise wie im Mittelalter.
Aber es ist noch eine andere Entsteluingsart
neuer Kulturgewächse zu erwähnen. Nicht immer
und unter allen Umständen waren die Unkräuter
verachtete Beimischungen. Unter primitiven Ver-
hältnissen werden sie sogar gerne gesehen, wie
z. B. Wickensamen unter schlechteren Getreide-
arten. In den Zeiten der Hungersnot ist oft das
Unkraut der Retter russischer Bauern gewesen,
intjpm sie sich mit seinem Samen ernährten.
Der echte Buchweizen (Fagopyrum esculentum)
ist regelmäßig von einem Unkraut, dem tatarischen
Buchweizen, begleitet. In ungünstigen höheren
Lagen, wo der echte Buchweizen nicht mehr gut
gedeiht, kommt nun das Unkraut, der tatarische
Buchweizen, zum Anbau. .'\ls Unkraut hat er sich
verbreitet und in ungünstigen Verhältnissen wird
aus dem „Unkraut" das „Kraut". Im unteren
Fuschlav, um Brusio, baut man den echten, in den
zwei Stunden höher oben gelegenen Bergdörfern
Viano und Cavajone den tatarischen Buchweizen.
So hat sich in der Schweiz neben fortge-
schrittensten Wirtschaftsformen noch eine ganze
Musterkarte primitiver Nutzungs- und Kulturvveisen
erhalten, und eine zielbewußte Erforschung würde
das Bild sicher noch bereichern. An Bedeutung
sind alle weit zurückgegangen , viele sind von
Stufe zu Stufe gesunken, indem manche Pflanze,
die einst eine wesentliche Volksnahrung lieferte,
jetzt zur Viehnahrung geworden ist oder höchstens
noch armen Leuten als Notnahrung, den Kindern
als Spielerei dient. H. Fehlinger.
Physiologie. Serobiologische Studien über
Blattläuse und deren Wirtspflanzen. Dewitz,']
der als erster auf zoologischem Gebiete chemo-
taktische Reize beobachtet hat und für sich das
große Verdienst in Anspruch nehmen darf,
damit direkt den später so erfolgreichen Physio-
logen J. Loeb angeregt zu haben, entdeckte
»)J. Dewitz: Über die Einwirkung der
Pflanzenschmarotzer au f d ie Wirtsp flanze. (Aus
der Königl. Preuß. Station für Schädlingsforschungen in Metz-
Geisenheim). Naturwissenschaftl. Zeitschr. für Forst- und
Landwirtschaft. Jg. 1915, Heft 6/7, S. 388,
die blutkörperchenlösende (hämolysierende) Wir-
kung der aus Blattläusen (Aphiden) hergestellten Ex-
trakte. Er hofft mittels dieser Beobachtung der
„Art und Weise, wie die tierischen Pflanzen-
parasiten, Pflanzenläuse u. a., auf den Organismus
der Wirtspflanzen einwirken", näher zu kommen.
Sind doch über derartige Wechselbeziehungen
sehr wenig positive Ergebnisse bekannt. Zur
Verwendung gelangten auf Pelargoniumblätter ge-
züchtete ungeflügelte Blattläuse, die Verf wegen derin
seiner Nähe sich abspielenden Kriegsereignisse nicht
näher bestimmen konnte. Born er glaubt, daß
es sich um Macrosiphum pelargonii Kalt, handelt.
Die eingesammelten und gereinigten Läuse wurden
in einem Porzellantiegel teils mit physiol. Koch-
salzlösung, teils auch unter Zusatz von Glyzerin
(zu gleichen Teilen) verrieben und nach einer
24 stündigen Digestion im Eisschrank filtriert.
Dieser so bereitete Körperbreiextrakt macht, nun
aus mit ihm gemischten, von Serum und Fibrin
sorgfältig befreiten roten Blutkörperchen das
Hämoglobin frei, so daß die gesamte Lösung
lackfarben wird, d. h. er hämolysiert. Die das
Hämoglobin in Freiheit setzende Substanz be-
zeichnet man als Hämolysin. Dewitz benutzte
eine 5 "Jq Aufschwemmung von Rinderblut-
körperchen und fand, daß der Extrakt in einer
Verdünnung von i : lOO die in gleicher Maßein-
heit enthaltenen Blutkörperchen vollständig, in
einer Verdünnung von i : 200 teilweise nach einer
2 stündigen Erwärmung auf 37 ", bei Verwendung
von konzentrierten Läusesaftlösungen aber schon
bei Zimmertemperatur und in sehr kurzer Zeit
aufgelöst werden. Dewitz glaubt, noch emp-
findlichere Blutkörperchen mit höheren Löslich-
keitswerten des Extraktes nachweisen zu können.
Den Hämolyse erzeugenden Körper bezeichnet
er als Aphidolysin und hält ihn für ein Gift,
wie solches bereits von Schlangen, Eidechsen,
Kreuzspinnen, Skorpionen, Fliegen, Fischen,
Pflanzen bekannt und untersucht worden ist.
Der Beweis der Identität mit irgendeinem der-
selben fehlt jedoch noch. Die Erkennung der
Lokalisat ion des Giftes im Organismus der Blatt-
laus stößt wegen ihrer Kleinheit auf Schwierig-
keiten.
In ähnlicher Weise und mit demselben Resul-
tat hat Dewitz auch Reblausextrakte studiert.
Die Entdeckung von Dewitz griff Börner,^)
der bekannte Spezialist auf dem Gebiete der Reb-
und Blattlausforschung, für weitere experimentelle
Untersuchungen auf. Er gegen prüfte Blutkörperchen
vom Schwein, Rind, Hammel, Ziege, Meerschwein-
chen, Maus, Huhn Aphis atriplicis, A. pomi, A.
rumicis, A. viciae, Brevicoryne (Aphis) brassicae,
Drepanosiphum aceris, Macrosiphum picridis, M.
pisi, M. rosae, Megoura viciae, Peritymbia f. per-
vastatrix, Rhopalosiphum lactucae, Schizoneura
2) Karl Börner: Über blutlösende Säfte im
Blattlauskörper und ihr Verhalten gegenüber
Pflanzensäften. Mitteilungen aus der Kaiserlichen Biolo-
gischen Anstalt für Land- und Forstwirtschaft, Heft l6, 1916.
258
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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lanigera, Siphocoryne saliceti. Es stellte sich unter
den von Dewitz für Extraktgewinnung gege-
benen Bedingungen eine durchschnittliche hämo-
lytische Wirkung der Saft bis an einer Ver-
dünnung I : 200 heraus. Vereinzelt jedoch wurden
besonders gegenüber Schweineblutkörperchen viel
günstigere Resultate erzielt. Saft von Aphis
viciae vermag Blutkörperchen vom Schwein nach
2 stündigem Aufenthalt im Brutofen von 37" bis
zu 1600, Saft von Macrosiphum pisi bis zu 3200,
ersteren nach 4 Stunden bis zu 6400, nach
13 Stunden bis zu 12S00 restlos zu hämoly-
sieren. Damit wird die von Dewitz ver-
mutete erhöhte Wirksamkeit der Lysine gegen
andersartige Blutkörperchen bestätigt, damit aber
auch sein Vergleich zwischen der hämolytischen
Stärke des Aphidolysins zum Arachnolysin erheb-
lich zugunsten der ersteren korrigiert. Nach
seinen Angaben lösen 0,0005 g Blattlaussaft und
0,000028 g Kreuzspinnensubstanz die nämliche
Menge Blutkörperchen, während bei Zugrunde-
legung der Versuche von Börner von Macro-
siphum pisi die Verhältnisse ungefähr dieselben
sind (0,000031 und 0,000028).
Ein einheitliches Blutlausgift (Aphidolysin)
kommt nach der Auffassung Börners den Blatt-
läusen nicht zu, da die blutlösende Fähigkeit der
Extrakte verschiedener Blattlausarten sich der-
selben Blutart gegenüber verschieden verhalten.
Während Macrosiphum pisi und Aphis viciae die
roten Blutkörper chen des Schweines glatt hämo-
lysieren, verhalten sich ihnen gegenüber die Säfte
von Aphis atriplicis und Schizoneura lanigera völlig
negativ.
Die Hämolysine wurden erst bei Anwendung
ziemlich hoher Wärmegrade empfindlich beeinflußt.
Diejenigen von Siphocoryne saliceti waren nach
2 Stunden bei 60", die von Brevicoryne brassicae
nach 30 Minuten bei 100" zerstört und die Fähig-
keit des Wickenlaussaftes Schweineblutkörperchen
zu lösen, war bei So" nach 45 — 60 Minuten um
die Hälfte geschädigt.
Die Lokalisation der Hämolyse im Tierkörper
der Blattläuse suchte Börner, da direkte Unter-
suchungen wegen Kleinheit der Objekte unmög-
lich erscheinen, auf indirektem Wege zu ermitteln.
Er stellte sich zunächst die Frage nach der Zeit
der Entstehung der Hämolysine im Tierkörper
und ob dieselben etwa mit der Pflanzennahrung
aufgenommen werden würden. Er fand : die
Hämolysine bilden sich während der Embryonal-
zeit und vor Aufnahme von pflanzlicher Kost.
Frisch abgelegte Eier der Reblaus hämolysieren
noch nicht, aber kurz vor dem Ausschlüpfen
stehende Reblauseier und mit Rebblättern noch
nicht in Berührung gekommene Jungläuse zeigen
dieselbe blutkörperchenlösende P'unktion wie die
ausgewachsenen Gallen- und Wurzelläuse. Falls
nun das Lysin, so wird weiter geschlossen, im
Speichelsaft der Blattlaus lokali'-iert ist, müßte es
durch den Saugakt auf die Wirtspflanze über-
tragen werden und eventuell nachweisbar sein.
Das ist tatsächlich der Fall. Die Extrakte der
von der Wickenblattlaus (Aphis viciae) stark be-
setzten und besogenen Triebspitzen der schmal-
blätterigen Wicke (Ervum tenuifolium) hatten im
Gegensatz zu den Säften von unbesogenen Pflanzen-
teilen hämolytische Eigenschaften. „Falls hierbei
nicht noch andere unbekannte Faktoren wirksam
gewesen sind", werden die Hämolysine also beim
Saugakt der Läuse in die Pflanze eingespritzt und
müssen mithin in den Speicheldrüsen lokalisiert
sein und gebildet werden.
Die Hämolysine der Blattläuse werden im
pflanzlichen Gewebe wahrscheinlich sehr schnell
verändert. Es folgt das daraus, daß nach ein-
tägigem Aufenthalt der Extrakte aus von Blatt-
läusen besogenen Pflanzenteilen oder der künst-
lichen Mischungen von gewöhnlichen, unbeein-
flußten Pflanzenorgansäften und solchen der be-
treff'enden Parasiten im Eisschrank die Lysine
vollständig neutralisiert oder doch sehr abge-
schwächt, d. h. ganz oder teilweise gebunden
worden waren, so daß zugesetzte Blutkörperchen
unverändert blieben oder nur zum Teil gelöst
wurden. Beim näheren Studium von Mischungs-
versuchen in vitro, die durch Kontrollen gesichert
wurden, ging Börner von einem hochwertigen
Läusesaft (von Aphis viciae) aus. Bringt man
denselben in verschiedenen Verdünnungen (von
V40 — '/12 sno) niit gleichen Volumteilen frischen
Pflanzensaftes von Ervum tenuifolium zusammen
und fügt sofort eine 5 "/o Aufschwemmung von
Schweineblutkörperchen hinzu, so tritt nach den
gewöhnlichen Bedingungen die Hämolyse mit
nahezu denselben Werten ein, wie sie ohne Beisein
von Pflanzenextrakt beobachtet wird. Bei gleich-
zeitigem Zusammenbringen der drei Komponenten
tritt demnach eine merkliche Hemmung oder Ab-
lenkung der Hämolyse, wie sie infolge Neutralisation
von Pflanzensaft und Pflanzenlaushämolysin ange-
nommen werden konnte, nicht ein. Die Affinitäten
zwischen Blutkörperchen- und Pflanzenlaussubstanz
überwiegen. Dasselbe wird bei alleinigem Vor-
wärmen des Pflanzensafies, das Börner bis auf
14 Stunden bei 37" ausgedehnt hat, und nach-
folgendem gleichzeitigen Zusatz der hämolytischen
Komponenten beobachtet. Anders liegen die Ver-
hältnisse, wenn dem Läuse- und Pflanzenextrakt
zur gegenseitigen Beeinflussung Zeit gelassen wird.
(Sie wurden 2—14 Stunden bei 37" gehalten.)
Wickenlaussaft V3200 und Wickensaft V20 2 Stunden
auf 37" erwärmt, zeigt bei Zusatz von Schweine-
blutkörperchen totale Hemmung, d. h. es trat
keine Hämolyse ein. In Verfolgung dieser Tat-
sache stellte sich die weitere sehr interessante Be-
obachtung heraus, daß eine derartige Verminderung
(Ablenkung) der Hämolyse nur zwischen einander
angepaßten Organismen, also zwischen Wirtstier
und Wirtspflanze oder einer nahe verwandten
Pflanze erfolgt, nicht aber zwischen einer fremd-
artigen. Beispiel : Die Hämolysine des Extraktes
der Wickenlaus neutralisieren sich mit gewissen
Bestandteilen des Pflanzensaftes von Ervum tenui-
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
2S9
folium und Vicia sepium, nicht aber mit dem
Auszug von den Blättern der Melde Atriplex
hastatum. Während in erstem Falle die zu-
gesetzten Blutkörperchen ungelöst blieben, war bei
letztgenannter Pflanzenart noch eine deutlich
positive Hämolyse zu beobachten gewesen.
Hiermit wären besondere Wechselbeziehungen
zwischen Wirtstier und Pflanze nachgewiesen
worden.
Börne r glaubt diese Beziehungen durch eine
weitere Beobachtung stützen zu können. Indem
er die Säfte von Wirtstieren und Wirtspflanze
im Reagicrglas mischte, konstatierte er bei zu-
sammengehörigen Organismen einen Niederschlag,
der sich gegenüber von Kontrollversuchen als
Trübung zeigte. Mit dem Saft gesunder, frischer
Wirtspflanzen (Spießmelde: Atriplex hastatum,
Gänsefuß: Chenopodium glaucum) versetzter
Extrakt der betreffenden Wirtslaus (Meldelaus:
Aphis atriplicis) — die übrigens keine hämoly-
sierende Substanz für die untersuchten Blutarten
enthalten soll — wies einen stärkeren Trübungs-
grad auf als eine Mischung von fremdartigen
Tiersäften (Blut- und Wickenlaus) mit denselben
frischen Pflanzenauszügen. Ersterer zeigte ferner
große Ähnlichkeit mit dem Saftauszug von
Meldenblattgallen der Meldenlaus, der ebenfalls
ein schwachtrübes Aussehen hatte. Born er zieht
hieraus, also auf Grund des ähnlichen Trübungs-
grades, die Folgerung, daß „demnach anscheinend
der Preßsaft der gesunden Blätter durch Saft der
Meldenlaus in einem ähnlichen Sinn beeinflußt
worden war, wie im Leben der Zellsaft der von
der Meldcnlaus besogenen Meldenblätter" (S. 49).
Sollte diese Erscheinung im Sinne Börners
spezifisch sein und bestätigt werden, dann müßte,
da sie sich auf Blattlausextrakte bezieht, deren
hämolytische P'ähigkeit noch nicht festgestellt
werden konnte, die ev. Beziehung zur Hämolyse-
reaktion untersucht werden, wobei sich die erstere
dann wohl als die allgemeinere ergeben dürfte.
Stellt sich ihre Identität heraus, dann wären in
diesen Reaktionen, die als allgemeine Anpassungs-
erscheinungen für irgendwelche, vorläufig noch
unbekannte biologische Prozesse zu deuten sind,
Beziehungen von größerem biologischem Interesse
aufgefunden worden.
Den Einfluß der Hämolysine der Blattläuse
glaubt Born er an der lebenden Pflanze im Auf-
treten von Verfärbungen im Bereich der Stich-
wunden und in den Wachstumsstörungen (Gallen-
bildungen) zu erkennen. Im übrigen vermeidet
er aus seinen Untersuchungen vorläufig weitere
Schlußfolgerungen über die biologischen Aufgaben
derselben. Gegenüber der Toxinauffassung von
Dewitz hebt er jedoch hervor, daß das Auftreten
der Hämolysine im Speichelsaft der Blattlaus und
ihre Neutralisierung durch Pflanzensäfte vielleicht
auf Enzyme hinweist, wodurch Verdauung und
ev. auch Gallenbildung irgendwie beeinflußt werden
könnten.
Gegen die enzymatische Natur der Hämolysine
spricht m. E. jedoch die relativ große Wärme-
unempfindlichkeit und ihr scheinbares Fehlen bei
einigen Blattlausarten. Enzyme werden im allge-
meinen durch Temperaturen zwischen 50" und 60"
nach kürzerer Einwirkungszeit zerstört. Und da
Aphis atriplicis ebenfalls Gallen bildet, wird, falls
eben die Hämolysine die angedeutete biologische
Rolle spielen, dieser scheinbare Ausfall Aufklärung
erheischen, da man sonst eine Art „Enzymersatz"
postulieren müßte. Es läßt sich aber vermuten,
daß die betrefi'enden Substanzen bei Aphis atriplicis
ebenfalls vorhanden und nur nicht so auf-
fällig ausgebildet sind. Wahrscheinlich findet sich
noch irgendeine geeignete Blutart oder aber es
tritt nur eine Bindung mit den untersuchten roten
Blutkörperchen auf, so daß der Austritt des Hämo-
globins nicht bewerkstelligt werden kann. Viel-
leicht erklärt sich auf diese Weise auch das
negative Verhalten der Extrakte von Schizoneura
lanigera, der nur die Blutkörperchen vom Huhn
bis zur Verdünnung i : 100 hämolysieren soll, und
das der frisch gelegten Galleneier von Peritymbia f.
pervastatrix. Aber auch die Gift (Toxin)- Natur
der Hämolysine im Sinn des Diphtherietoxins
oder das Arachnolysins erscheint wegen ihrer
weitgehenden Thermoresistenz und anderer
Momente, die hier nicht erörtert werden können,
zweifelhaft. Hierüber sind noch eingehende
Untersuchungen anzustellen. Es dürfte ferner be-
achtenswert erscheinen, experimentell zu beob-
achten, ob die Hämolysine nicht eine rein kutikula-
lösende F"unktion zur Einführung des Rüssels
durch die harte Oberfläche hindurch in das
weichere und nährstoffreiche pflanzliche Gewebe
• — eine im Verhältnis zur Tiergröße immerhin
schwierige mechanische Leistung! — besitzt, was
allerdings mehr eine generelle Eigenschaft wäre
und in einem gewissen (nicht unbedingten) Wider-
spruch stände mit den von B ö r n e r aufgefundenen
korrespondierenden Erscheinungen.
Fraglich erscheint mir dann die ausreichende
Beweiskraft des Arguments Börners für die
Verschiedenartigkeit der blutlösenden Säfte der
diversen untersuchten Blattläuse. Er meint, ihre
nicht einheitliche Natur gehe aus dem ver-
schiedenen Verhalten der verschiedenen Hämo-
lysine der Läuse gegenüber einer Blutart hervor.
Dieser Schluß übersieht, daß verschiedene quanti-
tative Verhältnisse in der Ausbildung der Lysine
an sich schon differentes Verhalten, das sich in
Titerschwankungen oder als scheinbar negative
Reaktion (Bindung 1) zeigt, ergeben. Recht schwach
ausgebildete Lysine lösen z. B. Rinderblutkörperchen
nicht, schwache lassen nur einen niedrigen, starke
einen höheren Titer erkennen. Dasselbe ist bei
gleicher Annahme denkbar gegen untereinander
in ihrer Resistenz und ihren chemischen Verhält-
nissen verschiedenen Arten von Blutkörperchen.
Ob die Säfte der Läuse verschiedenartig, d. h. in
chemischem Sinn different sind, bleibt folglich
noch problematisch bis noch andere Beweise er-
bracht werden können und dieser Einwurf auf seine
26o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
Berechtigung hin geprüft wurde. Zur Klarlegung
dieses Problems können z. R. eine größere Anzahl
Versuche über die Wärmeempfindlichkeit verschie-
dener Hämolysine herangezogen werden. Immer-
hin muß zugegeben werden, daß aus Börners
Untersuchungen bereits eine strenge Einheitlich-
keit derselben nicht hervorgeht. Die Bezeichnung
Aphidolysin (Dewitz) für die Hämolysine der
Blattläuse halte ich für gerechtfertigt, wenigs.tens
als generellen Oberbegriff.
Nach Übersicht III (S. 47) erscheint es auffällig,
daß eine 2 stündige Digestion gegenüber einer
14 stündigen bessere Resukate ergibt. Wicken-
laussaft und Wickensaft war in ersterem Falle
glatt, im letzteren Falle nur fast negativ. Man hätte
bei einfachem Reaktionsablauf das gegenteilige Er-
gebnis erwartet. Die verschiedenen Verdünnungen
sind gegenüber der Zeitdauer wohl fastbelanglos.
Die fremdartigen Pflanzensäfte und Tierextrakte
scheinen endlich nicht ganz ohne Wirkung auf-
einander zu sein. Die Hämolyse in Versuch II 2c
der Übersicht III wurde teilweise abgelenkt, so
daß nur ein „fast +" konstatiert werden konnte. Auf
Grund dieser Beobachtung glaubt Born er selbst
nicht an eine streng spezifische Wechselwirkung
zwischen der von der betreffenden Laus besiedelten
oder dieser verwandten Pflanze und dem Parasiten.
Mit dieser Einschränkung hat die Beobachtung
vorläufig nur relativen Wert und erfordert vor
allem eingehende systematische Untersuchungen
zur Feststellung und Abgrenzung der eigentlichen
Tatsache. Das Verdienst Börners besteht darin,
das Problem von neuem angeregt, erstmalig wahr-
scheinlich gemacht und zugleich geeignete Me-
thoden zur Lösung desselben (Hämolysehemmung
und Niederschlags-, bzw. Trübungsreaktion) an-
gegeben zu haben. Thiem.
Zoologie. Laichwanderung der Forelle. Wie
LouisRoule (vgl. Naturw. Wochenschr. XV. Bd.
1916 S. 251) gefunden hatte, dient dem Lachs
bei seinen Laichwanderungen, welche er aus dem
Meer in das Süßwasser unternimmt, der Sauer-
stoffgehalt des Wassers als Führer. Er dringt in
jene Ästuarien ein, wo diejenigen Zuflüsse ein-
münden, deren Wasser am reichsten an darin ge-
löstem Sauerstoff ist. Von der Mündung steigt
der Lachs im Strom aufwärts, dringt in die ein-
mündenden Flüsse und aus diesen in die Gebirgs-
bäche vor, um dort zu laichen; die jungen Fische
schlagen dann seinerzeit den umgekehrten Weg ein,
um bis zu laichfähiger Größe im Meer heranzuwachsen.
Es ist schon längst bekannt, daß die Seeforelle
des Süßwassers (Salmo fario lacustris L.) eine
ganz entsprechende Erscheinung zeigt, indem sie
gewöhnlich ihre Eier nicht in dem See absetzt,
in welchem sie lebt, sondern ebenfalls zur Laich-
zeit in die einmündenden Flüsse und Bäche
aufsteigt, um in letzteren zu laichen, und daß erst
die jungen Fische nach einigen Monaten wieder
in das Seebecken wandern. Nach Unter-
suchungen, über welche R. in der Sitzung der
Pariser Akademie der Wissenschaften vom 6. Nov.
191 6 berichtete, ist auch für die Forelle des
Genferseees der zunehmende Sauerstoffgehalt der
Wasserläufe bestimmend für den einzuschlagenden
Weg; die Seeforelle unterscheidet sich vom Lachs
bezüglich ihrer Laichwanderungen nur dadurch,
daß sie weniger weit und durchweg in demselben
Milieu, im Süßwasser wandert.
Eine praktische Schlußfolgerung aus diesen
Tatsachen wäre nach R. die, daß man beim Ein-
fangen von Laichfischen für die Fischbrutanstalten
die sauerstoffreichsten Wasserläufe wählt; dort
würde man nicht nur die meisten Laichfische an-
treffen, sondern auch die lebenskräftigsten Stücke.
Kathariner.
Die Bedeutung Italiens für den Vogelzug.
Der beträchtliche Artenreichtum der Vogelwelt
Italiens hat seinen Grund darin , daß die lang-
gestreckte Appeninnenhalbinsel und als ihre Fort-
setzung Sizilien eine natürliche Verbindung dar-
stellt zwischen Europa und Afrika und deshalb
naturgemäß von den Zugvögelmassen beider
Kontinente als Wanderstraße benutzt wird. Nach
Forstmeister S c h w a a b - Vilsbiburg (Naturw.
Zeitschr. f Forst- u. Landwirtschaft, 15. Jahrg.,
1917, Heft 2, S. 68 — ■]■]) unterscheidet der Ita-
liener „3 Phasen dieser alljährlichen mit der
Regelmäßigkeit eines Uhrwerks sich vollziehenden
Völkerwanderung; i. den passo primaverile,
den Frühjahrszug von Januar bis Mitte Juni,
2. die sosta, die Ruhepause von Mitte Juni bis
Mitte Juli, und 3. den passo autumnale, den
Herbstzug von Mitte Juli bis zum Jahresende".
Den Reigen im Januar eröffnen zumeist 2 hoch-
nordische Gäste, der Tordalk und der Lund,
der sibirische Fichtenammer und von der
deutschen Vogelwelt wenige Gimpel stellen sich
nächst ihnen ein. „Damit ist die gewaltige
Mobilmachung des passo primaverile eingeleitet,
welche die ganze Vogelwelt nach Norden ver-
schiebt." Zunächst rücken wohl nur vereinzelte
Schwärme über die winterlichen Alpen vor, aber
„hinter der Gebirgsmauer vollzieht sich doch der
strategische Aufmarsch zu dem Massenzug in den
folgenden Monaten". „Von Februar bis Mai bildet
Italien den Truppensammelplatz für die nordischen
Zugvögel (specie invernale), welche aus Afrika
zurückwandern und auf der Reise nach den alten
Niststätten eine Zeitlang noch in dem ungastlichen
Lande verweilen. Gleichzeitig mit ihnen trifft
auch die Vogelwelt der tropischen und subtro-
pischen Zone ein (specie estive), welche, der
Sonnenglut am Äquator aus dem Wege gehend,
Frühjahr und Sommer in Italien verbringen und
daselbst nisten". Die Ankunfts- und Abwanderungs-
zeiten der einzelnen Vogelarten läßt sich nach
den Aufzeichnungen früherer Beobachtungen im
Calendario delle migrazioni genau vorhersagen
Aus ihnen geht hervor, daß „der Zustrom aus
dem Süden von Januar bis April ständig an-
schwillt, in diesem Monat seinen Höhepunkt er-
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
261
reicht und in der i. Hälfte des Juni mit dem
Erscheinen des Rosenstars endet. Ebenso
verdichten sich die anfangs sehr schwachen nach
Norden aufbrechenden Flanklerketten von Januar
bis April immer mehr, flauen dann langsam ab
und mit der Abreise des S trän d lau fers ist der
letzte der invernali aus italienischem Gebiete ver-
schwunden". Nur I Monat dauert die Sosta, die
Ruhepause, dann beginnt schon wieder der Herbst-
zug: die Vogelmassen streben zurück in ihre
Winterquartiere. Nicht alle Vögel aber halten
sich auf ihrem Wanderzuge längere Zeit in Italien
auf, viele Vogelarten, wie die Störche, ver-
schiedene Falkenarten, der Löffelreiher u. a. m.
passieren die Halbinsel nur in eiligem Durchflug.
Unberechenbar und von dem Zuge aller anderen
Vögel abweichend sind stets die Wanderungen
der Wachteln. Vollkommen systemlos offenbar
von momentan einsetzenden klimatischen Ereig-
nissen beeinflußt, scheinen ihre Wanderungen zu
sein, so daß man Wachteln eigentlich das ganze
Jahr über in Italien antreffen kann. Neben diesen
ständigen Besuchern der Appenninenhalb-
insel finden sich noch einige mehr „periodische
Einwanderer". Zu diesen gehört das in den
osttatarischen und mongolischen Steppen heimische
Steppenhuhn, dann der Seidenschwanz,
der bei besonders strengen Wintern, wie z. B. im
Dezember 1904, aus seiner hochnordischcu Heimat
bis nach Norditalien vordringt, endlich einige
Hochalpenbewohner, wie der Schnee-
fink, der Alpenflüevogel, die Ringdrossel,
der Zitronenfink u. a. m.
Eine Sonderstellung unter allen Italien auf-
suchenden Vogelarten nimmt der Flamingo ein:
während sonst die tropischen Vögel alle ohne
Ausnahme Frühjahr und Sommer in Italien ver-
bringen und dann wieder in die Äquatorial-
gegenden zurückkehren, erscheinen die Flamingos
gleichzeitig mit unseren deutschen Sängern im
Herbst aus der entgegengesetzten Richtung aus
Zentralafrika und tummeln sich den Winter über
in den brackigen Strandseen Sardiniens. „Alken,
Lummen und Lunde sind in strengen Wintern
mit ihnen hier vergesellschaftet." Im Frühjahr
pilgern die Flamingos dann wieder in ihre tro-
pische Heimat zurück. Als Ursache dieses sonder-
baren biologischen Verhaltens, dem augenschein-
lich die stärksten klimatischen Gegensätze be-
hagen, konnte bisher nichts Beweiskräftiges an-
geführt werden. Die Ungunst der klimatischen
und Nahrungsverhältnisse, wie sie bei allen anderen
Vögeln die Wanderungen bestimmend beeinflußt,
ist sicher bei den Flamingos nicht der Anlaß, der
sie verleitet, gerade zu der klimatisch günstigsten
Zeit ihre tropischen Quartiere zu verlassen.
Die wirtschaftliche Ausnutzung der Bedeutung
Italiens als Durchgangsland für die Mehrzahl der
europäischen und afrikanischen Zugvögel durch
die italienische Bevölkerung ist hinlänglich be-
kannt. Alle Vogelschutzgesetze in den italienischen
Nachbarländern, vor allem in Deutschland, werden
die Lücken nicht auffüllen können, welche die
italienischen Vogelsteller alljährlich unter den
durchziehenden Vogelgästen rücksichtslos reißen,
sie dienen lediglich dazu, die italienischen Fang-
ergebnisse Jahr für Jahr günstiger zu gestalten.
H. W. Frickhinger.
Geologie. „Zur Entstehung schmaler Störungs-
zonen" gibt H. Cloos einen wertvollen Beitrag
(Geolog. Rundschau Bd. VII 1916). In Schollen-
gebirgen beobachten wir nicht selten zwischen ein-
förmigen Schichtentafeln schmale Streifen fremd-
artiger Gesteine, die bei der Gebirgsbildung als
Nebenprodukte sich abgesplittert haben. Sind die
Gesteine des Streifens älter als die Umgebung,
so stammen sie aus der Tiefe (Horst), umgekehrt
aus einer inzwischen zerstörten Höhe, wenn sie
jünger sind (Graben). Im letzteren Falle ist die
Erklärung einfach. In einen sich öftnenden Spalt
sind Randteile hinabgesunken. Schwieriger ist der
umgekehrte Fall zu deuten, wo schmale Horst-
streifen aus großen Tiefen emporgepreßt sind.
Noch schwieriger wird es, wenn schmale Horst-
streifen sich mit schmalen Gräben verzwillingen.
Eine altbekannte Tatsache, die man nicht selten
in geeigneten Gebieten nachprüfen kann, ist nun
die, daß wenn Schollen sich aneinander bewegen,
jeweils die Bewegungsfläche zur tieferen Scholle
einfällt (meist unter 50"- 80"). Indessen gibt es
auch Fälle, wo die bewegte Scholle wieder in ihre
L'rsprungslage zurückkehrt oder die ruhende der
bewegten Scholle nacheilt. In diesem Falle wird
entweder die alte Gleitfläche benutzt oder was
häufiger der Fall ist, es bildet sich eine neue, für
die neue Bewegung normale Gleitfläche. Beispiele
liefert das an alternierenden Bewegungen reiche
Schollenfeld der niederrheinischen Bucht. Dort
läßt sich beobachten, daß eine jüngere Störung
über die ältere weggreift. .Senken bezw. heben
sich anstoßende Schollen abwechselnd, so entsteht
eine Sprung kreuzung.
Durch die alternierenden Auf- und Abwärts-
bewegungen von Schollen aneinander werden
wechselweise schmale Gesteinsstreifen abgegeben.
Diese werden zu Horsten, wenn sie an Hochbe-
wegungen teilnehmen oder zu Gräben, wenn Sen-
kungen stattfinden. Die Streifen werden immer
zahlreicher und schmäler, je länger der Vorgang
dauert. Im Falle derSprungkreuzung kommen tiefste
Gräben und höchste Horste nebeneinander zu liegen.
Beispiele .tektonischer Zwillinge sind auf beiden
Seiten des Thüringer Waldes, im Egge- und Teuto-
burgerwaldgebiet usw. Geradezu klassisch ist
Stille's Hoppenbergprofil auf Blatt Peckels-
heim, wo links und rechts Buntsandstein und
.Muschelkalk liegt, während der Horst Zechstein,
der Graben Lias ist.
Alle diese Erscheinungen können durch
Hebungen und Senkungen großer Tafeln ent-
stehen; seitlichen Druckes oder Zuges und einer
Faltung oder .Aufpressung bedarf es nicht not-
wendig. V. Hohenstein.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
Bücherbesprechungen.
Aus dem Leben und Wirken von Arnold Lang,
dem Andenken des Freundes und Lehrers ge-
widmet. Jena 19 16, G. Fischer. — 7 M.
Freunde und Lehrer des am 30. Nov. 1914
verstorbenen Züricher Zoologen Arnold Lang
haben sich vereinigt, um auf Grund von per-
sönlichen Erinnerungen, Briefen, Tagebuchnotizen
und amtlichen Materialien und Schriftstücken ein
Bild des Lebens und Wirkens dieses als Forscher
wie als Menschen gleich ausgezeichneten Mannes
zu entwerfen, und haben damit einen wichtigen
Beitrag zur Geschichte der neueren Zoologie ge-
liefert, der um so größeres Interesse verdient, als
sich in dem Entwicklungsgänge der wissen-
schaftlichen Forschertätigkeit Arnold Lang's der
Übergang von der älteren teils spekulativ teils
entwicklungsgeschichtlich-morphologisch und -ana-
tomisch orientierten Richtung zur experimentellen
Vererbungsforschung wiederspiegelt, den Lang,
obwohl schon in vorgerückteren Jahren, mit be-
merkenswerter Spannkraft mitmachte.
Ernst Haeckel leitet das Buch ein durch einen
Abschnitt, in welchem er die Jenaer Zeit Lan g's
schildert. Sie zerfällt in zwei Teile, die zweijährige
Studienzeit und die nach achtjähriger Zwischen-
zeit aufgenommene Lehrtätigkeit an der kleinen
thüringischen Universität. Er entwirft ein liebe-
volles Bild des Studenten und Kollegen Lang
und des gemeinsamen Strebens und Wirkens, wobei
er, begreiflichen Empfindungen nachgebend, auch
eine gute Strecke seiner eigenen Forschertätigkeit
noch einmal an sich vorüberziehen läßt.
Karl Hescheler, der Schüler und Nach-
folger Lang's, übernimmt die Aufgabe, das übrige
Leben mit Ausnahme des Neapler Abschnittes
darzustellen. Er entledigt sich ihrer in einer
schlichten, dennoch überall die innere Telnahme
verratenden Weise, indem er aus den verschieden-
sten Quellen schöpfend, die Daten selber zu sach-
licher und möglichst umfassender Darstellung
zusammenzufügen sich bemüht. Er berichtet
zunächst, wie der junge in solidem Schweizerboden
kräftig wurzelnde Lang nach Überwindung väter-
lichen Widerstandes die Universität Genf bezieht,
um Naturwissenschaften zu studieren. Hier wurde
er durch Karl Vogt mit Haeckel's Genereller
Morphologie bekannt, welches Werk nach seinem
Urteil einen großen Eindruck auf den Jüngling
machte und ihn bestimmte, gleich so manchem
anderen nach Jena zu wallfahrten. Hier taucht
schon, sicher durch Haeckel mit starker sugge-
stiver Kraft hervorgezaubert, eine neue wissen-
schaftliche Sehnsucht, so charakteristisch für den
Biologen, auf, das Meer. Er verlebt die Ferien
eines Sommers in Wangerooge, reist später nach
den Scilly-Inseln, und nachdem er eben in Bern
sich als Privatdozent niedergelassen hat, zieht es
ihn nach Neapel.
Hier ist er rasch gefesselt und eng an die
Zoologische Station Anton Dohrn's gebunden.
Und so blickt jetzt in das Buch die blaue südliche
See hinein, es steigt empor das heitere, vornehme
Haus in dem Steineichenhain der Villa nazionale,
in dessen Zellen so mancher, glücklich wie der
heilige Hieronymus im Gehäus, unvergeßliche
Zeiten stillen Schauens und Schaffens verlebte, es
klingt und funkelt hinein das in tausend Farben
schillernde und in tausend Stimmen jauchzende
Napoli. Hugo Eisig entwirft mit offenkundigem
Anteil und glücklichster Gestaltungskraft ein an
persönlichen Zügen reiches Bild jenes einzigen
Kreises, in den sich der Schweizer einfügte und
dem er acht Jahre lang und in der Erinnerung sein
ganzes Leben treu blieb. Er erweitert das Bild
beträchtlich, indem er das Werden und Wesen
der Zoologischen Station dem Leser nahebringt,
jenes Stückes deutschen Bodens in fremdem Lande,
auf dem sich die verschiedensten Nationalitäten,
beseelt von dem gleichen ernsten Ziel, einträchtig
zusammenfanden. Wie mancher von den Männern,
ohne die man sich das Acquario gar nicht denken
kann, wirkt nicht mehr dort oder weilt nicht
mehr am Lichte! Allen voran Anton Dohrn,
den wir in seiner ganzen urwüchsigen Kraft, wenn
auch zwischen den Zeilen, in diesem Buche v.'ieder
auferstehen sehen. Wohl ihm, daß der heißblütige
Mann diese letzten Jahre nicht mehr hat erleben
müssen ! Auferstehen sehen wir auch die riesige
Gestalt des sizilianischen P^ischersohnes mit den mau-
resken Gesichtszügen, Dr.Salvatore Lo Bianco,
der in mancher Hinsicht ein Schüler Lang's ge-
wesen ist, den wehklugen stets hilfsbereiten Lin-
de n , den feinen, zarten Giesbrecht und manchen
anderen. Wir müssen Eisig ganz besonders dankbar
für diesen Abschnitt sein.
Weiter spinnt nun wieder Hescheler den
Faden, indem er Lang in seinem akademischen
Wirkungskreise in Zürich vor Augen führt, als
Lehrer und Leiter des Zoologischen Institutes.
Hier werden auch goldene Worte akademischer
Weisheit über akademischen Unterricht und andere
allgemeine akademische Fragen wiedergegeben,
die Lang in seiner ganzen Tüchtigkeit zeigen.
Ganz besonders tritt diese dann hervor in der
bedeutsamen Rolle, die er als unermüdlicher För-
derer und Organisator des großen Unternehmens
des Züricher Universitätsneubaues gespielt hat.
Vor allem wird dann schließlich ein gedrängter
Abriß von Lang's Forschertätigkeit entworfen,
in der neben sorgfältiger Einzelarbeit immer wieder
das starke theoretische Interesse an den großen
Entwicklungsproblemen hervortritt, die er auch
häufig in Reden und Vorträgen erörterte.
Aus dem Bilde, wie es allmählich sich im
Leser von der Persönlichkeit dieses Zoologen ge-
staltet, scheint mir hervorzugehen, daß Lang,
nicht zu jenen Akademikern gehörte, deren Tätig-
keit in der kühlen Anfertigung von Untersuchungen
und der Lieferung akademischer Belehrung an
das Auditorium oder das Laboratorium erschöpft
N. F. XVI. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
263
ist. Neben scharfem, kritischem Verstände und
emsigstem Fleiße wohnte in ihm die Flamme
der Leidenschaft, die allen Äußerungen erst jene
Leuchtkraft gibt und jene Wärme verbreitet, die
hier wie überall die Ursache nachhaltiger Wirkung
und echten Erfolges sind. Miehe.
Thorbecke, F., Im Hochland von Mittel-
kamerun. 2. Teil. Mit 37 Abbildungen und
2 Kartenskizzen. Hamburg 1916, L. Friedrichsen
& Co. — 0 M.
Dem ersten Teil der Landeskunde des Ost-
Mbamlandes, welcher (vgl. unsere Besprechung
Naturw. Wochenschr. Bd. XIV, S. 670) den Verlauf
der Reise und allgemeine Beobachtungen zur Dar-
stellung brachte, läßt der Verf hier einen zweiten Teil
folgen, der aber noch nicht die ursprünglich in Aus-
sicht genommene ph\'sische Geographie bringt,
sondern die Anthropogeographie, der lediglich des
besseren Verständnisses wegen ein kurzer orien-
tierender Abschnitt über die Natur des Ost-Mbam-
landes vorausgeschickt wird. Dann werden die
Rassen und Völker des Gebietes, ihre Geschichte,
ihre Sicdelungen und Befestigungsanlagen darge-
stellt, sowie ungefähre Daten über die Bevölkerungs-
zahl mitgeteilt. Die Lebensweise der Eingeborenen
wird in einem folgenden Abschnitt im engen An-
schluß an die besonderen Bedingungen des KHmas
behandelt, ferner die Nahrung, wobei wir auch von
dem immer noch gelegentlich angetroffenen Kanni-
balismus erfahren, die Kleidung und Bewaffnung,
die gesundheitlichen und VV^ohnungsverhältnisse.
Dann entwirft der Verf ein ausführliches Bild der
gesamten Wirtschaft des Gebietes, der Kultur-
pflanzen und ihres Anbaus, der Ausnutzung der
Bodenfläche, der Viehhaltung, der Jagd, des I'isch-
fanges und der Sammeltätigkeit, des Handwerks
und der Gewerbe sowie des Handels. Im Mittel-
punkt des Landbaus stehen nicht die Hack- sondern
die Körnerfrüchte; die Viehhaltung, die sich in
erster Linie auf Kleinvieh erstreckt, ist wenig
sorgfältig. Das Handwerk, unter dem der Mangel
der Holzbearbeitung auffällt, leidet unter dem
zerstörenden Einfluß der importierten europäischen
Waren. Träger des Handels sind nie die Ein-
heimischen gewesen, sondern stets Fremde. Da
der Handel mit Elfenbein bereits erloschen ist und
der mit Kautschuk alimählich zurückgeht, sieht
Verf die einzige Hoffnung in dem durch die Natur
des Landes begünstigten und hier bereits ein-
heimischen Baumwollbau. Bei der Erörterung
der Verkehrswege, wird erwähnt, daß die beiden
großen Ströme Mbam und Sanaga nicht schift'bar
und alle Straßen, selbst die best ausgebauten nur
für Träger benutzbar sind; der Fortsetzung der
Nordbahn durch das Ostmbamland nach Adamaua
wird das Wort geredet. Im Schlußkapitel be-
handelt der Verf. die deutsche Kolonisation und
gibt dabei selber mannigfache Anregungen zur
Hebung des Landes. Zahlreiche sehr gute Ab-
bildungen, sowie zwei Karten, und zwar eine der
Völker und eine der Verkehrs- und Handelsstraßen
sind auch diesem 2. Teil des wertvollen Werkes
beigegeben. Miehe.
Brehm's Tierleben, Säugetiere. 4. Band.
Leipzig und Wien. Bibliographisches Institut.
Der vorliegende Band, der sich, was Sorgfalt
der Bearbeitung und Vorzüglichkeit der Ausstattung
anbetrifft, würdig seinen Vorgängernanreiht, schließt
die Säugetiere ab. Er wird besonderes Interesse
erregen, einmal weil er die wichtigsten Vertreter der
Haustiere und des heimischen Wildbestandes enthält,
die unter den Paarhufern abgehandelt werden,
und dann, weil als Abschluß des Tierreichs
seine interessanteste Gruppe, die Affen, eine ein-
gehende Darstellung finden. Überall ist der Inhalt
stark bereichert worden, so daß oft nur wenig von
der letzten Auflage unverändert geblieben ist; sind
doch z. B. 201 Arten von Affen und Halbaffen be-
schrieben gegen 85 der vorigen Aullage. Das
Abbildungsmaterial ist wieder sehr reich und be-
sonders die farbigen Tafeln vorzüglich. Dabei
begegnet man aber auch immer wieder gerne
den schönen alten Holzschnitten. Unter den Bildern
treffen wir eine große Zahl seltener Tiere, wie
das Okapi, das Zwergflußpferd, den wilden Yak
und andere. Bei den Haustieren ist auch ihre
Geschichte sowie die F>age ihrer Abstammung
ausführlich erörtert. Am Schluß des Bandes sind
1 2 Kärtchen angefügt, aufweichen die geographische
Verbreitung wichtiger Säugetiergruppen oder
einzelner Tiere dargestellt sind. Miehe.
Greulich, O., Dr., Peru. Studien und Er-
lebnisse. Zürich. Orell Füßli. — 5 M.
Der Verfasser hat längere Zeit als Lehrer in
Peru und zwar inHuaraz und in Puno amTiticacasee
gewirkt und schildert in diesem ansprechend aus-
gestatteten, mit einer farbigen Umschlagszeichnung
geschmückten Bändchen Land und Leute, wie er
sie in seinem alltäglichen Leben und auf seinen
Reisen kennen lernte, auf eine frische und an-
schauliche Art. Seine in der Eigenschaft als
peruanischer Beamter erworbene Kenntnis der
inneren Verhältnisse des Landes benutzt der
Verfasser überdies zu dem praktischen Zwecke,
die Aussichten für Auswanderungslustige ver-
schiedener Berufe zu erörtern und das Verständnis
für ein Land anzubahnen, von dem er annimmt,
daß es nach dem Kriege rasch wieder in regere
Beziehungen zu europäischen Ländern treten wird
und muß. Interessant sind die Schilderungen der
Denkmäler der peruanischen Vergangenheit, wie
sie namentlich in Cuzso reichlich zu finden sind,
an die auch ein kurzer historischer Abriß ange-
schlossen ist. Über die Aussichten, den Indianer
von heute auf eine höhere Kulturstufe zu heben,
urteilt der Verfasser pessimistisch. In einem Schluß-
kapitel behandelt er noch die politischen Ver-
hältnisse Perus sowie die letzten Revolutionen.
Miehe.
264
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 19
Anregungen und Antworten.
Aufnahmen von Gemälden und anderen mehrfarbigen
Bildern^ Unter den mehrfarbigen Bildern bieten die Ölgemälde
die meisten Schwierigkeiten bei der Aufnahme, wegen ihrer
glänzenden, aber doch unebenen Oberfläche.
Man mufi die Reflexe durch eine richtige Aufstellung zu
vermeiden suchen, so etwa, indem man das Bild nach vorne
herüberneigt, wobei natürlich auch die Kamera entsprechend
aufgestellt werden muß. .ältere Originale wäscht man mit
lauwarmem Wasser ab und überzieht sie nach dem Trocknen
(nach Stolze) mit einer Lösung von 100 ccm Wasser 5 ccm
zu Schaum geschlagenem und abgestandenem Eiweiß und 20 ccm
Glyzerin, wodurch die Tiefen des Bildes besser kommen und
auch die Oberflächenfehler nicht so deutlich mit reproduziert
werden. Nach der Aufnahme wäscht man den Überzug mit
Wasser wieder ab. Sehr dunkle Ölgemälde nimmt man im
Freien in der Sonne auf. Die Belichtung muß bei Ölgemälden
bedeutend länger, etwa 10 mal so lang als bei Aquarell-
geraälden sein , da das Bindemittel der Ölfarben diese viel
unaktinischer gestaltet. Es schadet im allgemeinen nichts,
wenn die den Ölgemälden charakteristische Oberfläche auch
auf der Reproduktion zu erkennen ist. Nötigenfalls kann
man dies durch eine Zweiseitenbeleuchlung verhindern, indem
man durch aufgestellte Lichtquellen das Bild gleichzeitig oder
nacheinander gleich lange von rechts und von links be-
leuchtet.
Bei Aquarellgemälden, farbigen Drucken usw. wird man
im allgemeinen keine Spiegelungen zu befürchten haben,
soweit sie nicht gerade mit Lack überzogen sind.
Noch weit wichtiger wie bei einfarbigen Bildern ist bei
mehrfarbigen die richtige Wahl der Platten. Denn ein Ge-
mälde oder ein Mehrfarbendruck wirkt im Original zum Teil
durch die Farbenpracht, die aber bei der einfarbigen Repro-
duktion wegfällt. Hierbei kommen nur die Tonwerte in Be-
tracht. Nur wenn diese mit der optischen Helligkeit überein-
stimmen, erhalten wir im allgemeinen eine einigermaßen
richtige Vorstellung von dem Bilde. Mit der gewöhnlichen
blauempfindlichen Bromsilberschicht werden die Farben ganz
falsch in ihren Tonwerten wiedergegeben. Bei Aufnahmen
von Gemälden in noch stärkerem Maße als bei solchen nach
der Natur, weil die Malerfarben meist reiner als die in der
Natur vorkommenden Farben sind. Die gewöhnliche Platte
ist fast in allen Fällen für derartige Reproduktionen untaug-
lich. Wir müssen orthochromatische Platten mit Gelbfilter
verwenden; in Fällen, in denen rote Farben zur Geltung
kommen müssen, sind panchromatische bzw. rotempfindliche
Platten zu benutzen.
Aber selbst Aufnahmen mit solchen Platten befriedigen
nicht immer, wenn auch die Tonwiedergabe richtig ist, und
zwar gerade dadurch. Denken wir uns den Fall, daß Dunkel-
gelb und Mittelgrün nebeneinander im Original wirken und
daß die Farben, was Helligkeit anbelangt, gleich sind. Bei
einer tonrichtigen Wiedergabe würden wir daher keinen
Unterschied wahrnehmen. Die beiden Farben, die sich im
Original trotz ihrer gleichen Helligkeit deutlich unterscheiden,
bilden eins. Die Reproduktion ist dadurch, also durch eine
tonrichtige Wiedergabe unvollkommen. Um nun doch einen
Unterschied zwischen Gelb und Grün zu erhalten, müssen wir
die Tonwerte gewissermaßen fälschen, etwa das Gelb oder
Grün
dunkle
repr
Dies erreiche
■ durch
ein passenües Filter. Um irgendeine Farbe dunkler zu er-
halten, nehmen wir einen Filter in der Komplementärfarbe,
um sie heller zu erhalten, in der gleichen Farbe. Wünschen
wir also, daß das Grün dunkler kommt, so wählen wir ein
rotes Filter, welches die grünen Strahlen absorbiert, dabei
die gelben, orange und roten Strahlen durchläßt (also nicht
etwa eine rote Dunkelkammerscheibe, die ja nur rot durch-
läßt oder vielmehr durchlassen soll) oder wir wählen eine
dunkelgclbe Scheibe, die sämtliche von der grünen Farbe
reflektierten blauen Strahlen absorbiert. Wollen wir jedoch
das Grün heller haben, so machen wir die Aufnahme durch
ein Grünfilter, das die von dem Gelb reflektierten roten Strahlen
unwirksam macht, so daß das Gelb dadurch weniger zur
Geltung kommt. Wir können aber auch dadurch das Grün
dunkler kommen lassen, indem wir eine orthochromatische
Platte benutzen, die geringe oder gar keine Grünempfindlich-
keit aufweist. Schließlich kann man statt eines Filters eine
entsprechend farbige Beleuchtung wählen. Petroleumlicht
strahlt hauptsächlich gelbe Strahlen aus, so daß wir hierbei
oft ein besonderes Gelbfilter entbehren können.
Wenn wir stets die W'irkung der Farben und die Wirkung
der Filter bedenken, so wird man sich in den einzelnen Fällen
schon zu helfen wissen.
Farbige Decken, Stoffe und andere farbige Gegenstände
sind im allgemeinen von dem gleichen Gesichtspunkte aus
zu photographieren. Max Frank.
Aufnahmen von Strichzeichnungen. Zu Aufnahmen von
Strichzeichnungen werden am besten statt der gewöhnlichen
Trockenplatten die sogenannten photomechanischen benutzt,
die ein weit feineres Korn aufweisen, jedoch bedeutend
länger (etwas— 10 mal so lange als gewöhnlich, je nach der
Empfindlichkeit der benutzten Sorte) belichtet werden müssen.
Doch hat dies ja bei Reproduktionen nichts zu sagen, im
Gegenteil, es ist dies sogar vorteilhaft, weil wir dadurch
einen größeren Spielraum in der Belichtung haben. Die
photomechanischen Platten geben feine, brillante glasklare
Zeichnungen auf schwarzem Grunde. Allerdings muß zuweilen
das Negativ verstärkt werden. Als Entwickler ist u. a. der
nachfolgende sehr zu empfehlen. Man stellt sich zwei
Lösungen her;
A) 250 ccm abgekochtes oder destilliertes Wasser,
25 g Natriumsulfit,
5 g Hydrochinon.
B) 250 ccm abgekochtes oder destilliertes Wasser,
20 g Kaliumkarbonat (Pottasche).
Zum Gebrauch nimmt man von beiden Lösungen gleiche
Teile und setzt noch zu je 100 ccm 5 — 10 Tropfen einer
zehnprozentigen Bromkaliumlösung zu. Fixiert wird am besten
sauer. Bemerkt sei, daß, wie ja eigentlich immer, die Platten
unbedingt gänzlich ausfixiert und gründlich gewässert werden
müssen, weil sonst bei dem oft noch nötigen Verstärken
(Bleichen in Quecksilberchlorid und Schwärzen in Ammoniak)
unweigerlich Flecken entstehen. Max Frank.
Inhalt: Hermann Zillig, Hanf. (3 Abb.) S. 249. E d w. Hennig, Zum Problem der Wünschelrute. S. 251. — Kleinere
Mitteilungen: Fr. Nölke, Über die Hörbarkeit des Geschützdonners. S. 253. W. R. Eckardt, Weiteres zur Etho-
logie und Psychologie der Anatiden, insbesondere des Schwarzschwanes. S. 254. — Einzelberichte: Ed. Huhn, Über
alte Nutz- und Kulturpflanzen. S. 255. J. Dewitz und K. Börner, Serobiologischc Studien über Blattläuse und deren
Wirtspflanzen. S. 257. Louis Roule, Laichwanderung der Forelle. S. 260. Schwaab, Die Bedeutung Italiens für
den Vogelschutz. S^ 260. H. Gl 00s, Zur Entstehung schmaler Storungszonen. S. 261. — Bücherbesprechungen: Aus
dem Leben und Wirken von Arnold Lang. S. 262. F. Th orbecke. Im Hochland von .Mittelkamerun. S. 263.
Brehm's Ticrleben, Säugetiere. 4. Band. S. 263. O. Greulich, Peru, Studien und Erlebnisse. S. 263. — Anregungen
und Antworten: Aufnahmen von Gemälden und anderen mehrfarbigen Bildern. S. 264. Aufnahmen von Strich-
zeichnungen. S. 264.
Manuskripte und Zuschriften
Verden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 20. Mai 1917.
Nummer 30.
[Nachdruck verboten.*
Grundwasser und Quellen.
Von Dr. Kurt Krause, Leipzig.
Mit 18 Abbildungen.
Dreifach ist die Teilung des gesamten Wasser-
vorrats der Erde. Von den fühlbar für den
Menschen fallenden Niederschlägen verdunstet
ein Drittel und trägt so zur Durchfeuchtung der
alles umgebenden Luft bei; ein zweites Drittel
sickert in den Boden ein und verbleibt dort, um
gegebenenfalls wieder an die Oberfläche zu treten,
ein letztes Drittel erst fließt oberflächlich in
Wasserrinnen ab, dabei in Bächen und Flüssen
die das Landschaftsbild belebenden Talformen
schaffend.
I. Das Grundwasser.
Gräbt man im ebenen Boden des Flachlandes
ein tiefes Loch in die Erde, so findet man, daß
der an der Erdoberfläche meist trockene Boden
mit zunehmender Tiefe feucht wird; und beim
Weitergraben erreicht man eine Bodenschicht,
in der das Wasser dauernd bleibt. Dieses Wasser,
das unter gleichen Verhältnissen in einer be-
stimmten Tiefenlage (meist 2—6 m Tiefe) und
Menge angetroffen wird, ist das sogenannte
Grundwasser: Dieses innerhalb der festen
Erdrinde überall vorhandene Wasser, das gleichsam
wie mit einer Schale den inneren Kern der Erde
umgibt, verdient wegen seiner ungeheuren Menge
und Wichtigkeit eine besondere Beachtung. Ver-
suche, die Quantität des Wassers festzu-
stellen, gehen von der Erwägung aus, daß sich
unterirdisches Wasser in der ganzen Schicht der
Erdrinde finden muß, deren Temperatur unter
ICK)" C (Siedetemperatur) ist. Nimmt man nun
als die Stufe, in der eine jedesmalige Temperatur-
erhöhung von i" eintreten muß, 33 m an, so
müßte sich Wasser unterirdisch bis zu 3300 m
Tiefe erstrecken. Da aber mit der Tiefe der
Druck wächst, und dadurch die Dampf bildung
beschleunigt wird, so folgt, daß bei 18500 m
das Vorhandensein von Wasser in flüssiger Form
erscheinen muß. Es kann also angenommen
werden, daß die Erdrinde bis zu einer Dicke von
18,5 km von Wasser durchsetzt ist. Ein franzö-
sischer Forscher (Delesse 1861/62) rechnet
sonach das Volumen des unterirdischen Wassers
auf I 278900000 cbkm = "j,,, des RauminhaUs
der Erde aus. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte
der deutsche Meereskundler Krümmel- Kiel, der
das oberflächliche Wasser der Erdkugel auf
1284765000 cbkm oder Vsiä der Erdkugel be-
rechnete.
Die Lagerung der Bodenschichten und die
Beschaffenheit der Gesteine gestatten diesem
Grundwasser in einer bestimmten, meist geringen
Tiefe in Form eines Stromes sich anzusammeln,
der immer nur die zwischen den einzelnen Ge-
steinsteilchen befindlichen Hohlräume ausfüllen
oder mit seiner Feuchtigkeit alles durchdringen kann,
nie aber als trennende Schicht sich zwischen
zwei Bodenschichten einfügt. Leicht einzusehen
ist, daß das von der Erdoberfläche aus in den
Boden einsickernde Wasser sich den verschie-
denen Gesteinen gegenüber verschie-
den verhält. Lose sandige Schichten oder
Schutthalden werden das Wasser eher durchlassen
als feste Gesteine, die nur von mikroskopischen
Poren und Haarspalten durchzogen werden. Keine,
auch die festeste Gesteinsschicht bleibt allerdings
ohne Wasser, man spricht hier von sog. Berg-
feuchtigkeit, bei der die Gesteine zu schwitzen
scheinen. Andere Schichten wiederum sind un-
durchlässig, wenn sie einmal genug Wasser in
sich aufgenommen haben; hierher gehören Ton,
Mergel und Lehm. Die stehenden Tümpel und
Teiche in Lehmgruben besonders nach stärkeren
Regenfällen bezeugen das. Nach der Lage solcher
wasserundurchlässigen Schichten und der Menge
des Niederschlags richtet sich nun auch die
Lage des Grundwasserspiegels, jener in
Abb. I. Grundwasserspiegel und Oberflächenform.
Q. = Quelle.
Gr. = Grundwasser.
gewisser Tiefe immer vorhandenen Wasseran-
sammlung. Sind solche tonige, lehmige oder
mergelige Schichten unmittelbar eben an der
Oberfläche gelegen, so fließt auf ihnen das Wasser
kaum ab, der Boden nimmt genügend Wasser auf
und wird über den Grad seiner Sättigung hinaus
wieder sumpfig, schlüpfrig; ist der Boden leicht
geneigt, so fließt das VVasser oberflächlich ab.
In zweiter Linie hängt die Lage des Grund-
wasserspiegels von der Menge der Niederschläge
ab. Ein Grundwasserspiegel fehlt hier. Der
Grundwasserstrom paßt sich in seiner Aus-
dehnung und Lage mehr oder weniger den Ober-
fläclienformen der Erde an, unter denen er in
gewisser Tiefe sich hält (Abb. i). Liegen solche
wasserundurchlässige Schichten in geringerer oder
größerer Tiefe und sind sie überlagert von
wasserdurchlässigen Schichten, so findet das
durchsickernde Wasser auf ihnen den ersten
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
Widerstand und sammelt sich im Grund wasser-
niveau. Ist der Untergrund durch eine Wechsel-
lagerung von durchlässigen Gesteinen mit un-
durchlässigen Ton- und Mergelschichten charakte-
risiert, so sind oft mehrere Grundwasser-
niveaus übereinander zu unterscheiden. Hierbei
wird in der Regel nur die wasserreichste Zone,
die für Brunnenanlagen besonders geeignet ist,
als Grundwasser bezeichnet. Immer wird leicht
durchlässiger Boden einem Schwämme gleich das
Regenwasser aufsaugen und es in seinen feinen
und feinsten Spalten und Röhren in die Tiefe
befördern, bis eine wasserundurchlässige Schicht
halt gebietet; so ist eine flächenhafte Aus-
dehnung dieses Bodenwassers charakte-
ristisch (Abb. 2). Angenommen ist hierbei immer,
Abb. 2. Lage des Grundwasserspiegels.
daß für dieses Grundwasser keine Gelegenheit
zum seitlichen Entweichen gegeben ist, sei es an
willkürlichen Einschnitten in die Erdoberfläche
oder an besonders gelagerten Gesteinsschichten.
Treten nun wasserundurchlässige Schichten,
die vorher in größerer Tiefe das Grundwasser
Abb. 3 a
München. Auf der undurchlässigen Tonschicht
des Flinz sammelt sich das durch die weithin
verbreiteten Schotteranhäufungen durchgesickerte
Oberflächenwasser und wird entsprechend der
Lagerung und Neigung der Schichten nach N
geleitet. Das Hervorquellen von Grundwasser in
natürlichen Bodensenkungen kann auch die Bildung
von Seen hervorrufen, wie es bei den masurischen
Seen Ostpreußens besonders der Fall ist. Auf
das Hervortreten des Grundwassers, das nun
schwer wieder abfließen kann, gründet sich auch
die Ausbreitung der großen Moore in Preußen.
Es sind dies ebenso wie die auf der bayrischen
Hochebene sog. Grund wassermoore oder
Hochmoore. Sie treten in den Gegensatz zu den
Tiefmooren, die ehemalige Seebecken erfüllen.
Geologisch war für das Auftreten und die
Lage des Grundwasserspiegels die Art und Be-
schaffenheit der Gesteinsschichten, ihre Lagerung
und ihr Verhalten zum Wasser überhaupt von
Bedeutung. Fragen wir uns nach der He rku nft
des Grundwassers, so kommen in erster
Linie die Niederschläge in den verschiedenen
Formen von Schnee und Regen in Betracht.
Neben dieser direkten Zufuhr — die geleitet wird
durch die der Schwerkraft folgende Bewegung in
den kleinen von oben nach unten gerichteten
Spalten — ist nicht außer acht zu lassen eine
indirekte Zufuhr durch Zusickern aus Wasser-
ansammlungen der Oberfläche, wie Bächen, Flüssen,
Teichen. Beide stehen miteinander in Verbindung,
und der eine Faktor ist der Versorger des anderen.
.angeschwemmt
Polder ~
'" Salzwasser
Abb. 4. Grundwasserspiegel am Meere.
Abb. 3 b.
auffingen, in leichter (nach unten gerichteter)
Neigung an die Erdoberfläche, so bewirken sie
ein Steigen und Heraustreten des Grundwassers
(sog. Grundwasserquellen) infolge der Eigenschaft,
nicht nur die abwärts gerichtete Bewegung ein-
zuhalten, sondern auch den Niveauveränderungen
der undurchlässigen Schicht zu folgen. So ent-
stehen sumpfige Stellen, Moore, die bei sinkendem
oder steigendem Wasserstande ihren Grad der
Durchfeuchtung ändern. Beispiele hierfür sind die
Sumpflandschaften auf der bayrischen Hochebene,
das Donau-Ried und Donau-Moos bei Donauwörth
und Ingolstadt, oder das Erdinger und Dachauer
Moos an der Amper, Wurm und Isar nördlich
Einerseits strömt das Grundwasser den Flüssen
zu und speist sie; es ist hierbei stets ein Steigen
des Grundwasserspiegels nach den Flüssen zu zu
beobachten (Abb. 3 a u. 3 b); andererseits sickert
Flußwasser, wenn das Flußbett in durchlässigen
Schichten gegraben ist, in großer Menge in den
Boden ein und verbreitet sich in ihm gemeinsam
mit dem Grundwasser. — Am Meere fehlt die
Beobachtung nicht, daß die täglich zweimal
wechselnde Höhe des Meeresspiegels bei Ebbe
und Flut eine Veränderung des Grundwasser-
spiegels bedingen (Abb. 4). Die wie überall so
auch am Meeresstrande vorhandene Grundwasser-
schicht verdankt ihre Entstehung dem Regen-
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
267
Wasser, ist also süßes Wasser; an der Küste
kommt dieses Wasser unmittelbar in Berührung
mit dem Salzwasser des Meeres. Dieses dringt
in die dem Strande am nächsten gelegenen losen
Geröll- und Sandschichten ein. Die steigende
Flut drückt mehr salziges Wasser in die Dünen
ein und hebt damit den auf ihm ruhenden
Spiegel des süßen also leichteren Grundwassers.
Beim Zurückgehen der Flut wird demnach auch
dieser Grundwasserspiegel eine Abwärtsbewegung
mitmachen. Unmittelbar am Meeresrande wird
der Grundwasserspiegel eine konkave, d. h. nach
unten gewölbte Fläche bilden, da hier der Gegen-
druck des Grundwassers am geringsten sein wird.
Auf den Nordseeinseln Sylt und Föhr geben
die Brunnen gutes Süßwasser ; bei Muten, oder
was dasselbe heißt, bei SW-Stürmen zeigen die
25 — 30 m tiefen Brunnen von den an der Nord-
seite gelegenen Arten Braderup und Kampen ein
Anschwellen des Wassers, ein Brausen der Luft
nach oben, so daß zuweilen die Brunnendeckel
abgehoben werden. Gegenteilig macht sich Ost-
und Nordwind im Phallen des Wassers und einem
Ziehen der Luft nach unten bemerkbar. Grund-
wasserspiegel und Meer machen also die gleichen
Bewegungen des Hebens und Senkens.
Die Herkunft des Grundwassers aus den atmo-
sphärischen Niederschlägen hat auch zur Folge,
daß mit den Schwankungen in diesen solche
beim Grundwasser zusammenfallen. Nach
langandauerndem Regen wird sich der Grund-
wasserspiegel heben, Zeiten der Regenlosigkeit
werden ein Sinken desselben veranlassen. Bohrungen
im Sande der Wüste ließen ihn erst in 50 m und
größerer Tiefe finden. Gegenden mit starker
Verdunstung (Mittelmeer, Nordafrika) werden ein
Absinken des Grundwassers ebenso zu verzeichnen
haben, wie Gebiete mit geringem Niederschlag.
Ja, die Untersuchungen von Soyka') haben er-
geben, daß die Verdunstung von so großer Be-
deutung sein kann, daß sie den Gang der Grund-
wasserschwankungen beeinflußt. Niederschläge
und Verdunstung sind die beiden maßgebenden
Faktoren für die Grundwasserverhältnisse; ihre
jährliche Periode richtet sich nach demjenigen
der beiden Faktoren, der die größeren jahres-
zeitlichen Schwankungen aufweist. So stellt
Soyka zwei Typen in München und Berlin ein-
ander gegenüber. In München steigt und fällt
das Grundwasser mit dem Regen, in Berlin ist
es dagegen von der Verdunstung abhängig. Bei
beiden steigt es im Frühling zur Zeit der Schnee-
schmelze. Die beifolgende Tabelle wird das durch
Zahlen erläutern.
München 1856-85
Berlin 1870-85
Niederschlag
Verdunstung Grundwasserhöhe
Niederschlag
Verdunstung Grundwasserhöhe
MonatsmiUel
66,1 mm
1,60 mm
515,46 m
47.6 mm
2,71 mm 32,64 m
Winter
— 29,5
: — 1.33
— 0,07
— 7.2
- 1,97 + 0,03
Frühling
-5.5
+ o.'i
+ 0,04
-8,1
+ 0,03 + 0,27
Sommer
+ 42,4
+ ..69
+ 0,12
+ 15.3
+ 2,49 1 - 0,08
Herbst
— 7.3
1 —0,46
-0,0s
— 0,0
- 0,54 1 - 0,22
nach Supan, Physikal. Erdkunde
Das gegen
teilige Verhalten de
r Stationen im W
nter und Sommer
fällt auf.
Die Bewegungen des Grundwassers
sind zwiefach. Es folgt einmal der allgemeinen
Schwerkraft in vertikaler Richtung und dringt so
in die Tiefe ein, das andere Mal hat es eine eigene
Bewegung in horizontaler Ausdehnung. Hierfür sind
die impermeablen (= undurchlässigen) Schichten
in ihrer Lagerung maßgebend. Das Bestreben
wird stets sein, dem großen Widerstände im
Boden entsprechend dem tiefsten Punkte langsam
zuzustreben. Da diese tiefsten Punkte zumeist
die Flüsse, überhaupt die Wasserläufe sind, macht
sich ein Fließen des Grundwassers parallel dem
Flusse bemerkbar; dazu kommt gleichsam als
Anziehung durch das Flußwasser eine seitliche
Ablenkung, die im Ansteigen des Grundwassers
vom Fluß aufwärts ihren Ausdruck findet. Jedes
Fließen geht mit einer bestimmten Geschwindigkeit
vor sich. Beim Grundwasser steht diese in ge-
radem Verhältnisse zur Höhe des Wassers und
im umgekehrten zur Höhe der Bodenschicht, d. h.
einmal: ist viel Grundwasser vorhanden, so findet
das Fließen rascher statt oder umgekehrt, und ein
andermal: in größeren Tiefen ist das Fließen
langsamer als in größerer Nähe der Erdoberfläche.
Man beobachtet Geschwindigkeiten von 2,51 bis
7,82 m für die Zeit eines Tages. -)
Uralt ist die Kunst, Quellen zu finden.
Dem Reich des Sagenhaften gehören die meisten
Versuche der Art an. So, wenn Marcus Pollio
V i t r u V i u s , ein Zeitgenosse des Kaisers Auguslus
') Die Schwankungen des Grundwassers, Pencks Geogr.
Abb., Bd. II, Heft 3, Wien 18SS. Dr. Isid. Soyka.
'-) So findet man weit sich erstreckende, unterirdische
.Wasserzirkulationen bei Leipzig, in der Nähe von Naunhof,
wo in einem mit Geröll verschütteten unterirdisch von der
Mulde zur Elster geleiteten eiszeitlichen Wasserarme das
Wasser von SO nach NW ein Grundwasserbett durchströmt;
auch in der Poebcne am Fuße der Alpen und in der römischen
Campagna tritt uns ähnliches entgegen; im allgemeinen da,
wo mächtige Geröllmassen angehäuft sind, zumeist als Folge
der Eiszeit.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
(i. Jahrh. n. Chr. Geb.") in seinem Buche „De
architectura (über die Baukunst)" vorschlägt, sich
etwas vor Sonnenaufgancr auf den Bauch zu legen
und das Kinn auf den Boden stützend dort, wo
man Wasser vermutet, auf das Aufsteigen von
Dunstwellen zu achten, da diese sich nur da bilden
können , wo tatsächlich Wasser vorhanden sei.
Greifbarer ist der Gedanke, auf besondere Pflanzen
zu achten, von denen man weiß, daß sie nur an
feuchten Orten stehen oder fortkommen wie kleine
Binsen, Weiden, Schilfe, Epheu. — Noch bis in
unsere Tage hat sich ja die Wirksamkeit der
sog. Wünschelrute erhalten. Als Ouellensucherin
trat sie hier und da auch in unserer aufgeklärten
Zeit noch in Tätigkeit. „Ein ellenlanger finger-
dicker Apfelzweig sei zum Wasserspüren erforder-
lich, der auf dem Rücken der flachen Hand im
Gleichgewicht getragen wird, wobei man langsam
sich dem Orte nähert, an dem man Wasser ver-
mutet. Der Stab neigt sich alsdann zutrefi"enden
Falles auf der einen Seite tief zur Erde", so lesen
wir bei Roger Baco^).
Wohl mag es Naturvölkern in trockenen,
regenarmen Gegenden gegeben sein, Wasser zu
„wittern"; für eine ergebnisversprechende Ver-
wendung dieser Wünschelrute ist unser Klima
zu feucht; Versuche in Schlesien, auf diese ein-
fache Weise die Schätze des Bodens zu erschließen,
schlugen immer fehl.
Entsprechend der Tatsache, daß das Grund-
wasser als zusammenhängende unterirdische
Wasseransammlung den Untergrund der obersten
Erdschicht mehr oder weniger durchfeuchtet, ist
auch die Bedeutung des Grundwassers
für die gesamte Pflanzenwelt groß. Die
meisten Wurzeln von Bäumen und Sträuchern
reichen bis zum Grundwasserspiegel hinab, und in
der regenlosen Wüste gründen die schatten-
gewährenden Palmen der Oasen ihr Dasein nur
auf das Vorhandensein des Grundwassers an den
Wurzeln.
Für die Wasserversorgung der Großstädte
kann das vorhandene Grundwasser von Nutzen
sein. Quellen allein genügen, besonders im Flach-
lande, nicht immer zur Deckung des Wasser-
bedarfs. Nach Filtrierung des zumeist nie ganz
reinen Wassers liefert es gutes Trinkwasser
(Leipzig, Dresden, Berlin). Nach Pettenkofer soll
der Grundwasserstand eine Rolle bei Epidemien
spielen, insofern, als bei sinkendem Grundwasser-
spiegel in den noch feuchten, aber gut gelüfteten
Erdschichten Cholera- und Typhusbakterien be-
sonders gut gedeihen sollen. Doch ist diese
Theorie jetzt verlassen. Das Grundwasser ist
meist vollkommen steril.
Auch manche Anlage von Bergwerken und
Tunnelbohrungen hat in den Grundwasserströmen
nicht zu unterschätzende Schwierigkeiten zu über-
winden.
') Vgl. Carus Sterne (Dr. E. Krause): Die Wahr-
sagungen aus den Bewegungen lebloser Körper unter dem
Einfluß der menschlichen Hand. Weimar, B. F. Vogel 1S62.
2. Die Quellen.
Von Quellen spricht man überall da, wo
Wasser aus der Erde an die Oberfläche tritt. Das
ist z. B. der Fall schon bei den sog. Grund-
wasserquellen. Es liegt auf der Hand, daß
in allen von Grundwasser durchzogenen Gebieten
Quellen entstehen müssen, sobald infolge größerer
Unebenheiten im Bodenrelief oder auch künst-
licher Einschnitte in dieses Niveau des Grund-
wassers erreicht oder angeschnitten wird.
Indessen, dieses aus dem Grundwasserspiegel
stammende Wasser bezeichnet man im allgemeinen
nicht als „Quellwasser". Vielmehr sammelt sich
unter der obersten Bodenschicht, die das eigent-
liche Grundwasser enthält, besonders da, wo eine
Neigung der Schichten ein Tieferdringen des
Sickerwassers ermöglicht, erneut Wasser, sog.
Schichtwasser • — • wie es zum Unterschied
vom Grundwasser genannt wird. — Da nun, wo
diese Schichten zutage treten, kommt auch das
Schichtwasser an die Oberfläche und bildet hier
die Quellen.
So steht das Vorkommen der Quellen mit dem
Auftreten und der Lagerungsform der geologischen
Erdschichten in Zusammenhang. Kann das Wasser
z. B. in einem Berge der natürlichen Neigung der
Schichten entsprechend von seinen höheren Ur-
sprungsgebieten in niedrige Tallandschaften unter-
irdisch zufließen, um dann beim Ausstreichen der
Schicht an die Oberfläche mit dieser zutage zu treten,
so haben wir eine absteigende Quelle vor
uns. Anders, wenn durch innere Umlagerung der
Schichten dem fließenden Wasser sich Hindernisse
in den Weg stellen, die einen Druck des Wassers
nach oben verursachen; dann werden wir von
aufsteigenden Quellen sprechen dürfen.
Wird bei wenig geneigten Schichten, die aus
einer oberen Lage wasserdurchlässiger und einer
unteren wasserundurchlässiger Gesteine bestehen,
das Wasser gesammelt, so tritt beim Einschneiden
von Tälern oder Schluchten in dieses Schicht-
system diese mit Wasser gefüllte Fläche zutage,
sie wird infolge ihrer gleichmäßigen Neigung
das heraustretende Wasser in einem Quell-
horizont haben, der eine oder mehrere Quellen
= Schichtquellen aufweist. Geographisch verbreitet
sind solche Quellhorizonte überall da, wo z. B.
Tone oder Sandstein auf festem Untergrunde wie
Granit, Gneis lagern, oder da, wo eine Wechsel-
lagerung von durchlässigen und undurchlässigen
Gesteinen auftritt. Der deutsche Jura, die schwä-
bische Alb, die Nordvogesen, der Schwarzwald,
die sächsische Schweiz sind bekannte Beispiele
hierfür (Abb. 5).
Lagern unter dem durchlässigen Gestein die
das Wasser haltenden Schichten in Muldenform,
so bilden sich beim Zutagetreten sog. Üb er fa 11s-
oder Überschußquellen (Abb. 6). Es sammelt
sich das Wasser an der unteren Grenze der durch-
lässigen Schicht, bis die Höhe bei den Tagschichten
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
erreicht ist; dann erst tritt es an die Oberfläche als
Quelle.
Nur eine veränderte Form dieser Überfalls-
quelle ist die Spalt quelle. Sie entsteht, so-
bald diese muldenförmige Wasseransammlung von
einer die Oberfläche durchsetzenden Spalte oder
Kluft getroffen wird, an der das Wasser hervor-
treten kann.
Steigt eine wasserführende Schicht, bevor sie
selbst zutage tritt, an, so folgt das Wasser auch
dieser Gegensteigung und quillt dann vielleicht
auf der Scheitelfläche einer Anhöhe empor. Es
geschieht dies nach dem bekannten Gesetz der
kommunizierenden Röhren, d. h. das
Wasser im einen Schenkel einer gebogenen Röhre
steigt ebenso hoch wie im anderen; bzw. in einem
aufsteigenden Strahle, falls der eine Schenkel ge-
kürzt ist (Abb. 7).
Dasselbe Gesetz der beiderseitig mit gleichem
Druck auf- und absteigenden Wassers ist in An-
an dem das Wasser in die wasserführende Schicht
einströmt. Sie führt den Namen „hydrostatische
Steighöhe".
Der Name dieser künstlich erbohrten Brunnen
rührt her von der nordfranzösischen Landschaft
Abb. .;. (Juellhoriz
Schichtquelle/--^—;-
5 P a 1 1 q u e 1 1 e^^^^^l^i**
>v.^^^^ Überfallsquelle
fei^^^^^^' " — ° ' " -^rrn—
^^^^??äzc2?^;,^^
Abb. 6. Quellen. (Nach W. Ule.)
a wasserführend.
Abb. 5. Schichtquelle (Uttewalder Grund,
Sachs. Schweiz) phot. K. K.
Abb. S. Artesischer Brunnen.
AB ^ wasserabschließende Schichten.
C = wasserführende Schichten.
D E ^ Brunnenanlage.
EF ^ Hydrostatische Steighöhe.
Wendung auch bei den sog. artesischen
Brunnen (Abb. 8 u. 9). Sie finden sich da, wo
eine muldenförmige Lagerung der undurchlässigen
Gesteinsschichten das darunter angesammelte
Wasser nicht zutage treten läßt. Die bei den
Spaltquellen natürlich vorhandene Ausquellstelle
muß hier künstlich geschaff'en werden. Auch in
Küstenebenen, wo das Wasser in höheren sandigen
Teilen der Ebene fällt, dort einsickert und als
langsam sich bewegender Grundwasserstrom dieser
Sandschicht folgt, die oft von wasserundurchlässigen
Tonschichten begleitet ist, entstehen gleiche Ver-
hältnisse, die eine Anlage solcher Quellen ermög-
lichen. Der Bohrer durchfährt die obere dieser
Tonschichten; dann steigt das Wasser mit starkem
Druck hoch, da die Ursprungsstelle höher liegt
als der Bohrort. Die Steighöhe des Wassers, das
unter großem Druck lastet, entspricht ungefähr
der Höhe, auf der sich derjenige Punkt befindet,
Abb. 9. Artes. Brunnen im Küstengebiet.
Artois (Somme-Gebiet). Hier wie in der ganzen
Nordfranzösischen (Pariser) Beckenlandschaft zwingt
die Lagerung der Gesteine zu solchen Bohrungen.
Sie lieferten zuerst im Anfang des 12. Jahr-
hunderts (11 26) den hier wassersuchenden
Karthäuser-Mönchen aus Lille auf ihrem Kloster-
gebiet im Artois das notwendige flüssige Element.
Heute ermöglichen sie in den verschiedensten
Ländern der Erde, besonders in sonst trockenen
Gebieten mit Erfolg durchgeführt, Anbau und Be-
270
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
Siedlung durch den Menschen und machen so
weite Strecken zu fruchtbaren Gefilden. Im Westen
Amerikas, den sog. „Arid lands"= Trockengebieten,
in Nordafrika, Abessinien, Ägypten, Australien, und
auch in Wüstengebieten sind sie besonders ver-
breitet.
Erfahrungsgemäß fließen die meisten Quellen
das ganze Jahr über, sie sind also dauernde
(perennierende) Quellen; kleinere Schwan-
kungen, die ohne besonderen Einfluß auf die ge-
samte Wasserführung sind, finden ihre Erklärung
in größeren Unterschieden von feuchten und
trockenen Jahreszeiten. Im Gegensatz zu diesen
immer wasserspendenden Ouelladern stehen die
nur zeitweise fließenden , periodischen
Quellen. Ihr Hauptverbreitungsgebiet sind
einmal die Landstriche mit jahreszeitlichen Regen,
so die Länder um das gesamte Mittelmeer. Mit
dem Einsetzen des (zumeist starken) Regens be-
ginnen auch Quellen zu fließen, sie halten nur
wenig nach über das Aufhören der Niederschläge.
Das Volk nennt sie zumeist Hungerquellen,
weil sie in nassen Jahren besonders fließend, als
Anzeichen einer schlechten Ernte betrachtet
werden. Auch ist ihr Vorkommen vielfach an
das Auftreten des durch zahllose Klüfte und
Spalten durchsetzte Kalkgestein (Karst) gebunden.
Eine dritte Unterscheidung sind die inter-
mittierenden Quellen. Zwischen Zeiten des
Emporquellens fallen Stunden oder auch Tage
der Ruhe, des Versiegens. Nicht die Druckkraft
treibt diese Quellen ans Tageslicht, oder läßt mit
ihrem Aufhören auch sie nicht mehr nach oben
gelangen; hier sind vielmehr innere, geologische
Kräfte maßgebend. Am genauesten untersucht
sind die Verhältnisse bei den heißen Spring-
quellen, den Geysirs des Yellowston Parks in
Nordamerika, oder auf den Inseln Island oder Neu-
seeland. In diesen Quellröhren, die als Erdspalten
tief ins Innere der Erde hineinragen, sammelt sich
Wasserdampf an. Die nahe der Oberfläche der
Erde lagernde kalte oder wenigstens kühlere
Wassersäule des oberflächlich zusammengeflossenen
Wassers ist in Dampf verwandelt und Reste dieser
Wassersäule werden unter Brausen und Tosen bis
70 m hoch emporgeschleudert. Diese heißen
Springquellen sind Begleiterscheinungen vulka-
nischer Ausbrüche früherer Zeiten. Die heißen
Gewässer lösen infolge ihrer chemischen Bei-
mischung von Säuren die Gesteine, die sich dann
als kalkhaltige Tufte oder Sinter in Kegeln oder
Terrassen um die Ausbruchsstelle herum absetzen.
Auf ihrem Wege aus dem Erdinneren zur
Oberfläche durchflössen die zu Quellen sich ver-
einenden Wasser oft eine ganze Aufeinanderfolge
von Gesteinen, die, selbst nicht immer feindlich
sich dem Wasser gegenüber verhaltend, dieses zu-
meist stark beeinflussen in seiner Zusammensetzung.
Tales sunt aquae, quales terrae, per quas fluunt,
ist ein alter Satz des Plinius, d. h. die Wasser
nehmen die Eigenschaft der Erdschichten an, durch
die sie fließen.
Daß Quellen in Salzgebieten (Steinsalz, wie Staß-
furt, Leopoldshall) salzig sind, und solche, die durch
eisenreiche Gesteine iliren Weg nehmen, eisenhaltig
sind, ist bekannt. So kennen wir kohlensäure-
haltige Quellen (Gießhübel, Bilin, Salzbrunn,
Fachingen, Neuenahr, Karlsbad, Selters, Ems, Wies-
baden, Nauheim, Bad Elster, Franzensbad),
schwefelhaltige Quellen (Aix in Savoyen,
Aachen-Burtscheid, Baden im Aargau, Baden bei
Wien), Stahlqellen, deren Wasser eisenhaltig
(Alexandersbad im Fichtelgebirge, Schwalbach,
Spaa, Kudowa in Schlesien, St. Moritz in der
Schweiz, Wildungen, die berühmten Tiroler Bäder
Mitterbad im Olthentale und Ratzes am Schiern,
Levico im Suganertale, Reinerz, Soden (Taunus)
und Salzquellen (Aibling in Oberbayern,
Hall und Zaptfeld in Württemberg, Kreuznach,
Rheinfelden , Salzschlirf, Warmbrunn im Riesen-
gebirge, Münster am Stein) als besonders der
menschlichen Gesundheit zusagende Mineral-
quellen. Sie alle verdanken ihre Heilkraft den
Gesteinen, durch sie ihren langen Lauf nehmen.
Damit in Zusammenhang steht auch die
Temperatur der Quellen; sie kann natur-
gemäß zwischen o und 100" schwanken. Die
Ursprungswässer unserer Bäche und Flüsse sind
alle kühl; ihr Gesamtlauf ist nur oberflächlich.
Die mittlere Temperatur des Ortes ist in den
meisten Fällen auch maßgebend für die mittlere
Temperatur der Quellen, des Trinkwassers. Ist die
Temperatur der Quelle höher als die mittlere Orts-
Schnee-Berge
Abb. 10. Warme Quelle im Schneegebirge.
(.Mach Walt her, Vorschule der Geologie.)
temperatur, so spricht man von einer Thermal-
quelle oder Therme; nähert sie sich dem Siede-
punkte (100" C), so nennt man sie heiße Quellen.
Tunnelbohrungen, Schächte und Bohrlöcher
haben nun die Tatsache erwiesen, daß beim Vor-
dringen ins Erdreich die Temperatur zunimmt.
Im Durchschnitt muß man nur 35 m ins Erdinnere
eindringen, um ein Steigen des Thermometers um
I " C zu beobachten (= geothermische Tiefen-
stufe). Kommt nun das Wasser aus tieferen Ge-
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Steinsschichten, so muß es ungefähr die dieser
Schicht entsprechende Temperatur haben. Und
ganz allgemein kann man aus den tatsächlich ge-
messenen Temperatur der Quelle, der mittleren
Jahrestemperatur des Vorkommens und der
geothermischen Tiefenstufe die Tiefe der Spalten
berechnen, aus denen die Quelle stammt.
Sprudel 66"
mittl. Jahrestenip. = 8"
geoth. Tiefenst. 35
(ö6-S)-35 =
56-35
Leicht verständlich ist sonach, wenn in Hoch-
gebirgen, in denen Schneewasser ins Erdinnere
eindringt und den Wasseransammlungen neuen
Stoff zuführt infolge wagerechter Gesteinslagerung
das Wasser am Berghang als warme Quelle zutage
tritt (Abb. 10).
Die Arbeit des unterirdischen
Wassers.
Nicht alle die Erde zusammensetzenden Gesteins-
schichten gestatten in gleicher Weise dem unter-
irdisch fließenden Wasser seine zerstörende Arbeit.
Ostküste des adriatischen Meeres von Istrien bis
nach Südbosnien und Herzegowina, Montenegro
und Griechenland sich erstreckende Kalkgebiet,
ist der typische Vertreter dieser Wasserarbeit unter
der Erde.
Oberirdisches Wassers ist im Karst nur selten
anzutreffen; das im Regen fallende Wasser sinkt
in dem stark zerklüfteten Boden in die Tiefe, bis
es von einer undurchlässigen Schicht aufgefangen
wird. In diesen Kanälen wirkt das Kluft-
wasser, das wie alles Wasser Kohlensäure ent-
hält, zusammen mit der chemischen Verwitterung
an der Ausgestaltung der Spalten und Schichten-
fugen derart, daß mehr oder weniger große Gänge
und Hohlräume sich bilden. Von dieser unter-
irdischen Arbeit wird die Oberfläche nicht un-
beeinflußt bleiben können. Es entstehen zunächst
an den Klüften und Spalten, durch die das Wasser
verschwindet, kleine, rundliche Löcher im Erd-
boden mit steilen Wänden. Diese zunächst kleinen
rundlichen trichterförmigen Einsenkungen tragen
in der Fachwissenschaft den landesüblichen Namen
Doline') (Abb. 12). Die Tiefe dieser Trichter
oder Sauglöcher schwankt zwischen 2 und lOO m
und darüber, der Durchmesser bleibt innerhalb
der Grenzen von 10 — lOOO m. Das von solchen
Keprod.-Re
Karstlandschaft bei St. Kanzian.
Blick ins Rekatal.
„Amon Re"-Verlag, Breslau, phol. 1914.
Abb. 12. Große Duline mi Karst bei St. Ka
Keprod. -Recht „.Amon Ke"-Verlag, Breslau, pho
Festgefügte Massengesteine setzen ihm den stärk-
sten Widerstand entgegen, während Sediment-
gesteine, d. h. in deutlich wahrnehmbaren
Schichten abgesetzte Gesteine naturgemäß eher
der dauernd wirkenden Kraft des Wassers aus-
gesetzt sind. Am meisten gilt das vom Kalke.
Die Arbeit des Wassers ist hier eine chemische,
den Kalkstein in seine einzelnen Bestandteile auf-
lösende, zersetzende Tätigkeit. So werden wir in
den durch das Auftreten von löslichen Gesteinen
ausgezeichneten Gebieten der Erdoberfläche am
besten die .Arbeitdes unterirdisch fließenden Wassers
ausgebildet finden. Der Karst (Abb. 1 1 ), das an der
Dohnen durchsetzte Gebiet gewährt einen selt-
samen Anblick; man vergleicht es wohl zuweilen
mit einem blatternarbigen Gesicht und weist da-
mit zugleich auf das gesellige Auftreten dieser
Karsttrichter hin; 40 — 50 solcher Dohnen sind
auf I qkm gezählt worden. In ihrer Form
wechseln sie zwischen der einer Schüssel —
das sind die kleineren mit nur geringer Tiefe — ,
oder eines Trichters — hier nimmt die Tiefe
') Doline ist ein südslavisches Wort und bedeutet Tal,
besonders Flußtal; das deutsche hat für Dolinen nur einen
Volksnamen „Hühle", wie er im fränkischen Jura gebrauch-
272
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
im Verhältnis zum Durchmesser zu — , oder
eines Brunnens mit steilen, senkrechten Wan-
dungen.
In einem gewissen Gegensatz zu diesen
kleineren trichterförmigen Einsenkungen der
Dohnen stehen große, flache, breitsohlige Wannen,
deren Gehänge scharf sich gegenüber der Sohle
absetzen. Diese lang sich hinziehenden, breiten
Wannen tragen den Namen der Poljen ^). Sie
zeigen eine ausgeprägte Längserstreckung, die
bisweilen mit dem Streichen der geologischen
Schichten verläuft. Von den Dohnen unter-
scheiden sie sich besonders durch ihre größeren
Ausmaße und durch das Vorhandensein einer
scharf hervortretenden Bodenfläche. Es sind Hohl-
formen, die man mit Längstälern vergleichen
kann, nur enden sie „blind". Der Gründe
für ihre Entstehung gibt es mehrere. In der
Hauptsache fällt wohl die Herausarbeitung dieser
flachen Wannen aus der Oberfläche zusammen
mit Bewegungen der Erdrinde. So sind besonders
für das Gebiet des Karstes und überhaupt der
Balkanhalbinsel Einbrüche der Oberfläche vielfach
bekannt. Sie haben ganze große Beckenland-
schaften entstehen lassen, wie das Becken von
Uesküb und das heute von der Sitniza (Neben-
fluß des Ibar) durchflossene Amselfeld = Kossowo-
Polje. Andere Poljen, vornehmlich kleinere, wie
die sog. Rekamulde, westlich von Zirknitz in
Krain, mögen wohl durch Deckeneinbrüche unter-
irdischer Hohlräume entstanden sein. Einige
dieser Hohlformen sind das ganze Jahr hindurch
trocken, andere werden zeitweise überschwemmt,
wieder andere sind beständig mit Wasser gefüllt.
Die verschiedene Lage der Poljen zum Grund-
wasserspiegel des Karstes ist dabei maßgebend.
Die trockenen Poljen liegen so hoch, daß
sie an der Zirkulation des Grundwassers keinen
Anteil haben; so gehört hierher die Polje vonCetinje
(Montenegro), die eine absolute Höhe von 640 m
besitzt und von 100 — 150 m höheren Bergen
umschlossen ist. Die zeitweise über-
schwemmten Poljen sind im Vergleich zu
den trocknen tiefer gelegen und werden zu be-
stimmten Jahreszeiten unter Wasser gesetzt. Die
AnfüUung mit Wasser fällt in die Regenzeit (Herbst)
oder Schneeschmelze (Frühjahr). Der Karst von
Westbosnien und die Herzegowina weisen hier-
für besonders typische Beispiele auf. Die Schwan-
kungen des Karstwasserspiegels, die wie überall
ihre Begründung in den verschieden starken Nieder-
schlägen haben, bedingen diese vorübergehend sich
füllenden und wieder leerenden Poljen. Die Ent-
wässerung dieser „periodisch bewässerten" Poljen
erfolgt nach der Überschwemmung durch zahl-
reiche Sauglöcher, sog. Ponore, die auf dem
Boden des Polje ähnlich den Trichtern das
Wasser in die Tiefe filtrieren, wo es in unter-
irdischen Kanälen seinen Weg weiter nimmt. Das
') Eine kroatische Bezeichnung = Feld ; [z. B.
Polje bekannt als „Amselfeld"],
bekannteste Beispiel für eine solche zeitweise über-
schwemmte Polje ist der Zirknitzer See in
der Grafschaft Krain. Die Herbstregen verwandeln
durch das Steigen des Grundwassers die Polje in
eine weite Wasserfläche von 2100 — 5600 ha; in
2 — 3 Tagen, ja bei besonderer Heftigkeit in
24 Stunden, ist das ganze Seebecken gefüllt. Die
Füllung besorgen einige zu dieser Zeit wasser-
führende Flüsse, in der Hauptsache aber sog.
Speilöcher (= Estavellen) im Talboden und
auf den Seiten, die das Wasser zuerst ausfließen
lassen, das hier im Grundwasserspiegel das Niveau
der Polje erreicht. Zahlreiche Sauglöcher (nach
V. Hauer') u. a. sollen es 28 sein) entwässern
den See wieder, nur seine tiefsten Stellen halten
in Tümpeln das Wasser das ganze Jahr über. Die
Fachkritik nennt heute diese beiden Arten von
Karstwannen besser „blindes Tal" oder „blindes
Talbecken", da die Bezeichnung Polje nicht un-
mittelbar an das Auftreten im Karstgebiet gebunden
sein muß. -)
Im Gegensatze zu den trocknen und zeitweise
überschwemmten Poljen stehen noch die das
ganze Jahr über mit Wasser gefüllten
sog. S e e p o 1 j e n. Ihre Lage ist so tief, daß sie un-
mittelbar mit dem Grundwasser in Verbindung
stehen und hierauf ihren dauernden Wasserstand
zurückführen. Der Ochridasee in Albanien und
der Skutarisee an der Südgrenze Montenegros sind
Beispiele solcher im Grundwasserspiegel stehenden
Poljen.
Trockenheit auf der Oberfläche, Reichtum
an Wasser im Inneren charakterisieren den
Karst. Dohnen und Poljen verdanken der
Einwirkung dieses unter der Erde arbeitenden
Wassers in erster Linie ihre Entstehung. Durch
Sauglöcher (= Ponore), trichter- und schlotförmige
Einsenkungen stehen Oberfläche und unterirdische
Wassersysteme in Verbindung. In Adern und
Flüssen vereinigt sich dieses unterirdische Wasser
und sucht den Weg zum Meer. Den Karst-
flüssen seien deshalb einige Betrachtungen ge-
widmet. Gleichmäßig ausgebildete, fortlaufende
Täler von der Quelle bis zur Mündung finden
sich im Karste selten, die lückenhafte Ausbildung
der Tallandschaften ist dem Karst eigentümlich
(Abb. 1 3). Hat ein Tal vielleicht oberirdisch seinen
Anfang genommen, so hört infolge des Ver-
schwindens des Wassers im Gestein das Tal
plötzlich auf, setzt sich aber unterirdisch als Hohl-
raum (= Flußhöhle) fort. Talweitungen wechseln
mit Talengen, langsam fließende Stellen mit Wasser-
fällen, Seitentäler münden unterirdisch ins Haupt-
tal; kurz das sonst über der Erde ausgebildete
Talsystem findet sich unter der Erde wieder, nur
in etwas veränderter Form. — Die zumeist ge-
neigte Lagerung der Gesteinsschichten begünstigt
die Arbeit des unterirdisch fließenden Wassers. Es
^) J o V. Cvijic: Karstphänomen S. 85 (301).
-) In Bulgarien heißt das große Senkungsgebiet zwischen
dem Balkan und der Sarnena Gora (bulgarisches MiUclgebirge)
Tulovsko Polje, ohne im Karstgebiet zu liegen.
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
273
führt zur Bildung von Höhlen, in denen das durch
die Decke eindringende Sickerwasser die märchen-
haften Gebilde der Stalaktiten (von der Decke
herabhängend) und Stalagmiten (vom Boden nach
oben gerichtet) entstehen läßt.') Ist die schützende
Decke nicht fest und stark genug, die Spannung zu-
halten, so kommt es zu größeren, weitausgedehnten
Einstürzen, die für die Oberflächengestaltung eines
stockwerkartig übereinanderliegenden Höhlen; die
unterste wird dann heute noch von einem Bache
durchflössen.
Über das verwickelte Flußsystem in einer
Karstlandschaft mag die beifolgende Skizze (Abb. 14)
eine .Anschauung geben:
Der Poikbach tritt bei Adelsberg in eine Höhle
ein (Abb. 1 5); er scheint manchmal im Gebirge ganz
Abb. 13. Karstquelle des Dobracina bei (Tkwenizze.
Reprod. -Recht „Amon Re"-Verlag, Breslau, phot. 1914.
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.Abb. 15. l'.Kk.s.'l;«ind. v,,n Arr Adelsberger Grotte.
Reprod.-Keclit ,,.\moü Ke"-Vcrlag, Breslau, phot. 1914.
Dd. -Recht „.\mon Rc"-Verlag
Landes Bedeutung gewinnen können. Das Bei-
spiel der Rekamulde bei Zirknitz war oben schon
erwähnt. Von den durch unterirdisch arbeitendes
Wasser entstandenen Hohlräumen ist die Grotte
von Adelsberg in Krain wohl die bekannteste.
Aber das ganze Karstgebiet weist zahlreiche solche
Hohlräume auf. Oft bestehen sie aus mehreren
') Das durch Kalk fließende Sickerwasser ist stark kalk-
haltig; beim Herabtropfen tritt eine Verdunstung ein, so daß
nur der Kalk übrig bleibt, der sich absetzt in jenen bekannten
Formen,
zu verschwinden; wenigstens neigt sich das die
Höhlendecke bildende Gestein bis zum Wasser-
spiegel herab. Der so entstehende unpassierbare
Eintritt des Wassers wird S y p h o n genannt. Der
unterirdische Lauf der Poik von Adelsberg bis
Planina beträgt 8900 m, davon ist bis jetzt nur
ein Teil genauer aufgenommen. Bei Planina tritt
der sonst Poik genannte Bach wieder in der
Karstwanne an die Oberfläche und fließt unter dem
Namen Unz oberirdisch weiter (Abb. 16), um auf
weitem flußähnlichen, unerforschten Laufe wieder
274
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
dem Auge zu verschwinden. Erst bei Laibach
kommt der Bach wieder zu Tage und nimmt hier
einen neuen dritten Namen „Laibach" an.
So kann es den Anschein erwecken für den
uneingeweihten Beobachter, als habe derselbe Fluß
mehrere Quellen. Einige davon werden sich durch
ihren Reichtum an Wasser auszeichnen ; sie finden
ihre Begründung im Wiederauftauchen eines ver-
schwundenen Flusses. An der Küste des Karstes,
da wo die Karstflüsse sich ins Meer ergießen,
treten in weiter Ausdehnung solche stark fließende
Quellen auf; sie liegen entweder nur wenige
Zentimeter über dem Meeresspiegel und sind so
mächtig, daß sie Strömen gleich dem Schoß der Erde
entquellen, oder sie mengen sich unter dem Meeres-
spiegel mit dem salzigen Wasser des Meeres, sind
also sog. „submarine Quellen". Solche
Stellen an der Karstküste, an denen teilweise das
Meerwasser oberirdisch in die Schlote und Klüfte
einströmt, nennt das Volk wohl auch Meer-
niühlen; die von Argostoli auf der gleich-
namigen Landzunge der Insel Kephallenia sind
die berühmtesten.
So offenbart sich uns die Arbeit des unter-
irdisch fließenden Wassers in den Kalkgebieten,
für die als typischstes Beispiel der Karst gilt, als
zwiefach. Sie wirkt einmal auf die Oberfläche,
durch die in vertikaler Richtung vor sich gehende
Bahn des Wassers in Gestalt von trichterförmigen
Einsenkungen der Dohnen und Sauglöcher, der
Ponore, während es an der Ausgestaltung der großen
Karstwannen, der Poljen, nur geringen Anteil
nimmt; das andere Mal arbeitet das Wasser durch
seine chemisch lösende Kraft in Verbindung mit
der horizontalen oder leicht geneigten Fließ-
richtung an der Bildung von Höhlen. Sie werden
sonach von Wasserläufen durchflössen, die teils
oberirdische, teils unterirdische Teilwasserläufe
haben. Das unzusammenhängende in der Tal-
entwicklung des Karstes , das plötzliche Ver-
schwinden (Schlundflüsse) und plötzliche Wieder-
auftreten desselben Flusses mit vermehrter Wasser-
menge ist charakteristisch.
Die in den Kalkgebieten des Karstes auf-
tretenden Erscheinungen als Folgen des unter-
irdisch arbeitenden Wassers müssen wir füglich
unter gleichen oder ähnlichen Verhältnissen auch
in anderen Kalkgebieten der Erde finden. Es
seien hier nur einige Beispiele aus euro-
päischen Kalkgebieten genannt.
Die dem Altertum der Erde angehörenden
Kalkschichten, wie sie der flachgelagerten russischen
Tafellandschaft in den baltischen Provinzen ,
Livland und Esthland, angehören, weisen in
gleicher Weise Dohnen und Schlundflüsse und
unterirdisch wasserführende Höhlen auf. Dasselbe
gilt von den nur wenig jüngeren Kalksteinab-
lagerungen (Devon) des Harzes, wo die Hermanns-
höhle bei Rübeland, die Biels- und Baumaniishöhle
zu nennen sind. Die besonders den Alpenforma-
tionen angehörenden Vorkommen des Kalkes der
Triasperiode (frühes Mittelalter der Erdgeschichte),
wie sie im Toten-Gebirge, Dachstein und Steinernen
Meere auftreten, weisen ebenfalls eine Entwicklung
des Karstphänomens auf In dem Muschelkalk von
Württemberg sind zahlreiche Dohnen und Höhlen
eingesenkt. Und gar in der weit über Süddeutsch-
land ausgebreiteten Juraformation des schwäbischen
und besonders des fränkischen Jura sind die
Höhlen und Grotten ein vielbesuchtes Forscher-
und Wanderziel. Sie sind erst vor einiger Zeit
zum Gegenstand einer genauen Untersuchung
gemacht worden , die uns lehrreiche Aufschlüsse
über diese Kalkhöhlen brachte. ') Typische Karst-
erscheinungen finden sich auch in den Kalkland-
schaften des französischen Zentralplateaus in den
Gausses, jenem südlichen Jurakalkgebiet des Steil-
randes der Cevennen. Zahllose Dohnen durch-
löchern auch die Oberfläche des Kreidekalkes in
den südlichen und nördlichen Kalkalpen und den
Karpathen, besonders des Banater Gebirges und
seiner südlichen Weiterbildungen in Serbien und
Bulgarien. Und weiter konnte man diese Karst-
erscheinungen als Wirkung des unter der Erde
arbeitenden Wassers verfolgen bis zu den jüngsten
Vorkommen des Kalkes, dem Korallenkalk re-
zenter Koralleninseln.
Bisher beschränkten wir unsere Betrachtung
auf die Arbeit des unterirdischen Wassers in den
Kalkgebieten und prüften hier die so entstehenden
Wirkungen. Aber auch geologisch anders-
geartete Gebiete bleiben nicht ver-
schont von der zerstörenden Wirkung des in
der Tiefe fließenden und arbeitenden Wassers.
Die Tatsache, daß erdgeschichtlich bedeutsame
Bergstürze und Erdrutsche nur auf die
Wirkung des Schicht- und Kluftwassers zurück-
zuführen sind, rechtfertigt eine kurze Betrachtung
auch dieser Erscheinung.
Nicht seien hier erwähnt Felsstürze und Berg-
rutsche, die der Unterspülung der Talgehänge in
Tälern mit starker Erosion oder zu starker Ver-
witterung gewisser Gesteinspartien ihre Entstehung
verdanken. Die unterirdische Wasserarbeit \'er-
ursacht meist nur dann derartige Katastrophen,
wenn die oben lagernden Gesteine, das sogenannte
„Hangende", so stark geneigt sind, daß das Wasser
an der Sohle den Zusammenhang mit den unter-
lagernden Schichten, dem sogenannten „Liegenden",
lösen kann. Dort, wo leicht klüftbarr- Gesteine,
wie Sandsteine, Kalksteine und Dolomite mit
tonigen Gesteinen wechsellagernd Taliiänge bilden,
besteht bei geeigneter Neigung der Schichten nur
zu oft die Gefahr des Abrutschen»; der Talhänge
(vgl. Diagramm Abb. 17). Das oberirdisch fallende
Wasser dringt in den Klüften ein , erweicht die
Unterlage und spült sie fort; das „Hangende"
kommt ins Rutschen und die stürzenden Fels-
massen werden ganzen Taliandschaften zum Ver-
hängnis. Aus älterer Zeit gehören hierher die
Bergstürze des Vorderglärnisch (i6. Jahrhundert),
') Dr. Neischl, Die Höhlen des Frankenjuras. Doktor-
arbeit. Erlangen 1903.
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
27s
bei Chiavenna (161 8), bei Glarus (1881), in der
Bocca di Brenta (1S82). Am bekanntesten und
genauesten untersucht sind die Bergstürze des
Roßberg bei Goldau am Lowerzer See, die von
Elm bei Glarus und der alte nacheiszeitliche
Bergsturz von Ulms. Der erstere soll i 5 Millionen,
der zweite 10 Millionen cbm Gesteinsmasse und
Schutt herabgebracht haben, und für den letzteren
berechnete Heim eine Leistung von 15 cbkm =
15 Milliarden cbm transportiertes Material. Auch
die in den letzten Jahren mehrfach beobachteten
Bergrutsche am Hopfenberge bei Boden-
bach-Tetschen sind ähnlicher Entstehung.
Die Einwirkungen auf die Erdober-
fläche waren zwar nur geringerer Art;
immerhin war eine Straße um 50 m
horizontal verschoben worden, Teiche
waren gestaut, Häuser in ihren Grund-
lagen erschüttert. Das ganze von den
zu Tal gegangenen Wassern erfüllte
Gelände machte den Eindruck eines
ihm hervorquellendes, sich einen Weg bahnenden
Wassers leicht ins Rutschen und breitet sich
dann dem Gelände anpassend, flächenhaft aus.
Das beigegebene Bild (.Abb. 1 8), aus der schwäbischen
Alb stammend, vermag im kleinen das zu er-
läutern. Dieser Bergsturz, der die P'orm einer
Rutschungsterrasse hat, liegt in seiner Ent-
stehung schon weit zurück; die Bäume weisen
schon auf höheres .Alter hin. Das gleichsinnige
Gefälle des Talhanges ist gestört und neue
Rutschungen bereiten sich vor in kleineren , zu-
nächst noch zusammenhanglosen Schuttkegeln,
von denen einer ebenfalls auf dem Bilde deutlich
Bergsturz bei tonigem Untergrund.
Abb. 18. Rutschungsterrass.
gewaltigen Schlammstromes, dessen Ober-
fläche mit ihren Längs-, Quer- und Randspalten
einem Gletscher sehr ähnelte. Der nieder-
gegangene Berg hatte aus Tonen und Mergeln
bestanden, die mit starkem Gefälle übereinander
lagerten.
In kleineren Ausmaßen kann man diese
Rutschungen an Talhängen öfters beobachten.
Der das anstehende Gestein verhüllende Schutt,
der in wechselnder Mächtigkeit lagernd mit ge-
ringer Vegetation bestanden ist, gerät durch unter
erkennbar ist. Das Zusammenwirken mehrerer
solcher rutschenden Schuttkegel kann dann zu
Bergstürzen führen, die je nach der Beschaffenheit
des Untergrundes reine Bergstürze mit nieder-
gehenden Felsmassen sein können oder in Form
von Schlammströmen sich abwärts bewegen.
Von diesen Kleinformen in der Veränderung
der Erdoberfläche, wie sie alUäglich sind, könnte
man ungezählte Beispiele nennen. Möchte nur
mehr gutes Anschauungsmaterial hierfür gesammelt
werden.
Einzelberichte.
Chemie. Eine Reihe interessanter Mitteilungen S. 55—63 und S. 1868 — 1879, und Jahrg. 50 (1917),
über die kataly tische Hydrogenisation organischer S. 305 — 307) veröffentlicht worden.
Vejrbindungen mit unedlen Metallen bei Zimmer- ^yie Möglichkeit von Reduktionsreaktionen mit
temperatur sind vor kurzem von C. Kelber in Hilfe von kolloidalem Platin oder Palladium nach
den Ber. d. D. ehem. Gesellsch. (Jahrg. 49 (1916), den Verfahren von Paal, von Paal und Skita
276
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
und von Willstätter ist allgemein bekannt, und
ebenso dürfte allgemein bekannt sein, daß man
mit Nickel als Katalysator nach Sabatier')
ähnliche Wirkungen wie mit Platin oder Palladium
unter gewöhnlichem Druck und bei Zimmer-
temperatur erst unter höherem Druck und bei
höherer Temperatur erzielt. Kelber zeigt nun
in seiner ersten Arbeit, daß man mit reduziertem
Nickel gleich gute Resultate wie mit Platin oder
Palladium erhält, wenn man das Nickel in ge-
eigneter Weise auf einen oberflächenreichen Träger
wie Infusorienerde, Florida-Bleicherde, künstliche
Aluminium -Magnesium -Silikate, gewisse Kohle-
sorten usw. bringt. -)
Als Beispiel sei die Katalyse von Knallgas
einerseits durch 0,0344 g kolloidales Palladium,
neue Nickelkatalysator am besten in wässeriger
oder wässerig-alkoholischer, weniger gut in rein
alkoholischer oder in benzolischer oder ätherischer
Lösung wirkt. Auch Eisessig ist als Lösungsmittel
für Hydrogenisationen geeignet, Chloroform hin-
gegen ganz ungeeignet.
Wirkt nun auch das Nickel besonders gut,
wenn es sich auf einem Träger befindet , so ist
doch, wie schon Abbildung A zur Genüge er-
kennen läßt , auch nicht auf einem Träger be-
findliches Nickel keineswegs wirkungslos. So
eignet sich z. B. ein durch Reduktion von basi-
schem Nickelkarbonat im Wasserstoffstrom bei
310 — 320" hergestelltes Nickel in schwach alka-
lisierter wässeriger oder wässerig -alkoholischer
Lösung ausgezeichnet zur Hydrogenisation orga-
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Abb. A. Katalyse von Knallgas.
Kurve 1 : 0,5 g Nickel, auf 4,5 g Träger bei 450° reduziert.
Kurve II : 0,2 g Palladiumkolloid (= 0,0344 g Palladium).
andererseits durch 0,5 g Nickel angeführt, das
durch Reduktion eines auf einem Träger befind-
lichen Nickelkarbonats bei 450" gewonnen ist
(vgl. Abb. A). Der außerordentliche Einfluß, den
der Träger auf das Reduktionsvermögen des
Nickels hat, geht aus der sehr lehrreichen Abb. B
hervor, nach der z. B. 0,5 g bei 450" auf einem
Träger reduziertes Nickel bei der Reduktion von
Zimtsäure in wässerig-alkalischer Lösung etwa die
gleiche Wirkung ausüben, wie 3,0 g bei 310"
reduzierten Nickels; auch der Einfluß der Tempe-
ratur, bei der der Katalysator hergestellt ist, auf
seine katalytische Wirksamkeit geht aus der
Abbildung deutlich hervor.
Aus den zahlreichen von Kelber ausgeführten
Reduktionsversuchen ergibt sich ferner, daß der
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1) Vgl. Naturw. Wochcnschr., ^
'^) Kobalt wirkt ähnlich, wenn
wie Nickel.
Bd. 8(1909), S. 8— 9.
nicht ganz so günstig
, Anlagerungen von Wasserstoff an 0,7? g
in Äthylalkohol gelöster Zimtsäure.
: 0,5 g Nickel auf 4,5 g Träger bei 450° reduziert.
Kurve II: 3,0 g Nickel bei 310'' reduziert.
Kurve 111: 3,0 g Nickel bei 450» reduziert.
Kurve IV; 0,5 g Nickel bei 310" reduziert.
Kurve V: 0,5 g Nickel bei 450'* reduziert.
nischer Halogenverbindungen: Das Halogen wird
aus der Verbindung herausgenommen und ver-
einigt sich mit dem Wasserstoff zu Halogen-
wasserstoff, der von der Lauge neutralisiert wird.
Da das so entstandene Halogenion leicht der
Menge nach bestimmt werden kann, so ist dies
Verfahren als einfach und bequem auch für die
Analyse organischer Halogenverbindungen zu
empfehlen; seine Brauchbarkeit wird von Kelber
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
277
in der dritten der oben angeführten Arbeiten durch
eine größere Reihe von Beleganalysen erwiesen.*)
Die zweite Arbeit beschäftigt sich mit dem
Einfluß von Kontaktgiften auf die katalytische
Hydrogenisation mit Hilfe von Nickel. Die Ver-
suche, die mit Cyankalium KCN, Blausäure HCN,
Schwefelwasserstoff H.^S und Schwefelkohlenstoff
CS2 als Kontaktgiften und mit Nickel, das durch
Reduktion von basischem Nickelkarbonat mittels
Wasserstoff
I bei 450" C,
II bei 310« C,
III auf anorganischem Träger bei 450" C
gewonnen war, durchgeführt worden sind, lieferten
das überraschende Ergebnis, daß sich die drei
verschiedenen Katalysatoren gegen die Kontakt-
gifte insofern verschieden verhalten, als der Kata-
lysator I bereits durch Spuren der Kontaktgifte
vergiftet wird, Katalysator II zur Vergiftung er-
heblich größerer Mengen des Giftes gebraucht
und Katalysator III endlich eine erhebliche Wider-
standskraft gegen die Vergiftung aufweist. Abb. C
zeigt die Erscheinung am Beispiele der Ver-
giftung der Katalysatoren durch Schwefelkohlen-
stoff; bei den anderen Giften ist die Wirkung
ganz ähnlich.
Zur Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung
bemerkt Kelber folgendes:
„Die intensive Lähmung des Katalysators I
durch geringe Mengen Kontaktgifte läßt sich
') Ein ähnliches Verfahren zur Bestimmung des Halogen-
gehaltes organischer Verbindungen, das auf der Hydrogenisation
der Verbindungen mittels palladinierten Calciumkarbonats als
Katalysator beruht, ist schon vor einiger Zeit von M. Busch
(Zeitschr. f. angew. Chem. Bd. 27 (1914), S. 432 und Ber. d.
D. Chem. Gesellsch. 49 (1916), S. 1063) angegeben worden.
dadurch erklären, daß durch das Erhitzen auf
höhere Temperaturen eine Änderung der Ober-
fläche der einzelnen Teilchen des Überträgers er-
zielt wird und nur wenige Stellen an diesen
Teilchen befähigt sind, Wasserstoff aufzunehmen
und zu übertragen. Diese wenigen Punkte werden,
da sie reaktionsfähiger wie das übrige Nickel sind.
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Abb. C. Vergiftung des Nickelkatalysators durch
Schwefelkohlenstoff.
(Die römischen Zahlen bezeichnen den Katalysator, der Buch-
stabe a die Versuche ohne, der Buchstabe b die Versuche
mit Kontaktgift.
zuerst auf das Kontaktgift einwirken, und dadurch
wird der gesamte Katalysator durch verhältnis-
mäßig geringe Mengen Antikatalysator vergiftet
werden. Katalysator II hingegen, der bei niederer
Temperatur reduziert wurde, besitzt noch viele
Wasserstoff übertragende Stellen an den Über-
trägerteilchen und benötigt dementsprechend auch
eine größere Menge Kontaktgift. Bei Katalysator III,
der bei höherer Temperatur mit Wasserstoff be-
handelt wurde, kann man annehrnen, daß die
Gegenwart des Trägergerüstes die Änderung der
Oberfläche des Katalysators verhindert." Mg.
(GTC)
Bttcherbesprechungen.
Hartwig, Richard, Prof Dr., Lehrbuch der
Zoologie. II. vermehrte und verbesserte
Auflage. Mit 588 Abbildungen im Text. Jena
1916, G. Fischer. — 13,50 M.
Der neue „Hertwig" hat wiederum, ohne daß
dies im Umfange des Buches hervortritt, eine
sorgsame Neubearbeitung, vielfach sogar erhebliche
Umgestaltung erfahren. PIntsprechend dem Cha-
rakter aller zoologischer Lehrbücher, der wiederum
ein Ausdruck der historisch verständlichen Eigenart
der zoologischen Wissenschaft ist, bilden die rein
beschreibenden Teile, Morphologie, Anatomie,
Entwicklungsgeschichte und vor allem die Syste-
matik ganz und gar das Massiv, in das physio-
logische Daten, wenn auch in den letzten Auflagen
in steigendem Maße, nur eingesprengt erscheinen.
Ein besonderer Abschnitt, der die allgemeinen
Grundlagen der tierischen Physiologie behandelte
(und der in entsprechender Form in jedem bo-
tanischen Lehrbuch als selbstverständlich gilt), fehlt.
Doch liegt dies, wie gesagt, in der üblichen Ab-
grenzung dessen begründet, was man her-
kömmlicherweise unter Zoologie und zoologischem
Unterricht versteht, fällt also, solange nicht ein
allgemeiner Anlaß gefühlt wird, mit diesem Her-
kommen zu brechen, nicht einem einzelnen Lehr-
buch zur Last.
Als klar und sehr übersichtlich abgefaßtes und
mit vortrefflichen, zweckmäßigen Abbildungen
versehenes Lehrbuch wird sich der „Hertwig" auf
unseren Universitäten noch ebenso bewähren, wie
damals, als Referent mit einem früheren Ent-
wicklungsstadium dieses Buches versehen zu den
Füßen des Verfassers saß. Besonders ist der
mäßige Preis des über 42 Bogen starken Bandes
hervorzuheben. Miehe.
Killermann, S., Prof D., Die Blumen des
heiligen Landes. Mit einer Bestimmungs-
tabelle sowie 5 Tafeln und 60 Abbildungen im
Text. Leipzig 19 16, J. C. Hinrichs. — 6 M.
Die wundervolle Blütenpracht des lenzlichen
Palästina sowie sein übriger charakteristischer
Pflanzenwuchs hat in Kill er mann einen be-
278
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
geisterten und geschmackvollen Schilderer gefunden.
Im ersten Teile des vorliegenden Büchleins ent-
wirft er, den Staffeln seiner Frühlingsfahrt folgend,
floristische Bilder, die dadurch besonders anziehend
sind, als der Verf. andächtig auf den Spuren der
heiligen Schrift wandelnd, vielfältige Beziehungen
zu ihr aufweist, die, wenn sie auch naturgemäß
oft nur Vermutungen darstellen, doch seinen
Schilderungen zusammen mit manchen anderen
kulturhistorischen Remineszenzen besonderen Reiz
verleihen. Dadurch werden diese Kapitel außer
den Pilgern und gebildeten Christen, namentlich
Theologen, die botanische Interessen haben, sehr
willkommen sein.
Der zweite Teil enthält eine Bestimmungstabelle,
die zwar nicht alle, aber doch die auffälligsten
sowie die kulturgeschichtlich und wirtschaftlich
wichtigsten Blütenpflanzen berücksichtigt. Die
Bestimmung wird durch 60 Abbildungen unterstützt
und, insbesondere für Unerfahrene, durch einen
zweckmäßigen Anhang erleichtert, in dem die
wichtigsten Pflanzen nach auffälligen Eigenheiten
ihrer Tracht angeordnet sind.
Das Büchlein verdient es, für die Zeit nach
dem Kriege angemerkt zu werden, wenn der
Strom der Miltelmeerfahrer sich vermutlich lieber
in die östlichen Länder richten wird, als wie bisher
fast ausschließlich in das mittlere Gebiet.
Miehe.
Victor Michels. Goethe und Jena. 30 S.
Jena G. Fischer. — 60 Pfg.
Wenn dem heutigen Jena die aufblühende,
durch Abbe ins Leben gerufene Industrie den
Stempel aufgedrückt hat — führt IVI icheis in
seiner Rede aus — so ist das alte Jena doch
mit in erster Linie das Jena Goethes. Auch der
Naturforscher wird diese Schrift mit Vergnügen
lesen und aus ihr entnehmen, wie viel Goethe in
Jena von den Naturwissenschaften empfangen und
wie viel er ihnen gegeben hat durch Anregungen
im Gespräch sowie durch Rat und Tat bei der
Förderung der Institute. Für ihn haben sich in
Jena „Steine und Pflanzen mit den Menschen
zusammengefügt". Alexander von Humboldt
hat in den Wäldern des Amazonenstromes und
auf dem Rücken der Anden sich stets gehoben,
gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet gefühlt
durch Goethes Naturansichten, die er in Jena
kennen gelernt. Goethe war die leitende Persönlich-
keit bei der Einweihung des anatomischen Kabi-
netts, bei der Einrichtung des chemischen Instituts,
der Sternwarte, der Veterinäranstalt, beim Ankauf
des Walchschen Naturalienkabinetts, bei der Be-
gründung von Professuren und in anderen Fällen
mehr. Die Rede beginnt mit Goethes Jena ver-
herrlichenden Versen. Sie verfehlt nicht, auch dem
Dichter Goethe voll gerecht zu werden.
V. Franz.
Danneel, Heinrich. Elektrochemie. I. Theo-
retische Elektrochemie und ihre physikalisch-
chemischen Grundlagen. 186 Seiten in kl. 8"
mit 16 Abbildungen im Text. III. Auflage.
Sammlung Göschen Band 252. Berlin und
Leipzig 1916, G.J.Göschensche Verlagshandlung,
G. m. b. H. — Preis geb. i M.
Das kleine Danneel'sche Lehrbuch der Elektro-
chemie, dessen erste Hälfte nunmehr bereits in
der dritten Auflage vorliegt, ist ein durch die
Klarheit und die Exaktheit der Darstellung gleich
ausgezeichnetes Werkchen, das allen denen, die
Interesse für die moderne Elektrochemie haben,
auf das wärmste empfohlen werden kann. — Über
den Inhalt des Bändchens gibt der Untertitel
genügende Auskunft. Werner Mecklenburg.
Vetter, Rudolf. Beiträge zur Kenntnis der
analytischen Eigenschaften der Koh-
lenstoffmodifikationen und orien-
tierende Versuche über ihre Ent-
stehungsbedingungen. TechnischeStudien,
herausgegeben von H.Simon, Heft 18. VIII und
79 Seiten. Berlin-Oldenburg 1916. Verlag von
Gerhard Stalling. — Preis geh. 3,50 M.
Das vorliegende Werkchen, über dessen Inhalt
der Titel hinreichende Auskunft gibt, ist eine
unter der Leitung von K. A. Hof mann an der
Technischen Hochschule Berlin ausgeführte Disser-
tationsschrift und trägt als solche einen sehr speziellen
Charakter. Das wesentliche Ergebnis der Arbeit läßt
sich dahin zusammenfassen, daß sich Diamant und
Karborundum SiC, das bei den Versuchen zur
künstlichen Herstellung von Diamant stets als —
allerdings unerwünschtes — Nebenprodukt ent-
steht, durch ihr Verhalten gegen ein geschmolzenes
Gemisch von Natriumthiosulfat und Natriumfluorid
unterscheiden : Der Diamant verhält sich gegen
dieses Gemisch vollkommen passiv, während Kar-
borundum von ihm glatt aufgeschlossen wird.
Werner Mecklenburg.
Warburg, Prof. Dr. O., Die Pflanzenwelt.
2. Band. Mit 12 farbigen, 22 schwarzen Tafeln
und 292 Textabbildungen. Leipzig und Wien
1916. Bibliographisches Institut. 17 M.
Die VVarburg'sche Pflanzenwelt ist eine Ergän-
zung des bekannten kürzlich von Hansen neu
herausgegebenen Pflanzenlebens. Während in diesem
letzteren Werke das Leben der Pflanzen im Zu-
sammenhange mit den natürlichen Bedingungen
geschildert wurde, setzt sich das vorliegende das
Ziel, die gesamte Pflanzenwelt in systematischer
Anordnung darzustellen. In diesem zweiten Bande
wird die erste Unterklasse der Dikotylen, die der
Archichlamydeen, behandelt, die u. a. die Reihen
der Polykarpicae.Rhoeadales, Rosales, Geranial es, Sa-
pindales, Rhamnales, Malvales, Parietales undOpun-
tiales behandelt. Es werden also hier z. B. die wich-
tigen Familien der Kreuzblütler, Rosengewächse, der
Hülsenfrüchtler, Wolfsmilchgewächse usw. vorge-
führt. Dabei werden nicht nur die einheimischen
Gewächse sondern auch die ausländischen und
N. F. XVI. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
279
zwar ausführUch berücksichtigt. Überall wird
auf die Nutzpflanzen besonders Bedacht genommen,
an deren Schilderung sich anregende Skizzen über
Gewinnung und Aufbereitung der Naturprodukte
sowie historische Exkurse anschließen. Dabei
schöpft der Verf. vielfach aus eigener reicher Er-
fahrung. Das Werk ist mit vorzüglichen Abbil-
dungen ausgestattet, neben vielen Habitus- und
Vegetationsbildern, die teils nach Photographien,
teils nach hervorragenden Aquarellen reproduziert
sind, wird eine sehr große Zahl genauer und sehr lehr-
reicher Einzelbilder geboten, die auch die Blüten,
Samen und Früchte veranschaulichen und eben-
falls vielfach in naturgetreuen Farben wiederge-
geben sind.
Das Werk, das dem Verf. sowohl wie dem Verlage
alle Ehre macht, ist ein schönes volkstümliches
Nachschlagewerk, dessen Anschaffung sehr emp-
fohlen werden kann. Miehe.
E. Grimsehl, Lehrbuch der Physik. Zum
Gebrauche beim Unterricht, bei akademischen
Vorlesungen und zum Selbststudium.
I. Band : Mechanik, Akustik und Optik. Dritte,
vermehrte und verbesserte Auflage. 966 Seiten
mit 1063 Figuren im Text und 2 farbigen
Tafeln. Leipzig und Berlin 1914, B. G. Teub-
ner. — Preis geb. 12 M.
II. Band: IVIagnetismus und Elektrizität. Dritte
Auflage, durchgesehen und ergänzt von J.
Classen, H. Geitel, W. Hillers und
W. Koch. 542 Seiten mit 517 Figuren im
Text und einem Bildnis des Verf. Leipzig und
Berlin 1916, B. G. Teubner. — Preis geb 8 M.
Die Tatsache, daß das vorliegende Lehrbuch
in der beispiellos kurzen Zeit von nur 5 Jahren
bereits in dritter Auflage erscheint, macht jede
besondere Empfehlung entbehrlich. Sie zeigt,
daß die Darstellung des auf dem Lehrgebiet der
Physik besonders verdienstvollen Verf. Vorzüge
besitzt, die ihr einen ausgedehnten Interessenten-
kreis erbrachten, trotzdem an Lehrbüchern der
Physik kaum ein Mangel besteht. Durch die vor-
treffliche Verbindung von Klarheit und höchster
Anschaulichkeit mit weitgehender, auch in die
quantitativen Beziehungen der Erscheinungen ein-
dringenden Gründlichkeit der Behandlung unserer
physikalischen Kenntnis hat Verf. ein Werk ge-
schaffen, das in gleicher Weise sowohl für den
Schüler als den Studierenden eine geeignete Grund-
lage für das physikalische Studium darstellt. Der
durch zahlreiche instruktive Abbildungen unter-
stützte Hinweis auf die durch das zweckbewußte
Experiment gewonnene Erfahrung bildet überall
den Ausgang der Betrachtungen. An ihn schließt
sich die Ableitung der quantitativen Zusammen-
hänge, die selbst dem Schüler auch dort kaum
Schwierigkeiten bereiten dürfte, wo die Elemente
der Infinitesimalrechnung zu Hilfe genommen
werden, deren innerer Sinn in jedem Einzelfall
unmittelbar erkenntlich wird.
Das anerkennenswerte Streben nach Vertiefung
des Inhalts hat es notwendig gemacht, daß das
Lehrbuch diesmal in zwei Bände geteilt wurde.
Der erste, umfangreichere Band konnte vom Verf.
noch kurz vor Kriegsausbruch herausgegeben
werden. Gegenüber der vorhergehenden Auflage
ist sein Inhalt wesentlich erweitert worden. Hin-
zugekommen ist in der Mechanik ein neuer Ab-
schnitt über die „Kraftübertragung". In der Lehre
von den Flüssigkeiten ist das Ebbe- und Flutproblem
neu und die Wirkungsweise der Turbinen ein-
gehender behandelt worden. Bei den luftförmigen
Körpern hat die Behandlung des Flugproblems
eine wesentliche Erweiterung erfahren. Neu be-
arbeitet wurde die Oberflächenspannung und Ka-
pillarität und ein Teil der Wärmelehre. Wesent-
liche Ergänzungen hat in der Optik die Photometrie,
die geometrische Optik durch Betrachtung der
Abbildung durch zentrierte, sphärische Flächen
und die physikalische Optik durch eingehende
Darstellung der Interferenzerscheinungen erhalten.
Im Ganzen ist hierdurch und durch eine Reihe
kleinerer Änderungen die Zahl der Paragraphen
um 28, die Zahl der Seiten um 176, die Zahl
der Figuren um 238 gegen den entsprechenden
Teil der vorhergehenden Auflage vermehrt worden.
Die Herausgabe des zweiten Bandes war dem
Verf. leider nicht mehr vergönnt. Wenige Monate
nach Ausbruch des Krieges fiel der rastlose
Förderer des physikalischen Unterrichts für sein
Vaterland. Die Vollendung der Neuherausgabe
seines Werkes haben in dankenswerter Weise
einige Fachgenossen übernommen. Veränderungen
gegenüber der früheren Auflage wurden nur so-
weit vorgenommen, als der P'ortschritt der Wissen-
schaft es geboten erscheinen ließ. Durch die
Neubearbeitung der Abschnitte über die Luft-
elekirizität, die Herr Geitel übernommen hat,
und über Röntgenstrahlen, Radioaktivität und die
F'unkenielegraphie, die Herr H i Hers durchführte,
ist die Elektrizitätslehre im wesentlichen auf den
neuesten Stand der Forschung gebracht worden.
Möge das Lehrbuch in weitem Umfange im
Sinne seines Verf. ein P'örderer der physikalischen
Kenntnis sein. A. Becker.
A. Legahn, Psychologische Chemie. I. Assi-
milation. Sammlung Göschen 1916.
Das vorliegende Mndchen der Sammlung
kann dem Mediziner und Nahrungsmittel-Chemiker
als kurzes Repetitorium der physiologischen Chemie
beim Studium behilflich sein. Dem Laien ist
diese Darstellung wegen der Zusammendrängung
der Tatsachen auf einen sehr engen Raum weniger
zu empfehlen. v. Brücke.
28o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 20
Anregungen und Antworten.
Zu der russischen VerviclfaUigungsmetbode. In Nr. 52
des vorigen Jahrgangs wurde unter der Überschrift: „Wie
unsere Feinde rechnen" Mitteilung gemacht über Verviel-
fältigungsmethoden primitiver Völker, die das Einmaleins
nicht im Kopfe haben. Für die serbische Methode wurde
der Beweis der Richtigkeit gefunden und mitgeteilt, für die
russische aber noch keine ausreichende Erklärung. .Als Bei-
spiel wurde benutzt das Produkt von 12 X "■ Die eine Zahl
wird fortdauernd halbiert und (unter der Vernachlässigung
der Bruchteile einer ganzen) die Quotienten nebeneinander
geschrieben. Die andere Zahl aber wird immer verdoppelt
und die Produkte, zu deren Erzeugung der arithmetische
Verstand jener Völkerschaften ausreicht, darunter geschrieben.
Also im vorliegenden Falle :
12 6 3 I
II
Reihe die
Dann werden ausschließlich aus der unteren
Zahlen, die unter einer ungeraden der oberen Reihe stehen,
zusammengezählt 44 + 88=132 ist das gesuchte Produkt.
Zur Erklärung nun das Folgende: Vervielfältigt wird ja
auch, nämlich die Zahl 11, diesmal hintereinander mit 2, also
auch mit 4 und 8. Diese beiden letzten P'aktoren aber sind
zusammen 12 mit der vervielfältigt werden sollte. Dies ge-
schieht also bei der primitiven Methode nacheinander anstatt
auf einmal. Die beiden Produkte sind dann einfach zusammen-
zuzählen. Was bei der Methode so verblüffend wirkt, ist
immer die Vernachlässigung der Halben bei der fortgesetzten
Teilung. Man meint, aadurch müsse eine Ungenauigkeit ein-
gelührt werden, und es könne sich im Resultate nur um eine
Annäherung handeln. Aber die obere Zahlenreihe dient ja
nicht zur Rechnung, sondern nur als Index für diese, die
lediglich in der unteren Reihe geschieht, und immer, wenn
oben eine Halbe unter den Tisch fällt, dann ist auch eine
Ungerade vorhanden, die die darunter stehende Zahl fi.xiert. Die
Anzahl der Stellen wird vermindert, aber es findet gewisser-
maßen eine Abschlagszahlung statt.
Nach Besprechung mit einem Fachmann ') scheint mir aber
die folgende Erklärung den Vorzug zu verdienen.
Wenn es Einer in Vervielfältigung und Teilung nicht
weiter gebracht hat, als mit dem Faktor 2 zu operieren, so
ist für ihn schon 7 X ^ s'" Zahlenrätsel. Also kommt er,
wenn er mit seiner Unwissenheit einige Genialität verbindet,
auf den Gedanken, die eine Zahl mit 2 zu teilen, die andere
zu vervielfältigen. Daß Produkt muß ja doch dasselbe bleiben.
Der algebraische Ausdruck für diese einfache Wahrheit ist
y
X y = 2 X ^ ■
Tut er das einmal, so hat er 14X4. womit dem Russen
aber noch nicht gedient ist. Tut er es zweimal, so hat er
28 X 2. Das geht schon eher. Aber .am leichtesten ist es,
wenn er diese einseitige Vervielfältigung und Teilung so lange
fortsetzt, bis durch letztere die I erreicht ist. Dann ist die
vervielfältigte Zahl zugleich das gesuchte Produkt.
Auf diese Weise erhält man eine ganze Reihe von Zahlen,
die wir, wie die Russen zu tun pflegen, untereinander schreiben
wollen , und von denen immer die obere mit der unteren
vervielfältigt, dasselbe Produkt liefert:
14
2S
5()
Natürlich sucht mau sich unter diesen Zahlengruppen die
aus, deren einer Faktor eine i ist. Da gibt es nichts mehr
zu rechnen, da die andere das gesuchte Produkt selber ist.
Aber so einfach ist die Sache nur, wenn es sich um
gerade Zahlen handelt. Ungerade kann man nicht ohne
Bruch durch 2 teilen und auf Bruchrechnungen kann sich der
nicht einlassen, der im Einmaleins noch nicht zu Hause ist.
Nehmen wir den Fall 9X7-
9, durch 2 geteilt, gibt 472. Die Russen schreiben in
diesem Falle einfach 4 in folgender Reihe :
9421
7 14 28 56
Nun stimmt die Sache nicht. Denn die Endzahl der
unteren Reihe ist wieder 56. Welcher Fehler ist gemacht,
wie kann man denselben korrigieren?
9 ist durch 2 geteilt, eine I ist übrig geblieben. Diese
wurde vernachlässigt. Sie hätte mit der darunterstehenden
Zahl vervielfältigt werden müssen, i X 7 = 7- Und dieser
Fehler schleppt sich durch die ganze Reihe und mit diesem
Betrag muß die Endzahl also vermehrt werden, wenn das
richtige Ergebnis erhalten werden soll. Hier haben wir also
die Erklärung für das Zusammenzählen der unteren Ziffern,
die unter den ungeraden Zahlen stehen.
Nur daß die Erklärung noch einer Erweiterung bedarf.
Der analoge Fall mit der 9, die nicht ohne Bruch durch 2
teilbar ist, wiederholt sich auch bei der Teilung von geraden
Zahlen, wie z. B. bei der 12 in unserem ersten Beispiel, nur
nicht am Anfang, sondern in der Mitte der Reihe, ja bei allen
geraden Zahlen, die nicht wie die 4, die 8, die 16: Potenzen
von 2 sind, und damit wird das ganze Verfahren verständlich.
Adolf Mayer.
') Herrn J.
Dam, Direktor a. D. zu De
Literatur.
Kobert, Prof. Dr. R., Neue Beiträge zur Kenntnis der
Saponinsubstanzen, für Naturforscher, Ärzte, Apotheker, Medi-
zinalbeamte usw. I. Stuttgart '16, F. Enke. — 7,60 M.
S a c h s , Dr. A., Die Bodenschätze der Erde : Salze, Kohlen,
Erze, Edelsteine. Zur Einführung lür Laien und Studierende.
Mit 6 Abbildungen. Leipzig und Wien '16, Fr. Deuticke.
Sondermann-Dieringhausen, Dr. R., Die Woh-
nungsfrage im neuen Reiche. München, E. Reinhardt. — 50 Pf.
— , Die Bodentrage im neuen Reiche. Ebenda. — I M.
Voss, A., Der Botanikerspiegel von 1905 und 1910,
unwissenschaftlich und zweckwidrig, weil weder denk- noch
folgerichtig. Eine Erinuerungsschrift zur 10. Jährung des
Todestages (27. Jan. 1907) Dr. O. Kuntzes usw. Berlin '17,
Vossianthus Verlag. — 2 M.
Palmaer, Prof. Dr. M., Elektrolyse von Kochsalz-
lösungen in Verbindung mit der Zelluloseindustrie. Stuttgart
'16, F. Enke. — 3 M.
Heller, Dr. G,, Über die Konstitution des Anthranils.
Stuttgart '16, F. Enke. — 3 M.
Inhalte Kurt Krause, Grundwasser und Quellen. (18 Abb.) S. 265. — Einzelberichte: C. Kelber, Die katalytische
Hydrogenisation organischer Verbindungen mit unedlen Metallen bei Zimmertemperatur. {3 Abb.) S. 275. —
Bücherbesprechungen: Richard Hertwig, Lehrbuch der Zoologie. S. 277. S. Killermann, Die Blumen des
heiligen Landes. S. 277. Victor Michels, Goethe und Jena. S. 27S. Heinrich Danneel, Elektrochemie. S. 278.
Rud^olf Vetter, Beiträge zur Kenntnis der analytischen Eigenschaften der Kohlenstoffmodifikationen und orientierende
Versuche über ihre Entstehungsbedingungen. S. 278. O. Warburg, Die Pflanzenwelt. S. 27S. E. Grimsehl,
Lehrbuch der Physik. S. 279. A. Legahn, Psychologische Chemie. S. 279. — Anreguungen und Antworten:
Zu der russischen Verviellältigungsmethode. S. 280. — Literatur: Liste S. 280.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstra.ße 42,
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
erbeten
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
Sonntag, den 27. Mai 1917.
Nummer 21.
Tanzende Fliegen.
[Nachdruck verboten. | Von Dr. F.
Es vergeht kein Jahr, in dem nicht von
massenhaft auftretenden Insekten berichtet wird.
Bald sind es Heuschrecken oder Libellen, bald
Eintagsfliegen, bald Schmetterlinge wie Schwamm-
spinner, Nonne und Weißlinge, oder Stechmücken,
Ameisen, Maikäfer, Läuse, die in ungewohnter Zahl
erscheinen und in der Tagespresse Erwähnung
finden. Dazu kommt aber noch eine große
Zahl anderer, die in wissenschaftlichen Abhand-
lungen eine wichtige Rolle spielen. Schildläuse,
Wanzen, Wicklerarten, Motten und allerlei Käfer
vermehren sich zu manchen Zeiten außerordent-
lich rasch und zahlreich und richten trotz ihrer
geringen Größe empfindlichen Schaden an den
Kulturgewächsen an. Einen oberflächlichen Be-
griff von der Menge solcher Bestandsverderber gibt
die Abschätzung des von ihnen verursachten
Schadens. Die Nonne hat von 1845—67 in
Rußland 183 Millionen Raummeter vernichtet.
Der Maikäfer entzieht in Frankreich dem Staate
jährlich etwa 250 Millionen Fr., in den Haupt-
flugjahren sogar eine Milliarde. Im Jahre 1906
verursachte der Heu- und Sauerwurm , eine
Wicklerart , in den Weinbergen der Pfalz einen
Verlust von mindestens 8 Millionen M. Die Reb-
laus kostete dem Staat vom Jahre 1874, wo sie
vereinzelt zum ersten Male in Deutschland auf-
trat, bis 1890 schon 2850000 M., bis 191O sogar
22,5 Mill. M.
In manchen Fällen bleiben die Schädlinge nicht
seßhaft; Nahrungsmangel oder Instinkt treibt sie
weiter, sie vereinigen sich mit neuen Scharen anderer
Gebiete und so entstehen Wanderzüge, die oft
weite Strecken durchmessen. Die Heuschrecken
sind hierfür ein Schulbeispiel. Auch der Heer-
wurm, die Prozession zahlreicher Larven der
Mücke Sciara Thomae L. hat eine gewisse Be-
rühmtheit erlangt.
Andere Insekten treten regelmäßig zu ge-
wissen Zeiten in großer Zahl in Schwärmen auf,
wie die Bienen und Ameisen, wenn sie zur
Stockerneuerung schreiten. Verläßt der Vor-
schwarm den Bienenstock, um sich eine neue
Behausung zu suchen, so ist dies nichts
anderes als die Gründung eines neuen Staates,
denn es bleibt die junge, noch unbefruchtete
Königin mit der anderen Hälfte der Arbeiterinnen
und Drohnen im alten Bau zurück.
Ei^ne andere, diesem Vorgang ähnliche Art
von Schwärmen können wir wahrnehmen, wenn
die junge Bienenkönigin ihren Begattungsausflug
macht. Wie die brünstigen Hummelmännchen
an besonderen Stellen sich vereinigen, um im
Spiele auf begattungslustige Weibchen zu warten.
Stellwaag.
so wurden schon mehrmals über hohen Bäumen
oder Anhöhen gewisse Sammelstellen der Drohnen
beobachtet, die von der Königin im Hochzeitsfluge
aufgesucht werden. Nach H. von Büttel-
Reepen stellte der Amerikaner Doolittle
tausende von Männchen an einem solchen Be-
fruchtungsplatze fest, andere Beobachter wieder
fanden zahlreiche Drohnen, die enggedrängt
in dichtesten Schwärmen durch die Luft
Schossen.
Alle Fälle werden ganz allgemein als Schwärme
bezeichnet, sie sind aber eine Summe verschieden-
artigster Erscheinungen. Die außergewöhnliche
Häufung der Einzelwesen ist es allein, was ihnen
allen gemeisam ist, die Ursachen aber sind von
Fall zu Fall verschieden.
Der Grund für Massenauftreten von Insekten
liegt oftmals in einer Störung jener unüberseh-
baren und bis in alle Einzelheiten wohl unergründ-
lichen Zahl natürlicher Faktoren, die miteinander
in engster Beziehung stehen, wie die Knoten eines
Netzes. Günstige Vermehrungsbedingungen für die
eine Tierart, ungünstige für ihre Feinde, Nahrungs-
überfluß, vermehrte Brutgelegenheit, sind auffälligere
Ursachen aus der großen Summe. Wie schon er-
wähnt, kann auch Nahrungsmangel die Tiere eines
Gebietes vertreiben und zu anderen der gleichen
Art führen, Licht kann sie anlocken und zur Ei-
ablage in der Nähe veranlassen oder andere physi-
kalische oder klimatische Schwankungen können
ihren Einfluß geltend machen. Jedenfalls ist hier
das Massenauftreten auf anormalen Bedingungen
begründet.
Daneben gibt es aber auch Ansammlungen,
ohne daß der Komplex der biologischen Be-
ziehungen gestört ist. Hier liegt die Ursache
in der Fortpflanzung, wie dies oben von der
Biene gestreift wurde. Es sind echte Schwärme,
deren Auftreten eng mit der biologischen Eigen-
art der betrefi^enden Spezies verknüpft ist. Ihnen
gegenüber wird die Anhäufung zahlreicher Indi-
viduen der gleichen oder verwandter Arten zum
Zwecke der Begattungsvorspiele besser als Tanz
bezeichnet.
Während bei den meisten Insektenordnungen
massenhafte Anhäufungen, Wanderzüge und
Schwärme bekannt sind und Tänze nur eine
ganz untergeordnete Rolle spielen, sind gerade
bei den Dipteren Tänze in ganz großartigem
Maßstabe verbreitet.
Mückentänze hat wohl jeder schon an warmen
Sommerabenden im Freien in der Nachbarschaft
von Weihern oder Sümpfen beobachtet. Die Zahl
der Individuen, die dabei beteiligt sind, kann außer-
282
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
ordenthch schwanken und von wenigen bis in die
Tausende und Millionen gehen. Es ist nicht ver-
wunderlich, daß über besonders auffällige Vor-
kommnisse schon eine ganze Literatur zusammen-
gekommen ist. Die Angaben aus dem Jahre 1767
bis 1871 hat seinerzeit Weyerberg in seiner
kleinen nicht allgemein bekannten Abhandlung
über Fliegenschwärme gesammelt. Er führt Tänze
von geradezu unglaublichem Umfang an. Ein
solcher wurde unter anderem 1807 am Turm der
Mariakirche in Neubrandenburg beobachtet. An-
fangs glaubte man, es sei im Turm ein Brand
ausgebrochen und da viel Schießpulver in der
Kirche aufbewahrt wurde, verließen viele Ein-
wohner sogleich die Stadt. Auch der Turm der
Nicolaikirche in Hamburg schien im Juni 1858 in
Rauchwolken gehüllt zu sein.
Solche Tänze führen besonders die Gattungen
Culex und Chironomus aus. Es sind bald dichte,
bald lockere Verbände, die sich gern über her-
vorragenden Punkten der Landschaft bewegen.
Weyerberg führt eine Reihe anderer Fliegen
an, die nicht nur im Freien, sondern auch in ge-
schlossenen Räumen, mit Vorliebe unter Kuppeln
tanzen. Es beteiligen sich daran Vertreter der
Gattungen Musca, Chlorops und Pollenia. Während
er die Mückenschwärme als gemeinschaftliche
Hochzeitsreisen nach den höheren Regionen der
Luft betrachtet, fehlt ihm jede Erklärung für das
Auftreten dieser Fliegenschwärme, die sich fast
zu jeder Jahreszeit zeigten. „Weder die veran-
lassende, noch die vorbestimmende Ursache dieser
Erscheinungen ist bekannt und ihre biologische
Deutung daher viel schwieriger als bei den Mücken-
schwärmen."
Das Problem der Fliegentänze hat neuerdings
Gruhl (Zeitschr. für wissensch. Insektenbiologie
1916) untersucht. Er hat die verschiedenen Tänze
studiert und ihr genetisches Zustandekommen
aufzuklären versucht. Nach ihm ist ein be-
stimmter Zusammenhang mit dem Fortpflanzungs-
geschäft unverkennbar, denn nur die Männchen
führen im allgemeinen Tänze aus.
Ähnliche Massentänze, wie sie Culex und
Chironomus darbieten, stellte Gruhl auch bei
gewissen Phoriden und Homalomyia fest. Auf-
falligerweise haben die Einzeltiere stets die gleiche
Richtung, sie nehmen gewissermaßen eine be-
stimmte Front ein. Da diese Orientierung auch
bei Windstille besteht, wird die Front nicht von
Luftströmungen verursacht, obwohl natürlich
starker Wind, dem die leichtbeschwingten Wesen
preisgegeben sind, die Individuen veranlaßt, sich
gegen ihn einzustellen und also sich ebenfalls
gleichsinnig zu orientieren. Bald zeigen die
Schwärme eine gewisse Ruhe, bald sind die
Teilnehmer lebhafter, manchmal geht durch die
Masse eine stürmische Bewegung. Auf und ab,
vor und zurück geht es in unberechenbarem
Flug, aber stets so, daß die allgemeine Front sich
nicht verändert. Nicht immer bleibt die eigen-
artige Wolke an bestimmter Stelle stehen, sie
kann sich heben und senken, ja größere Strecken
zurücklegen. So verfolgen sie den Menschen, der
unter sie geraten ist, ein gutes Stück Weges.
Für die Beurteilung der Tänze ist das Be-
nehmen der Hydrotaea-Arten von Bedeutung.
Die Tiere drängen sich hier nicht so dicht zu-
sammen, wie eben geschildert wurde, dafür aber
haben die Schwärme große Ausdehnung. Natur-
gemäß geht dadurch auch die Fähigkeit, sich als
Ganzes zu bewegen, verloren. Trotzdem bleibt
die gleiche Front erhalten.
Die Einzeltiere schweben oft längere Zeit an
bestimmter Stelle, plötzlich aber beginnt ein
merkwürdiger Zickzackflug, ein hastiges Jagen
und die Fliege erscheint an benachbarter Stelle
im Schwebeflug. Im Gegensatz zu Chironomus
wird der Flug von Zeit zu Zeit unterbrochen und
das Tier macht eine Ruhepause, indem es sich
auf ein Blatt oder einem anderen Stützpunkt
niederläßt. Ein solcher Tanz kann sich also aus
drei Phasen zusammensetzen : einem Schwebeflug,
einem jagenden Zickzackflug und einer Ruhe-
pause. Aus ihm lassen sich die verschiedenen
Arten von Fliegentänzen ableiten.
Größere Museiden jagen stürmisch ohne Front,
geradezu richtungslos, andere wieder führen mit
kleineren Unterbrechungen nur kurze Sprünge
aus wie Chloropsarten, während unsere Stuben-
fliege und Homalomyia einen eigenartigen lang-
samen Schwimmflug bevorzugen, der plötzlich
durch rasche VVinkelflüge unterbrochen wird. Die
Front braucht dabei nicht allen Tieren gemeinsam
zu sein, doch ist ein Wechsel offenbar von Luft-
strömungen abhängig, wobei die Stirne gegen
den Wind gerichtet wird.
Schwankt schon bei den Massentänzen die
Individuenzahl, so werden die Schwebetänze nur
von wenigen oder einzelnen Individuen ausgeführt.
Wie unbeweglich stehen sie in der Luft, so rasch
mit den Hügeln schlagend, daß deren Bewegungen
gar nicht wahrgenommen werden können. Mit
plötzlichem Ruck scheinen sie verschwunden zu
sein, kehren aber mit Sicherheit wieder an ihre
alte Balzstelle zurück, um neuerdings unermüdlich
weiter zu tanzen.
Nicht alle Dipterenmännchen führen echte
Tänze aus, manche werben um das Weibchen
ohne besondere Flugleistungen. Diese Balzspiele
werden bei Beteiligung des Weibchens und in
dessen unmittelbarer Nähe ausgeführt. Alle
anderen Liebesspiele sind als Tänze oder Reigen
zu bezeichnen. Gruhl teilt sie folgendermaßen ein.
A. Einzeltänze oder Tänze schlechthin. Jedes
Männchen tanzt für sich.
1. Schwebetanz. Die Männchen schweben
allein oder in sehr geringer Anzahl in der Luft. —
Voluzella, Melanostoma.
B. Massentänze, Reigentänze oder Reigen. Die
Männchen tanzen im Verbände.
2. Richtungsreigen, Frontreigen. Alle Männchen
haben die gleiche Richtung oder Front; die Be-
wegung ist teils sehr lebhaft, teils ruhig schwebend.
N. F. XVI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
283
Der Schwärm bewegt sich als zusammen-
gehöriges Ganze. — Chironomiden , Phoriden,
Homalomyia.
3. Schwebereigen. Wie beim Richtungsreigen
besteht eine Front, jedoch sind die Schwärme
ungemein ausgedehnt und bewegen sich nicht als
Ganzes. Ruhiges Schweben tritt mehr in den
Vordergrund. — Hydrotaea, Tabanus.
4. Schwimmflugreigen. Die Hauplbewegung
ist der schwimmende Fhig in gebrochener Linie. —
Homalomyia.
5. Sturmreigen. Nur stürmisches Jagen, ohne
Front; hält nicht lange an.
6. Bewegungsreigen, Gegenreigen. Ein fort-
währendes Jagen in zwei entgegengesetzten Rich-
tungen, für welche bestimmte Bahnen innegehalten
werden. Bewegung in horizontaler Ebene. —
Empiden.
7. Eintagsfliegenreigen. Wie die Eintagsfliegen
steigt jedes Tier für sich auf und nieder.
8. Sprungreigen. Einzelne kurze Sprünge vom
Stande oder Laufen aus. Chlorops.
Die Entwicklung der verschiedenen Tänze aus
primitiven Anfängen und aus den einfachen Balz-
spielen stellt der spekulativen Untersuchung
eine schwierige Aufgabe. Leichter ist es, die
einzelnen Arten von Balzspielen, die in Gegen-
wart der Weibchen aufgeführt werden, auf die
kurzen Vorbereitungen zur Begattung zurückzu-
führen. Ich will darauf nicht näher eingehen
und lieber die Entwicklung der Tänze und Reigen
schildern, wie sie G r u h 1 sich vorstellt.
Er geht davon aus, daß das Männchen das
von ihm erwählte Weibchen, das der Begattung
noch nicht geneigt ist, im Fluge verfolgt. Ahn-
liche Verfolgungsflüge werden auch von Männchen
ausgeführt, die vorüberfliegenden Weibchen nach-
stellen. Dies ist eine nicht nur bei Fliegen wie
Calliphora bekannte Erscheinung. Ich habe schon
mehrmals Männchen verschiedener i lymenopteren-
arten besonders von Hummeln beobachtet, wie
sie einzeln oder in Gesellschaft um einen hervor-
ragenden Punkt im Sonnenschein spielten und
vorüberfliegende Weibchen oder auch andere
Insekten eine Zeitlang verfolgten , um dann an
ihren ursprünglichen Platz wieder zurückzukehren.
Sicherlich ist ein solches Gebahren eine Äußerung
des Geschlechtstriebes (wenn es auch manchmal
stark an willkürliche Spielereien erinnert), da auch
die Begattung im P"luge stattfindet. Wie bei
meinen Beobachtungen werden die Verfolgungs-
flüge bei Calliphora und Anthomyia von mehreren
Männchen unternommen und auch von Ruhepausen
unterbrochen. Verschwinden die Pausen, so ent-
steht ein typischer Sturmreigen. Eine ruhigere
gesellige Verfolgung wäre als Schvvimmflugreigen
aufzufassen. Die Tatsache, daß bei Homalomyia
Schwimmflüge und Frontreigen nebeneinander
vorkommen, legt die Vermutung nahe, daß sich
der Frontreigen aus den ersteren entwickelt hat.
Von hier aus ist zum Schwebetanz kein großer
Schritt mehr.
Mag nun der Schwebereigen auf diesem Wege
aus dem Verfolgungsflug entstanden sein, oder
von dem Schwebetanz einzelner Individuen oder
dem Eintagsfliegentanz seinen LTrsprung genommen
haben, so dürften doch diejenigen Reigentänze als
die höchststehenden aufzufassen sein , die wie
Schwebe- und Richtungsreigen eine gemeinsame
P'ront aufweisen und von zahlreichen Teilnehmern
ausgeführt werden.
Die hier geschilderten vielgestaltigen Reigen
und Tänze bieten dem aufmerksamen Beobachter
genug Anziehendes und Beachtenswertes. Und
doch kommen im einzelnen noch eigenartigere
Züge vor. So schildern Aldrich und Turley,
daß gewisse Tanzfliegen oder Empiden, von denen
oben bei dem Hinweis auf den Gegenreigen die
Rede war, die Gewohnheit haben, während des
Reigens Fäden zu spinnen. Bei der Art Hilara
sartor Bec. ergreifen die Männchen die aus der
Mundöffnung austretenden Gespinstfäden mit den
Mittel- und Hinterbeinen und verweben sie zu
kleinen Schleierchen. Es muß einen merk-
würdigen Anblick darbieten, wenn zahllose solcher
Webekünsiler in der Luft auf und nieder tanzen
und ihr opalglänzendes Schleierchen ausbreiten.
Eine amerikanische Art Empis hoplitea Loew
spinnt sogar ganze Ballen, die wie große Ballons
beim Tanze mitgeführt werden. Welchen Zweck
die Männchen damit verfolgen, ist noch nicht auf-
geklärt.
Begattungsspiele und Tänze sind nicht nur
von Fliegen, sondern auch von vielen anderen
Tieren, Spinnen, Säugetieren, Vögeln und sogar
von Amphibien bekannt. Stets werden sie von
Männchen ausgeführt, während das umworbene
Weibchen ruhig, ja manchmal wie stumpfsinnig
zusieht. Merkwürdigerweise wurde nun gerade
wieder bei Empiden beobachtet, daß das Weib-
chen vor der Begattung eigenartige Tänze auf-
führt. Die auch bei uns vorkommende Empis
borealis L. tanzt im Juni in lockeren Verbänden
im Sonnenschein, um auf die begattungslustigen
Männchen zu warten. Diese erscheinen auch bald
und jedes trägt zwischen den Mittelbeinen irgend-
ein Insekt als Beutestück. Die Begattung wird
nicht im Fluge, sondern auf einem Ruheplatz aus-
geführt, wobei das Weibchen das ihm dargebrachte
Hochzeitsgeschenk verzehrt. Dieser Vorgang ist
um so auffallender, als die Empiden sonst niemals
Blut saugen noch sich von Insekten ernähren.
284
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
[Nachdruck verboten.]
England hat einen schweren Preis für diesen
Krieg zu zahlen: zu allem übrigen gehen ihm
nun auch noch die letzten Reste seines Waldes
verloren. Nicht wie in Frankreich fallen die
Wälder den unmittelbaren kriegerischen Ereig-
nissen zum Opfer, wohl aber gehen sie zugrunde,
weil England bedenklichsten Mangel an
Holz leidet. Daß der Krieg so lange dauern
und so maßlose Anstrengungen erfordern würde,
hatte kein britischer Staatsmann gedacht.
Schon seit die deutsche Regierung im November
19 14 Holz für Bannware erklärte, wurde die Ver-
sorgung Englands mit Holz bedenklich. Einer
ganzen Anzahl von Gewerbezweigen begann der
Rohstoff zu fehlen, die Papierfabriken erhielten
nicht mehr genug Holzpapiermasse, für die
Kriegsindustrien fehlte es an Holz, so daß bei-
spielsweise die Flintenschäfte bereits nach kurzer
Zeit nicht mehr aus amerikanischem Nußbaum,
sondern aus Mahagoni angefertigt werden mußten,
das für verschiedene Luxusindustrien in England
lagerte. Selbst im englischen Haushalt machte
sich der Holzmangel so fühlbar, daß für das An-
zünden der Kamine Brennholz bereits im Januar
191 5 nicht nur zu wesentlich höheren Preisen,
sondern vielfach überhaupt nicht mehr zu haben
war. Die kleinen Läden , in denen es verkauft
wird, konnten regelmäßige Lieferungen von den
Großhandlungen nicht mehr erhalten ; das rohe
und verhältnismäßig schlechte Holz, das man
dafür verwendet, kommt meist aus dem Ausland.
Eine Reihe von Schulen, namentlich auf dem
Lande, mußte wegen gänzlichen Mangels an
Heizstoffen geschlossen werden. Selbst wenn in
England noch Vorräte bestimmter Hölzer vor-
handen waren , so konnten sie vielfach infolge
der Frachtenstauung ihren Bestimmungsort nicht
oder erst nach vielen Monaten erreichen. Auch
die härtesten und feinsten Holzarten, die ur-
sprünglich auf den Lagern reichlich vorhanden
waren , gingen schnell auf die Neige, zumal da
sie — wie in dem erwähnten Falle — für andere
Zwecke verwendet werden mußten.
Für Kriegszwecke fehlte es binnen kurzem
bedenklich an den wichtigsten Hölzern. Bei
Ausbruch des Krieges hatten z. B. die staatlichen
Werften in Dover und Portsmouth nur sehr un-
bedeutende Vorräte an Kiefern-, Eichen-, Eschen-
und Fichtenholz. Ferner mangelte es bald an
dem für die Kohlenbergwerke nötigen Grubenholz,
das größtenteils eingeführt zu werden pflegt.
Der Erklärung der deutschen Re-
gierung vom 17. November 1914, fortan
Gruben- und Papierhölzer als Feuerungsstoffe
und daher als Kriegsbannware anzusehen,
folgte die Tat; über die Ostsee wurde kein
Schiff mehr gelassen, das Holz als Kriegsbannware
führte. Verschiffungen nach neutralen Ländern
wurden nicht gestört, beispielsweise nicht die er-
Die Yeruichtiing des englischen Waldes.
Von Dr. Ernst Schultze.
hebliche schwedische Holzausfuhr nach Holland,
— sobald die staatliche Versicherung abgegeben
wurde, daß es sich um Lieferungen für neutrale
Empfänger handelte. Die Holzausfuhr Norwegens
wurde anfangs noch weniger gestört als die
Schwedens. Dennoch litten die englischen Kohlen-
bergwerke unter der Ostseesperre empfindlich.
Großbritannien suchte seinen Holzbedarf nun
namentlich in Amerika zu decken. Im P'rühling
1915 nahmen im Hafen von Brooklyn gleichzeitig
45 -Segelschiffe Holzladungen ein, von denen die
meisten für England bestimmt waren. Aus Angst
vor deutschen Unterseeboten griff man zu ver-
schiedenen Mitteln : so glaubten die Holzausfuhr-
händler von Louisiana nach einer Mitteilung des
Direktors der „Great Southern Lumber Company"
die Lösung dadurch gefunden zu haben, daß man
mehr als ein Dutzend alter norwegischer Segel-
schiffe pachtete, für die ihrer Ansicht nach die
Deutschen ihre Torpedos nicht verschwenden
würden. Einige Holzfirmen in Louisiana und
Mississippi hatten Auftrag, 50 Millionen Raumfuß
Yellow-pine zu liefern.
Auch Frankreich ist an den Holzbestellungen
in Nordamerika beteiligt, jedoch in weit geringerem
Grade als England. Letzteres sucht sich sogar
aus dem holzarmen Spanien Buchenholz zu
verschaffen, da die Zufuhr aus den Ostseeländern
durch den Krieg abgeschnürt war, während die
Nachfrage besonders stark wurde; nun sollte ein
etwa 80 Geviertkilometer großer Wald in Spanien
mit bedeutenden Buchenbeständen gepachtet
werden, wodurch England eine Linderung seiner
Holznot erhoffte.
Aber alle diese Mittel reichen nicht — England
muß auch aus der eigenen National-
wirtschaft hergeben, was gebraucht wird —
ohne Rücksicht auf die vernichtenden
WirkungendiesesRaubbaus. So zermalmt
die Faust des Krieges den letzten Rest dessen,
was man in England an Wäldern stehen gelassen
hatte. Viel war dies an sich schon vor dem
Kriege nicht. England hat wenig Holz mehr — ja
es besitzt nicht einmal geschulte Holzfäller genug.
Deshalb tun kanadische Soldaten diesen
Dienst, indem sie in England wie in Schottland
die britischen Waldungen sachgemäß niederlegen.
Übt doch ein großer Teil dieser Kanadier von
Hause aus den Beruf des Holzfällers oder des
Forstarbeiters. Lieber wäre es England ja, könnte
es das nötige Holz aus Kanada einführen — nur
ist das infolge der stets wachsenden Frachtraumnot
ganz unmöglich.
So wird denn ein Wald nach dem anderen
in England niedergelegt. Vor kurzem mußte der
Park von Windsor daran glauben, der allen
Londonern teuer war. Er bedeckte 730 Hektar,
der Holzgehalt des zum Niederschlagen verur-
teilten Teiles wurde von dem Unternehmer auf
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
285
mehr als i Million Raummeter Bauholz veran-
schlagt. Um den Wald schnell und sachgemäß
niederzuschlagen, fehlten indessen sogar die
nötigen Werkzeuge und Maschinen. Man bezog
sie aus Kanada. Und nun kreischten die Sägen,
um die prächtigen Bäume zu zerkleinern und die
Holznot, unter der England leidet, ein wenig zu
lindern. Statt daß die Bäume von Windsor weiter
ihre Äste in den Himmel strecken dürfen, werden
sie nun zu Brettern und Pfählen aller Art für
militärische Anlagen verarbeitet, zu Schwellen für
Hisenbahnen, vor allem auch zu Grubenholz, an
dem es bitterlich fehlt.
England beraubt sich damit einer unersetzlichen
Naturschönheit. Früher besaßen die Waldungen
dort bedeutende Ausdehnung. Carlyle hat oft
darüber geklagt, daß die dunklen VVälder, von
denen das Land ehemals bedeckt war, beinahe
völlig verschwunden sind. Einstmals rauschte
Schottland „zottig und laubreich wie ein feuchter,
schwarzer amerikanischer Urwald". Jetzt dagegen
bedecken nur noch dessen dichte Überreste in der
Gestalt von Torf den Boden. Manchmal finden
sich darin ungeheure Eichenklötze.
Mit der zunehmenden Ausbreitung der Land-
wirtschaft wuchs auch der Viehstand, und im
Frühling fraß das Vieh die neuen Schößlinge ab.
Die alten Bäume, die nur eine gewisse Lebens-
dauer besitzen, starben allmählich ab, und ohne
daß man darauf achtete, hörte der Wald zu be-
stehen auf.
Vor dem Kriege betrug die von Wald be-
standene Fläche in den einzelnen Teilen
des Inselreichs nur noch: 5,3 7o '" England, 4,6"/,,
in Schottland, 3,9"/,, in Wales, 1,5% in Irland.
Größere Strecken alten Waldes findet man nur
noch im schottischen Hochlande. Was in England
und Irland an Waldungen besteht, ist meistens
Anpflanzung aus neuerer Zeit. Das Holz, das in
dem feuchten und nicht kalten Klima Groß-
britanniens wächst, ist zum Teil von vorzüglicher
Art. Werden doch besonders englische Eichen
im Schiffbau sehr geschätzt. Dabei ist es für
England noch ein besonderes Glück, daß es
großen Reichtum an Steinkohlen besitzt, so daß
man Holz als Feuerungsstoff nicht zu verwenden
braucht.
Im Mittelalter wurden die Schmelzöfen
hier wie in Deutschland mit Holz gefeuert.
Allmählich trat infolgedessen , verstärkt durch
das angedeutete Vordringen der Landwirtschaft,
in gewissen Teilen Englands Not an Brennstoffen
ein, so daß schon 1354 alle Eisenausfuhr ver-
boten wurde, um dadurch auch den Holzverbrauch
einzuschränken. Ja es wurde 1581 die Errichtung
von Eisenwerken jeder Art in der Nähe von .
„London und der Themse" verboten, um die
Wälder zu erhalten. Steinkohle mochte man
nicht verwenden; wenigstens war sie in London
höchst unbeliebt. Da sie von Newcastle aus zur
See dorthin geführt wurde, bezeichnete man sie
mit dem Namen „sea coal". 1620 nahm Lord
Dudley in Pensnct Chase ein Patent auf Ge-
winnung von Eisen und Erzgestein mittels Stein-
kohle statt Holzkohle. Aber sein Erfolg rief so
viele Feindseligkeiten seiner Konkurrenten hervor,
daß der Steinkohlenprozeß für einige Zeit wieder
aufgegeben werden mußte. Interessant ist die
Tatsache, daß verschiedene englische Historiker
angeben, es sei 1688 die besondere Aufgabe der
spanischen Armada gewesen, die Waldungen in
lingland niederzubrennen, um die Eisenproduktion
dort möglichst zu vernichten. ^)
Einstweilen wollte sich die Steinkohle nicht
einbürgern, auch nachdem der Deutsche Blen-
s t o n e (Blenstein f) in Wednesbury den Versuch
gemacht halte, das Dudley 'sehe Verfahren zu
verbessern. EnglischesEisen blieb teuer und schlecht,
so daß man Eisen mannigfach aus dem Auslande
einführte.
Weil aber Holz für das in England selbst ver-
hüttete Erz als Feuerungsstoff noch immer fast
ausschließlich verwendet wurde, klagte ein Parla-
mentsbericht des Jahres 17 19: „Die Verwüstung
der Wälder durch das Plisengewerke in den Graf-
schaften Warwick, Stafford, Hereford, Monumuth,
Gloucester und Salop ist gar nicht zu beschreiben.
Wenn nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen wird,
unser Holz vor diesen verschlingenden Öfen zu
schützen, so wird kein Splitter mehr übrig bleiben
für die königliche Marine oder für die Handels-
schiffe." Die Ausfuhr von Eisen wurde verboten,
seine Einfuhr erlaubt. Das Vorurteil gegen Stein-
kohle blieb, denn „sie entwickle giftige Dämpfe,
welche nicht nur der Gesundheit schädlich seien,
sondern auch den Gesichtsteint verderben". Hof-
staat und Parlament wünschten sich davor zu
schützen, so daß mindestens 10 Meilen rund um
Westminster und den Tower keine Steinkohlen-
gase entwickelt werden sollten. In der Provinz
aber blieb schließlich nichts anderes übrig, da der
Holzverbrauch sonst allzu groß geworden wäre.
Verbrauchte doch eine einzige Eisenhütte in
Lamberhurst, obwohl sie wöchentlich nur 5 Tonnen
Eisen erzeugte, jährlich 200 000 Klafter Holz, dar-
unter herrliche Eichen.
Inzwischen ist die Waldverwüstung weiter fort-
geschritten, obwohl seit dem 18. Jahrhundert die
Kohle als Feuerungsmaterial das Holz stark ver-
drängt hat. Immerhin wird mfolge des überaus
konservativen Sinnes der Engländer vielfach noch
in Öfen (namentlich Kaminen) Holz gefeuert, wo
man auf dem Festlande nur Kohle in die Öfen
schüttet. Auch hat die Verwendung des Holzes
zu zahlreichen Gebrauchsgegenständen, die man
früher nicht kannte oder von denen man doch
nur sehr geringe Mengen nötig hatte, zu weiterem
starken Holzverbrauch geführt. Und wenn auch
die Tatsache, daß der Grundbesitz zum nicht un-
erheblichen Teil in den Händen jener überreichen
') Ich enti
Scherzt
), S. 14 ff.
e diese Angaben dem Buche Dr. K
Weltindustrien. (Stuttgart, Julius Ma
286
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Adeligen ist, die sich die Erhaltung landschaft-
licher Schönheiten etwas kosten lassen können,
nicht selten dazu beitrug, einzelne Wälder am
Leben zu lassen, so sind doch andererseits häufig
rücksichtsloser Waldverkauf und Holzschlag zu
beobachten gewesen.
Irland nun gar ist schon im 17. und mehr noch
im i8. Jahrhundert in einer Raubbaupolitik unver-
antwortlichster Art der prächtigen Waldungen be-
raubt worden, die es bis dahin schmückten. Nach
den blutigen Kriegszügen Cromwells wurden sie
von den englischen Gewaltherren niedergehauen,
entweder um verhältnismäßig geringen Erlös aus
dem Holzverkauf zu ziehen, oder um Feuerungs-
stoff für die britischen Gewerbe zu liefern.
Der Wert der alljährlich nach England ein-
geführten Holzmenge beläuft sich auf 36 Millionen
Pfund Sterling. Ein Bericht des Landwirtschafts-
ministeriums sagte vor einigen Jahren darüber:
Die durchschnittliche jährliche Holzeinfuhr Eng-
lands stellt mehr als den Gesamtwert des in
England und Wales wachsenden Holzes dar, ein-
schließlich des Wertes der Landflächen, auf denen
es steht.
Bezahlte England schon vor dem Kriege
für die Einfuhr von Holz und Holzpapier-
masse aus dem Ausland die gewaltige Summe
von etwa 700 Millionen Mark, so hat es im Kriege
dafür noch erheblich mehr opfern müssen. Was
es militärisch an Hölzern aller Art braucht, kommt
ihm außerordentlich teuer zu stehen — und der
geringe Wald, der überhaupt noch vorhanden ist,
scheint dafür zum großen Teil geopfert zu
werden.
Die Wie dera ufforstu ngspläne, die in
England vor dem Kriege wiederholt gehegt
wurden, werden nach dem Friedensschluß
noch schwerer durchzuführen sein. Als Eng-
land in den Krieg ging, war etwa der 20. Teil
seines Bodens mit Wald bedeckt. Davon zerstört
es nun durch Raubbau noch einen weiteren be-
trächtlichen Teil.
Kleinere Mitteilungen.
über Infusorienerde (Bergmehl). In der Jetzt-
zeit, in welcher die Nahrungsmittelfrage und
die Frage der Ersatznährstoffe eine so große
Rolle spielen, dürfte es von Interesse sein eines
wohl nicht sehr bekannten Mehlstreckungsmittels
Erwähnung zu tun, des sogenannten Bergmehls,
das in Jahren der Not zu verschiedenen Zeiten
und in verschiedenen Gegenden als Nahrungs- be-
ziehungsweise Sättigungsmittel für Menschen und
Tiere verwendet wurde. ^) Das Bergmehl ist
wesentlich ein Produkt von Protozoen und besteht
zu einem großen Teil aus Protozoenleibern.
Es ist eine mehr oder minder weiße mine-
ralische Substanz, welche als lockeres, ziemlich
feines Pulver gewöhnlich in den oberen Berg-
schichten der verschiedenen Weltteile vorkommt.
Es ward z. B. im nördlichen Sibirien, in Lappland,
in der Nähe von Santa Flora in Italien und auf
Isle de France gefunden. In Schweden, wo es
ganz besonders massenhaft auftritt, mischten die
Einwohner dasselbe schon seit langer Zeit mit
Mehl und buken Brot daraus. Bei vollkommenen
Mißernten wurde das Bergmehl auch ohne alle
Zutat genossen oder man vermischte es mit zer-
stossener Baumrinde. Von den nomadisierenden
sibirischen Jagdvölkern erzählen Reisende, daß sie
ebenfalls sich dieses Mehlersatzes bedienten.
Weiter wird berichtet, daß im Jahre 1S32 die
Einwohner der Gemeinde Degernae an der lapp-
ländischen Grenze sich während der Zeit einer
Nahrungsmittelnot dieses Bergmehls zum Brot-
backen bedienten.
Berzelius (Joh. Jak. Freiherr von, geb. 1779
zu Vävfersunda Sorgard, Schweden) untersuchte
ein von der lappländischen Grenze gesammeltes
Bergmehl bezüglich der darin enthaltenen Infu-
sorien und stellte fest, daß von 22 der darin ent-
haltenen Infusorienarten noch 3 den jetzt lebenden
glichen; diese gehörten den Bacillarien an und
waren von der Gattung „Navicula" (Schiffchen)
und „Gomphonema" (Keilbäumchen). Teilweise
kommen diese Arten in allen Kieselsintern vor,
zum Teil in diesem und jenem Bergmehl, aber
auch noch in allen stehenden Gewässern Europas.
Die noch lebend nachweisbare „Navicula gracilis"
bildet neben den übrigen Arten derselben Gattung
die Hauptmasse des „Mehles", welches demnach
in süßen Gewässern entsteht.
') So z. B. im dreifiigjährigen Kriege. Auch wird es z. B.
in den Annalen von WiUenberg in den Jahren 1719 — 1733
erwähnt.
Retzius (geb. 1796 zu Lund in Schweden)
untersuchte dieses „Bergmehl" chemisch und
fand darin einen geringen Teil organischen Stoffes
und neben anderen Mineralsubstanzen einen großen
Teil Kieselerde. Er sandte auch Bergmehl an
Ehrenberg, und es ergab sich bei der Unter-
suchung, daß dasselbe fast ausschließlich aus Kiesel-
panzern von Bacillarien, aus einem geringen Quan-
tum kieseliger Nadeln oder Mußschwämme und
aus einem noch kleineren Anteil Blütenstaub von
Nadelbäumen der Pinus-Gattung bestand.
Auch wurde zu seiner Zeit am südlichen Rand
der Lüneburger Heide ein ausgedehntes Infusorien-
lager entdeckt und hat man zufolge der Mitteilung
des Präsidenten des Landwirtschaftlichen Provin-
zialvereins für das Fürstentum Lüneburg, des
Obersten von Hammerstein, Grabungen vorge-
nommen, bei denen man auf große Lager von
„Erdmehl" stieß.
N. F. XVI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
287
Eine genaue Analyse des Bergmehls steht mir
leider nicht zur Verfügung, da mir noch kein
solches behufs Vornahme von Analysen zugegangen
ist. Nach Berzelius ist aber, wie oben schon
erwähnt, der Gehalt des Bergmehls an orga-
nischen Substanzen ein recht geringer. Kann
also das Bergmehl wegen dieses geringen Gehaltes
an organischen Nährstoffen auch nicht als ein
Nahrungsmittel angesehen werden, so ist es doch
ein annehmbarer und wegen seines Gehaltes an
Mineralsalzen nicht ganz wertloser und wie die
Erfahrungen in früheren Zeiten und in gewissen
Gegenden dargetan haben, ein unschädlicher bzw.
nützlicher Füllstoff für den Verdauungskanal, der
in Zeiten großer Not allenfalls als Mehlstreckungs-
mittel in l""rage kommen kann. Wir befinden uns
jedoch glücklicherweise nicht in solcher Not.
Anna Hopfife.
Reflexionen über zwei neue Schizophyceen-
symbiosen. In dem 19 14 erschienenen Biologen-
kalender von Thesing hat Dr. Vouk das
Problem der Symbiosen behandelt. Abgesehen
von der Erscheinung des Lichenismus sind nach
dieser Darstellung die Schizophyceen nur noch in
jenen Fällen als Symbionten bekannt, die als
Anabaenasymbiosen der grünen Pflanzen be-
zeichnet werden. Der am genauesten untersuchte
Fall dieser Kategorie, die Symbiose von Anabaena
in Azolla hat auf Grund experimenteller Beobach-
tungen zu dem Ergebnis geführt, daß die Anabaena
der Azolla Stickstofifverbindungen liefert und da-
für andere Stoffe, z. B. Kohlehydrate empfängt.
Seit kurzem sind nun zwei weitere Pralle von
Schizophyceensymbiosen bekannt geworden, die
insofern einen ganz neuen, von Vouk noch
nicht behandelten Typus darstellen, als es sich
um das intrazelluläre Vorkommen von Blaualgen
in nicht grünen Organismen handelt, ein Vor-
kommen, das Veranlassung gibt, übei die von
Vouk behandelte Hypothese der Synthese von
Organismen als theoretische Folgerung des
Symbioseproblems weitere Überlegungen anzu-
stellen.
Bevor ich auf die beiden neuen Fälle von
Symbiose eingehe, sei die eben angedeutete
Hypothese kurz berührt. Schon Schimper kam
auf die Idee, die Zelle selbst mit ihren organi-
sierten Inhaltskörpern als einen symbiontischen
Komplex aufzufassen. Für die Chromatophoren
hat Mereschowsky diesen Gedanken näher
ausgeführt und als Stützen seiner Hypothese
folgende Gesichtspunkte ins Treffen geführt:
1. Die Kontinuität der Chromatophoren.
2. Die hochgradige Unabhängigkeit der Chroma-
tophoren vom Zellkern.
3. Die Analogie zwischen Chr. und Zoochlorellen.
4. Das Vorkommen solcher Organismen, die
man als freilebende Chromatophoren deuten könnte.
5. Cyanophyceen leben tatsächlich als Sym-
bionten im Plasma.
Auf den weiteren Ausbau dieser Hypothese
durch Famintzin braucht hier nicht weiter ein-
gegangen zu werden, da unsere beiden Fälle der-
art sind, daß die Symbionten als Ersatüchromato-
phoren aufgefaßt werden könnten.
Das erste Beispiel betrifft die bereits im Jahre
1900 von Lauterborn entdeckte Paulinella
chromatophora, einen beschälten „Rhizopoden
mit blaugrünen chromatophorenartigen Ein-
schlüssen", wie der Entdecker in der Überschrift
der ersten über diesen Organismus veröffent-
lichten Abhandlung die Paulinella bezeichnete.
Lauterborn selbst hat, nachdem er aus der
Regelmäßigkeit des Auftretens dieser Inhalts-
körper in den 200 untersuchten Individuen und
aus dem Mangel derartiger Blaualgen im Wohn-
gewässer der Paulinella die Möglichkeit, es handle
sich um aufgenommene Nahrungskörper au.sge-
schaltet hatte, sich mit der Annahme, es handle
sich um zu Chromatophoren gewordene sym-
biontische Blaualgen auseinandergesetzt. Er sagt
diesbezüglich: „Vielleicht aber ist übrigens der
Unterschied zwischen einer symbiotisch im Plasma
vegetierenden Alge und einem Chromatophor gar
nicht so bedeutend." Sicher ist nach seinen Unter-
suchungen, daß die blaugrünen Körper die Rolle
von Chromatophoren spielen, indem sie die Pauli-
nella durch ihre Assiniilationsprodukte ernähren.
Dies ergibt sich schon daraus, daß kein einziges
Exemplar im Protoplasma geformte, von außen
aufgenommene Nahrungskörper finden ließ. Im
Grunde genommen meint Lauterborn wäre
bei der ganz abnorm engen Gehäusemündung die
Aufnahme von geformter Nahrung von vornherein
unwahrscheinlich.
Die Beobachtungen Lauterborn 's haben in
den letzten Jahren mehrfach Bestätigung erfahren,
so daß die Annahme, Lauterborn 's Mitteilungen
beträfen etwa nur eine lokale Erscheinung, aus-
geschlossen ist. H immer hat im Schwarzsee
bei Kitzbühel in Tirol Paulinella wiedergefunden
und beobachtete im Plasma derselben viele kleine
lichtbrechende Körperchen, die die Ölreaktion
auf Osmiumsäure gaben. Da auch an diesem
Material die Möglichkeit der Aufnahme von ge-
geformter Nahrung ausgeschlossen wurde, kann
dieses Öl wohl nur als Produkt der Chromato-
phorentätigkeit angesehen werden.
Der zweite Fall, der uns hier beschäftigen soll,
wurde kürzlich von Fritz von Wettstein in
der österr. botan. Zeitschr. Jahrg. 191 5 unter dem
Titel: „Geosiphon, eine neue, interessante
Siphonee", veröffentlicht. Auf einem mit Antho-
ceros und Riccia bewachsenen Krautfeld nächst
Kremsmünster in Oberösterreich entdeckte
VVettstein eine Botrydiumähnliche Alge, die
sich von Botrydium sogleich durch den Mangel
der Chromatophoren unterschied. Der Chroma-
tophorenmangel hatte bereits jene Begleiter-
scheinungen gezeitigt, welche Pilze von Algen
physiologisch trennen, Geosiphon besitzt keine
Cellulosenmembran, sondern eine Chitinhaut. Der
288
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
Verlust der Chromatophoren scheint ausgeglichen
durch das regelmäßige Auftreten einer Blaualge
in Geosiphon, die von Wettstein als Nostoc
symbioticum beschrieben wird und die gleich den
blauen Inhaltskörpern von Paulinella bisher frei-
lebend noch nicht angetroffen wurde. Daß dieser
Nostoc assimiliert und daß Geosiphon dadurch
erhalten wird, ergab die Möglichkeit, den neuen
Organismus auf Knop'scher Nährlösung zu kulti-
vieren.
So verschieden die beiden Fälle Paulinella und
Geosiphon auch sind, sie zeigen doch einen ge-
meinsamen Zug, der zu Reflexionen veranlaßt. In
beiden Fällen handelt es sich augenscheinlich um
sekundär chlorophyllfrei gewordene Lebewesen,
die den Verlust ihrer ursprünglichen assimila-
torischen Inhaltskörper durch Symbiose mit
Schizophyceen kompensiert haben. Bei Geosiphon
ist da^ wohl im vorhinein außer Zweifel, bei
Paulinella bedarf diese Behaupttmg vielleicht noch
einer Begründung. Durch Paschers Unter-
suchungen hat sich immer mehr die Überzeugung
Bahn gebrochen, daß die rhizopodiale Organisation
nicht der Ausdruck einer phylogenetisch einheit-
lichen Gruppe ist, sondern eine morphologische
Anpassung an eine bestimmte Lebensweise, be-
sonders Ernährungsweise. Die verschiedensten
Algen, zumal aber Flagellatenreihen können vor-
übergehend oder dauernd in ein rhizopodiales
Stadium übergehen, oft noch in ihrer anderen
Organisation oder in ihren Stoffwechselverhält-
nissen ihre Abstammung verratend. Selbst ge-
häusebildende Rhizopoden sind von dieser Er-
scheinung nicht ausgeschlossen , wie die von
Chrysomonaden ableitbare Gattung Chrysothy-
lakion zeigt.
So dürfte die Annahme, Paulinella hätte ehe-
mals ebensogut Chromatophoren besessen, auf
keine allzugroßen Schwierigkeiten stoßen. Daß
nun heute beide Organismen Blaualgen als
Chromatophoren verwenden, könnte vielleicht
durch Übertragung des Dollo'schen Gesetzes
auf physiologische Vorgänge in der Stammes-
geschichte unserem Verständnis näher gebracht
werden. Wenn wir die Annahme machen
dürften, daß die im Verlauf der Stammes-
geschichte verloren gegangenen Chromatophoren
ebensowenig reaktiviert werden können, wie
irgendein Organ, so müßte auch bei unseren
Rhizopoden bzw. unserer Siphonee nach Verlust
der uisprünglichen Chromatophoren ein ganz
neuer Symbiont die Assimilation übernehmen,
wenn die betreffende Form ihre tierische Lebens-
weise wieder aufgibt. Dieser Ausweg wäre ge-
geben, wenn eine Symbiose mit einer Blaualge
einträte, wodurch allerdings auch der ganze Stoff-
wechsel in neue Bahnen gelenkt würde, wie die
Bildung von Olkügelchen im Protoplasma von
Paulinella und Geosiphon, bei letzterem von
Wettstein mittels Osmiumsäure und Alkanna-
tinktur nachgewiesen, zeigt.
Wohl bin ich mir dessen bewußt, daß die
Zusammenstellung der beiden genannten Orga-
nismen als Beispiele eines gleichartigen phylo-
genetischen Entwicklungsganges und die Heran-
ziehung des Dollo'schen Gesetzes zur Erklärung
desselben bereits in das Gebiet der gewagten
Hypothesen gehört. Immerhin v'erdienen Pauli-
nella und Geosiphon als Vertreter eines besonderen
von Vouk noch nicht berücksichtigten Typus
einer Symbiose sowie als weitere Stützen der von
Schimper, Meresch o wsky und Lauter-
born aufgestellen Lehre von der Chromato-
phorensymbiose besondere Beachtung.
Dr. V. Brehm.
Einzelberichte.
Physiologie Leber und Eiweißstoffwechsel.
Manche Befunde ließen es schon seit langem als wahr-
scheinlich erscheinen, daß die Leber Beziehungen
zum Eiweißstoffwechsel besitzt. Es ist nun Berg
gelungen, mit aller Sicherheit nachzuweisen, daß
diese Beziehung der Leber zum Eiweißstoffwechsel
wirklich vorhanden ist, und Berg ist es gleich-
zeitig auch geglückt, den Mechanismus dieser Be-
ziehungen aufzuklären und auf diese Weise unsere
Kenntnis von der Physiologie der Leber in ganz
außerordentlichem Maße zu vertiefen. Die erste
Mitteilung von Berg über diese Frage datiert
aus dem Jahre 191 2 '). Berg fand in den Leber-
zellen vom Salamander homogene Tröpfchen, die
'■) W. Berg, Über spezifische, in den Leberzellen nach
lüweißfütlerung auftretende Gebilde. Anatom. Anzeiger,
42. Bd., 1912.
sich mit Alkohol fixieren lassen und sich mit
Pyronin leuchtend rot färben. Dieser Befund war
um so auffälliger, als er nicht bei allen unter-
suchten Exemplaren festzustellen war. Bei Tieren,
die längere Zeit in der Gefangenschaft gehalten
wurden und gehungert hatten, waren die Leber-
zellen von diesen Tröpfchen völlig frei (Abb. i u. 2).
Hin und wieder fanden sich in den Leberzellen
von Tieren, die seit einiger Zeit in der Gefangen-
schaft waren und hungerten, ähnliche Tröpfchen,
die aber vollständig vakuolisiert waren. Es war
nun die Frage zu entscheiden, was diese Tröpfchen
zu bedeuten haben. Die Tatsache, daß sie sich
in Alkohol fixieren lassen, deutet von vornherein
darauf hin, daß sie nicht aus Fett bestehen können.
Sie ließen sich nach der Fixation auch nicht mit
Wasser auswaschen, und daraus war wiederum
der Schluß zu ziehen, daß sie keine Anhäufungen
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
289
von Glykogen darstellen. Schließlich hat Berg schaft gehalten wurden, weist darauf hin, daß
den Nachweis erbracht, daß diese Tröpfchen sich diese Tröpfchen in bestimmten Beziehungen zur
mit Millon'schem Reagens bräunlichrot bis rot Ernährung stehen müssen. Berg fütterte nun
färben, daß sie also aus Eiweiß bestehen.
Salamander, die lange Zeit gehungert hatten, mit
3b. I. Lcbcrzellen von einem frisch gefangenen
Feuersalamander.
Fixation mit 10 "/o Formalin. Färbung mit Methylgrün-
Pyronin. Nach Berg.
Abb. 3. Leberzellen von einem Salamander, der
gehungert hatte und dann mit Casein-|-Glykogen
(resp. Traubenzucker) gefüttert wurde.
Die Zellen sind von den Tröpfchen erfüllt. Nach Berg.
m
m
i<^'
^i^
m .m
^
«
^
^ - •^- ■ 0
Abb. 2.
gehaltenen Salamander.
gefangen
Hehandlu
ing wie in Abb. I. Man sieht hier kein.
i homogenen
Tröpfche
n in den Zellen. Die Zellen sind dei
als in .\bb. I. Nach Berg,
atlich kleiner.
Nach Berg.
Die schon erwähnte Tatsache, daß man die Casein oder mit Froschfleisch und fand dann
Tröpfchen in den Leberzellen nur dann findet, diese Tröpfchen regelmäßig in den Leberzellen
wenn die Tiere frisch gefangen sind, nicht aber vor (.\bb. 3). Wurden die Tiere dagegen mit
bei Tieren, die schon lange Zeit in der Gefangen- Kohlehydraten, z. B. mit Zucker oder mit Glykogen,
290
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
und mit Fetten, z. B. mit OUvenöl, gefüttert, so
kam es niemals zur Entstehung der Tröpfchen
in den Leberzellen von Tieren, die bisher ge-
hungert hatten (Abb. 4). Genau denselben Be-
fund konnte Berg an Fröschen, Kaninchen und
Mäusen erheben. Die Befunde sagen uns, daß bei
Fütterung mit Eiweiß Eiweißtröpfchen in den
Leberzellen entstehen. Das Vorkommen dieser
Ei weißt! öpfchen in den Leberzelien hat Berg
auch für den Menschen wahrscheinlich gemacht.
Welch eine Rolle im Eiweißstoffwechsel soll
man nun diesen Eiweißtröpfchen in den Leber-
zellen zusprechen? Bei der Beantwortung dieser
Frage geht Berg von einer Reihe von Beobach-
tungen chemischer Natur aus. Berg und andere
haben gefunden, daß das Verhalten von genuinen
Eiweißstoffen, wie Albumin, Globulin und Casein,
und das der Eiweißabbauprodukte, wie Pepton
und Albumose, gegenüber den üblichen Fixations-
mitleln ganz verschieden ist. Die genuinen Eiweiß-
stofife fallen bei der Behandlung mit den üblichen
Fixationsmitteln in Form eines Niederschlages
aus, der aus Teilchen zusammengesetzt ist, die
an der mikroskopischen Grenze der Sichtbarkeit
stehen. Das Bild eines solchen Niederschlages
bietet uns das fixierte Protoplasma dar. In ganz
anderer Form fallen bei der Behandlung mit
Fixationsmitteln die Eiweißspaltprodukte, wie
Pepton und Albumosen, aus. Sie bilden kleine
Granula, die mikroskopisch sichtbar sind und die
zudem in I'orm von kleinen Tröpfchen zusammen-
fließen können. Diese chemischen Beobachtungen
lassen sich nach Berg für die Deutung der in
den Leberzellen von gut gefütterten Tieren vor-
handenen Tröpfchen verwerten. Berg ist der
Meinung, daß man in Analogie mit diesen Be-
obachtungen die Tröpfchen in den Leberzellen
als vom Protoplasma der Zelle verschieden auf-
fassen muß. Sie haben Eiweißnatur, sie sind aber
nicht Protoplasma - Eiweiß. Und Berg will in
ihnen Speichern ngsprodukte von Eiweiß
in den Leberzellen sehen.')
Wir haben also nach den Befunden von Berg
alle Veranlassung, uns die Beziehungen der Leber
zum Eiweißstoffwechsel in ähnlicher Weise vor-
zustellen wie die Beziehungen der Leber zum
Kohlehydrat- und Fettstoffwechsel. In den Leber-
zellen entstehen bei Eiweißfütterung Reservedepots
von Eiweiß, aus denen dann das gespeicherte
Material von den anderen Zellen des Körpers
geholt werden kann, wenn Bedarf nach Eiweiß
vorhanden ist.
Auf Grund der mitgeteilten Befunde hat
Berg in Gemeinschaft mit seinem Schüler
Cahn-Bronnerein anderes bedeutsames Problem
des Eiweißstoffwechsels angegriffen. ^) Wir wissen
') Vgl. Berg, Über den mikroskopischen Nachweis der
Eiweifispeicherung in der Leber. Biochem. Zeitschr., Bd. 61,
1914.
2) W. Berg und C. Cahn -Br onn er , Über den
mikroskopischen Nachweis der Eiweifispeicherung in der
I,eber nach VerfüUerung von Aminosäuren. Biochem. Zeitschr.,
Bd. 61, 1914.
heute aus den Untersuchungen von Otto Loewi,
Abderhalden und seinen Mitarbeitern, daß der
tierische Organismus imstande ist, eine Synthese
von Eiweiß aus den Spaltungsprodukten der Eiweiß-
stoffe vorzunehmen. Wir sind iinstande, Tiere
in Stickstoffgleichgewicht und sogar zu Eiweiß-
ansatz zu bringen, wenn wir ihnen auch keine
Spur von Eiweiß zuführen, sondern sie aus-
schließlich mit Aminosäuren füttern. Wenn
nun bei der Fütterung von Eiweiß
Eiweißtröpfchen sich in den Leber-
zellen anhäufen, so muß dasselbe auch
bei der Fütterung mit Aminosäuren
entstehen.
Der positive Ausfall des Versuches, durch
Verfütterung von Aminosäuren dasselbe mikro-
skopische Bild zu erzielen wie bei der Verfütterung
von Eiweißstoffen, wäre uns ein erneuter und
absolut sicherer Beweis für die Richtigkeit der
von Abderhalden entwickelten Vorstellungen
über den Eiweißstoffwechsel. Berg und Cahn-
Bronner fütterten Salamander und Kaninchen,
Abb. 5. Leberzellen von einem Salamander, d
17 Monate gellungert hatte und dann mit Ereptc
-fGlykogen gefüttert wurde.
Nach Berg und Cahn-Bronner.
.\bb. 6. Leberzellen von einem Kaninchen, das
60 Stunden gehungert hatte und dann mitErepton
-j- Kohlehydraten gefüttert wurde.
Nach Berg und Cahn-Bronner.
die längere Zeit gehungert hatten, mit Erepton,
d. h. mit Rindfleisch, das durch Verdauung mit
Pepsinsalzsäure, Trypsin und Erepsin bis zu den
Aminosäuren aufgespalten ist und das man von
den Höchster P"arbwerken beziehen kann. Schon
nach einer Dauer von zwei Fütterungstagen ge-
lingt es, bei Salamandern die erwähnten mit
Millon'schem Reagens sich braunrot bis tot
färbenden Tröpfchen nachzuweisen (Abb. 5 u. 6).
Die Tröpfchen unterscheiden sich in keiner Be-
ziehung von jenen, die man bei gut genährten
Tieren oder bei Tieren, die mit Eiweiß gefüttert
wurden, in den Leberzellen nachweisen kann.
So waren durch die Versuche von Berg und
Cahn-Bronner mit aller Sicherheit die Vor-
stellungen bestätigt, die A b d e r h a 1 d e n auf Grund
N. F. XVI. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
291
seiner zahlreichen Versuche über den Eiweiß-
stoffwechsel entwickelt hat.
Wir dürfen nach alledem die Leber als
ein Speicher ungsorgan für Eiweiß auf-
fassen. Es ist nun von großem Interesse, diese
Befunde von Berg und Cahn-Bronner
manchen neuen Befunden über die Resorption
der bei der Verdauung von Eiweiß im Darme
entstehenden Aminosäuren gegenüberzustellen.
Wir wissen heute, daß die Aminosäuren als solche
ins Blut gelangen können. Abderhalden und
Abel in Amerika haben den sicheren Nachweis
erbracht, daß das Blut Aminosäuren enthält.
Trotzdem findet eine Anreicherung des Blutes mit
Aminosäuren während der Verdauung und Resorp-
tion nicht statt. Es wäre aber kaum wahrscheinlich,
daß alle resorbierten Aminosäuren sofort an die
Stellen ihres Verbrauches in den Zellen des Körpers
hingelangen. Darum war von vornherein die An-
nahme gegeben, daß irgendwo im Organismus
Aminosäuren aus dem Blute abgefangen werden, um
zum Teil zur Synthese von Vorratseiweiß
Verwendung zu finden. Abderhalden hatte,
zunächst noch in hypothetischer Weise, darauf
hingewiesen , daß man diese Funktion des Ab-
fangens von Aminosäuren und der Synthese von
Vorratseiweiß vielleicht der Leber zusprechen
dürfe. Zu dieser Annahme passen nun ganz aus-
gezeichnet die Befunde von Berg und Cahn-
Bronner, die uns ja, wie wir gesehen haben,
mit Sicherheit sagen, daß die Leberzcllen im-
stande sind, Aminosäuren, die aus dem Darm
ins Blut gelangen, zu einer Synthese von Eiweiß
zu verwenden, um dieses in Form einer Vorstufe,
wenn man will, von zellspezifischem Protoplasma-
eiweiß zu speichern.
So sind uns die ausgezeichneten Untersuchungen
von Berg und Cahn-Bronner ein neues Glied
in der großen Kette der Beweise, die uns die
Physiologie dafür erbracht hat, daß unser Organis-
mus einer weitgehenden Synthese von hochmole-
kularen Eiweißstoffen aus den Spaltungsprodukten
des Eiweißes fähig ist. Und ebenso dafür, daß
im Organismus indifferente Vorstufen von Eiweiß-
natur, deren Vorhandensein Abderhalden auf
Grund seiner eigenen Untersuchungen schon
früher postuliert hatte, gespeichert werden, in-
differente Eiweißstoffe, die für die einzelnen
Zellen des Organismus je nach Bedarf als Bau-
material verwendet werden können, indem sie zu
spezifischem Organeiweiß oder spezifischem Zell-
eiweiß umgebaut werden. Alex. Lipschütz.
Zoologie. Neue Untersuchungen über die
Nahrung des Ohrwurmes. Da der Ohrwurm
(Forficula auricularia L.) ein weitverbreitetes Insekt
ist, das dem Gärtner, Landwirt, Winzer, Imker
auf Schritt und Tritt unter die Augen kommt
und zwar häufig genug unter Verhältnissen wie
in Blumen, Obst, Ähren usw., die es schwer
verdächtigen, erscheint es von ganz besonderem
Interesse zu erfahren , ob der braune Bursche
Nutzen oder Schaden stiftet. Diese Frage zu be-
antworten ist aber ganz besonders schwierig, be-
sonders deshalb, weil der Ohrwurm ein aus-
gesprochenes Nachttier ist, dessen unmittelbare
Beobachtung sehr schwer ist. Solche Beobach-
tungen haben nämlich nur dann Wert, wenn die
Tiere wirklich bei der Nahrungsaufnahme ange-
troffen werden. Ohne Beweiskraft sind unbedingt
solche Fälle, wo man das Tier nur in der Nähe
von Fraßstellen findet, wohin es sich vielleicht
nur zur Tagesruhe begeben hat. Überhaupt darf
man beim Ohrwurm Versteck und Nahrung nicht
so ohne weiteres in Beziehung zueinander bringen.
Solche unzulässigen Schlüsse sind aber oft gemacht,
und die Folge ist auch, daß die Urteile der
Forscher und Praktiker hier, wie selten bei einem
anderen Tiere, weit auseinandergehen. Die vielen
sich widersprechenden Urteile machten es bisher
unmöglich klar und vorurteilsfrei zu sehen und
zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen.
Um so verdienstvoller sind daher neue Be-
mühungen von Prof. Dr. G. Lüstn er- Gei=enheim
(Zentralblatt für Bakteriologie. IL Abt. Bd. 40,
S. 4S2 — 514) in dieser weite Kreise angehende
Angelegenheit endlich Klarheit zu schaffen. Wie
notwendig das war, mögen einige der vielen An-
gabe über das Tier beweisen, die sich in der weit-
zerstreuten Literatur finden.
Da soll der Ohrwurm Zwetschen, Aprikosen,
Birnen, Apfel angehen, Möhrenwurzeln und Steck-
rüben anfressen , Mais- und Roggenkörner aus-
höhlen, halbreife Möhrensamen fressen, Nelken,
Georginen u. a. Zierblumen zerfressen, Honig
naschen. Raupen und Puppen fressen („da er sich
zwischen Blättern mit zugrunde gegangenen
Raupen und Puppen findet"). Auch andere In-
sekten, tote und lebende, soll er nicht verschmähen,
wie Blattläuse, Ameisenpuppen, Puppen von
Schlupfwespen, tote Ohrwürmer, seine eigene
Brut, Kohlweißlingpuppen, Erdflöhe, Goldafter,
Ringelspinner, Schwammspinner usw.
Er soll ferner zarte Bohnen- und Petersilien-
blätter annagen und Kartoffelbüsche völlig kahl
fressen. Er soll zwar meist pflanzliche Stoffe ge-
nießen, aber gelegentlich auch tierische Kost nicht
verachten. Einer hält ihn für „einen unter nor-
malen Verhältnissen fast ausschließlichen Tierstoff-
fresser". Einer vermutet in ihm einen „reinen
Pflanzenfresser". Wieder einer (Reh) urteilt: „In
der Nahrung ist der Ohrwurm äußerst polyphag:
lebende und tote, pflanzliche und tierische Stoffe,
daher das Urteil je nach dem Beobachter so sehr
verschieden ist."
Die Ansichten über seinen Nutzen und Schaden
gehen bei dieser Mannigfaltigkeit der Angaben
über seine Nahrung naturgemäß auch weit aus-
einander. So kommt von Schilling zu folgen-
dem Ergebnis: „Der Schaden, den dieses Insekt
. . . hervorruft, wiegt auch nicht im entferntesten
seinen ungeheuren Nutzen für die Allgemein-
heit auf . . ." Andere wieder halten ihn, besonders
292
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
infolge seiner aiigebliclien Vorliebe für Obst, Ge-
müse, Blumen „für einen großen Schädling", der
möglichst auszurotten sei. Andere wieder sehen
in ihm einen „harmlosen Burschen", der höchstens
mal lästig werden könne.
Der Weg nun, den Lüstner einschlägt, um
in dieses VVirrwarr der Meinungen System zu
bringen, ist die Methode der Magen Unter-
suchungen, oder in diesem Falle besser der
Kropfuntersuchungen. Es ist dies eine Forschungs-
methode, die sich mehr und mehr auch im
Insektenstudium bewährt, nachdem sie längst mit
gutem Erfolg z. B. bei Untersuchungen über die
Nahrung der Vögel oder auch anderer Tiere an-
gewendet worden ist. Diese Art, die natürliche
Gesamtnahrung sicher festzustellen, ist ge-
legentlichen Beobachtungen oder gar Fütterungs-
versuchen weit überlegen, denen übrigens eine
ganze Reihe der oben zitierten, sicher falschen
Urteile entstammen, und die mehr oder weniger
nur unter Zwangsverhältnissen vorgenommen
werden können. Untersuchungen des Verdauungs-
apparates müssen aber unbedingt, wenn nur eine
genügend große Anzahl gemacht werden, zu
richtigen Ergebnissen führen, an „denen nicht mehr
gedreht und gedeutelt werden kann".
Im einzelnen verfuhr Lüstner nun wie
folgt:
Es wurden Ohrwürmer in ausgelegten Obst-
madenfallen an möglichst verschiedenen Örtlich-
lichkeiten gefangen und die Tiere möglichst früh-
morgens, ehe noch eine zu weitgehende Ver-
dauung eingesetzt hatte, in Äther getötet. Dann
wurde der Kropf — hier ist die Nahrung besser
als im Magen zu erkennen — durch Zerreißen
des Tieres freigelegt, in einem Tropfen Wasser
sauber ausgedrückt und mikroskopiscli untersucht.
Auf diese Weise konnten folgende Untersuchungs-
ergebnisse gewonnen werden.
Zunächst wurden 30 Tiere, die Mitte August
an einem zwischen Kartoffeln stehenden Birnbaum
erbeutet waren, untersucht. Von diesen enthielten
6 nur Pflanzenstoffe, i nur Tierstoffe, 19 vorwiegend
Pflanzenstoffe und 3 endlich vorwiegend Tier-
stoffe. Die Pflanzennahrung stand also durchaus
an erster Stelle.
Unter den lebenden Pflanzenstoffen, die fest-
gestellt werden konnten, fanden sich hauptsächlich
Schwärzepilzsporen und -mycelien (Pleospora und
Cladosporium), Rußtau (Capnodium salicinum)
und die auf Bäumen häufige Alge (Cystococcus
humicola). Letztere häufig allein. Ferner fanden
sich Palissadengewebe und Haare nicht bestimm-
barer Blätter, Kartoffelblätter, Moosblättchen,
Pollenkörner, wahrscheinlich von Ampelopsis
hederacea und Veitschii, andere Pilzsporen,
Pflanzenhaare. An toten Stoffen waren vertreten:
Steinzellen aus Birnen, Fruchtfleisch (?), Teile
von Rinde, Borke und Hoiz, Pflanzenhaare. An
Tierstoffen schließlich fanden sich : Insektenreste,
Beine, Fühler, Flügelteile, Facettenaugen, Milben,
Schildläuse (Diaspis ostreaeformis).
Überblickt man diese P'unde und berücksichtigt
auch ihre Verteilung auf die verschiedenen Tiere,
lassen sie allerhand wichtige Schlüsse zu: Die
Ohrwürmer nehmen trotz der großen Anzahl ihnen
zur Verfügung stehender Stoffe doch nur be-
stimmte auf; sie treffen also eine Nahrungswahl.
Da der Kropfinhalt der zu einer Gesellschaft ge-
hörigen Tiere derselbe ist, darf man schließen,
daß die tagsüber beisammensitzenden Individuen
auch nachts gemeinsam auf Nahrungssuche gehen.
Die große Menge abgestorbener Pflanzenstoffe
deuten an, daß sie insonderheit ihre Nahrung
bilden. Sehr bemerkenswert war, daß sich nur
bei einigen Kartoffelblätter fanden, obgleich der
Baum mitten im Kartofielfeld stand. Man darf
daraus auf eine individuelle Bevorzugung gewisser
Stoffe schließen. Dasselbe geht auch aus der
Tatsache hervor, daß in einigen nur Tierstoffe an-
zutreffen sind.
Ferner wurden 30 Tiere untersucht, die Mitte
bis Ende Oktober an einem zwischen Weiß- und
Rotkohl stehenden Birnbäume gefangen wurden.
In 16 fanden sich nur Pflanzenstoffe, in i nur
Tierstoffe. In 12 überwiegen die Pflanzenstoffe,
in I die Tierstoffe. Bemerkenswert war, daß in
keinem Tiere Kohireste gefunden wurden. Neu
kamen hinzu Funde von Blütenteilen, Pollen-
körnern und scheinbar auch Biatteilen von Dahlien.
Da sich Dahlien nur in 60 — 70 m Abstand vom
Fangorte fanden, darf man daraus schließen, daß
die Tiere bei der Nahrungssuche längere Wande-
rungen unternehmen. Im übrigen zeigen auch
diese Untersuchungen, daß der Ohrwurm abge-
storbene Pflanzenteile mit daransitzenden Pilzen
und Algen — wieder Cystococcus — besonders
bevorzugt. Von den Tierstoffen muß ange-
nommen werden, daß sie zum großen Teil unbe-
absichtigt aufgenommen wurden.
Dann liegen von einer Partie von 33 Tieren
Untersuchungen vor, die Ende August teils an
einem zwischen Erdkohlrabi und Schwarzwurzeln
stehenden Birnbaum gefangen wurden. In 3 fanden
sich nur Pflanzenstoffe, in 4 vorwiegend Tierstoffe,
und in 26 bildeten Pflanzenstoffe wiederum die
Hauptmasse. Im allgemeinen boten die Kropf-
inhalte dasselbe Bild. Neu war ein Fund von
Aptiden, die auch bei Fütterungsversuchen, die
häufig zur Kontrolle nebenher gingen, als Nahrung
angenommen wurden. Als Ausnahme fanden sich
zum zweiten Male Fruchtfleisch und Steinzellen
von Birnen. Der Rußtau scheint nur des süßen
Honigtaues wegen gefressen zu werden.
Von Mitte bis Ende September wurden sodann
26 Tiere an einem Pfirsichmauerspalier erbeutet.
Von diesen enthielten 5 ausschließlich Pflanzen-
stoffe, I ausschließlich Tierstoffe, bei 19 überwogen,
die Pflanzen-, und bei nur i fanden sich Tierstoffe,
etwa in gleichen Mengen. Hier tritt also die
Tiernahrung ganz erheblich zurück; der Ohrwurm
erscheint fast als reiner Pflanzenfresser. Sehr be-
merkenswert war, daß in 24 von 26 Tieren sich aus-
schließlich oder doch fast ausschließlich Pfirsich-
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
293
blätter fanden. Die Blätter der Spaliere wiesen
auch tatsächlich Fraßspuren auf, so daß man
schließen darf, daß nur fortwährendes Abfangen
der Ohrwürmer in solchen Fällen starke Schäden
verhindern kann, denn sie sind durch diesen Be-
fund mit Sicherheit als große Pfirsichblattliebhaber
erkannt.
Von besonderem Interesse für den Blumen-
züchter sind weitere Untersuchungen von 20 Tieren,
die Ende September und Anfang Oktober in Fallen
gefunden wurden, die an Dahlien angebracht waren.
Von diesen 20 enthielten iS nur Pflanzenstoffe,
bei einer überwogen die pflanzlichen, bei i die
tierischen Stoffe. Wieder ist der Ohrwurm als
fast reiner Pflanzenfresser erkannt. Daß er aber,
wie schon lange vermutet, zu den gefährlichsten
Dahlienschädlingen zu rechnen ist, zeigen die
näheren Feststellungen an den vorgefundenen
Pflanzennahrungsstoffen, denn von den 20 Tieren
enthielten 19 vorwiegend oder ausschließlich
Pollen, Blütenteile oder Blatteile von Dahlien. Die
Pflanzen selbst zeigten zahlreiche Fraßstellen an
Blättern und Blüten.
Ein wesentlich neues Bild schließlich boten
23 Tiere, die an einer von Ampelopsis Veitschii
bewachsenen Hauswand gefangen wurden, denn
in nicht weniger als 1 1 Kröpfen fanden sich nur
Tierstoffe, in 5 nur Pflanzenstoffe, in i überwogen
die Tier-, in 5 die Pflanzenstoffe und in 2 war ein
ungefähres Gleichgewicht vorhanden.
Bemerkenswert ist hier einmal die häufig an-
getroffene große Leere des Kropfes und dann vor
allem das auffallende Überwiegen der tierischen
Nahrung. IVIan darf daraus schließen, daß die
Ohrwürmer an der Hauswand unter wenig
günstigen Bedingungen lebten und in solchen
Fällen zu Tierstoften gegriften haben, um ihren
Hunger zu stillen. Da die Tierreste nicht mehr
zu identifizieren waren, kann nicht sicher ange-
geben werden, ob der Ohrwurm durch die Auf-
nahme dieser Tierstoffe nützlich oder schädlich
wurde. Ersteres scheint aber kaum der Fall zu
sein, denn da nur harte Chitinstoffe gefunden
wurden, nie aber weiche, innere Teile, will es fast
so scheinen, als wenn nur tote Gliedertiere ge-
fressen wurden, die vielleicht den zahlreich vor-
handenen Spinngeweben entnommen wurden. In
5 Fällen fanden sich Pollen von Ampelopsis Veitschii,
was wieder die große Vorliebe des Ohrwurms für
Staubbeutel dartut.
Das beweisen auch zwei Frühjahrsränge (Be-
richt der Kgl. Lehranstalt für Wein-, Obst- und
Gartenbau in Geisenheim für 1914/15 S. 204 ff.).
Es wurden 4 an blühenden Äpfelbäumen und 29
an blühenden Weinreben erbeutete Tiere unter-
sucht. In ihren Kröpfen und Mägen fanden sich
vorwiegend Äpfel- bzw. Rebpollen.
Nach diesen eingehenden Untersuchungen
kommt Lüstner zu sehr bemerkenswerten Er-
gebnissen, die er folgendermaßen zusammenfaßt:
„Auf Grund des Ergebnisses unserer Kropfunter-
suchungen sind wir der Ansicht, daß die Nahrung
des Ohrwurmes je nach seinem Aufenthaltsorte
eine verschiedene ist. Er ist im allgemeinen als
ein Allesfresser in des Wortes weitester Be-
deutung zu betrachten, dessen F'utter unter nor-
malen Verhältnissen vorwiegend aus abgestorbenen
Pflanzenteilen, Rußtau und der auf Bäumen häufigen
Alge Cystococcus humicola besteht. Damit hängt
das häufige Vorkommen von Pilzen und Pilzsporen
in seinem Kröpfe und Magen zusammen. Bei
sich ihm bietender Gelegenheit geht er jedoch
auch lebende Pflanzenteile — Blätter und besonders
Blüten — an und wird dadurch zum Schädling.
Auffallend dabei ist seine besondere Vorliebe für
die Antheren der Staubgefäße.
Tierische Stoffe scheint er meist nur in totem
Zustande zu fressen. Er kann infolgedessen nicht
als Nutzung betrachtet werden.
Die .Aufnahme von Pflanzenstoffen ist eine sehr
viel größere als die von Tierstoffen. Letztere werden
vermutlich nur gelegentlich, zufällig oder bei
Nahrungsmangel verzehrt.
Alles in allem genommen ist der
Ohrwurm ein harmloses Tier, das nur
in den Fällen, in denen er zum Ge-
legenheitsschädling wird, zu bekämpfen
ist." Dr. Olufsen.
Mineralogie. Es ist neuerdings von ver-
schiedenen Seiten festgestellt worden, daß die so-
genannten Hartsalz Kalilager nicht, wie van'tHoff
annahm, primär entstanden, sondern durch Er-
wärmung aus kainilischen Salzgemischen umge-
schmolzen sind. R. Lach mann hat nun gezeigt,
daß umgekehrt die Carnallitbildung der Südharz-
Kalilager sekundär ist (Neues Jahrb. f Mineral, usw.
1916, II, S. 165). Das Staßfurter Hartsalz enthält
bis zur Hälfte Kieserit und fast keinen Anhydrit;
das des Südharzes ist wesentlich ärmer an Kieserit
und reicher an Anhydrit, so daß es richtiger nicht
als Hartsalz, sondern als Sylvinit zu bezeichnen
ist. Für diese Lager besteht kein Grund zur
Annahme thermometamorpher Umbildung, da sich
Sylvin, Steinsalz und Anhydrit auch bei niederer
Temperatur in Paragenese bilden können. — Die
Untersuchung bezieht sich besonders auf eine
große Carnallillinse im Hartsalzlager bei Volken-
roda. Das sonst sehr gleichmäßig etwa 8 m
mächtige Lager ist an dieser Stelle auf ca. 13 m
angeschwollen,, so daß i m Carnallit immer
eine Aufwölbung von Vj m entspricht. Diese ist
also offenbar nicht tektonisch , sondern durch
Umsetzung im Kalilager verursacht. Aus der
Schichtung muß geschlossen werden, daß primär
ein einheitliches Sylvinitlager vorgelegen hat, aus
dem sich dann an einzelnen Stellen durch thermale
Metamorphose der Karnallit bei Zufuhr von
Magnesiumchlorid gebildet hat. Letzteres stammt
wohl aus einer übergelagert gewesenen Bischoffit-
region, die nach Jäneke bei 117" schmilzt. Diese
Temperatur entspricht einer Versenkung von 3,5 km.
F'alls eine solche Versenkung — wie bei den
294
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
thüringischen Lagern — nicht in Frage kommt,
könnte die Lösung des Bischoffits durch vadose
Wässer erfolgt sein. Scholich.
Botanik. Das Zittern der Laubblätter ist
Gegenstand einer Untersuchung, über die
Alfred Hertel in den „Beiheften zum Bota-
nischen Zentralblatt" (3. L 17) berichtet. Er ging
dabei von der auffallenden Erscheinung aus, daß
Blätter, beispielsweise bei der Espe, Populus
tremula, bei gleichmäßigem Winde periodische
Bewegungen ausführen. Es gelang ihm, diese
Bewegung auch im Laboratorium an abgetrennten
Blättern hervorzurufen und sie dann optisch auf-
zuzeichnen. Die weitere Untersuchung ergab,
daß die Stiellänge ohne Einfluß auf die Bewegung
ist; der Stielbau, vor allem der Querschnitt des
Blattstieles, ist vielmehr maßgebend. Es besteht
eine Abstimmung der Schwingungszahlen von
Torsion und Biegung in dem einfachen Verhältnis
1:1, und die Blattstiele verhalten sich in mecha-
nischer Hinsicht, wie Versuche zeigten, wie Stäbe.
Es muß mithin eine Beziehung zwischen Torsion
und Biegung bestehen. Das Blatt wendet, mit
dem Winde gehend, diesem die Breitseite zu,
gegen den Wind dagegen geht es, indem es seine
Blatifläche möglichst parallel der Windrichtung
stellt, damit der Widerstand so klein wie möglich
wird. Diese günstige Einstellung wird zwangs-
weise im richtigen Augenblicke durch die mecha-
nischen Eigenschaften des Stieles bewirkt. Durch
Modelle konnte diese Bewegung nachgeahmt
werden. Es gelang Hertel, künstliche Blätter,
deren Blattspreite aus Glimmerblättchen und deren
Stiel aus Kupferdraht bestand, zum richtigen
Zittern zu bringen. Dabei brauchte er sich hin-
sichtlich der Blattform durchaus nicht an die
natürlichen Vorbilder zu halten, vielmehr gelang
der Versuch mit quadratischen Flächen von 30 mm
Seitenlänge, mit kreisförmigen von 15 mm Halb-
messer, mit rechteckigen, wenn der Stiel parallel
der kürzeren Seite lag, mit elliptischen, wenn der
Stiel die Verlängerung der kürzeren Achse bildete.
Der Stiel war dabei ein Kupferdraht von '/.-. n^m
Halbmesser und 50 mm Länge. Die Modelle mit
quadratischer oder kreisförmiger Fläche zitterten
aber nur, wenn der Stiel auf ein Viertel der Länge
so abgeflacht war, daß die Abflachungsebene
senkrecht zur Blattfläche stand. Schließlich stellte
Hertel auch ein sehr großes Modell her, zu dem
eine Papierfläche von 60 cm Seitenlänge auf einen
Holzrahmen gespannt wurde, während als „Blatt-
stiel" ein 120 cm langer Holzstab von 8 und 16 mm
Seitenlänge des Querschnittes diente. Bedingung
für das richtige Zittern im Winde war dann nur,
daß der Stab mit der schmaleren Seitenfläche am
Holzrahmen befestigt war. H. P.
Bakteriologie. Die P"ärbung der Geißeln
von Knöllchenbakterien (Bacterium radicicola) :
Von den bekannten, in Wurzelanhängen der
Leguminosen vegetierenden Bact. radic. war schon
bekannt, daß sie beweglich sind — die Stäbchen
schießen unter dem Mikroskope wie Mücken-
schwärme durcheinander — daß sie also mit
Geißeln ausgestattet sein müssen. Wie aber diese
Begeißelung beschaffen ist, darüber bestanden
bisher die verschiedensten und sich wider-
sprechenden Ansichten, weil sich der Sichtbar-
machung der Geißeln Schwierigkeiten entgegen-
setzten. Jetzt ist Prof. Chr. Bart hei (Zeitschrift
f. Gährungsphysiologie 1917, S. I3ff.j die Färbung
gelungen und zwar mit Hilfe einer vorzüglichen,
aber bisher wenig bekannten Geißelfärbemeihode
eines spanischen Militärarztes, Dr. Caseres-Gil.
Mit Hilfe dieser Methode, die in der Arbeit genau
beschrieben wird, gelingt es verhältnismäßig leicht,
die überaus delikaten und feinen, und wie jetzt
erwiesen ist, lophotrichen Geißeln sichtbar zu
machen. Es zeigte sich da, daß die Lupinen-
bakterien I — 6 lange, wellig geformte, an einem
Pole, und zwar mehr an den „Ecken" befestigte
Geißeln besitzen, während die der Luzernenbakterien
kürzer sind, und in einer Anzahl von 1 — 2, seltener
von 3—4 auftreten.
Daß hier Verschiedenheiten in der Begeißelung
wahrgenommen sind, erscheint deshalb auch be-
merkenswert, weil M. Kl immer und R. Krüger
(Centralblatt f. Bakteriologie IL Abt., Bd. 40; S. 256fif.)
auf Grund von sereologischen Untersuchungen
haben nachweisen können, daß die unter dem
Sammelnamen „Knöllchenbakterien" zu verschie-
denen, scharf getrennten Arten gehören, eine
Feststellung von größtem praktischem Interesse.
Ist man doch bekanntlich in der Praxis dazu
übergegangen, das Saatgut mit diesen Bakterien
künstlich zu infizieren, mit Hilfe von Impferde und
Bakterienpräparaten das Acker- und Gartenland zu
„düngen". Bei der Untersuchung von 18 ver-
schiedenen Leguminosen gelang es, 9 Bakterien-
arten zu unterscheiden. Art i fand sich in
Lupinus perennis, luteus, angustifolius, sowie in
Ornithopus sativus; Art 2 in Melilotus albus,
Medicago lupulina, M. sativa und Trigonella foenum
graecum; Art 3 in Lotus uliginosus, Anthyllus
vulneraria und Tetragonolobus purpurea; Art 4
in Vicia sativa und Pisum arvense; Art 5 in Vicia
faba; Art 6 — 9 je in Trifolium pratense, Phasaeolus
vulgaris, Soja hispida und Onobrychis sativa.
Wie man bemerken wird, sind nach diesem
Ergebnisse die Bakterien der Lupine und die der
Luzerne (Medicago sativa) artverschieden, ein Be-
fund, der durch die nunmehr festgestellt^ Ver-
schiedenheit in der Begeißelung bestätigt zu
werden scheint. Dr. Olufsen.
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
295
Bücherbesprechungen.
H. A. Lorentz, The theory of electrons
and its applications to the phenomena
of light and radiant heat. Second edition.
343 S. Leipzig 191 6, B. G. Teubner. — Preis
geh. 9 M.
Es hegt hier in englischer Sprache die zweite
Auflage einer Vorlesungsreihe vor, die Verf im
Jahre 1906 an der Columbia Universität in New
York gehalten und anläßlich ihrer erstmaligen
Herausgabe durch Zusätze soweit ergänzt hat,
daß die Hauptdarstellung etwa dem Stande der
Forschung von Ende 1908 entspricht. Die Be-
rücksichtigung der neuesten Literatur in der ge-
genwärtigen Neuauflage beschränkt sich auf die
Einfügung kleinerer Anmerkungen, während der
Haupttext gegen früher im wesentlichen unver-
ändert geblieben ist.
Der Begründer der Elektronentheorie gibt hier
einen vortrefflichen Überblick über die Grundlagen
und den bedeutungsvollen Entwicklungsgang dieses
wichtigen neuen Gebietes der physikalischen For-
schung.
An die Aufstellung der allgemeinen Grund-
gleichungen der Elektronentheorie schließt sich
im ersten der 5 Kapitel des Buches die Behandlung
der Theorie des freien Elektrons, insbesondere
seines Feldes und der elektromagnetischen Masse,
an. Das zweite Kapitel ist der Strahlungstheorie
gewidmet. Nach kurzem Hinweis auf die thermo-
dynamische Begründung der Gesetze von Kirch-
hoff, Boltzmann und Wien und kurzer
Skizzierung der zum vollständigen Strahlungsgesetz
führenden Plankschen Untersuchungen geht Verf
näher auf seine eigene, auf langwellige Strahlung
beschränkte Ableitung und auf die zu ähnlichem
Ergebnis führende Jeans'sche Theorie ein. Das
dritte Kapitel enthält die Theorie des Zeeman-
Phänomens, während im vierten im Anschluß an
die Elektronentheorie der Dispersion und Absorp-
tion der inverse Zeeman- Effekt behandelt wird.
Im letzten Kapitel schließlich findet sich eine
eingehende durch die verknüpfende Betrachtung
der verschiedenen theoretischen Deutungsmöglich-
keiten besonders interessante Darstellung der opti-
tischen Erscheinungen in bewegten Körpern.
Für denjenigen Leser, der einen tieferen Einblick
in die quantitativen Zusammenhänge sucht, ist ein
Anhang von mehr als lOO Seiten höchst wertvoll,
worin der Verf die im Hauptteil meist nur ange-
deuteten Berechnungen in klarer Weise vollständig
durchgeführt hat. Die durch die jetzt allgemein
übliche Verwendung der Vektorenschreibweise
erreichte Eleganz der Form tritt hier besonders
erfreulich hervor. A. Becker.
P. Eversheim, Angewandte Elektrizitäts-
lehre. Ein Leitfaden für das elektrische und
elektrotechnische Praktikum. 214 Seiten mit
215 Textfiguren. Berlin 1916, J.Springer. — Preis
geh. 8 M.
Das vorliegende Buch enthält eine anschauliche
und durchweg elementare Anleitung zum Ver-
ständnis und Gebrauch der Methoden und Hilfs-
mittel der angewandten Elektrizitätslehre. Vom
Verf. ist es in erster Linie für Studierende der
Naturwissenschaften und solche, die am Anfang
ihrer technischen Studien stehen, bestimmt, denen
es ein Ratgeber sein soll bei Ausführung der Ver-
suche im elektrischen und elektrotechnischen
Praktikum. Für sie darf freilich nur die praktische,
nicht aber die rein physikalische Seite des Gebietes
als genügend erschöpfend dargestellt betrachtet
werden. Von Nutzen vermag das Buch jedenfalls
auch allen denen zu sein, die aus Neigung oder
Beruf sich ohne größere Schwierigkeit mit der
Praxis der Elektrotechnik vertraut zu machen
wünschen.
An die Betrachtung der für die Arbeitsmethoden
und den Bau der Apparate und Maschinen maß-
gebenden physikalischen Grundlagen schließt sich
jeweils deren eingehende, durch zahlreiche Zeich-
nungen und Abbildungen aller technisch wichtigeren
Ausführungsformen veranschaulichte Beschreibung.
Dazu treten Schaltungsskizzen für den Stromlauf
und Anleitungen zur Ausführung spezieller
Messungen und zu tabellarischer und graphischer
Darstellung der Ergebnisse. Gleichstrom und
Wechselstrom sind in getrennten Abschnitten be-
handelt; ein dritter Abschnitt handelt ganz kurz
von „Magnetismus, Akkumulatoren, Photometrie".
A. Becker.
Kultur der Gegenwart. Physiologie und Ökologie.
I.: Botanischer Teil, unter Redaktion von
G. Haberlandt, bearbeitet von Fr. Czapek,
H. V. Guttenberg und E. Baur. Leipzig
und Berlin 1917, B. G. Teubner. — 13 M.
Der vorliegende Band des großen Sammel-
werkes verfolgt das Ziel, die Lebenserseheinungen
der Pflanzen in großen Zügen darzustellen, wie es
dem Zweck des riesigen Unternehmens entspricht,
nicht in lehrbuchartiger und vollkommen er-
schöpfender Form, sondern so, daß der gebildete
Laie eine Vorstellung von den Ergebnissen und
Problemen, mit einem Wort von dem Gedanken-
inhalt der modernen Pflanzenphysiologie bekommt,
soweit er als Teilstück für ein naturwissenschaftliches
Weltbild erforderlich ist. Die drei Verfasser
Czapek, v. Guttenberg und Baur, alle als
Forscher bekannt, haben den Stoff in der Weise
unter sich geteilt, daß Czapek die allgemeinen
Grundlagen der Pflanzenphysiologie und der Er-
näherung, v. Guttenberg das Wachstum, die
Entwicklung und die Bewegungserscheinungen
der Pflanzen und B a u r die Fortpflanzung behandelt.
Wenn auch naturgemäß vieles nur angedeutet,
manches weggelassen, etliches nach Neigung des
Verfassers stärker oder schwächer betont ist, so
geben die Abschnitte dafür, dank der strafferen
296
Naturwissengchaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 21
Darstellung und der Beschränkung auf die großen
durchlaufenden Gedanken eine sehr gute Übersicht,
die auch der Fachmann gerne auf sich wirken läßt,
die aber besonders wertvoll für das gebildete
Publikum ist, das einen Begriff davon bekommt,
wie außerordentlich die „Wissenschaft Linnes"
an Tiefe, Vielseitigkeit der Beziehungen und Be-
deutung für große, allgemeine Lebensprobleme
gewonnen hat. Das zeigt sich im Abschnitt über
Ernährung nicht minder wie in dem über die
Reizerscheinungen, die vielfach in einem Grade
eindringlich aufgelöst werden können, wie wenige
Probleme der tierischen Physiologie, und schließ-
lich nicht zum wenigsten im letzten Abschnitt,
in den die moderne Vererbungslehre, wenn auch
nur kurz, so doch zielbewußt eingeflochten ist.
Besondere Erwähnung verdient die sorgfältige Illu-
strierung, die viele Originale aufweist, aber auch
die bekannten Bilder in einer besonders klar und
schön umgezeichneten Form bringt. Ein Frage-
zeichen könnte man höchstens hinter den Titel
des Bandes setzen. Denn der ökologische Ge-
sichtspunkt tritt, wenn auch nicht vollständig zu-
rück, so doch nicht in dem Maße leitend und vor
allem allgemein durchgreifend hervor, wie man es
nach dem Titel erwarten sollte. Miehe.
Anregungen und Antworten.
Der interessante Artikel von Dr. Carl Schoy: Eine
merkwürdige Naturerscheinung im Jordantal (Naturw. Wochen-
schrift, 14. Jan. 191 7, S. 17 — 20) veranlaßt mich zu folgender
kleinen Notiz.
Wirft man einen Blick auf eine Isogonenkarte der Erde
(s. z. B. diejenige, entworfen von der Deutschen Seewarte f.
1910) so sieht man, daß die Deklination in Palästina zur Zeit
der Forschungsreisen Blanckenhorn's (ich vermute in den
Jahren 1908 — 1910) 1 — 2" westlich betrug. Aus der Be-
hauptung Blanckenhorn's, daß die Deklination „in
Palästina augenblicklich meist zu 11 — 13" nach W. ange-
nommen wird" folgt daher entweder, daß diese Annahme
falsch ist, oder, daß wir es in Palästina mit einer Anomalie
westlicher Deklination zu tun haben. Der von Schoy an-
geführte Deklinationswert für Jerusalem würde hier eine
Störung in der Deklination von 9—10" vermuten lassen. Nun
ist diese Beobachtung im „Hotel Fast auf dem Dache" ge-
wonnen worden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hier ganz
lokale Störungen (Eisenbalken im Gebäude, Ziegel, Bau usw.)
für diesen abnormen Wert verantwortlich sind. Bei erd-
magnetischen Messungen müssen ja solche störende Einflüsse
auf's genaueste vermieden werden. Wäre dem aber nicht so,
und sind alle vier angeführten Deklinationsangaben von
solchen ganz lokalen und der erdmagnetischen Kraft fremden
Störungsursachen frei, so sind auch die von der Jordansenke
westlich gelegenen Teile in der Deklination gestört, und
zwischen Jericho und Jerusalem wäre ein Slörungsherd zu
vermuten , welcher auf den Nordpol der Magnetnadel ab-
stoßend wirkt. — Näheres kann nur auf Grund zahlreicher
Messungen gefolgert werden.
Was nun die Rolle der Hohlräume mit Bezug auf magne-
tische Störungen betrifft, so wird sie — ebenso wie induzierter
Magnetismus beim Gebirgsmagnetismus im allgemeinen — nur
dort zur Erklärung magnetischer .Anomalien mit Erfolg heran-
gezogen werden können, wo Schichten mit erheblicherer
magnetischer Permeabilität vorhanden sind. Im vorliegenden
Fall scheint es, daß diese Annahme nicht gerechtfertigt ist.
Was nun den Einfluß der Temperatur auf die Stellung
der Deklinations- Nadel betrifft, so ist dies ein übereilter
Ausspruch. Die ungleiche Erwärmung scheint zwar bei der
Verteilung 'der erdmagnetischen Elemente auf der Erde eine
gewisse Rolle zu spielen (man vergleiche bei L. A. Bauer:
The Physical Decomposition of the earlh's permanent magnetic
field. Terr. Magn. Vol. IV, S. 33 — 52 besonders S. 50 — 52
das nach Abzug des ,, normalen" Magnetismus übrigbleibende
Kraftfeld), dieser Einfluß ist aber klein und hat mit dem
vorliegenden Fall nichts zu tun. Das zur Erhärtung dieses
Ausspruchs angeführte Beispiel bei Lamont bezieht sich ja
auf eine Temperaturkoeffizienten-Bestimmung und es ändert
sich ja nicht die Stellung des erwärmten und abgekühlten
Magnets, sondern jene des von ihm abgelenkten Magnets.
L. Steiner.
Maska
Folgende Ergänzungen zu dem Aufsatz: „Sind die
jnd die zentralpazifischen Inseln ozeanisch?"
(Naturw. Wochenschr., 32. Bd , S. 193) seien hier noch an-
gefügt. Prof. Dr. Fr. Kossmat's Paläogeographie
(Sammlung Göschen, 1916), lehrt aus pelrografischen und
paläontologischen Gründen, daß mindestens vom Silur ab bis über
die Trias hinaus Brasilien und Afrika zusammenhingen;
daß ferner Vorindien und Madagaskar eine Landmasse bildeten,
mindestens vom Silur ab bis jedenfalls zum -Alt-Tertiär, so
daß alle die obengenannten Inseln des Indischen Ozeans zu
diesem Festlande Lemuria gehörten. — Auch finde ich in der
Revue Scientifique von 11. — 18. Nov. 1916, S. 6qi noch
mehr Beweise für die große Ausdehnung des Zentralpazifischen
Festlandes Tonga-Rapa und die Entwicklungshöhe der nach
Millionen zählenden Bevölkerung. Dort schreibt ein ge-
wisser P. L. :
„II convient de rappeler egalement l'interet des recherches
archeologiques dans Ics archipels, dissemines ä travers le
Pacifique. II existe des monuments megaliliques, bicn connus
a I'Ile de Paques et en outre a Tahiti (grand temple de
So mrtres de long), aux Marquises, dans les Tonga, les
Carolines, l'ilot Pilcairen (enormes colonnes sculptees) dont
la connaissance est encore Ires supcrficicUe et l'origine tres
obscure." Oudemans.
Inhalt: F. Stellwaag, Tanzende Fliegen. S. 281. Ernst Schnitze, Die Vernichtung des englischen Waldes. S. 284. —
Kleinere Mitteilungen: Anna Hopffe, Über Infusorienerde (Bergmehl). S. 2S6. V. Brehm, Reflexionen über zwei
neue Schizophyceensymbiosen. S. 2S7. — Einzelberichte: Berg, Leber und Eiweißstoffweclisel. (6 Abb.) S. 2S8.
G. Lüstner, Neue Untersuchungen über die Nahrung des Ohrwurmes. S. 291. R. Lachmann, Die Carnallitbildung
der Südharz-Kalilager. S. 293. Alfred Hertel, Das Zittern der Laubblätter. S. 294. Chr. Barthel, Die Färbung
der Geißeln von Knöllchenbakterien (Bacterium radicicola). S. 294. — Bücherbesprechungen: H. A. Loren tz, The
theory of electrons and its applications to the phenomena of light and radiant heat. S. 295. P. Eversheim, Ange-
wandte Elektrizilätslehre. S. 295. Kultur der Gegenwart. S. 295. — Anregungen und Antworten: Eine merkwürdige
Naturerscheinung im Jordantal. S. 296. Ergänzungen zu dem Aufsatz: „Sind die Maskarenen und die zentralpazifischen
Inseln ozeanisch?" S. 296.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippen & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge i6. Band;
er ganzen Reihe 32. Band.
Sonntag, den 3. Juni 1917.
Nummer 33.
achdruck verböte
Die Pilzvergiftungen der letzten Jahre.
Von Prof. Dr. G. Dittrich.
Für die Jahre 191 5 und 1916 ist erstmalig
eine Statistik der Pilzvergiftungen im Deutschen
Reiche aufgestellt worden, die erstaunlich hohe
Ziffern ergeben hat. Es starben 1915 nicht
weniger als 92, im folgenden Jahre (unter Hin-
zurechnung einiger nachträglich bekannt ge-
wordener Fälle) 93 Personen, und zwar, soweit
aus den Nachrichten ersichtlich war oder durch
genauere Nachforschungen festgestellt werden
konnte, am Genuß im eigentlichen Sinne gif-
tiger Pilze. Erkrankungen an verdorbenen
Pilzen, denen in den Büchern und Zeitungen wohl
eine übertriebene Bedeutung beigelegt wird und
die auch kaum tödlich verlaufen dürften, sind in
diesen Summen also nicht inbegrififen. Die weit-
aus überwiegende Mehrzahl der Todesfälle ist dem
Knollenblätterpilz zur Last zu legen; ihm
folgt in weitem Abstände, nämlich mit 4 örtlich
getrennten Fällen des Jahres 1916, die Morchel,
d. h. die „Lorchel" in der unvolkstümlichen Be-
zeichnung der Bücher; in einer Familie in der
Provinz Posen starben ferner 3 Knaben an Gift-
reizkern, und einem Lehrer in Aschersleben,
der noch dazu als Pilzkenner galt, wurde im Juni
1916 eine allerdings sehr seltene Art, Inocybe
frumentacea, zum Verhängnis.
Am überraschendsten wirkt die ansehnliche
Zahl der tödlichen Morchelvergiftungen,
da es sich hier um einen in der östlichen Reichs-
hälfte verbreiteten Marktpilz (Helvella oder Gyro-
mitraesculenta)handelt. Seit 35 Jahren ist durch sorg-
fältige Untersuchungen zweier Mediziner bekannt,
daß frische (nicht getrocknete) unverdorbene
Morcheln dieser Art ein Blutgift enthalten und
infolgedessen in verhältnismäßig geringen Gaben
( 1 '/'., bis 2 v. H. des Körpergewichtes) auf Hunde
tödlich wirken ; durch kochendes Wasser wird
dieser Giftstoff ausgezogen , er geht also auch
in eine aus den Morcheln bereitete Brühsuppe
über. Wohl bei allen letztjährigen leichteren und
schwereren Vergiftungen von Menschen durch
Morcheln ist in der Tat diese Suppe verwendet
worden und zwar, was besonders ungünstig zu
wirken scheint, einige Zeit nach dem Ge-
nuß der Pilze selbst, meist am folgenden
Tage. Immerhin bleibt es unaufgeklärt, weshalb
Gesundheitsschädigungen durch diesen verbreiteten
Speisepilz nicht noch weit häufiger vorkommen ;-
auch erkranken oft nur einzelne Teilnehmer der
Morchelmahlzeit, was an eine individuelle Empfind-
lichkeit gegen den Giftstoff oder (wahrscheinlich)
die Giftstoffe dieses Pilzes denken läßt.
Die schwere Schädigung durch Giftreizker
(Lactarius torminosus) ist insofern auffallend, als
diesem Pilz meist nur geringe Störungen der
Darmtätigkeiten zugemutet werden; nach Ab-
kochen und Wässern gilt er geradezu als eßbar.
Bei dem gedachten in der Provinz Posen vor-
gekommenen Falle handelte es sich nun allerdings
um Exemplare, die durch einige feinere Merkmale,
namentlich in der mikroskopisch festzustellenden
Sporengröße, von dem gewöhnlichen Lactarius
torminosus, dem sie aufs Haar ähnelten, abwichen.
Indessen sollte man daraus eine Warnung vor der
Verwendung des Gift- oder zottigen Reizkers ent-
nehmen.
Wie schon erwähnt, überwiegen die Vergif-
tungen durch Knollenblätterschwämme so
sehr, daß man diese .'^rt geradezu als den Gift-
pilz ansehen darf. Auch über ihn haben freilich
die statistischen Ermittelungen und toxikologischen
Untersuchungen der letzten Jahre zu wesentlich
neuen Aufschlüssen geführt.
Schon früher wurde in einzelnen sorgfältiger
gearbeiteten Werken auf die Vielgestaltig-
keit dieses wichtigsten Pilzes hingewiesen, die
seine Erkennung durchaus nicht so leicht ge-
staltet, wie das Zeitungsschreiber gern behaupten.
Es ist vor allem auseinanderzuhalten eine weiß-
liche bis gelbliche, auch nach Hellgrün hin
spielende P''orm, die meist zahlreiche Warzen auf
der Oberseite trägt und besonders in Kiefernwäldern
häufig anzutreffen ist, und eine erheblich dunklere,
olivgrüne oder grünbrau ne Form, die Laub-
gehölze bevorzugt und sich, wenn sie in Nadel-
waldungen auftritt, mit Vorliebe in der Nähe ein-
gesprengter Eichen zeigt. Die erste Art, die
namentlich der Warzen wegen wohl von jedem
Sammler gemieden wird, findet man in der großen
Mehrzahl der Bücher und Büchlein als den Typus
des Knollenblätterpilzes abgebildet und dem
Champignon, namentlich dem sogenannten Schaf-
champignon (Psalliota aryensis) gegenübergestellt,
der auch an denselben Ürtlichkeiten wächst. Sie
wird neuerdings als eigene Art (Amanita Mappa)
aufgefaßt und ist von dem grünen oder auch
anders gefärbten Giftpilz (Amanita phalloides)
wesentlich verschieden durch die
spätere Ausgestaltung der den ganzen
Pilz im Jugendzustand umgebenden
Hülle. Bei Am. Mappa ist diese lockerfilzig
und zerreißt daher bei der Ausspannung des
Schirmes in die zahlreichen Warzen der etwas
klebrigen Oberhaut, während an der Knolle des
Stielgrundes keine nennenswerten Hautreste
dauernd zurückbleiben; Am. phalloides hingegen
besitzt eine derbe Hülle, die in der Regel nur
am Stielgrund als auffällige, einheitliche, kelch-
298
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 22
artige Scheide erhalten bleibt, während den Hut
höchstens ein einzelner, größerer Hautlappen be-
deckt. Die Warzen der Am. JVlappa werden
übrigens durch anhaltenden Regen leicht abge-
waschen, so daß dann auch bei ihr der Hut nackt
erscheint. Sie besitzt aber im frischen Zustande
stets einen ausgeprägten, an zerschnittene rohe
Kartoffeln erinnernden Geruch, während dieser bei
Am. phalloides zunächst geringfügig und nach
einiger Aufbewahrung mehr allgemein pilzartig-
dumpfig ist. In dem bekannten Pilzbuch von
Michael findet man Amanita Mappa und
phalloides in je zwei schönen Abbildungen auf
einer Tafel vereinigt, jedoch nicht durch die Be-
nennung unterschieden.
Alle Fälle nun, die durch persönliche Nach-
forschungen am Orte der Erkrankung — das
sicherste Verfahren — oder durch Emsendung
der Pilzart aufgeklärt werden konnten, gingen
auf die grüne Am. phalloides zurück.
Einige Male wurde diese Art aus allgemeiner Un-
kenntnis mit anderen Pilzen gleichzeitig gesammelt
und zubereitet; die allermeisten hielten sie aber,
dem rein äußerlichen Merkmal der Hutfarbe
folgend, für Grünreizker! Dieser Pilz, Tricho-
loma equestre, anderwärts Grünling genannt, er-
freut sich gerade in den östlichen Provinzen in
mannigfacher Zubereitungsweise großer Beliebt-
heit. Daß es vielfach Kinder waren, die sich
das tödliche Gericht selbst sammelten, macht das
Unbegreifliche der Verwechselung etwas erklär-
licher.
Wenngleich über die Wirkung der Am.
Mappa auf den Menschen letzten Endes nur
durch eigene Eßversuche volle Klarheit zu ge-
winnen wäre, so steht doch fest, daß entgegen
den Angaben aller Pilzbücher erst sehr viel
größere Mengen von ihr einen gesundheits-
schädigenden Einfluß auszuüben vermögen, als
von Am. phalloides, die in einem oder wenigen
Exemplaren den Tod eines Erwachsenen zur
Folge haben kann. Man ist nämlich auch ohne
Fütterungsversuche, die übrigens bei Am. Mappa
zu negativen Ergebnissen führten, bei denen sich
aber die betreffenden Tiere ja immer noch anders
verhalten haben könnten als der Mensch im
gleichen Falle, imstande, die giftigen Bestandteile
eines Knollenblätterpilzes zu erkennen, zunächst mit
Hilfe einer frischen Blutaufschwemmung.
Setzt man einer solchen im Reagenzglase eine
selbst sehr geringe Menge des mit physiologischer
Kochsalzlösung hergestellten Auszuges von Am.
phalloides zu, so tritt alsbald die Erscheinung der
Hämolyse ein: Die Blutkörperchen setzen sich
nicht nach einiger Zeit zu Boden, wobei über
ihnen eine farblose Flüssigkeit zurückbleibt, son-
dern es entsteht eine gleichmäßige, lackfarben-
rote, nicht mehr sedimentierende Lösung. Dieser
Knollenblätterpilz enthält also einen blutlösenden
Stoff, von Kobert Phallin, von Ford Amanita-
Hämolysin genannt, und ein Teil der Krankheits-
erscheinungen, nämlich die (übrigens ungefähr-
licheren) Reizungszustände des Magens und
Darmes, sind auf dieses Gift zurückzuführen.
Daß es erst nach dem Übergange in die Blut-
masse zur Geltung kommen kann, erklärt die
merkwürdig lange Zeitspanne (zuweilen selbst
mehrere Tage), die bis zum Auftreten der ersten
Anzeichen der Vergiftung vergeht, gleichzeitig
aber auch die Schwierigkeit, ihm wirksam (durch
Kochsalz- oder Traubenzuckerinfusionen) entgegen-
zutreten. Dieses Phallin oder Hämolysin wird
schon bei 65 " zerstört, ein auf diese Temperatur
erwärmter Auszug löst also die roten Blutkörper-
chen nicht mehr auf; gleichwohl wirkt auch der
erhitzte Auszug, wenn er einem Versuchstier ein-
gespritzt wird, tödlich, und zwar ohne daß
Störungen in den Verdauungswerkzeugen auf-
treten. Er enthält nämlich noch einen zweiten,
alkaloidartigen Körper (wohl identisch mit Ford 's
Amanita-Toxin), der seinerseits an einer eigen-
artigen Wirkung auf das Froschherz zu
erkennen ist. Wird nämlich einem Frosche etwas
von dem Auszug unter die Haut gespritzt, so zeigt
sich an dem freigelegten Herz des Tieres ein
starkes Sinken der Zahl der Zusammenziehungen;
zugleich erscheinen die Erweiterungen auflällig
verlängert, und schließlich kann völliger Stillstand
des prall mit Blut gefüllten Herzens eintreten.
Wird jetzt etwas Atropinlösung aufgeträufelt, so
beginnt das Herz wieder zu arbeiten und erholt
sich allmählich vollständig. Das sind Wirkungen,
wie sie in ähnlicher, wenn auch nicht ganz gleicher
Weise beim Muskarin des Fliegenpilzes beobachtet
werden. Am Menschen greift dieser Giftstoff des
Knollenblätterschwammes Herz und Nerven an
und verursacht meist Mundsperre und schwere
Krampferscheinuiigen, die bei etwa zwei Dritteln
der Erkrankten zum Tode führen. Spezifische
Gegenmittel sind nicht bekannt, insbesondere hat
sich Atropin nicht bewährt; dagegen ist Immuni-
sierung von Tieren gelungen. Besonders wichtig
ist die Tatsache der Koch bestand igke it des
Toxins bzw. Alkaloids; hierdurch erledigt sich
die Meinung vieler Leute, auch angeblich sach-
verständiger, man brauche seine Pilze nur ge-
nügend lange auszukochen, um alle Sorten unter-
schiedslos ohne Schaden genießen zu können.
Diese beiden Wirkungen nun, die hämolytische
und die muskarinartige, zeigen Auszüge von
Am. Mappa nur in sehr viel geringerem
Grade, während sie sich in Am. phalloides auch
beim Trocknen — in Exemplaren aus einem
Breslauer Park mindestens 2V.2 Jahre lang — un-
verändert stark erhalten. Übereinstimmend mit
diesen Versuchsresultaten hat sich auch für eine
Verwechslung von Knollenblätterpilzen mit Cham-
pignons, von der so unendlich viel und oft ge-
schrieben wird und bei der in erster Linie die so
häufige weißliche Mappa in Betracht käme, in den
beiden letzten Jahren kein sicherer Anhaltspunkt
ergeben. Wenn gleichwohl ein solcher Irrtum
mit Champignons im engeren Sinne (Psalliota- Arten)
vorgekommen ist, so würde daraus allein noch
N. F. XVI. Nr. 2:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
299
nicht auf Giftigkeit der Am. Mappa zu schließen
sein, vielmehr käme dafür weit eher die unzweifel-
haft schwer giftige weiße Form der Am. phalioides,
Am. verna (nicht vernalis-junquillea, die für harmlos
gilt) in Betracht, welche früh im Jahre erscheint,
aber auch zur eigentlichen Pilzzeit, freilich allem
Anschein nach in Deutschland selten, zu finden ist.
Wie man sieht, sind noch nicht alle Fragen,
die den Knollenblätterpilz betreffen, einwandfrei
entschieden, und ein weiter Weg wird schon zu-
rückzulegen sein, bis auch nur die hier mit-
geteilten Tatsachen über die verschiedene Be-
wertung der beiden häufigeren Formen von
KnollenbJätterschwämmen, vor allem über
die besondere Gefahr, die gerade von
selten der grünen Art droht, Eingang in
die Schriften gefunden haben werden, aus denen
weitere Kreise ihre Belehrung über Pilze schöpfen.
Mehr als auffallend ist auch, daß nichts Durch-
greifendes für die Verbreitung der Kenntnis der
Knollenblätterpilze geschieht, womit dann doch
fast alle Pilzvergiftungen aufhören müßten ; mit
der Empfehlung von Merkblättern und der An-
regung von Pilzwanderungen ist dieses Ziel offen-
sichtlich nicht zu erreichen. Dabei steht aus
naheliegenden Gründen zu erwarten, daß die Zahl
der Pilzvergiftungen in diesem Jahre eher noch
steigen wird; auch wird, wenn im Glauben an
trügerische allgemeine Erkennungszeichen, zu
denen selbst heutzutage noch manche Schriften
beispielsweise den angenehmen Geruch zählen,
eine größere Zahl von Sorten als bisher erprobt
werden sollte, wahrscheinlich auch der Kreis der
als schädlich erkannten Arten sich erweitern.
Vielleicht ließe es sich wenigstens erzielen, die
Kenntnis der einzelnen Vergiftungsfälle auf eine
noch umfassendere Grundlage zu stellen, wenn
Persönlichkeiten aus dem Leserkreise, die sich
auf diesem Gebiete fördernd zu betätigen ge-
neigt wären, möglichst genaue Angaben über die
Vorkommnisse des neuen Jahres dem Verfasser
unter der Adresse Breslau 16, Uferzeile 14, mit-
teilen und vor allem auch einige Stücke der be-
treffenden Art als „Muster" in einem Papp-
kästchen , zwischen Papier gelegt , einsenden
wollten.
Die Yerbreitung des wilden Kaninchens in Russisch-Polen.
[Nachdruck verboten.) Von Prof. Dr.
Das wilde Kaninchen (Oryctolagus cuniculus) war
ursprünglich nur im Südwesten unseres Erdteils hei
misch'); sein Bild erscheint auf antiken Münzen
als Symbol der Hispania-). Erst seit dem Mittel-
alter hat es unter dem Einflüsse des Menschen
sein Areal stark ausgedehnt, so daß es gegenwärtig
über den größten Teil von Süd- und Mitteleuropa ver-
breitet ist. Doch soll es nach den Angaben
deutscherZoologen auch heutzutage in Rußland noch
fehlen. So kennt Schaff'') keine Standorte dieses
Nagers im russischen Reiche, und Gcrhardf*)
und Heck'') berichten übereinstimmend, daß man
bisher vergeblich versucht habe, das Kaninchen in
Rußland als Wild einzubürgern. Ähnlich lauten
die Schilderungen polnischer Faunisten. Zwar be-
merkt bereits Martin Crom er"), daß an einigen
Orten Kaninchen vorkämen, aber diese unbestimmte
Angabe läßt nicht erkennen, ob sie sich wirklich
auf das Gebiet Kongreßpolens bezieht. Alle späteren
Autoren erwähnen Oryctolagus cuniculus nur als
Haustier'). Besondere Beachtung verdient der
') E. Hahn, Die Haustiere und ihre Beziehungen zur
Wirtschaft des Menschen. (S. 250.) Leipzig 1896.
") O. Keller, Die antike Tierwelt. Bd. 1, (S. 218)
Leipzig 1909.
3) E. Schaff, Jagdtierkunde. (S. 189.) Berlin 1907. "
*) U. Gerhardt, Das Kaninchen. Monogr. einheim.
Tiere, Bd. 2 (S. 13). Leipzig 1909.
S) L. Heck, Nagetiere. Brehm's Tierleben, Bd. II,
IV. Aufl., (S. 30). Leipzig und Wien 1914.
"} A. Schott, Martin Cromer's Beschreibung des König-
reichs Polen. (S. 47.) Leipzig 1741.
'') Das sogenannte „polnische Kaninchen" ist ein rein
F. Pax (Breslau).
Umstand, daß die Art in dem 1877 erschienenen
Verzeichnisse der polnischen Wirbeltiere von
W. Taczanowski') fehlt. Wir dürfen mit
Sicherheit annehmen, daß, wenn das Kaninchen
schon damals in Polen heimisch gewesen wäre,
seine Anwesenheit diesem Meister in der Be-
obachtung der Tierwelt nicht entgangen wäre.
Auch Hoyer-) führt in seinein Bestimmungs-
schlüssel der polnischen Wirbeltiere nur die Provinz
Posen als Fundort auf: „Pochodzi z Europy polud-
niowej i znajduje sie zdziczaly w wielu okolicach
Polski jak n. p. w W. Ks. PoznaiUkiem (Milos-
law)." Die in der „Encyklopedya Polska"^) ent-
haltene Bemerkung, daß das Kaninchen aus dem
südwestlichen Europa in die polnischen Länder
eingeführt worden sei, bezieht sich, wie mir Herr
Professor v. Niezabitowski (Nowy Targ) mit-
teilte, gleichfalls auf das Vorkommen bei Miloslaw
in Posen. Die zahlreichen Aufsätze Stolcmann's,
die sich hauptsächlich an die polnische Jägerwelt
wenden, enthalten keine Hinweise auf das Vor-
kommen von Orygctolagus cuniculus.
Während meines Aufenthalts in Russisch Polen
habe ich besonders auf die Verbreitung des wilden
veißer ,
Ha
Dtäugiger Albino , der in Galizien und Po
chtc
vird.
>) W. Taczanowski, Liste des vertebres de Pologne.
Bull. Soc. zool. France, Tom. 2. 1877.
■-) H. Hoyer, Klucz do oznaczania zwierzat kregowych
ziem polskich. (S. 298.) Krakow 19I0.
3) L. V. Niezabitowski, Öwiat zwierzecy na zicniiach
polskich. Encykl. Polska, Vol. I (S. 360). " Krakow 1912.
300
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 22
Kaninchens geachtet und die eigenen Erfahrungen
durch Anfragen bei zuverlässigen Beobachtern zu
ergänzen versucht. Als Resultat ergab sich, daß
das wilde Kaninchen in Russisch-Polen keineswegs
fehlt, wenn es auch nicht so häufig auftritt wie
in vielen Gegenden Deutschlands. In der mittel-
polnischen Ebene ist es z. B. bei Kaiisch, Zdunska,
Wola, Lodz, Skiernewice und an der Bzura anzu-
treffen; im Hügellande Südpolens hat es Herr
Hauptmann Schumann (Breslau) bei Czenstochau
und Nowo Radomsk beobachtet. Allemir bekannt ge-
wordenen Fundorte, auf deren Aufzählung ich wohl
verzichten darf, liegen auf dem linken Weichsel-
ufer. Die gleiche Beobachtung hat für das Gebiet
des Generalgouvernements Warschau Herr Ober-
forstmeister Dr. Laspeyres gemacht. Seinen
Mitteilungen entnehme ich, daß wilde Kaninchen
in allen Forstinspektionen links der Weichsel er-
legt worden sind und daß die östlichsten Vorposten
innerhalb des Generalgouvernements Warschau
sich gegenwärtig wohl im Kreise Warschau-Land
befinden. Das Fehlen des wilden Kaninchens auf
dem rechten Weichseluler wird übrigens auch
durch andere Beobachter bezeugt. So betont Herr
Ed. J. R. Scholz (Königshütte) besonders, daß
bei Komarow, im Kreise Oströw, wo Sand und
Kiefernheide vorherrschen, wilde Kaninchen nicht
vorkommen.
Zwischen den Angaben in der Literatur und
den tatsächlichen Befunden besteht also ein er-
heblicher Widerspruch. Da Beobachtungsfehler
wohl kaum vorliegen dürften, bleibt nur die An-
nahme übrig, daß das wilde Kaninchen erst in den
letzten zwei bis drei -Jahrzehnten in Russisch-Polen
eingewandert ist. Diese Vermutung gewinnt da-
durch an Wahrscheinlichkeit, daß Oryctolagus
cuniculus auch in manchen Teilen der Provinz
Posen noch in Ausbreitung begriffen ist. Wenigstens
ist die Art in Janowitz nach Szulczewski') erst
seit etwa zwanzig Jahren heimisch. In Schlesien -)
war das Kaninchen noch am Ende des sechzehnten
Jahrhunderts im wilden Zustande unbekannt, hat
sich aber hentzutage, vor allem in den Oderkreisen
von Grünberg bis Steinau zu einer wahren Land-
plage entwickelt. In Oberschlesien reicht sein Ver-
breitungsgebiet bis an die polnische Grenze. Bei
Stahlhammer, Idaweiche, Laurahütte und Tarnowitz
sind Kaninchenbaue nicht selten. Die Einwanderung
des Kaninchens nach Russisch-Polen scheint im
wesentlichen von Schlesien und dem südlichen
Posen ausgegangen zu sein. Daß von dem rechts
der Weichsel gelegenen Teile Westpreußens keine
Invasion erfolgt ist, ist wohl auf die große Aus-
dehnung feuchter Niederungen im nördlichen Polen
zurückzuführen. Gerade die nördlich der Weichsel
und des Narew gelegene Landschaft bietet dem
Kaninchen viel weniger günstige Ansiedlungsbe-
dingungen als das linke Weichselufer Polens.
') A. Szulczewski, Zur Säugetier- und Vogelfaun
der Umgegend von Janowitz (Kr. Znin). Zeitschr. natur«
Ver. Posen, 17. Jahrg., 1910.
■^) F. Pax, Wandlungen der schlesischen Tierwelt i
geschichtlicher Zeit. Beitr. Naturdenkmalpfl., Bd. 5, 1916.
Einzelberichte.
Astronomie. Die in der Geschichte der
Neuen Sterne bekannteste und wichtigste ist die
Nova Persei von 1901, die ganz plötzlich an
einer Stelle als Stern heller denn die erste Größe
erschien, wo nachweislich auf photographischen
Platten 24 Stunden vorher kein Stern heller als
12 Größe gewesen war. Die Nova hatte also sich
um wenigstens das 60000 fache an Helligkeit
vergrößert. Der ungeheure Wert jenes Erscheinens
lag darin, das die große Helligkeit alle modernen
Mittel des Spektroskopes anzuwenden erlaubte,
so daß eindeutig die Streitfrage entschieden werden
konnte, worin das plötzliche Aufleuchten seinen
Grund hat. Man schwankte zwischen der Zu-
sammenstoß-Hypothese, die theoretisch wenig
wahrscheinlich ist, und der Annahme, daß das
Eindringen eines Sternes in eine kosmische
Wolke dessen Vorderseite einem solchen Meteor-
hagel aussetze, daß sie dadurch zu leuchten be-
ginne. Hier wurde unzweideutig für die zweite
Annahme entschieden. Man stellte nach kurzer
Zeit fest, daß sich um den Stern ein bis dahin
unbekannter Nebel zeigte, daß in diesem unregel-
mäßige Struktur zu sehen sei, und daß der Nebel
an Ausdehnung mit Lichtgeschwindigkeit zunehme.
Außerdem nahm die Helligkeit des Sternes bald
ab, und die Abnahme geschah in 5 tägigen
Schwankungen. Es war also der Stern, dessen
Umdrehungszeit 5 Tage beträgt, in die kostnische
Wolke eingedrungen, hatte sich auf der vorderen
Seite sehr schnell sehr stark erhitzt, und war uns
so erschienen. Die von dieser Seite ausgehende
Lichtfülle erfüllte die dunkle Wolke und machte
sie auf diese Weise auch leuchtend. Indem das
ausgesandte Licht immer neue Teile des Nebels
ergriff, schien dieser zu wachsen, was mit Licht-
geschwindigkeit geschah. Nun ist im Laufe der
Zeit der Stern immer schwächer geworden, steht
aber unter dauernder Kontrolle. Noch immer
dauert seine Veränderlichkeit an, die Schwankung
war 1915 noch 1,7 Größen, jetzt 0,6 Gr. Der
umgebende Nebel war 1915 unsichtbar geworden,
ist aber seit 4. Sept. 1916 wieder auf den Auf-
nahmen sichtbar, sehr klein, etwa 15" Durch-
messer. Merkwürdigerweise zeigt die Nova einen
Begleiter, der sich auffallend verhält. Er war vor
1901, also vor dem Aufleuchten der Nova, 11,9 Gr.,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
301
ein halbes Jahr später 14,7 Gr. Im Dezember
1901 schwächer als 14 Gr., 3. August 191 3 wird
er als 15,7 Gr. angegeben, ist also an der Grenze
der Sichtbarkeit. Welches nun auch der innere
Zusammenhang beider Sterne und des Nebels
sein mag, soviel ist klar, daß sich der Begleiter
umgekehrt wie die Nova verhält. Vor deren
Auftauchen war er der hellere, seitdem aber die
Nova erschien, nimmt er langsam ab, ohne daß
ein Grund dafür anzugeben ist, und ebenso rätsel-
haft ist das Verhalten des zugehörigen Nebels.
Hier gilt es noch viel astronomische Kleinarbeit
zu leisten, die freilich durch die gegenwärtige
ungemeine Lichtschwäche aller drei Objekte sehr
schwierig ist. Riem.
Das eingehende Studium der Veränderlichen
mit den neuen Hilfsmitteln, die Schwankungen
von weniger als ^j|,u Größenklassen messen lassen
(diese Zcitschr. 191 5 S. 188), führt zu immer
interessanteren .Aufschlüssen über die physische
Natur dieser doppelten oder mehrfachen Systeme.
So haben soeben Guthnick und Prager an
der Sternwarte BerlinBabelsberg eine Messungs-
reihe an beta Lyrae veröffentlicht, Ber. der Berl.
Akad. d. Wiss. 191 7, XII, S. 222, dessen Licht-
kurve zwar schon lange einigermaßen bekannt
war, nun aber noch charakteristische Eigentüm-
lichkeiten gezeigt hat, die mit den bisherigen
Hilfsmitteln nicht aufzufinden waren. Der Licht-
wechsel beträgt in 12,92 Tagen 0,877 Größen,
er weist außer dem Maximum ein Haupt- und
ein Nebenminimum auf. Das System gehört zu
den Bedeckungssternen, bei denen der Licht-
wechsel durch das Dazwischentreten des einen
der beiden Sterne in die Gesicht.slinic bewirkt
wird. Der Hauptstern ist etwas heller als der
Begleiter, der aber die größere Flächenhelligkeit
hat, und beim Hauptminimum ganz bedeckt wird.
Der Hauptstern muß eine sehr hohe und sehr
stark Licht absorbierende Atmosphäre haben,
während außerdem noch das ganze System eine
gemeinsame Gashülle zu haben scheint. Beide
Sterne sind jedenfalls Gassterne, sie sind einander
sehr nahe, so daß sie sich gegenseitig durch ihre
Gezeiten bildende Kraft stark aus der Kugel-
gestalt umformen und Rotationsfiguren bilden,
die aufeinander zu gerichtete Achsen haben. Die
große Halbachse der Bahn bestimmt sich zu
34,4 Millionen km, die große und kleine Halbachse
des Hauptsternes zu 15,75 und 12,69 ^^I'H- km,
die des Begleiters zu 8,34 und 6,72 Mill. km, so
daß also die Oberflächen beider Sterne nur etwa
10,3 Mill. km voneinander entfernt sind, das ist
Vr, des Abstandes des Merkur von der Sonne.
Trotz dieser großen Ausdehnung ist die Masse
beider Sterne zusammen nur höchstens 9,7 mal
so groß wie die der Sonne, weil die Dichte der
Sterne bei dem ersten nur etwas mehr beträgt
wie die der Luft bei 760 mm Druck, bei dem
Begleiter ist der Wert nur V3 davon. Man muß
sich wundern , daß so dünne Gasmassen in so
hoher Temperatur sich nicht völlig in den Raum
verflüchtigen können, sondern durch ihre Gravita-
tionswirkung zusammengehalten werden.
Riem.
Botanik. Seit Delpino die Behauptung
aufgestellt, daß manche Pflanzen durch Schnecken
bestäubt werden, ist in der einschlägigen Literatur
eine ganze Reihe von Angaben über „malakophile"
Blüten, die z. T. dem Besuche dieser Tiere be-
sonders angepaßt seien, zusammengekommen. In
einem fesselnden Aufsatz (im Nachrichtenblatt der
Deutschen Malakozoologischen Gesellschaft 1917,
S. 49 fif.) unterzieht E h r m a n n die Frage einer
Bestäubung von Blüten durch Schnecken einer
dankenswerten kritischen Untersuchung.
Bisher waren es fast ausschließlich Blütenbio-
logen, die sich über den Gegenstand eingehend
geäußert hatten. Die Pflanze und etwa vor-
handene Einrichtungen, die eine Deutung im Sinne
einer Anpassung oder wenigstens Eignung für
den Schneckenbesuch zuließen, standen immer im
Mittelpunkt der Erörterung; — um das Tier
kümmerte man sich weniger und nahm seine
Tauglichkeit zur Pollenübertragung gewissermaßen
als selbstverständlich an. Bei der schleimigen
Beschaffenheit der Haut „mußten" ja Pollenkörner
am Körper des Tieres haften bleiben und so von
Blüte zu Blüte transportiert werden. Für E h r m a n n
als erfahrenen Schneckenspezialisten verstand sich
die Befähigung zum Pollentransport nun nicht so
ohne weiteres. Im Gegenteil ließ eine Überlegung,
die die Eigentümlichkeiten der Bewegung und
Schleimabsonderung der Schnecken berücksichtigte,
eine Pollenübertragung von vornherein als sehr
zweifelhaft erscheinen. „Während das Tier vorwärts
gleitet, . . . ergießt sich von vorn her ein Sekret-
strom unter die Kriechsohle, breitet sich da, einem
Teppich vergleichbar, aus" und „glättet alle feineren
Unebenheiten des Bodens." „Da die Schnecke ihr
Schleimband der Unterlage andrückt und es hinter
sich liegen läßt, nachdem sie darüber hingeglitten,
so können auch leichte Körperchen, die unter die
Schleimspur zu liegen kamen, wohl um geringe
Beträge aus ihrer Lage verschoben, keinesfalls aber
durch das Tier weiterbefördert werden." Daher
ist nicht nur ein Transport von Pollen an der Sohlen-
fläche ausgeschlossen, sondern es folgt daraus so-
gar, daß eine Menge Pollenkörner verklebt, An-
therenfächer und Narbenflächen mit der zusammen-
trocknenden Schleimschicht bedeckt und so ihrer
Bestimmung entzogen werden. Es wäre aber noch
an die Möglichkeit zu denken, daß an den Seiten-
flächen des Schneckenkörpers gelegentlich
Pollenkörner haften bleiben. Bei der Zähigkeit
und Klebkraft des Schneckenschleimes wäre die
Übertragung auf eine Narbe jedoch selbst in diesem
Falle nur dann möglich, wenn die Narbenflüssigkeit
den Schneckenschleim an Klebkraft noch über-
träfe.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 22
Unter diesen Umständen war eine Nachunter-
suchung der älteren Angaben dringend geboten,
zumal sich bei näherem Zusehen zeigte, daß der
behauptete Bestäubungsvorgang selbst tatsächlich
niemals wirklich beobachtet sondern nur per analo-
giam erschlossen wurde ! E h r m a n n wählte als
Versuchsobjekt die Schlangenwurz (Calla palustris),
die unter allen einheimischen Pflanzen noch am
ehesten eine Bestäubung durch Schnecken erwarten
ließ. Er setzte die gewöhnliche Ackerschnecke
(Agriolimas agrestis) und eine kleine Rernstein-
schnecke (Succinea putris) auf den Stengel kurz
unterhalb eines Blütenstandes, dessen Hüllblatt zur
besseren Übersicht entfernt worden war, und ver-
folgte mit Hilfe eines Stereo Mikroskopes die sich
abspielenden Vorgänge. Bei der angewandten 15-
und 35-fachen Vergrößerung war es möglich, das
Schicksal jedes bewegten Pollenkornes bis zu seiner
Festlegung zu verfolgen. Genau wie erwartet,
wurde der Pollen aus den Antheren, die unter die
Sohle zu liegen kamen, nicht nur nicht verschleppt,
sondern festgelegt. Die Körnchen aber, die an der
Seite des Schneckenkörpers haften blieben, wurden
mehr oder weniger schnell zusammen mit den sie
tragenden Schleimteilchen in das Sohlenschleim-
band einbezogen und zwar um so rascher, je näher
sie dem Sohlenrande waren. „Diese Beobachtungen
machen es klar, daß die Schnecke beim Kriechen
nicht einfach eine Sohlenschlelmspur hinterläßt,
sondern daß sie gemäß der andauernden Sekretion
aller Hautdrüsen gewissermaßen dauernd aus einer
Schleimhülle, einem Schleimhemd, herausschlüpft,
das als zusammenfallender Schlauch — freilich von
ungleicher Wandstärke — hinter ihr liegen bleibt."
Das einzelne Pollenkorn, das irgendwie mit dieser
Schleimhülle in Berührung kommt, ist ihr unentrinn-
bar verfallen. Immerhin wäre es, wenn ausnahms-
weise ganze Pollen h äu fc h e n und zwar in ge-
eigneter Höhe aufgeladen werden, die Schnecke
bald neben eine empfängnisbereite Narbe kommt
und ferner das Pollenhäufchen inzwischen am
Schneckenkörper eine entsprechende Lage einge-
nommen hat, nicht ausgeschlossen, daß die äußeren
Körner des Pollenhäufchen auf der Narbe haften
bleiben und so eine Bestäubung eintritt. Schon die
Häufung der dazu nötigen Bedingungen zeigt zur
genüge, daß dieser Fall, wenn überhaupt, doch nur
sehr selten eintreten wird. Zur Beobachtung
kam er jedenfalls nicht. Der geringe Vorteil, der
in einer solchen ganz gelegentlichen Bestäubung
liegt, steht aber in gar keinem Verhältnis, zu dem
Schaden, der der Blüte aus dem Schneckenbesuch
erwächst — selbst wenn man von den Verheerungen,
die die Freßgier dieser Tiere anrichtet, ganz
absieht: Antheren und Narben, die in der Kriech-
bahn hegen, werden völlig verklebt und damit
auch einer Bestäubung durch berufene Gäste
entzogen.
Auf Grund der an der Calla gemachten Er-
fahrungen unterzieht Ehr mann auch die über
andere einheimische angeblich malakophile Pflanzen
(Arum, Lemna, Chrysosplenium und Kompositen)
vorliegenden Angaben einer kritischen Musterung
und stellt weitere experimentelle Untersuchungen
in Aussicht. Die Ausführungen Eh rman n 's sind
so überzeugend, daß über deren Ausfall kaum
Zweifel bestehen können. Wie es mit Pflanzen
anderer Klimate bestellt ist, entzieht sich freilich
einstweilen einem sicheren Urleil. Solange aber
kein Fall einer regelmäßigen Bestäubung durch
Schnecken wirklich nachgewiesen ist, hat
die „Malakophilie" aus den einschlägigen Lehr-
büchern zu verschwinden. B.
Meteorologie. Da in diesem Kriege besonders
häufig Gelegenheit geboten war, für den Geschütz-
donner Zonen des Schweigens und Zonen abnormer
Hörbarkeit zu beobachten, so hat die Erscheinung
von neuem eine Reihe von wissenschaftlichen
Erklärungsversuchen verursacht. W. Schmidt hat
gezeigt, daß die Reflexion der Schallstrahlen an
der Wasserstoftatmosphäre nicht in Frage kommen
kann, da die Intensität der Schallwellen dazu nicht
ausreicht. R. Emden (Sitzgsber. der kgl. bayr.
Akad., math.phys. München 1916, S. 113) teih
jetzt einen sehr beachtenswerten Erklärungsversuch
mit, der den Vorteil besitzt, eine genaue mathe-
matische Behandlung zuzulassen und durch meteo-
rologische Beobachtungen nachzuprüfen sein dürfte.
Emden leitet die Bahn eines Schallstrahles in
der Atmosphäre ab unter der Bedingung, daß ein
konstanter Temperaturgradient in ihr vorhanden
ist. Es ergibt sich eine Zykloide oder angenähert
eine Kettenlinie, die nach oben konkav ist. Die
unterste Grenzkurve ist diejenige, die von der
Erdoberfläche am Ort der Schallquelle tangiert
wird, vorausgesetzt, daß die letztere sich unmittel-
bar am Erdboden befindet. Dann ergibt sich, daß
der Schall für ein Ohr in 1,5 m Höhe bis zu i km
Entfernung zu hören ist ; von Beugungserschei-
nungen und dgl. ist hierbei natürlich abgesehen.
Unterhalb der Grenzkurve liegt die Zone des
Schweigens.
Ein Wind von konstanter Stärke drückt nun
die Grenzkurve in der Windrichtung nieder, in
der entgegengesetzten Richtung aber aufwärts, .so
daß für die gleiche Höhe die Hörbarkeit in Lee
wachsen, in Luv aber abnehmen wird. Die Kurve
würde aber stets weiter noch oben gerichtet sein
und könnte nur durch abnorm starke Temperatur-
zunahme wieder abwärts gelenkt werden. Die
Sachlage ändert sich aber, sobald, wie es ja in
der Regel der Fall ist, die Windstärke mit der
Höhe zunimmt. Dadurch wird die Temperatur-
abnahme überkompensiert. So genügt bei dem
sehr starken Temperaturgradienten von 0,85° pro
100 m Höhe schon eine Windzunahme von 5 m
pro Sek. auf looo m Höhe um in Lee einen ge-
radlinigen Strahl zu erzeugen. In Luv findet eine
entsprechend starke Verbiegung nach oben statt.
Grenzen zwei gleichtemperierte Schichten mit
verschiedener Windstärke aneinander, so genügen
schon kleine Windsprünge, um bei flach einfallenden
N F. XVI. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
303
Wellen Totalreflexion zu erzeugen. Solche akus-
tischen Schlieren können auch stark zum Rollen
des Donners beitragen.
Zur Erläuterung wird ein Beispiel angeführt.
Es wird in der Atmosphäre eine Temperatur-
abnahme von 0,62" auf 100 m angenommen. In
der Bodenschicht soll bis 3SO m Windstille herr-
schen, und darüber soll auf je lOOO m die Wind-
geschwindigkeit um 4 m pro Sekunde zunehmen.
Dann erreicht der Grenzstrahl seinen höchsten
Punkt in 3350 m Höhe und steigt von da in der
symmetrischen Kurve wieder abwärts, so daß er
in 161 km Entfernung von der Schallquelle wieder
den Erdboden erreicht. Dort beginnt also eine
neue Zone der Hörbarkeit. Dies würde mit den
Beobachtungen hinreichend übereinstimmen. In
der Zone des Schweigens können Gebirge bis zur
Höhe der Grenzkurve aufsteigen, ohne die Hör-
barkeit zu beeinflussen, vorausgesetzt natürlich,
daß die Windverhähnisse dadurch keine wesentliche
Änderung erfahren.
Befindet sich die Schallquelle in einer ge-
wissen Höhe über dem Erdboden, so wird die
analytische Behandlung des Problems schwieriger.
Die Grenze zwischen den Zonen des Schweigens
und der Hörbarkeit wird dann nicht durch einen
äußersten Schallstrahl, sondern durch ein mehr
oder weniger schmales Übergangsgebiet gebildet.
Scholich.
Zoologie. Insektenfährten im Ladenstaub natur-
wissenschaftlicher Sammlungen. Auf dem Boden
verstaubter Schubladen fand Toldt (Zoolog. An-
zeiger 1916) ein eigenartiges Gewirr von Fährten,
die im einzelnen ganz charakteristische Aubbildung
zeigten. Es handelte sich um Gehspuren von
verschiedenen Insekten, die allerdings lebend nicht
mehr aufgefunden werden konnten. Um sie zu
identifizieren, stellte Toldt zum Vergleiche Ver-
suche mit lebenden Insekten an, die gelegentlich
in Sammlungen vorkommen, und ließ sie einzeln
auf staubigen Ladenböden gehen.
Er fand zunächst, daß die Spuren sowohl von
Larven als von ausgebildeten Tieren erzeugt
wurden. Von Käferlarven oder Mottenraupen
stammten F"ährten her, welche ihrer ganzen Breite
nach weiß, also voll sind und oft einen stark
gewundenen Verlauf nehmen. Die Tiere gehen
langsam und haben keine bestimmte Richtung.
Die Spuren von Käfern dagegen bestehen der
Hauptsache nach aus zwei parallelen, mehr oder
weniger eng nebeneinander verlaufenden Reihen
von unregelmäßigen Sternchen oder Strichelfiguren,
die auch zu einer Zickzack- oder Wellenlinie zu-
sammenfließen können. Da die ausgebildeten
Käfer gewöhnlich beweglicher sind als ihre Larven,
nehmen die Spuren mehr einen geraden, ziel-
sicheren Verlauf
Volle Fährten sind oft nicht ganz rein, sondern
durch Staubteilchen verunreinigt, weil die be-
haarten Larven Staubballen mitschleppen, die da
und dort wieder abgeladen werden. Bei jungen
Larven der Nekrobia rufupes Degeer, die gerne
osteologische Sammlungen befällt, sind die Rand-
konturen ziemlich scharf und die Spur ist in
frischem Zustand fast ganz rein gefegt. Die Tiere
legen knäuelartig verschlungene Wege zurück
und beschränken sich meist auf einen ziemlich
engen Raum. Die alten Larven, welche bis zu
10 mm groß werden können, kriechen ziemlich
rasch und geradeaus und hinterlassen eine
2 mm breite, ziemlich scharf konturierte reine
Spur.
Ebenfalls zart, aber in großen Bogen und
Schlingen verläuft der Weg der Anthrenuslarve
(Kabinettkäfer), eines bekannten Sammlungs-
schädlings. Sie hat längere Beine und einen
ziemlich kurzen Rumpf und erzeugt daher eine
w-eniger ruhige und unreine Spur. Das Bild
unterscheidet sich bei jungen und allen Larven
nur durch die Breite.
Dermesteslarven (Speckkäfer) hinterlassen eine
Spur, die außer einem vollen 2 mm breiten
Streifen beiderseits an diesen anschließend je eine
nahezu ebenso breite dicht fein und longitudinal
punktierte Zone zeigt, so daß die Gesamtbreite
der Fährte ungefähr 5 mm beträgt.
Mottenraupen erzeugen ähnliche Spuren wie
Käferlarven.
Aus zwei parallelen Reihen von zumeist alter-
nierenden dicht hintereinander liegenden kleinen
unregelmäßigen Stern- , Strich- oder Häckchen-
figuren besteht die Spur des ausgebildeten Kabinett-
käfers (Anthrenus). Nekrobia rufupes marschiert
so, daß zwischen den zwei Reihen von Stern-
punkten oder Strichelchen meistens eine mehr
oder weniger kontinuierliche Reihe kurzer
Strichelchen verläuft , welche so nahe hinter-
einander folgen, daß sie oft zusammenfließen und
streckenweise eine einheitliche ziemlich gerade
Linie bilden. Bei Dermestes lardarius setzen sich
die beiden seitlichen Reihen aus unregelmäßig
longitudinal gerichteten Zickzackfiguren zusammen,
die vielfach wellenförmig ineinander fließen.
Viel zarter als die Spuren der ausgebildeten
Käfer sind diejenigen der Mottenimagines. Sie
sind oft bis zu 6 mm breit und bestehen aus
zwei parallelen Reihen feiner ziemlich langer
Strichelchen, die längs gerichtet sind und knapp
hintereinander folgen. Oft geht nach der Seite
ein kurzes Strichelchen ab, das ofi"enbar von dem
Sporn herrührt, der an den Beinen der Motten
kräftig ausgebildet ist. F. St.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 22
Bücherbesprechuugen.
Beiträge zur Kenntnis der Land- und Süßwasser-
fauna Deutsch-Südwestafrikas, herausg. von
W. Michaelsen. Lief. 3. 63 S. 8». i Taf.
und I Textabb. Hamburg 191 5. — Preis 4M.
In dieser Lieferung behandelt M.Bern hau er
die Staphyliniden und Fr. Werner die Rep-
tilien und Amphibien. Unter den 26 Staphyli-
niden werden 6 neue Arten und für eine siebente
eine neue, in ihrer Stellung etwas zweifelhafte
Gattung {Pcricrpoi/) aufgestellt. Die Zahl der
Reptilienarten stellt sich auf 67 (4 Testudiniden,
38 Lacertilier und 26 Ophidier), die der Am-
phibien (nur Batrachier) auf 9. Neu ist eine zu
den Colubriden gehörende, Prosynina nahe-
stehende Gattung, die den Namen Micaela erhält
(mit pcninsiifa n. sp.). Von Interesse sind die
Angaben über den im Dünensande lebenden und
nur nachts auf Nahrungssuche ausgehenden Pabuato-
gcckt/ raiigri', der aufgeschreckt eine Kampfstellung
annimmt, den Körper auf den schlanken Beinen
wiegend nach vorn und rückwärts bewegt, dabei
den Schwanz hoch und nach oben gekrümmt hält
und zischende Laute von sich gibt; die Zehen
der 4 Beine sind, um das Einsinken in den losen
Sand zu verhüten, durch eine breite Membran
untereinander verbunden. Der mit ihm verwandte
Sfcnodacfyli/s pctrici Aud., der in den Sandwüsten
Ägyptens, Tripolitaniens und Algeriens lebt, aber
der „Sandschwimmhäute" entbehrt, nimmt ge-
legentlich ähnliche Stellung ein. M. Braun.
Anregungen und Antworten.
Bestecke,
Herrn Dr. W. W. — Ein neueres Praktikum der makro-
skopiscben Anatomie der Wirbeltiere, in dem Vertreter aller
Wirbeltierklassen eingehend behandelt und genaue
Weisungen über die Verwendung der anatomische
der Injektionsspritzen usw. sowie zur Herstellung von makro-
skopischen Dauerpräparaten gegeben werden, existiert nicht.
Zur Einführung in das praktische Studium der Wirbelticr-
anatomie können indessen zunächst die zoologischen Praktika
dienen, in denen die Wirbeltiere teils mehr teils weniger
ausführlich behandelt werden. In Betracht kommen folgende
Praktika :
Braun, M., Das zootomische Praktikum. Eine Anleitung
zur Ausführung zoologischer Untersuchungen für Studierende
der Naturwissenschaften, Mediziner, Ärzte und Lehrer. Stutt-
gart 1886.
Hatschek, B. und Cori, C. J., Elementarkurs der
Zootomie in 15 Vorlesungen. Jena 1896.
Kükenthal, W., Leitfaden für das zoologische Praktikum.
6. Aufl. Jena 1912.
Mojsisovics,A., Leitfaden bei zoologisch-zootomischen
Präparierübungen für Studierende. Leipzig 1879.
Vogt, C. und Yung, E., Lehrbuch der praktischen
vergleichenden Anatomie. 2 Bde. Brauuschweig 1888— 1894.
Am meisten im Gebrauch ist heute das Praktikum von
Kükenthal, in dem 7 Vertreter der Wirbeltiere besprochen
werden: Amphioxus, Scyllium , Leuciscus, Rana, Lacerta,
Columba und Lepus. Am ausführlichsten ist das Lehrbuch
von Vogt und Yung, das, obwohl bereits vor 25 Jahren
erschienen, auch heute noch empfohlen werden kann. Die
anderen Praktika werden zweckmäßig in Verbindung mit einem
der folgenden Lehrbücher benutzt:
Gegenbaur, C, Vergleichende Anatomie der Wirbel-
tiere mit Berücksichtigung der Wirbellosen. 2 Bde. Leipzig
1S98 und 1901.
Schimke witsch, \V., Lehrbuch der vergleichenden
Anatomie der Wirbeltiere. Stuttgart 1910.
Wiedersh eim , R., Vergleichende Anatomie der Wirbel-
tiere. 7. Aufl. Jena 1909.
Schließlich sei noch auf den ersten Band der „Mono-
graphien einheimischer Tiere" hingewiesen, in dem die
Anatomie des Erosches, der zur Einführung in das praktische
Studium der Wirbeltiere wohl das geeignetste Objekt ist, eine
eingehende Darstellung findet:
Hempelmann, F., Der Erosch. Zugleich eine Ein-
führung in das praktische Studium des Wirbeltier -Körpers.
Leipzig 190S.
Die vorstehend genannten Praktika geben zumeist schon
genügende Auskunft über die anzuwendende Technik, ent-
halten teilweise auch Angaben über die Anfertigung makro-
skopischer Dauerpräparate, jedoch können zur Ergänzung
noch zu Rate gezogen v/erden :
Dahl, K., Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen
Sammeln und zum Konservieren von Tieren. 3. Aufl. Jena 1914.
Schuberg, A., Zoologisches Praktikum. 1. Bd ; Ein-
führung in die Technik des zoologischen Laboratoriums.
Leipzig 1910.
In dem Schuber g' sehen Praktikum — der II. Bd.,
der den speziellen Teil enthalten soll, ist bisher nicht er-
schienen — werden genaue Anweisungen gegeben über die
Einrichtung des Laboratoriums, über das zum Präparieren er-
forderliche Instrumentarium, das Töten der zur Präparation
bestimmten Tiere, die Ausführung der Präparation, das
Konservieren, die Anfertigung von Durchschnitten, die Iso-
lation von Hart- und SkeleUeilen, über die Injektionsmethoden,
die Aufstellung und Aufbewahrung anatomischer Präpa-
rate usw. Nachtsheim.
Wie Herr Oberstudienrat Prof. Dr. K. Lampert in
Stuttgart mitteilt, ist als Bestimmungsbuch für die bei uns
kultivierten, nicht einheimischen Slräuclier und Bäume auch
empfehlenswert: Otto Feucht, Parkbäume und Ziersträucher.
Stuttgart. Strecker & Schröder. 1,40 M. Für den gleichen
Zweck empfiehlt Herr Prof. H. Kunze in Cassel das Buch
von A. Lehmann, Unsere Gartenzierpflanzen. Zwickau,
Förster und Borries. 8 M.
Inhalt: G. Dittrich, Die Pilzvergiftungen der letzten Jahre. S. 297. F. Pax, Die Verbreitung des wilden Kaninchens
in Russisch -Polen. S. 299. — Einzelbetichte : Riem, Neue Sterne. S. 300. Guthnick und Prager, Die
Veränderlichen. S. 301. Ehrmann, Bestäubung von Blüten durch Schnecken. S. 301. W. Schmidt, Zonen
abnormer Hörbarkeit. S. 302. Toldt, Insektenfährten im Ladenstaub naturwissenschaftlicher Sammlungen. S. 303. —
Bücherbesprechungen: Beiträge zur Kenntnis der Land- und Süßwasserfauna Deutsch-Südwestafrikas. Lief. 3. S. 304. —
Anregungen und Antworten: Praktikum der makroskopischen Anatomie der Wirbeltiere. S. 304. Bestimmungsbuch
für die bei uns kultivierten nicht einheimischen Sträucher und Bäume. S. 304.
Manuskripte und Zuschrifte
Druck der G
Invalidenstraße 42, erbeten.
eu an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. O. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den lo. Juni 1917.
Nummer 33.
Die Bedeutung der Anatomie lebender und fossiler Hölzer
für die Phylogenie der Koniferen.
Von Dr. R. Kräusel.
Mit 9 Originalzeichnungen und Photographien vom Verfasser.
[Nachdruck verboten.]
Hins der Hauptprobleme der modernen Syste-
matik ist die Erkenntnis der natürlichen Ent-
wicklung des Pflanzenreichs, die Aufstellung von
Entwicklungsreihen. In dem jeweils angenommenen
System finden diese Anschauungen ihren Ausdruck.
Die benutzten Merkmale sind in erster Linie Bau
und Entwicklung der Fruktifikationsorgane, aber
auch der vegetativen Pflanzenteile. Selbstverständ-
lich kann eine solche Betrachtung an den fossilen
Pflanzenresten nicht achtlos vorübergehen, sie
wird im Gegenteil gerade aus ihrem Studium
ceen und Araucarien." Neuerdings ist auch ver-
sucht worden, auf vergleichend anatomischer
Grundlage zu einem Stammbaum der Koniferen
zu gelangen. Wenn derartige Betrachtungen,
sofern die Morphologie besonders der P"rukti-
fikationsorgane unberücksichtigt bleibt, im allge-
meinen auch als einseitiges und daher oft irre-
führendes Verfahren angesehen werden müssen, so
ist es um so beachtenswerter, wenn, wie in
unserem Falle, Penhallow') auf diesem Wege
fast zu gleichen Schlüssen wie E i c h 1 e r gelangt.
Die Bemühungen, den Bau des Holzes für
eine systematische Bestimmung der Gruppe und
besonders der überaus zahlreichen fossilen Stamm -
Querschnitt eines Holzes aus der Br
(Taxodio.tylon). II Harzparenchym.
M Mirkbtrihl
wichtige Schlüsse ziehen. Für die Koniferen möge
als Beispiel das von E i c h 1 e r ') auf Grund morpho-
logischer Betrachtungen aufgestellte System dienen,
das sich im ganzen weitester Anerkennung erfreut.
Es entspricht der schon von Schenk-) ausge-
sprochenen Ansicht, daß „die jetzt noch vor-
handenen Nadelhölzer sich als eine Gruppe er-
weisen, welche zum Teil aus Formen besteht,
welche wir nur als Reste einer früher reichlicher
entwickelten Formenreihe betrachten können,
andererseits aus solchen, deren Auftreten in eine
spätere Zeit fallend, jetzt noch in voller Blüte
stehen. Zu den letzteren wird man die Ahictincen
rechnen müssen, wohl auch einen Teil der Ciipressi-
nccii und Taxodiiiccn, zu den ersteren die Taxa-
') In Engler - Prantl, Natürl. Pflanzenfam. II. I.
Leipzig 1889.
2) Schenk, A., Handbuch der Botanik. IV. Breslau 1 890.
reste zu verwerten, reichen nun bald ein Jahr-
hundert zurück. Es ist hier nicht möglich, den
Weg im einzelnen zu verfolgen, den die F'orschung
auf diesem Gebiete gegangen ist. Näheres findet
der Leser an anderem Orte, "j Die größten Ver-
dienste erwarb sich hier Goeppert, was be-
sonders betont werden muß, da in neuerer Zeit
der Wert seiner Arbeiten, die natürlich zum Teil
nicht mehr dem heutigen Standpunkte entsprechen,
zu Unrecht verkannt worden ist. Auf seinen wie
den Untersuchungen von Kraus fußten lange
Zeit alle Arbeiten über fossile Koniferenhölzer. ')
') Penhall ow, D. P. , Manual of North American
Gymnosperms. Boston 1907.
2) Es ist nicht möglich, hier die in Frage stehenden
Arbeiten einzeln zu nennen. Ausführliche Literaturnachweise
habe ich in meiner „Tertiärflora Schlesiens" (Jahrbuch Preuß.
Geol. Landesanstalt f. 1916) und der Arbeit „Die fossilen
Koniferenhölzer" gegeben, die in der Palaeontographica erscheint.
3o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 23
Ihr Ergebnis war nicht ermutigend, gipfelte es
doch in der Erkenntnis, daß die verschiedenen
Gattungen, um von den Arten ganz zu schweigen,
im Bau des Holzes so sehr übereinstimmen, daß
eine Trennung nicht möglich ist. Nur fünf große
Sammelgruppen glaubte man nach ebensoviel Bau-
typen unterscheiden zu können. Zahlreichere
spätere Versuche, hier Abhilfe zu schaffen, hatten
keinen Erfolg, weil die Merkmale, die man be-
nutzte, wie Breite der Jahresringe, Dicke der Zell-
wände, die Anzahl und Weite der Zellen usw.
systematisch wertlos waren. Man ließ außer acht,
daß eben diese Verhältnisse innerhalb einer Art,
ja sogar innerhalb eines Individuums großen
Schwankungen ausgesetzt sind. Erst Gothan
war es vorbehalten, der Untersuchung neue Wege
zu weisen, indem er den hohen Wert des Mark-
strahlenbaues für die Bestimmung erkannte. Das
nach außen laufen (Abb. 6 u. 7). Diese selbst
bestehen aus Parenchymzellen, bei den Abictincen
auch aus Quertracheiden (Abb. 6) und sind, wie
Gothan unwiderleglich dargetan hat ') für die
Diagnostik von höchstem Werte. Der Bau ihrer
Zellen, namentlich die verschiedene Ausbildung
der Markstrahltüpfelung auf der radialen Wand, von
der Abb. 8 u. 9 die wichtigsten Typen darstellen,
eine ermöglicht weitgehende Gliederung der alten
großen Sammelgruppen, so daß wir in zahlreichen
Fällen die Gattung nach dem Bau des Holzes be-
stimmen können. Wir können folgende Bautypen
unterscheiden, wobei auch die wichtigsten Merk-
male genannt sein mögen. ^)
I. jb-aiicarioxylon. Umfaßt Araucaria und
Dannnara. Ohne Harzgäiige und Harzparenchym.
Tracheidentüpfel alternierend , Markstrahltüpfel
klein, spaltenförmig.
Abb. 3. Desgleicheu. Tangentialschnitt.
H Harzparenchym.
Holz aller Koniferen besteht in der Hauptsache
aus Tracheiden, die, wie unsere Bilder erkennen
lassen, auf der radialen, in manchen Fällen auch
der tangentialen Wand „Hoftüpfel" besitzen
(Abb. 2 u. 3). Sie sind bei den Araiicarien
alternierend, bei allen übrigen Koniferen aber
opponiert angeordnet (Abb. 5). Im letzteren
Falle sind sie oft durch zarte Membranleisten, die
„Sanioschen Streifen" voneinander getrennt.
Bekanntlich ist das Holz aller Nadelbäume äußerst
harzreich. Das Harz findet sich teils in den
Tracheiden (.\bb. 7), teils in besonderen Paren-
chymzellen und hat sich gerade im fossilen Holze
prachtvoll erhalten (Abb. i — 3). Querwände und
einfache Tüpfel unterscheiden die Parenchymzellen
deutlich von den Tracheiden (Abb. 5 b). Einige
Gattungen der Abictincen sind auch zur Aus-
bildung besonderer Harzgänge geschritten, die das
Holz von oben nach unten durchziehen. Mit
ihnen kreuzen sich andere, die in horizontaler
Richtung im Innern der Markstrahlen von innen
Abb. 4. Desgleichen. Querschnitt mit Harzgängen (Piceoxylon).
H Harzgänge.
2. Taxoxylon. Umfaßt Taxus, CcpJialofaxits
und Torrcya. Wie bei allen folgenden Tracheiden-
tüpfel opponiert. In den Tracheiden Spiralver-
dickungen.
3. Piceoxylon. Umfaßt Picea, Larix und
Pseudotsuga. Dickwandige Harzgänge, glatt-
wandige Quertracheiden und getüpfelte Mark-
strahlzell wände (yi(^/f//«cY//-Tüpfelung).
4. Piuuxyloii. Umfaßt Piiius. Wie oben,
Harzgänge aber in der Regel dünnwandiger, die
Markstrahltüpfel eiporig, oft sehr groß, die Wände
der Quertracheiden meist mit Zacken.
5. Ccdroxylo)!. Umfaßt Cednis, Abies und
die übrigen Abietiuecit. Abietiiiccn-lL\iLph\\ing. Harz-
gänge nur im Wundholz.
6. Juniperoxylon. Umfaßt Juniperus, Libo-
cedrus z. T., Fitzroya, Saxcgothaea. Markstrahl-
') Ausführliches hierüber in meinen genannten Arbeiten,
sowie bei Gothan, Zur Anatomie lebender und fossiler
Gymnospermenhölzer. Abhandl. Pieuß. Geol. Landesanstalt.
N. F. 44. Berlin 1905.
N. F. XVI. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
307
tüpfel cupressoid, die IMarkstrahlwände getüpfelt
(juniperoide Tüpfelung).
7. Citprcssiiio.xylon. Umfaßt das Gros der
C/ipressii/ccii , Scqiioia giganfca. Glattwandiges
Harzparenchym. Markstrahltüpfel mit schrägem
Porus (cupressoide Tüpfelung).
8. Glyptosfruboxylon. Umfaßt Glyptostrobtis
(und Ciowiiighamia? ?). Markstrahltüpfel typisch
eiporig, zahlreich (glyptostroboide Tüpfelung).
Abb, 5. Traclieidenliipfcl
a) bei Araucaria. b) bei den übrigen Koniferen.
II eine Ilarzzelle mit getüpfelten Querwänden.
S Saniosche Streifen.
Abb. 6. Piceoxylontyp
rzgang. H Harzepithel
M Mark-Strahl (Abie
r. getüpfelt,
p feiung).
9. laxodioxyloii. Umfaßt TaxoJimit und
Scquoia soiipcrvirciis. Markstrahltüpfel ein Mittel-
ding der beiden vorigen, im Frühholze mit
breitem, horizontalem Porus (taxodioide Tüpfelung).
10. Poducarpoxylon. Umfaßt Podvcarpns z. T.
(und einen Teil der spiralenlosen Taxacccii) Mark-
strahltüpel mit vertikal spaltenförmigem Porus
oder kleine vertikale Eiporen (podocarpoide Tüpfe-
lung).
11. Phyllocladoxyloii. Umfaßt Phyllocladus
und den Rest der Taxacccii. Markstrahltüpfel
groß, eiporig.
Innerhalb all dieser Gruppen ist noch eine
weitere Teilung möglich, doch sind alle Fragen
noch nicht gelöst. Dennoch steht die Holz-
bestimmung nunmehr endlich auf brauchbarer
Grundlage.
Viele wertvolle Einzelheiten hierzu hatte schon
Penhallow beigetragen. Gleichzeitig mit ihm
beschäftigte sich ein anderer amerikanischer
Forscher mit der Anatomie und Phylogenie der
Koniferen, Jeffrey, der aber zu genau entgegen-
gesetzten Resultaten kommt. Seine und seiner
Schüler (Bailey, Gerry, Holden, Sinnot u. a.)
zahlreiche Arbeiten verfolgen als Hauptziel den
Nachweis, daß die allgemein anerkannten An-
sichten über die Stammesgeschichte der Koniferen
ganz falsch sind und in Wirklichkeit ins schärfste
Abb. 7. Piceoxylontyp.
Horizontaler Harzgang.
Gegenteil umgekehrt werden müssen. Danach
sind die ältesten Koniferen, von denen alle übrigen
abstammen, die Abictiiiccii mit Quertracheiden,
senkrechten und horizontalen Harzgängen, an die
sich die Taxodiceii und Cnprcssinceii und als
jüngste Gruppe die Araucaricoi anschließen. Es
genügt, wenn wir diese großen Gruppen be-
trachten. Wie begründet nun Jeffrey seine
Lehre? In Anlehnung an das bekannte „bio-
genetische Grundgesetz" der Zoologie stellt er an
ihre Spitze den Satz, daß sich die Eigenschaften
der Vorfahren besonders lange in ontogenetisch
jungen Stadien erhalten. Hierzu tritt die aus der Er-
fahrung abgeleitete Tatsache, daß das gleiche von
den Fortpflanzungsorganen gilt und auch das nor-
male, infolge von Wundreiz entstandene Gewebe
3o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 23
wichtige Rückschlüsse auf den Bau der Ahnen-
form zuläßt. Auf die Struktur der ersten Jahres-
ringe fruchtender Sprosse, der Zapfenachse und
des Wundholzes lenkte daher Jeffrey sein Haupt-
augenmerk. Dabei fand er, daß bei Scqiioia
gigaHtca Torr., dem Mammutbaum Nordamerikas,
in der Zapfenachse wie im ersten Jahresring
kleinerer Zweige in der Regel Harzgänge auf-
treten, die er hier als normale Bildungen erklärt
(ich habe in mehreren Fällen allerdings keine
gesehen 1), während sie im übrigen Holze wie bei
Sequoia scmpcrvirois Endl., dem kalifornischen
redwood, nur auf Wundreiz hin angelegt werden.
Die gleichen Verhältnisse treten bei den normal
harzganglosen ..//^/('////(r;/ auf (^ihics, Tsi/ga usw.:
Cedroxylon). Daraus zieht Jeffrey den Schluß,
daß diese Harzgänge den letzten Überrest einer
Die Reduktion hat (nach Jeffrey) also den
höchsten Grad erreicht. Dagegen findet er, daß
in dieser Gruppe die genannten phylogenetisch
ausschlaggebenden Regionen eine von der nor-
malen Ausbildung abweichende Tüpfelung der
radialen Tracheidenwandungen besitzen. Die
Tüpfel stehen nicht mehrreihig alternierend, son-
dern in einer Reihe (bei der Schmalheit der
ersten Zellen eben kein Wunder I) und berühren
sich oft kaum. Auch treten in den eben ange-
legten Markstrahlen der ersten Jahresringe wie
auch im Wundholze dickwandige, stark getüpfelte
Zellen auf, die Jeffrey mit dem getüpfelten
Strahlenparenchym der Abiefineen in Verbindung
bringt. So ist „bewiesen" (von den fossilen
Hölzern ist noch die Rede), daß auch die Anui-
cariecn von Arten mit nicht alternierenden (oppo-
^^^
IX
ji^ iiö^
f^
Piasaip
ai K ¥ TD I ^^-==^^^^
Abb. 8. Radialschnitt durch Abietineenholz.
a) Piceoxylontyp. Quertracheiden und Abietineentüpfelung.
b) Pinuxylontyp. Zackenzellen und Eiporen, rechts Spiral-
streifung.
Abb. 9. Markstrahltüpfelung.
a) araucarioid. b) cupressoid. c) ta.\odioid. d) glyptostroboid.
e) podocarpoid. f) phyllocladoid.
Reduktion darstellen, von denen die harzgang-
führenden Abidineen betrofifen worden sind, und
demgemäß harzganglose ^Ihictiiiccii wie Taxodiecii
und im Anschluß hieran auch die Cuprcssiiiccn
von jenen abzuleiten sind. Bei den letztgenannten
ist die Reduktion bis zum völligen Schwinden der
Harzkanäle fortgeschritten. Im gleichen Sinne
deutet er das Auftreten von Quertracheiden-
ähnlichen Zellen (ich sage absichtlich nicht Quer-
tracheiden, weil diese Zellen von den normalen
Bildungen doch erheblich abweichen) bei Arten,
denen sie im normalen Holze fehlen {Sequoia,
CH)i)ii)ighai)ii(i). Bei den lebenden Araucarioi
(einschheßhch Daiiniiara) treten zwar, soweit bis-
her bekannt, in keinem Falle Quertracheiden oder
Harzgänge auf, selbst die einfachen Harzzellen
der Cuprcssü/cen und Tnxodiccn fehlen hier ganz.
nierten) Tüpfeln und verdickten Markstrahlzell-
wänden abstammen, und damit die Reihe
Abictiiicoi -Taxodiecii- Ciipressiiiccn und Abic-
tiiiceii-Araiicariecii geschlossen. G e r r y , eine
Schülerin Jeffreys, gibt dann einen weiteren
Beitrag für die Begründung seiner Lehre. Sie
macht die nicht gerade überraschende Entdeckung,
daß die zuerst von Sanio beschriebenen und
nach ihm ,,San lösche Streifen" genannten
Membranbildungen zwischen den Tracheiden den
Araiicarieii fehlen, i) Nach Jeffrey ist dies
aber nur dort der Fall, wo die Tüpfel typisch
araucarioid angeordnet sind, nicht aber an den
genannten Stellen mit entfernter stehenden
') Gerry, E., The distribution of the Bars of Sani(
the Coniferales. Ann. of Bot. XXIV. London 19 10.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Tüpfeln, wo ähnliche Bildungen beobachtet werden
können „priiiiitif bars 0/ Santo". Die Deutung,
die Jeffrey dem gibt, liegt auf der Hand. Es
ist für ihn ein weiterer Beweis, daß die abietioide
Tüpfelung den älteren, die araucarioide aber den
modernen Typus darstellt.
Selbstverständlich zieht er auch die fossilen
Holzreste in den Kreis seiner Betrachtungen, sie
spielen sogar eine sehr wichtige Rolle und sollen
seine Lehre, die, wie sich Holden einmal aus-
drückt, schon durch die Untersuchung der lebenden
Koniferen „über jeden logischen Zweifel" bewiesen
ist, erneut befestigen. Zuerst von Gothan, später
auch anderen Forschern wurden zahlreiche Hölzer
aus Jura und unterer Kreide beschrieben, die im
Bau in vielen Zügen modernen Typen gleichen,
deren Tracheidentüpfelung aber eine Mittelstellung
zwischen abietioider und araucarioider einnimmt
{Protüccdroxylo)i, Protopiccoxyloii Gothan u. a.).
Andere fossile „Gattungen" unterscheiden sich von
lebenden nur durch das angebliche Fehlen der
San loschen Streifen. Indem dieser Mangel zum
alleinigen Merkmal araucarioider Verwandt-
schaft gemacht, alle übrigen Merkmale aber, wie
Harzgänge, Tüpfelung der Markslrahlen, Eiporen
als irreführend erklärt werden, werden eine große
Anzahl solcher Fossile, die in allen diesen Struktur-
einzelheiten an Abictiiicoi erinnern, als primitive
Araiicariceii mit noch abietioiden altertümlichen
Anklängen gedeutet. So ergibt sich der merk-
würdige Begriff von „verkappten Araiican'ecn"
(Araucarians in disguise), die zwar modernen
Gruppen wie Piceoxyloii, Cfdroxyloii, Ciipressin-
üxyloit, Phyüocladuxylou täuschend gleichen, deren
wahre Stellung aber erst der Mangel der San lo-
schen Streifen erkennen läßt. Manche dieser
„^■Iraiicaricit" haben die getüpfelten Markstrahl-
zellen der Ahnen htha\\.tn{ProfüccdroxyloiiGo\.hdin),
andere ebenso die Harzgänge und das Harzparen-
chym {Profopiceoxyloii Gothan, l'aracuprcssin-
oxylo)! Sinnot). Eine weitere Entwicklungsstufe
bilden dann Hölzer mit teils araucarioider Tüpfel-
stellung und araucarioiden Markstrahlen, die aber
in der Ausbildung von Wundharzgäng'en und
durch die Anlage primitiver Sa nioscher Streifen
noch an die .■i/'/r//>/('(7/-Vorfahren erinnern [Brachy-
oxyluii Jeffrey, Protobradixoxyloit Holden). Hier-
an schließt sich dann unmittelbar die modernste,
in den ^[raitcancii verkörperte Bauform.
Bei der kritischen Würdigung dieser Anschauung
kann ohne weiteres zugegeben werden, daß rein
gedanklich eine solche Entwicklungsreihe wohl
möglich wäre. Wenn sie trotz häufiger Wieder-
holung außerhalb des Jeffrey sehen Kreises
überall schroffer Ablehnung begegnet ist, müssen
sich schwerwiegende Gründe dagegen anführen
lassen. Schon die allgemeinen Sätze, von denen
Jeffrey ausgeht, sind keineswegs über jeden
Einwand erhaben. Pis braucht dabei gar nicht
behauptet zu werden, daß sie unbedingt falsch seien,
wohl aber muß man ihre von Jeffrey ohne weiteres
angenommene Allgemeingültigkeit in Zweifel
ziehen. Das Schicksal des „biogenetischen Grund-
gesetzes" beweist das Gesagte zu deutlich. Noch
ist es der Zoologie nicht gelungen, sich völlig von
den schweren Irrtümern frei zu machen, die da-
durch geschaffen wurden, daß man kritiklos jedes
tierische Jugendstadium als Ahnenform deutete.
Und nun begeht Jeffrey auf unserem Gebiete
den gleichen Fehlerl Das leitende Prinzip der
Entwicklung ist für ihn in jedem Falle die Re-
duktion des komplizierteren zum einfachen Bau-
typ. Nun ist ja dieser Weg an den verschieden-
sten Stellen sicher von der Natur eingeschlagen
worden, ebenso oft, wenn nicht häufiger, aber
auch der umgekehrte. So könnte die Regel, daß
die Entwicklung nach dem Prinzip der Arbeits-
teilung vom Einfachen zum Zusammengesetzten
fortschreitet, weit eher Anspruch auf Allgemein-
gültigkeit erheben. Wo immer von diesem Wege
abgewichen wurde, lassen sich besondere Gründe
hierfür erkennen (Parasiten). Jedenfalls ist von
vornherein ganz unwahrscheinlich, daß für einen
so umfassenden Teil des Pflanzenreiches wie die
Koniferen Reduktion das alleinige, alle Ent-
wicklung beherrschende Gesetz gewesen sein soll.
Auch daß Wunderscheinungen wie hier das Auf-
treten von Ouertracheiden, gehäuftem Parenchym
und Harzgängen nun in jedem Falle als Atavis-
mus gedeutet werden, fordert zu Widerspruch
heraus.
Betrachtet man von diesen Gesichtspunkten
aus den anatomischen Bau der Koniferen, so kann
kein Zweifel über die Reihenfolge der einzelnen
Gruppen herrschen. Am Anfange stehen als am
wenigsten differenzierte die Araucaricoi, es folgen
Cuprrssiiu'rcji und Taxodiccii (neben ihnen die
Taxacct)/], schließlich die Abictiiiccii. Diese Reihe
soll aber nur ein Schema der Entwicklung des
Bautyps darstellen. Im einzelnen ist der Zu-
sammenhang viel komplizierter, und es ist wahr-
scheinlich, daß die genannten Gruppen sich als
nebeneinander stehende Reihen aus einem oder
mehreren P'ormenkreisen entwickelt haben, so daß
sie heute ohne direkte Beziehung nebeneinander
stehen. Der Nachweis von Fossilien, die unzweifel-
haft Merkmale verschiedener Gruppen miteinander
vereinigen, deutet darauf hin. Gerade das Wund-
holz scheint mir der geeignete Ort zu sein, wo
zuerst Neubildungen auftreten konnten. Hier
spielt die Leitung der Säfte, des Wassers, vor
allem aber die Harzausscheidung eine wichtige
Rolle. Nun dürfte es aber in den Wäldern der
Vorzeit kaum einen Baum gegeben haben, der
nicht in hohem Maße Verwundungen ausgesetzt
war. Conwentz hat uns dies in unübertreff-
licher Anschaulichkeit von den baltischen Bernstein-
wäldern des Oligozäns geschildert.') „Das Patho-
logische war die Regel, das Normale die Aus-
nahme." Im Wundholze mögen zuerst Ouertrache-
iden, vor allem aber Harzzellen und schließlich
') Conwentz, H., Monographie der baltischen Bernstein-
bäume. Danzig 1890.
3IO
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auch Harzkanäle gebildet worden sein. Kann es
wundernehmen, wenn sie bei gewissen Arten
auch zu Bestandteilen des normalen Holzes
wurden ?
Lassen sich so schon vom allgemeinen Stand-
punkte berechtigte Einwendungen gegen Jeffreys
Folgerungen machen, so häufen sich die Schwierig-
keiten, wenn man einzelne aus diesen herausgreift.
Die Abstammung der ^[raiican'eu wird durch die
Anordnung der Tracheidentüpfel, sowie das Auf-
treten stark getüpfelter Markstrahlzellen und
primitiver Sani o scher Streifen in gewissen
Pflanzenteilen begründet. Jene Zellen sehen aber
echter . W/r/Zy/rcw-Tüpfelung so unähnlich, daß von
einem Vergleich gar keine Rede sein kann. Über
ihre wahre Natur kann kaum Zweifel herrschen,
gleichen sie doch völlig den ebenfalls dickwandigen
und getüpfelten Zellen, die man im Mark häufig
antrifft. Es ist nicht erstaunlich, daß innerhalb
der zuerst angelegten Zellschichten solche Zellen
auch noch in den Markstrahlen vorkommen und
auch ihr gelegentliches Auftreten im Wundholz
berechtigt noch lange nicht, sie mit dem abietioid
getüpfelten Strahlenparenchym gleichzusetzen.
Auch dem Auftreten Sanio scher Streifen sowie
der abweichenden Tüpfelung kann diagnostischer
Wert im Sinne Jeffreys nicht beigelegt
werden. Wie S i f t o n ^) nachgewiesen hat,
herrschen ganz die gleichen Verhältnisse auch
bei den Cycadccii. Im Verfolg der Jeffrey-
schen Methode wäre dadurch aber „bewiesen",
daß auch diese von den Abicfiiieeii abstammen.
Dieses unmögliche Ergebnis beleuchtet die Irrig-
keit der Jeffrey sehen Schlußfolgerungen deutlich.
Noch klarer tritt dies bei Betrachtung der
fossilen Hölzer zutage. Angeblich sollen diese
ja seine Lehre erneut unterstützen. Der Weg
aber, auf dem dies erreicht wird, ist recht eigen-
artig. Nachdem die San loschen Streifen zum
alleinigen Erkennungsmerkmal araucarioider Ver-
wandtschaft gestempelt und auf Grund dessen,
sowie der Jeffreys Lehre begründenden allge-
meinen Sätze eine Anzahl mehr oder weniger
abietioid gebauter Hölzer als „7'r/-/i7?/>/'//i-^-'i/-rt'//t7?/'7i!7/"
erklärt worden sind , werden eben die gleichen
Hölzer als „unwiderlegliche Stützen und paläonto-
logische Beweise" seiner Schlüsse hingestellt.
Zweifellos bewegen wir uns hier im Kreise.
Demgegenüber wird man Holdens Meinung
von der „Erhabenheit über jeden logischen
Zweifel" doch wohl nicht als maßgebend ansehen
können. Schon die Verbreitung der lebenden
wieder fossilen Koniferen beweist, daß Jeffreys
Ansichten der wirklichen Sachlage nicht ent-
sprechen. Wo immer wir heute in der Natur
Relikten alter Zeiten begegnen, sind diese auf
verhältnismäßig kleine Gebiete beschränkt. Bei
den Koniferen wäre aber das Umgekehrte der
Fall; die angeblich „uralten" Abiefiiiccn sind in
') Sifton, H. B., On the occurrence and significance
of Bars of Sanio in the Cycads. Bot. Gaz. LX. Ctiicago 1915.
zahlreichen Formen über die ganze nördliche
Halbkugel verbreitet, und ihnen stehen nur sehr
wenige araucarioide Sippen in räumlich be-
schränkten Gebieten gegenüber, die auch sonst
reich an altertümlichen Arten sind. Das gleiche
Bild bietet unzweifelhaft auch die tertiäre Flora,
in der echte Araucaricii verhältnismäßig selten
sind. Bei der großen Zahl bisher bekannt ge-
wordener Tertiärkoniferen ist dies kein Zufall.
Die übrigen Gruppen zeigen dagegen den gleichen
F"ormenreichtum, den sie noch heute besitzen,
wenn auch die Verteilung eine andere war.
Typen , die heute auf Nordamerika beschränkt
sind, wie manche Kiefernarten, die Sumpfzypresse,
Sequoien und auch der ostasiatische Glyptostrobus
waren in ganz Europa und Nordasien verbreitet;
ihr Holz setzt die zahlreichen Braunkohlenflöze
zusammen. Erst in der Kreide werden sie seltener,
während das Umgekehrte für die modern ge-
bauten Hölzer gilt. Steigen wir noch tiefer hinab,
so wird der Gegensatz immer größer, und in der
Trias treffen wir, wenn wir von einigen mehr
oder weniger unsicheren Formen absehen, kaum
noch ein Holz, das mit einem der lebenden Typen
wirklich übereinstimmt. Allerdings gilt das für
Blatt- und Zapfenreste nicht in gleichem Maße.
Anatomische Untersuchung würde aber auch hier
wahrscheinlich Unterschiede gegen rezente Formen
ergeben, wie in einigen Fällen bereits nach-
gewiesen werden konnte. Es scheinen in der
unteren Kreide wie schon im Jura neben ganz
fremdartigen zahlreiche Hölzer verbreitet gewesen
zu sein , die Züge der Araitcarioxyla mit denen
jüngerer Typen vereinigen. Ich habe für sie den
Namen Profof'iiiacccii vorgeschlagen. Leider
wissen wir über ihren sonstigen Bau nichts;
wahrscheinlich gehörten sie aber Pflanzen an, die
in Belaubung und Zapfenbau große Ähnlichkeit mit
Taxodiccn und anderen lebenden F"ormen aufge-
wiesen haben. Der Beweis des Zusammenhanges ist
bisher allerdings nur vereinzelt erbracht worden.
Schließlich finden wir nur noch typische ^iraiica-
rivxyla. Nun wissen wir zwar, daß ein großer Teil
hiervon gar nicht von Koniferen stammt, sondern zu
Cordaitoi und anderen ausgestorbenen Gruppen
zu stellen ist. Andere gehören aber doch wohl
echten Araiicaricu-'ih\\X\c\\^n Koniferen an. Hier-
bei mag die Frage unberührt bleiben, wieweit
zwischen beiden Kreisen ein genetischer Zu-
sammenhang besteht, wie ihn viele Forscher an-
nehmen, während andere wieder den Anschluß
bei den Lycopodiaks oder noch anderen Gruppen
suchen. Sicher können wir in jedem Falle sagen,
daß die alternierende Tüpfelstellung ein uraltes
Merkmal ist, das den paläozoischen \'orläufern
der Gymnospermen schon zukam und sich heute
nur noch bei Cycadccii und ^iraucariccii findet.
Beide Gruppen mögen verschiedene Entwicklungs-
reihen darstellen, denen als dritte die Hauptmasse
der übrigen Koniferen an die Seite zu setzen ist.
Hätte Jeffrey Recht, so müßte, je tiefer wir in
die Vorzeit hinabsteigen, das Bild sich gerade im
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entgegengesetzten Sinne wandeln; wir müßten
im unteren Mesozoikum und oberen Paläozoikum
eine reiche ^lbicfiiiccii-¥\ora. erwarten. Dieser
Schwierigkeit war sich Jeffrey wohl bewußt
und so suchte er eifrig nach paläontologischen
Zeugen für das hohe Alter der ^ihicfiiiccii, als
welche er schließlich Piiiitcs Comveiitzianiis
Goeppert und Pifyoxylou clinsciisc Penhallow
in Anspruch nimmt. Leider stehen beide „Stützen"
seiner Lehre auf allzu schwachen Füßen. Im
ersten Falle handelt es sich um ein von Goeppert
beschriebenes, übrigens sehr schlecht erhaltenes
Holz mit Harzgängen, das auf einer offenen
Halde bei Waidenburg in Schlesien gesammelt
und von ihm daher als aus dem Karbon stammend
angesehen wurde. Die Angabe ist aber, wie schon
Gothan betont hat, ganz zweifelhaft und durch
nichts bewiesen. Vielmehr dürfte es sich um ein
jüngeres Geschiebeholz handeln, ja, es ist nicht
ausgeschlossen, daß ein stark vermodertes rezentes
Holzstück vorliegt. Pityoxyluii cliasciisc stammt
aus dem Perm von Kansas und erwies sich
bei erneuter Untersuchung durch Thomson
und All in als ein ^{raucario.xyluii ! Die vermeint-
lichen horizontalen Harzgänge (vertikale fehlen
ganz) sind im Innern der Markstrahlen verlaufende
Blattspurstränge. Seit letzteres feststeht, hat sich
übrigens Jeffrey meines Wissens zu dieser Frage
nicht mehr geäußert.
Auf die ersten ^{raucarioxyla folgen im Jura
(vielleicht sogar schon früher) und unterer Kreide
die Hölzer der Übergangsgruppe (Profopinacccn).
Sie sind in der Tracheidentüpfelung noch mehr
oder minder araucarioid, Bracliyuxyloii vor allem
auch in dem Bau der Markstrahlen, zeigen aber
im übrigen schon Anklänge an moderne Typen.
Bei einigen, wie den von Gothan beschriebenen
Ccdroxyloii traiisicns und Cedroxylmi ccdrvidcs
erinnert nur noch die Stellung der Tracheidentüpfel
an die Ahnenform. Wichtig ist, daß manche
dieser Formen Züge in sich vereinigen, die heute
nur noch getrennt vorkommen. Auch in der
Ausbildung der Quertracheiden läßt sich eine all-
mähliche Entwicklung während der Kreide nicht
verkennen, besitzen wir doch mehrere Hölzer aus
dieser Periode {Pityoxyhui foliosnin Holden, Piitns
Naf h orsf i Conv^cnXz), die sich von lebenden Picca-
oder Piiii/s-^ri&n nur durch das Fehlen von Quer-
tracheiden unterscheiden. Das gleiche gilt viel-
leicht von der Ausbildung der San loschen
Streifen, doch läßt sich dies infolge noch unzu-
reichenden Materials vorläufig nur vermuten.
Neben den Protopiiiacccii treten in Jura und
unterer Kreide Hölzer auf, die so völlig fremdartig
gebaut sind, daß sie mit lebenden nicht verglichen
werden können. So besitzen die früher von Gramer
3.\s Pia lies lafiporasiis und Piiiitcs paiiciporosus be-
schriebenen Hölzer neben großen eiporigen Mark-
strahltüpfeln breitelliptische, die ganze Tracheiden-
breite einnehmende, oben und unten abgeplattete
Hoftüpfel {Xcnoxyloii Gothan). Später wurden
weitere hierher gehörende Formen bekannt, die in der
Regel durch den Besitz von Eiporen ausgezeichnet
sind. Über ihre systematische Stellung können
wir, solange sie nicht im Zusammenhange mit
Blatt- oder Zapfenresten gefunden worden sind,
leider nichts sagen. Im Tertiär wird dieser Bautyp
durch einen Teil der spiralenlosen Taxaceen ver-
treten, woraus aber nicht ohne weiteres ein gene-
tischer Zusammenhang zwischen diesen und jener
alten Koniferengruppe gefolgert werden kann, der
immerhin möglich wäre. Jedenfalls kann man
bei einem Teil der mit Glyptosfrobiis, Podocarpus
und Phyllodadits verglichenen Kreidehölzer im
Zweifel sein, ob sie nicht jenem fremdartigen aus-
gestorbenen Kreis zuzurechnen sind.
Zur Tertiärzeit haben die Koniferen offenbar
die heutige Ausbildungshöhe erreicht und waren
damals schon ebenso reich gegliedert wie heute.
Die wenigen bekannt gewordenen fremdartigen
Tertiärhölzer dürften als anormale Wundholz-
bildungen anzusehen sein, wenngleich die Möglich-
keit des Auftretens heute ausgestorbener Bautypen
vielleicht noch im Miozän nicht unbedingt verneint
werden soll.
Nach allem können wir sagen, daß weder all-
gemeine und vergleichend-anatomische Erwägungen
noch die Ergebnisse der Paläontologie Jeffreys
Ansichten stützen. Die paläobofanischen Tatsachen
bereiten seiner Lehre unüberwindliche Schwierig-
keiten, stimmen dagegen völlig mit der Annahme
überein, daß die ^iraiicaricni die älteste, die Abie-
iiiiccii dagegen die jüngste Gruppe sind. Gerade
das Studium der fossilen Koniferen begründet
diese Anschauung aufs neue.
Einzelberichte.
Anthropologie. Schlaginhaufen') erörtert
in zusammenfassender Weise das ganze Pygmäen-
problem. Als „Pygmäenrassen oder Rassen, die
hochgradig mit Pygmäenelementen durchsetzt sind",
■) Otto Schlaginhaufen, Pygmä
Pygtnäenfrage. Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Ge-
sellschaft in Zürich, 61. Jahrg., H. 1/2, 1916.
faßt er die folgenden auf: In Europadie Lappen
in dem zusammenhängenden Gebiet der Halbinsel
Kola, des nördlichen F"innland und des schwedisch-
norwegischen Grenzgebiets im Innern der skan-
dinavischen Halbinsel bis zum 64" nördl. Breite.
In Afrika die zentralafrikanischen Pyg-
mäen, die Negrillos, die in mehrere Typen
aufgeteilt werden können, und die Südafrika-
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nischen Pygmäen oder die Buschmannrasse.
Kleinere Gebiete als in Afrika stellen die einzelnen
Pygmäenzentren in Asien dar, wo sie mit Sicher-
heit nur auf Malakka und auf den südasiatischen
Inseln nachgewiesen sind. Die Pygmäenrassen
Asiens können in zwei große Hauptgruppen ge-
schieden werden, in die Kraushaarigen und Wellig-
haarigen. Die erste Gruppe bilden die Be-
wohner der Andamanen, ferner die S e m a -
ny, die zu den Inlandstämmen der Malayischen
Halbinsel gehören, und die Negritos auf den Philip-
pinen. Zu den Wellighaarigen gehören die Wedda
von Ceylon, die Senoi von Malakka, die Toala von
Celebes. Schließlich kommen die Pygmäenrassen
der melanesischen Inselwelt in Betracht,
vor allem auf Neu-Guinea, die auch Schlagin -
häufen zum Teil eingehend studiert hat.
Man muß allerdings in Betracht ziehen, daß
es rein konventionell ist, „in welchen Fällen wir
eine Menschengruppe zu den Pygmäen zu rechnen
haben. Ihr gemeinsames Merkmal ist die extrem
kleine Rassenstatur. Von durchschnittlich sehr
kleinem Wuchs muß sie sein, wenn sie als
Pygmäengruppe gewertet werden soll. Wo die obere
Grenze für den rassenmäßigen P\'gmäenwuchs
anzusetzen ist, bleibt unserer Willkür überlassen. . ."
Die Pygmäengrenze darf nicht zu doch gesetzt
werden : man soll als Pygmäenstämme jene Rassen
bezeichnen, deren durchschnittlicher Wuchs tiefer
als 150 cm liegt.
Schlaginhaufen erörtert nun die Auf-
fassungen, die sich auf die anthropologische Stellung
der Pygmäenrassen innerhalb der Menschheit be-
ziehen. Man kann diese Auffassungen in zwei
Gruppen teilen: zu der ersten gehören die Auf-
fassungen, nach denen die Pygmäen eine phylo-
genetisch alte, vielleicht die älteste Form der
Menschheit sind, zu der zweiten jene, nach denen
die Pygmäen eine sekundär entstandene Form
darstellen, die ihre Kleinheit der Einwirkung be-
sonderer Einflüsse von selten der Außenwelt ver-
danken.
Eine eingehende Betrachtung ergibt, daß die
erste Auffassung, die namentlich von K o 1 1 m a n n ver-
treten worden ist, den möglichen Einwänden nicht
standhalten kann. Die Knochenreste aus dem Paläo-
lithikum deuten auf Rassen von mittlerer Statur
hin. Die Körperlänge der Neandertalrasse dürfte
162 cm betragen haben. Andere P"unde deuten
auf 163 cm (Kent), 173,2 cm (Paviland Höhle in
Wales), 180 cm (Cronagnon), über 160 cm (Combe-
Capelle), 160 cm (Oberkassel bei Bonn). „Selbst
. die niederste Form der Hominiden, Pithecanthropus
erectus, besaß eine Körpergröße von mindestens
160 cm." Skelette von kleinerer Statur treten erst
im Neolithikum auf wobei „diese Einzelfunde nicht
die Vertreter einer Pygmäenrasse zu sein brauchen,
sondern Varianten höher gewachsener Rassen sein
können".
Ein zweiter Einwand gegen die Auffassung,
daß die Pygmäenrassen eine ältere Form der
Menschheit darstellen, ergibt sich aus der Tatsache,
daß „allen Pygmäen, sowohl den rezenten, als
auch den prähistorischen eine Formgestaltung
der Schädelkapsel eigen ist, die den bestentwickel-
ten Schädeln der großwüchsigen Rassen an die
Seite gestellt werden kann". Dagegen steht es
ja heute fest, daß die ältesten Hominidenformen,
wie Pithecanthropus und Neandertaler ein niedri-
ges Schädeldach mit fliehender Stirn besessen
haben. Diese Merkmale sind bei den ältesten
Hominidenformen sehr scharf ausgesprochen.
Schlaginhaufen weist hier auch die Beweise
zurück, die aus der OntogenesedesSchädels
zugunsten der erörterten Auffassung herangezogen
werden. Wenn auch der Affenschädel im kind-
lichen Stadium dem menschlichen Schädel näher
ist als der Affenschädel im ausgewachsenen Sta-
dium, so ist damit noch nicht gesagt, daß — in
schematischer Anwendung des biogenetischen
Grundgesetzes — die menschliche Schädelform die
ursprünglichere sein muß. Es kommen zweifellos
Momente in Betracht, welche die Verhältnisse
komplizieren und eine so schematische Anwendung
des biogenetischen Grundgesetzes als unzulässig er-
scheinen lassen.
Ebenso unzulässig ist es, die Pygmäenrassen als
„Kindheitsvölker der Menschheit" (P. W.Schmidt)
aufzufassen. Ein Vergleich zwischen dem Kinde
und den zentralafrikanischen Negrillos, den Poutrin
durchgeführt hat, ergibt, daß eine Übereinstimmung
in den Proportionen nicht vorhanden ist. HinfäUig
ist auch die Auffassung, daß alle Pygmäenrassen
eine einheitliche Gruppe bilden. Es läßt sich
unmöglich eine Einheitlichkeit in den Rassenmerk-
malen bei den Pygmäen feststellen: der Längen-
Breiten-Index des Schädels, die Haarform und
die Hautfarbe sind bei den einzelnen Pygmäen
außerordentlich verschieden.
So kommt Schlaginhaufen zum Schluß,
„daß die Theorien des phylognetisch
primitiven Charakters und dermorpho-
logischen Zusammengehörigkeit aller
Pygmäen auf recht schwankendem Bo-
den stehen und wen ig Wahrsc hei nlich -
keit für sich haben".
Eine zweite Gruppe bilden die Auffassungen,
die dahin gehen, daß äußere Einflüsse an der Ent-
stehung von Pygmäenrassen schuld sind. Es ist
nun denkbar, daß die Einflüsse die Individuen
und das Keimplasma direkt treffen und damit
neue Formen Schäften, oder daß die äußeren Ein-
flüsse sich durch daßMittelderSelektion
geltend machen und schon vorhandene Varianten
züchten.
Wir besitzen Beweise dafür, daß äußere Ein-
flüsse die Körpergröße bestimmen. Schlagin-
haufen nennt hier namentlich die Beobachtungen
des französischen Militärarztes Collignon an
der Bevölkerung der Grafschaft Limousin. Die
Männer dieser Gegend gehören zu den kleinsten in
Frankreich, und man erklärte diese Gegend als die
„Citadelle der keltischen Rasse in Frankreich". Nun
konnte aber Collignon den Nachweis erbringen,
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daß Personen, die in der Gegend von Limousin
geboren wurden, aber in anderen Gegenden ihre
Kinder- und Entwicklungsjahre verbracht hatten,
größer waren als die Leute von Limousin. Auf
der anderen Seite erwies es sich, daß Personen, die
in einer anderen Gegend geboren wurden, aber
in Limousin aufgewachsen waren, nur die
für Limousin charakteristische Körpergröße er-
reichten. Aus diesen Beobachtungen folgt, daß
äußere Einflüsse die geringere Körpergröße der
Männer von Limousin bedingen. Collignon
weist hin auf das rauhe Klima, die Unfruchtbarkeit
des Bodens, die einförmige Nahrung, das schlechte
Trink- und Kochwasser, auf die ungesunden, in
ungünstiger, lichtarmer Lage befindlichen Woh-
nungen. Nach Schlagin häufen ergibt sich aus
den Befunden von Collignon: „i. daß anschei-
nend rassenmäßiger Kleinwuchs sich unter Um-
ständen als vorübergehendes, nicht auf Erbanlagen
beruhendes Merkmal herausstellen kann, das seine
Existenz nur der direkten Einwirkung der Umwelt-
faktoren verdankt, 2. daß durch die unmittelbare
Beeinflussung von außen rassenmäßige Klein-
wüchsigkeit, die auf endogenen Varianten beruht,
nicht herbeigeführt werden kann."') Es wäre
nun die Aufgabe der Pygmäenforschung, zu unter-
suchen, ob eine direkte Wirkung der Außenwelt
für die Entstehung der einzelnen Pygmäenstämme
verantwortlich gemacht werden kann. Zuverlässige
Beweise nach dieser Richtung besitzen wir jedoch
nicht.
Dagegen scheint es sehr wohl möglich, daß ä u -
ßere Einflüsse durch das Mittel der
Selektion die Pygmäenrassen gestaltet haben.
') Es sei hier auch auf die Untersuchungen von Bolk
hingewiesen, die auch in dieser Zeitschrift (Bd. XIV, S. 444)
besprochen worden sind. Bolk hat festgestellt, daß die
Körperlänge der Holländer im Laufe der letzten 50 Jahre
um II cm zugenommen hat, wobei diese mittlere Zunahme
der Körperlänge allein auf einer Hebung derjenigen Werte
beruht, die unterhalb der Ma.Nimalgröße liegen. Die Maximal-
große ist unverändert geblieben. Es folgt aus diesen Befunden
von Bolk, daß früher (im Laufe der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts in Holland) Momente vorhanden
waren, die einenTeil desVolkesdarangehindert
haben, diejenige Körpergröße zu erreichen, die
der Rasse eigentümlich ist. Es sind also zwei ver-
schiedene Gruppen von Faktoren , welche die Körpergröße
bestimmen; die Kaktoren der Vererbung auf der einen, die
äußeren E.\istenzbedingungen auf der anderen Seite. Erst aus
dem Zusammenwirken dieser beiden Faktoren resultiert die
jeweils vorhandene mittlere Körperlänge, die mehr oder
weniger dem rassenmäßigen Maximum angenähert sein
wird. Darauf deutete die Tatsache hin, daß die mittlere
Körperlänge nicht nur in Holland, sondern auch in allen
anderen Ländern von West-Europa im Laufe der letzten Jahr-
zehnte zugenommen hat. In meinem Buch ,,Zur allgemeinen
Physiologie des Hungers" (Braunschweig 191 5) habe ich die
Tatsache besonders betont, daß auch die mittlere Körper-
größe der einzelnen sozialen Klassen verschieden ist, und ich
habe die Frage diskutiert, ob Unterernährung als be-'
dingender Faktor hier in Betracht kommt. Meine in dieser
Richtung eingeleiteten Experimente an Mäusen habe ich aus
Mangel an Mitteln leider nicht fortführen können. Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß solche experimentellen Untersuchungen
unseren Einblick auch in das Pygmäenproblem sehr erweitern
würden und daß sie auch für das Vererbungsproblem schlecht-
weg von Bedeutung werden könnten,
Wenn einer Gruppe von Menschen eine geringere
Nahrungsmenge als bisher zur Verfügung steht,
dann sind die kleineren Individuen innerhalb dieser
Gruppe im Vorteil, da das Nahrungsbedürfnis der
Kleineren geringer ist als dasjenige der Größeren.
Die Kleinen werden mehr Aussicht auf ein per-
sönliches Eortkommen haben. Die Kleinen werden
in den sich folgenden Generationen relativ zu den
Großen an Zahl mehr und mehr zunehmen : „es
verschiebt sich die mittlere Körpergröße nach
abwärts; es ist ein kleinwüchsiger, den neuen
Verhältnissen gut angepaßter Typus gezüchtet
worden." Welche Faktoren der Außenwelt im
einzelnen Fall wirksam gewesen sein mögen, das
ist eine Frage für sich. „Im einen P'all kann. . .
das Nahrungsquantum, in einem anderen das geo-
graphische Milieu im weiteren Sinne, in einem
dritten der Krieg, in einem vierten schließlich
ein sozialer oder kultureller Gebrauch den Grund
für das Einsetzen des selektorischen Prozesses
abgeben." Für Neuguinea glaubt Seh lagin -
häufen auf Grund eigener Beobachtungen eine
Parallelität zwischen der Änderung gewisser
geographischer Faktoren und derjenigen bestimmter
Körpermerkmale festgestellt zu haben. Die Küsten-
stämme sind von größerem Wuchs als die Stämme
des Inlands. Der Längenbreiten Index dagegen
nimmt von der Küste nach dem Inland zu. Nach
Schlaginhaufen kann angenommen werden,
„daß den in F"rage kommenden Körpermerkmalen
der Charakter von Funktionen geographischer
Momente zukommt." Man könnte allerdings ein-
wenden, daß die Küstenvölker spätere Ankömm-
linge sein könnten, durch die die Inlandvölker
verdrängt worden seien. Aber dann müßten zwischen
den Küstenstämmen und Inlandstämmcn größere
somalische Difterenzen vorhanden sein, als in Wirk-
lichkeit der Fall. Für einen Abschnitt des nörd-
lichen Nenguinea hat Schlaginhaufen den
Nackweis erbracht, „daß die kleinwüchsige Be-
völkerung des Toricelligebirges einem einzelnen
Küstenstamm näher steht, als die Küstenstämme
unter sich es tun. Dies spricht nicht für die
rassenmäßige Selbständigkeit dieses Gebirgsvolkes.
In ähnlicher Weise konnte Poutrin von seinen
Batwa zeigen, daß sie gewissermaßen verkleinerte
Neger sind, d. h. zu den Negern deutliche mor-
phologische und wohl auch genetische Beziehungen
aufweisen . . ."
Mit der Behauptung, daß die Einflüsse der
äußeren Welt durch das Mittel der Selektion die
Pygmäenrassen gestalten, soll nicht gesagt sein,
daß die Verkleinerung der Rasse eine Degeneration
darstelle. Im Einklang mit fast allen Forschern,
welche Pygmäenrassen untersucht haben, hat auch
Schlaginhaufen von den Eingeborenen des
Toricelligebirges den Eindruck gewonnen, daß sie
nichts weniger als verkümmert sind. „Diese
Wahrnehmungen entsprechen den Eigenschaften
eines Typus, den die Umweltfaktoren durch das
Mittel der Selektion und nicht durch unmittelbare
Einwirkung geformt haben. Unter den letzt-
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genannten Umständen hätten sich doch, wie in
dem Fall von Limousin, da und dort Anzeichen
von somatischer Verkümmerung bemerkbar ge-
macht."
Nach alledem kommt Schlaginhaufen zum
Schluß, die Auffassung, daß die Pygmäen eine
ursprüngliche Form des Menschengeschlechts dar-
stelle, müsse endgültig zurückgewiesen werden.
An ihre Stelle müsse die selektionistische Auf-
fassung treten. A. I.ipschütz, Bern.
Botanik. Silene dichotoma Ehrhart, erst
Unkraut, dann Kulturpflanze. Das Gabelige Lein-
kraut, in Südosteuropa einheimisch, hat in Deutsch-
land ein sehr zerstreutes und unregelmäßiges
Vorkommen. Die vorwiegend mit ausländischer
Kleesaat eingeführte Pflanze hat sich nur hier und
da einbürgern können; gewöhnlich wird sie, bevor
ihre Samen reif sind, mit dem Klee abgemäht
und verschwindet so wieder vom Standort. Aber
auch wenn die Pflanze zur Samenreife gelangt ist,
kann es doch sich ereignen , daß sie den ge-
wonnenen Platz wieder räumt, wenn nämlich die
aufgehenden Pflänzchen mit dem Klee nicht Schritt
halten und überwuchert werden. Nach neueren
Beobachtungen, die H i 1 1 n e r in „Praktische Blätter
für Pflanzenbau und Pflanzenschutz", Jahrg. 1916,
S. 80 ff. mitteilt , scheint es gelegentlich vorzu-
kommen, daß Stöcke der sonst einjährigen Pflanze
mit dem Klee überwintern und im nächsten
Frühjahr frisch wieder austreiben. Es ist dabei
noch fraglich, ob hier ein typisches Ausdauern,
das Entstehen einer perennierenden aus einer ein-
jährigen Pflanze durch ,, Mutation" vorliegt, oder ob
die P"älle nur so zu erklären sind, daß die Pflanzen,
durch wiederholtes Abmähen am Blühen und
Fruchten verhindert, eben noch nicht dem Tode
durch Erschöpfung verfallen waren , wie sonst
einjährige Pflanzen, die regelrecht abgeblüht und
Samen getragen haben; letztere Erklärung ist
nicht unwahrscheinlich.
Aus derselben Mitteilung von Hiltner geht
aber weiter hervor, daß die Meinung, unsere
Pflanze sei ein besonders schädliches Unkraut,
neuerdings begonnen hat sich ins Gegenteil zu
verkehren. Die hochwüchsige Pflanze, die wie
ein zweiter lichterer Wald über dem Dickicht
des Kleefeldes sich erhebt, dient den Kleepflanzen
zur Stütze und verhindert das Lagern derselben,
man bezeichnet sie deshalb geradezu als „Klee-
halter". Überdies hat man aber die Erfahrung
gemacht, daß die bisher für nutzlos oder schädlich
gehaltene Pflanze vom Vieh gern angenommen
wird ; ja im bayrischen Bezirk Gerolzhofen, Unter-
franken, ist das Gabelige Leinkraut schon seit
einigen Jahren feldmäßig als F"utterpflanze ange-
baut worden, und zwar mit gutem Erfolg. Wenn
es freilich in jener Mitteilung heißt: „Die be-
treffenden Landwirte hielten sie für eine Kleeart"
— so kann man nur sagen: Botanik schwach ! —
Die eben durch die Art ihres Vorkommens
interessante Pflanze hatte ich selbst seit rund
20 Jahren nicht mehr in Freiheit zu sehen be-
kommen, bis ich ihr im Sommer 1916 an vier
z.T. weit getrennten Standorten begegnete: i. in
je mehreren Kleeäckern am Wege von Ostritz
nach Nikrisch, südlich Görlitz; 2. ebenso zwischen
Liebau und dem Rabengebirge, am Südostfuß des
Riesengebirges; 3. Böschung am neuen Kanal
nordöstlich von Bromberg, wo leider der ganze
Pflanzenwuchs vor der Samenreife abgemäht
wurde; 4. ein großer Stock mit fast meterlangen
Ästen über dem Rande eines Schützengrabens
hängend, der im August 191 4 nördlich von
Bromberg zum Russenempfang ausgehoben worden
war; hier dürfte Aussicht sein, die Pflanze für
etliche Zeit zu erhalten , die in jedem Falle in
Norddeutschland bedeutend seltener auftritt als
im Süden unseres Vaterlandes. Hugo Fischer.
W. Bobilioff-PreißerM hat sich zur
Aufgabe gestellt, zu entscheiden, ob die Wanderung
des Zellkerns, die man in pflanzlichen Zellen be-
obachten kann, aktiv oder passiv vor sich geht.
Die meisten Forscher, die sich mit dieser Frage
beschäftigt haben, sind der Meinung, daß der Kern
nur passiv, infolge von Plasmaströmung, wandert.
Frühere Beobachtungen des Verfassers an isolierten
Palisaden- und Schwammparenchymzellen von Viola
lutea var. grandiflora haben ergeben, daß die
Kerne dieser Zellen kurz nach der Isolation eine
intensive Ortsveränderung zeigen. Bei dieser
Ortsveränderung erleiden die Kerne auch eine
Gestaltsveränderung. In den Zellen findet auch eine
Plasmabewegung statt. Aber diese Plasmabewegung
setzte erst ein, nachdem der Kern sich schon in
Wanderung befand. Darin liegt der Beweis dafür,
daß diese Kernwanderung nich t bedingt
ist durch die Plasmast röm u n g, sondern
eine aktive Orts verän derun g darstellt.
Verf. hat nun weitere Untersuchungen über die
Kernwanderung angestellt, an einem Objekt, bei
welchem während der Kernwanderung überhaupt
keine Plasmabewegung stattfindet, um auf diese
Weise sicheren Aufschluß darüber zu gewinnen,
wie die Kernwanderung vor sich geht und zustande-
kommt. Ein solches Objekt fand Verf. in den
Zellen ganz junger Cucurbitaceenhaare.
Eine aktive Kernwanderung ist schon vor
Jahren von H a n s t e i n in den Zellen von größeren
Cucurbitaceenhaaren vermutet worden. Dieses Ob-
jekt hat jedoch den Nachteil, daß hier die Umrisse
des Kernes nicht immer scharf zu sehen sind, was
die Beobachtungen natürlich stört. Dagegen sind
in den Zellen von ganz jungen Cucurbitaceen-
haaren die Umrisse des Kernes noch sehr scharf
zu sehen. „In diesen Zellen ist keine Plasma-
bewegung wahrnehmbar. Einige Minuten nach
') Die Zellkernwanderung in den Haarzellen von Cucur-
bitaceen. Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft
in Zürich. 61. Jahrg., 3./4. Heft, 1916.
N. F. XVI. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
31S
dem Übertragen der Haare in die Flüssigkeit (es
sind Wasser oder schwache mineralische Lösungen
verwendet worden) beobachtet man, daß die Kerne
zu wandern beginnen, dabei verändern sie in ganz
charakteristischer Weise ihre Gestalt. In einem
Augenblick entstehen in der Richtung, in welcher
der Kern sich bewegt, Fortsätze, welche im näch-
sten Augenblick zurückgezogen werden. Bei ge-
nauer Beobachtung kann man hier nachweisen,
daß die Ortsveränderung des Kernes durch diese
charakteristische Gestaltsveränderung des Kernes
vor sich geht." Nach Bobilioff-Preißer lassen
sich drei Phasen der Kernwanderung unterscheiden:
In der ersten Phase findet eine ganz schwache
Ortsveränderung statt, wobei die Gestaltsverände-
rung ganz schwach oder kaum wahrnehmbar ist,
Inder z we ite n Phase, die nach einigen Minuten
beginnt, findet eine intensive Kernwanderung statt,
die verbunden ist mit einer Fortsatzbildung in
der Richtung der Bewegung des Kernes. „Die
damit verbundene Ortsveränderung ist besonders
stark in dem Moment, wenn der F"ortsatz gebildet
wird, oder wenn der Kern sich wieder abrundet.
Diese intensive Kernwanderung dauert einige
Stunden (in den meisten Fällen 2 bis 4 Stunden)."
In der dritten Phase kommt der Kern in relative
Ruhe, (^rtsveränderungen kommen jedoch so
lange vor, als die Zelle noch am Leben bleibt.
Aber die Gestaltsveränderungen sind jetzt nicht
mehr so charakteristisch und es ist viel schwieriger,
sie wahrzunehmen als in der Phase der intensiven
Kernwanderung.
Bobilioff-Preißer ist auch der Frage nach-
gegangen, ob die Kernwanderung in den Haarzellen
der Cucurbitaceen eine traumatotaktische ist, d. h.
ob die Bewegung nach der Kernverwundungsstelle
zu gerichtet ist, wie man auf Grund anderer
Untersuchungen annehmen könnte. Verf unter-
suchte die traumatotaktische Empfindlichkeit der
Haarzellen , indem er die Spitze des Haares
abschnitt oder das Haar an der Basis von der
Epidermis abtrennte. Wenn die Kerne der Haar-
zellen traumatotaktisch empfindlich wären, so
müßten sie im ersten Falle nach den der Spitze
zugekehrten Wänden wandern, im zweiten Falle
aber zu den Wänden, welche der Basis zugekehrt
sind. ,,Dies ist aber in keinem Falle eingetreten
und auch die Intensität der Bewegung war die-
selbe, ganz gleich, ob eine starke Verwundung
stattgefunden hatte, oder ob die Wanderung ohne
Verwundungsreiz vor sich gegangen war." Verf
ist der Meinung, daß durch das Übertragen des
zu untersuchenden Objekts in die P'lüssigkeit die
zwischen dem Kern und den Protoplasma be-
stehenden Stoft'wechselbeziehungen eine Verände-
rung erfahren, und daß diese Veränderungen wohl
die amöboiden Gestaltsveränderungen der Kerne
veranlassen, die zur Kernwanderung in der Zelle
führen.
Eine wichtige Frage ist es nun noch, ob die
in isolierten Zellen zu beobachtendeKernwanderung
auch in dem intakten Haar stattfindet. Verf. ist
der Meinung, „daß in den intakten Haarzellen
höchstwahrscheinlich eine regelmäßige schwache
Kernwanderung vor sich geht. Dafür spricht die
Tatsache, daß die Kerne der Haarzellen nicht
selten auch iii der ersten Zeit, bevor die intensive
Kernwanderung eingetreten ist, eine unregelmäßige
Gestalt zeigen. Danach wäre die schwache Wan-
derung des Kernes, welche der intensiven Wanderung
vorausgeht, als eine Fortsetzung der Wanderung,
wie sie normalerweise in der intakten Pflanze
stattfindet, aufzufassen." A. Lipschütz.
Forstwirtschaft. Der Krammetsvogelfang im
Dohnenstiege. In der Jetztzeit, wo es gilt, alle
Nahrungsquellen unserem Volke zu erschließen,
mehren sich die Stimmen, welche die Aufhebung
des Verbotes des Krammetsvogelfanges im Dohnen-
stieg, welche durch das Vogelschutzgesetz vom
30. Mai 1908 (§ 2 b) erfolgte, fordern. Mit Rück-
sicht auf diese Bestrebungen mag es von Interesse
sein, aus einem Aufsatz des Geheimen Regierungs-
und Forstrates Ebe r ts- Cassel in der „Allge-
meinen F"orst- und Jagdzeitung" (93. Jahrg.
1917, Heft I S. 7—13) zu erfahren, welche Gründe
seinerzeit dazu geführt haben, daß der Krammets-
vogelfang im Dohnenstieg als „nicht weidgerecht"
erklärt wurde. Der Dohnenstieg ist nach
F. von Raesfeld\) „ein von Reisern befreiter
niemals gerade auslaufender, vielmehr fortwährend
gekrümmter Steig im Stangen- oder Unterholz
des Waldes oder der Vorhölzer, in dem die
Dohnen angebracht sind". Als Dohnen (Schlingen)
unterscheidet man je nach der Art der Anord-
nung Hänge- oder Steckdohnen. Man muß
die Dohnen in dem Dohnenstieg natürlich so ein-
reihen, daß der Vogel von einer Dohne immer
nur die beiden benachbarten sehen kann, damit er
nicht schon von weitem etwa frisch gefangene Vögel
sichtet und dann natürlich sofort abstreicht. Von
größter Wichtigkeit für die Fangergebnisse im
Dohnenstieg ist die Wahl des Ortes, an dem man
ihn anlegt. „Schonungen und Dickungen an den
P'eldrändern", sagt Raesfeld, „an größeren
Blößen und Wiesen, auch Stangenhölzer, an
denen die als Köder dienenden roten Ebereschen-
beeren weit gesehen werden, liefern gute Beute."
• Unter dem Krammetsvogel im eigent-
lichen Sinn versteht man meist die Wach-
holderdrossel {Turdus pilaris L), die, ur-
sprünglich im europäischen und asiatischen Norden
heimisch, allmählich ihr Verbreitungsgebiet mehr
nach Süden verlegt hat und nun auch dauernd
in einigen deutschen Provinzen, wie in Ostpreußen
Schlesien und Thüringen anzutreffen ist. Im
weiteren Sinne faßt man aber unter dem Sammel-
begriff „Krammetsvögel" mehr oder weniger alle
bei uns vorkommenden Drosselarten zusammen,
also neben der Wachholderdrossel noch die
Misteldrossel {Turdus viscivorus L.), die
1) „Das deutsche Weidwerk", Berlin, Paul Parey, 1914.
3i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 23
Schwarzdrossel oder Amsel (T. mcriila L),
die Wein- oder Rotdrossel {T. iliaais L.),
die Ringdrossel oder Wasseramsel
[T. torqiiatus L.) und die Singdrossel {T.
iiiusicus L).
Die Gründe, welche vor nunmehr fast 9 Jahren
das Verbot des Dohnenstiegs ausgelöst haben,
waren vor allem sentimentaler Natur. Man be-
hauptete, der Fang der Drosseln in Schlingen sei
eine Tierquälerei, die nicht geduldet werden dürfte.
Daneben wurde auch noch die Tatsache wirksam
ins Feld geführt, daß im Dohnenstiege außer den
jagdbaren Drosseln noch eine Menge nützlicher
Kleinvögel gefangen und dadurch eine merkliche
Abnahme dieser sowohl als auch der hauptsäch-
lich gefangenen Drosselarten , also der Wein-,
Wachholder-, Schwarz- und Misteldrosseln, ver-
schuldet würde. Nun ist zwar nicht zu leugnen,
so führt Geheimrat Eberts aus, daß sich unter
dem Krammetsvogelfang stets auch einige nützliche
Singvögel, wie Rotkehlchen, Meisen, Singdrosseln
und vornehmlich Gimpel befänden, aber da diese
nach seiner Vogelfangstatistik höchstens 3,9 %
des Gesamikrammetsvogelfanges ausmachten, so
falle dieser Prozentsatz sicher nicht allzu schwer
ins Gewicht. Auch eine Abnahme der Drossel-
arten war nach des Verfassers Erfahrungen, die
er in der Oberförsterei Gemünd in der Eifel,
einem an der Hauptvogelzugstraße gelegenen
Forstreviere , sammeln konnte, auch bei einer
fleißigen Übung des Dohnenstieges nicht zu be-
merken. Eine Abnahme der Drosseln in Deutsch-
land vom Nützlichkeitsstandpunkt aus, meint Ge-
heimrat Eberts, wäre zu verschmerzen, da die
Nützlichkeit der Drosseln keine allzu große ist:
abgesehen davon nämlich, daß die Misteldrossel
durch die Verbreitung der schädlichen Mistel im
Walde und die Amsel durch ihre Vorliebe für
Obst in vielen Obstgärten manchen Schaden an-
richten, sind auch die anderen Drosselarten bei
weitem nicht die unentwegten Insektenvertilger,
als die sie oftmals geschildert werden. Die
Drosseln nähren sich bekanntlich nur während
ihrer Brutzeit von Insekten, während sonst Wald-
beeren, wie Heidelbeeren, Wacholder- oder Eber-
eschenbeeren, ihre Hauptnahrung bilden. Was
nun die besondere Grausamkeit anlangt, welche
der Schlingenfang im Dohnenstieg mit sich
bringen soll, so weist der Verfasser darauf hin,
daß gutaufgestellte Dohnen in überaus kurzer Zeit
die sich darin fangenden Drosseln erwürgen. Dem
Übelstande, daß einige Tiere sich mit den Flügeln
oder den Ständern in den Dohnen verfangen, könnte
durch das Verbot des Aufstellens von Boden-
schlingen leicht abgeholfen werden. Im übrigen
betont Eberts ausdrücklich, daß der h'ang im
Dohnenstieg allein von allen Jagdarten Tier-
quälereien insofern gänzlich ausschließt, als jeder
gefangene Vogel hier auch tatsächlich , auch
wenn er sich so in den Schlingen verfangen
haben sollte, daß sein Tod nicht sogleich eintritt,
nach relativ kurzer Zeit in die Hände des Jägers
gelangt und nicht, wie z. B. oftmals bei der Jagd
mit Schußwaffen verwundet entkommen kann, um
dann nach langem Siechtum irgendwo elend zu
verludern.
Der wirtschaftliche Gewinn, welchen vor dem
Verbote viele und gerade minderbemittelte Be-
völkerungsteile aus dem Drosselfange gezogen
haben, war gewiß nicht unerheblich; geht doch
aus der amtlichen Statistik über den Wildabschuß
in Preußen vom i. April 1885 — 31. März 1886
hervor, daß während dieser Zeit i 295 702 Drosseln
gefangen wurden, welche, Eberts berechnet pro
Drossel nur 25 Pfennig, einen Wert von über
300000 Mark darstellen. Es ist gewiß für jeden
Naturfreund ein höchst betrüblicher Gedanke, zu
wissen, daß eine solch große Zahl von Drosseln
innerhalb weniger Wochen dem Hange des
Menschen nach einer Delikatesse zum Opfer ge-
bracht werden sollen. Auch die Behauptung darf
sicherlich nicht als Milderungsgrund gelten, daß
die Mehrzahl der Drosseln, die hier gefangen
werden, der deutschen Vogelwelt nicht entzogen
würden, sondern daß die Vögel, die bei uns dem
Fange zum Opfer fielen, größtenteils aus Wein-
drosseln bestünden, die in Deutschland bekannt-
lich nur als Durchzugsvögel in Betracht kommen.
Aber wie steht es nun mit der gehofften stärkeren
Vermehrung der Drosseln seit der Aufhebung
des deutschen Dohnenstieges? Ist unter unseren
deutschen Drosselarten tatsächlich eine größere
Vermehrung zu beobachten gewesen ? Außer bei
der Amsel, die ja allmählich immer mehr vom
Walde ab in die Nähe menschlicher Behausungen
zieht und da nicht gerade die Freude der Obst-
gartenbesitzer weckt, wird diese Frage von allen
Sachverständigen verneint. Vornehmlich die Sing-
drosseln, welche ihres reizvollen Gesanges wegen
doch durch das Verbot des Krammetsvogelfanges
in erster Linie geschützt werden sollten, sind in
den letzten 9 Jahren in unseren Wäldern nicht
zahlreicher geworden, ebenso wie sie früher, also
zur Zeit des Dohnenstieges nicht merklich an Zahl
abgenommen hatten. Diese Tatsachen haben
ihren Grund darin, daß der Krammetsvogelfang
heute außer in Oberitalien ') mit allen nur er-
denklichen Mitteln, darüber ist ja kein weiteres
Wort zu verlieren, auch noch in Frankreich, in
Belgien und in Holland recht kräftig geübt wird.
Die deutsche Vogelschutzgesetzgebung schützt
demnach die heimische Vogelwelt hauptsächlich
zu dem Zweck, daß sie in den Nachbarländern
— vor allem wieder in Italien — um so reich-
licher abgefangen werden kann. Geheimrat Eberts
macht nun besonders darauf aufmerksam, daß es
wohl niemals gelingen wird, in diesen Ländern
ein wirksames Verbot des Schiingenfanges durch-
zusetzen. Solange aber dieses Ziel nicht erreicht
werden kann, so lange werden auch die von dem
deutschen Vogelschutzgesetz erhofften Folgen
») Vgl. meinen Bericht „Die Bedeutung Italiens für den
Vogelzug" in dieser Zeitschrift.
N. F. XVI. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
317
einer gesteigerten Vermehrung der heimischen
Vogelwelt nicht verwirklicht werden können.
H. W. Frickhinger.
Einfluß ausgeübt; einzelne Arten verharren nun
den Winter über in der Nähe der Ortschaften,
andere aber sind zu Wander- oder Strichvögeln
geworden. E. P.
Zoologie. In Heft i und 2 des Ornithologischen
Jahrbuches 1916 bespricht in einer interessanten
Arbeit W. Knopfli: Die mutmaßliche Ausbildung
und Geschichte der Vogelgesellschaften des
schweizerischen IVIittellandes , den Einfluß der
menschlichen Kultur und der Pflanzenformationen,
die in den verschiedenen Zeitabschnitten vor-
herrschend waren, auf die Herausgestaltung der
Vogelfauna. — Im Paläolithikum war die Vogel-
fauna eine arktisch alpine. In der Nacheiszeit
bedeckte das Schweiz. Mittelland ein dichter
Wald, der sich hauptsächlich aus Buchen zusammen-
setzte und nur längs den Flußalluvionen größere
IVlannigfaltigkeit aufwies. Hier herrschte das
reichste Vogelleben, während dasjenige des eigent-
lichen Hochwaldes als arm zu bezeichnen ist. —
Ähnliche Verhältnisse fand der Referent im
„Pontischen Urwald" zwischen den Südhängen
des westlichen Kaukasus und dem Schwarzen Meer.
Hier herrscht die orientalische Buche vor (Fagus
Orientalis Lipsky); das dichte Unterholz wird
gebildet von Rhododendron ponticum L., Rh.
flavum Don., Prunus Lauracerasus L., Buxus
sempervirens L., Hex aquifolium L. usw. Das
Vogelleben ist ebenfalls sehr spärlich, nur selten
war ein Bienenfresser, eine Blaurache oder ein
Mäusebussard zu beobachten. Hingegen sind die
Auenwälder und die stark gelichteten Waldpar-
zellen in der Nähe der menschlichen Nieder-
lassungen von einer reichen Vogehvelt belebt. — •
Im Mittelalter war die der Vogelfauna günstige
Waldweide allgemein verbreitet und verursachte
deren reiche Entfaltung. Erst beim Übergang
zur Jetztzeit wurde sie aus wirtschaftlichen Gründen
verdrängt. Sie wurde z. T. in reine Hochwälder,
in denen die Fichte eine wichtige Rolle spielte,
übergeführt. Dadurch wurden einerseits vielen
Arten die Nistgelegenheiten geraubt, andererseits
traten in diesen Beständen nun auch Vögel der
montanen Region auf. Meist aber wurde die
Waldweide zugunsten des Wies- und P'eldbaues
zurückgedrängt, wodurch die Einwanderung der
Steppenvögel (Feldlerche, Wachtel) ermöglicht
wurde. — Mit zunehmender Besiedlung des Landes
bildete sich eine typische Fauna der Ortschaften
aus. Sie setzt sich zusammen aus Vertretern der
Alpenfauna (Schwalben, Seglern, Hausrotschwanz),
der Waldfauna (Star, Dohle, Fliegenfänger, Garten-
rotschwanz, weiße Bachstelze) und der Steppen-
fauna des Ostens (Sperling und die Haubenlerche,
dem Charaktervogel der Lagerplätze). Für die Gärten
und Parkanlagen hat sich ebenfalls eine besondere
Vogelgesellschaft ausgebildet; sie setzt sich aus
Arten zusammen, die meist aus den Wäldern zu-
gewandert sind. Schließlich hat die Kultur auch
auf die Zusammensetzung der Winterfauna großen
Chemie. Aus der Chemie der chinesischen
Dauereier. Während bei den westlichen Kultur-
völkern Eier hauptsächlich frisch verwendet werden
und erst sehr wenige Eierkonserven bekannt sind,
haben die Chinesen seit langem eine ganze An-
zahl von Verfahren , Dauereier herzustellen.
Fälschlich sagt man ihnen nach, sie äßen verfaulte
Eier, während man der Wahrheit viel näher käme,
wenn man ihre Dauereier auf eine Stufe mit dem
Käse stellte, der doch auch mit Hilfe der Fäulnis
aus Milch gewonnen wird. Chemisch sind solche
chinesische Dauereier bisher verhältnismäßig wenig
untersucht worden. Die Dauereier, die in China
als Pidan in den Handel kommen, haben un-
längst eine Chinese namens Chi Che Wang
und eine Amerikanerin, Katherine Blunt, im
Laboratorium für Nahrungsmittelchemie der Uni-
versität Chikago einer genauen Analyse unter-
zogen. Ihre Ergebnisse veröffentlichen sie im
„Journal of Biological Chemistry" (Dezember 1916).
Pidan ist eine Handelsware, die fabrikmäßig aus
Enteneiern hergestellt wird. Ausgelesene Enten-
eier werden mit einer teigigen Masse überzogen,
die aus einem Aufgusse von schwarzem Tee unter
Zusatz von Kalk, Kochsalz und Holzasche her-
gestellt wird ; so bleiben sie fünf Monate lang
liegen, dann werden sie mit einer dicken Schicht
von Reisschalen überzogen und sind nun handels-
fertig. Sie werden roh gegessen; durch längeres
Lagern soll sich der Geschmack erheblich ver-
bessern; namentlich verschwindet der Kalk-
geschmack , der dem Pidan , der frisch von der
F"abrik kommt, anhaftet. Öffnet man ein Pidan,
so sieht man sogleich die Unterschiede zwischen
dem zur Dauerware gemachten Ei und dem
frischen Entenei: die Schale ist viel dunkler; die
unter ihr liegende Haut weist viele dunkelgrüne
Hecke auf, das Eiweiß ist bräunlich verfärbt und
das Dotter ist graugrün geworden ; beim Zer-
schneiden findet man abgestufte graue konzen-
trische Ringe. An der Luft verliert das Dotter
die graue Färbung. An der Grenze zwischen
Eiweiß und Dotter zeigen sich, augenscheinlich
an der Dotterhaut sitzend, Kristalle, die wie
Tyrosinkristalle aussehen. Ferner zeichnet sich
Pidan durch einen eigentümlichen Geschmack aus,
es riecht nach Ammoniak, aber nicht nach
Schwefelwasserstoff, und auch mit Bleipapier läßt
sich kein Schwefelwasserstoff nachweisen. Die
Analyse wurde in der Weise vorgenommen, daß
einzelne Pidans zuerst bei 45" fast völlig und dann
in Wasserstoff bei 100" vollkommen ge-
trocknet wurden. Das zahlenmäßige Er-
gebnis der Untersuchung zeigen teilweise die
Tabellen.
3i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 23
Tabelle i. Zusammensetzung frischer Enteneier.
Wasser Protein Fett Asche
Eiweiß 87,0 II,I 0,03 0,8 o/o
Dotter 45,8 16,8 36,2 I>2°/o
Dotter
Eiweiß
Tabelle 2.
Zusammensetzung fris
eher
Enteneier.
Ganzes
Ei Schale
Eiweiß
Dotter
Schale
Eiweiß
Dotter
Ei Nr. I 67,7
7.7
3Ö,o
24,0 g
11,4
53,2
35,4 7o
Ei Nr. 2 68,1
7-2
36,5
24,4 g
10,6
53,6
35,S°/o
Tabelle
3. Zusani
mensetzung
des
Pidan.
Ganzes Ei
Schale
Eiweiß
Dotter
Verlus
t
Pidan Nr. 1
58,24
8,18
17,79
31,87
0,39
g
14,1
30,0
54,7
0,6
7o
Pidan Nr. 2
64,76
9,29
15,13
39,70
0,64
g
15,0
23,2
60,9
0,9
7o
Tabelle
4. Zusammensetzung
des Pidan.
Gesamtstickstoff
Wasser In
Äther löslich
Säuregehalt
dieses Auszugs
Asche
De
ren Alkaligehalt
2,33
53,55
21,06
7-0
4,08
1,79 7o
3,21
69,56
3,"3
1,21%
Die Veränderungen, die an den Enteneiern
erfolgt sind , lauten , zusammengefaßt folgender-
maßen: das Ei als ganzes verliert viel Wasser.
Aus dem Eiweiß geht reichlich Wasser ins Dotter
über. Der Gehalt an Asche und deren Alkalinität
nimmt zu , die mit Äther ausziehbaren Stoffe
nehmen ab; sie zeichnen sich durch Säurereiclitum
aus. Der absolute Phosphorgehalt nimmt ab,
ebenso die Menge des Lezithin-Phosphors. Der
Stickstofifgehalt wächst erheblich. Nach der
Ansicht von Chi Che Wang und Katherine
Blunt entsteht aus dem Entenei Pidan durch
Zersetzung des Proteins und der Phospholipoide,
die wahrscheinlich durch Zusammenwirken von
Bakterien, Alkali und Enzymen bedingt ist.
H. P.
Die Chemie im Kriege von Dr. E. A sei mann.
Verlag von Ferdinand Hirt in Breslau. 1916. — 8S.
Das Heftchen ist in erster Linie als Ergänzung
des Lehrbuches der Physik und Chemie von
Siemon- Wunsch mann- A sei mann gedacht.
Es bietet in gedrängter Darstellung eine Übersicht
über die verschiedensten Zweige der Chemie, die
im Kriege Bedeutung erlangt haben, für die Waffen-
technik, die Arzneimittelfabrikation, die Ernährungs-
frage usw. Zur raschen Orientierung über das
Gebiet, insbesondere für Unterrichtszwecke, kann
die Schrift empfohlen werden. Scholich.
F. Pax, Schlesiens Pflanzenwelt. Eine
pflanzengeographische Schilderung der Provinz.
Mit 63 Abbildungen im Text und i litho-
graphischen Tafel. Jena 191 5, Gustav Fischer.
— Preis brosch. 10 M.
Eine zusammenfassende pflanzengeographische
Schilderung Schlesiens gewinnt besonders dadurch
Bücherbesprechuugen.
an Interesse, daß diese Provinz in mancher Hin-
sicht eine Sonderstellung unter den übrigen Teilen
des Deutschen Reiches einnimmt. Als Grenzmark
zwischen dem östlichen und westlichen Teil des
großen mitteleuropäischen Florengebietes vereinigt
sie in sich zahlreiche Vertreter sowohl des sibirischen
und pontischen, als auch in ihren nordwestlichen
Teilen des atlantischen Florenelements. Die Lage
des Gebietes gestattete nach der Eiszeit eine Neu
besiedelung gleichzeitig von Westen und Osten
während der Wall der Sudeten die Wanderung
in nord-südlicher Richtung hemmte. Diese Ver
hältnisse sowie die Beziehungen, die zwischen
dem Riesengebirge und den nächsten hohen Ge
birgen (Karpaten und Alpen) bestehen, sind es
die vor allem den Fachmann interessierten. Doch
ist das Buch in seiner ganzen Anlage und Aus
führung keineswegs nur für diesen, sondern viel
mehr für einen breiteren Kreis botanisch oder
geographisch interessierter Leser geschrieben: vor
allem aber für den Schlesier, der Sinn für die
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
319
Pflanzenwelt seiner Heimat hat. Damit steht es
im Zusammenhange, daß ausführliche Pflanzenlisten,
die nur den Fachmann angehen, möglichst ver-
mieden sind und auf die genaue Zitierung der
Literatur gänzlich verzichtet ist. Statt dessen
sind manche Angaben von allgemein-biologischem
Interesse mit in die Darstellung verwoben, die
man in einer pflanzen-geographischen Studie zu-
nächst nicht erwarten würde. Bei diesem be-
sonderen Charakter des Buches dürfte eine kurze
Übersicht über den Inhalt zur sicheren Orientierung
am Platze sein.
Die Darstellung beginnt mit einem Kapitel
über die Geschichte der Erforschung
von Schlesiens Flora, als deren erstes
Dokument ein mit guten Abbildungen geschmückter
Bericht des Andreas Mattioli über eine
Exkursion in das Riesengebirge im Jahre 1563 ge-
nannt wird. Mit großer Wärme wird der Ver-
dienste gedacht, die sich Männer wieGöppert,
VV immer, Milde, Limpricht und zahlreiche
andere um die Kenntnis der schlesischen Flora
erworben haben. Das zweite Kapitel behandelt
die Flora der Vorwelt, die dank des uner-
müdlichen Fleißes eines Göppert zu den best-
erforschten Deutschlands gehört. Das dritte Kapitel,
das Alter und Herkunft der gegen-
wärtigen Pflanzenwelt zum Gegenstande
hat, enthält statistische Angaben über die Zahl
der vertretenen Arten usw., unterrichtet über die
hauptsächlichsten Florenelemente, die für das Ge-
biet in I'Vage kommen, zählt die endemischen
Arten und Bastarde auf und erörtert die Stellung
Schlesiens im eurasiatischen P'loreiigebiet. Werden
hier also Fragen der Pflanzengeographie im engeren
Sinne erörtert, so gilt dies weniger für das folgende
(4.) Kapitel, das unter dem Titel Tier und
Pflanze Abschnitte über Epizoen und Endozoen,
Pflanzen und Ameisen, koprophile, insekten-
fressende, tierbewohnende Pflanzen und über
Symbiose vereinigt. Ein weiteres Kapitel mit der
Überschrift: Mensch und Pflanzenwelt be-
ginnt mit einem Abschnitt über prähistorische
Kulturpflanzen, schildert das Verdrängen der ur-
sprünglichen Pflanzendecke durch den Menschen
und die an ihre Stelle getretenen Formationen,
die Nutzpflanzen und ihre Feinde (hauptsächlich
die parasitischen Pilze), die Zierpflanzen und die
neuen Ansiedler. Auch dieses Kapitel enthält
manche Dinge, die mit der speziellen Pflanzen-
geographie Schlesiens nur in lockerem Zusammen-
hange stehen, aber vielen Lesern gleichwohl will-
kommen sein werden. Die vier übrigen Kapitel,
die die zweite Hälfte des Buches ausmachen, sind
hingegen wieder spezifisch pflanzengeographischen
Fragen gewidmet und haben die Gliederung der
Flora in einzelne Regionen zum Gegenstande,
enthalten auch die klimatischen Daten usw. Von
den drei unterschiedenen Regionen: Schlesische
Ebene, niederes Bergland und höheres Bergland,
haben die beiden letzten ein besonderes Interesse,
da das Iser- und besonders das Riesengebirge in
vielen Gauen Deutschlands zum Reiseziel gewählt
werden. Es dürfte manchem Besucher der Schnee-
koppe, der Schneegruben mit ihrer so üppigen
Kräuterpracht, des Teufelsgärtchens usw. sehr
erwünscht sein, sich in den einschlägigen Kapiteln
genauer über ihre Flora unterrichten zu können.
Zahlreiche meist recht schöne nach Original-
photographien hergestellte Vegetationsbilder be-
leben die Darstellung.
Eine Übersichtskarte zeigt die Verteilung des
Waldes und den Verlauf der Grenzlinien der Ver-
breitung einiger pflanzengeographisch bemerkens-
werter Bürger der Provinz. Ein ausführliches In-
haltsverzeichnis erleichtert die Benutzung des
Buches. Das Druckfehlerverzeichnis hätte freilich
noch eine beträchtliche Erweiterung erfahren
können.
Die Liebe zur heimischen Scholle war stets
ein hervorstechender Zug der schlesischen Botaniker.
Sie hat auch dem Verfasser die Feder geführt,
der seit mehr als einem Menschenalter unsere
Kenntnis der schlesischen Flora durch eigene oder
unter seinen Auspizien entstandene Arbeiten ge-
fördert hat. So wird das Buch besonders in
Schlesien dankbare Leser finden. Buder.
Dittrich, O., Prof. D. M i tt el u n d Wege zu r
Pilzkenntnis. Breslau 1917, G. P. Aderholz'
Buchhandlung. — 50 Pfg.
Der Verfasser erörtert in diesem Vortrage in
eingehender und die wissenschaftlichen sowohl als
die praktischen Bedürfnisse berücksichtigender
Weise die Literatur über die eßbaren Pilze und
macht auf besondere Schwierigkeiten aufmerksam.
Des weiteren bespricht er die Mittel, wie die
Kenntnis der eßbaren Pilze in weitere Kreise zu
tragen ist, stellt den Mißerfolg von Pilzwanderungen
fest, erörtert die Pilzauskunftstellen und Pilzaus-
stellungen und kritisiert (und zwar mit Recht) die
künstlichen deutschen Bezeichnungen, die sich in den
Büchern finden, und die durch die wirklich im
Volke und am Markt gangbaren Namen zu er-
setzen seien. Das Heftchen stellt zwar keine An-
leitung zum Erkennen der Pilze dar, gibt aber
eine erwünschte Diskussion der Mittel, die zu
diesem Ziele führen können. Miehe.
Meteorologie von Professor Dr. Wilhelm Trabe rt
in Wien. 4, zum Teil umgearbeitete Auflage
von Privatdozent Dr. Albert De fant in Wien.
Mit 46 Abbildungen und Tafeln. (Sammlung
Göschen Nr. 54). G. J. Göschen'sche Verlags-
handlung G. m. b. H. in Berlin W 10 und
Leipzig. — Preis in Leinwand gebunden i Mark.
Auch die Neubearbeitnng, die Dr. Defant
an Stelle des erkrankten Prof.Trabert vorgenommen
hat, brachte dem Bändchen wieder eine Anzahl
Verbesserungen. So wurden die neueren Er-
gebnisse der aerologischen Forschung über die
Hoch- und Tiefdruckgebiete, über den Einfluß der
320
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 23
Reibung auf die Luftströmungen, sowie die der
Poladichtforschung u. a. mit berücksichtigt. Ins-
besondere hat der Abschnitt über die Wetter-
prognose und ihre Hilfsmittel eine Neugestaltung
erfahren. Hierbei wäre es wohl angebracht ge-
wesen, die wichtigsten Regeln über die Verlagerung
der barometrischen Maxima und Minima nicht nur
dem Namen nach zu erwähnen, sondern auch
dem Inhalt nach kurz zu skizzieren. Nötigenfalls
könnte dafür der im Rahmen des Buches wohl
etwas breit gehaltene Abschnitt über die Bedeutung
des Staubes in der Atmosphäre gekürzt werden.
Nebenbei mag noch auf einen wohl übersehenen
falschen Ausdruck auf S. 112 hingewiesen werden,
wo „ein Volt" definiert wird als der 0,89 Teil jener
,, Kraft", die in einem Daniellelement wirksam ist.
In der Literaturzusammenstellung vermißt man
die „Dynamische Meteorologie" von Bjerknes. —
Dies alles vermag jedoch den Wert des kleinen
Buches nicht zu verringern. Es kann noch wie
vor auf das beste empfohlen werden, wenn es
darauf ankommt, einen schnellen Überblick über
das Gesamtgebiet der meteorologischen Forschung
zu erhalten, die ja bei dem raschen Aufblühen
des Luftfahrwesens und der gerade jetzt jedermann
berührenden Abhängigkeit der Landwirtschaft und
damit der Ernährung vom Wetter mehr und mehr
ein Gegenstand allgemeinen Interesses wird.
Scholich.
Anregungen und Antworten.
Ornithologische Beobachtungen im August und September
1916 in Galizien, Wolhynien und Russisch-Polen. Ciconia
alba. In Russisch-Polen, Galizien und Wolhynien ist der
Weißstorch noch scharenweise anzutreffen. Bei Domatschew,
Wlodawa, Ruda (Polen) wurden in der Zeit vom 4. bis 7. 8. 16
auf Wiesen 16, 23, 26 Stück beobachtet, am 8. 8. 16 standen
am Djnestre bei Halicz (Galizien) auf einer Stelle II, auf
einer anderen 14 Stück. Am 27. 8. 16 konnten wir, bei
Nowy-Zahorow(VVolhynien) eine Storch Versammlung belauschen.
Es war abends gegen 6 Uhr an einer sumpfigen Wiese, wo
wir 38 Exemplare zählten. Bei den Kämpfen an der Bystrzica
tauchten am Abend des 3. 9. mitten im Schrapnellregen zwei
Störche auf, die ziemlich ruhig hin- und herfiogen und dann
plötzlich mit schnellem Flug das Schlachtfeld verließen. Am
4. 9. (logen abends gegen '/a 7 Uhr über dieselbe Stellung
46 Störche nach Süden. Bei Cholm (Russ.-Polen) war von
einem abgebrannten Hause der Schornstein stehen geblieben.
Auf diesem rissigen Hausüberrest hatte ein Storchenpaar sein
Nest errichtet.
Coracias garrula. Die Blauracke oder Mandelkrähe
war sehr häufig bei Krasnostaw in Russisch-Polen und bei
Swiniuchy und Nowy-Zahorow in Wolhynien anzutreffen.
Numenius arquatus, der große Brachvogel wurde
zahlreich in der Zeit vom 5. bis 10. September 1916 bei
Korytniza und Swiniuchy (Wolhynien) beobachtet.
Bei Rykowicze (Wolhynien) befand sich auf hohen Pappeln
eine riesige Krähenkolonie (Corvus frugilegus). Die Saatkrähen
waren dort des Morgens und Abends zu Tausenden ver-
sammelt.
Am 14. 9. 16 konnten wir ebenda auf einer Sumpfwiese
12 Purpurreiher (Ardea purpurea) belauschen.
In Südostgalizien war im Winter 1916 — 17 der Dom-
pfaff (Pyrrhula rubicilla) massenhaft anzutreffen.
Karl Waase.
Literatur.
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Jena '17, G. Fischer. — 2,40 M.
Inhalt: R. Kräusel, Die Bedeutung der Anatomie lebender und fossiler Hölzer für die Phylogenie der Koniferen. (9 Abb.)
S. 305. — Einzelberichte: Seh laginhauf e n , Pygraäenproblera. S. 311. Hiltner, Silene dichotoma Ehrhart, erst
Unkraut, dann Kulturpflanze. S. 314. W. B o b i 1 i o f f- P r ei ß e r , WaniJerung des Zellkerns. S. 314. Eberts,
Der Krammetsvogelfang im Dohnenstiege. S. 315. W. Knopfli, Die mutmaßliche Ausbildung und Geschichte der
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F. Pax, Schlesiens Pflanzenwelt. S. 318. O. Dittrich, Mittel und Wege zur Pilzkenntnis. S. 319. W. Trab er t,
Meteorologie. S. 319. — Anregungen und Antworten: (Jrnithologische Beobachtungen im August und September 1916
in Galizien, Wolhynien und Russisch-Polen. S. 320. — Literatur: Liste S. 320.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 17. Juni 1917.
Nummer 34.
Die Schwefelbakterien und ihre Tätigkeit in der Natur.
[Nachdruck vcrb
Von Prof. Dr. M. Düggeli, Zürich.
Mit 6 Abbildungen im Text.
Ein Großteil der bekannt gewordenen und
näher studierten Spaltpilz- oder Bakterien-Arten
gehört zu den Saprophyten oder Fäulnisbewohnern.
Sie bauen die in den abgestorbenen Körpern der
Pflanzen und Tiere enthaltenen, meist recht kom-
plizierten Verbindungen ab und führen sie in
einfacher zusammengesetzte Stoffe über. Dabei
gewinnen die Saprophyten einerseits Nährstoft'e,
andererseits Energie zur Auslösung ihrer Lebens-
vorgänge. Die Tätigkeit der Fäulnisbewohner ist
für uns Menschen zweifellos sehr willkommen,
indem dadurch die in den Organismen-Körpern
enthaltenen Stoffe anderweitig verwendbar werden
und eine Anhäufung von Pflanzen- und Tierleichen
an der Erdoberfläche unterbleibt.
Diese saprophytisch lebenden Spaltpilze ver-
wenden als Baustoffe für ihre Körper sowie als
Atmungs- und Gärmaterial die organischen Ver-
bindungen des Pflanzen- und Tierkörpers und da-
mit die von den Sonnenstrahlen unserem Planeten
zugeführten Energiemengen, die seinerzeit von
den grünen Pflanzen bei der Photosynthese fest-
gelegt wurden.
Beim Abbau der kompliziert zusammengesetzten
Eiweißkörper, die bis i'/a^/o Schwefel enthalten,
spalten gewisse, vorwiegend bei Luftabschluß ar-
beitende Saprophyten Schwefelwasserstoff (H^S)
ab, ein Gas, das sich bekanntlich durch seinen
penetranten Geruch noch in starker Verdünnung
bemerkbar macht. Der Schwefelwasserstoff-Geruch
wird allgemein bezeichnet als Geruch nach faulen
Eiern, obwohl faulende Eier keineswegs immer
nach Schwefelwasserstoff riechen. Die Entstehung
von H.,S ist in der Natur aber nicht gebunden
an die Fäulnis von Eiweiß und eiweißähnlichen
Substanzen; es gibt noch zahlreiche andere IVlöglich-
keiten der HjS Entstehung in der Natur. Aus
ihrer Fülle sei nur der Fall herausgegriffen, wo
faulende organische Substanz mit Sulfaten in Be-
rührung tritt. Dabei kann durch rein chemische
Vorgänge Sulfat zu Sulfid und dieses zu HaS
zersetzt werden, zufolge der stark reduzierenden
oder sauerstoffentziehenden Wirkung der faulenden
organischen Substanz. Bei der Fäulnis entsteht
unter anderem Wasserstoff, der, zufolge seiner
großen Affinität zu Sauerstoff, auf die Umgebung
sauerstoffentziehend wirkt. Wir können durch
zwei Gleichungen den geschilderten Vorgang un-
serem Verständnis näher bringen:
CaSO, — 2O2 = CaS
Diese Wirkung wird ausgelöst durch die redu-
zierende Tätigkeit der faulenden organischen Sub-
stanz. Kommt Kalziumsulfid (CaS) mit einer Säure
zusammen, z. B. mit der schwachen Kohlensäure,
so verwandelt es sich in kohlensaures Kalzium
unter Freiwerden von Schwefelwasserstoff:
CaS + H2CO3 = CaCOs + H.,S
Aber nicht bloß durch rein chemische Prozesse,
sondern auch durch die Tätigkeit bestimmter,
reduzierend wirkender Spaltpilze wird Sulfat zer-
setzt unter Produktion von fLS. So vermag das
Spirilluni dcsitlfurüaiis Bey., aus Grabenwasser
isoliert, im Liter geeigneter Nährflüssigkeit aus
Sulfat 238 mg H.>S abzuspalten. Noch kräftiger
wirkt die aus Meerwasser gezüchtete Alicrospira
aestuarii van Delden, die im Liter Nährflüssigkeit
bis 952 mg H„S aus Sulfat bildet.
Die Örtlichkeiten, wo solche aus Eiweißstoffen,
oder dann aus Sulfat H„S abspaltende Bakterien
tätig sind, erkennen wir leicht, außer mit dem
Geruchssinn, durch die Schwärzung hingehängten
Bleipapiers. Lassen sich schwefelwasserstofifpro-
duzierende Mikroorganismen auf festen Nährsub-
straten züchten, so umgeben sich ihre Kolonien
bei Zusatz von 3% Eisentartrat oder Eisensaccharat
mit einem schwarzen Hof von Schwefeleisen.
Nicht selten häuft sich der auf irgendeine
Weise, sei es durch chemische, oder durch bio-
logische Vorgänge produzierte H.jS an; nament-
lich kann dies in Wasserbecken stattfinden, da
der H,S in Wasser leicht löslich ist. Ein paar
Angaben mögen dies belegen.
Nadson fand im Wasser des Weissowo-
Salzsees (Gouv. Charkow, Rußland) pro Liter
folgende Mengen H^S:
In der Tiefe von 16 m 5,91 ccm= 9,00 mg H2S
„ 18,1 „ 88,31 „ =134-51 -. M
„ „ „ „ 18,7,, 184,96 „ =281,73 „ „
Im Schwarzen Meer konnte die russische Tief-
see-Expedition vom Jahre 1891, von einer Tiefe
von 200 — 400 m angefangen, überall bis zum
Meeresboden H.,S im Wasser nachweisen. Nach
dem Bericht von Lebedinzeff enthielt ein Liter
Wasser aus dem Schwarzen Meer:
H,S
In einer
Tiefe
von
213 m
0,3V
ccn
1=0,50
427 ,.
2,22
„
= .3„3«
2026 „
^.■;s
= «,4S
„
„
2528 „
6,55
=9,98
Die dem Grunde des Schwarzen Meeres auf-
liegende Wasserschicht enthält zwanzigmal mehr
H.jS als das Wasser in 213 m Tiefe. Die Ursache
der Entwicklung von HjS in der Tiefe des Schwär-
322
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
zen Meeres ist die Fäulnis der dort abgelagerten
organischen Substanzen, sowie die HjS-Abspaltung
aus Sulfaten zufolge reduzierender Wirkung fau-
lender organischer Substanz und die Tätigkeit
sulfatreduzierender Spaltpilze. Der Grund, weshalb
diese Vorgänge gerade im Schwarzen Meer und
nicht auch in anderen Meeren in so hohem Grade
bemerkbar sind, ist nach Andrussow darin zu
suchen, daß im Schwarzen Meer das spezifische
Gewicht des Wassers nach der Tiefe rasch an-
steigt. Der vertikale Kreislauf der Wasserschichten
reicht deshalb nur bis zu einer Tiefe von ca 170 m;
weiter unten liegt die ganze Wassermasse still und
ermöglicht so die Anhäufung von H.>S.
Nach den Untersuchungen von Melle t und
Schwyzer enthält das Wasser des Ritomsees
im Val Piora, Kanton Tessin, Schweiz, von 12,5 m
an abwärts, bis zum Grunde, H^S und zwar im
Maximum pro Liter 30 mg = 19,7 ccm HjS. Be-
kanntlich enthält auch das Wasser der sog. Schwefel-
quellen größere oder kleinere Mengen von HjS.
Sobald im Wasser sich nennenswerte Mengen
von H2S vorfinden, ruft dies automatisch eine
Verminderung des Sauerstoffgehaltes, eventuell
ein gänzliches Verschwinden dieses für die
Lebewesen so wichtigen Gases hervor. Der Sauer-
stoffmangel im Wasser bedingt eine bedeutende
Rückwirkung auf die im Wasser lebenden Organis-
men höherer Natur, wie auch auf die Spaltpilze. Im
schwefelwasserstoffhaltigen Wasser verschwindet
die gewöhnHche Flora und Fauna der oberen
Wasserschichten fast ganz. Fs stellen sich nur solche
Lebewesen ein, die an die vorhandenen Lebens-
bedingungen speziell angepaßt sind, so von den
Algen manche Chroococcaceen, Diatomeen
und grüne Oscillarien, daneben Anguilluli-
den, Infusorien und Rädertierchen. Auch
manche Spaltpilzarten gedeihen im schwefel-
wasserstoffhaltigen Wasser noch ganz gut; so
viele obligat An aerobe, also nur bei Sauerstoff-
abschluß wachsende Spaltpilze, sowie insbesondere
die sog. Schwefelbakterien oder Thio-
bakterien.
Durch die bisherigen Ausführungen haben
wir die Überzeugung gewonnen, daß teils durch
chemische, teils durch biologische Prozesse aus
organischem oder anorganischem Material HjS
abgeschieden wird. Wäre nicht für die Beseitigung
des HjS, eines für Pflanzen und Tiere giftigen
Gases, gesorgt, so müßte seine Anhäufung im
Wasser, im Frdboden, ev. sogar in der Luft statt-
finden und es könnte vielleicht auch zufolge Entzug
von Schwefel im H.jS allmählich Mangel an
Schwefel in der Organismenwelt auftreten. Die
Rückgabe des Schwefels im H.,S an den Kreislauf
erfolgt in der Natur durch Oxydation des H.^S
zu Schwefel und dieses letzteren zu Schwefelsäure,
so daß den Pflanzen Sulfate, bekanntlich eine er-
wünschte Schwefelquelle,' gfliefert werden. Dieser
0.xydationsprozeß kann rein chemisch durch Luft-
sauerstoff bewirkt werden. Der in Wasser gelöste
HgS bildet beim Schütteln mit Luft zuerst feines
Schwefelpulver, das bei Anwesenheit poröser Körper
rasch zu Schwefelsäure oxydiert wird. In der
Natur geht aber dieser Oxydationsvorgang viel
kräftiger und umfassender unter Mitwirkung be-
stimmter Spaltpilze vor sich ; es handelt sich dabei
nicht mehr um einen rein chemischen, sondern
um einen biologischen Vorgang.
Alle Spaltpilze, die Schwefelverbindungen in
größerer Menge verarbeiten als sie zum Aufbau
ihres Körpers brauchen, bezeichnen wir als zur
Gruppe der Schwefelbakterien oderThio-
bakterien gehörend. Diese biologische Bak-
teriengruppe hat gegenüber den meisten anderen
Spaltpilzen, speziell den eingangs erwähnten Sapro-
phyten, die bemerkenswerte Fähigkeit, gewisse
anorganische Schwefelverbindungen zu oxydieren.
Von manchen Thiobakterien wissen wir, daß diese
rein anorganischen Oxydationsprozesse die Energie-
quelle sind, auf deren Kosten sie ihre Lebens-
prozesse auslösen, während andere Organismen
unbedingt organischer Substanzen zur Oxydation
bedürfen.
Die Großzahl der Schwefelbakterienarten er-
freut sich weiter Verbreitung in der Natur, wenn
auch die Anhäufung der Individuen nur unter be-
stimmten Bedingungen so wesentlich ist, daß makro-
skopisch, oder bei schwacher Vergrößerung mit
Hilfe des Mikroskopes, ihr Vorhandensein beobachtet
werden kann. Grundbedingung für eine wesent-
liche Vermehrung der Thiobakterien ist das Vor-
handensein von HoS, oder einer anderen geeigneten
Schwefelverbindung am Grunde seichter Gewässer.
Dann bilden farblose Schwefelbakterien weiße,
zierliche, netzartige Belege am Boden der Wasser-
ansammlung, die lebhaft an Spinngewebe erinnern,
oder aber rote Überzüge, wenn es sich um ge-
färbte Arten handelt.
Die günstigsten Jahreszeiten zum reichlichen
Auftreten von Thiobakterien sind der Spätherbst
und das zeitige Frühjahr, weil dann größere
Mengen von Pflanzenresten im Wasser zersetzt
werden; wobei HjS frei wird. In stillen Meeres-
buchten mit bedeutenden Quantitäten von faulendem
Seegras macht sich der HjS-Geruch in der Um-
gebung sehr lästig bemerkbar und das Wasser
ist dann auf weite Strecken rötlich verfärbt, zu-
folge reichlichen Vorkommens roter Schwefel-
bakterien. Solche Beobachtungen machte beispiels-
weise Warming an der dänischen Küste.
Die Schwefelbakterien leben z. T. sicher, z. T.
wahrscheinlich kohlenstoffautotroph. Unter kohlen-
stoffautotrophen Spaltpilzen verstehen wir solche,
die die Fähigkeit besitzen, den Kohlenstoff aus
anorganischen Kohlenstoffverbindungen zu assi-
milieren. An den bisher reinzüchtbaren Schwefel-
bakterien konnte die Kohlenstoff-Autotrophie ein-
wandfrei festgestellt werden, wähjend wir bei den
bisher nicht reinzüchtbaren Arten, und leider gehört
die Großzahl der Thiobakterien hierher, nur auf
berechtigte Vermutungen angewiesen sind. Die
reinzüchtbaren Schwefelbakterien benutzen das
Kohlendioxyd der Luft als Kohlenstoffquelle. Die
N. F. XVI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
323
zur Reduktion des Kohlendioxyds notwendige
Energie gewinnen die Schwefelbakterien durch
die Oxydation von nicht mit Sauerstoff gesättigten
anorganischen Schwefelverbindungen, wie Schwefel-
wasserstoff, schwefligsauren und unterschweflig-
sauren Salzen. Bei der Oxydation von H^S zu
Schwefelsäure tritt als Zwischenstufe Schwefel auf.
Die Schwefel Wasserstoff- Oxydation zu Schwefel-
säure sei durch zwei Gleichungen unserem Ver-
ständnis nähergebracht.
2H2S -f O2 = 2H2O + S2 -f 122 Cal
Sa + 3O2 + 2H2O = 2H2SO, + 282 Cal
Die Schwefelsäure wird durch vorhandene
Karbonate, namentlich durch den im Wasser re-
lativ leicht löslichen und oft vorhandenen doppelt-
kohlensauren Kalk [CaH., (€03)2] neutralisiert und
in Form von Sulfaten ausgeschieden. Wieder soll
eine chemische Gleichung diesen Vorgang ver-
deutlichen :
H.,SO, + CaH.,(C03)2 = CaSO, -f 2CO2 + 2H2O
Durch die Tätigkeit der Schwefelbakterien wird
also Karbonat in Sulfat verwandelt. Die oben an
erster Stelle angeführten beiden Gleichungen zeigen,
daß es sich um energieliefernde Vorgänge handelt,
welche Energie zur Assimilation des Kohlendioxyds
verwendet wird. Unter günstigsten Bedingungen
wird Schwefelwasserstoff in 5 Minuten zu Schwefel-
säure oxydiert.
Für unsere weiteren Besprechungen wollen
wir bei den Schwefelbakterien zwei Gruppen aus-
einanderhalten.
Die Angehörigen der ersten Gruppe sind da-
durch charakterisiert, daß die Zellen in ihrem
Innern nie Schwefel einlagern, während die An-
gehörigen der zweiten Gruppe dies regelmäßig tun.
Betrachten wir zuerst einen Vertreter der er-
sten Gruppe, das Thiobadcrm»! fhiopanim. Die
Rohkultur dieser Bakterienart kann auf folgende
Weise gewonnen werden. Eine rein mineralische
Nährlösung, die unterschwefligsaures, sowie kohlen-
saures Natron enthält, -wird in einem Glaszylinder
mit Grabenschlamm geimpft. Wenn die Kultur
angehen soll, so dürfen keine organischen Kohlen-
stoffverbindungen da sein. Nach einiger Zeit über-
zieht sich die Flüssigkeit bei Zimmertemperatur
mit einer Haut, die aus Stäbchen mit dazwischen
liegenden Schwefeltröpfchen besteht. Dieses be-
wegliche, stäbchenförmige Thiobactcriitnt tlnopanini
oxydiert das unterschwefligsaure Natron unter
Schwefelabscheidung zu schwefelsaurem Natron.
Bieten wir statt unterschwefligsaurem Natron
Schwefelwasserstoff, so wird dieses Gas zu Schwefel
oxydiert. Auf Agarplatten mit entsprechendem
Zusatz von Nähr- und Energiestoffen kann die
Mikrobe reinkultiviert werden. An diesen Rein-
kulturen ist die Kohlenstoff-Autotrophie des Thio-
bacterinm tliiofanim leicht nachweisbar. Ob bei
den beobachteten Oxydationsvorgängen Enzyme
der Mikroorganismen tätig sind, ist noch nicht
entschieden.
Die zweite Gruppe von Thiobakterien, deren
Angehörige in ihrem Zellinnern Schwefel aufzu-
speichern vermögen, war zuerst bekannt.
Nach der Ansicht des bekannten Breslauer
Botanikers Ferdinand Cohn sollten diese
Schwefelbakterien Sulfate zu HjS reduzieren und
dann den H^S zu Schwefel oxydieren, wobei der
Schwefel in den Zellen abgelagert würde. Der
russische Forscher Winogradsky zeigte aber
durch einwandfreie Versuche, daß diese Schwefel-
bakterien nie reduzierend, sondern stets oxydierend
wirken, mithin nie HjS erzeugen, sondern stets
verbrauchen. In sulfathaltigem Wasser gedeihen
diese Organismen so wenig wie in einer schwefel-
wasserstofffreien Flüssigkeit; es muß ihnen unbe-
dingt H.,S zur Verfügung stehen, sonst gehen sie
an der Unmöglichkeit die notwendige Energie zur
Auslösung der Lebensprozesse gewinnen zu können,
zugrunde.
Der Schwefelgehalt des Zellinnern ist abhängig
von äußeren Bedingungen, vorab von der Menge
des zur Verfügung stehenden HjS. Bald sind die
Zellen von Schwefeltröpfchen ganz erfüllt, bald
fehlen sie gänzlich. Der Schwefelgehalt der Zellen
darf deshalb, weil er ein veränderliches Merkmal
ist, nicht für die Artbestimmung herangezogen
werden, wie dies schon von verschiedenen For-
schern geschehen ist.
Der Schwefel kommt in den Schwefelbakterien-
zellen in Form von kugeligen, das Licht stark
brechenden Inhaltskörpern vor. Es ist das Ver-
dienst eines schweizerischen Botanikers, C. Gramer
in Zürich, das wahre Wesen dieser Inhaltskörper
erkannt zu haben. In der chemisch physikalischen
Beschreibung der Thermen von Baden im Aargau,
die im Jahre 1870 von Ch. Müller erschien,
bezeichnete Gramer die Inhaltskörper derBeg-
giatoen als aus Schwefel bestehend. Die in der
Literatur häufig gebräuchliche Bezeichnung Schwe-
felkörnchen ist nicht zutreffend, da sie, wie Wino-
gradsky zeigte, nicht körnig fest, sondern ölig
weich sind. Diese Tröpfchen bestehen aus amor-
phem Schwefel. Taucht man schwefelreiche Zellen
in konzentrierte Pikrinsäure und legt sie dann in
Wasser ein, so sieht man nach 24 Stunden schön
ausgebildete monoklinprismatische Täfelchen und
rhombische Oktaeder in den Zellen. Die wach-
senden Kristalle durchreißen nicht selten die be-
nachbarten Zellwände.
Da die Schwefeltröpfchen nur eine Zwischen-
stufe in der O.xydation des HoS zu Schwefelsäure
sind, so werden sie nicht dauernd im Zellinnern
gespeichert. Wenn H.jS den Schwefelbakterien
einige Zeit mangelt, so verbrennen sie ihren auf-
gespeicherten Vorrat an Schwefel in i —2 mal
24 Stunden und sterben dann Hungers, sofern
ihnen nicht im Wasser neuer H^S geboten wird.
Den HjS können die Schwefelbakterien nicht auf
die Dauer entbehren, da er die eigentliche, wenn
nicht ausschließliche Quelle von Spannkraft ist.
Nach den Untersuchungen von Winogradsky ver-
brauchen die Bakterienzellen täglich das 2— 4 fache
324
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVL Nr. 24
ihres eigenen Gewichtes an HjS oder an
Schwefel.
Für unsere weiteren Besprechungen unter-
scheiden wir bei den im Zellinnern Schwefel-
tröpfchen ablagernden Thiobakterien nach morpho-
logischen Gesichtspunkten drei Gruppen:
1. Farblose, in Zellfäden angeordnete Schwefel-
bakterien.
2. Farblose, nicht in Zellfäden angeordnete
Schwefelbakterien.
3. Rot gefärbte Schwefelbakterien, die Thio-
bakterien unter den Purpurbakterien.
Nach Winogradsky können Rohkulturen
der genannten drei Gruppen auf folgende Weise
erhalten werden. Im zylindrischen Glasgefäß
werden die Rhizome von Wasserpflanzen in zer-
schnittenem Zustande samt anhaftendem Schlamm
mit Wasser Übergossen und ein paar Gramm
Kalziumsulfat oder Gips zugesetzt. Wir lassen
sie bei Zimmertemperatur einige Tage unbedeckt
stehen. Wünschen wir rot gefärbte Schwefel-
bakterien anzureichern, so muß das Licht zum
Glaszylinder reichlich Zutritt haben; bei Lichtab-
schluß entwickeln sich farblose Thiobakterien.
Nach 5 — 7 Tagen findet aus dem zugefügten Gips
die Entwicklung von HjS statt. Dadurch ist die
Nährflüssigkeit, in der sich die Schwefelbakterien
entwickeln können, geschaffen. Nach 3 — 6 Wochen
sind die Thiobakterien mikroskopisch feststellbar,
vermehren sich aber nach und nach so stark, daß
sie auch für das unbewaffnete Auge sichtbar sind.
Wir wollen nun die einzelnen Gruppen von
schwefelspeichernden Thiobakterien, unterstützt
durch einige Zeichnungen, kurz besprechen. Dabei
sei die Bemerkung vorausgesandt, daß die syste-
matische Bearbeitung der einzelnen Gruppen noch
eine unbefriedigende ist. Zunächst;
I. Farblose, in Zellfäden angeordnete Schwefel-
bakterien. Bis jetzt sind zwei Gattungen näher
studiert, nämlich: Beggiatoa und Thiothrix. Die
erste Gattung umfaßt bewegliche, TJnothrix aber
festsitzende Zellfäden. Beide Gattungen sind von
Winogradsky eingehender studiert.
Die Gattungs-Bezeichnung Beggiatoa stammt
von Trevisan aus dem Jahre 1872 zu Ehren
des italienischen Arztes Beggiato zu Vicenza.
Beggiato hatte im Jahre 1838 die Flora der
Schwefelquellen bei Padua bearbeitet. Die
Beggiatoa- Arten bestehen aus lebhaft be-
weglichen, zylindrischen Zellfäden, die bis i cm
lang werden. Die Bewegung ist eine seltsame
und resultiert aus drei Einzelbewegungen , d.ie
bestehen in einem Drehen um die eigene Achse,
einem Hin- und Herpendeln und gleichzeitigem
Vor- und Rückwärtsgleiten. Bewegungsorgane
sind aber bei den Beggiatoen nicht bekannt,
wie auch ein Zellkern und das Vermögen, Sporen
zu bilden, vergeblich gesucht wurden. Wenn das
den Beggiatoen zur Verfügung stehende Wasser
reich ist an HjS, so ist das Innere der Zellen so
reich an rundlichen, stark lichibrechenden Schwefel-
tröpfchen, daß die vorhandenen Querwände gar
nicht oder nur schwer zu sehen sind (Abb. 1)
Man ist dann versucht zu glauben, der Beggiatoa
Faden bestehe nur aus einer einzigen schlauch
förmigen Zelle und nicht aus zahlreichen kurz
zylindrischen Zellen, die fadenartig hintereinande
angeordnet sind, wie das der Wirklichkeit ent
Abb. 1. Beggi.itoa alba Win.
Die in der Zeichnung schwarz gehaltenen Schwefeltröpfchcn
sind zufolge reichlicher Anwesenheit von HjS massenhaft
vorhanden, so daß die Querwandungen im ZcUfaden nicht
sichtbar sind. Nach der Natur gezeichnet. Vergrößerung 600.
Spricht. In schwefelwasserstoffarmem, oder gar
in schwefelwasserstofffreiem Wasser geht die Zahl
der Schwefeltröpfchen rasch zurück, wodurch die
Querwände deutlich sichtbar werden. Bei Schwefel-
wasserstoffmangel runden sich die einzelnen den
Zellfaden zusammensetzenden Glieder gegensehig
Abb. 2. Beggiatoa alba Win.
Infolge Mangel an HjS sind in den Zellen keine oder nur
wenige Schwefeltröpfchen vorhanden, die Querwandungen sind
deutlich zu sehen und der Zellfaden zerfällt stellenweise in
seine kurzen , sich abrundenden Glieder. Nach der Natur
gezeichnet. Vergrößerung 600.
ab, lösen sich voneinander los, so daß der Zell-
faden in seine Glieder zerfällt. Dadurch ist die
Möglichkeit gegeben, daß die ovalen Zellen durch
Strömungen im Wasser leicht verfrachtet und so
neue schwefelwasserstoffreichere Standorte besiedelt
werden können (Abb. 2).
N. F. XVI. Nr. 2.|.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
325
Winogradsky züchtete sieunter Deckglasinder
feuchten Kammer. Zwischen Deckglas und Objekt-
träger wurden, außer schwefelwasserstoffhaltigem
Wasser, Glassplitterchen gebracht, um den Druck
des Deckglases auf die Zellen aufzuheben und die
Erneuerung der .Flüssigkeit mittels Durchsaugens
zu erleichtern. Soblieben die eingesetzten Beggia-
toen Wochen- bis monatelang lebend. Dabei ließ
sich auch die Beobachtung machen, daß die
Beggiatoen ohne gebundenen Kohlenstoff in
anderer F"orm als Kohlendioxyd zu erhalten, ihren
Körper normal aufbauten, so daß die Vermutung,
sie benützen das Kohlendioxyd stets als Kohlen-
stoffquelle mit Hilfe der bei der Oxydation von
HjS erhaltenen Energie, der Wirklichkeit entsprechen
dürfte.
Diese Vermutung ist sowohl für Beggiatoa
wie für die gleich zu erwähnende Thiothrix in
vollem Umfange neuerdings durch F. Keil be-
stätigt worden (Beitr. z. Biologie der Pflanzen,
Bd. XI, S. 335 ff., 1912), dem es auch zum ersten
Male gelang, einwandfreie Reinkulturen der bei-
den Schwefelbakterien herzustellen. Er züchtete
sie in einer mineralischen Nährlösung, der als
Stickstoffquelle Ammonsalze zugesetzt waren, und
in einen abgeschlossenen Gasraum, der Kohlen-
dioxyd, eine beschränkte Menge Sauerstoff und
wenig Schwefelwasserstoff enthielt und durch Zu-
fügen des indifferenten Wasserstoft'es auf Atmo-
sphärendruck gebracht wurde. Die üppige Ent-
wicklung der Bakterien zeigte an, daß sie in der
Tat das Kohlendioxyd assimilieren. Sie sind
sogar auf diese C-Quelle angewiesen, da organische
Verbindungen zwar nicht schädigten, aber sich
als unausnutzbar erwiesen. Zugleich geht aus
diesen Zuchtversuchen hervor, daß der Schwefel-
wasserstoff eine notwendige Existenzbedingung
für diese Bakterien darstellt. Sie sind somit in
ähnlicher Weise autotroph, wie die grünen Pflan-
zen und etliche eisen- und wasserstoffoxydierende
Bakterien.
Da die Breitendimensionen der Beggiatoa-
F"aden ziemlich konstant sind, wurden sie für die
Spaltung der Gattung in Arten zum Prinzipe ge-
wählt. Die drei bei uns öfters vorkommenden
Arten sind:
Beggiatoa alba Win.
mit 2,8 — 2,9 n breiten Zellfäden
Beggiatoa media Win.
mit 1,6 — 1,7 ;< breiten Zellfäden
Beggiatoa minima Win.
mit 0,8 ii breiten Zellfäden
Ein Riese unter den Beggiatoen ist Beggiatoa
mirabilis Cohn, die vom Grunde der Kieler Bucht
heraufgeholt wurde. .Die Faden werden 45 — 50
Mikra, also bis V20 "i"! breit und sind schon bei be-
scheidener Vergrößerung sichtbar. Dank diesen,
für Spaltpilze riesigen Körperdimensionen ist es
möglich mit Hilfe des Mikrotomes Längs- und
Querschnitte durch den Bakterienleib zu machen
und so einen Einblick in seinen Aufbau zu ge-
winnen. Die Untersuchung ergab, daß die Zellen
von Beggiatoa mirabilis eine doppelte Membran
besitzen, und reich vakuolisierten Inhalt aufweisen,
so daß zahlreiche oft recht dünne Plasmastränge
das Zellinnere durchsetzen. Spuren eines Zellkernes
wurden auch da nicht getroffen.
Die Beggiatoen bevorzugen zufolge der freien
Beweglichkeit der Zellfäden stagnierendes, schwefel-
wasserstoffhaltiges Wasser, wo sie sich, je nach
der Wassertiefe, entweder am Grunde, oder in
den oberflächlichen Schichten aufhalten.
Die festsitzenden Zellfaden der Gattung
Thiothrix oder Schwefelhaar bilden büschel-
förmige, weiße Fadenkolonien. Die Faden sind
mittels schleimigem bis gallertigem Haftkissen an
irgendeiner Unterlage festsitzend, so an Steinen,
Holz usw. Die F"aden der Th io thr ix-Arten
unterscheiden sich von denjenigen der Beggiatoen
außer durch ihr Festgewachsensein noch durch Ver-
jüngung der Zellfaden nach der Spitze zu. Die
Zellen nahe dem Haftkissen sind mithin von
größerem Durchmesser, als die in der Nähe der
Spitze (Abb. 3). Auch bei den Thiothrixfaden
.Abb. 3. Thiolhrix nivea Win.
Die Zellfaden sind festgewachsen und verjüngen sich gegen
das freie Spitzenende zu. Die in den Zellen reichlich vor-
handenen schwarz gehaltenen Schwefellröpfchen lassen keine
Querwandungen im Thiothrix-Faden erkennen. Nach der Natur
gezeichnet. Vergrößerung 600.
ist die Gliederung in einzelne Zellen oft nur schwer
zu sehen zufolge der reichlich vorkommenden
Schwefeltröpfchen. Interessant ist das Vermögen der
Thiothrix -Arten das oberste Fadenglied als
bewegliche Konidie abzugeben. Winogradsky
beobachtete, wie das terminale Fadenstück von
8 — 9 Mikra Länge sich abgliederte, auf der festen
Unterlage vorwärtskroch, den Mutterfaden streckte
und schließlich sich losriß. Der Mutterfaden schnellte
dabei ähnlich wie eine gespannte Feder zurück.
Die noch eine kurze Strecke sich vorwärts be-
wegende Konidie kam zur Ruhe, erzeugte ein
Haftkissen und wuchs zum Faden aus. Dadurch
entstehen büschelförmige weißliche Fadenkolonien
und gleichzeitig ist die Möglichkeit zur Ausbreitung
der Art gegeben.
326
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
Bei der Gattung Thiothrix wird ebenfalls
die Breite der Zellfaden zum Einteilungsprinzip
gewählt und danach unterschieden:
Tliiotlirix >nvea Win.
mit am Grunde 2 f^i messenden Zellfaden.
Thiothrix temäs Win.
mit am Grunde i /< messenden Zellfaden.
Thiofhrix temiissima Win.
mit am Grunde 0,4 — 0,5 /t messenden Zellfaden.
Die Thiothrix temdssima wurde in derSchwefeK
quelle von Adelbodenim Kanton Bern (Schweiz
gefunden bei einer Wassertemperatur von bloß
5-8«C.
Die Thiothrix-Arten sind in mehr oder
weniger stark fließendem schwefelwasserstoff-
haltigem Wasser anzutreffen, speziell in Quellen,
wo sie zufolge ihrer gallertigen Haftkissen nicht
fortgespült werden. In tieferen, stagnierenden,
Schwefel vvasserstofführenden Wasserschichten finden
sich die Thiothrix-Arten nur gemeinsam mit
Oscillarien und Chroococcaceen, die ihnen
den notwendigen Sauerstoff liefern.
Die zweite im Zellinnern Schwefeltröpfchen
ablagernde Gruppe von Thiobakterien umfast farb-
Abb. 4. Thiophysa voliilans Hinze.
Die beweglichen, mit schwarz gezeichneten Schwefeltröpfchen
beladenen Zellen zeigen Kugelgestalt, bei der Vermehrung
aber oft Semmelform. Nach Hinze. Vergrößerung 600.
lose, nicht in Zellfaden angeordnete Schwefel-
bakterien. Bei der Besprechung dieser zweifellos
sehr großen Gruppe von Schwefelbakterien können
wir uns ganz kurz fassen, indem sowohl ihre
Morphologie wie die Biologie und Systematik noch
ganz ungenügend studiert sind. Als Vertreter dieser
Gruppe seien genannt: Thiophysa volutaus Hinze
(Abb. 4), Bacillus tliiugeiiiis Molisch und Spirillum
bipiDictatum Molisch.
Wir müssen an dieser Stelle auf eine Bildung
aufmerksam machen, die bei allen beweglichen
Thiobakterien in Schwefelwasserstoff haltigen Flüssig-
keiten beobachtet werden kann, nämlich die sog.
Bakterienplatten von Jegunow, oder die
Bakterienniveaus, wie Beiyerinck die Er-
scheinung nennt. Schon Winogradsky machte
an den Objektträgerkulturen der Beggiatoen
die Beobachtung, daß die Zellfäden sich zwischen
der Mitte und dem Rande des Wassertropfens, in
dem sie sich finden, hin- und herbewegen. Die
Faden gehen von der Mitte des Flüssigkeitstropfens,
wo sie sich mit H^S beladen haben, an den Rand
des Präparats, um den HjS zu Schwefel und zu
Schwefelsäure zu oxydieren und kehren dann wieder
zum Zentrum zurück, um ihre Tätigkeit von neuem
zu beginnen.
Halten wir Rohkulturen in Standzylindern, so
sammeln sich die beweglichen Schwefelbakterien
in jener Hüssigkeitsschicht an, wo der Luftsauerstoff
von oben und der Schwefelwasserstoff des Wassers
von unten zusammentreffen. Nicht selten ist diese
Bakterienanhäufung von bloßem Auge sichtbar;
wir nennen sie, wie schon erwähnt, die Bakterien-
platte. Dieses Niveau ist verschiebbar je nach
dem Schwefelwasserstoffgehalt der Flüssigkeit.
Der Bau der Bakterienplatte ist sehr
interessant. Sie besitzt mehrere 3 — 4 mm lange
quastenartige Fortsätze, die tiefer in die Schwefel-
wasserstoff haltige Flüssigkeit hineinreichen. Je-
gunow, der mit farblosen, beweglichen, nicht
fädigen Schwefelbakterien experimentierte, be-
obachtete in diesen Quaste hen oder Fontänen
eine merkwürdige Bewegung der Spaltpilze. Diese
Bewegung kann verglichen werden mit derjenigen
des Wassers eines umgekehrten Springbrunnens,
indem die Bakterien in der Achse des Quästchens
nach unten steigen und dann im Bogen wieder
zur Platte zurückkehren. Der Weg, der hierbei
pro Sekunde zurückgelegt wird, beträgt durch-
schnittlich 20 jx. Am Scheitel des Quästchens
wird der HoS, von unten zutretend, von den Zellen
zu Schwefel oxydiert mit Hilfe des von den Zellen
mitgeführten Sauerstoffes. Nachdem die Bakterien-
zellen in den oberen Teil der Platte zurückgekehrt
sind, wird der Schwefel zu Schwefelsäure verbrannt.
Der Beweis für diese Vorgänge wird folgender-
maßen erbracht. Wir behandeln einen Wollfaden
mit stark verdünntem Eisenchlorid und Ammoniak,
so daß der Faden hellgelb gefärbt erscheint. Wir
befestigen am Faden ein Glasgewichtchen und
versenken ihn in die Fontäne. Unten in der Fon-
täne färbt sich der Faden alsbald schwarz, zufolge
Bildung von Schwefeleisen; oben dagegen wird er
weiß, infolge Schwefelsäureproduktion. Die Zeit-
dauer des Umlaufes einer Zelle in der F"ontäne
beträgt nach den Beobachtungen von Jegunow
ca. 5 Minuten. In dieser Zeitspanne wird also der
H^S von der Zelle aufgenommen und zu Schwefel
oxydiert, sowie der Schwefel weiter verbrannt zu
Schwefelsäure und dieselbe ausgestoßen, so daß
Sulfat entstehen kann. Es ist uns nun auch so-
fort klar, daß die Flüssigkeit unter der Bakterien-
platte mehr oder weniger reich an H2S ist, während
über der Platte allmählich der Sulfatgehalt ansteigt.
Nun noch die dritte, die letzte Gruppe von
Thiobakterien, die im Zellinnern Schwefeltröpfchen
ablagert. Sie zeigt ebenfalls nicht die Anordnung
der einzelnen Zellen zu Zellfaden ; die hierher ge-
hörenden Arten besitzen aber in ihrem Innern
einen purpurroten Farbstoff, so daß wir kurz von
Purpurbakterien unter den Thiobakterien
N. F. XVI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
327
sprechen; auch rote Schwefelbakterien
nennen wir sie. Ich will ausdrücklich darauf hin-
weisen, daß nicht alle mit einem purpurroten Farb-
stoff versehenen Bakterienarten zu den Schwefel-
bakterien gehören, sondern die meisten Arien von
Purpurbakierien und dabei gerade die in ihren physio-
logischen Eigentümlichkeiten am besten studierten
Spezies führen keinen Schwefel im Zellinnern.
Ich will auch nicht versäumen darauf hinzuweisen,
daß zwischen den Purpurbakterien und den soge-
nannten Chromogenen oder Farbstoff-
bildnern unter den Spaltpilzen ein prinzipieller
Unterschied besteht. Bei den in der Natur weit
verbreitet vorkommenden Chromogenen, die gelben,
grünen, braunen, roten, blauen und schwarzen Farb-
stoff erzeugen können, sind die Zellen selbst farb-
los und nur ihre nach außen abgegebenen Stoff-
wechselprodukte sind gefärbt. Nicht so bei den
Purpurbakterien. Hei ihnen ist das gesamte Plas-
ma mit einem purpurroten Farbstoff durchtränkt,
während die Stoffwechselprodukte, soweit bekannt,
farblos sind.
Zwischen den roten und den farblosen Schwefel-
bakterien sind drei physiologische Unterschiede zu
konstatieren. Die roten Schwefelbakterien suchen
das Licht auf und entwickeln sich dort besser als
im Dunkeln, ein ganz eigenartiger und einzig da-
stehender F"all in der Spaltpilzwelt ; alle Spaltpilze
sind lichtscheu mit Ausnahme der Purpurbakterien.
Von den roten Thiobakterien wird ein viel höherer
Gehalt an H.,S ertragen als von farblosen P"ormen;
während die Purpurbakterien noch in gesättigten
Lösungen von H^S in Wasser gedeihen, sterben
farblose Formen darin rasch ab. Schließlich ist
noch darauf hinzuweisen, daß die roten Thio-
bakterien mit kleinen Schwefelwasserstoffmengen
auskommen können, während farblose Schwt-fel-
bakterien dabei nur ein kümmerliches Dasein
fristen.
Die roten Schwefelbakterien wurden von
Ehrenberg im Jahre 1826 entdeckt. Bei einem
Spaziergange in der Umgebung von Jena bemerkte
der genannte P'orscher in einem Bachtümpel hand-
große rote Flecken. Sie bestanden aus ungeheuren
Schwärmen eines einzelligen, roten Organismus.
Dieser besaß Zylinderform und hatte eine einzige
Geißel. Die festgestellten Körperdimensionen be-
trugen lo — 15 fi in der Länge und 5 // in der
Breite. Ehrenberg nannte den Organismus
Monas Okcnü und später Oironiatium Okciiii
(Abb. 5.). Die Purpurbakterien und damit inbe-
griffen die roten Schwefelbakterien, umfassen viele
Arten, die morphologisch teils zum Kugel-, teils
zum Stäbchen-, teils zum Schraubeniypus gehören.
Die Ansicht von Zopf, daß die Purpurbakterien
nur eine einzige Spezies umfassen, ist entschieden
nicht richtig. Außer Cliromatiiim Okcnii Petri
seien von den roten Schwefelbakterien noch erwähnt :
Ophidomouas sangiiiiica Ehrenberg und Spi-
rillum volutans Cohn (Abb. 6).
Die rote Farbe der Purpurbakterien wird hervor-
gerufen durch einen im Plasma gleichmäßig ver-
teilten roten Farbstoff. Der rote Farbstoff ist eine
Mischung von grünem Farbstoff, dem Bakterio-
chlorin, und einem roten, dem Bakterio-
purpurin. Wenn reinkultivierte Purpurbakierien,
z. B. der Rlwdobacilliis palustris Moliscli mit
Alkohol behandelt werden, so wird zunächst der
grüne Farbstoff, das Bakteriochlnrin ausgezogen.
Am Grunde des Extraktionsgefäßes bleibt eine
schmutzig-braunrote Massezurück. Wirddieses Depot
mit Chloroform behandelt, so wird der rote Farb-
stoff, das Bakteriopurpurin extrahiert. Um Irr-
Abb. 5. Chiomatium okenn Petri.
Die purpurroten beweglichen Zellen zeigen Stäbchenform und
enthalten mehr oder weniger zahlreiche Schwefeltröpfchen,
die in der Zeichnung schwarz eingetragen sind. Nach Cohn.
Vergrößerung 600.
Abb. 6. Spirlllum volutans Cohn.
Die beweglichen purpurroten Zellen beschreiben einen bis
mehrere Schraubengänge. Die im Plasma sich findenden
Schwefeltröpfchen variieren in der Zahl sehr. Nach Cohn.
Vergröflerung 600.
tümern vorzubeugen sei ausdrücklich darauf hin-
gewiesen, daß Bakteriochlorin und das Chlorophyll
der höhern Pflanzen nicht identisch, ja nicht ein-
mal verwandt sind. Das Bakteriopurpurin hat
-mindestens zwei verschiedene Modifikationen. Die
Färbung der Purpurbakterien ist in der Natur recht
verschieden, von leuchtend rot bis violett-bräunlich.
Als Ursache dieser Erscheinung ist darauf hinzu-
weisen, daß je nach Bakterienart und verschiedenen
Standortsbedingungen, die beiden Farbstoffe Rot
und Grün nicht in gleicher Menge gemischt sind
■328
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
und bald die eine, bald die andere Modifikation
des Bakteriopurpuriiis vorhanden ist. Auch die
Schwefelwasserstoffzufuhr modifiziert den Farben-
ton der Bakterienansammlung. So ruft reichliches
Vorhandensein von H.^S eine rot-violette Färbung
hervor. Auf die Entstehung des roten Farb-
stoffes wirken Eisen- und Mangan-Verbindungen
fördernd ein.
Die Bedeutung von Bakteriochlorin und Bakterio-
purpurin für die Biologie der roten Schwefelbakterien
ist noch nicht studiert, indem es bis heute nicht
gelang Reinkulturen dieser Thiobakterien zu ge-
winnen. Erst mit Reinkulturen könnte die Frage
beantwortet werden, ob die roten Schwefelbakterien,
ähnlich wie Thiobacten'nni finopanini Beggiafoa
und Thiofhrix das Kohlendioxyd der Luft
assimilieren können und ob dabei eventuell dem
roten Farbstoff Bedeutung zukommt. Es ist der
Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß der
rote Farbstoff vielleicht für die .'\bsorption der
Wärmestrahlen eine Bedeutung besitzt.
Die roten Schwefelbakterien leben in Teichen,
Tümpeln, Sümpfen, Brackwassergräben und im
Meervvasser in Küstennähe. Sie bilden an solchen
Stellen oft rote Ansammlungen, die schon von
weitem auffallen; nicht selten ist das Wasser rötlich
gefärbt zufolge ihres massenhaften Vorkommens.
So war ich nicht wenig erstaunt im Ritomsee aus
12,5 m Tiefe ein durch eine C hromatiu m-Art
rötlich gefärbtes Wasser an die Oberfläche be-
fördern zu können. In jener Tiefe bildet das
Chromatium eine ca. 50 cm mächtige Bakterien-
platte an der Grenzzone von sauerstoffhaltigem
und schwefelwasserstoüTührendem Wasser.
Bei einigen Purpurbakterien fand Mo lisch
eigentümliche Einschlüsse, sog. Airosomen oder
Schwebekörperchen, so bei der Rhodocapsa
suspensa im Wasser des adriatischen Meeres. Die
Airosomen sind stark lichtbrechend. Sie be-
sitzen ein sehr geringes spezifisches Gewicht und
bedingen die Fähigkeit des Schwebens, also auch
die Möglichkeit eine Wasserblüte zu bilden. Ent-
fernt man die Airosomen durch Druck, so
verlieren die Zellen ihre Schwebefähigkeit.
Bei den Purpurbakterien ist Phototaxis
schön zu sehen. Sie lieben hohe Lichtintensität,
sammeln sich im Deckglaspräparat an hellerleuch-
leten Stellen an und schwärmen lebhaft in der
Flüssigkeit hin und her. Dabei vermeiden es die
Zellen in weniger beleuchtete oder gar in ver-
dunkelte Partien des Präparates überzutreten. An
der Grenze von Licht und Schalten angelangt,
machen die Zellen plötzlich Halt und schwimmen
in die beleuchtete Zone zurück. Wir nennen
diese Eigentümlichkeit eine Schreckbewegung.
Sie wird nicht bloß gegenüber Dunkelheit, sondern
auch gegenüber sehr intensivem Licht, z. B. di-
rektem Sonnenlicht im mikroskopischen Gesichts-
felde betätigt.
Resümierend sei am Schlüsse erwähnt, daß
die Bildung von H,S in der Natur eine sehr
häufige Erscheinung ist. Die Beseitigung dieses
giftigen Gases wird außer durch rein chemische
Vorgänge rasch und sicher auch durch die Schwefel-
bakterien durchgeführt, indem sie Schwefelwasser-
stoff zu Schwefel und den Schwefel zu Schwefel-
säure weiteroxydieren, die sich an vorhandene
basische Körper bindet, wobei Sulfat entsteht.
Die Thiobakterien spielen mithin im
Kreislauf des Schwefels in der Natur
eine wichtige Rolle.
I Nachdruck verboten] Von h.
Seit langer Zeit hat man — schon Viktor
Hehn, der große Kulturforscher, war dazu ge-
neigt — auf Grund sprachvergleichender Studien,
die Nessel für einen der ältesten Faserstoffe angesehen.
Die keltische Bezeichnung „1 i n" für die Nessel
deutete darauf, daß die Leine als Strick und die
Linie (von der Schnur) ursprünglich mit der
Nessel als Faserstoff zusammengehängt haben,
ebenso wie Netz und Nessel nach den nordischen
Sprachkennern zusammenhängt. Flüchtige An-
deutungen, so z. B. die von Albertus Magnus
über den Pannus urticae — das Nesseltuch ■ —
wiesen auch darauf hin, daß die heute noch
ganz geläufige Bezeichnung für das minder-
wertigste Baumwollengewebe sich, wie das ja bei
Textilstoffen so leicht geschieht, ursprünglich ein
anderes Gewebe bezeichnete und sich von diesem
auf die aus fremdem Gebiet bezogene Pflanze
herübergeschoben hat.
Breuiiesseln in neuer und alter Verwendung.
Von Ed. Hahn.
Besonders durch die Reisen von Pallas und
seinen Zeitgenossen, die über die Verwendung
unserer großen Do n nernessel und verwandter
Arten als F"aserstoff zumal auch für Netze u. dgl.
von Rußland bis nach Kamtschatka berichteten,
setzten schon im 18. Jahrhundert infolge jener
Bewegung, die hauptsächlich einheimische Erzeug-
nisse zu verwenden suchte, im Gegensatz zu der
Einführung fremder Stoffe durch den Welthandel,
Versuche ein, die Nesselfaser in Deutschland wieder
einzuführen, wie sie auch als Viehfutter stark
empfohlen wurde.
Wie damals so oft, blieb aber auch hier die
Bewegung im ganzen erfolglos. Man wußte eben
die wirtschaftliche und rechnerische Seite des
Problems zu wenig zu fassen und führte oft zu
schnell Dinge und Verfahren in die gewerbliche
Verwendung ein, die einer längeren, wirtschaft-
lichen Probe noch stark bedurft hätten. Jedenfalls
N. F. XVI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
329
sind die verschiedenen F'abriken für Nesselzeug,
von denen damals die Rede ist, später alle ohne
Nachfolge verschwunden und einzelne begeisterte
Vertreter und Vertreterinnen haben trotz allen
Eifers der Nessel doch keine dauernde Verwen-
dung schaffen können.
Neues Leben gewann die Verwendung der
Nesselfaser, als mit dem immer größeren Bedarf
und mit der sinkenden Flachsproduktion in
Deutschland die Textilfabriken nach der Mitte
des vorigen Jahrhunderts sich gerne eine billige,
reichliche und gute Faser im Inlande besorgt
hätten, wenn die Einfuhr mehr oder weniger ver-
sagte. Und da drängte nun die Kunde von der
chinesischen Nesselfaser, der R a m i e , das Interesse
auch wieder auf unsere einheimische Nessel.
Nun erkannte die moderne Technik wohl, daß
die Nesselfaser an sich hervorragende Vorzüge
hätte. Sie gibt die „zugkräftigste" Faser. Aber
trotz der Energie, die besonders in Deutschland
der Gärtner Bouche an die Zucht der Nessel
und G r o t h e an die technische Seite des Problems
verwendeten, ist es damals bekanntlich nicht ge-
löst worden.
Das beruhte, wie wir jetzt wohl ohne Un-
gerechtigkeit sagen können, auf einer merk-
würdigen Kurzsichtigkeit gegenüber der Ver-
wendung des Materials. Dieselbe Ramie, deren
„Dekortikation", um diesen schönen Ausdruck
einmal zu übernehmen — trotz hoher Preise, die
auf dies Problem gesetzt wurden, der europäischen
Industrie weder auf maschinellem, noch auf
chemischem Wege gelingen wölke, hat doch dem
Chinesen für einen verhältnismäßig sehr billigen
Preis ein geradezu bestechend schönes Fasergewebe
mit Seidenglanz und von großer Dauerhaftigkeit
geliefert. Und ebenso hat nach allem, was wir
feststellen können, in der alten Zeit die Nessel-
faser ein sehr dauerhaftes und festes Gewebe ge-
geben, dem der jüngere Lein wahrscheinlich nur
deshalb die Stellung nahm, weil, wie es nun ein-
mal im Menschen liegt, gelegentlich das Neue der
Feind des Alten ist. Die alte Zeit und die
Chinesen von heute werden eben gar nicht so
viel Schwierigkeiten mit dem Gummigehalt der
Nesselfaser gehabt haben, über den sich die
Fabrikation so bitter beklagte; sie werden nur
mehr Zeit, Geduld und Sorgfalt an die Zube-
reitung verwendet haben.
Nach den Untersuchungen, über die bei der
Wichtigkeit des Gegenstandes allerdings bisher
nur kürzere Mitteilungen vorliegen, enthält unsere
Nessel im grünen (und wohl auch im trockenen
Zustande) verhältnismäßig viel Zucker in der
Rinden faser. Und auf diesen Zuckergehalt
hin bilden sich bei dem Gärungsverfahren, durch
das wir wie beim Lein und Hanf auch die Faser
der Nessel isolieren wollen, sogenannte wilde
Gärungen, die dann nicht nur, wie sie sollen,
die anderen Pflanzenstoffe zersetzen, sondern auch
die Faser selbst stark angreifen und so das an
und für sich vortreffliche Material minderwertig
machen.
Nach den spärlichen Nachrichten, die ich aus
China datüber habe, wird dort drüben die Ramie
ebenso wie in Sibirien die Nessel mehrfach aus
dem Wasser genommen und erst nach einer
Bearbeitung wieder hineingetan, wenn sie dann
nicht überhaupt in neues Wasser kommt, und
das dürfen wir auch für unsere eigene Vorzeit
annehmen. So wie man sich hier nun aber an
die Behandlung des Leins, so wie wir sie heute
noch kennen, gewöhnt hatte, war eine erfolgreiche
Behandlung der Nesselfaser nach diesem sonst
weit bequemeren Verfahren ausgeschlossen; diese
verlangte eben noch mehr Sorgfalt und Arbeit.
Übrigens zeigen Lein und Nessel, wenn man
sie zusammennimmt, daß das Problem des Anbaus
unserer Kulturpflanzen keineswegs so leicht zu
lösen ist und so einfach liegt, wie man gewöhn-
lich annimmt. Die Brennessel wird von manchen
Pflanzenkennern als eine Pflanze angesehen, die
wahrscheinlich sowohl als Gemüsepflanze wie als
Faserpflanze wie endlich ihres Samens wegen in
der Ernährung der älteren Menschheit auf unserem
Boden eine beträchtliche Rolle gespielt haben
könnte.
Um mit dem letzten Punkt, mit dem Samen
zu beginnen, spielen Brennesselsamen in der
Tierarzneikunde unseres Volkes noch eine sehr
große Rolle. Es wird immer empfohlen, Hühnern
in den ersten Frühlingstagen Brennesselsamen zu
geben, um sie so zum früheren Eierlegen zu ver-
anlassen. Und Brennesselsamen wurde auch den
Pferden gegeben, um sie recht glatt und glänzend
im Fell zu machen. Nun ist es aber für den
Volkskundigen ausgemacht, daß in die Volks-
medizin und schließlich auch in die Tiermedizin
sich gelegentlich alte Nahrungsmittel des
Menschen geflüchtet haben, wie z. B. Hafer-
aufguß, Leinsamenabkochung u. a. m., die bei
uns jetzt ganz verschwunden oder doch fast
bedeutungslos sind. Nebenbei ist es dann ja auch
immer noch eine Frage, ob nicht der Hanf, der
der Nessel als Vetter nahe steht, in der Ver-
wendung des Samens — Hanfmus und Hanföl
spielen bei unseren östlichen Nachbarn noch eine
große Rolle — und weiterhin der Lein der Nessel
auch in dieser Verwendung gefolgt ist, d. h. erst
Nahrungs- und Ölfrucht und erst zuletzt Faser-
pflanze wurde, wobei der Lein dann freilich lange
in eine ganz ausschlaggebende Rolle geriet. Denn
wenn jetzt der Flachs bei uns in seiner Bedeutung
im Ackerbau außerordentlich zurückgegangen ist,
dagegen eingeführter Leinsamen für unsere Technik
— man denke nur an die Linoleumindustrie —
eine große Bedeutung gewonnen hat — so ist das
ja eine nicht ganz notwendige und eigentlich auch
nicht gerade glänzende Entwicklung der letzten
Jahrzehnte. Schlesische und westfälische Leine-
wand haben doch immer noch ihren alten Ruf,
auch wenn der Anbau in Deutschland so gering
geworden ist, daß unsere Faser gar nicht mehr
330
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
in Betracht kam, ja mancher Naturfreund noch
nie ein blühendes Leinfeld sah. Es ist das um
so trauriger, weil bei einigem guten Willen auf
der einen Seite — bei der Industrie, und etwas
weniger Ergebung und Schwerfälligkeit auf der
anderen Seite — bei der Landwirtschaft, dies im
ganzen doch recht klägliche Ergebnis sich wohl
hätte vermeiden lassen.
Aber jedenfalls ist der Lein auch insofern eine
richtige Ergänzung zur Nessel und zum Hanf,
weil der Same gerade so, wie jetzt noch der Hanf
in Rußland als Volksnahrung, als Leinmus und
daneben das Speiseöl aus Leinsamen einst eine
große Rolle bei uns gespielt haben. Während
aber die alten Ägypter schon den Lein als Web-
stoff ausgiebig benutzten, wird auf den weitent-
legenen afrikanischen Hochflächen Abyssiniens mit
seiner im ganzen und großen aus Asien entlehn-
ten Wirtschaft (und Bevölkerung) 'der Lein zwar
viel angebaut, aber nur sein Same als Speise
benutzt, dagegen weder seine Faser noch ebenso
das Öl aus den Samen jemals benutzt.
Die Nessel ist nun aber auch für den deutschen
Landwirt und seinen älteren Bruder, den Gärtner,
wichtig und interessant, weil sie unbedingt mit
dem alten Ackerbaugott, dem deutschen t)onar
zusammenhängt. Das geht nicht nur aus dem
Namen der „Donner"nessel hervor, sondern auch
aus dem eigentlich für ganz Deutschland fest-
stehenden Gebrauch, an dem großen Festtage des
Gottes, dem Gründonnerstag, entweder Nessel-
gemüse zu essen — für das sich dann später, z. B.
in Berlin, der Spinat häufig eingeschoben hat —
oder gar den Gründonnerstagkohl aus neun
grünen Pflanzen zusammenzusetzen, unter denen aber
die Nessel sicher nicht fehlen darf, denn Donar,
dem Donnergott, gehört ebenso wie die Nessel
auch die 9, die Zahl der Kegel, mit denen er im
Gewitter spielt, als heilige Zahl.
Ich möchte aber in diesem Zusammenhang
noch hervorheben, daß durch die neue Auffassung
der Gärungsvorgänge bei der Nessel, sich die
stärkere Verwendung als Gemüse der deutschen
Hausfrau aufdrängen sollte. Denn, wenn in letzter
Zeit der Spinat von ärztlicher Seite wegen des
Chlorophyllgehaltes kräftig empfohlen wird, auch
für kleine Kinder, so legt sich die Nessel mit
ihrem starken Zuckergehalt für den Haushalt mit
Kindern der sorgenden Mutter noch mehr ans
Herz, besonders in unserer Kriegszeit. Und der
kräftige Geschmack empfiehlt sie auch für andere
Mitglieder des Haushaltes, deren Blutbildung nicht
so sehr im Vordergrunde zu stehen braucht, denn
der Zuckergehalt äußert sich, beiläufig bemerkt,
im Geschmack keineswegs.
Was die Zubereitung in der Küche angeht,
können wir aber aus einer reichen Erfahrung ur-
teilen, weil wir am eigenen Tisch die Nessel seit
über 20 Jahren eingeführt haben und sie ständig
nach alter Sitte zum Gründonnerstag zahlreichen
Gästen vorgesetzt haben und meist Nachfolger
im Genuß fanden. Die Zubereitung ist ganz die-
selbe wie bei Spinat, der wahrscheinlich seinerzeit
als „vornehmeres" Gemüse die alte Nessel beiseite
schob. Das Pflücken geschieht besser mit Hand-
schuhen, da unsere Zeit wohl schwer sich an
die „Heilkraft" des Brennens noch hält. Doch
nimmt schon das Waschwasser der Pflanze die
Kraft des Brennens in starkem Maße, nach dem
Abkochen ist nichts mehr davon bemerkbar. Für
den Tisch sind alle Zubereitungsarten des Spinats
anwendbar. Wenn man Fleischbrühe hat, geben
ihr einige Löffel Nessel eine außerordentlich schöne
dunkelgrüne Farbe. Dies ist die in Schweden am
meisten beliebte Form. Uns erscheint wohl die
Verwendung als Gemüsebrei die nächstliegende;
volkskundlich aber ist es die Zubereitung als Kraut-
wehen oder Krautmaullaschen, ein recht bedeut-
sames Gericht, das bei uns freilich sich der Be-
achtung ganz entzog und nur als „echt slavisches"
Feingericht, Piroggen usw. eine Rolle spielte, da
es ja bis 1914 als vornehm galt, alles eigenartigere
als nicht deutsch, z. B. auf slavischen Ursprung
zurückzuführen. Während nun Krautwehen mehr
allemannisch sind, kennt Bayern auch heute noch
zum Gründonnerstag Nesselknödel. Dagegen ist
in Norddeulschland, namentlich in Westfalen, aber
auch z. B. im Weichseldelta die schon erwähnte
Zusammenstellung mit anderen heiligen Kräutern,
die von Ort zu Ort wechseln, zur altheiligen Neun-
zahl alte Sitte, die freilich mehr und mehr zurück-
tritt. Schweden aber ist noch so sehr an die
Nessel zum hohen Frühlingsfeiertage des großen
Ackerbaugottes gewöhnt, daß es, um auch in
späten Jahren des Genusses sicher zu sein, die
Nessel in Konserven auf den Markt bringt.
Wenn mein Aufsatz für dies Jahr vielleicht
auch etwas spät für die Donnernessel (Urtica
dioica), die ich gerne den Gärtnern als frühestes
Gemüse empfohlen hätte, kommt, so wirkt er
vielleicht doch fürs nächste Jahr. Und die kleine
Gartennessel (urens) ist ja fast immer frisch da.
Vielleicht teilt mir aber einer der Gärtner bald
oder später Erfahrungen oder Vorschläge zur
Verwendung der Nesseln mit.
Einzelberichte.
Zoologie. Die Zukunft der deutschen Bienen-
zucht. Der bekannte Bienenforscher und Leiter
der Kgl. Anstalt für Bienenzucht in Erlangen,
Prof Dr. Zander, stellt sich in der vorliegenden
Flugschrift (Verlag Paul Parey. 1916) der „Deutschen
Gesellschaft für angewandte Entomologie" die Auf-
gabe, weitere Kreise auf den Niedergang der
N. F. XVI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
33«
deutschen Bienenzucht und seine Ursachen auf-
merksam zu machen und Wege zu weisen, wie
ein völHger Verfall des einst so hochgeschätzten
Zeidelwesens zu verhindern und wie die Bienen-
zucht allgemein zu heben ist.
Als Hauptursache des Verfalles ist die mehr
und mehr fortschreitende Verarmung der Bienen-
weide anzusehen, veranlaßt durch die im Laufe
der letzten Jahrhunderte vor sich gegangene Ver-
änderung der Bodenwirtschaft. Geordnete F"orst-
wirtschaft, die keine hohlen Bäume, kein Unter-
holz duldet und keine nennenswerte Bodenflora
aufkommen läßt, intensive Landwirtschaft, die keine
Unkräuter leidet, die an die Stelle unserer reichen
heimischen Flora Gräser und Futterkräuter setzt,
sind die größten Feinde der Bienen. Noch trüber
sieht die Zukunft aus, weil sie mit Riesenschritten
die letzten naiürlicheii Florengebiete, die Heide-,
Moor- und Ödländer, hinwegräumen wird , von
denen Deutschland immer noch reichlich 5 Mill. ha
besitzt, und die bisher als Honigquelle eine un-
geheure Bedeutung besaßen. Verschlechtert sich
die Bienenweide in demselben Maße weiter, so
ist ein völliger Verfall der Bienenzucht unver-
meidlich.
Man könnte sich hier auf den Standpunkt
stellen, die Bienenzucht müßte dann eben den doch
natürlich berechtigten Bestrebungen, eine immer
intensivere Forst- und Landwirtschaft zu betreiben,
geopfert werden. Diese Auffassung wäre auch
gewiß berechtigt, wenn die Bienenzucht nicht
ein Faktor im Wirtschaftsleben wäre, der ein-
fach nicht auszuschalten ist. Wie sehr das der
Fall ist, davon haben allerdings nur wenige eine
richtige Vorstellung.
Die dürren Zahlen der Statistik besagen, daß
wir am 2. Dez. 191 2 in Deutschland 2636 337 Stöcke
hatten, die an Honig und Wachs Werte von etwa
20 — 30 Mill. M. abwarfen. Solche Angaben liefern
aber nur ein sehr einseitiges und höchst unvoll-
kommenes Bild von der Bedeutung der Honig-
biene, denn auf diesen unmittelbaren Gewinn
könnten wir sicher gut verzichten. Viel größer,
ja unberechenbar groß ist aber der unmittel-
bare Nutzen der Biene als Bestäuber unserer Blüten;
er ist viel größer, als man früher auch nur ge-
ahnt hat.
Von unseren heimischen Blüten sind ig^/o
Windblütler, fast der ganze Rest besteht aus
Insekienblütlern. Welche Rolle bei deren Be-
stäubung der Honigbiene zufällt, dafür einige
Beispiele. Nach Beobachtungen sind von den
blütenbesuchenden Insekten 21% Hummeln und
einzeln lebende Hautflügler, 6"/^ andere Insekten,
aber 73 "j^ Honigbienen. An den Blüten eines
Obstbaumes zählte man 6^2 °/o Fliegen, Wespen,
Ameisen, Käfer und andere Insekten, 5 ' ., ",'„ wilde
Bienen und Hummeln, aber 88"/^ Honigbienen.
Dazu kommt, daß die Honigbienen unülDertreff-
liche Bestäuber sind. Vermöge ihres mittellangen
Rüssels — er mißt 5,5 bis 6,5 mm — haben sie unter
den Blüten einen weiten Spielraum. Die Biene ist,
weil sie in volkreichen Kolonien überwintert und
nicht einzeln wie Hummel, Wespe u. a. gleich im
Frühjahr, besonders zur Baumblüte im Mai, Juni
in ungezählten Scharen vorhanden; auf jeden Obst-
baum kommen nach Berechungen etwa 5000 Tiere.
Sie ist stetig in ihrem Besuche, d. h. sie hat die
Eigentümlichkeit, sich bei ihrem Besuche möglichst
lange bei einer Art aufzuhalten, eine für das Zu-
standekommen einer erfolgreichen Bestäubung
naturgemäß äußerst wichtige Tatsache. Wie weit
diese Stetigkeit geht, zeigen folgende Beobach-
tungen: Herrn. Müller sah gezeichnete Bienen
10, II Tage lang an einer Pflanzenart. Nach
Chris tey besuchte eine Biene 117 mal nach-
einander Blüten derselben Art. Nach Betts
stammten von 1500 Pollenhöschen 91 % derselben
Art; nur in sehr trachtarmen Monaten findet man
auch gemischte Pollenklumpen. Referent kam
bei seinen Studien zu ganz ähnlichen Ergebnissen.
Will man die gewaltig wichtige Aufgabe einiger-
maßen übersehen, die die im Sommer unermüd-
lich von Blüte zu Blüte fliegenden Bienen vollführten
— ihre Zahl hat man für Deutschland auf
1000 000 000 000 Einzeltiere im Mai, Juni ver-
anschlagt — wirft man am besten einen Blick
auf ihre Tätigkeit in unseren Obstgärten. Cook
wies nach, daß Zweige von
mit Gaze bedeckt unbedeckt
Äpfeln 2"!a 20 "/o
Birnen o^ S^ lo
Kirschen . . . . 3 "/„ 40 "/(,
Stachelbeeren • . g'/o 27 */„
Früchte brachten. Zander hat im vorigen Herbst
ähnliche Beobachtungen gemacht. Es brachten
von den Blüten Früchte
mit Gaze bedeckt unbedeckt
Stachelbeeren . . 24,6 */o 6o,0 "/o
Süßkirschen . . 1,3 "/(, i4,6"/o
Sauerkirschen . o "/„ lO,6*/o
Birnen .... o «/j 8,1 »/o
Äpfel .... 0,5 «/o 6.9 »/o
Von 65 Äpfelsorten waren nur 19, von 30 Birnen-
sorten nur 4, von 41 Pflaumensorten nur 21 und
von 21 Kirschsorten nur 5 überhaupt der Selbst-
bestäubung zugänglich. Von 308 1 mit eigenen
Pollen bestäubten Birnenblüten entstanden nur 5
winzige Früchte, während man bei Fremdbestäubung
auf 3 Blüten eine Frucht erwarten kann. Die aus
Fremdbestäubung hervorgegangenen Äpfel sind
den anderen an Größe und Aussehen weit über-
legen. In Pfirsichtreibhäusern, wo man früher die
Bestäubung mühsam auf künstlichem Wege herbei-
führte, stellt man heute 1—2 Tage ein Bienenvolk
hinein. Die Folge ist oft ein übermäßig starker
Fruchtansatz. In den Vanilleplantagen Ceylons
ist die Bestäubung sicherer, der Preis der Schote
erheblich billiger geworden, seitdem man die
Biene eingeführt hat. 50 Völker sollen täglich
15 Mill. Vanilleblüten bestäuben können. Auf
Guadeloupe hat sich seit Einführung der Biene
332
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
der Ertrag der Kaffee- und Kal<aobäume ver-
doppelt.
Das sind Tatsachen, die uns die ganze Unent-
behrlichkeit der Honigbiene für unser gesamtes
Wirtschaftsleben klar vor Augen führen ! Da aber
die Biene im wilden Zustand weder auf unseren
Äckern, noch in unseren Forsten Raum findet,
muß es Imker geben, die sie züchten, die sich
aber nur in genügenden Mengen finden, wenn die
Bienenhaltung nutzbringend ist. Es ergeben sich
daher zwei wichtige Fragen: Wie läßt sich die
Bienenweide verbessern? Wie läßt sich die Er-
tragsfähigkeit der Biene steigern?
Die mannigfachsten Vorschläge und Versuche
sind gemacht, die Honigquelien, die man zerstört
hat, wenigstens teilweise wieder herzustellen : Vor
allem Hebung des Obstbaues, Bepflanzung von
Straßen und Plätzen mit honig- und pollen-
spendenden Bäumen, Beschaffung von Hecken
und Knicks, die auch im Interesse des Vogel-
schutzes sind, vermehrter Anbau solcher tech-
nischen Pflanzen und Ölfrüchte, die auch den
Bienen zu gute kommen, Beratung der Stadt-
behörden und der Forst- und Landwirtschafts-
behörden im Sinne der Imkerei bei der Anlage
von Baumgängen, öffentlicher Plätze und Stadt-
parks, bei der Herstellung von Vogelschutzgehegen,
Musterviehwirtschaften usf
Als weiteren mittelbaren Weg, die Weide zu
verbessern, soll der Wanderbetrieb dem Imker
mehr als bisher empfohlen werden. Er soll ver-
anlaßt werden nach solchen Gegenden hin-
zuwandern, wo eine überreiche, aber zeitlich oft
sehr begrenzte Honigquelle sich erschließt, so daß
die heimischen Bienen sie nicht voll ausnützen
können, wie die Obstblüte vieler Gegenden, die
Rapsblüte, die Buchweizen- und Fenchelfelder, ge-
wisse Waldgebiete mit reichem Tannenhonig und
vor allem die Heidegebiete. Von jeher war die
Lüneburger Heide das Eldorado des Wanderimkers.
Über 400000 Völker werden alljährlich z. T. auf
Extrazügen dorthin geschafift, um nach der Heide-
blüte mit durchschnittlich 20 — 30 //. Honig wieder
heimgeholt zu werden.
Ferner soll die Ertragsfähigkeit der Bienen-
zucht gehoben werden durch die bessere theo-
retische Ausbildung der Imker. Denn ohne ein
Mindestmaß von Kenntnissen ist der moderne Be-
trieb nicht durchführbar. Die geringe Fühlung
mit der Wissenschaft ist immer noch der Krebs-
schaden, an dem die Bienenzucht leidet.
Dann ist die Verbesserung der Leistungsfähig-
keit unserer Bienen durch sorgfältige Auslese und
Rassenzüchtung mit allen Mitteln anzustreben. Das
ist erreichbar durch peinlichste Sorgfalt bei der
Zucht der Königinnen. Unerläßlich ist dabei, die
Königin nur von Völkern zu gewinnen, die von
erprobtem Sammeleifer, von möglichst großer
Schwärmfaulheit, von großer Baulust und aus-
gesuchter Baugeschicklichkeit ist. Die heimische
dunkle Rasse ist von dem fremden Blute zu
reinigen, das sie infolge der sinnlosen Einfuhr
fremder Rassen in sich aufgenommen hat. Um
hier zielbewußt vorgehen zu können, müssen die
Vererbungsgesetze in berufenen Instistuten weiter
studiert, müssen reine Stämme gezüchtet werden.
Die gleiche Aufmerksamkeit ist bei der Zucht von
Drohnen nötig. Da die Begattung in der Luft
vollzogen wird, sich also der menschlichen Über-
wachung entzieht, hat man in entlegenen, „bienen-
freien" Gegenden sog. „Belegstationen" errichtet,
wo man nur Völker mit auserlesenen Drohnen
aufstellt, und wohin die jungen Königinnen ge-
schickt und zum Hochzeitsfluge zugelassen werden,
bevor sie dem praktischen Imker zur Vermehrung
und Umweiselung seiner Völker überlassen werden.
Der vorgeschlagene und bereits beschrittene Weg
ist mühsam und bis zum Ziele weit, aber er ist
planmäßig und verspricht Erfolg. Schon der
praktische Imker kann — und es geschieht schon
recht häufig — beim Vermehren seiner Völker
hier viel tun, wenn er keine minderwertigen Völker
auf seinem Stande duldet und nur erprobten
Völkern gestattet, Drohnen zu erzeugen. Da der
Ersatz einer Königin durch eine andere im
modernen Betriebe keine Schwierigkeiten macht,
die Arbeitsbiene aber im Sommer nur wenige
Wochen alt wird, ist bei gutem Willen hier viel
zu erreichen durch Ausmerzung des Minderwertigen
und Förderung des Tüchtigen. Dr. L. Olufsen.
Selbstleuchtende Regenwürmer. *) Professor
Linsbauer arbeitete in der Dunkelkammer des
Pflanzenphj^siologischen Instituts zu Wien mit
Keimlingen der Sonnenrose, die in Sägespänen
aufgezogen waren, als er plötzlich in der Kultur-
schale einen hellen Lichtpunkt bemerkte. Nach
langem Suchen fand er auf dem Arbeitstisch einen
kleinen Regenwurm von 3—4 cm Länge, dessen
Hinterende lebhaft in grünlichgelbem Lichte err
strahlte, das aber bald erlosch und dann nicht
wieder zur Erscheinung kam. Als er aber den
Wurm durchschnitt, erstrahlten die Schnittflächen
in hellstem Glänze. Ebenso konnten Regenwürmer
zum Leuchten gebracht werden durch rasches
Töten durch Chloroform, Äther, Kreosot, Alkohol,
aber nicht durch Formol und Sublimat. Nachdem
das Tier nach einigen Minuten regungslos ge-
worden war, traten zwischen den Leibesringen
helleuchtende Flecken auf. Noch besser gelang
der Versuch, wenn mehrere Tiere nach der
Narkose in der Reibeschale mit Sand zerrieben
wurden; Reibschale, Sand und Pistill leuchteten
so stark, daß man das Zifferblatt einer Uhr er-
kennen konnte. Selbst hartgefrorene Würmer
leuchteten noch beim Zerreiben, dagegen erlosch
die Erscheinung im sauerstofffreien Raum, sowie
bei einer Temperatur von 45 — 50". Daraus folgt,
daß es sich um ein Selbstleuchten handelt und
nicht um Leuchtbakterien. Später gelang es dem
') Umschau XXI, 4.
N. F. XVI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
333
Vei fasser, auch den unverletzten Wurm zum
Leuchten zu bringen, indem er ihn mit einem
Haarpinsel leise bestrich. Berührung des Hinter-
leibes hatte Absonderung eines feinen Tröpfchens
zur Folge, das in hellem Lichte erstrahlte. Wurden
diese Tröpfchen durch Fließpapier aufgesogen, so
leuchteten sie noch nach einem Tage, wenn sie
angefeuchtet wurden. Verfasser schließt aus diesen
oft wiederholten Versuchen, „daß das Leuchten
auf ganz schwache mechanische Reize hin erfolgt
und daß die Sekretabsonderung ausschließlich von
dem Hinterleibsende ausgeht". Heycke.
VVildkaninchenvorkommen in Griechenland.
Das Testländische Griechenland gilt neben der
iberischen Halbinsel als eines der Hauptheimats-
länder des europäischen Wildkaninchens {Orycfo-
lagtis cnmculns L.). Heutigentags allerdings sind
Wildkaninchen im eigentlichen Griechenland kaum
mehr anzutreffen, sie haben sich nur mehr auf einigen
schwach bewohnten oder ganz unbewohnten Inseln,
wie sie den griechischen Küsten zahlreich vor-
gelagert sind, zu erhalten vermocht. Viele Inseln
heißen denn auch nach ihrem Vorkommen gerade-
zu „Kanincheninseln". Über den Besuch auf einer
solchen Kanincheninsel, auf der Inselgruppe Petali
bei Euböa, berichtet Eugen Baumann in der
„Deutschen Jägerzeitung" (1916/17 Nr 30). Nicht
überall auf der kleinen Insel sind die Kaninchen
anzutreffen, aber dort, wo die Bodenverhältnisse-
der Anlage ihrer Erdbauten günstig sind, finden
sie sich in Massen, sie benützen dann auch Erd-
spalten und Felslöcher als Unterschlupf. Der
Schaden, den die Kaninchen auf der Insel an-
richten, ist kein nennenswerter, da der dortige
Kulturbetrieb kein sehr intensiver ist, höchstens
die Maisfelder leiden da und dort einigermaßen
unter den Beschädigungen der Nager. Lediglich
bei strengen Wintern, wie sie allerdings in diesen
Breiten nur sehr selten einsetzen, können die Ka-
ninchen in den Weinbergen durch Abnagen der
Rebaugen Schaden .stiften, im Sommer aber werden
dieRebenkulturen von denTierenkaum heimgesucht.
Haarraubwild, wie Füchse oder Marder, kommen
auf der Insel nicht vor, so daß als Feinde der
Kaninchen außer verschiedenen Schlangenarten
hier nur einiges Federraubwild (Uhu, Habicht usw.)
in Betracht kommt. Gerade diesem Umstände,
dem gänzlichen Fehlen jeglichen Haarraubwildes,
vornehmlich der Marderarten, die in den Erdbauten
unter der Kaninchenbrut vernichtend hausen können,
ist es wohl überhaupt zuzuschreiben, daß die Wild-
kaninchen auf den griechischen Inseln nicht ebenso
wie auf dem Festlande heute. bereits ausgerottet
sind. H. W. Frickhinger.
Physiologie. Winterst ein') weist auf
einige neue methodische Wege hin, um die os-
•) Hans Winterstein, Die Untersuchung der osmo-
tischen und kolloidalen Eigenschaften tierischer Gewebe.
Wiener med. Wochenschr., 1916.
motischen und kolloidalen Eigenschaften tierischer
Gewebe jede für sich zu untersuchen. Auch hat
er auf eine neue und sehr einfache Methode hinge-
wiesen, um die Permeabilität tierischer Membranen
zu untersuchen, eine Methode, die auch gestattet,
die Permeabilität für Wasser zu untersuchen
Das ist eine Frage, die bisher fast ganz un
berücksichtigt gelassen wurde. Den Untersuchungen
die an Muskeln ausgeführt worden sind, kommt je
doch eine allgemein-physiologische Be
deutung zu, und namentlich die Pflanzen
Physiologie wird sich dieser Methoden sicher
lieh mit guten Erfolg annehmen.
Die von Winterstein angewandte Me-
thode zur Untersuchung der Permeabilität tierischer
Gewebe, unabhängig von etwaigen Änderungen
des osmotischen Druckes im Zellinnern oder des
Quellungsvermögens, besteht in P'olgendem. Aus
den sehr zarten seitlichen Bauchmuskeln weiblicher
Wasserfrösche werden kreisrunde Stücke heraus-
geschnitten und über die offenen Enden kleiner
Glaszylinder von etwa 2 ccm Inhalt gebunden.
Die Glaszylinder sind mit einer Lösung von be-
kannter Zusammensetzung gefüllt. „Auf diese
Weise erhält man künstliche, an zwei Stellen von
Muskelmembranen begrenzte Zellen von genau
bekanntem Zelhnhalt, dessen Menge durch Wägung
bestimmt wird, indem man von dem Gesamtgesicht
der Zelle dasjenige des Glasröhrchens und der
Muskelmembranen abzieht." Die Zellen kommen
nun für eine bestimmte Zeit in die Lösung, deren
osmotische Wirksamkeit untersucht werden soll,
und am Ende des Versuchs werden sie wieder
gewogen. So wird die durch die Membranen hindurch
erfolgte Wasserverschiebung ermittelt. ,,Auf diese
Weise wird offenbar unabhängig von allen sonstigen
Einflüssen ausc hl ieß lieh die Durchgängig-
keit untersucht, welche die Muskel-
membranen unter den gegebenen Be-
dingungen aufweise n." Diese Methode ge-_
stattet es, sowohl die Permeabilität für Salze, als
diejenige für Wasser zu ermitteln. Man
kann den Salzgehalt der künstlichen Zelle durch
vorherige Chlortitration der benutzten Lösung be-
stimmen und am Ende des Versuches den Inhalt
der Zelle titrieren. Die eingetretene Änderung
des Salzgehaltes im Zylinder zeigt die Größe der
Salzdiffusion und damit die Salzpermeabilität an,
während über die Wasserpermeabilität die Wägung
Aufschluß gibt.
Winterstein hat mit Hilfe seiner Methode
die Veränderungen untersucht, welche die Perme-
abilität für Wasser unter verschiedenen Bedingungen
erfährt. Er erläutert diese Untersuchungen an
folgendem Beispiel. Von zwei mit IMuskeln des-
" selben Frosches bespannten künstlichen Zellen
wird die eine mit physiologischer Kochsalzlösung,
die andere mit physiologischer Kochsalzlösung
-|- 5% Alkohol gefüllt. Beide Zellen werden in
hypotonische Lösungen getaucht, wobei die für
die zweite Zelle einen Zusatz von 57o Alkohol
334
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
bekommt. Man findet nach einiger Zeit, daß die
zweite Zelle, trotz gleich großer Druckdifferenz, eine
viel geringere Gewichtszunahme aufweist als die
erste. Das ist nicht etwa dadurch bedingt, daß
die Durchlässigkeit des Muskels für Salze unter
dem Einfluß des Alkohols zugenommen habe.
Denn titriert man den Inhalt der Zelle, so über-
zeugt man sich, daß ihr Salzgehalt unverändert
geblieben ist. Die geringere Gewichtszunahme
unter dem Einfluß des Alkohols kann also nur so
erklärt werden, daß eine starke Herab-
setzung derDurchlässigkeit für Wasser
zustandegekommen ist. Dieses Moment wird
in einer Theorie der Narkose berücksichtigt
werden müssen.
Winterstein hofft, daß die von ihm an-
gegebenen Methoden nicht auf den Muskel be-
schränkt bleiben werden. Alle in Membranform
erhältlichen Gewebe können in derselben Weise
auf ihre Permeabilität untersucht werden wie in
der Muskel. Vielleicht werden sich dabei neue
wertvolle Aufschlüsse über die physikalisch-
chemischen Eigenschaften der Zellen ergeben.
A. Lipschütz, Bern.
Leidecker, Carl, Im Lande des Paradies-
vogels. Ernstes und Heiteres aus Deutsch-
Neuguinea. Leipzig 1916, E. Haberland. — 3 M.
In einer Reihe loser Skizzen, Erzählungen und
Stimmungsbilder schildert der Verf aus eigener
Erfahrung das Leben der Kolonisten in Neuguinea,
in dessen Abgeschiedenheit schon die Ankunft
eines Dampfers ein Fest bedeutet, das aber durch
die wundervolle Natur mit ihren mannigfachen
und eigenartigen Schönheiten immer neuen Reiz
und Inhalt bekommt. Gerade diese Naturein-
drücke sind mit einem unleugbaren Feingefühl
für das Charakteristische geschildert und geben
eine gute Vorstellung von den Eigenarten des
tropischen Milieus. Das hübsche, frisch und ge-
schickt, wenn auch gelegentlich recht pathetisch
geschriebene Bändchen, bei dessen Lektüre auch
der Leser nicht zu kurz kommt, der auf eine an-
genehme Weise unterhalten sein will, sei Tropen-
und Kolonialfreunden empfohlen. Miehe.
Bticherbesprechimgen.
in deren Uferrande, Wäldern und Dörfern mancher
so lange gehaust hat und noch haust, verhältnis-
mäßig wenig berücksichtigt ist.
Miehe.
Meißner, Carl, Das schöne Kurland. Mit
it)0 Bildern. München 1917, R. Piper & Co. —
2,80 M.
Die zahlreichen Krieger, denen in diesem
Kriege (wie auch dem Rezensenten selber) das
schöne Land zwischen Ostsee und Düna mit seinen
herrlichen Wäldern, den vornehmen Herrensitzen,
traulichen Pastoraten und anheimelnden Städtchen
ans Herz gewachsen ist, seien auf diesen hübschen,
mit dem kurländischen Wappen geschmückten
Band aufmerksam gemacht, der die Erinnerungen
an die große Zeit zu befestigen und zu beleben,
trefflich geeignet ist. Der Verfasser schildert
Land, Bevölkerung und Landschaft sowie die Ge-
schichte Kurlands von den ersten Zeiten der
deutschen Kolonisation bis auf die Gegenwart.
Zahlreiche Bilder, nach Photographien sowie
nach Zeichnungen des kurländischen Malers
W. S. Stavenhagen vortrefflich wiedergegeben,
beleben den Text. Schade (aber vermutlich auf
die vom Verf in seiner Vorrede angedeuteten Gründe
zurückzuführen) ist es, daß gerade dieDünalandschaft,
Beiträge zur Kenntnis der Meeresfauna West-
afrikas, herausg. von W. Michaelsen. Bd. II,
Lief I. 66 S. 8». i Taf und 28 Textabb.
Hamburg 1916. — Preis 5 M.
Unter den von O. Pesta (Wien) bearbeiteten
Copepoden (16 Arten) sind zwei neue Harpactiden
aus den Gattungen Harpacticus und Amphiascus
besonders zu erwähnen. H. Balss (München) be-
richtet über Dccapoda macrura und anomura
(außer Paguriden) sowie über die Stomatopoden
des Küstengebietes Westafrikas; unter den Ano-
muren ist eine neue Gebicula- h.xX. {Jiupferi) be-
achtenswert, deren nächster und einziger Verwandter
(G. exigua) in der Andamanensee in Tiefen von
330—450 m gefunden worden ist — die neue
Art dürfte ebenfalls ein Tiefseebewohner sein, der
nur durch das kalte Aufiriebwasser an die Küste
gelangt ist. Die Cumacea und Schizopoda der
Küsten Westafrikas hat C. Zimmer (München)
bearbeitet. Auch unter diesen Krustern ist die
Artenzahl gering, da nur 2 Cumaceen (i davon
neu) und 5 Schizopoden angeführt werden können,
unter den letzteren allerdings eine neue zu den
Leptomysinen gehörige Gattung {^Afroniysis), die
Bathymysis Holt et Tatters. am nächsten steht.
M. Braun.
Beiträge zur Kenntnis der Land- undSü^wasser-
fauna Deutsch-Südwestafrikas, herausg. von
W. Michaelsen. Lief. 4. 73 S. 8». i Taf
und 26 Textabb. , Hamburg 1916. — Preis 5 M.
Die unter der Leitung von W. Michaelsen
191 1 ausgefürte Hamburger Deutsch Südwest-
afrikanische Studienreise hat nur wenige Süßwasser-
nematoden mitgebracht; das ist bei der geringen
Größe dieser Formen, ihrer versteckten Lebens-
weise, der Wasserarmut des untersuchten Gebietes
und den sonstigen Aufgaben einer solchen Ex-
pedition verständlich genug. Die Bearbeitung
N. F. XVI. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
335
des Materials durch G. Stein er- Zürich ergab
5 Arten, von denen 3 neu, die beiden anderen
bereits aus Europa bekannt sind; dazu kommt
noch eine neue Mermithide und eine seit langem
bekannte Oxyiiris-Axi {sf'üiicaiida Duj.). Unter
Berücksichtigung der Literatur über afrikanische
Süßwassernematoden läßt sich heute schon sagen,
daß die Genera kosmopolitische Verbreitung auf-
weisen und sicherlich auch eine ganze Anzahl
von Arten. — In demselben Heft behandelt
H. Fr lese -Schwerin die Apidae des Gebietes
(81 Arten, darunter 14 oder 15 neu). Die IVIehr-
zahl der Arten sind kleine, unscheinbar behaarte For-
men, die zum Teil kaum noch an Bienen erinnern;
doch fehlen nicht stärker behaarte und selbst leb-
hafter gefärbte Arten. Die Spärlichkeit der Schma-
rotzerbienen (s Arten) ist wohl bedingt durch die
kümmerliche Lebensfristung ihrer Wirte (Sammel-
bienen). Da die nächsten Verwandten der süd-
westafrikanischen Bienen in Rhodesia und im Kap-
lande leben, dürfte von Osten oder Süden her
die Zuwanderung erfolgt sein; vielleicht ist der
heutige Bienenbestand Deutsch-Südwestafrikas nur
der Rest einer in früheren Perioden bei günstigeren
Lebensbedingungen weit reicher entwickelt ge-
wesenen Bestandes, womit die Armut an Indi-
viduen übereinstimmen würde. M. Braun.
Oettinger, Walter, Privatdozent Dr. med., Die
Rasse nhygiene und ihre wissenschaft-
lichen Grundlagen. Berlin 1914, Fischers
Medizinische Buchhandlung H. Kronfeld. —
1,20 M.
Der Verfasser, Hygieniker in Breslau, prüft in
diesem außerordentlich klaren und besonnenen
Vortrage die Grundlagen der Rassenhygiene. Er
erkennt ihre große Bedeutung grundsätzlich an,
weist ihr auch selber bestimmte, nächste Auf-
gaben zu, bezweifelt aber — und darin kann man
ihm durchaus beipflichten — an der Hand sorg-
fältiger, kritischer Erwägungen, daß die nur auf
dem Wege exakter Vererbungsforschung gewinn-
baren Grundlagen bereits so weit gefestigt seien,
daß sich praktische, ja gesetzliche Maßnahmen
von so ungeheuerer Tragweite rechtfertigen ließen,
wie sie viele begeisterte Vorkämpfer der Rassen-
hygiene unbedenklich fordern. Nicht einmal die
gemäßigtere Forderung, das Publikum aufzuklären
und für die rassenhygienischen Reformbestrebungen
vorzubereiten, will er gelten lassen, indem er
einwendet, daß für die Aulklärung der öffent-
lichen Meinung gerade das Beste und Sicherste
gut genug sei. Über die rassenhygienische Ge-
setzgebung einzelner nordamerikanischer Staaten
urteilt er sehr zurückhaltend , sie sei nicht ge-
eignet, theoretische Bedenken zu besiegen. Einst-
weilen sei das Fortschreiten auf der gesicherten
Bahn allgemein-hygienischer Fürsorge der beste
Weg, um biologisch bedingte soziale Schäden zu
bekämpfen und zu vermindern, das ist der immer
wieder durchklingende Grundton seiner kritischen
Erörterungen.
Wir können die Schrift Oettinger's, die
trotz knapper Form eine vortreffliche Übersicht
über die rassenhygienischen Probleme und Be-
strebungen gewährt, angelegentlich empfehlen.
Indem sie unerbittlich auf die wissenschaftlichen
Grundlagen zurückgreift, wird sie ein sicherer und
beruhigender Führer für viele sein, die diesem
durch Schlagworle und Schiefheiten Unberufener,
Halb- und Scheinbarberufener verwirrten Gebiete
ratlos gegenüberstehen. Miehe.
Anregungen und Antworten.
Auffallende Phanerogamen auf westlichen und östlichen
Kriegsschauplätzen. Die Klora Mitteleuropas ist im großen
und ganzen dieselbe. Auffallend waren in den weiter unten
angeführten Gebieten eine Reihe von Gewächsen, die in
Deutschland verhältnismäßig selten vorkommen, hier dagegen
häufig angetroffen wurden und sich zu prächtigen, geradezu
Musterexemplaren entwickelt hatten.
In Frankreich.
Interessant sind die Pflanzengemeinschaften der kleinen
Waldungen und Gehölze zwischen der Champagne und den
Argonnen , sowie im Kanton Defendu, westlich Metz. Die
Hauptwaldbäume sind Eiche (Quercus pedunculata) und Birke
(Betula alba). Reichhaltiges üppiges Unterholz, wie es in
Deutschland selten vorkommt, ist vertreten. Es setzt sich fast
überall zusammen aus strauchartig gewachsenen Eichen
(Quercus peduncuLita), Zitterpappeln (Populus tremula), Hasel-
sträuchern (Corylus Avellana), Kornelkirsche (Cornus\ Schnee-
ball (Viburnus) und Liguster (Ligustrum vulgare). Überall in
den Waldungen sind die großblütige Lonicera, die im deutschen
Vaterlande als Je länger Je lieber an Lauben gezogen wird,
sowie Efeu (Hedera helix) üppig wachsend, bis hoch in die
Eichbäume hinein rankend und klimmend, anzutreffen.
Im Bois de Forge, Bois de l'Echelle und Bois de Ville
bei Cernay en Dormois fanden wir Bienen- und Fliegen-,
Helm- und Männliche Orchis (Ophrys myodes und muscifera,
Orchis niilitaris und mascula) in prächtigen , kräftig ent-
wickelten Exemplaren, wie sie z. B. in den Kalkgebicten bei
Freiburg a. U. und bei Jena nie zu finden sind. Desgleichen
stand dort häufig Waldbirnbäumchen (Pirola major). Im
Bois de la Malmaison (ebenda gelegen) stand neben einer
kleinen Alandart (Inula) eine bis 2 m Höhe, desgleichen
wuchs dort Baldrian (Valeriana officinalis), von dem die
größesten Pflanzen fast 2,50 m hoch waren, die wohlriechende
Maiblume (Convallaria majalis) stand dort in überreichen
Mengen und mit Früchten bis Schlehengröße besetzt. Im
Kanton Defendu (Lorraine) war auf Wiesen hober, blau-
blühender Akelei (Aquilegia vulgaris) häufig, desgleichen neben
Platterbse (Lathyrus tuberosus) eine gleiche rotblühende Art
mit schmalen, grasartigen Blättern. In allen angegebenen
Waldungen tritt eine Rautenart gemein auf, ebenso eine schön
rotblühende Brombeerart.
Im Dormoisgebiet zwischen Bouconville und Cernay en
"Dormois stand Symphytum officinale (Schwarzwurz) weiß-, rosa-
und violettblührnd nebeneinander, Blutweiderich (Lythrum
salicaria) zeigte herrliche blutrote, an anderen Stellen weißliche
und bläuliche Blütenblattfarbe, auch Achillea millefolium
(Schafgarbe) zeigte Farbenvariationen in weiß, rosa und rot.
Überall auf den Äckern in Lorraine, in der Champagne
und in den Argonnen sind kräftiger Feldwachtelweizen (Me-
336
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 24
lampyrum) mit lief dunkclroten großen Wirtshausschildern,
sowie roter und blauer Ackergauchheil (Anagillis arvensis und
caerulea) massenhaft anzutreffen.
In Südgalizien.
In den Wäldern Sudgaliziens
läufern der Karpathen bei Stanislau
(Quercus pedunculata) ebenfalls di
den nördlichen Aus-
Uzin ist der Eichbaum
plbaum, den Haupt-
bestandteil des Unterholzes liefert der Haselstrauch (Corylus
Avellana), der hier im August 1916 mit überreichen Früchten
beladen war; einen derartigen häufigen Fruchtansatz habe ich
in anderen Ländern (Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland)
nie beobachten können. Die Flora des Waldbodens zeigt
manche Eigentümlichkeit, massenhaft blühte, kräftig entwickelt,
die große Astranz (Astrantia major). Häufig wachsen Türken-
bund (Lilium martagon), Haselwurz (Asarum europaeum), zwei-
blättrige Schaltenblume (Platanthera bifolia) mit großen (nicht
so zwergenhaft wie bei uns entwickelten), dunkelgrünen
Blättern, außerdem eine bis '/i m hohe, breitere Lanzettblätter
tragende Euphorbia, die leider nicht bestimmt werden konnte,
sowie Waldwachtelweizen (Melampyrum silv.) in dichten Be-
ständen mit herrlichen tieldunkelvioletlen Wirtshausschildern.
Auf den etwas feuchten Waldwiesen fielen besonders auf;
Odontites rubra (Zahntrost), Euphrasia officinalis (Augentrost),
Parnassia vulgaris (Sumpfhcrzblatt), Kleeseide (Cuscuta) in
überreichem Maße, und ein über l m hohes, lilienartiges
Staudengewächs, mit mächtigen königskerzenartigen Blüten-
schäften, dunkelbraunen, ochsenzungenartigen Blüten. Die
großen Blätter stehen in einer Rosette und sind parallelnervig,
die Pflanze war häufig, konnte aber der starken Truppen-
bewegungen wegen an
Standort
cht
den. Ein anderer Standort
untersucht
rde nicht
bestimmt
entdeckt.
Unten im Tale erblickt man von den Bergwaldungcn
von Uzin die Bystrzica. Die Sümpfe derselben zeigten eine
geradezu tropisch entwickelte Verlandungsflora.
In Nordgalizien.
Auf den Dorfstraßen von Spikolosy und Tartakow östlich
von Sokal wuchsen von Giftpflanzen in ungeheuren Mengen:
Stechapfel (Datura slramonium), Schwefel- und schmutziggelb
blühend, Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) und schwarzer Nacht-
schatten (Solanum nigrum).
Bei Tartakow versuchten auf im Vorjahre durch den
Krieg abgebrannten Gehöften stehende Bäume wieder zu
neuem Leben zu erstehen. Trotzdem die Bäume zum Teil
total verkohlt waren und nur verschwindend wenig Kinde
vorhanden war, halten Eschen und Birken starke mit großen
Blättern besetzte Zweige, welche die Pflanzenspezies fast un-
kenntlich machten, getrieben. An andern, durch Kriegsbrand
vernichteten Baumarten , konnten die Versuche des Weiter-
lebens nicht beobachtet werden.
Die auf der Straße Tartakow-Sokal stehenden Pappeln
(Populus nigra) waren von Mistel (Viscum album) erdrückend
voll besetzt.
Überall auf Wegen und Ödland war Xanlhium spinosum
mit starken goldgelben Stacheln, die stets in der Dreizahl
vorhanden sind, zu finden. Diese Komposite hat in Süd- und
Südosteuropa ihre Heimat.
In Wolhynien.
Auch Wolhynien hat seinen Eichenwald (Quercus pedun-
culata). Aber derselbe hat ein ganz anderes Gepräge wie die
bisher erwähnten Waldungen. Die nicht allzustarken Eich-
bäume stehen zerstreut in 20 — 30 m Abstand. Unterholz ist
fast gar nicht vorhanden, infolgedessen sind die Stämme von
unten bis oben mit Zweigen bedeckt, sie gleichen von weitem
eher Pappeln als Eichen. Wenig Schattenstcllen sind vor-
handen, auf solchen gedeihen in Mengen Asarum europaeum
(Haselwurz), Alchimilla vulgaris (Frauenmantel) und Anemone.
Auf den sonnigen Stellen wachsen in wildem Durcheinander;
Braunwurz (Scrophularia nodosa), Erdbeere (Fragaria vesca),
Hohlzahn (Galeobsis tetrahit) , kleinster Ampfer (Rumex ace-
tosella), Brennessel (Urtica dioica), Brunelle (Brunella vulgaris),
Flohknöterich (Polygonum persicaria), purpurroter Storch-
schnabel (Geranium purpureum), Distel (Onopordon), pfirsich-
blättr. Glockenblume (Campanula persicifolia) , Waldveilchen
(Viola silvatica), kriechende Lysimachie, Hopfen- und Mause-
klee, Ehrenpreis und kanadisches Berufskraut.
Bei Lagow, Swiniuchy und Nowi-Zahorow fanden wir
Blaudistel (Eryngium) und Bilterklee häufig. Im letztgenannten
Orte fiel ein Ende August blühender, wohlriechender Holunder
(Sambucus) auf, er besaß die Eigentümlichkeit, kein vorjähriges
Holz am Busch zu haben, sonst glich er Sambucus nigra.
Bei Korytniza in ganzen Beständen kleinstes Mäuse-
schwänzchen; bei Swiniuchy : auf Getreideäckern Jungfer im
Grünen oder Braut im Haar (Nigella). Überall auf den wol-
hynischen Getreidefeldern ist die Ackertrespe gemein.
Bei Koniuchy fanden wir ein ziemlich ausgebreitetes
Gebüschholz, welches sich aus Prunus spinosa (Schlehe),
Crataegus monogyna (Weißdorn), Evonymus (Pfaffenhütchen),
Viburnus (Schneeball) und Corylus (Hasel) zusammensetzte;
auf dem Gebüschboden standen: ähriges Christophskraut bis
2,50 m Höhe, gewallig entwickelt, hohes Tausendgüldenkraut
und Lungenkraut (Pulmonaria officinalis) mit schön weiß ge-
fleckten Blättern. Bei Rykowicze stand auf schwerem mit
viel Kalkmergel vermischtem Moorboden Symphytum officinale
mit tiefdunkelviolelter Blütenblattrarbe. — Ebendort wuchsen
im verwilderten Garten einer Ölmühle kräftig entwickelt:
Atropa Belladonna (Tollkirsche), Datura slramonium (Stech-
apfel), Lappa major (Klette a'/j m hoch) und am Wasser
Conium maculatum (gefleckter Schierling 3 m hoch).
Die bei NowyZahorow erwähnte Sambucusart stand am
14. g. 16 in ungeheuren Mengen blühend bei Rykowicze,
am 15. 9. bei Poryck in Wolhynien, sowie am 17. 9. bei
Sokal und Lemberg in Galizien. Es ist Sambucus Ebulus
(Zwergholunder).
Bei Krasne in Mittelgalizien war an den Rändern der
Feldwege eine hellblau blühende Salviaart, nicht Salvia pra-
tensis Ende September 1916 massenhaft blähend anzutreffen.
Karl Waase.
Literatur.
Schwarzschild, Dr. K., Über das System der Fixsterne.
Leipzig u. Berlin '16, B. G. Teubner. — 1,20 M.
Föppl, Prof. Dr. A., Vorlesungen über technische
Mechanik. I. Bd.; Einführung in die Mechanik. Leipzig
u. Berlin '17, B. G. Teubner. — 9,20 M.
Kohlrausch, Dr. F. u. Holborn, Dr. L., Das Leit-
vermögen der Elektrolyte, insbesondere der wässerigen
Lösungen. 2. vermehrte Aufl. Leipzig u. Berlin '16, B. G.
Teubner. — 7,50 M.
Oettinger, Dr. W., Die Rassenhygiene und ihre
wissenschaftlichen Grundlagen. Berlin '14, Fischers Medi-
zinische Buchhandlung H. Kornfeld. — 1,20 M.
Inhalt! M. Di
iggel), Ui
in neuer und alter Vc
Lins bau er, Selbslh
S. 333. Winterste
besprechungen
Schwefelbakterien und ihre Tätigkeit in der Natur. (6 Abb.) S. 321. Ed. Hahn, Brennesseln
endung. S. 328. — Einzelberichte: Zander, Die Zukunft der deutschen Bienenzucht. S. 330.
;htende Regenwürmer. S. 332. E. Baumann, Wildkaninchenvorkommen in Griechenland.
1, Die osmotischen und kolloidalen Eigenschaften tierischer Gewebe. S. 333. — Bücher-
:.eidecker,lm Lande des Paradiesvogels. S. 334. Carl Meißner, Das schöne Kurland. S. 334.
Beiträge zur Kenntnis der Meeresfauna Westafrikas. Bd. 11, Lief. I. S. 334. Beiträge zur Kenntnis der Land- und Süß
wasserfauna Deutsch-Südwestafrikas. Lief. 4. S. 334. Walter Oettinger, Die Rassenhygiene und ihre wissenschaft-
lichen Grundlagen. S. 335. — Anregungen und Antworten: Auffallende Phanerogamen auf westlichen und östlicher
Kriegsschauplätzen. S. 335. — Literatur: Liste S. 336.
Ma
skripte
und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 24. Juni 1917.
Nummer 35.
Fernwetterprophezeiung.
Von Hermann Radestock.
„Der hundertjährige Kalender", wem huscht
nicht ein Lächeln über das Gesicht bei Erwähnung
dieses alten Rumpelkammerstücks ? Wir alle wissen :
es ist nichts darauf zu geben. Und doch, ein
Fünkchen Wahrheit ist darin, wird von der neueren
wissenschaftlichen Forschung bestätigt. Wir wissen
ja, daß die Mönche des Mittelalters fast die
Alleinträger der damals noch sehr kümmerlichen
Naturwissenschaften waren, aber wir wissen nicht,
welche statistischen Aufzeichnungen dem Abt
Moritz Knauer in Laugheim für sein Werk,
eben den hundertjährigen Kalender, zu Gebote
standen. Wir wissen nicht, ob er dabei nur der
runden Zahl Mundert zu Liebe verfahren, oder ob
ihn wirklich die Erkenntnis geleitet hat, daß an-
nähernd 100 Jahre dauernde Witterungsperioden
für unsere Erde in Betracht kommen. Jedenfalls,
von den uns jetzt bekannten verschiedenen Sonnen-
fleckenperioden dürfte er Mitte des 17. Jahrhunderts
noch keine Ahnung gehabt haben. Und gerade
jene langen Doppelperioden von durchschnitt-
lich 111,6 Jahren sind ja auch uns noch nicht
so recht geläufig und bedürfen z. T. noch ver-
tiefter wissenschaftlicher Untersuchung. Auf alle
Fälle scheint es daher etwas gewagt, wenn der
schwedische Ingenieur Enström,') unter Annahme
einer „Ilochkonjunkturperiode" von 1850 — 1959,
diese sogar mit dem Krieg in Beziehung bringt.
Innerhalb dieser Periode sollen nämlich unter dem
P^influß der Sonncnfieckenbildungen z. B. die
Jahre 1850 — 1880 dem Ackerbau, damit auch der
industriellen Unternehmungslust und schließlich
dem dadurch hervorgerufenen scharfen wirtschaft-
lichen Wettbewerb der Völker günstig gewesen
sein und daher 1S50 — 1880 zu auffallend vielen
Kriegen geführt haben. Gegenwärtig sollen wir
in einer zweiten, von 191 1 — 1939 reichenden,
Kriegszeit jener Großperiode stehen mit den be-
sonders kritischen Jahren 1918, 1927 und 1935.
Wir werden sogleich sehen, wie die wissenschaft-
lichen Grundlagen beschaffen sind, auf die der-
artige Voraussagen sich notwendig stützen
sollten.
Gegen die schriftlichen Aufzeichnungen der
Wetterstatistik vor dem Jahre 1750 hegen wir
begründetes Mißtrauen; sie sind ungenau und mit
den unserigen nicht zu vergleichen. Zum Glück
hat aber das Wetter früherer Jahrhunderte sich
selbst aufgezeichnet, und zwar in den Jahresringen
alter Baumstämme. Besonders eignet sich die
Fichte zu solchen Ablesungen. Schon an ihren
Zweigquirlen sehen wir in gleichalterigen Baum-
beständen, daß die Quirlabstände zwar bei den
einzelnen Bäumen ungefähr gleich lang, daß sie
aber bei allen zusammen in dem einen Jahr länger
als in dem andern geraten. Noch auffallender ist
diese Verschiedenheit an einer glatt durchsägten
Stammfläche. Tatsächlich hat man, nicht nur in
Amerika an 520 Jahre alten Gelbfichten (Pinus
ponderosa Dougl.), ^) sondern auch bei uns im
brandenburgischen Eberswalde an unserer ein-
heimischen Art, durch über loooo Messungen
festgestellt, daß diese Naturaufzeichnungen über-
raschend genau mit der seit Erfindung des Fern-
rohres im Jahre 1610 in den Sternwarten ver-
zeichneten Sonnenfleckenhäufigkeii übereinstimmen.
Woher dieser Zusammenhang?
Was zunächst den Einfluß der Sonnenflecke
auf das irdische Wachstum betrifft, so ist klar,
daß ein Übermaß kleiner oder auch einzelne große
Flecke, die ja oft unsere ganze Erde um ein
Vielfaches an Umfang übertreffen, das zu uns
herabgesandte Licht und die Wärmekraft der
Sonne erheblich einschränken. Diese Abkühlung
unserer Atmosphäre begünstigt die Bildung von
Wolken und Niederschlägen. Und die letzteren
wieder begünstigen das Wachstum der Pflanzen.
Kein Wunder also, daß die Baumstämme in solchen
feuchten Jahren entsprechend mehr Holz bilden,
was dann beim Fällen dieser „lebenden Witterungs-
kalender" offenbar wird. Vergegenwärtigen wir
uns nun, wie viele verschiedene, oft entgegen-
gesetzt wirkende F"aktoren an dem Wachsen oder
Stocken jedes einzelnen Jahresrings beteiligt sind,
so müssen wir bekennen, daß die Natur uns hier
ein wahres Muster zur Gewinnung von genauen
jährlichen Witterungsdurchschnittsmaßen und
zahlen geboten hat. Nur schade, daß man immer
erst warten muß, bis das Resultat im gefällten
Baumstamm fertig vor uns liegt. Was nützt uns
das für das richtige Wettervorhersagen? Nun,
wir wissen schon aus unserm politischen, wirt-
schaftlichen und bürgerlichen Leben, daß das
Prophezeien für längere Zeilräume sehr schwierig,
unzuverlässig und oft geradezu lächerlich ist.
Auch der geistig noch so hochstehende Mensch
wird auf diesem Gebiete stets ein schwankendes
Rohr sein und bleiben, weil sein ganzes Tun und
Treiben von einem schwankendes Wetter machen-
den Gestirn, eben der Sonne, beherrscht wird.
- Kenntnis ihrer Natur und Gesetze ist daher die
Grundlage jeder Wetterforschung.
1) Prometheus 1915, 19.
'■) A. E. Douglas, Scliätzung der Variation der Regen-
menge auf Grund der jährlichen Zuwachsringe der Bäume
(Meteorolog. Zeitschr. 1914, 11).
338
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
Wohl wissen wir, daß unsere Berge und Täler,
unsere großen Land- und Wasserflächen ver-
schiedenes Klima haben, daß sie auch bei gleicher
Bestrahlung und Erwärmung verschiedenes Wetter
erzeugen, nämlich durch den über ihnen
herrschenden verschiedenen Luftdruck, aber wir
sprechen doch nicht mit Unrecht von ausgeprägt
kalten oder warmen Sommern oder Wintern oder
Jahren, selbst in bezug auf sehr große Gebiete,
oft ganze Erdteile. Ja, wir finden bei aufmerk-
samer Beobachtung, daß dieses selbe Wetter zu-
weilen, von den jeweiligen örtlichen Bodenver-
hältnissen nur wenig gestört, in einer bestimmten
Bahn über unsern Planeten wandert. Wie
kommt das? Es liegt an der eigentümlichen
Natur der Sonnenflecke. Nach dem jetzigen
Stande der Sonneiibetrachtung *) haben wir es bei
diesen mit ähnlichen Erscheinungen wie bei
unseren Vulkanen zu tun, nur mit dem Unter-
schied , daß auf der Sonne die Ausbrüche aus
einem noch viel gasförmig flüssigeren Innern er-
folgen. Das, was wir in diesen Jahren unserer
gegenwärtigen , nun bald ihren Höhepunkt er-
reichenden, Sonnenfleckenperiode manchmal schon
mit bloßen Augen sehen können, die dunklen,
kohlenartigen Flecken in der Nähe des Sonnen-
äquators, sind stark elektromagnetisch geladene
Wolken, die bei der Berührung der heißen
Dämpfe mit dem kalten Weltenraum entstehen
und wirbelsturmartig den ganzen Wasserstoff ihrer
Umgebung zusammenziehen. Da nun größere
Krater oft Wochen und Monate lang geöffnet
bleiben und da die sog. synodische Umdrehungs-
zeit der Sonne um ihre Achse 27 V2 Tage dauert,
so wandert der besagte dunkle Wolkendeckel,
die Hälfte dieser Zeil für uns sichtbar und fühlbar
bleibend , u. U. als schwacher Riesenschatten
ziemlich langsam über ein gut Teil unserer Erde.
Doch das smd Ausnahmen. Im allgemeinen sind
die Krater von bescheidenerer imd mittlerer
Größe, dafür aber äußerst unbeständig. Fort-
während öffnen und schließen sich alle und neue
in allen Größen und Gruppenbesiänden. Zum
Glück sind sie zur Zeit ihrer größten Wirksamkeit
auf eine nur etwa je 40 Grad breite Zone zu
beiden Seiten des Sonnenäquators beschränkt.
Für die wissenschaftliche Wetterprophezeiung ist
jedoch diese Erkenntnis nicht von großer prak-
tischer Bedeutung. Man hat sich hier, zwar
ähnlich, aber völlig unbeeinflußt von dem schon
geschilderten, erst später entdeckten, Baumring-
beispiel der Natur, ganz vortrefflich mit gewissen
Durchschnittsmessungen und -Zählungen der
Flecke geholfen.
Die Erfindung dieser sogenannten Sonnen-
flecken-Relativzahlen ist zum Glück schon
sehr früh gemacht worden, so daß sie lückenlos
vom Jahre 174g an vorliegen. Sie haben dann
') J. B. Messerschmi tt, Der Sternenhimmel. —
Derselbe, Physik der Gestirne. (Reclams Universal -Bibl.
Nr. 4228—30, 5451— ■^3-)
1826 zur Aufstellung unserer gebräuchlichsten
kurzfristigen Sonnenfleckenperiode, zu der von
iiVs Jahren geführt. Daß nun dieses Vor-
gehen für die langfristige Wetterermitilung das
richtige war, ist durch Vergleichen jener astro-
nomischen Zahlen mit anderen Vorgängen auf
der Sonne selbst und auf unserer Erde bewiesen.
Die zum Unterschied von den Flecken über die
ganze Sonnenoberfläche gleichmäßig verteilten
Protuberanzen, jene kleinen, helleuchtend-heißen
Fackeln, treten z. B. immer zur Zeit der größten
Fleckenhäufigkeit besonders zahlreich und heftig
auf und sie zeigen bestätigend bei der Durchschnitts-
rechnung genau im Verhältnis dieselben Maximum-
und Minimtimzahlen wie die Flecke. Was uns
aber besonders nahe angeht und zugleich die
große Mannigfaltigkeit der von den Sonnenflecken
ausgehenden Einflüsse auf unser ganzes Leben
zeigt, kann hier nur kurz angedeutet werden.
Die Elfjahrperioden mit hohen Relativzahlen
(Maxima) zeigen besonders häufig Nordlichter ^)
sowie eine ganz bestimmte, gesetzmäßige Ab-
lenkung des magnetischen Stroms, zu sehen an
jeder IVIagnetnadel. In ihnen finden wir, wie die
alten F~rosl-, Hitze- und Sturmchroniken^j beweisen,
aulfallend viele und große Temperaturunterschiede
miteinander wechseln, die dann oft verheerende
örtliche Wetterstürze hervorrufen. Ob der fast
nur auf Grasweide angewiesene Viehbestand
Australiens größer oder kleiner, ob die vom
Meerespiankton lebenden Heringe größer oder
kleiner, mehr oder weniger zahlreich heranwachsen,
hängt durchaus von dem durch die Sonnenflecke
gemachten „Wachswetter" ab. Auf den Schuppen^)
der Heringe verzeichnet übrigens das Wetter,
genau wie bei den Baumringen, durch breitere
oder schmälere Zuwachsbänder sich selbst, und
überdies bestätigt uns die alte Fischfangchronik
so mancher Hafenstadt die Ernteergiebigkeit der
Sonnenfleckenjahre.
Was nun die El fj ah rp eriod e selbst betrifft,
so steigert sich die Zahl der Flecke schneller
(durchschnittlich binnen 5,16 Jahren) als sie ab-
nimmtfdurchschnittlich binnen 5,96 Jahren). Immer-
hin liegt die Grenze ungefähr in der Mitte. Und
rechnet man das Grenzjahr, wie man in Anbetracht
der Schwankungen wohl berechtigt ist, überhaupt
nicht, so haben wir schon zwei für die Fern-
wettervorhersage in mancher Beziehung brauch-
bare kürzere Zeiträume, zwei Jahrfünft e. In
jedem von beiden wird sich das Wetter im großen
Ganzen einheitlich, aber deutlich verschieden von
der anderen Hälfte gestalten.
Und merkwürdig, die Zahl Fünf hat sich auch
für die nächst folgende und wichtigste Fernwetter-
prophezeiung, für die Tagfünfte, als die richtige
erwiesen. Ähnlich wie das Jahreswetter an Bäumen
') Annalen der Hydrographie 1915, 4.
■=) Rieh. Heß u. R. Becker, Der Forstschutz. (Teubner,
Leipzig 1914.)
') K. Hensen-Kiel, Fortschritte in der Biologie der
Fische (Naturwissenschaften 1914, 27).
N. F. XVI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
339
und Fischen sich selbsttätig aufzeichnet, geschah
diese Offenbarung hinsichtlich der Tagfünfte am
Menschen selbst. Und zwar an gewissen Fieber-
kranken. Im Alpengebiet z. B. äußert sich die
sog. Föhnkrankheit ') u. a. durch ein innerhalb zwei
Tagen zu sehr hohen Temperaturen führendes Fieber.
Die allmähliche Abnahme verläuft binnen drei
Tagen. Durch wissenschaftliche Aufzeichnung
mittels Variographen in Innsbruck hat sich eine
genaue Übereinstimmung der Fieber- mit den
barometrischen VVetterkurven ergeben. Ähnlich
ist es bei einer anderen, in den Schützengräben
des Ostens aufgetauchten Krankheit, die man
sogar nach unserer merkwürdigen Erscheinung
„Fünftagefieber" (Febris quintana)'-) getauft hat.
Wiederum völlig unabhängig von dieser Er-
kenntnis auf einem ihm fernliegenden Gebiet, ist
nun Professor Freybe^) zur Aufstellung seiner
Weltertagfünfte gelangt. Von 59 Stationen wurden
die Wettermittelwerte, gewonnen aus dem Zeitraum
von 20 Jahren, für jedes der 73 Tagfünfte des
Jahres berechnet und auf ebensoviele Karten
mittels der üblichen Luftdrucksverteilungslinien,
der Isobaren usw. durch Kurven und Zahlen ein-
getragen. In den sieben Wetterstationen der
Provinz Hessen-Nassau hat Professor Freybe seine
Karten den VVetterdienstleitern behufs Anfertigung
ihrer Wettervorhersagen zur Verfügung gestellt
und dabei so gute Erfolge erzielt, daß er sich
zur Veröffentlichung seiner Erfindung entschlossen
hat. An dem an- oder aufsteigenden Gang der
Linien der Karte seines Bezirks sowie der
der benachbarten sieht der betreffende Leiter, nach
welcher Seite hin in den kommenden fünf Tagen
das Wetter sich zu entwickeln pflegt. Nun gilt
es nur, die allerdings oft nicht so leichte und
einfache Ausgleichung zwischen der tatsächlich
vorhandenen und der zwanzigjährigen Durcli-
schnitiswetterlage vorzunehmen, um eine zu-
treffende Vorhersage für den nächsten Tag, oft
auch schon für die nächstfolgenden Tage zu
liefern. Dabei hat sich u. a. bereits folgendes
wichtige Gesetz herausgestellt. „Deckt sich für
einen bestimmten (^rt und Zeitpunkt die wirklich
eintretende Luftdruckverteilungs- und Wetter-
änderung mit der der Tagfünftkarte, dann ist die
letztere entscheidend, und das Wetter ändert sich
in ihrem Sinne und zwar durchgreifend und
anhaltend. Deckt sich die Eintagskarte nicht
mit der Fünftagekarte, so gibt es entweder gar
keine, oder nur eine rasch vorübergehende
Änderung."
Bei dieser neuen Art der Wettervorhersage
sind also geschickt zwei Durchschnittswerte, und
zwar der in großen Zügen festgelegte historische
von fünf Tagen und der eng begrenzte gegen-
wärtige von einem kurzen Tagesteil, zu einem
') Meteorolog. Zeitschrift 1915, 9.
') Deutsch, mediz. Wochenschrift 1916, 40.
') O. Fr eybe- Weilburg, Verteilung und Änderung des
mittleren Luftdruckes über Europa nach Tagfünflen (Land-
wirtschaft!. Jahrbücher 1914, S. 789 ff.)
IVIittelwert vereinigt. Nun gibt es aber, besonders
für den Landwirt, Großhändler und Ernährungs-
politiker, sehr wichtige Fragen nach dem voraus-
sichtlichen Wetter in kommenden Wochen und
Monaten. Manche ältere Leute auf dem Lande
schwören ja noch heute auf ihre „Erfahrungen"
und prophezeien z. B. bei jedem früh im Herbst
Vorräte eintragenden Eichhörnchen, vor jedem
besonders hohen Ameisenhaufen im Spätjahr, bei
jedem vorwinterlichen Gänse- oder Krähenzug,
vor jedem reiche und früh rote Früchte tragenden
Ebereschenbaum einen nahen, strengen und langen
Winter, während sie z. B. aus dem längeren Ver-
bleiben der Mauersegler und Schwalben gern und
ohne Bedenken auf das Gegenteil schließen. Ver-
nünftigerweise müßten sie sich doch sagen: alle
Tiere und Pflanzen benützen selbstverständlich,
und zwar recht eifrig und nachholend, das gegen-
wärtige gute Wetter nach dem voraufgegangenen
andauernd schlechten, während die hochnordischen
Zug- und Strichvögel natürlich nichts weiter tun
können, als vor dem beginnenden Winterwetter
ihrer Sommerstätten nach Süden zu flüchten. Auf
alle P'älle besitzen die Pflanzen und Tiere, wie ja
auch wir selber, keinen angeborenen Fernwetter-
sinn. Und doch ist auch in jenem alten Köhler-
glauben wieder ein Körnchen Wahrheit, der Keim
eines neuen Hilfsmittels, zu finden.
Wie wär's, so ließe sich fragen, wenn man
einmal gleich die gemachten Fortschritte,
z. B. der Vegetation, zur Fernwetterprophe-
zeiung heranzöge? Und das hat die Wissenschaft
bereits getan. ') In einer ganzen Reihe landwirt-
schaftlicher Stationen Deutschlands und Österreich-
Ungarns wird, z. T. schon seit Jahrzehnten, an
Kirsche, Stachelbeere, Erdbeere, Roggen, Wein-
stock, Mais, Flieder, Holunder, Liguster, Roß-
kastanie, Ahorn, Buche und Linde Jahr für Jahr
beobachtet und aufgeschrieben, an welchem Tage
diese Gewächse dort das erste Laub, die ersten
Blüten entfalten, die ersten reifen P^üchte zeigen
und im Herbst ihr sämtliches Laub verfärben.
Auch aus diesen Beobachtungen hat sich bereits
ein für die Fernwetterprophezeiung wichtiges
Grundgesetz ergeben. Es lautet: „Je früher in
einer Gegend ein Gewächs zu blühen beginnt,
desto später im Verhältnis bringt es reife Frucht,
und umgekehrt, je länger sich die Blüte verzögert,
desto früher reift die Frucht."
Blüht die Kirsche z. B. am 18. April, so reift
sie im Durchschnitt am gleichen Orte schon am
2. Juni, also nach 56 Tagen. Blüht sie aber
schon am 8. April, so reift sie ebendaselbst erst
am 9 Juni, also erst nach 63 Tagen. Oder, be-
ginnt der Roggen erst am 2. Juni zu stäuben, so
braucht er auf demselben Standort bis zum 6. Juli
nur 35 Tage, stäubt er schon am 23. Mai, so
braucht er bis zum 3. Juli dort volle 42 Tage
zur Reife. Und zieht man aus den Spätaufblüh-
zeiten sämtlicher oben genannter Gewächse ein
') Meteorolog. Zeitschr. 1913, 7; 1914,
340
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
aus vielen Jahren gewonnenes Mittel, so tritt die
Fruchtreife dann im Durchschnitt noch immer
volle 5 Tage früher ein als in den Jahren mit
früher Blüte. Eine reife Frucht aber verrät dem
Kenner schon durch Aussehen, Geruch und Ge-
schmack, so gut wie Baumring und Fisclischuppe
dies für ganze Jahre tun , welches Wetter im
allgemeinen an dem betreffenden Standort von
der Blüte bis zur Frucht geherrscht haben muß.
Eine Prophezeiung vom Frühjahr für den
Sommer und Herbst desselben Jahres auf dieser
rein wissenschaftlichen Grundlage hat daher ihre
Berechtigung und bedeutet schon einen Fortschritt.
Aber man ist noch weiter gegangen und hat sich
gefragt: was bewirkt im wesentlichen das Auf-
blühen der Gewächse? Ist es der Regen, oder
der Luftdruck, oder der außen auf die Knospen
strahlende Sonnenschein? Nein, im wesentlichen
ist's die Wärme des Bodens, in dem die
betr. Pflanze wurzelt. Der Boden ist ein Sonnen-
speicher. Nur er gestattet den Wurzeln und dem
ganzen Gewächs die Versorgung mit Wasser und
chemisch-mineralischen Nährmitteln. Er zwingt
geradezu den Strauch oder Baum zum Blüten-
offnen, oft an einem Tage, der durchaus kein
schöner ist. Jedoch erst von einem ganz be-
stimmten Bodenwärmegrad an tut er das! In
den Beobachtungsorten Straßburg, Aachen, Bonn,
Witzenhausen, Potsdam, Jena, Großbeeren, Breslau,
Bremen, Helmstedt und Biberach betrug die in
einer Reihe von Jahren gemessene Frühlingsboden-
wärme (für die Monate März und April aus
Durchschnittszahlen gewonnen) bei ^'l^ m Tiefe
4,42 bis 6,28" C je nach der geographischen
Lage des Beobachtungsortes. Und nun ergab sich
nicht nur ein stets genau übereinstimmendes Ver-
hältnis zwischen Bodenwärme und erstem Auf-
blühen bestimmter Gewächse, sondern man fand
zugleich das bedeutungsvolle Gesetz: „Die zum
Aufblühen nötige Bodenwärme beträgt durch-
schnittlich 10" C, jeder Grad weniger verursacht
10 Tage Verzögerung." *)
Es ist demnach bereits heute möglich, den
Zeitpunkt der künftigen ersten Laubentfaltung,
des Aufblühens, des Eintritts der Fruchtreife und
des Laubfalls für eine Reihe von Gewächsen
Deutschlands und Österreich-Ungarns in der für
uns wichtigsten Vegetationszeit des Jahres an
demselben Orte durch Beobachtung der Boden-
wärme, verbunden mit den Aufblühdurchschnitts-
zahlen, zu ermitteln. Was ist das anderes als
angewandte Fernwetterprophezeiung? Genau wie
bei den Tagfünften haben wir eine vorliegende
historische Durchschnittszahl (die mittlere Auf-
blühzeit) und daneben einen zusammenfassenden
Gegenwartswert (die Bodenwärme). Aus beider
Verknüpfung ermitteln wir den durchschnittlichen
Zukunftswert, d. h. die voraussichtliche Dauer
der weiteren Entwicklungszeit, für die Pflanze
unter dem Einfluß des Wetters und damit, wenn
auch nur in großen Zügen, die künftige Wetter-
gestaltung selbst.
Wir sind am Schluß unserer Darlegungen.
Soviel dürfte aus ihnen hervorgehen , daß die
Fernwetterprophezeiung in den von mir geschil-
derten Arten kein Bluff ist. Freilich, was sie
verspricht und hält, wird manchem, selbst wenn
er dabei die schwankende Sonnenwärme gebührend
berücksichtigt, sehr bescheiden vorkommen. Aber
was ist wertvoller für das öffentliche Wohl, frage
ich, eine bescheidene, aber auf fester wissenschaft-
licher Grundlage ruhende, in Art und Rich-
tung als brauchbar erkannte, oder eine
vielleicht bestechende, nach persönlicher Erfahrung
und Mutmaßung gemachte Voraussage? Die
Antwort wird nicht zweifelhaft sein.
') Wilh. Nägler-Dresden, Die Erdboden-Temperatur
in ihren Beziehungen zur Entwicklung der Vegetation. (Peter-
mann's Mitteil., Jahrg. 58, 1913.)
Einzelberichte.
Bakteriologie. Selenbakterien. Die Fähig-
keit, Selenit zu reduzieren, kommt sehr vielen
Bakterien zu. Doch spielt wahrscheinlich diese
Reduktion im Leben und Stoffwechsel der be-
treffenden Bakterien keine Rolle, da sie alle auch
ohne einen Zusatz von Seliniten ebensogut
wachsen. Widar Brenner*) hat nun neulich
im Leipziger Botanischen Institut eine Bakterienart
entdeckt und genauer untersucht, die auf solche
Reduktionsvorgänge vollkommen angewiesen ist.
Der äußerst winzige Micrococcus selenicus, wie
ihn der Verf nennt, wurde aus dem Schlamm
des Kieler Hafens isoliert, dürfte aber wohl eine
allgemeinere Verbreitung besitzen. Wird er auf
') Jahrb. f. wissenschaftl. Botanik, Bd. 57, S. 95, 1916.
einem Agar kultiviert, dem Selenverbindungen
(Natriumselenit und Natriumselenid) zugesetzt
worden waren, so entstanden gallertige Kolonien,
deren kräftig rote Färbung von dem reduzierten
Selen herrührte. Die mikroskopische Unter-
suchung zeigte, daß die Selenkörnchen in den
Zellen der Bakterien eingeschlossen waren. Als
Stickstoffnahrung diente ihnen Ammoniumchlorid,
als Kohlenstoffquelle sehr geringe Mengen von
.Mkoholdänipfen, die von allen geprüften Stoffen
den besten Nährwert besaßen. Eine nähere Unter-
suchung der Eignung verschiedener Sclenpräparate
ergab, daß das Selenit zusammen mit dem Selenid
am besten wirkte, Selenit für sich schlechter und
Selenid allein gar nicht. Da es sich herausstellte,
daß die Selenkokken ohne Selenverbindungen
überhaupt nicht gediehen, suchte der Verf fest-
N. F. XVI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
341
zustellen, ob jene vielleicht durch Stoffe von ähn-
licher leichter Reduktionsfähigkeit ersetzbar seien.
In der Tat wuchsen die Bakterien mit dem Indig-
karmin, das bekanntermaßen sehr leicht in die
Leukoform übergeführt wird, ganz gut, ohne daß
etwa dieser Kör|)er als Kohlenstoffquelle in P>age
kam. Die Kolonien waren jetzt farblos, wurden
aber alsbald tiefblau, wenn sie abstarben, wenn
also das reduzierte Indigweiß wieder sich oxydierte.
Ähnlich konnte auch Lackmus ausgenutzt werden.
Wahrsclieinlich decken die Selenbakterien ihren
Sauerstoffbedarf dadurch, daß sie ihn leicht sauer-
stoffabgebenden Verbindungen entnehmen. Sie
sind also auch nicht auf Selenverbindungen
schlechtweg angewiesen, sondern werden wohl
viele andere, auch organische Stoffe, in ähnlicher
Weise benutzen, können mithin zu der großen
Gruppe der reduzierenden Bakterien gerechnet
werden. Sie nehmen aber innerhalb derselben
insofern eine interessante Sonderstellung ein, als
sie merkwürdigerweise nicht anaerob sind, also den
freien Sauerstoff nicht meiden. Sie vermögen ihn
jedoch offenbar nicht zu benutzen, bedürfen viel-
mehr des Sauerstoffes in statu nascendi, wie sie
ihn sich aus der Reduktion verschiedener leicht
reduzierbarer Stoffe beschaffen. Durch die Ent-
deckung der Selenkokken ist das Bild primitiver
Bakterien um einen neuen Zug bereichert worden.
Miehe.
Zoologie. Schon oftmals ist die Frage geprüft
worden, welchen Zweck die sog. Srhwingköibchen
der zweiflügeligen Insekten (Dipteren I haben. Aber
weder die anatomische Untersucfiung, noch die
verschiedenen Experimente haben bisher be-
friedigenden Aufschluß gegeben. Eine eingehende
histologischeUntersuchungstammt von Wein land,
der feststellte, daß besonders an ihrer Basis eigen-
artige Sinnesorgane ausgebildet sind. Von den
Experimenten sollte besonders das Festkleben
oder die gänzliche Entfernung Klarheit schaffen,
denn in beiden Fällen ist das Insekt nicht mehr
fähig zu fliegf-n. Nach dem einen Autor sind
die Halteren Gleichgewichtsorgane, die durch ihr
Gewicht einen gewissen Einfluß auf den Flug
ausüben, nach dem anderen besteht ihre Funktion
darin, auf das Afterläppchen der Flügel zu drücken
und so die Flugbewegungen zu beeinflussen.
Wein land betraciitete sie als dynamische Gleich-
gewichtsorgane, die durch ihre rapide Bewegung
und die dadurch erzeugte Zentrifugalkraft die
Richtung des Fluges bestimmen. Auch als Hör-
organe oder als Organe zur Tonerzeugung wurden
sie gedeutet. Stellwaag andererseits stellte fest,
daß sie für die Steuerung gar keine Bedeutung
haben. Aus dem allen geht hervor , daß ihre
wahre Bedeutung noch ganz im Dunkeln liegt.
In seiner Untersuchung: Einige Bemerkungen
über den Schwirrflug der Insekten mit besonderer
Berücksichtigung der Halteren der Zweiflügler
sucht W. von Buddenbrook (Verh. d. naturh.-
mediz. Vereins zu Heidelberg 1916) auf dem Wege
des Analogieschlusses das Dunkel zu lichten. Er
geht davon aus, daß zu ihrer Funktion eine rasch
fibrierende Bewegung nötig ist, wie die bisherigen
Experimente ergeben haben. ,, Suchen wir nach
ähnlichen fibrierenden Bewegungen bei anderen
Insekten, so zeigt sich zunächst, daß man diese
ganze Tiergruppe nach ihrer Art zu fliegen ein-
teilen kann in Schwirrer und Flatterer, die
freilich durch zahlreiche Übergänge miteinander
verbunden sind." Zu den Schwirrern rechnet er
außer den Dipteren die größeren Käfer, unter den
Schmetterlingen die dickleibigen Nachtfalter und
schließlich noch zahlreiche Hymenopteren. Die
Flatterer werden durch die Tagfalter verkörpert.
Schwirrer haben verhältnismäßig kleine Flügel,
Flatterer aber große. Bei gleicher Größe und
Geschwindigkeit muß der Schwirrer eine be-
stimmte Anzahl mehr Flügelschläge machen als
der Flatterer.
Wie Schwirrer und Flatterer sich in der Art
des Huges unterscheiden, so verhalten sie sich
auch verschieden beim Obergang von der Ruhe zur
Bewegung. Während die Flatterer ohne weiteres
den Flug beginnen können , gehen bei den
Schwirrern Vorbereitungen voraus, ohne die der
Flug nicht gelingt. Viele dickleibige Schmetter-
linge fliegen, wenn sie aus der Ruhe gestört sind,
nicht sofort auf, sondern zittern mit den Flügeln
in eigentümlicher Weise, sie „schwirren vor dem
Flug auf der Stelle". Dieses Fibrieren findet
man auch hei größeren Käfern, wenn sie die
Elytren heben und mit Kopf und Hinterleib
„pumpende" Bewegungen machen, v. Budden-
brock teilt nicht die landläufige Anschauung,
daß diese Vorkehrungen dazu dienen, Luft in den
Körper aufzunehmen, sondern faßt sie als eine
direkte Vorstufe des Fluges auf, als einen Über-
gang von Ruhe zum Schwirrflug. Er bezeichnet
die das Schwirren ausführenden Organe als Schwirr-
organe.
Obwohl die Dipteren die besten Schwirrflieger
sind, fehlen ihnen allem Anschein doch solche
Organe, wenn man nicht die Halteren als solche
auffaßt. Hinsichtlich ihrer Bewegungsart und ihrer
Wirkungsweise sind sie den Schwirrorganen analog.
Daraus ist zu schließen, daß das Schwirren der
Halteren bei den p-liegen, das Zittern der Elytren, des
Kopfes und Abdomens bei den Käfern, der Flügel
bei den Nachtfaltern in irgendeiner Weise die
Energieleistung des Flügelschlages befördert, wie
sie zur Durchführung des Schwirrfluges nötig ist.
Demnach sind die Halteren nicht als Steuer- oder
als Gleichgewichtsorgane zu betrachten.
Man kann die Tätigkeit der Halteren bis ins
Einzelne mit derjenigen der Hörkölbchen der
Medusen vergleichen und beide Organe sind dem-
nach als wesensgleich zu betrachten. Hier wie
dort ein klöppeiförmiges Gebilde, das Reizorgan,
das eine pendelnde Bewegung ausführt, in seiner
Nähe ein Sinnesorgan, der Rezeptor des Reizes,
und schließlich in Abhängigkeit von der Be-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
wegung des Köibchens ein Erfolgsorgan. Der
Verlust des Reizorganes hat bei den Medusen
völligen Stillstand der Schwimmuskulaiur, bei
den Fliegen eine bedeutende Beeinträchtigung
der Flugbewegung zur Folge. Wie aber bei den
Medusen der Reiz des schwingenden Hörkölbchens
die Schwimmuskulaiur zu lebhafterer Bewegung
befähigt, so wirkt bei den Fliegen der Reiz auf
die Flugmuskeln und erzeugt eine schnellere
rhythmische Bewegung. Demnach wären nicht
nur die Halteren, sondern auch die Schwirrorgane
der übrigen Insekten so zu deuten, daß auch sie
zur Erzeugung einer fibrierenden Bewegung dienen,
die sich dem Flügel überträgt und ihn erst flug-
fähig macht.
Die biologische Bedeutung des Schwirrens vor
dem Flug würde also hauptsächlich darin zu suchen
sein, daß die Schwirrflieger nicht ohne weiteres
aus der Ruhelage in die Flugbewegung übergehen
können, sondern erst eines rhythmischen Reizes
bedürfen , der allmählich eine immer größere
Schnelligkeit der Flügelschläge hervorbringt, bis
diejenige Frequenz erreicht ist, welche einen
sicheren Abflug gestattet. Die Halteren wären ganz
besonders zweckmäßige Schwirrorgane, weil sie
klein sind, und durch ihre Form der Luft nur
einen ganz geringen Widerstand darbieten.
Stell waag.
Schlupfwespen als Pflanzenparasiten. Die
Vertreter der großen Gruppe der Ichneumoniden
oder Schlupfwespen sind allgemein als Parasiten
von Insekten bekannt. Es gibt kaum eine Insekten-
ordnung, die nicht von ihnen heimgesucht wird,
ja sogar Spinnen und Tausendfüßler werden als
Wirtstiere benutzt. Bei einer so ausgeprägten
biologischen Anpassung sind Arten, die eine Aus-
nahme davon machen, besonders bemerkenswert.
Sie gehören durchweg den Chaicididen an, und
zwar der Gattung Isosoma, einer Gruppe aus der
Unterfamilie der Eurytomineen.
Schon im Jahre 1833 berichtet Bohemann
von der Art Syntomaspis: E seminibus baccae
Sorbi scandiacae etiam exclusus. Später hat
Schlechtendal die Larve wiederholt aus den
Samen des Weißdorns gezogen. Er beobachtete
auch, auf welche Weise das Weibchen die Früchte
anbohrt, um das Ei durch die harte Samenschale
in den Samen abzulegen. Es tastet nämlich mit
seinem Legebohrer die Samenschale ab, bis es
die Mycropyle gefunden hat. Sonst leben die
Isosominenlarven fast ausschließlich in Gramineen-
samen. In neuerer Zeit wurden aber auch andere
Samen als Wohnorte gefunden.
Urbahn's Th. D. (The Chalcis-fly in Alfal-
faseed, U. S. Agr. Farmers Bull. 1914) stellte
Bruchophagusfenebris How. im Samen der Luzerne
fest. Er kam sogar so massenhaft vor, daß Be-
kämpfungsmaßnahmen eingeleitet werden mußten,
die im wesentlichen darin bestanden, daß die
Luzerne vor der Samenreife geschnitten wurde.
In der Zeitschrift für wissenschaftliche Insekten-
biologie 1916 teilt Taschenberg mit, daß
Syntomaspis in größerer Zahl in reifen Äpfeln
angetrofi"en wurde. Der naheliegende Gedanke,
als könnte die Art den Apfelwickler Carpocapsa
pomonella L. parasitieren, wurde durch den Befund
widerlegt, daß keine Fraßspuren von Raupen
vorhanden waren. Außerdem verläßt ja die
Wicklerlarve die Frucht, ehe sie sich verpuppt und
die Äpfel waren schon einen Winter lang gelagert.
Die bisher beobachteten F"älle lassen den
Schluß zu, daß die Eier in die Samen der jungen
Früchte gelegt worden waren. Die ganze Ent-
wicklung hätte demnach mehr als ein Jahr in
Anspruch genommen. Dies stimmt mit der An-
gabe von Schlechtendal überein, daß die
Wespe selten nach einmaliger, meist nach zwei-
bis dreimaliger Überwinterung im Juni erscheint.
Stellwaag.
Zur Eiablage und Paarung der Tagfalter in der
Gefangenschaft teilt Emil Hüb n er (Obersedlitz,
Böhmen), angeregt durch die auch an dieser Stelle
besprochene Arbeit Dr. E. Fischer's (Zürich)^),
einige interessante Beobachtungen von seinen
Zuchtversuchen mit (Societas entomologica
32. Jahrg. 1917 Nr 3). Hübner gibt, um die frisch-
gefangenen Schmetterlinge langsam an die Ge-
fangenschaft zu gewöhnen, die Tiere einzeln oder
doch nur in kleinerer Zahl in größere Zuchtbehälter,
die anfänglich an einem dunklen Platze Aufstellung
finden sollen. Sind die Falter nach einiger Zeit
dann schon ruhiger geworden, so werden die
Kästen, um die Eiablage und die Paarung zu
erreichen, mit der Futterpflanze der Raupen ver-
sehen und an die Sonne gestellt; dabei ist aller-
dings zu pralle Sonnenhitze durch Gaze oder
Seidenpapier zu mildern. Auf diese Weise kam
Hübner außer beim Segelfalter {Papilio
podalirius L.) und beim großen Eisvogel
(Liuuiiifis popiili L.) bei allen in Böhmen vor-
kommenden Tagfaltern zum gewünschten Ziel.
Hübner nährte die Falter damit, daß er sie
2 — 3 mal am Tage mit Honig oder Zuckerwasser
fütterte; er brachte dabei, um die Tiere zum
Saugen zu bewegen, ihren Rüssel mittels einer
Nadel an die F"lüssigkeit heran. Sobald die Tiere
den Süßstoff verspürten, blieben sie in den meisten
F"ällen ganz ruhig sitzen und saugten.
H. W. Frickhinger.
Über die Bekämpfung des Mohnwurzelrüssel-
käfers. Anläßlich eines \'ersuches über die zweck-
mäßigste Reihen- und Standweite bei Mohnanlagen
ander niederösterreichischen Landes-Acker-
bauschule Edelhofbei Zwettl konnte Rudolf
Ranninger interessante Beobachtungen über die
Biologie des Mohnwurzelrüßlers [Codiodes
') Vgl. Na
VVochenschr. 1917, Nr. 2, S. 28.
N. F. XVI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
343
fiiliginosHS Marsh.) und die beste Art der Be-
kämpfungsmaßnahmen anstellen (Zeitschrift
f angewandte Entomologie III. Bd. Heft 3
S. 383 — 387). In den letzten Maitagen fielen dem
Verfasser zahlreiche, meist in engem Verbände
stehende und daher nicht besonders gut genährte,
schwächlichere Pflanzen dadurch auf, daß sie
auffallend gelb wurden und bald darauf eingingen.
„Beim Herausziehen dieser Pflanzen aus dem Boden
bemerkte man an der Wurzel eine weiße, braun-
köpfige, fußlose Larve, in der Giöße von
3—4 mm; — sie frißt an der Wurzel etwa i mm
tiefe längere Gänge oder auch rundliche Löcher.
In den weitaus meisten F"ällen sitzt sie am unteren
Ende des Wurzelhalses, mitunter auch bis 3 cm
und sehr selten bis 8 cm Bodentiefe. An einer
Pflanze sitzt meist nur i Larve, mitunter 2 und
seltener auch 3". Die Fraßbeschädigungen der
Larven bewirken ein Schwarzwerden der Wurzel
und ein Gelb- oder Braunwerden der Blätter, Ver-
färbungen, die beidesmal von unten ausgehen und
nach oben fortschreiten. Diese Erscheinungen, die
zum Absterben der Pflanzen führten, traten aber
nur bei schwächlichen Mohnpflanzen auf, gut ge-
diehene, kräftige Mohnpflanzen blieben, obwohl
sie sich auch befallen zeigten, vollkommen unbe-
schadet. Etwa anfangs Juli verpuppt sich die
Larve; „nach 4wöchiger Puppenruhe erscheint
Ende August-September der Käfer, der sich auf
verschiedenen Pflanzen aufhält, in der Erde über-
wintert und im April aus seinem Winterversteck
wieder hervorkommt". Auch der Käfer ist ein
Schädling der Mohnpflanzen, indem er von den
jungen Exemplaren die Blätter derart abfrißt, daß
„nur die Hauptrippen der Blätter übrig bleiben".
Wenn die Wirkungen des Käferfraßes unter dem
Bestände der Mohnkulturen weniger verheerend
waren als die des Larvenfraßes, so war das darauf
zurückzuführen, daß der Käfer nicht sehr lange
auf den Mohnpflanzen verweilte, sondern bald
wieder verschwand. Auch hier konnte Ranninger
die Beobachtung machen, daß besonders zartere
(saftigere) Pflanzen von den Käfern heimgesucht
wurden. Diese Tatsache weist von selbst auf die
offensichtlich wirksamste Art der Schädlings-
bekämpfung hin: durch eine Reihe bewährter kultu-
reller Methoden in der Bearbeitung des Bodens,
in der Düngung und in der Verbandsanordnung der
Pflanzung mit allen Mitteln danach zu streben,
kräftige Mohnpflanzen heranzuzüchten. In bezug
auf die vorteilhafteste Methode der Düngung, die
ja in ihren Zusammenhängen mit dem Schädlings-
befall erst in der allerjüngsten Zeit aufgedeckt
wurde'), macht der Verfasser folgende Angaben:
„Durch eine Chilisalpeter- oder Kalksalpeterdüngung
wird durch Förderung des Wachstums die Pflanze
kräftig und die Larve kann sie nicht mehr zu-
grunde richten. Ist von vornherein schon eine
') Vgl. hierzu meinen Bericht „Düngung und Insekten-
befall" in Nr. 3 S. 4" des heurigen Jahrgangs dieser Zeit-
schrift.
Stickstofifdüngung angezeigt, also auf ärmeren
Böden oder nach länger andauernden Regengüssen
vor Anbau, so kommt, je nach Boden, Kalkstick-
stoff und schwefelsaures Ammoniak in Betracht.
Für Kalidüngung (Holzasche) erweist sich Mohn
ebenfalls sehr dankbar . . . Zum Mohn vermeide
man Stallmist." Gelingt es dem Züchter kräftige
Mohnpflanzen zu erzielen, so ist der
Schaden, den der Mohnwurzelrüßler in den
Kulturen anzurichten vermag, ein kaum nennens-
werter. H. W. Frickhinger.
Heilkunde. Über Hautschädigungen durch
Kalkstickstoff", der nun in viel weiterem Umfange
als in Friedenszeiten als Düngermittel verwendet
wird, enthält das „Zentralblatt für Gewerbehygiene"
einen sehr instruktiven Artikel von Medizinalrat
Dr. Koelsch. Das Kalkstickstoffpulver, das in
den Handel kommt, besteht hauptsächlich aus
Kalziumzyanamid (55— öo"/,,), Ätzkalk (20%) und
Kohlenstoff, ferner geringen Mengen von Chlor,
Eisen, Kiesel- und Phosphorsäure, Azetylen,
Schwefel- und Phosphorwasserstoff. Der Kalzium-
gehalt ist etwa 4070. was ohne weiteres die
Vermutung nahe legt, daß die Verwendung des
Kalkstickstoffpulver die Gefahr von Verätzungen
mit sich bringt. Überdies leiden die mit diesem
Pulver gedüngten Pflanzen, wenn beim Düngen
nicht gewisse Vorsichtsmaßregeln befolgt werden.
So darf man z. B. Kalkstickstoff niemals auf
wachsende Pflanzen streuen und ebensowenig in
frisch mit Kalkstickstoff gedüngten Boden säen.
In beiden Fällen würden schwere Wachstums-
schädigungen die Folge sein. Seine Nutzwirkung
als Düngemittel entfaltet der Kalkstickstoff erst,
wenn er einige Zeit im Boden gelegen hat. Er
muß erst durch die Kohlensäure des Bodens und
andere Bodensäuren in kohlensauren Kalk und
Zyanamid gespalten werden. Der Kalk wird zum
Teil von den Zeolithen absorbiert, während das
freie Zyanamid durch Aufnahme von Wasserstoff
zu Harnstoff wird, der sich seinerseits in
Ammoniak bzw. kohlensaures Ammoniak und
Salpetersäure verwandelt. Erst diese Stoffe können
von den Pflanzen aufgenommen werden.
Wenn Menschen mit dem Kalkstickstoff in
Berührung kommen, so ist ihre Schädigung nur
unter Anwendung strenger Vorsichtsmaßregeln zu
vermeiden. Die Gefährdung besteht vor allem
in den Stickstofffabriken, wo die Ätzwirkung
schon vor geraumer Zeit festgestellt wurde.
Überall, wo der feine Staub an der Körper-
oberfläche haften bleibt (Hautfalten, durch Schweiß-
absonderung, feucht gehaltene Körperstellen, ober-
flächliche Schleimhäute, Nasenlöcher und Mund-
winkel) tritt infolge der Ätzwirkung des Kalkes
eine Lockerung und Abstoßung der Außenhaut
ein. Ist sie einmal entfernt, so schreitet die
Kalkeinwirkung auf der freigelegten Unterhaut
weiter fort und ruft hier zahlreiche zunächst ein-
zeln stehende Geschwüre hervor, die später in-
344
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
einander übergehen und dann schmierig belegte,
nässende Wundflächen bilden. An den Schleim-
häuten gehen mit der Bildung der Geschwüre
vielfach Entzündungserscheinungen, chronische
Bindehautkatarrhe, hartnäckige Nasen-, Rachen-
und Bronchialkatarrhe Hand in Hand. Bei den
landwirtschaftlichen Verbrauchern treten vorzugs-
weise Verätzungen der Füße und Hände ein.
Koelsch führt einige derartige Fälle an.
Einem 45 Jahre alten Landwirt kam beim
Streuen Kalkstickstoff in die Stoffmaschen der
dünnen Arbeitshose. Kurze Zeit darauf spürte
der Betreffende ein „eigentümliches Gefühl" in
den schwitzenden Beinen. Die Haut beider Unter-
schenkel hatte sich grünlich verfärbt und hing
stellenweise in Fetzen herab. Der Arzt stellte
an beiden Unterschenkeln hochgradige Entzündung
fest, an einzelnen Stellen teils sehr schwere Ver-
brennungen. Die Heilung nahm fast 4 Monate
in Anspruch; es blieben mehrere, anfangs empfind-
liche, bis handtellergroße Narben zurück.
Ein 46 Jahre alter Landwirt streute mit bloßen
Händen Kalkstickstoff, obwohl er an der einen
Hand eine kleine Verletzung hatte. Gegen Abend
traten in Hand und Arm starke Schmerzen auf,
und es entwickelte sich an der Hand eine fort-
schreitende Eiterung mit brandigem Gewebezerfall,
die die Amputation des rechten Vorderarmes
nötig machte. Im letzten Fall schreibt Koelsch
einer Infektion der Wunde durch Bakterien die
Hauptrolle zu, hält es aber für sehr wahrscheinlich,
daß sich die Wunde durch das Hineingeraten von
Kalkstickstoff verschlimmert habe. Von anderen
Schädigungen abgesehen, wurden in allen Fällen
Unterschenkel und VüQe befallen , die Ver-
ätzung war immer sehr umfangreich und ihre
Folgen waren langwierig. Begünstigt wurde die
Einwirkung des ätzenden Staubes dadurch, daß
die betreffenden Teile feucht waren, sowie durch
die Unachtsamkeit oder Gleichgültigkeit der Be-
troffenen, die fast alle noch stundenlang weiter-
gearbeitet haben, als sie die Ätzwirkung des
Staubes schon längst spüren mußten. Zu be-
achten ist, daß der Kalkstickstoff auch Augen-
verätzungen hervorrufen kann, eine Gefahr, die
allerdings auch bei allen anderen Kunstdüngern
besteht. Das Reiben der Augen mit bestaubten
Fingern ist deshalb unbedingt zu unterlassen.
Weitere Vorschriften für die Verbraucher hat die
deutsche Verkaufsvereinigung für Stickstoffdünger
aufgestellt. Die großen Kalkst ickstoffabriken
wurden unter dem Druck der Kriegsverhältnisse
in Deutschland gegründet. In den Kreisen der
deutschen Landwirtschaft mehren sich ständig die
Stimmen, die sich gegen die Weiterverwendung
des Kalkstickstoffes nach Rückkehr normaler
Wirtschaftsverhältnisse kräftig verwahren.
(g. c.) Fehlinger.
Über Vergiftung durch Muskatnuß berichtet
Dr. Beck in der Münch. med. Wochenschr,
(Bd. 61, H. 16). Zwei Fälle, die er im Städtischen
Krankenhause zu Stuttgart-Cannstatt zu beobachten
Gelegenheit hatte, betrafen kräftig gebaute Dienst-
mädchen im Alter von 20 und 21 Jahren. Beide
hatten sich aus einem halben Liter heißen Weins,
zwei zerriebenen Muskatnüssen und einer Messer-
spitze Zimmt ein Getränk bereitet und, die erstere
zur größeren Hälfte, ausgetrunken. Bei ihrer Ein-
lieferung waren beide bewußtlos. Das Gesicht
war stark gerötet, auf Anrufen reagierten sie nicht.
Die Atmung war regelmäßig, der Puls sehr
schwach, 95 bzw. 85 Schläge in der Minute. Die
Pupillen waren mittelweit und reagierten auf
Lichtreiz. Am Abend stieg der Puls bei der
ersten Patientin, die die größere Menge zu sich
genommen hatte, auf 120 Schläge, die Temperatur,
die bei der Einlieferung 37,8 betrug, auf 38".
Am folgenden Tage sank der Puls auf 90 Schläge
und wurde voller. Am dritten Tage reagierte sie
gelegentlich auf Anruf, und erst am fünften Tage
war das Bewußtsein völlig klar, nur leichte Kopf-
schmerzen waren zurückgeblieben. Bei der zweiten
Patientin kehrte das Bewußtsein schon am zweiten
Tage teilweise zurück. Am dritten war es wieder
klar. Beschwerden waren hier nicht zurückge-
blieben.
Nach ihrer Herstellung gaben beide Patientinnen
an, daß sich kurz nach dem Trinken Atemnot,
Gedächtnisschwäche, Schwindel und Schläfrigkeit
eingestellt hätten. Bei der ersten ging der Schlaf
in Bewußtlosigkeit über, während die zweite am
Morgen mit schwerem Kopfe erwachte, nach dem
Aufstehen aber plötzlich taumelte und das Be-
wußtsein verlor.
Vergiftungsfälle durch Muskatnuß sind bisher
wenige gemeldet, tödlicher Ausgang derselben
beim Menschen wohl noch nicht beobachtet worden,
obwohl in einem der bekanntgegebenen Pralle
fünf Nüsse eingenommen wurden. Ihre Giftigkeit
wird zurückgeführt auf ätherische Öle, die sie
enthalten, und die, ebenso wie z. B. bei Thuja
(Lebensbaum), Taxus (Eibe) und Juniperus sabina
(Sadebaum), in größeren Mengen genossen, giftig
wirken. (GTc.) Heycke.
Über den Wert und die Wirkungsdauer der
Choleraschutzimpfung berichtet Prof. Dr. Kaup-
München in der Münch. med. Wochenschr. (Bd. 63,
Nr. 30). Die Ansichten über den Wert der Schutz-
impfungen sind, selbst in Ärztekreisen, geteilt,
doch läßt sich ihre Bedeutung für die Cholera
nach den statistischen Angaben, die bisher vor-
liegen, kaum anzweifeln. Der gegenwärtige Krieg,
der durch die schlechten Wohnungs- usw. Ver-
hältnisse, die gewaltigen körperlichen Anstrengungen
bei gleichzeitiger Unterernährung den Seuchen den
Boden bereitet, hat in dieser Beziehung reiche
Gelegenheit zu Beobachtungen gegeben. Als nach
der großen Offensive des Jahres 191 5 die ver-
bündeten Armeen in die choleraverseuchten Ge-
biete Galiziens und Rußlands eindrangen, konnte
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
345
eine Berührung mit der verseuchten Bevölkerung
natürlich nicht vermieden werden. Auch in den
Gefangenenlagern fanden sich oft Seuchenherde.
Nach amtlichen Angaben sind im Sommer und
Herbst 191 5 viele Tausende von Zivilpersonen in
Gaiizien an Cholera erkrankt. Trotzdem blieb die
Zahl der Erkrankungen in der Armee verhältnis-
mäßig gering. Bei einem Truppenteil in einer
stark verseuchten Gegend, bei dem die Schutz-
impfung 3 — 4 Wochen zurücklag, traten einige
Krankheitsfälle auf. Die Neuerkrankungen hörten
aber bald auf, ohne daß Nachimpfung erfolgt
wäre, und trotz der unverminderten Ansteckungs-
gefahr seitens der Bevölkerung. Von einer Brigade
auf demselben Kriegsschauplatze wird berichtet,
daß täglich etwa 15—20 Erkrankungs- und 3—4
Todesfälle vorkamen. Nachforschungen ergaben,
daß es sich dabei um Mannschaften handelte, die
zum Teil noch nicht geimpft waren. Zweimalige
Schutzimpfung hatte ein sofortiges Aufhören der
Krankheit zur Folge. Im Herbst 1914 traten in
einem Gefangenenlager in Ungarn zahlreiche
Choleraerkrankungen auf mit einer Sterblichkeit
von etwa 50%. Schleunigste Impfung der 30000
Gefangenen ergab nach 5 — 6 Tagen .'\bnehmen
und nach 8 Tagen vollständiges Aufhören der
Neuerkrankungen. Ähnliche Beobachtungen wurden
noch an vielen anderen Truppenteilen in den
verseuchten Gebieten, sowie in vielen Gefangenen-
lagern gemacht.
Wird so durch die Schutzimpfung die Zahl
der Erkrankungen wesentlich verringert, so ergibt
sich weiter auch bei den trotz der Impfung von
der Krankheit befallenen ein viel milderer Ver-
lauf derselben. Dagegen trat die Krankheit bei
den schon vor langer Zeit geimpften, bei denen
die Immunität schon erloschen war, besonders
schwer auf. Merkwürdig war auch die Beobach-
tung, daß unter den Geimpften eine große Zahl
von Vibrionenträgern war, d. h. von solchen,
die den Ansteckungsstoff in sich tragen, ohne
selbst krank zu sein. In einem Falle wurden fast
2 "/„ der Mannschaften als Vibrionenträger erkannt.
Bei einer Arbeiterabteilung auf dem serbischen
Kriegsschauplatze ergab die Untersuchung neben
13 Cholerakranken 20 gesunde Vibrionenträger.
Auch über die Sterblichkeit liegen Zahlen vor,
die allerdings sehr schwankend sind, aber doch
den günstigen Einfluß der Impfung deutlich er-
kennen lassen. So betrug bei einer Armee auf
dem russischen Kriegsschauplatze die Sterblichkeit
der geimpften Erkrankten etwa 8 "/g , während
gleichzeitig von der nicht geimpften Zivilbe-
völkerung etwa 60 % der Krankheit erlagen. Bei
einer anderen Armee betrug das Verhältnis etwa
20 : 30, noch andere geben das Verhältnis an mit
27:49 und 19:29. Das sind Zahlen aus dem
Felde; noch günstiger lauten die Berichte aus
festen Plätzen. In einer Festung Galiziens ver-
hielt sich die Sterblichkeit der Geimpften zu der
der Nichtgeimpften wie 6 : 22.
Die lange Dauer des Krieges hat auch die
Frage nach der Wirkungsdauer der Schutzimpfung
näher untersuchen lassen. Früher war in der
Regel eine Immunitätsdauer von 9—12 Monaten
angenommen worden. Die Erfahrung des Jahres
1915 hat aber gezeigt, daß diese Zeit noch zu
hoch gegriffen war. Im Frühjahr dieses Jahres,
mit Beginn der wärmeren Jahreszeit, häuften sich
unter den im Herbst vorher geimpften die Er-
krankungen bedeutend, so daß man jetzt die
Dauer der Immunität nur auf 3 — 5 Monate schätzt.
Von einer Armee wird berichtet, daß die Wirkung
bei einzelnen sehr geschwächten Personen schon
nach 3 — 4 Wochen erloschen war, während sonst
bei diesem Heeresteile erst 9 Monate nach der
Impfung Neuerkrankungen in größerer Zahl auf-
zutreten pflegten. Im allgemeinen wurde die Er-
fahrung gemacht, daß Schwächung des Körpers
durch Strapazen, ungenügende Ernährung, Krank-
heiten (besonders des Darmes) die Schutzdauer
stark herabsetzt , dagegen verlängert normale
Lebensweise(mäßige Anstrengung bei ausreichender
Ernährung) die Schutzfrist bis zu 6 Monaten.
Die Wirkung der Impfung besteht in der
Bildung von Schutzstoffen im Blut, die kurze Zeit
nach der Impfung einen hohen Grad von Immu-
nität hervorrufen, dann aber nach und nach in
ihrer Wirkung nachlassen. (g7c) Heycke.
Scheintod und Wiederbelebbarkeit behandelt
Dr. Kuhn in der Münch. med. Wochenschr.
(Bd. 61, Nr. 8). Über die Häufigkeit des Schein-
todes sind im Volke wie auch in der ärztlichen
Literatur übertriebene Angaben verbreitet. So
soll nach Köper (1799) etwa ein Drittel der
ganzen Menschheit lebendig begraben werden,
nach Hartmann (1896) sich das Verhältnis auf
1:200, nach Le Guern auf 1:500, nach
Lenormand auf 1:1000 stellen. Daß der
Scheintod schon im Altertum bekannt war, geht
daraus hervor, daß viele Völker die Leichen vor
der Bestattung erst längere Zeit aufbewahrten.
So begruben die Juden ihre Toten erst nach
3 Tagen, die Egypter nach 4, die Spartaner nicht
vor dem 10. Tage, die Römer warteten sogar
1 1 Tage, bis sie ihre Leichen verbrannten.
Um auf die Frage nach der Wiederbelebbarkeit
näher einzugehen, so kommt zunächst das Zentral-
nervensystem in Betracht. Von diesem ist das
Großhirn, da es den feinsten Bau hat, auch am
leichtesten zerstörbar. Über seine Wiederbelebung
herrschen daher — selbst in Ärztekreisen — sehr
pessimistische Ansichten. Meist wird die Grenze
der Wiederbelebbarkeit mit 10 — 15, höchstens
20 Minuten nach Stillstand des Herzens ange-
nommen, doch ist zu beachten, daß es sich hierbei
meist um Tod durch Unglücksfälle oder unter
der Hand des Chirurgen handelt; in letzterem
Falle spielt auch die Wirkung der Betäubungs-
mittel auf das Hirn eine Rolle. Daß auch das
Großhirn ziemlich widerstandsfähig sein kann, hat
ein Versuch von BrownSequard gezeigt, der
346
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
einen abgeschlagenen Hundekopf durch künst-
liche Blutzirkulation wieder ins Leben rief. Daß
Wiederbelebung auch nach längerer Zeit möglich
ist, zeigen vielfache Beobachtungen. So sind F'älle
bekannt, in denen Ertrunkene selbst Stunden
unter Wasser waren und doch wieder ins Leben
gerufen wurden. Dasselbe gilt von Erhängten.
Aus der Natur sind Beispiele dieses latenten
Lebens ja allgemein bekannt. So kann z. B. eine
ganze Reihe von Wassertieren (selbst Fische und
Frösche) ruhig einfrieren und lange Zeit in diesem
Zustande, in dem also keine Spur von Leben
mehr zu entdecken ist, verbleiben. Nach dem
Auftauen sind diese Tiere doch wieder munter
wie vorher.
Eine Erklärung für diese Wiederbelebung des
Großhirns längere Zeit nach Stillstand des Herzens
können wir in dem Umstände finden, daß die
lebende Zelle vermöge ihrer Anpassungsfähigkeit
imstande ist, sich auch an den geringsten Stoff-
wechsel zu gewöhnen (wie wir es ja auch bei
den Tieren während des Winterschlafes beob-
achten). In dieser Beziehung wird eine gesunde
Zelle einer geschwächten natürlich überlegen sein,
das Kind also dem älteren Erwachsenen, ein gut
genährter Körper dem erschöpften usw.
Das zweite Hauptorgan , das bei der Frage
nach der Wiederbelebbarkeit in Betracht kommt,
ist das Herz. Seine Tätigkeit können wir nicht
willkürlich beeinflussen. Es ist also vom Groß-
hirn unabhängig und hat sein eigenes Nerven-
system. Es ist das Organ , das den höchsten
Grad von Wiederbelebbarkeit besitzt, wie sogar
an solchen Säugetierherzen nachgewiesen ist, die
aus dem Körper herausgeschnitten waren. Ein
Durchströmen des Herzens, sei es mit Blut, sei
es auch nur mit einer anderen Flüssigkeit, genügt
oft, es zu neuer Tätigkeit anzuregen. Schon ein
mechanischer Reiz ist oft imstande, diese Wirkung
hervorzurufen, daher gilt schon seit Jahrzehnten
bei den Ärzten Beklopfen des Herzens als eins
der Hauptmittel zu seiner Belebung. Günstiger
noch wirkt eine methodische Massage des Herzens.
Es wurden hierdurch noch Erfolge bis zu
1V2 Stunden nach dem Tode erzielt, doch ist
nicht zu vergessen, daß es sich hierbei nur um
eine Belebung des Herzens, nicht des ganzen
Körpers handelte.
Als drittes Organ kommt die Lunge in Be-
tracht. Sie dient zur Versorgung des Blutes mit
Sauerstoff und zur Ausscheidung der gasförmigen
Stoffwechselprodukte. Durch Ventilation der
Lunge, also künstliche Atmung, kann man die
Zellen also am sichersten und schnellsten von
den im Blute aufgespeicherten Giftstoffen, be-
sonders der Kohlensäure befreien.
Alles in allem genommen ist die Wieder-
belebung Verstorbener, da zuviel Punkte dabei
ins Auge gefaßt werden müssen, eine sehr schwierige
Kunst, die oft auf viele Stunden ausgedehnt werden
muß. Auszuschließen sind vorläufig wohl alle
Fälle natürlichen Todes. Mehr Aussicht auf Er-
folg haben Erstickungsfälle und der Tod durch
elektrische Ströme. Bei der Wahl der Mittel
kommt es weniger darauf an, welches Mittel an-
gewandt wird , sondern wie es angewandt wird,
da Ausdauer hierbei die Hauptsache ist. (G.C.)
Heycke.
Astronomie. Die periodischen Veränderungen
auf dem Mars teils auf Grund eigener langjähriger
Arbeiten, teils mit Heranziehung der Arbeiten
früherer Forscher, wie Terby, Jarry-Desloges,
behandelt Lau in den Astr. Nachr. Nr. 4878/79,
191 7. Er macht die bedeutungsvolle Neuerung,
alle Angaben nach Marsjahreszeiten zu machen,
und das Marsjahr in 12 Monate einzuteilen, von
denen im folgenden die Rede ist, wobei zu be-
denken ist, daß so ein Marsmonat 58 Tage lang
ist, und die 4 Jahreszeiten der Reihe nach 199,
183, 146, i59Tage. Der Zusammenhang zwischen
den Veränderungen und den Jahreszeiten tritt
dann um so besser hervor. In dem vorliegenden
ersten Artikel werden zunächst nur die Polar-
flecke und die mit ihnen zusammenhängenden
Sümpfe oder Moraste besprochen. Der nördliche
Polfleck ist im Frühjahr meist nur ein mattweißer,
sich ständig verändernder Schimmer, auch im
Winter ist er oft von einem zum anderen Tage
ganz verschwunden und bildet sich ebenso schnell
wieder, so daß wir bei diesen weißen Massen
nicht an unseren Polarschnee denken dürfen, es
sind entweder nur dünne Schichten , oder ein
Material wie Kohlensäure, das direkt vom festen
in den gasigen Zustand übergehen kann, oder ein
uns unbekanntes Material. Im Frühjahr scheint
der Fleck mehr eine Wolkenbank als eine Schnee-
masse zu sein, die im Juni verschwindet, um von
September an wieder sichtbar zu werden. Im
Frühjahr wird die nördliche Halbkugel von einer
Nebelwelle überflutet, über den ganzen Sommer
entstehen neue Nebelmassen, die nach dem Äquator
geführt werden, so daß der Fleck sich verbraucht.
Der südliche P~leck zeigt ein ähnliches Verhalten,
natürlich in um ein halbes Jahr verschobenen
Zeiten. Nur scheint er beständiger und massiver
zu sein, und scheint mehr eine Eismasse, was
vielleicht seinen Grund darin hat, daß der Nordpol
mitten in einer weiten Hochebene liegt, der
südliche aber am Boden eines Meeres. Im An-
schluß an diese Veränderungen treten nun in den
angrenzenden Gebieten viele Veränderungen auf,
sumpfige Stellen, deren Aussehen sich mit der
Jahreszeit stark ändert. Lau zeigt dies eingehend
an einer ganzen Anzahl von Fällen, die in dem
Original nachzulesen sind. In den Kanälen sieht
Lau Täler, Einbruchst eilen, die sehr breit sind,
sich bisweilen mit Nebel füllen, und dann ver-
schwinden, oder doppelt erscheinen, wenn der
Nebel sie nur in der Tiefe ausfüllt. Daß es sich
auf dem Mars überall um klimatologische Ver-
änderungen handelt, wird sofort klar, wenn man
das ganz gleichmäßige Verhalten der drei aus-
N. F. XVI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
347
gedehnten polaren Moraste betrachtet. Sie sind
im Dezember und Januar unsichtbar, erscheinen
im Februar, werden im März deutlicher, und im
April am dunkelsten. Im Mai hellen sie auf, im
Juni und Juli zerfallen sie in Seen und Kanäle
und im August und September verbleichen sie
zusehends, um im November zu verschwinden.
Sie sind offenbar im Winter unter einer dichten
Nebeldecke verschwunden, deren Bewegung die
Sichtbarkeit der Moraste bewirkt. Nun kommt
noch eins hinzu. Green hat 187S die bekannte
Teiraederhypothese aufgestellt, die nach ihm
von anderen angenommen und ausgebaut worden
ist. Danach muß eine erstarrte Kugel bei der
weiteren Abkühlung genähert die Tetraederform
annehmen, weil sich auf diese Weise die größte
Verkleinerung des Rauminhaltes am besten mit
der geringsten Verkleinerung der ja schon er-
starrten Kruste vereinigen läßt. Sieht man nun
die drei großen Moraste als Einsenkungen der
Marsoberfläche an, so findet sich in der Tat eine
recht gute Übereinstimmung mit der Tetraeder-
hypothese. Die drei Gebilde entsprechen den
drei Seiten der Figur, während die Grundfläche
dem großen Südpolarmeer entsprechen würde.
Das stimmt auch hinreichend, wie die Karte lehrt.
Es ergeben sich dann noch folgende Erwägungen.
Wie bei der Erde, so sind die Einsenkungen
natürlich gering im Vergleich mit der Abplattung,
aber doch sehr wichtig. Der nördliche Polfleck
kommt auf eine Hochebene zu liegen, deren ab-
fließendes Schmelzwasser sich in den drei Ein-
senkungen sammeln muß, weil es von der süd-
lichen Einsenkung durch die erhöhten Ränder
getrennt ist. Aus demselben Grunde aber muß
das Schmelzwasser auf der antarktischen Senke
dort verbleiben. Durch starke Einbrüche sind
freilich die erhöhten Ränder durchbrochen, wie
die großen Kanäle zeigen, und daher ist es kaum
möglich, die angenommenen Hochebenen an den
Spitzen des Tetraeders nachzuweisen, während
die 4 Senken sich deutlich kundgeben. Leider
kennen wir am Monde nur die eine Seite, aber
Lau meint, daß sich doch auch hier gewisse
Analogien nachweisen ließen, die für die Wahr-
scheinlichkeit der Tetraederhypothese sprechen.
Riem.
Bücherbesprechuiigen.
^A^arming-Gräb^er , Lehrbuch der öko-
logischen Pflanzengeographie. Lie-
ferung 2-4. Berlin 1916, Gebr. Bornträger.
Im Gegensalz zur floristischen Pflanzen-
geographie, die sich damit begnügt, mit Hilfe
von Pflanzenlisten und Floren eine möglichst um-
fassende Beschreibung der Verteilung der Gewächse
über die Erdoberfläche auszuarbeiten, also einen
rein deskriptiven und inventarisierenden Charakter
hat, setzt die ökologische Pflanzengeographie das
ätiologische Prinzip an die Spitze, indem sie die
Beziehungen der Pflanzen zu ihrer Umgebung be-
tont und ihr Aussehen und ihre Lebensweise,
ihre Verbreitung und ihren Zusammenschluß zu
kleineren und größeren pflanzengeographischen
Einheiten sowie die sich aus alledem ergebende
Physiognomie der Vegetationen als Ausdruck,
Korrelat der Umgebung zu verstehen sucht. Sie
bedient sich mithin in weitgehendem Maße physio-
logischer Hilfsmittel, stellt geradezu in gewisser
Hinseht eine Art angewandter Physiologie dar.
Die Grundlagen dieser vertieften Auffassung der
Pflanzengeographie wurden zu einem guten Teile
durch Warming seinerzeit in der ersten Auflage
seiner Pflanzengeographie gelegt. Die vorliegende
dritte Auflage, deren erste Lieferung wir früher
(vergl. Naturw. Wochenschr. Bd. XIV, S. 480) kurz
anzeigten, ist inzwischen bis zur 4. Lieferung ge-
diehen und gibt nunmehr einen ausreichenden
Eindruck von der neuen Gestalt des allgemein
bekannten und geschätzten Werkes. Es ist in
vieler Beziehung eine neue Gestalt, die uns ent-
gegentritt, dank der namentlich auch durch den
neuen Mitarbeiter Gräbner bewirkten Erweiterung
sowie der Vermehrung des Abbildungsmaterials.
Über die Anlage des Buches möge folgende ganz
kurze Übersicht unterrichten.
Nach allgemeinen Erörterungen und Begriffs-
bestimmungen wird zunächst festgelegt, was man
unter den „äußeren Bedingungen" des Pflanzen-
wuchses zu verstehen hat. Sie lassen sich unter
dem Schlagwort „Standort" zusammenfassen und
im einzelnen gliedern in die breitflächig wirkenden
klimatischen und in die mehr örtlich differenzierten
edaphischen Bedingungen, d. h. die des Bodens.
Erstere werden dann im einzelnen in ihrer Be-
deutung für das Leben der Pflanzen auf der Erd-
oberfläche gekennzeichnet : das ziemlich allgemein
und relativ auskömmlich zur Verfügung stehende
Licht, die mehr örtlich verteilte Wärme, die für
die Pflanzen ganz hervorragend bedeutungs-
vollen Faktoren der Luftfeuchtigkeit und der
Niederschläge, die ebenfalls sehr mannigfaltig sind,
und die Luftbewegung. In dem Abschnitt über
die edaphischen P'aktoren wird ein gedrängter
Abriß der Bodenkunde gegeben, der Boden also
geschildert in seiner chemischen und physikalischen
Beschaffenheit, dazu die Bodenluft, das Grund-
wasser, die Wasserbewegung, die Austrocknung,
Absorptionskraft, die Bodenwärme, die Mächtig-
keit der verschiedenen Bodenarten usw. Bei der
wichtigen Erörterung, ob die chemische oder die
physikalische Beschaffenheit von größerer ursäch-
licher Bedeutung in pflanzengeographischer Hin-
348
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
sieht sei, neigt VVarming (weniger Gräbner) bei
aller Betonung der Unmöglichkeit einer bündigen
Entscheidung dazu, den physikalischen Bedingungen
eine besonders einschneidende Wichtigkeit zuzu-
schreiben. Nachdem dann die ökologischen Wir-
kungen von Schnee- und Laubdecken, sowie die-
jenigen des lebenden Pflanzenteppichs selber
sowie ganz kurz die Tätigkeit von Tieren und
Pflanzen im Boden (Regenwürmern, Pilzen, Bak-
terien usw.) und ihre Rolle bei seiner Veränderung
und Aufbereitung dargestellt sind, wird das Wasser
als ein in vieler Hinsicht eigenartiger , Boden"
einer gesonderten Betrachtung unterzogen, die
wiederum nach den Momenten Licht, Wärme,
stoffliche Zusammensetzung, GasgehaU, Bewegung
gegliedert ist.
Hieran reiht sich ein wichtiger Abschnitt über
die „Lebensformen", d. h. die Pflanzentypen, die sich
durch die Eigenart der Lebensweise, den Kreislauf
ihrer Entwicklung, die Tracht usw. unterscheiden
lassen und die als die Elemente das bestimmen, was
man die Physiognomie einer Vegetation nennt.
Solcher pflanzengeographischer Elemente werden
in einer systematischen Tabelle 22 aufgestellt, die
hier mitgeteilt seien ; Schmarotzer und Ganzsapro-
phyten, Flechten, Wasserpflanzen, Muskoide Typen,
Lianen, einjährige, einjährig überwinternde, zwei-
jährige und nach mehreren Jahren nur einmal
blühende Pflanzen, ausdauernde Kräuter mit senk-
rechter Grundachse und aufrechten Langsprossen
und solche mit aufrechten Blattstauden, Rosetten-
stauden, grasartige Pflanzen, Halbsträucher, Polster-
pflanzen, Weichstämme, Stammsukkulenten, diko-
tyle Sträucher, monokotyle Sträucher, Wipfelbäume,
Schopfbäume und kriechende Pflanzen mit ober-
irdischer wagerechter Grundachse. Diese Typen
werden dann ganz kurz an Beispielen näher er-
läutert. Inwiefern sie nun weiter in Bau und
Lebensweise mit den Bedingungen der Umgebung
harmonieren, wird in einer gesonderten Betrachtung
auseinandergesetzt, die in allgemein- physiolo-
gischer Hinsicht die Wasserökonomie, die Durch-
lüftung etc. in ihren mannigfaltigen Formen
eingehend schildert, also einen Abriß einer
physiologischen oder ökologischen Anatomie und
Morphologie vorstellt.
Der folgende Abschnitt führt nun einen Schritt
weiter, indem er die Vereinigung von Pflanzen
untersucht, zunächst ganz allgemein die Wechsel-
beziehungen der Organismen überhaupt, dann die
Beziehungen zwischen Pflanzen und Tieren, weiter
den Parasitismus, den Epiphytismus, die Sapro-
phyten und die Lianen, um dann zu dem pflanzen-
geographisch besonders wichtigen Thema der
„Pflanzenvereine" überzuleiten. Auf der Basis des
Standortbegriffes werden in grundsätzlichen und
kritischen Erörterungen die verschiedenen Formen
der Gesellschaften, ihre Gliederung in Untergruppen
und letzte Einheiten präzisiert und abgegrenzt.
Schließlich werden dann in dem Abschnitt, inner-
halb dessen das 4. Heft abbricht, ausgeführte
Bilder einzelner Formationsserien entrollt, die
Formationen, die an salziges Wasser und salzigen
Boden und die an süßes Wasser gebunden sind,
die meso- und hygrophilen Formationen und die
Formationen der Torfböden. In allen Abschnitten
sind gute und zweckmäßig ausgewählte Ab-
bildungen eingestreut.
Der „ W arming-Gräbner" kann jedem, der
sich ernsthaft der in überaus reizvoller Weise das
Gesamtgebiet der Botanik umfassenden und be-
lebenden Wissenschaft der Pflanzengeographie
widmen will, durchaus empfohlen werden. Es ist
freilich keine leichte Lektüre und erfordert, wie
jedes gute Buch volle Hingabe. Wenn ich im
folgenden einige Notizen wiedergebe, die ich bei
der Lektüre niederschrieb, so sollen diese dem
unbestreitbaren Werte des Buches keinen Ab-
bruch tun.
Der allgemeine Teil und damit auch die mehr
speziellen Abschnitte würden an Straffheit, Ein-
heitlichkeit und auch vielfach an Tiefe gewonnen
haben, wenn die großen allgemeinen biologischen
Probleme noch mehr in den Vordergrund träten
und oft noch erschöpfender, namentlich auch von
ihren physiologischen Grundlagen aus analysiert
und pflanzengeographisch nutzbar gemacht worden
wären. Die große Kardinalfrage: wandelt die
Umwelt die Pflanzen direkt um, sind also die so
und so viel tausend Pflanzenformen das Züchtungs-
produkt ebensovieler in der Natur in diesem Be-
trachte möglicher Bedingungskonstellaiionen, oder
besiedelt die aus dunklem Grunde hervorquellende
Formenmannigfaltigkeit die Stellen der Erde, die
ihren Gliedern konform ist? hätte vielleicht irgend-
wo erörtert werden können. Das führt ohne
weiteres in ganz große theoretische Probleme
hinein. Aber auch bei speziellen Fragen würde
eine tiefere Analyse, die immer an physiologischen
Punkten anzuknüpfen hätte, fruchtbar sein. Ge-
rade hier ist manches nur angedeutet. Sehr er-
wünscht, ja an vielen Stellen des Buches geradezu
unerläßlich wäre eine ganz allgemeine Erörterung
über den Kreislauf der Stoffe, der Frage, woher
sie kommen , wohin sie gehen , namentlich des
wichtigen Stickstoffes; es ließe sich so z. B. die
Erörterung der allgemeinen Produktionsbedingungen
im Boden, besonders aber auch im Wasser noch
wesentlich vertiefen. — Der Abschnitt über Boden-
bakteriologie ist zweifellos zu dürftig, selbst wenn
man ihre Bedeutung nicht überschätzt. Die Ab-
nahme der Bakterien nach der Tiefe beruht nicht
allein auf der Filtrationswirkung des Bodens,
sondern vielmehr auf dem seinerseits wieder kom-
plexen Phänomen der Abnahme organischer Stoffe
nach der Tiefe zu. — Die Übertragung der
pflanzengeographischen Erörterungen auf die
mikroskopische Lebewelt, z. B. auf die Bakterien,
würde sehr reizvoll sein und ist auch wenigstens
in einigen Punkten möglich, da bereits theoretische
Ansätze dazu vorliegen. — Die Literatur ist etwas
einseitig herangezogen worden, die deutsche
kommt zweifellos etwas zu kurz dabei. Auch ist
bei der Zitierung der physiologischen Literatur
N. F. XVI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
349
eine gewisse Willkür nicht abzuleugnen. — Daß
die übliche Myrmekophilie - Theorie (wenn auch
ganz nebenbei) unbesehen hingenommen wird, ist
nicht zeitgemäß. — Auch der Epiphytismus ist
etwas herkömmlich behandelt, vor allem ohne
tiefergehende Analyse der Ernährungsbedingungen
der Epiphyten. — Die Windepflanzen legen sich
gewiß nicht in losen Windungen um die Stütze,
auch wäre die Bezeichnung „unselbständige
Pflanzen" für Lianen wohl irreführend, zum
mindesten mißverständlich. Clusia umschlingt
den Stützbaum nicht „durch Winden", wie es in
der Erklärung zu Abb. 51 heißt. — Unter den
Wurzelsymbiosen hätte wohl auch Alnus zum
wenigsten erwähnt werden sollen. Ob nicht über-
haupt, ähnlich wie ja die Flechten zu einem der
22 Typen erhoben sind, auch die übrigen regel-
mäßig symbiontischen Pflanzen zu einer Lebens-
form sich hätten vereinigen lassen ? Manche
Daten sprechen dafür, daß die symbiontischen
Systeme auch ganz bestimmte, höchst interessante
pflanzengeographische Beziehungen erkennen
lassen. Das gleiche gilt von derw Insektivoren,
die bisher noch gar nicht erwähnt sind. — Daß
die Azollaalgen frei leben können, ist bisher nicht
bewiesen, wahrscheinlich ist das Gegenteil der
Fall. — Ob das Sitzenbleiben der alten Blätter
wirklich ein Anpassungsmerkmal ist? — Mir
scheint, daß auch die auf stark oder ausschließlich
humosem Boden vorkommenden Pflanzen zu
einem besonderen pflanzengeographischen Typus
zusammengefaßt zu werden verdienten , einerlei
ob sie Chlorophyll haben, oder nicht. Man könnte
sie ganz gut als „Humikolen" bezeichnen.
Miehe.
Englands Kampf um den naturwissenschaft-
lichen Unterricht. Aus dem Englischen über-
tragen und eingeleitet vonProfDr.H. Groß mann.
Stuttgart 191 7, F. Enkc. — 3 M.
Im Bewußtsein der durch diesen ungeheuren
Krieg vorbereiteten Verschiebung der Ideale und
Ziele auf den verschiedensten Gebieten hat man
bei uns neuerdings auch wieder die Frage der
Erziehungsideale in den Vordergrund gerückt.
So sind von verschiedenen Universitäten Kund-
gebungen hinausgegangen, die für die humanistische
Bildung als die beste Grundlage der modernen
Erziehung eingetreten sind. Auch das hochkonser-
vative England hat, aufgerüttelt durch die Er-
fahrungen des Krieges, Erziehungsfragen mit höchst
bemerkenswerter Energie einer erneuten Prüfung
unterzogen, nachdem ähnliche frühere Versuche
nur schwächliche oder überhaupt keine Ergebnisse
gezeitigt hatten. Vor etwa einem Jahre fanden
unter dem Vorsitz von Lord Raileigh in der
Versammlung der Linnegesellschaft Verhandlungen
über Unterrichtsfragen statt, nachdem die Öffent-
lichkeit durch die Presse und die Gelehrten,
Pädagogen und Industriellen noch besonders durch
ein Rundschreiben über die Ziele der neuen Be-
wegung aufgeklärt worden waren. Charakte-
ristischerweise ist es aber nicht das klassische
Bildungsideal, das sich bedroht fühlt von selten
des naturwissenschaftlichen, sondern umgekehrt:
man macht mit höchstem Nachdruck auf die
schweren Gefahren aufmerksam, die der Nation
aus der Vernachlässigung der Naturwissenschaften
erwachsen, und fordert, daß die geistigen Führer,
die Beamten, die Offiziere, die Fabrik- und Kauf-
herren, ja auch z. T. die Minister eine bessere
naturwissenschaftliche Ausbildung erhalten und
überhaupt die Naturwissenschaften aus der Asche,
in der sie ein aschenbrödelariiges unbeachtetes,
ja verachtetes Dasein gefristet hatten, zu Ehren
und Ansehen emporgeführt werden müßten. Die
kurzen Ausführungen der zahlreichen Redner, zu
denen auch Vertreter der Geisteswissenschaften,
ja auch etliche leitende Männer der klassischen
Hochburgen Oxford und Cambridge gehörten,
sind auch für uns aus verschiedenen Gründen
außerordentlich interessant. Sie geben uns einmal
ein Bild von den Zuständen, wie sie auf englischen
Universitäten und anderen Schulen herrschen, ent-
halten aber andererseits auch manche zu eigenem
Nachdenken auffordernde Bemerkung, die uns
in unseren Zielen bestärken oder aber auch An-
regungen geben können. Die Verhältnisse liegen
ja bei uns sehr viel günstiger; das meiste, was
dem Engländer als Ideal vorschwebt und auf das
er, wenn auch oft nur widerwillig oder zwischen
den Worten in deutlichem Hinblick auf Deutsch-
land hinweist, ist in unserem Lande schon seit
geraumer Zeit erreicht. Aber auch bei uns wird,
wenn auch die Gefahr einer unerwünschten Ver-
schiebung von der anderen Seite droht, stets der
Gedanke der harmonischen Bildung, den auch die
englischen Redner vielfach zum Ausdruck bringen,
vor krassen Nützlichkeitserwägungen nicht ver-
dunkelt werden dürfen. Kommt doch gar dieser
Gegensatz schon innerhalb der Naturwissenschaften
selber zum Vorschein 1 Der hohe formale und
moralische Wert der klassischen, literarischen und
historischen (und nicht zum wenigsten, möchten
wir noch hinzufügen, der „reinen" naturwissen-
schaftlichen) Bildung darf nicht leichtsinnig aufs
Spiel gesetzt werden. „Wenn auch das gegen-
wärtige System", so haben englische Schriftsteller
gesagt, „keinen anderen Vorteil gezeitigt hat, als
daß es zum mindesten unserere Jugend gelehrt
hat, wie sie sterben muß, so ist das doch ein
Vorteil." Aber Sir Edward Schaeffer, der diese
Stimmen registriert, fügt noch hinzu, daß es von
gleicher oder vielleicht noch von höherer Bedeutung
sei, zu wissen, wie man in der Welt, die einen
umgibt, am besten leben solle. Dazu sei, das
ist der stets wiederkehrende Grundgedanke aller
Redner, eine gründliche naturwissenschaftliche
Bildung eine unumgängliche Notwendigkeit. Es
ist ein Verdienst des Verlages wie des Übersetzers,
diese interessanten Dokumente zur Erziehungsfrage
dem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu
haben. Miehe.
3SO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
Becher, Erich, Prof. Dr., Die fremddien-
liche Zweckmäßigkeit der Pflanzen-
gallen und die Hypothese eines iiber-
individuellen Seelischen. Leipzig 1917,
Veit & Co.
Der an der Münchener Universität wirkende
Philosoph, der auch in naturwissenschaftlichen
Kreisen durch seine „Naturphilosophie" bekannt
ist, greift in diesem Bändchen wiederum das
Zweckmäßigkeitsproblem an, das wichtigste, aber
auch schwierigste Problem der theoretischen
Biologie. Er nähert sich ihm diesmal von einer
besonderen Seite, indem er nämlich solche zweck-
mäßigen Strukturen und Einrichtungen einer
biologischen und philosophisch-kritischen Analyse
unterzieht, die nicht dem betreffenden Individuum
nützlich sind, sondern ausschließlich einem einer
anderen Art frommen. Er führt für solche
Zweckmäßigkeiten den glücklichen Terminus
„fremddienliche" ein und bezeichnet im Gegensatz
dazu als artdienliche die, welche zwar nicht dem
Individuum selbst, aber doch der Art dienen, und
als selbstdienliche schließlich solche, die dem
Träger der zweckmäßigen Anpassungen selbst zu-
gute kommen. Als Beispiel für fremddienliche
Zweckmäßigkeit wählt er nun die Gallen und
berührt damit ein biologisches Fragstück von
höchstem Interesse, das gewiß jedem, der ihm
nachdenklich entgegengetreten ist, schon viel
Kopfzerbrechen gemacht hat, das aber, wie Verf.
ganz recht betont, bisher von der spekulativen
Biologie noch nicht seiner grundlegenden Be-
deutung entsprechend gewürdigt und ausgebeutet
worden ist. An der Hand der botanischen F'ach-
literatur, die er mit einer anerkennenswerten Kritik
und Umsicht benutzt, schildert er zunächst an
Beispielen die verschiedenen Typen von Gallen,
indem er überall die Frage der Fremddienlichkeit
herausarbeitet. Er kommt dabei zu dem Schlüsse,
daß zwar bei manchen der einfacheren Gallen-
typen Struktur und Form der Galle aus gewissen
allgemeinen Reaktionsfähigkeiten der Pflanze
heraus erklärt und somit als Zwangsbildungen
aufgefaßt werden könnten, die auf den Reiz des
Parasiten ausgelöst werden, daß aber die höchst-
entwickelten Gallen so viel spezifische, äußerst
sinnreiche und ausschließlich dem Parasiten nütz-
liche Einrichtungen anatomischer und morpho-
logischer Art zeigen, daß hier eine auf besonderer
Anpassung beruhende, aktive Bildungstätigkeit der
Pflanze zum Ausdruck komme, die man nur als
fremddienlich bezeichnen könne. Wie kann man
sich nun aber das Zustandekommen solcher Zweck-
mäßigkeiten vorstellen r fragt Verf. weiter, der als
Philosoph nicht an der Schranke halt macht, die
der Naturforscher mit traditioneller Resignation
schlechtweg konstatiert, sondern kühn darüber
hinaus in sein eigenstes Element dringt. Als
Vertreter eines Psycholamarckismus von der Be-
deutung seelischer Faktoren bei organischen Vor-
gängen durchdrungen, kommt Becher, nachdem
er kurz die vitalistischen Systeme Schopen-
hauer's, v. Hartm ann's, Driesch's, Berg-
son's, Reinke's an dem Gallenproblem mißt,
auch selber zu der Annahme eines über das
Individuum hinausgreifenden , allverbindenden
seelischen Bindemittels. In einem supraindivi-
duellen, gemeinsamen Wesensgrunde wurzelt
Wirtspflanze wie Parasit, der Altruismus jener
erschiene damit verständlich. Allerdings muß
dann der Verf weiterhin diesen höchst intelligenten
VVeltgrund gegen die Einwände und Anklagen
verteidigen, die ihm aus den in der Natur vor-
kommenden Disharmonien, Unzweckmäßigkeiten
erwachsen. Er sucht diesen uralten Widerspruch
dadurch zu überwinden, daß er annimmt, das
überindividuelle Seelenwesen ragt mit kleinen
Teilen in die Individuen hinein, gibt gewisser-
maßen sehr kleine Mengen psychischer Fermente
ab, die als individuelle Seelenfaktoren die Indi-
viduen zweckmäßig beeinflussen. Diese gestatteten
sich aber allerlei kleine Eigensinnigkeiten, Sonder-
bestrebungen und Dummheiten, doch käme
bei allen höheren biologischen Zweckzusammen-
hängen das intelligente überindividuelle Seelen-
wesen zu reiner Wirkung. Das läßt sich hier
nicht mit wenigen Worten wiedergeben und möge
im Original nachgelesen werden. Hier wollen
wir nur zum Schluß die Frage aufwerfen, ob der
Verf wirklich genötigt ist, in der zweckmäßigen
Einrichtung der hochentwickelten Gallen eine
reine Fremddienlichkeit zu erblicken.
Schon an verschiedenen Stellen des Buches
drängt sich dem Leser eine Auffassung auf, die
er dann auch von dem Verfasser erörtert, aber
abgewiesen findet. Seinem Scharfsinn ist die
folgende Erklärungsmöglichkeit nicht verborgen
geblieben. Wäre es denn nicht denkbar, daß die
Gallenzweckmäßigkeit rein auf das Konto des
Parasiten zu setzen sei, der die Organisationen
im Wirtskörper hervorruft, die den Zwecken
seiner Art dienlich sind? Wäre nicht die Phylo-
genese der Gallen der Ausdruck, das Korrelat
eines in Wahrheit beim Parasiten verlaufenen
Selektionsprozesses, der zur Ausbildung eines
äußerst feinen Verwundungs-, Sekretionsmecha-
nismus oder wie man sonst den ganzen Komplex
von Einwirkungen des Insekts auf den Wirt
nennen will, führte? Wir wissen nun allerdings
gerade über die Art der Einwirkung des Parasiten
gar nichts genaues, können uns aber recht gut,
namentlich chemische Beeinflussungen von der
gedachten Art vorstellen. Nun dürfen dies aller-
dings nicht Entwicklungsreize schlechtweg sein,
die im Gewebe des Wirtes örtlich vorhandene
Bildungsmöglichkeiten (Überwallungen, Wuche-
rungen usw.) anregen oder den Anstoß geben
zu strukturellen Leistungen komplizierterer Art,
die zwar in den allgemeinen Fähigkeiten des
Wirtes schlummern, aber erst auf diesen Anreiz
hin, wenn auch in verschobener, ungeordneter
Form zum Vorschein kommen. Denn damit
lassen sich, wie Verf. ganz recht sagt, die höchsten
Gallentypen nicht erklären. Für sie fordert er
N. F. XVI. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
351
eine besondere Potenz, oder, wie wir in der
Sprache der Vererbungslehre besser sagen würden,
Anlagen im Erbplasma der Pflanzen, und dieser
latente Anlageiikomplex wäre dann ein fremd-
dienlicher, unterläge also nicht der Einwirkung
des Parasiten, wenn er auch natürlich erst auf
seinen Anreiz in der Ausbildung der Galle zur
Wirksamkeit käme. Es würde sich also fragen,
ob wir gezwungen sind, für die Ausbildung, sagen
wir, einer Deckelgalle schon im Erbplasma der
Wirtspflanze die entsprechenden Anlagen, Gene,
anzunehmen, oder ob wir uns durch eine andere
Annahme helfen können. Da scheint mir nun
die folgende möglich zu sein. Das Insekt bringt
durch die Wunde einen Stoff ganz besonderer
Art in das Gewebe des Wirtes, resp. die sich
entwickelnde Larve scheidet einen solchen ab.
Er verteilt sich in einer Anzahl von Protoplasten,
wirkt hier aber nicht einfach als Enlwicklungs-
katalysator, sondern baut sich in das Plasma ein
und wirkt mit ihm organisch fort, die weiteren
Entwicklungsvorgänge milbestimmend und leitend.
Dabei müßten wir dann sogleich die weitere
Annahme machen, daß entweder dieser Stoff
selber die P'ähigkeit besäße, sich nach der Weise
lebendiger Assimiiationsvorgänge aus den ihm zur
Verfügung stehenden plasmatischen Baustoffen zu
vermehren, also zu wachsen , oder daß ein sich
etwa aus ihm und Plasmabestandteilen der Wirts-
zelle herausbildendes Produkt die Fähigkeit des
Wachstums besitzt. So würde der Ausgang für
die Galle ein Zellenkomplex sein, dessen einzelne
Zellen nicht mehr das reine Erbplasma der übrigen
Körperzellen besitzen, sondern ein solches, das
durch den Eintritt einer fremden, vermehrungs-
fähigen Substanz verändert ist; die Zellen der
Galle enthalten nicht mehr reines Wirtsplasma,
sondern eben Gallenplasma. Freilich kennen wir
ähnliche Einwirkungen bisher noch nicht, das
Problem selber aber, durch experimentelle Appli-
zierung bestimmter Stoffe mutativ auf das Plasma
zu wirken, gehört durchaus in den Ideenbereich
der experimentellen Vererbungslehre. Sie arbeitete
allerdings bisher mit wesentlich gröberen Mitteln
als der sechsbeinige Experimentator, der wohl
Eiweißstoffe ganz besonderer Art anwendet. Un-
geheuer feine Stoffe gewiß, mit deren Mischung
wir aber ganz gut die äonenlange Apotheker-
tätigkeit der Selektion belasten können, deren
hohe Zusammengesetztheit jedenfalls nicht wunder-
barer wäre, als die vieler anderer, anatomisch oder
morphologisch besser faßbarer, d. h. genauer be-
schreibbarer Anpassungen der Organismen. Ob
sich die Sache wirklich so verhält, wie wir es
andeuteten, oder nicht, denkunmöglich ist obige
Annahme nicht und damit würde auch ein
zwingender Anlaß wegfallen, die Gallen als fremd-
dienliche Einrichtungen auffassen zu müssen.
Die Becher 'sehe Schrift, deren Studium sehr
anregend ist, scheint uns insofern ein erfreuliches
Ereignis, als in ihr der Versuch zum Ausdruck
kommt, die Philosophie wieder in engere Beziehung
nicht nur zu einzelnen Wissenschaften, sondern
auch zu Teilproblemen innerhalb derselben zu
bringen. Dadurch, daß sie wieder gewissermaßen
in die Arena tritt, wird sie sich einen guten Teil
des Einflusses und der allgemeineren Beachtung
zurückerobern, den sie in ihrer erhabenen Selbst-
genügsamkeit einbüßte. Es gibt überall in den
Naturwissenschaften Probleme, die der Forscher
in bewußter Resignation, oft aber auch nur unter
dem suggestiven Druck einer aligemein verbreiteten
Geringschätzung philosophischer Ausgestaltungs-
versuche nur bis zu einem gewissen Punkte durch-
denkt. Und über solche Punkte sich von dem
weiterdenkenden Philosophen eine Wegstrecke
lang hinausführen zu lassen, ist manchem ein
Bedürfnis und immer eine reizvolle Anregung.
Miehe.
Steinmann, G., Prof. Dr., Die Eiszeit und
der vorgeschichtliche Mensch. 2. ver-
mehrte und verbesserte Auflage. Mit 24 Text-
abbildungen. Leipzig und Berlin 1917, B. G.
Teubner. — 1,25 M.
Das kleine Bändchen schildert in sehr klarer
Form und in jener straften, energisch fortschrei-
tenden Diktion , wie sie nur dem Meister des
Stoffes zu Gebote steht, jene höchst merkwürdigen
Epochen der Erdgeschichte, die in besonderem
Maße das jetzige Antlitz der Landschaft beeinflußt
haben. ' Einen besonderen Reiz erhält die Dar-
stellung durch die Art und Weise, wie der Verf.
den Menschen aus diesem geologischen Milieu
hervorwachsen läßt, als neuen unerhörten Faktor
in der Natur, der in immer steigendem Maße bis
auf den heutigen Tag in den Kreis eingreift, aus
dem er doch selber hervorging. Dies besonders
gelungene Bändchen der Teubnersammlung ver-
dient eine nachdrückliche Empfehlung. Miehe.
Anregungen und Antworten.
Zu dem Aufsatze von Prof. Dr. Killermann über
Alraun (Mandragora), in Nr. II, S. I377^^^Der gelehrte
und kenntnisreiche Verf. des genannten Aufsatzes , dessen
Arbeiten jeder, der sich für die Geschichte der Kulturpflanzen
und die Beziehungen zwischen Pflanzenwelt und Vorstellungs-
welt des Menschen interessiert, so mannigfache Belehrung und
Anregung verdankt, möge mir den Hinweis gestalten, dafi er
.in seiner MiUeilung die Aufsätze des Altmeisters der Floristik,
P. Ascherson's, nicht erwähnt hat, die sich mit demselben
Thema befassen ; sie waren ihm wohl nicht bekannt.
Ascherson, der sich, wie bekannt, gern und wiederholt
mit folkloristischen Fragen beschäftigte, hat die Mandragora
wohl zuerst in seiner .Arbeit über das Vorkommen der
Scopolia carniolica Jacq. in Ostpreußen (Sitzungsber.
d. Gesellsch. Naturf. Freunde Berlin, 1890, Nr. 1, S. 59 fT.)
352
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 25
berührt; ausführlicher hat er über Alraune und jene Solanaceen-
Gattung in den Verhandl. Beilin. anthropol. Gesellsch. 1891,
S. 729 (Zeitschr. f. Ethnologie XXUI) gehandelt; schließlich
dann noch in einem in den Bericht. Pharmaceut. Gesellsch.
1892, S. 45 — 48, abgedruckten Vortrage über Mandragora.
In diesen Aufsätzen Ascherson's sind teilweise bereits viele
der älteren Literaturstellen ausführlich besprochen, von denen
uns auch Killermann berichtet; so z. B. die Deutung der
Bilder des Codex Neapolitanus des Dioscorides, die seltsame
Stelle aus Josephus Bellum Judaicum u. a. ; anderes dagegen
erfahren wir erst durch Killermann genauer, wie besonders
eine Anzahl von Angaben aus der Literatur des Mittelalters
(z. B. die der Hildegard und des Albertus Magnus).
Ascherson äußert die Meinung, daß der Name Mandra-
goras des Theophrast wohl unsere Belladonna bedeutet
habe; der Name selbst stammt nach ihm nicht aus dem
Griechischen, sondern vermutlich aus der Sprache eines alten
arischen Kulturvolkes in Kleinasien, wo noch heute der aber-
gläubische Geljrauch der Wurzel seinen Hauptsitz hat. Das
Mittelalter bei uns in Mitteleuropa hat nach Ascherson
schwerlich jemals wirkliche Mandragorawurzeln gekannt, wie
sie im Orient in grotesker Menschenähnlichkeit von eigenen
Künstlern durch geschickt angebrachte Einschnitte, Um-
schnüren mit Bindfaden usw. und nachheriges Wiedereingraben,
um die Spuren dieser Eingriffe verharschen zu lassen, noch
heute zugerichtet werden. Der bekannte Anthropologe von
Luschan hat solche Alraune auf seinen Reisen in Kleinasien
und Syrien mehrfach erworben und über sie berichtet (Zeitschr.
f. Ethnologie XXIII, 1S91, S. 726). Die europäischen Alraune
zeigen (nach Ascherson) mit den orientalischen nicht die
geringste Ähnlichkeit; nach den Angaben der Patres der
Botanik wurden sie meist aus Rhizomen von Phragmites
und Wurzeln von Bryonia, der Zaunrübe, geschnitzt, welchen
letzteren man an den geeigneten Stellen durch eingestopfte
Gersten- oder Hirsekörner, die man in der feuchten Erde, in
die man die Artefakte wieder eingrub, keimen ließ, sogar
einen ziemlich natürlich aussehenden Haarwuchs verschaffte.
Unter den seltenen in einigen Museen aufbewahrten Exemplaren
abendländischer Alraune sind mehrere, wie z. B. die berühmten,
aus den Sammlungen des Kaisers Rudolf II. stammenden der
Wiener Hofbibliothek , aus den Rhizomen von AUium
V i c t o r i a 1 i s (AUermannsharnisch) hergestellt, denen das Volk
noch heute vielfach geheime Kräfte zuschreibt und die des-
halb in den Apotheken stets guten Absatz finden sollen.
Killermann erwähnt 1. c. S. 144 auch die Alraune
Rudolf 's II., setzt sie aber in Beziehung zur Mandragora,
während sie nach A. v. Perger von Allium Victorialis
stammen; darüber vgl. R. Beyer in Zeitschr. f. Ethnologie
XXUI., 1891, S. 738, wo alle wichtigeren Angaben über
abendländische Alraune übersichtlich zusammengestellt sind.
Cbrigens hat schon H. Marzell in seinem auch von K.
genannten Aufsatze über Zauberpflanzen (Naturw. Wochenschr.
1909, .'^. 163) auf dieses und andere mitteleuropäische Ersatz-
mittel für die echte Mandragora hingewiesen. Aus Beyer's
Mitteilungen ersieht man, daß noch jetzt das genannte Allium
in der Volksmedizin, zum Verrufen des Viehs oder als Aphro-
disiacum, eine Rolle spielt, z. B. in Hinterpommern. Es sei
auch daran erinnert, daß Johannes Trojan, der bekannte
Dichter und Botaniker, einmal in dem Berliner Warenhaus
A. Wertheim einen Glücks-Alraun für 2,25 Mark eistand, in
einem kleinen Medaillon bestehend , in dem sich unter Glas
drei Stückchen eines bräunlichen Pflanzengewebes befanden,
die nach Ascherson von Allium Victorialis und der
ebenfalls Inder Volksmedizin eine Rolle spielenden S i e g w u r z ,
Gladiolus communis, stammten (Trojan: „Aus dem Reich
der Flora", S. 158). KiUermann's Angabe, daß Dürer
einen Alraunapfel von Mandragora deutlich abbildet, steht in
einem gewissen Gegensatz zu der von Ascherson vertretenen
Meinung, man habe damals die echten Alraune, aus den
Wurzeln jener Pflanze gefertigt, bei uns kaum je gehabt; in-
dessen erwähnt K. doch auch, daß nach Lobelius die
Pflanze in verschiedenen Gärten des südlichen Europa, ja in
England kultiviert worden sei.
Zum Schlüsse schreibt K. : „Die östlichen Länder Europas
(Walachei, Südrufiland) sollen noch Gegenden sein, wo der
Mandragorakult in Blüte steht." Dazu sei bemerkt, daß es
sich in diesen Gebieten nach Ascherson offenbar um die
verwandte Solanacee Scopolia c a r n i o 1 i c a Jacq. handelt;
H. Marzell (a. a. O. 163) gibt dies auch an. Diese im
Karpathcn- und östlichsten .Mpengebict, von Wolhynien und
Kiew bis Krain, nördlich bis Krakau verbreitete Pflanze findet
sich nicht nur in Siebenbürgen und Galizien, sondern auch in
Oberschlesien, und wie Abr omei t festgestellt hat, im litauischen
Teile Ostpreußens und selbst in Kurland in Bauerngärten, wo
ihre arzneilichen und toxischen Kräfte wohl bekannt sind.
In Siebenbürgen gilt sie auch als Liebeszauber. Der rumä-
nische Name „matragun", den sie in letzterem Lande und
der Moldau, wie auch die nahe verwandte Belladonna führt,
deutet darauf hin, daß sich diese Verwendung der wirklichen
und vermeintlichen Kräfte der Scopolia an die gleiche der
Mandragora anlehnt, und vielleicht schon in vorchristlicher,
spätestens aber in byzantinischer Zeit in den östlichen
Karpathenländern stattgefunden hat, von wo aus sie sich,
jedenfalls ohne die Vermittelung deutscher Kultur, bis an die
Gestade der Ostsee verbreitet hat (.ascherson in Bericht,
pharmac. Gesellsch. 1892, S. 47). — Bei Shakespeare
finden sich außer der von K. S. 144 erwähnten Stelle noch
mehrere andere Hinweise auf Mandragora; so z. B. Antonius
und Cleopatra (Akt 1, Scene 5), wo Cleopatra sagt:
Gib mir Mandragora zu trinken.
Daß ich die große Kluft der Zeit durchschlafe.
Wo mein Antonius fort ist 1
Auch die Sage, wonach die Alraunwurzel schreit, wenn man
sie aus der Erde reißt, war Shakespeare bekannt (Ascherson
in Sitzungsber. Anthropol. Ges. 1S91, S. 733; vgl. H. Marzell
a. a. O. 162). — K. übersetzt den Beginn der betrefi'enden Stelle
bei Dioscorides so: ,,Die Mandragora ... ist zweige-
schlechtlich." Im latein. Text heißt es: „duo eius genera".
Das Wort ,, zweigeschlechtlich" im heutigen Sinne bedeutet
aber etwas ganz anderes, als das, was der lateinische Über-
setzer des Dioscorides meinte, der an getrennte Geschlechter
einer und derselben Art wohl nicht dachte, wie auch aus
anderen Stellen hervorgeht, wo das Wort „genus" vorkommt ;
,,genus" bedeutet dort nichts anderes als im heuligen Sinne
Galtung oder Art. Man müßte also etwa sagen: ,,Von der
Mandragora gibt es zwei Arten". In der damaligen
Zeit waren die Begriffe Gattung und Art noch nicht deutlich
geschieden. H. Harms.
Inhalt: Hermann Kadestock, Fernwetterprophezeiung. S. 337. — Einzelbelichte: Widar Brenner, Selenbakterien.
S. 340. W. von Buddenbrock, Welchen Zweck die sog. Schwingkölbchen der zweiflügeligen Insekten (Dipteren) habei*
S. 341. Taschenberg, Schlupfwespen als Pflanzenparasiten. S. 342. Emil Hübner, Zur Eiablage und Paarung
der Tagfalter in der Gefangenschaft. S. 342. Rudolf Ranninger, Über die Bekämpfung des Mohnwurzelrüssel-
käfers. S. 342. Koelsch, Über Hautschädiguogen durch Kalkslicksloft. S. 343. Beck, Vergiftung durch Muskatnuß.
S. 344. Kaup, Über den Wert und die Wirkungsdauer der Choleraschutzimpfung. S. 344. Kuhn, Scheintod und
Wiederbelebbarkeit. S. 345. Lau, Veränderungen auf dem Mars. S. 346. — Bücherbesprechungen: Warming-
Gräbner, Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. Lief. 2 — 4. S. 347. H. Groß mann, Englands Kampf um
den naturwissenschaftlichen Unterricht. S. 349. Erich Becher, Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzen-
gallen und die Hypothese eines überindividuellen Seelischen. S. 350. G. Steinmann, Die Eiszeit und der vorgeschicht-
liche Mensch. S. 351. — Anregungen und Antworten: Zu dem Aufsatze von Prof. Dr. Kill er mann über Alraun
(Mandragora). S. 351.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonnabend, den 30. Juni 1917.
Nummer 36.
Etwas über den Begriff „Brutparasitismus".
TNachdruck verboten.] Von Prof. Dr. C
In meinem Aufsatz „Einige Betraclitungen
über die Begriffe Parasit, Raubtier und Pflanzen-
räuber" (diese Zeitschrift Nr. 12 u. 13, 191 7) ist
(S. 172) nur ganz kurz auf die als Brutparasitis-
mus bezeichnete Lebensgemeinschaft gewisser Tiere
hingewiesen und darüber ein eventuell eigener
Artikel in Aussicht genommen worden. Da er
zur Abrundung dieses interessanten biologischen
Themas gehört, mag er hier folgen.
Wenn man den Begriff „Brutparasitis-
mus" ') lediglich durch diese Bezeichnung erklären
wollte und dabei letztere ganz im Sinne und in
der ursprünglichen Bedeutung des griechischen
TTUQciaiTog auffassen würde, so wäre darunter zu
verstehen, daß die Brut mancher Tiere ohne
eigenes Zutun durch fremde Hand gespeist wird.
Denn das war der F'all bei jenen im Tempel-
dienste der alten Griechen tätigen Individuen, die
den Namen Parasiten führten. Dabei muß auf
') Wollte man aus dem Worte „Brutparasit", ohne von
dem damit verbundenen Begriffe etwas zu wissen, auf den
letzteren schließen, so könnte man wohl im Zweifel sein, ob
damit ein Parasit bei der Brut eines Tieres gemeint sei oder
aber ein im Jugendzuslande parasitisch lebender Organismus.
Nach .Analogie mit, .Darmparasit", worunter man einen im Darme
seines Wirtes lebenden Schmarotzer versteht, könnte man
„Brutparasit" nur in erslerem Sinne verstehen, und damit ist
man auch im Rechte; daß aber tatsächlich auch die andere
Auffassung nicht nur möglich, sondern auch vertreten ist, be-
weist die in Ziegler 's „Zoologischen Wörterbuch" gegebene
Erklärung (unter „Parasiten", S. 481): „Solche Tiere, bei
welchen nur die Brut parasitisch lebt, werden zuweilen Brut-
parasiten genannt." Dann wären Brutparasiten dasselbe wie
die in dem gleichen Artikel als „Xenositen" bezeichneten
Schmarotzer, die nur im Jugendzustande parasitisch leben und
denen die als geschlechtsreife Tiere schmarotzenden „Nosto-
siten" gegenüberstehen. Wo diese Ausdrücke übrigens zum
ersten Male gebraucht sind, ist mir zu ermitteln leider nicht
gelungen; ebensowenig aber die Etymologie derselben zu
verstehen, bzw. sie sprachlich und begrifflich für richtig zu
halten. Wenn man für die nur im jugendlichen Alter para-
sitisch lebenden Tiere einen Terminus technicus schaffen will,
der einigermaßen das ausdrückt, was er besagen soll, so wähle
man Pädoparasit und stelle ihm den T ele oparasi ten
gegenüber. Der Fachmann wenigstens wird wissen, daß in
beiden Fällen die zweite Hälfte des Wortes als Subjekt, die
erste als dessen Prädikat anzusehen ist. Doflein (,, Das Tier
als Glied des Naturganzen", Leipzig u. Berlin, B. G. Teubner,
1914, S. 671) definiert Brutparasilismus dahin, daß eine Arbeit
im Interesse der Versorgung der Nachkommenschaft, die von
anderen geleistet worden ist, von gewissen Bienen unrecht-
mäßigerweise für ihre eigenen Nachkommen zunutze gemacht
wird. Und in ähnlicher Weise heißt es in dem von M. Luhe
verfaßten Artikel ,, Parasitismus" (im „Handwörterbuch der
Naturwissenschaften" Bd. VII, S. 517): ,,Von Brutparasitismus
sprechen wir, wenn ein Tier die Brutpflege, welche ein anderes
übt, zuungunsten von dessen Nachkommenschaft für seine
eigenen Zwecke ausnützt. Die Brutparasiten schlagen im
Gegensatz zu den echten Parasiten ihre Wohnung nicht auf
oder gar in den Körpern ihrer Opfer auf, sondern in deren
Nestern."
. Taschenberg.
den Ausdruck „fremde Hand" besonderer Nach-
druck gelegt werden, um einen Unterschied zu
dem in der Zoologie üblichen Begriff der Brut-
pflege hervorzuheben, bei der es sich um die
Aufzucht der Brut durch gewisse, im einzelnen
sehr verschiedene Maßnahmen der Eltern, zum
mindesten des Muttertieres handelt.
In diesem ursprünglichen Sinne gebraucht man
nun aber, wie wir wissen, den Ausdruck Para-
sitismus ^) in unseren biologischen Wissenschaften
nicht, sondern in jenem übertragenen Sinne, daß
die unter diesen Begriff fallenden Individuen sich
von integrierenden Körperbestandteilen anderer
lebender Organismen ernähren. Und von solchen
Gesichtspunkten aus würde die Bezeichnung „Brut-
parasitismus" auf die eigenartigen Lebens- und
Ernährungsverhältnisse der darunter zusammen-
gefaßten Tiere nicht passen, wenigstens in den
meisten Fällen nicht. Das bekannteste Beispiel,
welches man als Brutparasilismus anzuführen
pflegt, ist der Kuckuck, unser heimischer Cuculus
canorus, '') dessen Eier in die Nester kleinerer
') Dem ursprünglichen Sinne des Parasitismus entspricht
vielmehr das, was wir seit P. van Beneden Kommen-
salismus nennen.
') Es ist bekannt, daß nicht nur unser heimischer Cuculus
canorus die Gewohnheit angenommen hat, seine Eier von
anderen Vogelarten ausbrüten zu lassen, daß er aber darin
nicht nur nicht der einzige Vertreter der an 200 Arten um-
fassenden Familie der Cuculidae ist — die Mehrzahl der
Unterfamilien der Cuculinae (Baumkuckucke) und Coccyslinae
(Häherkuckucke), erstcre in ca. 60, letztere in 50 Arten be-
kannt , machen es ebenso — , sondern daß auch unter den
Singvögeln einige Arten sich ihnen anschließen, nämlich die
zu den Stärlingen (Icteridae) gehörigen amerikanischen Kuh-
stare (Molothrus) und die ebendahin gehörige Cassidia
oryzivova, sowie die, in ihrer Fortpflanzungsweise aber noch
nicht sicher beobachteten Honiganzeiger (Indicatoridac),
Klcttervögel, die in etwa 20 Arten im tropischen Asien, haupt-
sächlich jedoch in Afrika heimisch sind. Man ist geneigt, die
Ursache dieser „Irrung" in der Brutpflege den polyandrischen
Gepflogenheiten jener Vögel zuschreiben zu müssen. — Mit
welchem Rechte Escherich (in seiner trefi'lichen Schrift
über die Termiten, Leipzig, Klinkhardt, 1909, S. 151) die
beiden südamerikanischen Eidechsen (Gonatodes humeralis und
Tupinambis nigropunctatus), die ihre Eier in Termitenbauten
ablegen, darum ebenso zu den Brutparasiten rechnen und „an
die Seite des Schmarotzertums des Kuckucks stellen" kann,
ist mir nicht recht verständlich; denn diese Reptilien wählen
wohl statt eines beliebigen Erdloches oder sonstigen Versteckes
den Schutz von Termitennestern und treiben in dieser Hinsicht
eine unendlich häufig zu beobachtende Form der Brutpflege;
aber die rechtmäßigen Bewohner dieser Nester haben doch
nicht den geringsten Einfluß auf die Entwicklung der fremden
Eier, während die des Kuckucks ohne die Bebrütung der
Pflegevögel zugrunde gehen würden. Die Eidechsen würden,
wenn man die für das Verhältnis von anderen Tieren zu den
in Staaten lebenden Insekten gebräuchlichen Bezeichnungen
wählen wollte, zu den geduldeten Mitbewohnern (Paröken)
gehören, der Kuckuck dagegen zu den Symphilen.
354
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
Vögel gelegt und dessen Junge von den recht-
mäßigen Eigentümern jener Nester großgefüttert
werden. Diese befremdende Ernährungsweise kann
wohl als Kommensalismus, als Tischgenossenschaft,
allerdings in stark erweiterter Form dieses Be-
griffes, niemals aber als Parasitismus in Anspruch
genommen werden; denn daß die rechtmäßige
Nachkommenschaft der Pflegeeltern bei diesem
Hilfsdienste zugrunde geht, involviert an sich
allein nicht das Wesen des Parasitismus. Dazu
gehörte, daß der junge Kuckuck sich vom Fleisch
und Blute fremder junger Vögel ernährte. Und
ganz ebenso verhält es sich mit den Fällen, die
in Analogie mit dem vorigen zum Namen
-„Kuckucksbienen" Veranlassung gegeben
haben für gewisse, verhältnismäßig zahlreiche
Bienen, deren Eier ebenfalls den Nestern anderer
Bienenarten anvertraut werden und normalerweise
zu Imagines werden unter gleichzeitiger Ver-
nichtung der berechtigten Nestbrut. Hier kommt
noch der besondere Umstand hinzu, daß das Ei
oder auch erst die daraus ausgeschlüpfte Larve
der nestbauenden Biene von dem Sprößling des
„Kuckuckseies" einfach aufgefressen wird, wobei
sich letzteres also auch nicht als Parasit, sondern
als Raubtier entpuppt.
Wenn man aber sich gewöhnt hat, solche
Entwicklungs- und Ernährungsverhältnisse sub
specie eines Parasitismus und unter dem Sonder-
namen des „Brutparasitismus" zu kennzeichnen, so
beweist das nur, wie fest sich in den Ideenkreis
selbst des Fachmanns eine Verflachung des Be-
griffes „Parasitismus" eingeschlichen und festgesetzt
hat; wie man sich gleichsam damit vertraut ge-
macht hat, überall da ein Schmarotzertum zu
suchen und zu finden, wo — um eine bekannte
Ausdrucksweise aus dem menschlichen Leben an-
zuwenden — jemand „vor fremden Türen kehrt",
d. h. in diesem Falle sich um andere Tiere be-
kümmert, die ihn eigentlich gar nichts angehen,
während er in Wirklichkeit sich soweit mit ihnen
einläßt, daß man nicht mehr weiß, was Mein und
Dein ist.
Freilich liegen in Wirklichkeit, wie das bereits
in unseren früheren Auseinandersetzungen hervor-
gehoben wurde, bei den tausendfältigen Beziehun-
gen der Lebewesen untereinander die Verhältnisse
oft so verworren und verschlungen vor unseren
leiblichen Augen und geistigen Einblicken, daß
es vielfach nicht möglich ist, nahverwandte Vor-
gänge scharf gegenemander abzugrenzen. Wenn
es infolgedessen auch vielmehr darauf ankommt,
das Tatsächliche des Sichabspielens der Lebens-
erscheinungen festzustellen, als unserem Bedürf-
nisse, in die Vielheit durch Aufstellung von Kate-
gorien eine gewisse Ordnung zu bringen, Rech-
nung zu tragen, so darf man doch andererseits
nicht außer acht lassen, daß bei den Versuchen,
eben jenem Bedürfnisse nach Einteilungen ent-
gegenzukommen, mit bloßen Worten nichts ge-
wonnen ist, wenn ihnen nicht gleichzeitig der
richtige Inhalt verliehen wird.
Von diesen Gesichtspunkten aus dürfte es
nicht uninteressant sein, das Thema des sog.
„Brutparasitismus" etwas eingehender zu behandeln.
Da soll denn zuerst darauf hingewiesen werden,
daß keineswegs alle Fachleute einstimmig in der
Auffassung sind, man habe es hier in der Tat
mit einer besonderen Form von Parasitismus zu
tun. K. Kraepelin in seinem inhaltsreichen
Büchelchen über „die Beziehungen der Tiere und
Pflanzen zueinander" ^) betrachtet die Lebensweise
des jungen Kuckucks als Beispiel für die Synökie
bei einzeln lebenden Landtieren, das zugleich zum
Kommensalismus gehört, und fügt ihm die in
Nestern der Schwalben und anderer Vögel hausenden
Milben, Bücherskorpione, Käfer, Mottenraupen usw.
an, „die hier im Detritus ihre Nahrung finden".
Alsdann behandelt er die häufige Ausnutzung von
Kolonialbauten, namentlich der Insektenstaaten
(besonders der Ameisen- und Termitenwohnungen)
durch zahlreiche Synöken aus den Formenkreisen
der Spinnentiere und Insekten (hauptsächlich der
Käfer), die teils als indifferent geduldet, teils als
Räuber („Synechtren") verfolgt werden, während
noch andere als wirkliche Mutualibten anzusehen
sind („Symphilen") und darum nicht mehr zu den
Synöken zählen. Wohl aber wird an dieser Stelle,
also unter der Überschrift der Synöken vorläufig
erwähnt „die große Zahl derjenigen Insekten, die
ihre Eier an die zum Zwecke der Brutpflege von
anderen Kerbtieren zusammengebrachten Vorräte
legen (Schmarotzerhummeln , Kuckuckbbienen,
Bienenameisen, Goldwespen, Trauerschweber, Man-
tispaarten); doch handelt es sich in allen diesen
Fällen, im Hinblick auf die mit dieser Synökie
einhergehenden Vernichtung der jungen
Brut der Wirte, um Verhältnisse, die auch
noch unter einem anderen, später zu erörternden
Gesichtspunkte betrachtet werden müssen. Ein-
facher liegt die Sache bei den sog. Einmietern
(Inquilinen) unter den Gallwespen, welche die be-
reits von anderen Arten hervorgerufene Galle zur
Eiablage benutzen und dabei trotz kräftigen „Mit-
essens" doch wohl nur in seltenen Fällen die Ent-
wickhmg des rechtmäßigen Besitzers beeinträch-
tigen; sie sind echte Synöken."
Die hier wörtlich herangezogenen Sätze
Kraepelin's umfassen im wesentlichen jene
eigenartigen Lebenserscheinungen, die man viel-
fach unter dem Namen des „Brutparasitis-
mus" zusammengefaßt hat. Unser F"orscher ge-
braucht diesen Namen selbst nicht dafür; er
kommt aber auf diese Fälle noch einmal zurück
in dem Kapitel, das die Überschrift „Parasitis-
m u s" trägt. Ehe wir selbst auf die weiteren
Darstellungen Kraepelin's eingehen, dürfte es
angemessen sein, noch ein wenig bei dem vorher
Zitierten zu verweilen und auf das besonders hin-
zuweisen, worin die Eigenartigkeit der im Zu-
') Zweite, verbesserte Auflage in 2 Bändchen. Leipzig u.
Berlin 1913, B. G. Teubner. („Aus Natur und Geisteswelt"
426. u. 427. Bändchen) I, S. 84.
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
355
sammenhange mit der Synökie erwähnten, „aber
auch noch unter einem anderen Gesichtspunkte"
betrachtbaren F"älle erkannt wird, nämlich „die
Vernichtung derjungen Brut der Wirt e".
Ich muß da an meine Erörterungen in dem
früheren Aufsatze anknüpfen und in Erinnerung
bringen, daß wir das eigentlich Ausschlaggebende
beim Begriffe des Parasitismus nicht sowohl in dem
Zugrundegehen des Wirtes, als vielmehr in seiner
allmählichen Ausnutzung seitens des Parasiten er-
kannt haben, der damit in eine Art von Gegen-
satz zum typischen Raubtiere tritt. Wir haben
auch betonen müssen, daß in gewissen Fällen die
Abtötung eines Organismus durch einen anderen
nicht unter den Begriff des Parasitismus gehört,,
nämlich dann nicht, wenn die Vernichtung nicht
auf die Nahrungsentziehung, sondern auf mecha-
nische Ursachen zurückzuführen ist; daß ferner
der Grad der Schädigung infolge von Para-
sitismus nicht bestimmend sein kann für die mit
diesem Namen belegte Ernährungsweise, die unter
Umständen so wenig eingreifend auf das Wohl-
befinden des Wirtes ist, daß dieser „gesund wie
ein Fisch im Wasser" erscheint.
Von einem solchen Standpunkte aus müssen
wir uns tragen : ist es berechtigt, in den in Be-
tracht kommenden Phallen überhaupt eine P'orm
von Parasitismus zu erkeimen ? Ich meine, diese
Frage in verneinendem Sinne beantworten
zu müssen : einmal weil die Vernichtung des be-
rechtigten Nestbewohners keine conditio sine qua
non für den Begriff des Parasitismus ist und
zweitens, weil in unseren Phallen diese Vernichtung
die P'olge eines ganz unzweifelhaften Raubanfalls ist:
die Eier, bzw. die ihnen bereits entschlüpften
Larven der Brutpflege übenden Bienen werden
von der eingeschmuggelten Nachkommenschaft
der sog. „Brutparasiten" einfach aufgefressen! Der
damit herrenlos gewordene Nahrungsvorrat teilt
alsdann das gleiche Geschick, so daß man in
Wirklichkeit eine „Tischgenossenschafi" ohne Wirt
und einen räuberischen Gast vor sich hat.
Und hier knüpfen wir wieder an die Aus-
führungen Krae peli n 's an, die im wesentlichen
zu dem gleichen Schlüsse gelangen. „Eine ganze
Reihe schwer unterzubringender P'älle liefert end-
lich das bei der Brut pfl ege auftretende Schma-
rotzertum, dessen bereits . . . Erwähnung getan
wurde." Und nun führt er „als klassisches Bei-
spiel für die hier zutage tretenden Schwierigkeiten"
den Lebenslauf der Meloelarven an, die im Fiüh-
ling den in ein Erdgrübchen gelegten Eiern ent-
schlüpfen, die ersten Blüten des jungen Jahres
mit ihren drei schnellaufenden Beinpaaren erklettern
(„Triangulinus" wurden sie genannt, als man sie
noch für selbständige Arten hielt), sich, sobald
die Gelegenheit es gestattet, mit ihnen an den
haarigen Körper der ebendahin zur Nahrungssuche
kommenden Honigbienen anklammern und so in
deren Nester gelangen. Hier erfolgt das, was
vorhin für die Kuckucksbienen gesagt wurde: sie
verzehren das Bienenei, machen eine Häutung
durch und damit die Verwandlung in eine zum
Honigaufzehren organisierten Larvenform, die unter
Einschaltung noch weiterer Metamorphosen schließ-
lich zum Imagostadium gelangt. „Man pflegt —
so fährt Krae peli n fort — diese eigentümlichen
Gewohnheiten der Maiwürmer einfach als Para-
sitismus zu bezeichnen, obgleich es sich, streng-
genommen, bei der Benutzung der Arbeitsbiene
als Transportmittel um Synökie (Epokie), bei dem
Aufzehren des Bieneneis um die völlige Vernich-
tung, um ein Auffressen des schwächeren Tieres
seitens der Maiwurmlarve handelt, die demgemäß
nunmehr als Raubtier anzusprechen wäre, während
sie in der späteren Phase des Honigfressens zum
einfachen Kommensalen wird."
Da sich die meisten anderen Beispiele, die
von manchen Zoologen unter dem Begriffe des
„Brutparasitismus" zusammengefaßt werden, im
wesentlichen ebenso verhalten, wie die Meloidae, so
würde der von Kraepelin in obiger Darlegung
vertretene Standpunkt mit der Verneinung der
oben aufgeworfenen Frage zusammentreffen. Er
sucht indessen diesen verwickelten Verhältnissen
gegenüber noch einen anderen Ausweg zu finden,
indem er neben dem gewöhnlichen Individual-
parasitismus, der nur das einzelne Wirtstier be-
trifft, noch einen Kommunalparasitismus
zu unterscheiden vorschlägt, der dadurch charak-
terisiert wäre, daß der Schmarotzer in irgend-
einem als Ganzes gedachten sozialen Gemein-
wesen durch Vernichtung von Teilmdividuen ge-
rade so schädigend wirkt, ohne das Ganze zu
zerstören, wie dies beim gewöhnlichen Parasitis-
mus durch Inanspruchnahme von Teilen des
Wirtstieres der Fall ist."
Wir finden auch hier wieder, wie bereits
vorher hervorgehoben ist, den schädigenden
Einfluß in den Vordergrund gestellt, der als Be-
gleiterscheinung des Parasitismus gewiß nicht zu
leugnen ist, aber doch nicht ausschlaggebend sein
kann, wenn das Typische dieser Ernährungsweise
nicht zur Geltung kommt. Daß es aber tatsäch-
lich auch solche Fälle von „Brutparasitismus" gibt,
wo nicht bloß der Raubtiercharakter, sondern
wirklich die für den Parasitismus maßgebende
Nahrungsaufnahme anerkannt werden muß, wird
Gegenstand späterer Betrachtungen sein. Vor-
läufig möchte ich die Meinung aussprechen, daß
der „Brutparasitismus" nicht sowohl unter
dem Gesichtspunkte des Parasitismus, als vielmehr
unter dem der Brutpflege aufgefaßt werden muß,
um ihm die richtige Stellung in unserem biologi-
schen Systeme anzuweisen.
Wenn Parasitismus und Brutpflege auf den
ersten Blick, und namentlich bezüglich ihrer Wir-
kung bzw. ihrer Ziele ziemlich heterogene, bei-
nahe gegensätzliche Vorgänge der tierischen
Lebensbetätigung zu sein scheinen, so wird man
doch bei näherer Erwägung gewisse gemeinsame
Grundzüge beider nicht verkennen können. Denn
um Fragen der Ernährung handelt es sich hier,
wie dort: beim Parasitismus um die Existenz jedes
356
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
Individuums, das sich im Kampfe ums Dasein
seinen Platz erringen muß, sei es eine Jugendform
oder ein erwachsenes, fortpflanzungsfähiges Wesen;
bei der Brutpflege um die Fürsorge für die Nach-
kommenschaft, d. h. für das Fortbestehen der Art,
die gefährdet sein würde, wenn der jungen Brut
nicht von vornherein die Wege zur Ernährung
möglichst geebnet wären. In beiden Fällen sind
es besondere, aber keineswegs voneinander unab-
hängige Organe, die im Dienste des Gesamt-
organismus in Funktion treten müssen, um das
angestrebte Ziel zu erreichen. Der „Hunger" ist
der Ausdruck für die Notwendigkeit der Nahrungs-
aufnahme; der Besitz von Geschlechtsorganen
der Trieb zur Fortpflanzung. Wir müssen uns
gegenwärtig halten, daß jedes Organ, sofern es
normal ausgebildet ist, in sich gleichzeitig die
Notwendigkeit des Funktionierens trägt, daß beide
Faktoren in derselben Weise untrennbar mitein-
ander verbunden sind, wie die Energie mit der
lebenden Substanz, daß sie nur der Ausdruck für
das sind, was man gewöhnlich als Kraft und
Stoff bezeichnet, die Grundlage als Seienden. Der
innere Zwang, d. h. die von der chemischen Be-
schaffenheit der Grundlage als Ursache ausgehende
gesetzmäßige Wirkung der Kraftäußerung ist in
jedem Organe so gewaltig rege, daß die Funktion
sich nicht zurückdrängen läßt, daß sie nicht selten
in einer bis zur Brutalität gesteigerten Form
zum Ausdruck gelangt. Was von dem höchst
organisierten Wesen gesagt ist, gilt bis zu einem
gewissen Grade für alle Lebewesen: „Solange bis
den Lauf der Welt Philosophie zusammenhält,
erhält sich ihr Getriebe durch Hunger und durch
Liebe".
Hunger und Liebe, die nichts anderes bedeuten
als die Verkörperung der F'unktionen von Ver-
dauungs- und Geschlechtsorganen, sind die allge-
waltigen Faktoren, durch die das Leben in der
Natur aufrecht erhalten wird und durch die gleich-
zeitig der ewige Wechsel zwischen Entstehen und
Vergehen, zwischen Leben und Tod bedingt wird.
Der Kampf ums Dasein ist die notwendige Folge
der allen Lebewesen innewohnenden Bedürfnisse,
in erster Linie sich zu ernähren und in zweiter
dafür Sorge zu tragen, daß die durch die unver-
meidliche Vernichtung ihrer Individualität ent-
stehende Lücke im harmonischen Getriebe des
Alls wieder ausgefüllt werde. Das gleiche Be-
dürfnis aller bei einer gewissen Beschränkung in
der Möglichkeit der Befriedigung muß notwendig
zu einem Kampfe um die Existenzbedingungen
führen, und dieser Kampf ist wiederum die Trieb-
feder für die unendliche Mannigfaltigkeit in der
Ausgestaltung der Lebensweise, d. h. der Lebens-
betätigung jedes Einzelwesens. Wie der Ernäh-
rungstrieb zur Erschließung aller nur denkbaren
Nahrungsquellen, aller nur durchführbaren An-
passungen an die inneren und äußeren Lebens-
bedingungen geführt hat, so sind durch den Fort-
pflanzungstrieb u. a. auch die nicht minder
mannigfaltigen Einrichtungen und Vorgänge der
Brutpflege ins Dasein gerufen, wenn sie auch als
der Ausdruck einer gewissen Organisationshöhe
erscheinen und darum nicht in solcher Allgemein-
heit auftreten, wie das jeder Zelle inhärente Be-
dürfnis der Nahrungsaufnahme. Von solchen Ge-
sichtspunkten aus kann man behaupten, daß Para-
sitismus, der dem Bedürfnis der Selbsterhaltung
entsprungen ist, und Brutpflege, die auf Fort-
bestehen der Art abzielt, bis zu einem gewissen
Grade etwas Gemeinsames aufweisen, und eben
darum auch in den einzelnen Stufen ihrer Aus-
bildung nicht ohne mancherlei Berührungspunkte
bleiben konnten. Wie der Ernährungstrieb er-
finderisch macht und Erscheinungen zeitigt, die
in der menschlichen Sprache als ehrlicher Erwerb,
saurer Verdienst, unlauterer Wettbewerb, Eigen-
tumsverletzung, Entwendung, Diebstahl, Raub,
Vergewaltigung, Verdrängung, Usurpation und wie
sonst noch bezeichnet werden, Dinge, in denen
es die „Krone der Schöpfung" selbstverständlich
noch viel weiter gebracht hat als alle anderen
Bestien, so muß auch der Trieb, für die Nach-
kommenschaft zu sorgen, vielfach einer Konkur-
renz begegnen, da bei gleichen oder ähnlichen
Bestrebungen nach Schutz eine freie Wahl ge-
waltig eingeschränkt wird, und der Stärkere den
Schwächeren zu verdrängen sucht. Es wird auch
auf diesem Gebiete ein Kampf angefacht, der in
seinem Gefolge alle möglichen, vom Rechtsstand-
punkte des Menschen aus oft sehr fragwürdigen
Mittel zur Erreichung des Zieles hat und auch
zu mannigfachen Vergleichungen zwischen dem
Menschen und anderen Tieren herausfordert.
Oder wäre es bei ersterem etwa unerhört, daß
den rechtmäßigen Eltern ihr Kind geraubt und
ein anderes dafür untergeschoben, daß ihnen
wider Willen zu den eigenen Nachkommen noch
ein fremdes Kind heimlich ins Haus gebracht
wird oder andererseits, daß eine junge Mutter
genötigt oder dazu geneigt ist, unter Vernach-
lässigung ihres Säuglings die Brutpflege bei
anderen Kindern zu übernehmen? Wird es nicht
als Fortschritt der Kultur gepriesen, daß man
einzelnen Hausvögeln ihre Eier wegnimmt, ge-
wissen Haustieren ihre Jungen entzieht, um die
zu deren Ernährung produzierte Milch in seinem
Interesse zu benutzen? Wie können wir uns
wundern, wenn wir schon bei verhältnismäßig
niedrig organisierten Tieren ein Verfahren der
Brutpflege finden, das wir von unserem Stand-
punkte aus für äußerst erfinderisch, für raffiniert,
für bewundernswert erklären müssen und daß
andererseits bei Geschöpfen, von denen die sog.
„moralischen" Grundsätze nicht erwartet werden
können, doch im hohen Grade von dem Zeugnis
ablegt, was wir bei unserer eigenen Art unter
dem Gesichtspunkte der höchsten weiblichen
Tugend zu schätzen und zu rühmen wissen. Und
in der Tat: nur der in seiner „Gottähnlichkeil"
zum Hochmut Herangebildete kann in Abrede
stellen, daß auch auf diesem Gebiete der
Mensch nur eine höhere Stufe von Beanlagungen
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
357
zu erreichen vermag, deren Anfänge bis weit
hinab in die Reihen der unter ihm stehenden
Tiere verfolgt werden können; daß auch beim
Menschen die höchste Form der aufopferndsten
Mutterliebe als nichts anderes aufgefaßt werden
kann, als die durch hohe psychische Beanlagung
unterstützte, geregelte und veredelte Funktion der
Organe, ohne welche die Menschheit nicht über
Adam und Eva hinaus zur Entwicklung gelangt
wäre I
Es kann nicht unsere Absicht sein, hier den
unendlich zahlreichen und mannigfaltigen F"ormen
der im Tierreiche verbreiteten Brutpflege näher-
zutreten. Es sollte nur darauf hingewiesen werden,
daß die mit der sexuellen Sphäre zusammen-
hängenden Instinkte der Tiere eine in ähnlicher
Weise sich geltend machende Macht repräsentieren
wie das Ernährungsbedürfnis und daß infolge-
dessen auf beiden Gebieten auch analoge Mittel
zur Anwendung kommen, um das instinktive Be-
dürfnis zu befriedigen. Wir lernten in einem
früheren Artikel kennen, wie Raubtier und Parasit
keine Gegensätze, sondern nur der Ausdruck
einander eng berührender Ernährungsweisen sind;
daß das Zu.sammenleben verschiedener Tierarten
von mehr oder weniger zufälligen und für beide
Teile indifferenten Anfängen sich zu sehr eigen-
artigen Verhältnissen herausbilden kann, die so-
wohl freundschafdichcn wie feindlichen und damit
schädlichen Charakter annehmen, wodurch auch
hier die Grenzen zwischen Tischgenossenschaft,
Mutualismus und Parasitismus verwischt werden.
Und zu ganz ähnlichen Resultaten kann auch die
Brutpflege führen, bei deren ursprünglicher und
einfachster Form die in ihrem Dienste stehenden
Individuen — sit venia verbo — nur an den
Schutz ihrer Eier und Jungen „dachten", ohne die
Absicht zu haben, dabei andere benachteiligen
zu wollen.
Der instinktive Trieb auf der einen, die Schwie-
rigkeiten, ihm gerecht werden zu können, auf der
anderen Seite schufen Rücksichtslosigkeiten und
Gewalttätigkeiten, wie sie nicht ausbleiben, wo
„Macht vor Recht geht" und man von beati pos-
sidentes spricht. Wenn der Kommensalismus
ebenso zum Parasitismus sich steigern wie das
Räuberhandwerk sich dazu abschwächen kann, so
vermag auch bei der Brutpflege die harmlose
Synökie nach der einen und der anderen Rich-
tung auszuarten und das, was im Bedürfnisse der
Fürsorge für die Nachkommenschaft der einen
Art unternommen wird, die Vernichtung einer
anderen nachsichzuziehen. Die Form, unter
welcher eine solche Schädigung zustande kommt,
bleibt maßgebend für unsere Klassifizierung und
deren Benennung, die ihren Zweck verfehlt, wenn
sie sich nicht deckt mit einem bestimmten Be-
griffe. Und damit sind wir wieder an dem Punkte
unserer negativen Stellung dem Ausdrucke „Brut-
parasitismus" gegenüber angelangt, soweit es
sich um die bisher berücksichtigten Fälle der so
bezeichneten Brutpflege handelt.
Viel älter als der Ausdruck „Brutparasitis-
mus" ist der entsprechende für die betreffenden
Formenkreise von Hymenopteren, die von diesem
Gesichtspunkte aus beurteilt werden, nämlich
Schmarotzerbienen, Schmarotzer bum-
meln. Sie sind meines Wissens bisher unbean-
standet beibehalten aus einer Zeit, wo man den
Begriff des Schmarotzertums viel allgemeiner faßte
als heutzutage, wo man weder von Kommensalis-
mus noch von Synökie sprach, sondern eben
überall, wo man zwei verschiedene Arten in engerer
Lebensbeziehung antraf, nur „Parasiten" erblickte.
. Mit dem Begriffe des Parasitismus hat es in
unserer Wissenschaft eine eigenartige Bewandtnis.
Er ist, wie in unserem ersten Artikel darüber
hervorgehoben wurde, so alt wie das klassische
Altertum und bezog sich ursprünglich, ohne jede
Nebenbedeutung, auf eine Priesterkaste bzw. auf
gewisse im Dienst der Tempel stehende Indivi-
duen, die auf öffentliche Kosten gespeist wurden;
und wenn schon aus jener Zeit das Wort als
Attribut zu Fisch gebraucht ist (Ix&ig naocioiTog),
so geschieht es lediglich in dem Sinne von etwas
Gesottenem als Zukost zum Brote (gleich oipov).
Als es dann später mit dem Beigeschmack der
Geringschätzung, ja der Verspottung auf gewisse
Menschen Anwendung fand, die sich jene Vor-
rechte der Tempeldiener zu verschaffen suchten,
ohne dafür eine entsprechende Leistung im Inter-
esse der Gölterverehrung zu tun, da erstreckte
sich die Bezeichnung ebenfalls nur auf den Men-
schen im Sinne von Possenreißern, Schmeichlern,
Gaunern, für die man außerdem die Ausdrücke
ßioiio'Kö%oq und TA6ßu'Ko<i hatte, deren ersterer
wiederum eine gewisse Beziehung zu den Al-
tären zeigte, die schon damals, wie noch heutigen-
tags, umlauert wurden von Gesindel, das vom
Opfer etwas zu erbetteln sucht. Und in diesem
Sinne übernahmen auch die Römer das gleiche
Wort in ihre Sprache, aber bei Plinius finden wir
es bereits auch auf gewisse Tiere übertragen. Im
Laufe der Zeiten wurden unsere Kenntnisse von
parasitischen Tieren außerordentlich erweitert und
der Begriff „Parasit" sowohl für Menschen und
Tiere beibehalten, wie bis zum heutigen Tag, nur
daß er allmählich in den biologischen Wissen-
schaften einer kritischeren Prüfung unterworfen
und in der von uns besprochenen Weise enger
umgrenzt, schärfer definiert wurde. Trotzdem
spielt die auf den Menschen übertragene Bedeu-
tung des Wortes uns gelegentlich noch einen
Streich, ^) wie das im Grunde nicht zu verwundern
') Mit welcher H.-irmlosigkeit der .Ausdruck „Parasitismus"
gelegentlich angewandt und gemißbraucht wird, zeigt uns u. a.
eine interessante Beobachtung des vortrefflichen Hummel-
forschers Eduard Hoffer, der ein freches Spalzcnmännchen
als echten Slrafienräuber cnUarvte, indem es einer Bachstelzen-
mutter das für ihre Nestjungen bestimmte Futter aus dem
Schnabel entriß, um seine eigenen Jungen damit zu versorgen.
Dies wiederholt von ihm beobachtete Verfahren teilt unser
.Jiutor (im 15. Bande des „Kosmos" 1885, S. 449) unter der
Überschrift mit „Eine merkwürdige Form des Parasitismus
unseres Haussperlings 1"
358
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
ist, wenn man dasselbe Wort für Dinge gebraucht,
die sich nicht vollkommen decken. Denn daß
das Wort „Parasit" für einen Menschen, bzw. für
eine gewisse Kategorie von Menschen nur bild-
lich, nur im übertragenen Sinne aufzunehmen
ist, versteht sich von selbst; wie man auch in
ähnlicher Weise den Menschen mit einem Raub-
tiere vergleicht. Diese vergleichsweise Über-
tragung von Handlungsweisen der Tiere auf
Menschen und umgekehrt soll dazu dienen, das
Verständnis für das eigentliche Wesen solcher
Betätigungen zu erhöhen; etwas, was weniger
allgemein bekannt ist, durch den Vergleich mit
dem, was den meisten völlig klar vor Augen
steht, gleichsam zu illustrieren. Um Eigentüm-
lichkeiten, die dem Menschen nicht zur Zierde
gereichen, zu geißeln, weisen wir auf deren Tier-
ähnlichkeit hin, wie gelegentlich auch umgekehrt,
um menschliche Tugenden (Mut, Ausdauer, Fleiß)
rühmend hervorzuheben, Parallelen mit Tieren ge-
zogen werden, die als Sinnbilder für jene Vorzüge
gelten (wie der Löwe, das Pferd, die Biene,
Ameise usw.). Auf der anderen Seite suchen wir
die durch genaue Beobachtungen seitens der
Fachleute und anderer Berufener festgestellten
Lebensäußerungen der unter uns stehenden Ge-
schöpfe dem Laien durch Vergleichung mit mensch-
lichen Gesinnungen und Handlungen ins rechte
Licht zu stellen und dabei brauchen wir auch
dieselben Ausdrücke für beide. Das muß voll-
kommen begreiflich erscheinen, weil etwas be-
griffen werden soll, und darum ist dies Mittel
der Verständigung durchaus erlaubt, nur darf
eins dabei nicht außer acht gelassen werden: die
Berechtigung der bekannten Worte „si duo faciunt
idem, non est idem". Sehr häufig ist die Be-
tätigung des Menschen auf einen sehr verwickelten
psychischen Prozeß zurückzuführen, bei dem das
klare Bewußtsein seiner Handlungsweise eine
hervorragende Rolle spielt, während ähnliche Re-
sultate bei Tieren meist nur als Äußerungen des
„Instinktes' aufzufassen sind, eine dem Men-
schen keineswegs abgehende, nicht minder als
Ausfluß des Zentralnervensystems zu erklärende
Lebenserscheinung, über die die meisten Tiere
nicht hinausgelangen, weil ihnen der hochent-
wickelte Organisationsgrad fehlt. Dieses gewal-
tigen, wenn auch nicht prinzipiellen, so doch
gradweise hervortretenden Unterschiedes zwischen
Menschen und niederen Tieren müssen wir uns
bewußt bleiben, wenn wir die beiderseitigen
Lebensäußerungen miteinander vergleichen. Das,
was wir zum Maßstabe für das Handeln des
Menschen wählen, basiert auf dem Bewußtsein
der Begriffe „Recht" und „Unrecht", „erlaubt" und
„verboten", „tugendhaft" und „verwerflich", mit
einem Worte auf „moralischer" Grundlage.
Wieweit eine solche in ihren Anfängen bereits
bei manchen Tieren anerkannt werden kann, mag
dahingestellt bleiben — vi/enn man dem Hunde
Anhänglichkeit, Treue, Freude, Schmerz, Furcht,
Dankbarkeit usw. nachrühmt, so dürften das nicht
bloß Worte, nicht bloß vergleichsweise Ausdrücke
sein — eins kann nicht geleugnet werden, daß
sie bei den allermeisten Tieren fehlen, auch nicht
zu erwarten sind. Wenn wir dieser Tatsache
eingedenk bleiben, müssen wir den Standpunkt
der Verantwortlichkeit, der bei Beurteilung der
menschlichen Handlungen als etwas Selbstver-
ständliches erscheint, für die Lebensäußerungen
der Tiere vollständig fallen lassen. Dann müssen
aber auch die Folgerungen, die wir für uns aus
der Verantwortlichkeit ziehen, den Tieren gegen-
über unterbleiben, und doch lassen wir uns oft
unwillkürlich und gerade bei Anwendung
gleicher Worte für menschliche und tierische
Handlungen dazu verleiten, den Tieren mit Vor-
würfen gegenüberzutreten. Wenn eins dem anderen
etwas wegnimmt, es vergewaltigt, es aus seinen
scheinbaren „Rechten" verdrängt, seine Nahrung,
seine Wohnung kurzerhand für sich in Anspruch
nimmt, also wenn sich alle die Einzelheiten vor
unseren Augen abspielen, die wir als Tisch-
genossenschaft, als Synökie, als Schmarotzertum,
als Brutparasitismus bezeichnen, dann laufen wir
Gefahr, durch die Vergleichung mit dem Leben
des Menschen nicht nur das Verständnis für die
Handlungen der Tiere zu erwecken, was durchaus
berechtigt ist, sondern sie gleichzeitig mit dem
Maßstab zu messen, den wir an uns selbst anzu-
legen gewohnt sind. Und darin liegt der Fehler,
darin liegt der Grund, weshalb wir Bezeichnungen
gewohnheitsmäßig beibehalten, die den damit
verbundenen Begriffen nicht entsprechen. Das
Tier handelt ein für allemal nach dem Grund-
satze — natürlich ohne sich eines solchen bewußt
zu sein — „greift nur zu und seid nicht blöde!"
Wie sehr es in der menschlichen Natur liegt,
genau so zu verfahren — wer könnte, wer wollte
es bezweifeln, zumal wenn er eine Zeit erlebt,
wie die gegenwärtige! „Encheiresin naturae nennt's
die Chemie, spottet ihrer selbst und weiß nicht wie."
(Schluß folgt.)
Einzelberichte.
Biologie. Die Probleme, Lebensdauer, Altern
und Tod , die K o r s c h e 1 1 M in einem aus
') Korscheit, E., Prof. Dr., Lebensdauer, Altern u
Tod. Mit 44 Textabbildungen. Jena 1917, G. Fischer. — 5
den „Beiträgen zur Pathologischen Anatomie
und zur allgemeinen Pathologie" Bd. 63 abge-
druckten und F. Marchand zu seinem 70. Ge-
burtstage gewidmeten Buche erörtert, haben von
jeher eine besondere Anziehungskraft ausgeübt
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
359
und sind bekannthch des öfteren bereits von
hervorragenden Biologen, so besonders von
Weismann behandelt worden. Die Schrift kann
deshalb eines allseitigen Interesses sicher sein und
darf ein solches beanspruchen , da sie die sehr
verwickelten F'ragen in einer sorgfältig durch-
dachten, kritischen und umfassenden Weise be-
handelt und eine Fülle von Anregungen und
Kenntnissen vermittelt. Die Lektüre wird dem
NichtZoologen erleichtert durch eine klare und in
gutem Sinne populäre Darstellungsart.
Der Verf. bespricht nach einigen vorläufigen
Erörterungen zunächst die Lebensdauer der Säuge-
tiere, wobei er gleich die Frage einschließt, in-
wieweit etwa die Wach'-tumsperiode in eine be-
stimmte Beziehung zur Lebensdauer gesetzt werden
könne. Nach Abweisung der alten Ansichten von
Buf fon und Flourens, die eine ganz be.stimmte
Relation zwischen diesen Zeiten aufstellen wollten,
geht er etwas näher auf den Rubner'schen Ver-
such ein, den Energieumsatz mit der Lebensdauer
in Beziehung zu bringen, der in der Feststellung
gipfelt, daß (abgesehen von dem eine merkwürdige
Sonderstellung einnehmenden Menschen) die
untersuchten Tiere in ausgewachsenem Zustande
pro Kilo Lebendgewicht ungefähr gleich große
Energiemengen verbrauchen und auch während
ihrer Entwicklung die zur Verdoppelung des Ge-
wichtes aufgewandte Energie ungefähr gleich ist.
Trotz mancher noch bestehender Unklarheiten
und mancher Einwände, die diese Auffassung er-
fahren hat, glaubt der Verf , daß einmal auf diesem
Wege wichtige Beziehungen festgestellt werden
könnten. Im folgenden werden nun Angaben über
das Alter, die Jugendzeit, Tragzeit verschiedener
Säugetiere gemacht, soweit die hier spärlich und
trübe fließenden Quellen Auskunft geben. '■} und
in einer Tabelle übersichtlich zusammengestellt.
Kurzlebig sind Kaninchen, Hase, Meerschweinchen
(5, 7, 8 Jahre), auch Hund, Fuchs, Katze, Wolf,
Reh, Renntier, Schaf, Ziege (10— 15), während
Löwe, Tiger, Biber, Zebra, Rind, Stachel-
schwein 20 und mehr Jahre erreichen. Bis auf
30 bringen es Steinbock, Edelhirsch, Wildschwein,
und noch älter werden Pferd, Esel, Dromedar,
Flußpferd, Bär, Nashorn, deren Leben bis 50 Jahre
währt. Uralt wird der Elefant, er ist mit seinem
Höchstalter von 200 Jahren der Senior der Säuge-
tiere. Aber keineswegs damit aller Tiere. Denn
gleich unter den Vögeln gibt es viele sehr lang-
lebige Arten, Geier, Adler, Falken, Papageien,
Eulen, Raben, Schwäne, Saatgänse, Eiderenten
werden über 100, z. T. vielleicht weit über 100
Jahre alt und viele andere sind zwar weniger aber
doch noch recht langlebig, wie Hausgänse (80),
Störche (70), Tauben und Kraniche (50); selbst
kleine Vögel leben ziemlich lange [Kanarienvögel,
Grasmücke (24 Jahre)]. Das höchste Alter treffen
') Verf. bittet um die Mitteilung zuverlässiger Daten über
das Alter von Tieren, eine BiUe, die wir hier wiederholen
möchten.
wir aber unter den Reptilien an, und zwar unter
den Riesenschildkröten, von denen z. B. eine im
zoologischeir Garten zu London auf 300 Jahre
geschätzt wurde. Aber auch unsere Blindschleiche
wird überraschend alt , eine wurde nach zuver-
lässiger Mitteilung 33 Jahre in Gefangenschaft
gehalten. Selbst Wassermolche und Laubfrösche
hat man 15 bzw. 11 Jahre alt werden sehen.
Daß unter den Fischen bemooste Semester,
namentlich unter Hechten, Karpfen, Welsen vor-
kommen, ist schon bekannter. Dagegen setzt das
Höchstalter der Flußperlmuschel von 100 Jahren
sehr in Erstaunen. Auch unter den im ganzen
kurzlebigen Insekten wird von hochbetagten Ver-
tretern berichtet, von 15 jährigen Ameisen, 10 jähr.
Carabiden, einer 5 jähr Chrysomelide(Timarcha)u.a.,
und wenn man das teilweise sehr lange dauernde
Larvenstadium von Käfern in Betracht zieht (bei
Bockkäfern werden 9 — 10 Jahre angegeben), so
werden obige Zahlen vielleicht noch überschritten.
Schließlich sind Blutegel von 28, Regenwürmer
von 10 und gar Akiinien von 67 Jahren auffallend
alt. Irgendeine Gesetzmäßigkeit aus diesen Zu-
sammenstellungen herauslesen zu wollen, bezeichnet
Verf. als aussichtslos, sie fördern das allgemein
biologische Problem der Lebensdauer nicht, es
muß in besonderen Zügen der Organisation der
Tiere verankert liegen.
Einen kurzen Blick wirft Verf dann auf die
Lebensdauer der Pflanzen , bei denen sich ganz
ebenso wie bei den Tieren sehr große Verschieden-
heiten erkennen lassen, von der Vogelmiere, die ihr
Dasein in einigen Monaten abschließt, bis zum
4000 jährigen Mammutbaum. Im ganzen darf
man aber, was, wie mir scheint, Verf. zu wenig
betont hat, die Lebensdauer und ihre mutmaß-
lichen Ursachen resp. die des Absterbens in nicht
zu enge Parallele mit der der Tiere setzen, weil
die Entwicklung einer Pflanze eine ganz andere
ist wie die des Tieres. Es sind mit einem Worte
„offene Systeme" im Gegensatz zu den geschlossenen
hier, der Begriff der Individualität weist erhebliche
Verschiedenheit auf. Jedenfalls ist im Pflanzenreich
die Frage, ob die Lebensdauer durch innere, auf
bestimmten Organisationseigentümlichkeiten be-
ruhende Faktoren bestimmt werde, noch nicht
spruchreif und wohl nicht einmal allgemein zu
entscheiden. In diesem Zusammenhange hätten
die Daten vielleicht noch Erwähnung finden
können, die auf botanischem Gebiet über die
Lebensdauer bestimmter Zellen vorliegen , z. B.
der Holz- und Markzellen von Splinthölzern.
Es wäre ja denkbar, daß auch gewisse pflanzliche
Zellen nicht ersetzbar wären durch die dauernd
tätige Reproduktionstätigkeit der Teilungsgewebe
und deshalb nach ihrer Abnutzung der Tod ein-
treten müßte. Doch ist dies nicht sehr wahr-
scheinlich; solche im eigentlichen Sinne vitalen
Zellkomplexe müßten dann z. B. bei manchen
Bäumen Tausende von Jahren alt werden können.
Wahrscheinlicher ist es, daß bei den Pflanzen
mit ihrem besonders scharf ausgeprägten Gegen-
36o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
Satz zwischen Reproduktions- und Dauergewebe
in fortlaufender, wenn auch nicht an allen Punkten
gleichrhythmischer Tätigkeit vollständiger Ersatz
geliefert wird, so daß nach gewissen Perioden auf
dem fertigen Lebensquerschnitt überhaupt nur
neues Zellmaterial angetroffen wird. Schädigungen
würden dann nur ganz grobe, von außen kommende
sein, oder, liegen sie im System selber, so könnten
sie schon auf ungünstigen, auch ziemlich grob-
mechanischen, vielleicht rein räumlichen Dishar-
monien beruhen, die durch die ununterbrochene
Volumzunahme bedingt sind, brauchten durchaus
nicht plasmatischer Natur zu sein. Bei Gewächsen
von determinierter kürzerer Lebensdauer, wie z. B.
einjährigen Pflanzen würden wir allerdings wieder
Schwierigkeiten begegnen, hier würden JVIomente
wie der erblich festgelegte Entwicklungszyklus,
namentlich das Blühen mitspielen, oder die Un-
fähigkeit der Ausbildung von Geweben, die der
ungünstigen Jahreszeit trotzen, in summa wieder
erblich bedingte Eigentümlichkeiten. In diesem
Zusammenhange darf man auch vielleicht darauf
hinweisen, wie im typischen Tropenklima Kräuter
fast vollständig vermißt werden.
Nunmehr verfolgt Korscheit sein Problem
auf das zelluläre Gebiet, ausgehend von der An-
nahme, daß bei der zellulären Gebundenheit aller
Lebensvorgänge auch die mit dem Altern und
dem Absterben zusammenhängenden zellulär be-
dingt sein müssen. Das ist freilich nur eine An-
nahme, denn wir wissen heute nicht, ob wirklich
die der anatomisch-zytologischen Denkweise ge-
läufige, ja fast selbstverständliche Vorstellung von
dem Organismus als einem Zellenstaate in dieser
extremen Form auch physiologisch ausreicht.
Das scheint nun keineswegs so, nicht ein einziges
der physiologischen Probleme, ja auch der onto-
genetischen läßt sich aus dem Zellenleben allein
erklären, die Einheitlichkeit, die Koordination der
Leistungen bleibt dabei vollständig rätselhaft, das
Ganze läßt sich nimmermehr vollkommen aus
seinen Teilen verstehen, man ist geradezu ver-
sucht, die zelluläre Fächerung als etwas Sekundäres
anzusehen, das zwar Unterprobleme, wie die
bessere örtliche Sonderung physiologischer Pro-
zesse, die Ausbesserungs- und Ersetzungsfähigkeit,
die vollkommenere Spezialisierung und größere
Leistungsfähigkeit usw. umgreift, aber die Haupt-
probleme selber ungelöst läßt. Das Ganze hat
sich innerlich differenziert, aber nicht haben sich
spezialisierte Elemente vereinigt, um auf rätsel-
hafte Weise ein Ganzes zu bilden. Doch dies
nur nebenbei. Notwendig führt die zelluläre Be-
trachtungsweise dazu, die biologischen Probleme
auf die Verhältnisse bei den Einzelligen zu über-
tragen. So wird nunmehr die Lebensdauer, das
Altern der Infusorien erörtert. Während früher
die Teilungsfähigkeit eines Paramäciums für
autogen beschränkt galt und ein Aussterben der
Linie für unabwendbar gehalten wurde, wenn keine
Konjugation eintrat, ist dies nach den wichtigen
Feststellungen von Woodruff sehr zweifelhaft
geworden, der Paramäcien unter günstigen Be-
dingungen 7 Jahre lang in rein ungeschlechtlicher
Vermehrung durch Teilung erhalten hat. Gleich-
wohl glaubt Korscheit nicht, daß sie dauernd
ausreicht, wenigstens spräche dagegen die doch
einmal vorhandene Einrichtung der Kopulation.
Das scheint mir nun allerdings ein Trugschluß zu
sein, insofern als jene Auffassung von der vor-
läufig ebensowenig sicheren Annahme abhängt,
daß die Kopulation wirklich der Auffrischung
dienen soll. Nachdem dann noch des eigenartigen
Rhythmus in der Teilungsenergie der Paramäcien
und der damit verbundenen Umwandlungen des
Kernapparates gedacht ist, geht Verf. zu den
Protozoenkolonien über, die er als die Übergangs-
glieder zu den vielzelligen Organismen auffaßt,
indem er die Entstehung der Zelldifferenzierung
entwickelt und damit das Auftauchen begrenzt
lebensfähiger, durch weitgehende .Spezialisierung
und verminderte Teilungsfähigkeit der Abnutzung
anheimfallender Zellen im Gegensatz zu den Ge-
schlechtszellen konstatiert. Am Beispiel von
Schwämmen und Zölenteraten wird dann die
stetig wachsende Differenzierung der Zellen weiter
veranschaulicht, die schließlich bei den Wirbel-
tieren auf eine besonders hohe Stufe gelangt.
Mit dieser F"estlegung auf ganz bestimmte, dank
der Spezialisierung besonders intensiv verlaufende
Leistungen schwindet die Teilungs- und überhaupt
die Erneuerungsfähigkeit und wächst die Gefahr
der Abnutzung. In der Tat kommen im normalen
Lebensablauf überall Rückbildung und Untergang
von Zellen vor, v.?ofür Beispiele herangezogen
werden ; physiologische Abstoßung bzw. mit Ab-
sterben verbundene Umwandlung von Haut- und
Drüsenzellen , die kurze Lebensdauer der Blut-
körperchen, die weitgehende Umarbeitung und
Einschmelzung von Geweben bei der Metamorphose
der Insekten und die Einziehung ganzer Körper-
teile bei derjenigen der Frösche usw. Sehr in-
teressante Tatsachen werden dann in einem
folgenden Abschnitt erörtert, aus denen hervor-
geht, daß nach der Entwicklung die Teilungs-
fähigkeit der Körperzellen erlischt, so daß ihre
Zahl nicht weiteren Veränderungen unterliegt,
und mehr noch, daß diese Zahl überraschend
genau determiniert ist. Solches hat Martini
durch sorgfältige Zählungen bei dem Rädertierchen
Hydatina senta ermittelt. Es ließ sich auch für
besonders große, leicht erkenn- und verfolgbare
Zellen, wie die Ganglienzellen direkt beweisen,
daß sie selber persistieren, was ja aus der Zahlen-
konstanz nicht ohne weiteres ableitbar gewesen
wäre. Ahnliches läßt sich wenigstens für das
Zentralnervensystem der höheren Tiere sehr
wahrscheinlich machen, hier erlischt die Teilungs-
fähigkeit ebenfalls sehr frühzeitig, so daß man
durchaus berechtigt ist, den Ganglienzellen eine
ganz besonders lange dauernde individuelle Existenz
zuzuschreiben. Daraus würde dann wieder folgen,
daß sie in besonderem Maße der Abnutzung aus-
gesetzt sind, die um so fataler ist, als ein Ersatz
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
361
durch Teilung resp. eine damit einhergehende
Auffrischung unmöglich gemacht ist. Bei anderen
Geweben des VVirbeltierkörpers stoßen analoge
Untersuchungen auf große Schwierigkeiten, immer-
hin läßt sich vermuten, daß auch andere Bau-
steine des Körpers, wie bei der Hydatina, persi-
stieren, und bei Drüsen- und Muskelgewebe und
namentlich in der Herzmuskulatur ließ sich diese
Erscheinung auch ziemlich sicherstellen. Ist nun
das Altern von Zellen mikroskopisch erkennbar?
Wiederum sind es die Ganglienzellen, die aus den
oben gekennzeichneten Gründen hierfür das ge-
eignetste Untersuchungsobjekt darstellen. Schon
sehr frühzeitig tauchen in ihnen Pigmentkörnchen
auf, deren Masse im Lauf des Lebens zunimmt,
auch an den Kernen ließen sich Veränderungen
nachweisen. Ähnliches fand man bei Insekten
und einem Röhrenwurm. Weniger auffällig aber
doch in manchen Fällen nachweisbar sind Alters-
erscheinungen anderer Körperzellen, deren Lebens-
und Funktionsdauer wahrscheinlich sehr ver-
schieden lang bemessen ist. Fettige Degenera-
tionen, Auflösung des Chromatins der Kerne,
Aufblähungen oder Schrumpfungen der Zellen
werden beschrieben , auch Zellverschmelzungen,
Kernübertritte mit nachfolgender Auflösung
kommen vor.
Wesentlich auffallender, leichter erkennbar und
seit langem erkannt sind die Altersveränderungen
der Organe. So lassen die physiologischen
Leistungen nach, ebenso wie sich auch an ihrer
Beschaffenheit Veränderungen verschiedener Art
feststellen lassen, von denen die Ablagerung von
Kalksalzen, u. a. auch in den Gefäßwänden, die
starke Zunahme der bindegewebigen Elemente,
Schrumpfung des Gehirns hervorgehoben werden.
Welche Organe durch allmählich zunehmende
Insuffizienz besonders verhängnisvoll werden, ob
der Mensch immer einen „Hirntod" erleidet, oder,
wie andere wollen, stets „vom Herzen aus stirbt",
läßt sich schwer entscheiden, wahrscheinlicher
dünkt Korscheit das erstere.
Der verminderten Leistungsfähigkeit durch
Abnutzung sowie dem Ausfall durch gänzlichen
Schwund steht das Regenerationsvermögen gegen-
über und beeinflußt damit die Lebensdauer ein-
mal insofern, als es bis zu einem gewissen Grade
Ersatz liefert, dann aber auch, indem es umge-
kehrt infolge Nachlassens als Faktor am Altern
mitwirkt. Letzteres offenbart sich deutlich im
leichten Wundheilungs- und Ersetzungsvermögen
junger Tiere im Gegensatz zu alten. Mit Rege-
nerationserscheinungen können eigenartige Ver-
änderungen verbunden sein, die in Rück-, Um-
und Neubildungsvorgängen bestehen und zu einer
Auffrischung und Verjüngung des ganzen Orga-
nismus führen. Solche Umwandlungen und Über-
führungen gehen mit der Reduktion eines Teiles
des Zellmateriales einher. So bilden kopflose,
mithin ernährungsunfähige Teilstücke von Planarien
und Regenwürmern umfängliche neue Teile aus
und machen dazu nach Ausbildung eines indiffe-
renten Regenerationsgewebes das alte Zellen-
material des Ausgangsstückes flüssig, so daß aus
alten abgebrauchten Teilen fast embryonal er-
scheinende neue hervorgehen. Ahnliche Rück-
bildungen, Entdifferenzierungen und Neubildungen
finden vermutlich auch bei dem Ersatz von Glied-
maßen bei Amphibien statt, ja spielen womöglich
eine noch allgemeinere Rolle. Ganz besonders
weit gehen solche Vorgänge bei Aszidien, bei
denen das ganze Tier zu einem unorganisierten
weißlichen Klumpen wird, aus dem sich schließ-
lich wieder eine normale Aszidie aufbaut. Wie
solche Vorgänge im einzelnen verlaufen, ist schwer
genau zu ermitteln. In diesem Zusammenhange
wird noch die außerordentlich merkwürdige von
H. V. Wilson und Karl Müller beobachtete
Tatsache erwähnt, daß isolierte Zellen von
Schwämmen aufeinander zukrochen, sich zu
Aggregaten vereinigten , die weiterhin zu einem
jungen Schwämme auswuchsen.
Die vorübergehende, mehr oder weniger lange
andauernde Sistierung der Lebens- und Entwick-
lungsvorgänge, wie sie in den Ruhezuständen zum
Ausdruck kommt, müssen begreiflicherweise einen
Einfluß auf die Dauer des Lebens haben, die oft
dadurch um Jahre verlängert wird. Nicht nur
Sporen von Pilzen, Samen, eingekapselte Infusorien,
VVürmer, Krebschen, sondern auch Insektenpuppen,
Schnecken usw. können ihrem Leben Monate, ja
viele Jahre zulegen , indem sie in einen Starre-
zustand verfallen, während dessen allerdings von
einem eigentlichen Leben natürlich nicht die Rede
sein kann. Daran schließen sich in verschiedener
Abstufung die mit dem Klima zusammenhängenden
Schlafzustände der Wirbeltiere und der Scheintod.
Seit Weis mann und Goette wird die
Lebensdauer vielfach mit der Fortpflanzung in
Beziehung gesetzt, das sterbliche Soma lebt nur
so lange, als es einer hinlänglichen Zahl von
Keimzellen die Gelegenheit ihrer Vereinigung
geboten und z. T. die Brut zur selbständigen
I-'ortführung des Lebens befähigt und erzogen hat.
Ganz besonders enge ist diese Beziehung bei
manchen nur einmal blühenden Pflanzen, deren
Fortexistenz bei Herauszögern oder gänzlichem
Verhindern des Blühens verlängert wird. Auch
bei manchen Insekten scheint die Sache ebenso
zu liegen. Immerhin ist aber die zeitliche Be-
ziehung zwischen Fortpflanzung und Altern so
wenig scharf und zudem so wenig allgemein ver-
breitet, vielmehr durch zahlreiche entgegengesetzte
Beispiele durchbrochen, daß hier kaum ein einiger-
maßen allgemeingültiges Erklärungsprinzip gegeben
sein dürfte, wenn auch vom allgemein-biologischen
Standpunkte aus die Auffassung von der Über-
. flüssigkeit des Individuums nach Hervorbringung
der Nachkommenschaft durchaus befriedigt.
Gesondert werden schließlich noch einige
weitere Probleme berührt, die vielleicht mit dem
der Lebensdauer zusammenhängen könnten. Das
ist zunächst das Wachstum. Zwar ist durchaus
nicht die Länge der Wachstumsvorgänge immer
362
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
der Lebenslänge proportional, aber das Wachstum
ist doch insofern ein Altcrsproblem, als es mit
zunehmendem Leben deutlich schwächer wird,
und zwar tritt die Abnahme, der Abfall einer
z. B. für die Gewichtszunahme konstruierten Kurve
auffallend frühzeitig ein, wie Mi not fand. Beim
Meerschweinchen z. B. steigt die Kurve in den
ersten Lebenstagen enorm, dann sinkt sie, am
45. Tage ist der Zuwachs nur mehr gering und
nach etwa einem Jahre hört er ganz auf Beim
Menschen verläuft das Wachstum ganz ähnlich.
Wir können hinzufügen, daß Analoges auch bei
dem Wachstum der Pflanzen beobachtet wird, die
eine sogenannte „große Periode des Wachstums"
erkennen lassen. Als Erklärung dient im Tierreich
wieder die mit fortschreitender Differenzierung
anwachsende Abnutzung und Teilungsmüdigkeit
der Zellen, während von anderer Seite für das
Altern spezifische Zellvorgänge verantwortlich
gemacht werden, die mit denen der Entwicklung
und Differenzierung nichts zu tun hätten. So soll
der Temperaturkoeffizient für die Lebenslänge ein
anderer sein als für die Entwicklungsgeschwindig-
keit, behauptet Lob und sucht auch seine An-
sicht durch andere Beobachtungen zu stützen.
Metschnikoff macht den Dickdarm mit seiner
ungünstigen , fäulniserregenden Bakterienbevölke-
rung für das Altern verantwortlich, Friedenthal
führt als mitbestimmenden Faktor die Relation
zwischen Hirngewiciit und lebender Körpermasse
ein, seinen Cephalisationsfaktor, und kommt zu
dem Schlüsse, daß die klügsten Tiere am längsten
leben.
Zusammenfassend kann man also mit Korscheit
sagen, daß wohl die Lebensdauer eine spezifische,
d. h. innerhalb der Tierart bestimmte ist, daß sie
auch mancherlei Beziehungen zu anderen biolo-
gischen, anatomischen, physiologischen Erschei-
nungen erkennen läßt und dadurch sehr an Ver-
tiefung gewinnt, daß wir aber von einer Er-
klärung weit entfernt sind. Man könnte noch
ganz besonders unterstreichen , daß die Lebens-
dauer ein Artmerkmal ist, auf Erbfaktoren beruht,
genau so wie irgendwelche anderen gestaltlichen
Merkmale, von denen man ebensowenig sagen
kann, weshalb sie so und nicht anders sind. Bei
Pflanzen hat z. B Correns gezeigt, daß Ein-
jährigkeit und Zweijährigkeit mendelnde Faktoren
sind. Miehe.
Geologie. Geologisch-Petrographische Studien
im Hochgebirge des südlichen Norwegens sind von
Goldschmidt in seinen beiden Arbeiten „Die
Kalksilikatgneise und Kalksilikatglimmerschiefer des
Trondhjem-Gebiets" und „('bersicht der Eruptiv-
gesteine im Kaledonischen Gebirge zwischen Sta-
vanger und Trondhjem" niedergelegt worden.
Die Kalksilikatgneise und Kalksilikatglimmer-
schiefer beobachtete der Verfasser in einem Ge-
biet von 600 km Länge und 140 km Breite von
Stavanger im Südwesten bis Meraker im Nordosten.
Bisher waren diese beiden Gesteine nach ihrer
Natur noch nicht bekannt geworden. Sie finden
sich in den Gula-Schiefern, die wahrscheinlich
obersilurischen Alters sind. Sie bilden zwischen
den Gula-Schiefern nicht eine stratigraphische Fein-
heit, sondern stellen den am meisten metamorpho-
sierten Teil der Gula-Schiefer dar. Kalksilikatgneise
sind Biotit-frei oder Biotit-arm, besitzen Plagioklas,
Kalifeldspalt, Pyroxen oder Zoisit-Klinozoisit als
Ersatz für Plagioklas und Amphibol für Pyroxen.
Kalksilikatglimmerschiefer enthalten Plagioklas,
manchmal durch Zoisit-Klinozoisit vertreten,
Biotit und Quarz. Bei den Kalksilikatgneisen
kommen als Nebengemengteile noch Skopolith,
Titanit, Magnetkies, Magnetit, Apatit, Graphit,
Rutil, Muskowit (letztere beiden wohl als Sekundär-
bildungen) in Betracht. Textur ist gneisartig mit
Lagen, Streifen, Linsen. Als Nebengemengteile
des Kalksiiikatglimmerschiefer sind nachgewiesen
worden: Magnetit, Magnetkies, Apatit, Graphit,
Turmalin, sekundärer Rutil, Titanit, Almandia,
Muskowit. Struktur und Textur ist die der
Glimmerschiefer. Die Biotittafeln sind parallel
angeordnet.
Sie sind wahrscheinlich Kontaktprodukte unter-
irdischerlntrusivmasseninderAchsedesTrondhjem-
Gebietes. Die Kalksilikatgesteine haben große
Ähnlichkeit mit den metamorphen Mergeln der
Bündnerschiefer und den Augitgneisen des Nieder-
österreichischen Wald viert eis.
Äußerst wichtig sind Goldschmidt's
F'orschungsresultate, die sich auf die Eruptiv-
gesteine derKaledonischen Gebirgsbildung beziehen,
die er zu drei Stämmen gehörig betrachtet, und
deren Eruptionsgebiete getrennt oder einander
überdeckend vorkommen.
Zum ersten Stamm, zum „Stamm der grünen
Laven" gehören Tuffe und Inetrusivgesteine,
ein fast rein basaltischgabbroider Gesteinsstamm
mit basischen, seltener sauren Spaltungsprodukten.
Was zu diesem Stamm vereinigt ist, sind Diabas
Diabasporphyrit, Variolith, Grünstein, Porphyrit,
metamorpiie Grünschiefer, Amphibolite, Granat-
arnphibolite, körnige PlagioklasAmphibol-Gesleine.
Jeder Stamm umfaßt tomagmatische Gesteine.
Weniger metamorph sind die Kissenlaven, Ser-
pentine, Topfsteine, vielleicht sogar Paläopikrite :
die gabbroiden Gesteine enthalten in Südnorwegen
die wichtigen magmatischen Kieslagerstätten von
Schwefelkies-Kupferkies.
Das Vorkommen der Kissenlaven in unmittel-
barer Nähe von roten Jaspismassen lassen auf
submarine Ergüsse der ,, grünen Laven" in den
älteren und mittleren Abteilungen der Kambrosilurs,
im Gebiete von Osterdalen auch in eokambrischen
Sparagmiten schließen. Sie sind silurischen Alters,
kommen in naher Verbindung mit fossilführenden
unter- bis untcrobersilurischen Sedimenten vor.
In England und Wales treten die Gesteine dieses
Stammes schon bedeutend früher auf, darum kann
woiil von ursächlichen Beziehungen zwischen Erup-
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
363
tion dieser Gesteine und kaledonischer Gebirgsbil-
dung nicht gesprochen werden.
Zum zweiten Stamm gehören die „Bergen-Jotun-
Gesteine". Mit zahlreichen Differentiationsprodukten
gehören diese Gesteine zur Anorthosit Charnockit-
Reihe. Verbreitet sind sie zwischen Sognefjord
und Hardangerfjord im Südwesten bis Gudbrands-
tals im Nordosten, in den BergenBögen. Der
Hauptvertreter ist der JotunNorit, der in den
übrigen Tiefengesteinen eine Menge Spezialfälle
erzeugt hat. Zu den basischen Gesteinen des
„Bergen-Jotun-Stammes" gehören Pyroxen-Olivin-
Gesteine, normale Norite und Gabbros, Labrador-
felse. Intermediäre Gesteine dieses Stammes sind
Jotun-Norite und Mangerite, Hypersthensyenite.
Saure Gesteine dieses Stammes stellen Granite
dar, Hypersthengranite, Augitgranite, Granite mit
Ägrindiopsid, Ägringranite, Amphibolgranitc, Biotit-
granite). Folgende Altersbeziehungen der Tiefen-
gesteine stehen fest : Pyroxenite und Peridotite sind
älter als JotunNorit, älter als Labradorfels, dieser
älter als normaler Gabbro und normaler Norit.
Jotun-Norit, Labradorfels, normaler Gabbro und
Norit, Olivindiabas sind älter als Pyroxensyenite,
Manganite und alle Granite. Sie gehören alle einen
genetisch verbundenen Gesteinsstamm an, der durch
Differentialion aus einem Stammmagma enstanden
ist.
Die östlichen Teile der Bergen-Jotun- Eruptiv-
masse zwischen Gulbrandsdalen im Norden,
Hardangerfjord im Süden liegen als Decken über
Kambrium und Untersilur. Im Nordwesten senken
sie sich in den südnorwegischen Faltungsgraben
hinab.
Die Bergen-Jotun-Gesteine sind frühknledoni-
sehen Alters.
Der dritte Gesteinsstamm sind die „Opdelit-
Trondjemit-Gesteine", die in den alpinen Tonaliten
und andinen Granodioriten mit ihren zahlreichen
Differentiationsprodukten gleiche Erscheinungen
aufweisen. Die „weißen Granite" des Trondhjem-
gebietes sind die charakteristischsten Gesteine.
Als basische Gesteine dieses Stammes zählt
man die Pyroxenite und Peridotite, gabbroide Ge-
steine. Indermediäre Vertreter sind Diorite
(HypersthenGlimmer-Diorite, ordinäre Diorite),
Opdalit. An sauren Gesteinen kennt man aus
diesem Stamm : Trondhjemite, deren Ganggefolge
folgende Gruppen unterscheiden läßt : Trondhjemite-
Porphyrite, Trondhjemite-Aplite, Trondhjemite-
Pegmatite.
Als dünne oder dicke Lagergänge treten sie
auf, selten die Schichten quer durchsetzend. Sie
sind post-untersilurischen Alters, aber älter als die
devonische Erosion des Gebirges.
Nicht in die drei Stämme lassen sich die
Eruptivgesteine von Hitteren und Smölen , die
Granite der Westküste Südnorwegens (Bömme-
löen, Karmöen, Stavanger), die Decken granitischer
Gesteine zwischen Ryfylke, Hemsedalen, die
Augengneise des Trondhjem- Gebietes einreihen.
Möglich ist es, daß ein genetischer Zusammen-
hang zwischen den einzelnen Stämmen besteht.
Rudolf Hundt, z. Zt. im Felde.
Paläobotanik. Zur Kenntnis der Deutschen
Tertiärfloren. Die zahlreichen Uniersucher der in
Deutschland recht häufigen tertiären Pflanzenreste
richteten ihr Augenmerk \-ornehmlich auf Blatt- und
Fruchiabdrücke sowie die wohl erhaltenen Braun-
kohlenhölzer. Auch Früchte von Jtiglaiis, Carya
und ähnliche, die sich in den Braunkuhlenflözen nicht
selten finden, sind oft nachgewiesen worden. Nun
bestehen die Kohlenlager aber häufig aus erdigen,
mulmigen Massen, die, offenbar ehemals zusammen-
geschwemmt, eine Unzahl kleiner Pflanzenreste,
Blattfetzen und Holzsplitter enthalten. Sie sind
bei der bisherigen Untersuchung sehr zu Unrecht
vernachlässigt worden. Nur Lingelsheim unter-
suchte solche Braunkohle von Saarau in Schlesien
und konnte nachweisen, daß sie zum großen
Teile aus den Pollenkörnern von Piiiiis, Taxodiuin,
bezw. Sequoia besteht (A. Lingelsheim, Über
die Braunkohlenhölzer von Saarau. 85. Jahres-
bericht Schles. Ges. Breslau 1907). Auf ähnlichem
Wege zeigten C. und E. Reid, daß in den schon
von Heer untersuchten Flözen von Bovey in
England zahlreiche, zum Teil recht kleine Samen
und Früchtchen auftreten. (C. und E. Reid,
The Lignite of Bovey Tracey. Philos. Transact. Ro)-.
Soc. London. Ser. B. 201. London 191 1.) Es war
daher zu erwarten, daß die gleiche Untersuchungs-
methode auch anderwärts zu einer Bereicherung der
tertiären Flora führen würde. Verfasser sammelte
daher in verschiedenen Gruben der schlesischen
Lausitz Proben erdiger Braunkohle. Beim Kochen
mit Kalilauge zerfielen sie. Nach mehrfachem
Schlämmen konnten die einzelnen Bestandteile
der überbleibenden Erde leicht getrennt werden.
Das Ergebnis war über Erwarten befriedigend.
Die Hauptmasse bestand aus einer großen Anzahl
kleiner Samen und Früchte, daneben aus sehr
verschieden geformten Pollenkörnern, die neben
den schon von Lingelsheim genannten Nadel-
hölzern auf Laubgewächse der verschiedensten Art
hinweisen. Es liegt hierin eine deutliche Wider-
legung der immer wiederholten Ansicht, daß die
Braunkohle lediglich aus den Trümmern riesiger
Nadelholzwälder entstanden sei. Dikotyle Holz-
gewächse waren zur Tertiärzeit ebenso verbreitet
wie heute. Ihr Holz war aber weniger wider-
standsfähig gegen Vermoderung als das harz-
reiche Koniferenholz, das so, von einigen wenigen
Fällen abgesehen , allein erhalten geblieben ist.
Einige Proben von Grünberg und Ingramsdorf
liefern weiter den Nachweis einer reichen Krypto-
gamenflora. Wenn wir von den ganz problema-
tischen auf Blattabdrücke gegründeten Pilzen ab-
sehen, kannte man bisher nur einige Farnblätter
als hierher gehörende häufigere Reste. In der
Braunkohle sind nun Sporangien von Farnen recht
häufig, teils mit, teils ohne Ring. Ebenso finden
364
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
sich Sporogonien und Blätter eines Laubmooses,
das zu Spl/agiiiiiii in engster Beziehung steht, ferner
Pilzsporen in den verschiedensten Stadien der
Keimung, zahlreiche Hyphen und Fruchlkörper
von Pilzen, vielleicht auch Diatomeen und andere
Algen. Es ist zu erwarten, daß eingehende
Untersuchung hier noch manches unerwartete
Ergebnis zeitigen wird, da die Mannigfaltigkeit der
Reste sehr groß ist. Erwähnt sei noch, daß auch
tierische Reste (Rotatorien, Fragmente von In-
sekten) häufig sind. R. Kräusel.
Zoologie. Über trommelnde Spinnen. Im
Aberglauben spielt die „Totenuhr" eine gewichtige
Rolle, jenes eigentümlich tickende Pochen, das
hier und da im ruhigen Zimmer zu vernehmen ist,
und den Tod eines Angehörigen verkünden soll.
Es hat aber gar nichts Mystisches an sich, sondern
wird durch Anobiumarten hervorgebracht, die im
alten Holz der Stühle und Schränke leben und
dort Gänge bohren. Sie schlagen mit den Vorder-
kiefern auf die Wandungen der Gänge auf und
erzeugen jene eigentümlichen Klopflaute.
Diese Art der Lautäußerung, die also durch
Aufschlagen eines festen Körperteiles auf eine
tönende Unterlage zustandekommt, ist unter den
Insekten ziemlich selten. Sie kommt nur noch
bei Ameisen und Termiten vor. Wer einmal
einen Termitenbau ausgehoben hat, weiß, daß
stets zahlreiche Soldaten an den Rändern der
Gänge erscheinen und mit ihren großen Köpfen
heftige Zitterschläge auf den Boden ausführen, die
von weitem als sonderbar zischendes Geräusch
zu vernehmen sind. Man kann diese Fähigkeit
trefifend auch als Trommeln bezeichnen.
Einen solchen Fall hat neuerdings Prell
(Zoologischer Anzeiger 1916) von Spinnen be-
schrieben, bei denen ja musikalische Fähigkeiten
recht wenig ausgebildet sind. Die Männchen der
Pisauridenart Pisaura mirabilis, die Ende April
bei warmem Wetter öfters in lichtem Laubwald
anzutreffen sind, trommeln unter heftiger Fibration
des Körpers so schnell, daß ein schwirrendes
Geräusch entsteht. Man kann dieses am besten
nachahmen, wenn man mit dem Fingernagel
über eine F"eile fährt, so daß etwa dreißig
Leisten in der Sekunde berührt werden. Während
des Trommeins nimmt die Spinne eine ganz
charakteristische Körperhaltung ein. Sämtliche
Beine sind aufgesetzt und nur im Kniegelenk ge-
beugt, sonst aber fast gerade ausgestreckt. Dann
wird der Hinterleib stark nach abwärts gebogen.
Während die Taster sich schnell abwechselnd auf-
und nieder bewegen, wird der Hinterleib in eine
hastige zitternde Bewegung versetzt, so daß seine
Spitze in schneller Folge auf die Unterlage
schlägt. Ist die Unterlage nun ein dürres Blatt,
so ist es selbstverständlich, daß durch das wieder-
holte Pochen ein feines Knarren entsteht. Die
Stärke des Knarrens ist dabei naturgemäß ganz
von der Art der Unterlage abhängig. Daraus
folgt, daß nicht immer ein gleichmäßiges Geräusch
zu hören ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird
der Ton nicht von den fibrierenden Tastern,
sondern von der Zitterbewegung des Hinterleibes
hervorgebracht.
Nur von der beschriebenen Pisaura ist eine
Tonerzeugung festgestellt. Hämmernde Be-
wegungen der Taster und des Hinterleibes kommen
allerdings auch bei zahlreichen anderen Spinnen
vor, doch ist noch festzustellen, ob auch eine
Tonerzeugung damit verbunden ist.
Wie es scheint, können nur die Männchen
trommeln. Ist dies der Fall, so kommt der
eigentümlichen Lautäußerung sicher eine Be-
deutung bei der Annäherung der Geschlechter zu,
wie dies ja allgemein von Insekten bekannt ist. Wie
hier das Männchen allein auf einem trockenen
Blatt sitzt und musiziert, so sitzt ja auch das
Grillenmännchen allein am Eingang des Erdloches,
um durch sein Zirpen das Weibchen anzulocken.
Stellwaag.
Bticherbesprechimgen.
Henseling, Robert, Sternbüchlein für 191 7.
Stuttgart 191 7. Kosmos, Franckh'sche Buch-
handlung, — geh. I M.
Hoffmeister, Cuno, Kurze Einführung in
die Wunder am Sternenhimmel. Für
nächtliche Wanderer, unsere Jugend und unsere
Soldaten mit Rücksicht auf den Gebrauch des
Feldstechers zusammengestellt. Mit I Tafel
Das Wiedererscheinen des Henseling'schen
Sternbüchleins, das infolge des Krieges zwei
Jahre nicht erscheinen konnte, wird von allen
seinen F"reunden auf das Lebhafteste begrüßt werden.
Ist es doch von allen derartigen Heften das bei
weitem beste. Es gibt für jeden Monat eine
Übersicht der Planeten und des Sternhimmel
sowie Anleitung zu Beobachtungen mit und ohne
3 Sternkarten und einigen Abbildungen. Bamberg, F"ernrohr. Je ein kleines Kärtchen gibt den Anblick
191 6, Buchner's Verlag, — Preis 50 Pf.
Fauth, Philipp, 15 Astronomische Stereos
zur Unterstützung des Raumsinnes
und zur Förderung der Raum Vor-
stellung. Kaiserslautern 1916, Hermann
Kayser. — Preis 4,50 M.
des Himmels. Es folgen, durch zahlreiche Bilder
unterstützt, Mitteilungen über Finsternisse, die
Orte von Sonne, Mond und Planeten, und eine
Menge Angaben über neue Forschungsergebnisse
aus allen Gebieten der Astronomie. Vielen Be-
sitzern kleiner Fernrohre wird ein Verzeichnis
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
365
leicht auflösbarer Doppelsterne, von Veränderlichen
und Nebelflecken und Sternhaufen wertvoll sein.
Zum Schluß gibt Kritzinger eine eingehende,
vielleicht ein wenig allzu kritische Würdigung der
Hörbiger-Fauth'schen Glazialkosmogonie, die in
dieser Zeitschrift, 19 13 Seite 561/3 besprochen ist.
Es ist erfreulich, daß diese bedeutende Schöpfung
in immer weiteren Kreisen bekannt ist.
Viel bescheidener ist das Heftchen von Hoff-
meister, als Gabe für unsere Feldgrauen gedacht,
die draußen oft zum erstenmal immer wieder
Gelegenheit haben, sich eingehend mit den Wundern
des Himmels vertraut zu machen, und dazu einer
kleinen mit Liebe und Verständnis geschriebenen
Anleitung bedürfen. Dazu sind die gegebenen
Hilfsmittel und die Angaben über den Lauf der
Planeten durchaus genügend.
Wesentlich andere Zwecke verfolgt das dritte
Heft, das die oft unglaubliche Unfähigkeit, sich
Vorgänge im Sonnensystem räumlich vorzustellen,
durch Anschauungsmaterial bekämpfen soll. Einige
Bilder sind ausgezeichnet gelungen, z. B. die gegen-
seitige Bewegung der Jupitermonde, die Lage
verschiedener Planeten und Kometenbahnen gegen
einander, so daß die kleine Sammlung, die hoffent-
lich vermehrt wird, zu Unterrichtszwecken vor-
zügliche Dienste leisten kann. Riem.
Hartwig, Oscar, Das Werden der Organis-
men. Eine Widerlegung von Darwin 's
Zufallstheorie. 710 Seiten. Mit 115 Ab-
bildungen im Text. Jena 1916, V^erlag von
G. Fischer. — Preis: geh. 18,50 M., geb. 20 M.
Wohl kaum jemals hat eine biologische Theorie
nicht nur in den naturwissenschaltlichen Diszi-
plinen eine solche Revolution der Gedanken her-
vorgerufen, sondern so heftige, auf nahezu alle
Gebiete unseres Geisteslebens sich erstreckende
Kämpfe im Gefolge gehabt, wie die Darwin'sche
Selektionstheorie. Zwar war die Abstammungs-
lehre, der durch das Erscheinen von Darwin 's
„Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl
oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im
Kampf ums Dasein" (1859) zu einem vollen Siege
verholfen wurde, nicht neu ; 50 Jahre früher hatte
bereits Lamarck, um nur den bedeutendsten
Vorläufer Darwin 's zu nennen, in seiner „Philo-
sophie zoologique" den Nachweis zu führen ge-
sucht, daß die bis dahin geltende Lehre von der
Unveränderlichkeit der durch einen oder mehrere
Schöpfungsakte entstandenen Arten unhaltbar ist,
daß vielmehr „alle Organismen unseres Erdkörpers
wahre Naturerzeugnisse sind, welche die Natur
ununterbrochen seit langer Zeit hervorgebracht
hat". Aber ebenso wie die übrigen Vorläufer
Darwin's verstand es auch Lamarck nicht,
seine Ansichten so vorzutragen, daß sie auf die
Fachgenossen überzeugend wirkten, geschweige
denn die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich
zogen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern brachte
Darwin, der, ein Meister der Naturbeobachtung,
jahrelang mit unermüdlichem Fleiße Beobach-
tungen gesammelt hatte, gleich eine solche Fülle
von Beweismaterial für die Richtigkeit seiner
Theorie bei, daß mit dem Erscheinen seines
ersten Werkes die Abstammungslehre und mit ihr
die Selektionstheorie sozusagen mit einem Schlage
im Mittelpunkte des Interesses standen. In zwei
deutschen Forschern, H a e c k e 1 und W e i s m a n n ,
fand Darwin begeisterte Anhänger, die seine
Lehre weiter ausbauten und mit Erfolg bemüht
waren, sie zu rascher Verbreitung und zu all-
gemeiner Anerkennung zu bringen. Bald stritt
man überall um darwinistische Ideen, in Kunst
und Religion, in den Rechts- und Staatswissen-
schaften, und vor allem in der Nationalökonomie
war der „Kampf ums Dasein", den Darwin ver-
kündet halte, zum Schlagwort geworden, er galt
als universales Erklärungsprinzip. Unter Haeckel's
Führung nahm der Darwinismus schließlich den
Charakter einer religiösen Bewegung an, indem
er einen heftigen Kampf der monistischen mit
der dualistischen Weltanschauung zur Folge hatte.
„Kaum ist", so sagt Oscar H e r t w i g , „ein größerer
Kontrast denkbar als zwischen der Weltanschauung
der vorausgegangenen Jahrhunderte, mit ihren auf
christlicher Liebe basierenden Lehren, und der
Weltanschauung, die aus dem erbitterten Kampf
ums Dasein und der auf Wissenschaft begründeten
Selektionstheorie eine Orientierung auf neue Lebens-
ziele zu gewinnen suchte". An die Stelle dieses
oft genug von beiden Seiten mit leidenschaftlichem
F"anatismus und krasser Intoleranz geführten
Kampfes ist um die Jahrhundertwende glücklicher-
weise allmählich eine Periode exakter, ruhiger
Forschung getreten, und siatt in blinder Spe-
kulationswut Hypothesen auf Hypothesen zu häufen,
bemüht man sich jetzt mehr und mehr, auf ex-
perimentellem Wege die Grundlagen der Ab-
stammungslehre zu erforschen. Kreise, die aus
religiösen Gründen dem Deszendenzgedanken ab-
lehnend gegenüberstehen, pflegen neuerdings daraus
mit Vorliebe auf einen Niedergang der Ab-
stammungslehre zu schließen. Nichts ist falscher
als dieses. Das Entwicklungsprinzip beherrscht
heute mehr als je die ganze Biologie. Nicht
darüber streitet man, ob die heutigen Lebewesen,
Pflanze, Tier und IVIensch, sich aus einfacheren
und einfachsten Formen entwickelt haben, sondern
man diskutiert über die Faktoren, die diese
Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten
bedingt haben, es steht mit anderen Worten wohl
der Darwinismus, nicht aber die Deszen-
denztheorie — man hat in Laienkreisen die
beiden Begriffe oft genug einander gleichgestellt —
zur Diskussion.
Was nun den Darwinismus anbelangt, so ist
man allerdings ihm gegenüber kritischer geworden.
Besonders war es die seit dem Jahre 1900 zu so
machtvoller Entfaltung gekommene Vererbungs-
lehre, die dazu führte, die Bedeutung des Prinzips
der Auslese im Kampf ums Dasein für die Art-
bildung immer mehr einzuschränken. Man spricht
366
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
heute vielfach von einer ,,Krisis des Darwi-
n i s m u s", und es mehrt sich die Zahl der Forscher,
die nach anderen Erklärungsprinzipien der Abstam-
mungslehre suchen. In seinem jüngst erschienenen
umfangreichen Werke will Oscar Hertwig
den Beweis für die Unhaltbarkeit der Selektions-
theorie oder, wie er sie nennt, um gleich die
Schwäche der Darwin 'sehen Theorie in der Be-
zeichnung zum Ausdruck zu bringen, der Z u f a 1 1 s -
theorie führen, und zugleich unternimmt er den
Versuch, sie durch eine andere Theorie, die
Theorie der direkten Be Wirkung, zu er-
setzen. Oscar Hertwig gehört zu den Forschern,
die den Aufstieg der durch Darwin neu be-
gründeten Entwicklungslehre persönlich miterlebt
haben. Als Schüler Haeckel's wurde sein
Interesse für darwinistische Fragen frühzeitig wach-
gerufen, und er hatte als solcher besondere Ge-
legenheit, den Kampf der IVleinungen zu verfolgen.
Durch eine große Zahl ausgezeichneter Unter-
suchungen aus den Gebieten der Entwicklungs-
geschichte der Tiere, der vergleichenden Anatomie
und der experimentellen Biologie hat Hertwig
bedeutenden Anteil an der sicheren Funda-
mentierung der Deszendenztheorie genommen.
Niemals ist er aber, wie er in dem Vorwort zu
seinem Werke auseinandersetzt, ein blinder Partei-
gänger des Darwinismus gewesen. Schon in einer
Reihe früherer Schriften hatte er Zweifel an der
Richtigkeit der Darwin 'sehen Theorie geäußert,
und wenn er gerade jetzt die Selektionstheorie in
umfassender Weise einer scharfen Kritik unterzieht,
so geschieht das nicht, wie er versichert, weil
Darwin ein Engländer ist — bedarf es bei einem
deutschen Gelehrten überhaupt einer solchen Ver-
sicherung? — , sondern Hertwig ist im Laufe
jahrelanger Untersuchungen zu seinem heutigen
Standpunkte gekommen und will nun mit dieser
Auseinandersetzung mit dem Darwinismus seine
Lebensarbeit zu einem Abschluß bringen.
Hertwig schildert in seinem Werke über
das Werden der Organismen zunächst die Ent-
stehung des Einzelindividuums, die Ontogenese,
und setzt die diese bedingenden Faktoren aus-
einander. Damit vergleicht er die Entwicklung
des Stammes, die Phylogenie. Worauf diese
beruht, das ist das große Problem, das Darwin
durch seine Selektionstheorie zu lösen versucht
hat. Nach einer Besprechung dieser Theorie
begründet dann Hertwig in den letzten Kapiteln
seines Werkes seinen ablehnenden Standpunkt ihr
gegenüber und deutet die Wege an, auf denen
nach seiner Ansicht eine Lösung des Problems
gefunden werden kann. Der uns zur Verfügung
stehende Raum gestattet nicht ein genaues Eingehen
auf die Hertwig' sehen Darlegungen. Wir müssen
uns darauf beschränken, kurz seinen Standpunkt
zur Darwin 'sehen Theorie zu skizzieren. Um
aber wenigstens eine Vorstellung von der Fülle
des in dem Werke behandelten Stoffes zu geben,
sei eine Inhaltsangabe der vorhergehenden Kapitel
vorausgeschickt. Hertwig behandelt:
Die älteren Zeugungstheorien — Die Stellung
der Biologie zur vitalistischen und mechanistischen
Lehre vom Leben — Die Lehre von der Artzelle
als Grundlage für das Werden der Organismen
— Die allgemeinen Prinzipien, nach denen aus
den Artzellen die vielzelligen Organismen ent-
stehen — Die Umwertung des biogenetischen
Grundgesetzes — Die Erhaltung des Lebens-
prozesses durch die Generationsfolge — Das
System der Organismen — Die Frage nach der
Konstanz der Arten — Die Stellung der Organismen
im IVlechanismus der Natur — Das Problem der
Vererbung — Der gegenwärtige Stand des Ver-
erbungsproblems.
Die weiteren Kapitel sind dem Lamarekismus
und dem Darwinismus sowie der Kritik der
Selektions- und Zufallstheorie gewidmet.
Während Lamarck in dem Prinzip der
funktionellen Anpassung eine kausale Er-
klärung der Abstammungslehre gefunden zu haben
glaubte, suchte Darwin eine solche Erklärung
durch seine Lehre von der natürlichen
Zuchtwahl im Kampf ums Dasein oder
die Selektionstheorie zu geben. Die Beob-
achtungen und Erfahrungen der Tier- und Pflanzen-
züchter haben Darwin den ersten Anstoß zur
Aufstellung seiner Theorie gegeben. Es ist eine
allgemeine Eigenschaft der Organismen zu vari-
ieren. Die Kinder unterscheiden sich von ihren
Eltern und untereinander durch mancherlei, wenn
auch geringfügige Merkmale. Bald variieren die
Merkmale in dieser, bald in jener Richtung, von
Natur aus ist das Variieren richtungslos. Indem
nun der Züchter unter den ihm von der Natur
gebotenen Varietäten der Tiere und Pflanzen die-
jenigen aussucht und zur Fortpflanzung bringt,
die ihm für seine Zwecke am geeignetsten er-
scheinen, gibt er der Variation eine bestimmte
Richtung. Denn, so schloß Darwin, die bei
den ausgesuchten Varietäten besser oder neu
ausgebildete Eigenscliaft vererbt sich auf die Nach-
kummen und variiert bei diesen wieder. Erfolgt
in den nächsten Generationen immer wieder eine
Auswahl der besten Individuen, so wird die Eigen-
schaft immer mehr vervollkommnet, bis schließlich
eine besondere Rasse, Varietät oder gar Art erzielt
ist. Durch solche künstliche Zuchtwahl
sind nach Darwin alle unsere heutigen Kultur-
pflanzen- und Haustierrassen entstanden. Die
Zuchtwahl, die der Mensch im kleinen übt, führt
die Natur im großen aus. Die Rolle des Züchters
spielt in der Natur der Kampf ums Dasein.
Die Vermehrungsfähigkeit der meisten Organismen
ist enorm im Vergleich zur Existenzmöglichkeit.
Eine große, ja die größte Zahl der Nachkommen
muß zugrundegehen, es entsteht unter ihnen
ein Kampf um Nahrung und Raum, und in diesem
Kampfe werden im allgemeinen die Formen er-
halten bleiben, die infolge zufälliger Variationen
den Bedingungen der Umwelt besser angepaßt
sind als andere. Die Überlebenden vermögen die
sie begünstigenden Abänderungen auf ihre Nach-
N. F. XVI. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
367
kommen zu vererben, von diesen werden wieder
die am besten angepaßten Individuen erhalten
bleiben, und so entwickelt sich auch in der Natur
das anfangs vielleicht nur ganz geringfügig er-
scheinende Merkmal mehr und mehr. Das ist in
kurzen Zügen Darwin 's Selektioiistheorie, die
dann durch Haeckel und vor allem durch W e i s -
mann, den Begründer der Lehre von der Ger-
minalselektion, noch weiter ausgebaut wurde.
Während Darwin und auch Haeckel neben der
Selektion auch dem Lamarck'schen Faktor eine
gewisse Bedeutung für die Artbildung einräumten,
hält Weis mann eine Vererbung erworbener
Eigenschaften für ganz unmöglich und verkündet
die Allmacht der Naturzüchtung.
In seiner Kritik der Selektions- und Zufalls-
theorie geht H e r t w i g vom Wesen der Variation
aus. „Beim Streit um die Selektionstheorie han-
delt es sich in erster Linie um die Erforschung
der Bedingungen und Ursachen, unter denen die
Organismen variieren, und um die Beantwortung
der Frage, ob die Organismen je nach ihrer spe-
zifischen Natur auf bestimmte und während längerer
Dauer einwirkende Reize in ihren Funktionen und
in ihrer Organisation in bestimmter oder in be-
liebiger Richtung variieren." Diese Kardinalfrage
hat Darwin unbeantwortet gelassen. Erst durch
die neu geschaffene Mendelforschung haben wir
hier Klarheit gewonnen. Wir teilen heute die
Variationen in drei Kategorien ein: in Modifika-
tionen, Kombinationen und Mutationen. Die Mehr-
zahl der Variationen sind Modifikationen;
diese werden hervorgerufen durch Einwirkungen der
Außenwelt, durch Licht, Temperatur, Ernährung
usw., und sind nicht erblich. Eine unter
den Modifikationen vorgenommene Selektion ist
infolgedessen vollständig wirkungslos. Gerade die
Modifikationen sind aber für Darwin eines der
wichtigsten Beweismittel für seine Theorie gewesen !
Auf zwei Wegen vermag der Züchter neue Kuliur-
formen von I.ebewesen zu gewinnen: i. durch
Kombination zweier in einem oder mehreren
Merkmalen differenten Idioplasmen, 2. durch M u -
tation. Kombinationen und Mutationen sind
erblich. Die Kombination erzielt der Züchter
allerdings durch Selektion, aber sie führt nicht in
dem Sinne zur Entstehung neuer F"ormen, daß
dadurch die Artbildung erklärt werden könnte,
auch ist der Zufall ganz ausgeschaltet. Der Züchter
verbindet lediglich, ähnlich wie der Chemiker, zwei
Idioplasmen zu neuen Lebensformen nach fest-
stehenden und bereits bekannten Gesetzen. Die
Mutationen beruhen niclit auf Bastardspaltung;
über ihre Ursache wissen wir bisher nichts Be-
stimmtes, jedoch ist es nicht mehr zweifelhaft,
daß sie ganz unabhängig von Selektion
entstehen. Nach dem Aussehen sind die drei
Kategorien von Variationen in der Regel nicht
zu unterscheiden; es muß meistens erst duich
das Vererbungsexperiment festgestellt werden, in
welche Kategorie eine bestimmte Variation gehört.
„Der Züchter kann", das ist das unzweideutige
Resultat der Mendelforschung, „durch Selektion
nichts Neues produzieren. Seine Kunst besteht
ausschließlich im Auffinden und in der geschickten
Auswahl für seine Zwecke geeigneter erblicher
Abänderungen von Lebewesen, welche die Natur
entweder durch Kombination zweier verschiedenen
Idioplasmen oder durch Mutation eines bestehen-
den Idioplasma hervorgebracht hat."
Mit der Lehre von der künstlichen Zucht-
wahl steht und fällt eigentlich auch die Theorie
der natürlichen Zuchtwahl. Hertwig führt
trotzdem auch noch eine Reihe von Einwänden
gegen letztere ins Feld: i. Kleine Unterschiede
zwischen den einzelnen Individuen können, auch
wenn sie vorteilhaft sind, nicht den Ausschlag
geben bei der Entscheidung über Leben und Tod,
sie können daher auch nicht durch Selektion ge-
steigert werden. 2. Die rein morphologischen
Merkmale der Pflanzen und Tiere, deren Zahl sehr
groß ist, besitzen keinen besonderen Nutzen für
den Organismus, es fehlt ihnen jeglicher Selektions-
wert, ihre Entstehung kann also nicht nach dem
Selektionsprinzip erklärt werden. 3. Allgemeine
Gesetzmäßigkeiten in der Organisation der Lebe-
wesen, wie z. B. die fundamentalen Eigenschaften
der lebenden Substanz (Ernährung, U'achstum,
Fortpflanzung, Empfindung), vermögen ebenfalls
durch Selektion von zufälligen Organisations vor-
teilen keine Erklärung zu finden. 4. Die Genealogie
der Organismen weist nicht auf eine monophy-
letische Abstammung hin, wie sie die Anhänger
des Darwinismus postulieren, sondern auf eine
polyphyletische Deszendenz. 5. Die Stellung der
Selektionstheorie zum Zweckbegriff: das Selektions-
prinzip löst nicht das Rätsel des Zweckmäßigen,
es setzt die Zweckmäßigkeit als etwas schon in
der Natur der Organismen Vorhandenes voraus.
An die Stelle der Selektions- und Zufallstheorie
will Hertwig die „Theorie der direkten
Be Wirkung" setzen. Diese Theorie ist nicht
neu; sie stammt von Nägeli, und Hertwig
erklärt ausdrücklich: „Nägeli 's Standpunkt ist
auch der meinige." Die mechanisch-physiologische
Theorie der Abstammungslehre Nägeli 's, die
zu der Lamarck'schen Lehre in naher Verwandt-
schaft steht, besagt, daß ,,die Eigenschaften der
Organismen die notwendigen Folgen von bestimmten
Ursachen seien". Der Schwerpunkt bei der F"rage
nach der natürlichen Entwicklung der Organismen
wird nach Hertwig in der von ihm vertretenen
Richtung auf die direkte Bewirkung und
auf die Vererbung erworbener Eigen-
schaften gelegt, das Prinzip der Selektion hat
zwar auch eine regulierende Rolle beim Werden der
Organismen, aber diese Rolle ist von anderer und
iTiehr untergeordneter Bedeutung als beim Darwi-
nismus. „Auch die Selektion selbst ordnet sich
als ein Glied der direkten Bewirkung mit in die
Kausalzusammenhänge des großen Naturganzen
ein."
Durch die Richtung, die Hertwig vertritt,
ist auch sein Standpunkt gegenüber den modernen
368
Naturwissenschaftliche Woch enschrift.
N. F. XVI. Nr. 26
Lehren vom Leben, dem Vitalismus und dem
Mechanismus, gegeben. Er vermag sich keiner
von beiden anzuscliließen, sondern sucht ein Kompro-
miß zwischen beiden. Dem Mechanisten gegen-
über betont er die Eigenart biologischer
Aufgaben, leugnet aber im Gegensatz zum
Vitalisten die Existenz einer besonderen „Lebens-
kraft"; er möchte die Unterschiede zwischen der
unbelebten und der belebten Körperwelt nicht
übersehen wissen, betont aber, daß diese Unter-
schiede nur graduelle sind.
Es würde zu weit führen, wollten wir hier in
eine Kritik der Hertwig'schen Anschauungen
eintreten. Auch die Theorie der direkten Be-
wirkung hat ihre Schwächen. Uns scheint, um
nur auf eines hinzuweisen, daß Hertwig, der
so sehr — und ganz mit Recht — betont, daß
die Grundlagen der Selektionstheorie durch den
Mendelismus zerstört worden sind, den Nachweis
zu führen unterläßt, inwieweit seine Theorie mit
den Ergebnissen der modernen Vererbungsforschung
in Einklang steht. „Es ist völlig evident," sagt
Johannsen, „daß die Genetik die Grundlage der
Darwin 'sehen Selektionslehre ganz beseitigt hat."
„Aber," so sagt er weiter, „ähnlich steht die Sache
in bezug auf die Hypothesen, welche mit , .erblicher
Anpassung", „Vererbung erworbener Eigenschaften"
u. dgl. Ideen in mehr oder wenig nahem An-
schluß an Lamarck's Anschauungen operieren.
Die Genetik hat hier absolut keine Tatsache auf-
gedeckt, die als Stütze derartiger Ideen dienen
könnte." Doch, wie dem auch sei, auch wer den
Anschauungen H e r t w i g ' s nicht zu folgen vermag
und mit Johannsen auf dem Standpunkte steht,
daß wir „eine zeitgemäße Theorie der Evolution
augenblicklich nicht haben", wird aus dem
Hertwig'schen Werke über das Werden der
Organismen reiche Anregung schöpfen. Wie
Weismann's „Vorträge über Deszendenstheorie"
so stellt auch Hertwig's „Werden der Organismen"
einen Markstein in der Geschichte der Abstam-
mungslehre dar. Das Werk wird seinen Wert
behalten, auch wenn die darin vorgetragenen
Ideen sich mit fortschreitender Erkenntnis mehr
oder weniger als irrig werden erweisen lassen.
Nachtsheim.
E. Freundlich, Die Grundlagen der Einstein-
schen Gravitationstheorie. Berlin 1916,
Julius Springer. — Preis 2,40 M.
Das Büchlein ist aus einer Reihe von Aufsätzen
hervorgegangen, die der Verfasser in der Zeitschrift
„Die Naturwissenschaften" veröffentlicht hat. Es
ist wohl die erste zusammenfassende Darstellung
der neuen Einstein'schen Theorie, die ja eine
durchgreifende Umwälzung unserer bisherigen
Vorstellungen bedeutet. Es ist dem Verfasser ge-
lungen — so sagt Einstein in dem von ihm ge-
schriebenen Vorwort — , die Grundgedanken der
Theorie jedem zugänglich zu machen, dem die
Denkmethoden der exakten Naturwissenschaften
einigermaßen geläufig sind. Es kann daher allen,
die dem Thema Interesse entgegenbringen, warm
empfohlen werden. Eine eingehende Besprechung
erübrigt sich, da kürzlich die Naturwissensch.
Wochenschr. eine ausführliche und lesenswerte
Arbeit 1) über dasselbe Thema gebracht hat.
Seh.
Pilger, R., Prof Dr., DieMeeresalgen. Dritte
Abteilung des 4. Bandes der „Kryptogamenflora
für Anfänger. Berlin 1917, J.Springer. — 5,60 M.
Mit diesem Hefte erreicht der 4. Band der
„Kryptogamenflora für Anfänger", der die Algen
behandelt, zum Abschluß. Er enthält die Meeres-
algen, aber mit der Einschränkung, daß nur die
Rot-und Braunalgen berücksichtigt werden, während
die grünen Algen des Meeres sowie seine Diatomeen
bereits in den früheren Heften enthalten sind.
Der Zweck des Plorenwerkes, den Anfänger und
Liebhaber einzuführen und ihn beim Sammeln
und Bestimmen zu unterstützen, rechtfertigt es, die
Phäo-und Rhodophyzeen als typische Vertreter
des marinen Algenwuchses gesondert zu behandeln.
Wie in den anderen Heften (vgl. die Besprechungen
N. W. Bd. Xlll S. 783, Bd. XV S. 349) wird eine
ganz kurze Belehrung über Verbreitung, Lebens-
bedingungen, Bau, Fortpflanzungsverhältnisse und
Präparation der Meeresalgen dem systematischen
Hauptteil vorausgeschickt. Die Bestimmung
wird durch einfache, klare Zeichnungen er-
leichtert. Berücksichtigt wird die Algenflora der
deutschen Küsten sowie die des nördlichen
adriatischen Meeres. Als praktisches Hilfsmittel
für den, der in erster Linie die Algen sammeln
und bestimmen will, ist die Flora nützlich und
empfehlenswert. Miehe.
') XVI (1917), S. 113, P. Riebeseil: Relativität und
Gravitation.
Inhalt i O. Taschenberg, Etwas über den Begriff „Brutparasitismus". S. 353. — Einzelberichte: Korscheit, Lebens-
dauer, Altern und Tod. S. 358. Goldschmidt, Geologisch-Petrographische Studien im Hochgebirge des südlichen
Norwegens. S. 362. Lingelsheim, Zur Kenntnis der Deutschen Tertiärlloren. S. 368. Prell, Über trommelnde
Spinnen. S. 364. — Bücherbesprechungen: Robert Henseling, Sternbüchlein für 1917; Cuno Hoffmeister,
Kurte Einführung in die Wunder am Sternenhimmel; Philipp Fauth, 15 Astronomische Stereos zur Unterstützung
des Raumsinnes und -zur Förderung der Raumvorstellung. S. 364. Oscar Hertwig, Das Werden der Organismen.
Eine Widerlegung von Darwin's Zufallstheorie. S. 365. E. Freundlich, Die Grundlagen der Einstein'schen Gravila-
tionstheorie. S. 36S. R. Pilger, Die Meercsalgen. S. 368.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 8. Juli 1917.
Nummer 37.
Etwas über den Begriflf „Brutparasitismus".
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. O.
Um noch einmal auf die hervorgeiiobene Paral-
lele zwischen den durch Bedürfnis nach Schutz
und Nahrung bedingten Vereinigungen verschie-
dener Tierarten und die zu ähnlichen Vergesell-
schaftungen führenden Formen der Brutpflege zu-
rückzukommen, so würde es naheliegen, die
unter dem Aushängeschilde des „Brutparasitismus"
üblichen Beispiele mit jenen Epöken und Synöken
in eine biologische Gruppe zu vereinigen, denen
man das Odium des Parasitismus fernhält. Dahin
gehören die von Kraepelin als Epöken ange-
führten „zahlreichen Würmer und Krebse, die die
Gewohnheit haben, ihre Eier im Innern des Kanal-
systems der Schwämme abzusetzen". Ferner die
besonders charakteristische Brutpflege des nied-
lichen Bitterlings (Rhodeus amarus) unter den
Fischen, der seine Eier mit Hilfe einer Legeröhre,
die nur in der Laichzeit zur Entwicklung kommt,
zwischen die Kiemenbiätter der Teichmuscheln
absetzt, wo die junge Brut bis zur Aufzehrung
des Nahrungsdotters verweilt. Wie schon erwähnt,
begegnen wir bei Kraepelin den von anderer
Seite als Brutparasiten angesprochenen Tieren,
wie den Einmietern unter den Gallwespen, den
Kuckucksbienen, Mutillen, Goldwespen, gewissen
Fliegen („Trauerschwebern") unter den Synöken,
während er die Maiwürmer unter den wirklichen
Parasiten bespricht, aber nur als „klassisches Bei-
spiel für die hier zutage tretenden Schwierig-
keiten" in der Klassifizierung. Allen diesen Fällen
von Vergesellschaftung verschiedener Tierarten ist
das gemeinsam, daß es sich nicht, wie sonst
wohl, um eine Anteilnahme an der Nahrung
seitens Erwachsener, nicht um eine Tisch-
genossenschaft (Kommensalismus) im gewöhn-
lichen Sinne handelt, sondern um Erlangung der
Mittel zur normalen Entwicklung der jungen
Brut. Im Prinzip ist es das gleiche; denn es
handelt sich um Fragen der Ernährung; ein ge-
wisser Unterschied zwischen den einzelnen, hier
zusammengefaßten Fällen besteht nur darin, daß
wir den einen bezüglich der „Berechtigung" im
menschliclien Sinne, bzw. der „Unschädlichkeit"
für den Partner Indemnität zubilligen, während
wir gegen den anderen den „Vorwurf" der „un-
berechtigten", weil schädigenden Beeinträchtigung
erheben. Die letzleren werden dadurch den eigent-
lichen Parasiten näher gebracht, ohne daß sie den
Namen verdienen, weil sie ihre Nahrung nicht
den Körperbestandteilen ihrer unfreiwilligen Gast-
geber entnehmen. Wenn man nun ein solches,
in der Tat eigenartiges Verhältnis mit einem be-
sonderen Ausdrucke hervorheben will, so würde
ich vorschlagen, statt von „Brutparasitismus" von
Taschenberg. (Schluß.)
Paraxenie zu sprechen, d. h. von einer un-
rechtmäßig in Anspruch genommenen Gastfreund-
schaft; denn das griechische Wort /lagd^ero); be-
deutet einen „verstellten Gastfreund", einen der
unrechtmäßig als Fremder eingedrungen ist. Da-
mit hätten wir einen gewissen Gegensatz zum
berechtigten Gastfreund, zum Tischgenossen oder
Kommensalen aufgestellt und doch beider nahe
Zugehörigkeit zur Synökie, im Gegensatz zum
Parasitismus zum Ausdruck gebracht. Wir sind
auch in der Lage, der Brutpflege im allgemeinen
gegenüber von emer paraxenen Brutpflege,
ferner von paraxenen Bienen und Hummeln
zu sprechen. Wobei immer wieder hervorgehoben
werden muß, daß es sich lediglich darum handelt,
in der unendlichen Mannigfaltigkeit von Lebens-
erscheinungen zu unserer Orientierung eine ge-
wisse Ordnung, eine Art von System einzuführen,
ohne zwischen den einzelnen Kategorien eine
scharfe Grenze ziehen zu können und zu wollen.
Wenn man die Verhältnisse vom phylogenetischen
Standpunkte aus beurteilen will, würde das hier
des längeren Erörterte sich in die wenigen Worte
zusammenfassen lassen: bei der Vergesellschaftung
verschiedener Tierarten kann sich aus dem Kom-
mensalismus ebenso wie aus der Paraxenie ein
typischer Parasitismus herausbilden.
Noch ein anderer Berührungspunkt zwischen
Parasitismus und Brutpflege soll nicht unerwähnt
bleiben, der von so eigenartiger Natur ist, daß er
unsere vermeintlich festgelegten biologischen Be-
griffe auf den Kopf zu stellen scheint. Schon
Kraepelin (S. 90 seiner mehrfach erwähnten
Schrift) macht darauf aufmerksam, „daß in ge-
wissem Sinne auch das saugende Junge an den
Zitzen der Mutter der Definition des Parasiten
entspricht, und daß diese Parallele noch voll-
ständiger wird, wenn etwa die Jungen der Katze
einer säugenden Hündin untergeschoben sind".
Auf den ersten Blick möchte es einem geradezu
paradox erscheinen, den Säugling an der Mutter-
brust — denn der Mensch erweist seine Zu-
gehörigkeit zu den Säugetieren durch nichts
sicherer als durch diese höchst entwickelte Form
von Brutpflege — als Parasiten der eigenen Mutter
in Anspruch zu nehmen ! Und doch ist das Baby
in der ersten Zeit seines Lebens ein Organismus,
der seine Nahrung den Säften eines anderen Or-
ganismus entnimmt, er trägt also die Signatur
des Schmarotzers an sich. Warum rechnen wir
ihn in Wirklichkeit nicht dazu? Wäre die „Schä-
digung" des Wirts seitens seines Parasiten wirk-
lich das Kennzeichen des letzteren, so könnte man
den Säugling schon darum davon ausschließen;
370
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 27
denn er schädigt seine Mutter nicht nur nicht
durch die Entnahme seiner Nahrung aus den
Milchdrüsen, sondern entlastet sie vielmehr von
einer Substanz, die, sobald sie einmal gebildet
ist, den Körper belastet und zu ihrer Entleerung
drängt, nicht anders als andere Exkrete, wie
Harn oder wie unverdaute Nahrungsreste. Daraus
könnte man den Schluß ziehen, daß die Milch
kein integrierender Bestandteil des Organismus ist,
der sie gebildet hat; wie man auch den ausge-
schiedenen Schleim der Haut, von dem sich die
sog. Fischläuse ernähren, mit zweifelnder Emp-
findung noch als „Teile des betreffenden Wirts-
körpers" ansieht. Übrigens wäre bereits der
Embryo jedes plazentalen Säugetieres ebenso-
gut als Parasit anzusprechen, wie der Säugling.
Des letzteren Ernährungsweise bildet nur die
Fortsetzung von der während des Intrauterin-
lebens stattfindenden, und beide erscheinen eben
als der Ausdruck einer hochentwickelten Brut-
pflege. 1)
Wenn man auch nicht an die mit einer ge-
wissen Komik gepaarte Tatsache zu erinnern
nötig hat, die darin liegt, daß schon manche
junge Frau die ersten Beschwerden der heran-
nahenden Mutterschaft auf die Anwesenheit eines
Bandwurms in ihrem Darme zurückführen zu
müssen glaubte, so braucht man sich auch darum
nicht über Analogien zwischen Brutpflege und
Parasitismus zu verwundern, weil beiderlei Lebens-
äußerungen tatsächlich mit Ernährungsverhält-
nissen im engsten Zusammenhange stehen und
uns nur deshalb wie Gegensätze erscheinen mögen,
weil sie Extreme einer Funktion sind, die in
anderen Formen ihrer x'\ußerung kaum eine Ab-
grenzung gegeneinander zulassen. In unseren
wissenschaftlichen Definitionen müssen wir aber
keine Prinzipienreiterei hervorkehren, sondern wie
im Zusammenhange mit anderen menschlichen
Interessen Kompromisse gelten lassen.^) Das heißt,
') Um nicht den .Anschein zu erwecken, als ob ich mit diesen
Bemerliungen etwas durchaus Neues auszusprechen mir einbildete,
will ich nicht unterlassen zu bemerken, daß mir — allerdings
erst, nachdem ich obiges längst niedergeschrieben hatte —
die Darlegungen von V. Faussek (Zool. Anzeiger, 27. Bd,
1904, Nr. 25, S. 761 flf.) zu Gesicht gekommen sind, die unter
der Überschrift „Viviparität und Parasitismus" den Versuch
machen, die Viviparität und die damit zusammenhängende Er-
nährung des Embryos auf Kosten des mütterlichen Organismus
auf Parasitismus zurückzuführen und zu dem Endresultat ge-
langten, daß dieser spezielle Fall von Parasitismus ein zeit-
weiliger Parasitismus der folgenden Generation einer Art auf
der vorhergehenden sei. Ich will an dieser eigenartigen Auf-
fassung zunächst keine Kritik üben (vgl. Fußnote ''), hier nur
bemerken, daß sie mir nicht allzusehr von jenem einst herr-
schenden Dogma entfernt zu sein scheint, wonach Mutter
Eva die Keime der gesamten, von ihr abstammenden Mensch-
heit in ihren allumfassenden Ovarien enthalten hat. Ben
Akiba behält eben recht, solange die Welt besteht.
*) Wie im Umgange mit den Menschen das ,, natürliche
Taktgefühl" oft vermißt und darum doppelt geschätzt wird,
wo es uns entgegentritt, so bedarf es auch in den großen
menschlichen Gemeinschaften, die durch gleiche wissen-
schaftliche Bestrebungen zusammengehalten werden, eines
gewissen Taktes, der leichter empfunden und vermißt wird als
er definierbar ist. Das macht sich leider auf dem Gebiete der
auf unseren F"all angewandt: die Ernährungs-
weise des jung-en Säugetieres ist kein
Parasitismus!
Die eine Katze aufsäugende Hündin — eine
Zwischenstufe zwischen ihr und ihren eigenen
Nachkommen bildet die menschliche Amme —
verhält sich zur normalen Brutpflege wie die von
mir als Paraxenie bezeichneten Fälle zum „Brut-
parasitismus" und sind gleichzeitig ein beredter
Ausdruck für die Macht des Instinktes über den
Organismus, ein Gebiet, in das u. a. auch die
„gluckende" Henne gehört, die ebensogut Enten-
eier ausbrütet wie ihre eigenen oder die von
anderen Hühnern gelegten Eier, ja die sogar in
Ermangelung von Eiern auf dem bloßen Erd-
boden die gleiche „Pflicht" der Bebrütung an den
Tag legt und darin vollkommen den Pflegeeltern
des jungen Kuckucks an die Seite gestellt werden
kann.
Der oben geäußerten Auffassung, daß das Se-
Systematik in der oft zuweitgehenden .Arten- und Gattungs-
spalterei fühlbar und kann auch im Zusammenhange mit dem
hier behandelten Thema zur Geltung kommen. ,, Vernunft
wird Unsinn, Wohltat Plage", und noch ein anderes Wort tritt
in seine Rechte ein, das vor Überspannung des Bogens warnt:
'Summum jus summa injuria'. Daß zwischen der Ernährungs-
weise eines Parasiten und eines Embryos gewisse Beziehungen
bestehen, wie sie schließlich in Fragen des gleichen physio-
logischen Vorganges nicht allzusehr überraschen können, ist
nicht zu leugnen; aber es gibt mancherlei Analogien, die
dennoch ihrem Wesen nach ungleich sind wie u. a.: „cacatum
non est pictum". Der Standpunkt, der sich in Faussek's
Satze äußert : „Viviparität sei ein spezieller Fall von Parasitismus",
ist übrigens in dieser Fassung zum mindesten von vornherein
unrichtig; denn Viviparität als solche läßt sich nicht mit der
parasitischen Ernährung vergleichen, sondern nur dann, wenn
sie Hand in Hand mit einer so engen Beziehung zwischen
Embryo und Mutter geht, wie sie bei den plazentalen Säuge-
tieren und in gewissem Grade auch bei Haifischen besteht.
Es scheint mir indessen nicht allzu schwierig zu sein, ein
wirkliches Kriterium für die richtige Umgrenzung des Be-
griffes ,, Parasitismus" zu finden, welches auch im letzteren
Falle seine Anwendung ausschließt, mag man ihn vom Stand-
punkte der Ernährungsphysiologie oder der tierischen Vergesell-
schaftung aus beurteilen. Wo immer man ihn bisher anzu-
wenden pflegte, da hat die stillschweigende Voraussetzung zu-
grunde gelegen, die auch in den betreffenden Ausdrücken
zur Geltung gelangt, daß von den beiden Individuen, die
dabei beteiligt sind, das eine, nämlich der ,, Parasit", bzw.,
wenn man nur von Kommensalismus redet, der „Gastfreund"
als ein ursprünglich Fremder an das andere, den „Wirt"
oder „Gastgeber" von außen herantritt. Und wenn dem
tatsächlich 50 ist, dann kann eine aus dem Zellenstaate eines
weiblichen Tieres heraustretende, besondere Selbständigkeit
erlangende Einzelzelle, die mit der Funktion der Arterhaltung
bttraut ist und sich unter normalen Verhältnissen zu einem
Embryo entwickelt, nie und nimmer unter dem Gesichtspunkte
des Parasitismus beurteilt werden. Dazu kommt noch ein
zweites Moment. Weil der Parasit von vornherein für den
Wirt ein fremder Eindringling ist und auch stets bleibt, so
kommt ihm — um wieder einmal vom menschlichen Stand-
punkte aus zu sprechen — der Wirt auch keineswegs entgegen,
um ihm bei seinem Nahrungsbedürfnis behilflich zu sein, muß
sich vielmehr sehr häufig gefallen lassen, daß er von ihm „mit
klammernden Organen" angepackt wird. Darum wäre es völlig
gegen den zur Beobachtung kommenden Befund, wenn ein
Wirt dem Parasiten die Lebensbedingungen, insbesondere die
Nahrungsaufnahme erleichterte, wie es tatsächlich dem Embryo
gegenüber durch Ausbildung der mütterlichen Plazenta ge-
schieht, ein Vorgang, der mithin dem Begriffe des Parasitismus
durchaus zuwider ist.
N. F. XVI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
371
kret der Milchdrüsen nicht als integrierender Be-
standteil des Organismus aufgefaßt werden könne,
möchte ich noch etwas Ähnliches aus dem Pflanzen-
leben, bzw. aus dem gegenseitigen Verhältnis von
Tieren zu Pflanzen anreihen. Daß es tierische
Parasiten bei Pflanzen gibt, ist in meinem früher
veröffentlichten Artikel über Parasitismus zur
Sprache gebracht und dabei auch hervorgehoben,
wie außerordentlich schwierig es sei, zwischen
solchen und Pflanzenräubern eine Scheidewand
aufzurichten. Bei der Nahrungsweise der Pflanzen-
läuse, die durch Anstich pflanzlicher Gewebe
deren Säfte saugen, kann kein Zweifel bestehen,
daß sie den Parasiten zuzurechnen sind. Wie ver-
hält es sich nun aber mit den zahlreichen anderen
Insekten, die sich von jenen Pflanzensäfien ernähren,
die frei zutage treten und als Nektar bezeichnet
werden? Ist jemand ernstlich auf den Gedanken
gekommen, alle die Tausende von Fliegen, Schmetter-
lingen und Hymenopteren, die nach dieser süßen
Kost lüstern sind, zu den Schmarotzern zu rech-
nen? Ich glaube nicht; aber warum nicht? Weil
jene zuckerhaltigen Stoffe ebenso wie unser Schweiß,
sobald er aus den Hautdrüsen ausgetreten ist, nicht
mehr als Teile des Organismus gelten können.
Das Sekret der Mammarorgane in derselben Weise
zu beurteilen, scheint mir durchaus berechtigt
zu sein.
Aber noch von einem anderen Standpunkte
aus läßt sich zu der Frage, ob ein saugendes
Säugetierjunges mit Recht als Parasit angesehen
werden kann, Stellung nehmen. Die verschiedenen
Formen von tierischen Vergesellschaftungen pflegen
wir von vornherein in zwei Gruppen zu teilen,
die durchaus plausibel erscheinen : nämlich in
solche zwischen Individuen einer Art (wie Ehe,
Familie, Herde, Staat) und solche zwischen Indi-
viduen verschiedener Arten. Die Parasiten rechnet
man skrupellos zur letzteren Kategorie. Daraus
müßte der Schluß gezogen werden: dann kann
zwischen dem Jungen und seiner Mutter nie und
nimmer von Parasitismus die Rede sein, denn sie
gehören einer und derselben Art an. Aber auch
mit dieser Folgerung stoßen wir auf Schwierig-
keilen, da man tatsächlich von Fällen spricht, in
denen das Männchen als Parasit des eigenen
Weibchens auftrete. Eine derartige Auffassung
hat insofern nicht eben etwas Befremdendes, weil
man zur Genüge Beispiele anführen kann dafür,
daß sich die Individuen einer Art untereinander
auffressen, und wenn diese Ernährungsweise nur
gradweise vom Parasitismus verschieden ist, warum
sollte man nicht auch den letzteren zwischen Art-
angehörigen gelten lassen? Dann würden freilich
unsere beiden Hauptkategorien tierischer Gesell-
schaften ebensowenig streng geschieden sein, wie
viele andere von uns mit besonderen Namen be-
legte Betätigungen des organischen Lebens. Aber
es ist sehr fraglich, ob man überhaupt berechtigt
ist, in den Fällen, wo Männchen als Bewohner
ihrer Weibchen bekannt geworden sind, von Para-
sitismus der ersteren zu sprechen, wie es aller-
dings und zwar wiederum nur aus alter Gewohnheit,
gemeinhin geschieht. Es handelt sich um Zwerg-
männchen, die bei Bonellia als planarienartige Wesen
im Eileiter des Weibchens, bei verschiedenen para-
sitischen Krebsen den zugehörigen Weibchen äußer-
lich angeheftet, und bei Trichosomum crassicauda,
einem Parasiten in der Harnblase der Wanderratte,
im Fruchthalter angetroffen werden, Beispiele für
die Vereinigung der beiden Geschlechter einer
Art, die sich an die etwas modifizierten Verhält-
nisse bei den in Cysten paarweise eingeschlossenen
Saugwürmern und bei Schistosomum haematobium
anschließen und von dem Gesichtspunkte der
Sicherungsmittel zur Eibefruchtung zu beurteilen
sind. Daß solche Zwergmännchen als Epöken
ihrer Weibchen gelten müssen, ist zweifellos, aber
selbst angenommen, daß sie überhaupt der Nah-
rungsaufnahme bedürfen — sie entbehren zumeist
des Darmkanals — , so würden sie doch nicht als
Parasiten, sondern als Mutualisten aufgefaßt
werden müssen, denn durch ihre geschlechtliche
Funktion leisten sie durchaus vollwertige Gegen-
dienste für die minimalen Nahrungssäfte, die sie
etwa von ihren Weibchen empfangen sollten.
Also auch nach dieser Richtung hin wäre nach
unserer Auffassung die landläufige Anwendung
des Begriffes „Parasitimus" einzudämmen. Da-
gegen verdienen noch einige andere unter den
.Begriff des „Brutparasitismus" fallende Verhältnisse
nähere Berücksichtigung, weil sie diese Bezeich-
nung tatsächlich zu verdienen scheinen. Es handelt
sich dabei um die Brutpflege von Wespen, die
sich von derjenigen der nur Pflanzenstoffe ver-
fütternden Bienen durch die Darreichung von
animalischer Kost unterscheidet und damit etwas
andere Gesichtspunkte der Beurteilung veranlaßt.
Die „Grabwespen" umfassen mehrere Familien,
die man darum auch als Mordwespen zu be-
zeichnen pflegt, weil die Weibchen, obgleich sie
selbst von süßen Pflanzenausscheidungen sich er-
nähren, für die junge Brut die verschiedenartigsten
Insekten, jede Art meist andere und ganz be-
stimmte Formen einträgt und, um sie bequem in
die Nester transportieren zu können, mit einem
Stich ihres Giftstachels „morden". Solange man,
in Anlehnung hauptsächlich an die Mitteilungen
des bekannten französischen Entomologen J. H.
Fabre der Meinung war, daß die eingetragenen
Insekten durch jenen Stich nicht sowohl getötet,
als vielmehr infolge des dabei getroffenen Gan-
glions des Bauchmarks nur gelähmt und durch
die Giftwirkung sogar konserviert, also frisch er-
halten werden, so daß sie in Wirklichkeit als
lebende Individuen anzusehen seien, konnte man
die Frage aufwerfen, ob die junge, an diesen
Futterlieren, z. B. einer Schmetterlingsraupe
saugende Wespenbrut nicht die Lebens- und Er-
nährungsweise von Parasiten führt. Diesen Stand-
punkt vertritt u. a. A. Looss in seiner „Schma-
rotzertum in der Tierwelt" betitelten Schrift.
„Wenn man bedenkt — heißt es da — , daß die
Larve, beispielsweise eine große Raupe für eine
372
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 27
junge Ammophila (Sandwespe) nicht eigentlich
tot, sondern gelähmt ist, solange die Wespenlarve
an ihr zehrt (und das dauert 4—6 Wochen), daß
sie von dieser schließlich allerdings vollkommen
aufgefressen wird, dann wird man immerhin zu-
geben müssen, daß dieses Verhalten in gewissen
Punkten sehr nahe an jenes, welches wir für die
echten Parasiten für charakteristisch halten, heran-
streift. Lassen wir nun die Raupe anstatt ge-
lähmt, noch beweglich sein, resp. Lebensäuße-
rungen geben, dann müßte die Ammophilalarve
direkt als Parasit bezeichnet werden." Nun haben
aber die Beobachtungen der beiden P ecken -
ham's an einer Reihe von nordamerikanischen
Mordwespen zu anderen Ergebnissen betreffs der
Stech- und Giftwirkung der letzteren geführt und
gezeigt, daß durchaus nicht immer ein Ganglion
getroffen wird, sondern an jeder beliebigen Körper-
stelle die Lähmung der Bewegungsfähigkeit des
erbeuteten Insekts erzielt wird, daß dieses auch
keineswegs immer nur gelähmt, sondern oft ge-
tötet, trotzdem aber von der Wespenlarve als
Nahrung angenommen wird. Damit würde die
Ernährungsweise der Wespenlarven sie unter die
Raubtiere, bzw. Saprophagen verweisen. Wenn
wir Looss die Verantwortung für die Richtigkeit
der Angabe überlassen, daß man „an frei herum-
laufenden Spinnen äußerlich ansitzend schma-
rotzende Larven beobachtet hat, die später ihre.
Wirte vollkommen auffressen und sich nach er-
folgter Verwandlung in Wespen als Angehörige
des Genus Pompilus erwiesen", so würde kein
Bedenken bestehen, darin ein Beispiel von Para-
sitismus zu erkennen. Und unter den gleichen
Gesichtspunkten wären die Fälle anzusehen, wo
gewisse Arten von Wespen nach Art der Kuckucks-
bienen in Paraxenie mit verwandten Wespen leben
und der Fall eintreten kann, daß die dem recht-
mäßigen Ei entschlüpfte Larve bereits eine ge-
wisse Größe erreicht hat, wenn die nachgeborene
Larve der „Schmarotzerwespe" auskriecht, und
nun von letzterer nach Parasitenart ausgesaugt
und vernichtet wird.
Die Richtigkeit dieser Befunde vorausgesetzt,
würden hier Fälle von Brutpflege vorliegen, die
insofern mit einem gewissen Rechte als Brut-
parasitismus bezeichnet werden können, als die
junge Brut paraxener Mordwespen nicht die Eier
der zellenbauenden Verwandten auffrißt, sondern
sich mit den vorgefundenen Larven, die ihnen
bereits entschlüpft sind, in derselben Weise er-
nährt, wie es ganz allgemein seitens der Larven
von Schlupfwespen und den Tachinen unter den
Fliegen ihren Wirten gegenüber geschieht. Es
würde die Paraxenie zum Parasitismus ausgeartet
sein, wie sich auch der Kommensalismus zur
gleichen Steigerung ausgestalten kann.
Nach der Auffassung von Escherich (Artikel
„Insekten" im Handwörterbuch f. Naturwiss.) würde
man noch eine etwas andere Erscheinung unter
den Begriff „Brutparasitismus" einzureihen haben.
Er sagt: „Eine besondere P'orm des Parasitismus
ist der sog. Brutparasitismus, der die sozialen In-
sekten (Ameisen, Termiten) betrifft und darin be-
steht, daß die Eier und Larven fremder Insekten
von den Arbeitern der Ameisen oder Termiten
gepflegt und aufgezogen werden, gleich wie die
eigene Brut, ja mitunter sogar noch sorgsamer
als diese, so daß die eigene Brut zu Schaden
kommt." Dieser höchste Grad von Fremden-
pflege, der vom Wirte seinen Gästen freiwillig ent-
gegengebracht wird, läßt sich wohl am wenigsten
vom Gesichtspunkte des Parasitismus aus beur-
teilen. Will man diesen Fall von Synökie oder
vielmehr Parökie im Sinne Kraepelin's unter einer
der Kategorien, die für die mannigfachen Mitbe-
wohner der Ameisennester aufgestellt sind, rubri-
zieren, so kann nur diejenige der Symphilie
in Frage kommen. Diese Ansicht vertritt auch
Doflein, der das Kapitel „Der Ameisenstaat"
mit folgenden Worten schließt: „Was uns aber
am meisten an Verhältnisse in menschlichen
Staaten erinnern muß, ist die Tatsache, daß die
Symphilie geradezu eine soziale Krankheit des
Ameisenstaates darstellt. Viele Symphilen, so
Paussus und Lomechusa, fressen Ameisenbrut,
andere saugen sogar ihren Wirten das Blut aus,
manche legen ihre Eier in die Larven der Ameisen,
und Formen wie Atemeies und Lomechusa lassen
sich und ihre Larven von den Ameisen füttern
und entziehen dadurch dem Ameisenstaat selber
wichtige Arbeit. Ganz mit Recht hat Forel
darauf aufmerksam gemacht, daß die Symphilie
etwas sehr Ähnliches ist wie der Alkoholismus
bei den Menschen. Jene Exsudate (um derent-
willen diese Vorliebe für gewisse Gä'te besteht)
sind keine Nahrungsmittel, sie sind ein Genuß-
mittel. Um dieses Genußmittels willen vernach-
lässigen die Ameisen ihre eigene Brut. Sie pflegen
Tiere, welche noch dazu ihre Brut ausrotten, und
so kann ein Staat durch die Leidenschaft seiner
Mitglieder für ein Genußmittel dem Untergang
zugetrieben werden."
Aus diesen Worten, die übrigens den Anti-
alkoholiker nicht verleugnen — den Andersdenken-
den imponieren diese vielfältig interessanten
Ameisen ob dieses menschenähnlichen Instinktes
vielleicht doppelt! — , entnehmen wir die volle
Berechtigung, in diesem Verhältnis jener Ameisen-
gäste zu ihren Wirten nicht nur keinen Parasitis-
mus, sondern vielmehr eine Symbiose im ur-
sprünglichen Sinne de Barys, also einen Mu-
tualismus zu erkennen; denn den Ameisen
kommt ja das Entgelt, das sie für die Befriedigung
ihrer Genußsucht leisten, teuer genug zu stehen.
Wenn wir das, was hier über Parasitismus und
verwandte Lebensverhältnisse zur Sprache gebracht
worden ist, noch einmal von einheitlichen Gesichts-
punkten aus kurz zusammenfassen und in die
Biologie einordnen wollen, so könnte es etwa in
folgender Form geschehen.
Als die hauptsächlichsten Triebfedern der
Lebensbetätigung treten uns entgegen „Hunger"
und „Liebe", deren enge Beziehungen in dem be-
N. F. XVI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
373
kannten Worte des Terenz ihren Ausdrucl<
finden: „sine Cerere et Baccho friget Venus". ^)
Auf dieser Grundlage kommt es nach beiden
Richtungen hin unter dem instinktiven oder be-
wußten Reize, daß unitis viribus die Leistungs-
fähigkeit des einzelnen erhöht wird, zu ver-
') Der Gebrauch dieser Ausdrücke veranlaflt mich zu
folgenden Randbemerkungen. Die neuere Richtung der Tier-
psychologie warnt mit Recht vor den Gefahren, die einer
richtigen Einsicht in das Geistesleben der unter uns stehenden
Tierwelt aus deren anthropomorphistischer Beurteilung er-
wachsen, wie sie von der früheren Schule so lange Zeit hindurch
vertreten war. Ich meine indessen, daß ein Unterschied zu machen
ist, ob man die gleichen Ausdrücke, die uns bei Besprechung
der menschlichen Verhältnisse geläufig sind, auf ähnliche Be-
kundungen der Tierwelt überträgt, um das Verständnis für die
letzteren zu erhöhen, oder ob man damit gleichzeitig bezweckt,
beide aus gleichen Ursachen zu erklären und damit die Be-
tätigungen der tierischen Instinkte mit menschlichen Handlungen
zu identifizieren. Nur das letztere Verfahren ist verwerflich, das
erstere kaum zu vermeiden, da man oft gar kein anderes Wort
dafür anwenden kann, um das, was man meint, zu bezeichnen.
Als Beispiel dafür kann der Ausdruck ,, Diebsameisen" und
,, Diebstermiten" dienen, der mit Recht für solche Ameisen und
Termitenarten gebraucht wird, die sich in den Kolonien
anderer -einnisten, um in deren Nalirungsspeicbern Beute zu
machen. Auch H. v. Bu tt el- Re e pen , der die anthropo-
morphistische Methode entschieden bekämpft, gibt bei Wieder-
gabe der Drory 'sehen Schilderung der sozialen Instinkte der
Meliponen, in die ,, freilich eine Fülle der höchsten menschlichen
Gefühle hinein verwebt ist", zu, daß sie gerade dadurch uns näher
tritt. Auf der anderen Seite scheint mir für die richtige Beur-
teilung der menschlichen Psyche keine geringere Gefahr darin
zu liegen, d;iß man sie unter dem Einflüsse der „Gottähnlichkeit"
nicht einmal gradweise mit dem tierischen Geistesleben ver-
gleichen zu dürfen meint. Wenn man z. B. bei Tieren von
,, Liebe" spricht und in dieser „Gefühlsäußerung" dem Wesen
nach dasselbe erkennt, was man bezüglich des Menschen so
nennt, so dürfte die Berechtigung dazu nicht weniger zuzu-
geben sein, als wenn man einem einzelligen Organi>^raus mit
seiner verliältnismäflig einfachen Protoplasmadifferenzierung
ebenso „Leben" beimißt wie uns selbst. Und wer könnte
sich anheischig machen zu sagen, was bei der ,, Krone der
Schöpfung" „Liebe" sei, sofern man über die sehr prosaische,
aber unbestreitbar richtige Auffassung hinausgehen will, daß
diese „Seclenempfindung" in das Gebiet der sexuellen
Funktionen gehört. Im übrigen sind die individuellen Ansichten
darüber genau so geteilt, wie über den Begriff „Gott"; „Ge-
fühl ist alles; Name ist Schall und R.iuch." Und „Mutter-
liebe" äußert sich auch beim menschlichen Weibe in recht
verschiedener Weise, was ebenso für alle anderen ,, Tugenden" des
Homo sapiens gilt, dem man seine Abstammung von niederen
Tieren auf tausend Schritte ansehen kann. Kein Wunder,
wenn es ,, lachende Philosophen" gibt!
schiedenen Arten von Vergesellschaftungen, die
sich sowohl auf Mitglieder einer Art als auch auf
solche verschiedener Arten erstrecken können.
Danach kann man Gemeinschaften unterscheiden,
deren einigendes Band in dem ersten Falle Fragen
der Ernährung (Tr oph ozönose n), im anderen
Falle die der Fortpflanzung („Genozönosen")
bilden. Im Zusammenhange der Ernährung haben
wir es im Tierreiche einerseits mit Pflanzenfressern
(Phytophagen), andererseits mit Tierfressern (Zoo-
phagen) zu tun; die verschiedene Art, wie die
betreffende Nahrung gewonnen wird, läßt Tier-
und Pflanzenräuberei („Harpagie") vom Para-
sitismus unterscheiden. Zwischenstufen zeigen
sich im Kommensalismus und Mutualismus, wobei
einseitige und gegenseitige Vorteile eine Rolle
spielen, während mehr oder weniger indifferente
Vereinigungen in der Ökie (Epi-, Syn- und Par-
ökie) zutage treten.
In der Kategorie der Genozö nosen kommt
es stufenweise zur Bildung von Ehe, Familie, Herde
und Staat, wobei neben der Zusammenfindung
der Geschlechter die Sorge um die dadurch er-
zielte Nachkommenschaft eine hervorragende Rolle
spielt. Die dabei zur Beobachtung gelangenden
Betätigungen werden unter dem Begriffe der
Brutpflege (Neomelie) zusammengefaßt, die in
gewissen Fällen zur Paraxenie ausarten kann.
Beide Formenkreise von Vergesellschaftungen ge-
hören zusammen unter den Begriff der Bio-
zönosen, die in ihrer Ausdehnung örtlich be-
schränkt und über die gesamte Erdoberfläche ver-
breitet in die Erscheinung treten und somit eine
gewaltige Vereinigung, eine alles umfassende Ge-
meinschaft der gesamten Lebewelt zum Ausdruck
bringen im Einklang mit den bekannten Worten
Goethe's:
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles .achten ;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen ;
Denn was innen, das ist außen.
Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebend'ges ist ein Eins,
Immer ist's ein Vieles.
Einzelberichte.
Physiologie. Schon wiederholt (XIII. Bd. 1914,
S. 188 u. ,S. 412, XIV. Bd. 191 5, S, 335) wurde
darüber berichtet, welche Folgen die Überpflanzung
der Keimdrüse eines jugendlichen Wirbeltieers auf"
ein anderes Individuum derselben Art, aber des
anderen Geschlechts auf die Ausbildung der sog.
sekundären Geschlechtsmerkmale hat. Es ergab
sich daraus, daß die Entwicklung der letzteren
nicht von den Keimzellen bestimmt wird, sondern
vom „interstitiellen" Gewebe der Keimdrüse, den
Leydig'schen Zellen. Die sie enthaltende Puber-
tätsdrüse bestimmt es, ob das betreffende Tier
männliche oder weibliche Eigenschaften zeigt.
Die früher übliche Bezeichnung „sekundäre" Ge-
schlechtsmerkmale muß fallen gelassen werden, da
man jetzt weiß, daß sie durch das Gewebe der
Pubertätsdrüse im Organismus zeitlich ebenso fest
fixiert sind, wie die „primären." Man unterscheidet
das männliche und weibliche Geschlecht, je nach-
dem ein Hoden vorhanden ist, welcher Samen-
374
Naturwissenschaftliche Wochenschriit.
N. F. XVI. Nr. 27
Zellen hervorbringt, oder ein Eierstock, welcher
Eizellen erzeugt. Durch Transplantationsversuche
konnte bei zahlreichen Wirbeltieren (Ratten, Meer-
schweinchen, Hühnern usw.) nachgewiesen werden,
daß die „sekundären" Geschlechtsmerkmale des
jeweiligen Geschlechts zur vollen Ausbildung ge-
langen, sobald die Pubertätsdrüse zur Anheilung
gekommen ist und ihr entsprechendes Hormon
den Körpersäften zuführt, während die Geschlechts-
zellen selbst verkümmern und nicht zur Ausreifung
gelangen, wie es stets bei der Überpflanzung von
Keimdrüsen der Fall ist. Geschieht die Trans-
plantation in ein früher kastriertes Tier vom
gleichen Geschlecht, ist also das Hormon dem
ursprünglichen gleich, homolog, so wirkt es
im gleichen Sinne wie dieses, also verstärkend;
andernfalls, bei der heterologen Transplantation,
wirkt es entgegengesetzt, abschwächend. Ist das
Hormon des früheren Geschlechts durch die
Kastration nicht völlig ausgeschaltet, so hängt es
davon ab, welche der beiden Pubertätsdrüsen im
Konkurrenzkampf die Oberhand behält und so
das Geschlecht des betreffenden Organismus
äußerlich bestimmt. Aber nicht allein physisch,
d. h. morphologisch kommt der Geschlechts-
charakter zum Ausdruck, sondern auch psychisch,
indem das Benehmen ein dem betreffenden Ge-
schlecht entsprechendes ist. Im Archiv für Ent-
wickelungsmechanik der Organismen von Prof
Dr. W. Roux (42. Bd. 3. Heft 1917) teilt
E. Steinach die Ergebnisse der bei Meer-
schweinchen vorgenommenen Transplantation der
Keimdrüsen mit. Wenn die ursprüngliche Keimdrüse
zurückbleibt, so geht nach der Transplantation eine
heterologe Drüse völlig zugrunde; denn ihre An-
heilung setzt vorherige Kastration voraus. Das
Transplantat wirkt dann morphologisch und psycho-
logisch auf das Individuum durch Maskulierung
bzw. F"eminierung eines weiblichen bzw.
männlichen Tieres. Bei feminierten Meer-
schweinchen erhielten sich die transplantierten
Ovarien bereits über 3^2 Jahre. Die Schwierig-
keit bei Überpflanzung einer heterologen Gonade
kann nicht auf einer biochemischen Differenz des
Blutes beruhen, sondern auf einer antagonistischen
Wirkung der Hormone der Pubertätsdrüsen. Bei
Ovarimplantation hört nach einiger Zeit die starke
männliche Wachstumstendenz auf und die weibliche
Körperform kommt zur Ausbildung. Wenn die
Überpflanzung vor Eintritt der Pubertät geschah,
blieben die Versuchstiere Kastraten. Bei infantilen
Kastraten kann man durch Implantation der
Pubertätsdrüse des anderen Geschlechts allein die
sekundären Sexualcharaktere allein zur Entwicklung
bringen. Bei heterologer Transplantation erfolgt
eine stärkere Ausbildung der sekundären Ge-
schlechtsmerkmale als bei bloßer Kastration.
Künstliche Zwitterbildung erreicht Steinach
dadurch, daß die Tiere durch vollständige Kastration
gewissermaßen neutralisiert wurden bevor eine
gleichzeitige Transplantation der homologen und
der heterologen Keimdrüse vorgenommen wurde.
Die Gonaden heilten an und bestanden längere
Zeit nebeneinander.
Bei der Feminierung ging die Umstimmung
über den jungfräulichen Zustand hinaus, so daß
die sekundären Sexualcharaktere bereits im Zu-
stand der Mutterschaft auftraten. Es galt dies
vor allem bezüglich der Milchsekretion und bildet
einen Beweis dafür, daß für ihr Auftreten keiner-
lei Umstimmung der Körpersäfte, plazentaren
oder fötalen Ursprungs in Frage kommt, sondern
lediglich das von den Pubertät>diüsen gebildete
Hormon. Normalerweise tritt die Pubertätsdrüse
erst nach der Entstehung eines Corpus luteurn
nach dieser Richtung hin in F"unktion. Zwei-
geschlechtige Transplantation gelang nur in
höchstens 20°/q, Feminierung und Maskulierung
allein dagegen in So^/o- Besonders interessant war
es, wenn männliche und weibliche Gonaden auf
demselben Muskel nebeneinander anheihen;
Elemente der weiblichen und der männlichen
Pubertätsdrüse fanden sich dann durcheinander auf
einem und demselben mikroskopischen Schnitt.
Bei den neuen Implantationsversuchen wurden
die homologen Sexusmerkmale gefördert, die
heterologen aber nicht an ihrer Ausbildung ver-
hindert.
Dieser Abschwächung des Antagonismus ist
die Entstehung von Zwittern zuzuschreiben. Bei
der Sektion eines solchen war das interstitielle
Gewebe sowohl im Hoden als im Ovarium ge-
wuchert. Männliche und weibliche Pubertätsdrüsen
waren hypertrophisch. Das Zentralnervensystem
reagierte je nachdem auf den Zufluß des männ-
lichen oder weiblichen Hormons in periodischen
Schwankungen.
Es ergäben sich nach St. Schlüsse daraus für
das Sexualleben von großer Bedeutung in medi-
zinischer, soziologischer und juristischer Beziehung.
Homosexuelle Neigungen bei Männern und Frauen
treten periodisch auf nach Angaben von Albert
Moll, Krafft-Ebing und Tarnowsky; auch
Magnus Hirschfeld und Iwan Bloch
machen darauf aufmerksam, daß somatische Ver-
änderungen mit den psychischen zusammenfallen.
Die Pubertätsdrüse ist normalerweise streng spe-
zifisch homolog. Der Hermaphroditismus beruht
darauf, daß Teile der heterologen Pubertätsdrüse
in das Gewebe der Keimdrüse eingesprengt sind
und gelegentlich zur Herrschaft gelangen. Bei
Zwittern, die scheinbar eingeschlechtig sind, gilt
die Eingeschlechtigkeit nur für die Gonade, während
die Pubertätsdrüse zwitterig ist. Eine scharfe
Scheidung zwischen Hermaphroditismus verus
und Pseudohermaphroditismus gibt es sonach nicht.
Aus der Einsprengung von Zellen der heterologen
Pubertätsdrüse, wie solche gelegentlich beobachtet
wurde, erklärt sich nach St ei nach das Auftreten
von Hermaphroditismus.
In einer zweiten Arbeit behandelt St. die Er-
scheinungen, welche eine erhöhte Wirksamkeit der
Pubertätsdrüse nach stattgehabter Transplantation
N. F. XVI. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
375
anzeigen. Sie erklären sich daraus, daß homologe
gefördert, heterologe dagegen gehemmt werden.
Es geht dies sehr klar aus dem Verhalten her-
vor, welches zwei Serien des Meerschweinchens
von je 4 Stück desselben Wurfs zeigten.
Am auffallendsten war der Gegensatz zwischen
beiden Geschlechtern in Skelettentwicklung, vor
allem im Bau des Schädels, in der mächtig ent-
wickelten Muskulatur und in der rauheren Be-
haarung bei dem maskulierten Weibchen , aus-
gesprochen. Daß es darin den normalen Bruder
übertraf, war nicht auf eine zufällig zartere Kon-
stitution des letzteren zurückzuführen ; kein anderes
männliches Tier nämlich aus den übrigen Zuchten
kam darin dem maskulierten Weibchen gleich.
Wenn die Pubertätsdrüse aber nur teilweise an-
heilte oder von Bindegewebe reichlich durch-
wachsen wird, ihre Drüsenzellen also sich weniger
reich entwickelten, erreichen die Sexualcharaktere
jene Entwicklungshöhe nicht, sondern sie kommen
höchstens wie beim normalen Bruder zur Aus-
bildung. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die
Feminierungsserie, indem sich hier das feminierte
Männchen durch seinen grazileren Körperbau
auszeichnet. Die psychische Umstimmung fand
ihren Ausdruck in der Erotisierung des masku-
lierten Weibchens und in dem Bestreben des
feminierten Männchens Junge zu säugen. In beiden
F'ällen beruhte die Erhöhung der entsprechenden
Triebe auf einer Vergrößerung der mächtig ge-
wucherten Fubertätsdrüse über das normale Maß
hinaus. Sie konnte auch deshalb eine erhöhte
Wirksamkeit entfalten, weil die heterologe anta-
gonistische Pubertätsdrüse in Wegfall gekommen
war. Ganz entsprechende Resultate hatten Ver-
suche, bei welchen durch Röntgenbestrahlung
der Geschlechtsdrüsen die generativen Elemente
vernichtet worden waren, während die Fubertäts-
drüse, wenigstens im Anfang sich vergrößerte
und eine entsprechend gesteigerte Wirksamkeit
zeigte. Die Hypermaskulierung des maskulierten
Weibchens erreichte in der Ausbildung des Ske-
letts und der Muskulatur eine Höhe, welche selbst
weder der kastrierte noch der normale Bruder
zeigten. Das feminierte Männchen blieb in der
Körpergröße hinter der kastrierten jungfräulichen
und der normalen Schwester zurück; die Hypcr-
feminierung fand auch darin ihren Ausdruck, daß
unter Überspringen des jungfräulichen Stadiums
sofort die Mutterschaftscharaktere, starke Ent-
wicklung der Milchdrüsen und Wucherung des
Uterusepithels, auftraten. Es wurde dies dadurch
bewirkt, daß die von der vergrößerten weiblichen
Pubertätsdrüse gelieferten Hormone noch vermehrt
wurden durch jene, welche vom Zerfall der Follikel
des Eierstocks herrührten und welche normalerweise
der Bildung des Corpus luteum nach stattgehabter
Ovulation ihre Entstehung verdanken.
Kathariner.
Das Mundhöhlendach der Amphibien ist
von einem Flimmerepithel bedeckt. Die Richtung
der Flimmerbewegung ist kaudalwärts, also
nach dem Schlund hin gerichtet. Es war nun
interessant zu erfahren, wie sie sich verhalten
würde an einem Hautlappen, welcher losgetrennt
und nach einer Drehung von 180" wieder zum
Anheilen gebracht worden war.
In Versuchen, die Th. v. Brücke (Pflüger's
Archiv Bd. 166, I. u. 2. Heft 19 16) am Wasser-
frosch anstellte, ging meist das Flimmerepithel
des wieder zur Anheilung gebrachten Lappens
zugrunde und wurde von solchem ersetzt,
welches von den Wundrändern her vorwucherte.
Eine Umstimmung der Flimmerrichtung hatte also
nicht stattgefunden, ebensowenig trat sie in den
Ausnahmefällen ein, wo das reimplantierte Flimmer-
epithel erhalten blieb.
Es flimmerte also jetzt oralwärts und behielt
diese Richtung während der ganzen Beobachtungs-
zeit (bis zu 49 Tagen) unverändert bei.
In zwei Fällen schien ein Konkurrenzkampf
aufgetreten zu sein, in welchem das ursprünglich
kaudalwärts, jetzt aber oralwärts flimmernde
Hautstück die Oberhand gewann.
Aus den Versuchen von Th. v. Brücke scheint
hervorzugehen, daß die polarisierte Richtung des
Flimmerstroms auf einer morphologischen Ver-
schiedenheit der F'limmern beruht.
Kathariner.
„Hypnose" bei Fischen. Die Fische sind
besonders leicht in hypnotischen Zustand zu ver-
setzen. Über derartige Versuche von A. Kreidl,
Professor der Physiologie in Wien, wurde schon
früher (Nr. 47, 1916 d. Bl. S. 675) berichtet. In
einer neuen Mitteilung bestätigt Eduard Babak
(Pflüger's Archiv Bd. i6o 3. u. 4. Heft 19 16) die
Beobachtungen von Kreidl vollauf. Von den
freilebenden Süßwasserfischen findet auch er die
Bachforelle für hypnotische Versuche besonders
geeignet. Von ausländischen Arten nennt B.
besonders die südamerikanischen Panzerwelse
(Callychthys callychthys) und Docardion.
Auch der indische Kletterfisch (Anabas scandens)
gerät außerordentlich leicht, häufig ohne sichtbaren
Anlaß, in hypnotische Starre. Die Flossen des
bewegungslosen Tieres sind gespreizt und der
Kiemendeckel gehoben, so daß man die Hilfsorgane
fürdie Luftatmung sieht; das Rollender großen Augen
und nur leichte Bewegungen des Kiemendeckels
zeigen an, daß der Fisch noch lebt. Auf Belichtung
und Beschattung zeigt er keinerlei Reaktion und
läßt sich nur durch derbe Erschütterung erwecken.
Viele Arten der jetzt in den Aquarien gehaltenen
tropischen Süßwasserfische (Zahnkärpflinge,
Eleotris- Arten usw.) verfallen außerordentlich
leicht in hypnotischem Schlaf, in dem sie oft lange
Zeit — bis über eine Viertelstunde — in der
unnatürlichsten Stellung, z. B. senkrecht mit dem
Kopf nach oben oder nach unten, auf der Seite
liegend usw., ausharren. So kann z. B. schon das
Wechseln des Aquariumwassers den Eintritt des
3/6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 27
hypnoiden Schlafs veranlassen. Bei den zum
Farbenwechsel befähigten Fischen geht mit dem
Eintritt der Hypnose eine auffallende Umfärbung
Hand in Hand. So wird der schwarzgebänderte
westafrikanische Fisch Polycentrus schomburgkii
fast momentan weißlich gelb.
Den biologischen Wert der leichten Hypno-
tisierbarkeit und ihre Folgen erblickt B. darin, daß
die bewegungslosen tot erscheinenden Fische einem
Feind entgehen, welcher nur lebende Beute erjagt.
B. weist darauf hin, daß es irrig wäre, wollte man
annehmen, die Hypnotisierbarkeit setze lange
Reflexbahnen voraus; das Verhallen der Fische
bewiese ja das Gegenteil. Zum Schluß zieht B.
eine Parallele zwischen dem normalen Schlaf der
Fische und ihrer Hypnose; auch in ersterem
nimmt Polycentrus schomburgkii eine ganz auf-
fallende abnorme Körperhaltung ein, indem er
flach mit der Körperseite auf dem Grund auf-
Uegt. Kathariner.
Zoologie. Beiträge zur Instinktpsychologie
der Ameisen. Bethe hatte alle Vorgänge im
Leben der staatenbildenden Insekten als rein re-
flektorisch angesehen und brachte dadurch eine
gewisse schemaiisierende Art in die Deutung der
zahllosen problematischen Vorgänge, die sich dort
abspielen. So war auch nach ihm tler dem ein-
zelnen Individuum anhaftende Geruch ausschlag-
gebend für das Benehmen der verwandten oder
fremden Individuen. Ebenso wie alle anderen
Erfahrungen spricht aber auch dieses National-
gefühl gegen Bethe's Erklärungsversuche. Hier-
über berichtet G. von Natzmer in der Zeit-
schrift für wissenschaftliche Insekienbiologie unter
dem oben genannten Titel Folgendes:
Das Nationalgefühl, d. h. das Eintreten einer
freundschaftlichen Reaktion gegenüber Nestge-
nossen , einer feindlichen gegenüber Individuen
aus anderen Kolonien, auch wenn dieselben der
gleichen Art angehören, ist bei den meisten
sozialen Insekten ausgebildet. Im einzelnen aber
ist es verschieden stark ausgeprägt. Besonders
gut entwickelt fand es Natzmer bei Formica
rufa und bei den Lasiusarten, es fehlt dagegen
nach den Mitteilungen von C. Emery Plagiolepis
pygmaea, Leptothorax unifasciatus, sowie nach
N er eil der argentinischen Art Iridomyrmex
humilis. Die einzelnen Arten weisen ganz be-
stimmte Abstufungen auf, aber auch innerhalb
der Art vollziehen sich die Reaktionen nicht
immer in gleicher Weise. Daraus folgt, daß der
Geruch durchaus nicht immer einen äquivalenten
Reflex auslösen muß. Dies geht besonders aus
den Versuchen hervor, wenn verschiedene Nester
unter wechselnden Bedingungen vereinigt werden.
Ja es scheint , als ob die Gewöhnung rein indi-
viduell vor sich gehen würde. Oft wird sie auch
durch die Kraft eines bestimmten Reflexes er-
leichtert. So fand Natzmer, daß unbedeckte
Brut sogleich abtransportiert wurde.
Besonders bemerkenswert sind die Befunde bei
Myrmica ruginodis, die ein stark entwickeltes
Nalionalgefühl besitzt. Es wurde versucht,
weibchenlosen Kolonien mit wenigen Individuen
fremde Weibchen der gleichen Art zuzusetzen.
In allen Fällen findet die Aufnahme nur ganz
langsam und allmählich statt, und es kommt sehr
darauf an, ob im Neste Brut vorhanden ist oder
nicht. Im ersten Fall wurde das Weibchen zu-
erst stark angegriften, dann geduldet, aber erst
nach einigen Tagen angenommen. Im letzten
Fall wurde das Weibchen lange Zeit als Feind
behandelt. Offenbar löst das Vorhandensein von
Brut in den Ameisen ein gewisses Sicherheits-
gefühl aus, das darin begründet ist, daß die
Arbeiter in noi maier Weise ihrer Tätigkeit der
Brutpflege obliegen. Fehlt die Brut, so ist das
psychische Gleichgewicht gewissermaßen gestört
und die normale Reaktionsfähigkeit ins Schwanken
geraten. Stellwaag.
Anregungen und Antworten.
Zur Verwertung von Kolbenschilf. Wie W. Schütze in
der Allgemeinen Fischereizeitung 19 17, Nr. 6, mitteilt, hat
sich in Berlin-Charlottenburg mit Unterstützung des Keichs-
amtes des Innern eine „Deutsche Typhaverweitungs-Gesell-
schaft m. b. H." gebildet, der an der Gewinnung von Kolben-
schilf aus dem ganzen Deutschen Reiche im bevorstehenden
Sommer, Juli bis Oktober, viel gelegen ist. Die Blätter von
Typha latifolia und Typha anguslifolia liefern Fasern, aus
denen Filze aller Art , die besten Bindfäden und Schnüre,
unzerreißbare Gurte und Riemen, Jute für Säcke, haltbare
Unterkleidung aller Art, auch Strümpfe, schliefilich Stoffe für
Mäntel und sonslige Kleidung hergestellt werden können.
Sie tun also teilweise den Dienst von Hanf und sind zugleich
nicht im üblen Sinne ein Ersatz für Baumwolle. Ihre Ab-
erntung dient somit dem Lande und steigert den Ertrag des
deutschen Fischers, dem sie zusteht. Durch eine Umfrage hat
das Preußische Landwirtschaftsministerium die vorhandenen
Bestände an Kolbenschilf feststellen lassen, und viele Behörden
wollen deren Ausbeutung unterstützen. Versuche der genannten
Gesellschalt sind im Gange, auch die Spinnfähigkeit der Fasern
der Teichbinse genauer zu prüfen, während andere Schilfarten,
zum Beispiel Kalmus, wertlos sind. Auch in Frankreich, vor
welchem wir durch unsere hochentwickelte Textilindustrie
einen gewaltigen Vorsprung haben, wurde in einem Leitartikel
des „Matin" vom 22. Oktober 1916 unter der Überschrift
„Um unser Gold zu sparen, laßt uns die Typha kultivieren"
auf das Beispiel Deutschlands hingewiesen. Die nicht spinn-
fähigen weichen Fasern der Kolben, der sogenannten Bums-
keulen, fanden übrigens während des Krieges Verwendung zum
Stopfen von Kopfkissen für Lazarette. (GTc.) V. Franz.
Inhalt! 0. Taschenberg, Etw
as über den Begriff „Brutparasitismus". (Schluß.) S. 369. — Einzelberichte: E.Stein ach,
Die Ergebnisse der bei Meei
rschweinchen vorgenommenen Transplantation der Keimdrüsen. S. 373. T h. v. Brücke,
Richtung der Flimmerbewegui
ag- S. 375. Eduard Babak, „Hypnose" bei Fischen. S. 375. G. vonNatzmer, Beitrage
zur Instinktpsychologie der Ai
neisen. S. 376. — Anregungen und Antworten: Zur Verwertung von Kolbenschilf. S. 376.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbetc
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippen & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
>lge i6. Band;
Reihe 32. Ba
Sonntag, den 15. Juli 1917.
Nummer 38.
Zur Bewertung der geistigen Leistungen von Hund und Pferd.
Von J. J. Taudin Chabot.
Die menschlichen Haustiere Hund und Pferd
werden neuerdings von verschiedenen Seiten, in
ausgewählten Stücken, auf gewisse Fähigkeiten
geprüft, die, nach den Prüfungsberichten, eine An-
wendung menschlich gedachter Verständigungs-
mittel durch die Prüflinge zulassen und damit
deren geistige Fähigkeiten beweisen, ohne daß
aber die betreffenden Mitteilungen vorab erläutern,
was denn solche P'ähigkeiten besagen und wie sie
sich betätigen. Diesen fehlenden Teil der Berichte
zu bringen, soll hier versuchsweise unternommen
werden durch eine analytische Betrachtung des Vor-
gangs der geistigen Tätigkeit, sowie der Verständi-
gung zwischen Menschen und Menschen und Tieren.
Als geistige Tätigkeit betrachten wir, alige-
mein gefaßt, die Offenbarung gewisser Vorgänge
am Zentralnervensystem, die, selber bislang nicht
zu beobachten, durch Veränderung am Leibe des
Trägers des Nervensystems in die Erscheinung
treten. Der Leib eines Lebewesens kann sich
verändern hinsichtlich der äußeren Anordnung und
hinsichtlich der inneren Zusammensetzung seiner
Teile (Konfigurations- und Konstitutionsänderung).
Alle Veränderungen der Konfiguration
entspringen aus Kontraktionen oder Dilatationen,
namentlich als Muskelleistungen, und zwar unbe-
wußt, unterbewußt oder bewußt, wie wir, nach
wachsendem Umfang der Vergegenwärtigung des
Endziels der Leistung durch den Lebensträger
selbst, abstufen können. Die unbewußten Muskel-
leistungen, wie die zur Betätigung des Herzens,
der Lungen, und die reinen oder mechanischen Re-
flexe auf entsprechende Reizungen hin, vergegen-
wärtigt sich das Lebewesen überhaupt nicht oder
nur in beschränktestem Maße; Allgemeingut alles
Lebenden, bekunden diese Leistungen keine
geistigen Fähigkeiten. Als unterbewußte
Muskelleistungen erscheinen die halben oder in-
stinktiven Reflexe, die zwar im Augenblick ohne
vorsätzliches Wollen ablaufen, die aber doch erst
ermöglicht werden durch Erfahrungen, welche
vom Lebensträger selbst oder von seinen erb-
lassenden Vorfahren unterbewußt oder bewußt
vorab gesammelt sein müssen, die also erst statt-
finden können nach der erfolgten Festlegung
(Fixierung) dieser Erfahrungen oder auf Grund
von vorbereitender geistiger Tätigkeit. Denn
Muskelleistungen, die, an sich oder im Endziel,
bewußt eine vollwertige geistige Tätigkeit zum
Ausdruck bringen, vermögen solches nur nach
Maßgabe der Fixationen (Erfahrungen, Wissen)
an gewissen Stellen des Zentralnervensystems,
wie solche durch dort erzielte Einzelheiten des
inneren Baues oder der Konstitution dieser
Leibesteile des Lebensträgers gegeben sind.
So beruht die geistige Fähigkeit auf Kon-
stitutionseinzelheiten und offenbart sich die geistige
Tätigkeit durch Konfigurationsreihen. Die Kon-
stitutionseinzelheiten oder die stoffliche Gestaltung
der Fixationen, wodurch die geistigen Fähigkeiten
getragen werden, vermochten wir noch nicht zu
ergründen; sie sind uns daher unbekannt und
scheiden aus den weiteren Betrachtungen aus.
Es bleiben die Konfigurationsreihen, die wir als
Äußerungen geistiger Tätigkeit verfolgen können.
Konfigurationsreihen oder Folgen von Ände-
rungen der Zusammenlegung von Körperteilen
durchläuft das Lebewesen ohne jemals vollständige
Unterbrechung während seines ganzen Daseins;
auch im Schlafe ist es nicht bewegungslos. Von
allen Bewegungen beschäftigen uns hier aber
nur die Äußerungen geistiger Tätigkeit, die auch
Handlungen genannt werden können und beim
Menschen des Näheren sich unterscheiden lassen
als Äußerungen von Empfindungen und
Äußerungen von Überlegungen, je nach-
dem sie aus unterbewußter oder aus bewußter
geistiger Tätigkeit entspringen. Sind Empfin-
dungen gegeben mit den ererbten, älteren oder
sonst schwerer beweglichen Fixationen, so ge-
gestatten erworbene, jüngere oder sonst leichter
bewegliche Fixationen uns die Überlegung.
Beispiel: eine Person empfindet Abneigung
oder Zuneigung für eine andere und überlegt
daraufhin, wie sie dieselbe vermeiden oder auf-
suchen kann: das Empfinden deutet hier auf
tiefer verankerte, weniger bewegliche Fixationen,
als Quelle von Ab- oder Zuneigung, wogegen das
Überlegen ein Arbeiten darstellt mit den erkannten
Möglichkeiten sich zu vermeiden oder zu treffen,
als oberflächlichere, mehr bewegliche Fixationen.
Stellen wir demgemäß eine Lehre derEmp-
findungen oderÄsthologie ') und eine Lehre
der Überlegungen oder Noologie -) neben-
einander, so bilden diese zwei Disziplinen zu-
sammen die Psychologie oder Lehre der
geistigen Tätigkeit im allgemeinen.
Der Gegenstand einer Handlung, ob sie nun
aus Empfindung oder aus Überlegung geschieht,
ist leblos oder lebendig, letztes in Sonderheit,
wo die Handlung in einer Verständigung
besteht; denn Verständigungen sind möglich nur
zwischen Verstandbegabten, also Lebensträgern.
Jede Verständigung setzt zu ihrer Ermög-
lichung voraus kleinere oder größere gemeinsame
Begriffsteile zwischen Verständiger und Verstän-
digtem. Diese festgelegten Teile (Fixationen)
') Ästhologie, in .Anlehnung an a'iodouiu, oder alaßdm/ini,
empfinden.
*) Noologie, von löo:; oder rov^, zu mioi, überlegen.
378
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
können von Natur gegeben sein mit jenen, allen
oder zahlreichen Lebewesen gemeinsamen Eigen-
heiten, deren um so mehrere zu beobachten sind,
je näher sich die Arten oder Einzelwesen stehen,
oder sie können, nicht von Natur gegeben, auf
vorheriger Abmachung beruhen. Während derart
die Verständigung zwischen Menschen und nicht
menschlichen Lebewesen sich vollzieht auf Grund-
lage von natürlich gegebenen gemeinsamen Be-
griffsteilen (Durst, Hunger, Furcht, Freude usw.),
beruht heute die Verständigung zwischen Menschen
und Menschen, abgesehen von vereinzelten Natur-
lauten und Gebärden, ganz vorwiegend auf Ab-
machung, und zwar ausdrücklich deswegen, weil
die Entwicklung der entsprechenden Teile des
Zentralnervensystems beim Menschen die Fest-
haltung von Begriffen und die Bildung von Vor-
stellungen in einer Feinheit bedingt hat, die eine
Verständigung hierüber durch den genannten Aus-
druck bloß natürlicher Empfindungen nicht gestattet.
Die Abmachung besteht in der Vereinbarung
von Zeichen oder Symbolen, deren Aufstellung
bei ihrem Wahrnehmer bestimmte der an seiner
Gehirnrinde lagernden Fixationen dazu veranlaßt,
von den wahrgenommenen bekannten Zeichen
oder Symbolen aus die enisprechenden Vor-
stellungen herbeizuführen. Ohne deren vorherige
Einprägung oder Fixierung würden die Zeichen oder
Symbole dem Wahrnehmer nichts sagen. Die
Fixierung aber gewinnnt derselbe, sei es durch
die Erfahrung, sei es durch sog. Erlernen, das
ein überliefertes Erfahren in gedrängter Form be-
deutet, zumeist aber durch beides. Folgendes möge
dieses erläutern:
Am Schreibtisch wünsche ich ein entfernt
liegendes Buch. Ich kann nun das Buch selbst
holen, oder jemanden, der mir gerade zusieht,
darauf hindeuten, daß er mir das Buch bringe.
Im ersten Falle handle ich und ist der Gegen-
stand meiner Handlung, das Buch, leblos. Im
zweiten Falle handle ich auch, aber der Gegen-
stand meiner Handlung, die mir zusehende Person,
ist lebendig und meine Handlung ist eine Ver-
ständigung, die mir das Gewünschte, das Buch,
erst durch eine zweite Handlung, das Bringen
durch die mir zusehende Person, verschafft. Die
Verständigung aber ist möglich, weil die das
Buch bringende Person Fixationen an der Gehirn-
rinde trägt, die ihr auf das Wahrnehmen meiner
Deutungsgebärde hin annähernd sagen, daß ich
im Augenblick wohl das Buch, nicht jedoch ein
etwa ebenfalls dort befindliches Mikroskop, Prä-
parat oder sonstiges verlangen werde. Diese
Fixationen, die nun hier in Wirkung treten, er-
warb die betreffende Person aus allgemeiner Er-
fahrung, daß ich am Schreibtisch eher ein Buch,
als ein Mikroskop oder dergleichen brauchen
könnte, welche Erfahrung — und auch solches
ist genau zu beachten — von derselben Person
sowohl unterbewußt gesammelt (perzipiert) wie
unterbewußt angewendet (produziert) sein kann.
Die Möglichkeit dazu, schließlich, entspringt aus den
im vorher gegebenen gemeinsamen Begriffsteilen
über den Gebrauch von Büchern, Mikroskopen usw.
auf meiner und des anderen Seite.
- Die Erörterung dieses einen Beispiels zeigt wie
verwickelt bereits in den einfachsten Fällen der
Vorgang einer Verständigung ist. Weit belang-
reicher, als das einfache Hindeuten mit irgend
einem Körperteil, und zugleich weit verwickelter
noch, gestaltet sich die Verständigung durch pneu-
matisch hervorgebrachte (produzierte) und aku-
stisch aufgenommene (perzipierte) Symbole, zu der
uns zwei besondere Organe, Kehlkopf und Ohr,
befähigen. Wohl die Mehrzahl aller Träger dieser
Organe benutzen sie zur gegenseitigen Verständigung
eben durch Symbole, d. h. indem sie die Erinnerung
an gewisse Töne und Laute festhalten (fixieren) in
Zuordnung zu jeweils bestimmten (konkreten oder
abstrakten) Gegenständen und Zustandsänderungen
ihrer Umwelt, so daß ein Vernehmen (perzi-
pieren) jener Töne oder Laute die gleichen Vor-
stellungen, als Grundlagen von Handlungen oder
weiteren Überlegungen, veranlaßt (produziert), wie
es die unmittelbare Wahrnehmung der Gegenstände
oder Zustandsänderungen, denen die Symbole zu-
geordnet sind, täte: Gemsen sehen eine Gefahr
nahen ; sie springen davon. Sie sehen die Gefahr nicht,
aber hören (perzipieren) einen ihnen als verdächtig
bekannten (fixierten) Laut, etwa den Ruf eines
Genossen; und sie springen ebenso fort, wie wenn
sie die vermutete Gefahr selbst erblickt hätten.
Weitgehend differenziert hat sich nun diese
pneumatisch-akustische Verständigung beim Men-
schen, in immer feinerer Abstufung und Unter-
scheidung der Symbole, d. h. der Töne und Laute,
bis zur Entstehung von dem, was wir Sprache
nennen und, vielgestaltig, sich auch heute noch
unaufhörlich weiter entwickeln sehen. Hier müssen
wiederum die Symbole — jetzt nicht sichtbare
Gebärden, sondern hörbare Worte, oder, in bezug
auf die Gegenstände, Namen — von beiden sich
Verständigenden vorab fixiert sein, d. h. es müssen
die Erinnerungsbilder (Fixationen) ihrer Zuord-
nung zu Sachen und Vorgängen festgelegt sein.
Abgesehen von einigen Naturlautnachahmungen
halten diese Symbole keinerlei inneren Verband
mit dem, was sie bezeichnen sollen: Daß wir das
Fohlen, das Kalb gerade so nennen, beruht auf
bloßer willkürlicher Abmachung und könnte gerade
so gut anders sein, wenn es nur — und hierauf
allein käme es an — allen denen gegenwärtig
wäre, denen bisher auf das Vernehmen (Perzi-
pieren) der Laute „foh-len" die Vorstellung des
jungen Pferdes und auf das Vernehmen des Lautes
„kalb" die Vorstellung der jungen Kuh entsteht.
Seit vielen hunderten von Generationen seines
Geschlechts hatte der Mensch die Verständigung
durch pneumatisch akustische Symbole gepflegt
und entwickelt, als ihm die Erkenntnis kam, daß
nicht nur hörbare, sondern auch sichtbare Sym-
bole der Verständigung würden dienen können:
er schritt zur bildlichen Darstellung und gewann
damit den sehr großen Vorteil, nicht mehr aus-
schließlich angewiesen zu sein auf den flüchtigen
Schall, der nur immer die gleichzeitige Be-
N. F. XVI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
379
tätigung beider sich Verständigenden zuließ,
sondern seine Vorstellungen anderen zugänglich
machen zu können, ohne daß diese nötig hätten,
die Mitteilung unmittelbar, nachdem sie gegeben
(produziert) wurde, auch aufzunehmen (zu perzi-
pieren). Aus diesen Bildern, die zumeist dem
ursprünglich Dargestellten mehr und mehr un-
ähnlich wurden, ging schließlich hervor, was wir
Schrift nennen, in Sonderheit der Gebrauch
einer beschränkten Anzahl von Zeichen, die nun
ihrerseits — einzeln oder in beliebigen Verbin-
dungen — in Zuordnung (Koordination) zu den
Lauten, die sie bedeuten, an bestimmten Gehirn-
stellen festzulegen (zu fixieren) waren. Diese letzte
Fixierung rein menschlicher Erfindung ist das,
was wir „lesen lernen" nennen, während die
erste, die Koordination von Lauten zu den In-
haltselementen des Milieus und ihren Verände-
rungen, die im allgemeinen allen Trägern pneu-
matischer Produktions- und akustischer Perzeptions-
organe für diese Laute zukommt, in Sonderheit
beim Menschen „sprechen lernen" und „ver-
stehen lernen" heißt.
So gelangte der Mensch, und nur er allein
von allen Lebewesen, die wir kennen, erstmals
zu einer Symbolik zweiter Ordnung als Ver-
ständigungsmittel: irgend welche übereingekom-
mene graphischen Zeichen erinnern ihn bei
optischer VVahrnehmung an die in seiner Fixations-
sphäre diesen Zeichen zugeordneten Laute, worauf
ihrerseits die Laute Vorstellungen der ihnen koor-
dinierten konkreten oder abstrakten Sachen oder
Vorgänge erwecken. Als sich dann herausstellte,
daß diese letzten Vorstellungen nach hinreichender
Übung, d. h. Zurichtung der Fixationssphäre, auch
schon in erster Ordnung, unmittelbar durch den
Anblick der koordinierten Zeichen, ohne das
Zwischenglied der Lautkoordination, entstehen
konnten, sah sich also die Menschheit im Besitz
der zwei voneinander unabhängigen Verständi-
gungsmittel zu Diensten ihrer Mitglieder unter-
einander, die in der Folge vor allem ihre einzig-
artige sog. geistige Entwicklung ermöglichen sollten :
Der Mensch verfügte nun über das pneu-
matisch-akustische System der Verstän-
digung, im Grunde wie zahllose andere Lebe-
wesen, nur weit differenzierter, als irgend eins
von diesen, und außerdem über ein neues, aus-
schließlich ihm bekanntes graphisch optisches
System, dessen Erfindung, erst vor einigen hundert
Generationen des Menschengeschlechts, die sog.
geschichtliche Zeit einleitet, d.h. in graphi-
schen Zeichen optisch wahrnehmbare Reihen von
Berichten über menschliche Taten an
die Stelle von bloßen Schlußfolgerungen auf
mensch liehe Tätigkeiten aus Veränderungen
bis Bearbeitungen setzt, die an gefundenen Gegen-
ständen aus vorgeschichtlicher Zeit nach-
weisbar sind.
Die charakteristisch verschiedenen Hauptmerk-
male beider Systeme bestehen ersichtlicherweise
darin, daß zur pneumatisch - akustischen Ver-
ständigung die sich Verständigenden selbst ab-
wechselnd die zu übertragende Energie liefern
müssen (Schwingen des übertragenden Mittels),
während die Verständigung auf graphisch-optischem
Wege nur ein Filtrieren (mittels der Zeichen an
der Lesefläche) eines gegebenen Ernergieflusses
(im Felde der elektromagnetischen Strahlung) be-
deutet. Im ersten Falle kommt folglich zur Ver-
ständigung in Frage bloß die Anwesenheit eines
übertragenden Mittels (Luft, Wasser usw.), im
zweiten außerdem dessen Energieinhalt (Ver-
ständigung „im Dunkeln" unmöglich).
Dementsprechend ist die Produktion zur Ver-
ständigung nach dem graphisch-optischen System
oder das Schreiben etwas wesentlich anderes
als die Produktion zur Verständigung nach dem
pneumatisch-akustischen System oder das Spre-
chen. Denn während das Sprechen ein Hervor-
bringen von Schwingungen oder Beeinflussen
eines Bewegungszustandes, nämlich des den
Schall übertragenden Mittels, darstellt, bedeutet das
Schreiben die Bearbeitung eines Stoffes,
d. h. seine dauernde Gestaltung derart, daß er da-
durch zum Lichtfilter, oder dann Schriftträger, der
gewünschten Anordnung werde. Dagegen erscheint
die Perzeption beider Verständigungssysteme, das
Hören beim pneumatisch akustischen und das
Lesen beim graphisch-optischen System, wesens-
gleich: ein Aufnehmen wechselnder Schwin-
gungen des jeweils übertragenden Mittels.
Der mühseligste Teil beider Wege der mensch-
lichen Verständigung, das Herstellen der Schrift,
bildet daher den wiederholt aufgenommenen Gegen-
stand des Versuchs, diese außerhalb des Menschen-
hirns verlaufende Handlung möglichst gleichtätig
zu gestalten dem durch die Sinne unmittelbar
daraus entspringenden Sprechen oder unmittelbar
darin einlaufenden Hören (Verstehen) und Sehen
(Lesen). So versuchte man durch Zusammen-
ziehen mehrerer Zeichen in ein einziges die Gesamt-
schrift enger zu fassen (Stenographie) und ihre
Ausführung zu beschleunigen (Tachygraphie), bis
auf beliebige Sprechgeschwindigkeit. Doch unter-
ließ man es bisher, von den willkürlich gewählten
(vgl. oben) Zeichen abgehend, eine graphische
Darstellung der Sprachschwingungen als einzig
natürliche Schrift lesen zu lernen und damit jene
Vorrichtungen ihrem vollen inneren Wert ent-
sprechend auszunutzen, die Gesprochenes registrieren
(pneumatisch- graphisch: Phonograph) und Re-
gistriertes wieder zu Gehör bringen (graphisch-
akustisch : Grammophon), die zwar schon ge-
schaffen wurden, jedoch ohne daß man sich bisher
bemüht hätte, die zwischenJiegende Fixation der
Maschine (das Engramm) graphisch-optisch zu er-
fassen oder sofort zu lesen, wozu die ungewohnte
Ausdehnung dieser Art Niederschriften ein Hindernis
bildete. Gelingt es nach deren V^erringerung dem
angezeigten Weg zu folgen, so ist damit das jüngere
graphisch-optische System auf die gleiche Ent-
wicklungstufe wie das ältere pneumatisch-akustische
gebracht. (Daß dieses letzte in der Tat das ältere
oder ,. tiefer eingeschliffene" der beiden Verständi-
gungsmittel ist, beweist, nebenbei, seine Wirksamkeit
38o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
auch im halbbevvußten Zustande, d. h. im natür-
lichen oder künstlichen Halbschlaf oder Dämmer-
zustande, wo durch das Ohr empfangene Eindrücke
richtig verstanden werden können, während Ein-
drücke durch das Auge gleichzeitig nicht durch-
dringen.)
Diese ursprünglich bloßen Verständigungsmittel
sollten nun wieder selbst zu Kulturmitteln werden,
und in der Beziehung war es gerade das graphisch-
optische System, das etwas sehr Bedeutsames
brachte: Es stellte, zweifellos von seiner ersten
Entwicklung an, eine Mehrzahl gleicher Gegen-
stände bildlich vereinfacht durch kurze Striche
und Strichverbindungen oder Linien dar. Hieraus
ergab sich neben der Wortbezeichnung einer Mehr-
zahl noch eine graphisch-optische Sondersymbolik
dafür durch eigene Zahlzeichen oder Ziffern und,
des weiteren die Erkenntnis reiner Quantitäten
ohne jede Qualität, sowie von deren Verbindungs-
möglichkeiten, die in einer solchen Mannigfaltig-
keit erschienen, daß sie zu ihrer förmlichen Er-
forschung einladen mußte. Derart entstand eine
eigene Lehre von den Zahlen (Arithmetik), die
zusammen mit einer solchen von der Land- oder
Flächenvermessung (Geometrie) — diese unter
Verwendung von durch den Gegenstand selbst
gegebenen bildlichen Darstellungen — die spätere
Wissenschaft der Mathematik inaugurierte.
Diese Wissenschaft zu entwickeln auf bloß
pneumatisch - akustischem Wege — wie durch
frühere Jahrtausende hindurch die Ausschmückung
unserer ältest überlieferten Gesänge und Erzäh-
lungen sich vollzogen hatte — wäre wohl un-
möglich gewesen. Hier also handelt es sich um Er-
kenntnis, die überhaupt erst zu gewinnen war, nach
Einführung des graphisch-optischen Verfahrens,
also in „geschichtlicher Zeil", wo nun die Ent-
wicklung der Kultur mit wachsender Ge-
schwindigkeit abzulaufen beginnt. Denn das ist
der tiefste Sinn der Einführung (und steten Ver-
vollkommnung) dieses Verfahrens, daß so der
„Fortschritt" unabhängig gemacht wird von dem
vorher ausschließlich maßgebenden Faktor des Ge-
dächtnisses, dessen Können, wie das aller anderen
rein physiologischen Leistungen, an dem heute
Erreichten gemessen, recht eng begrenzt erscheint.
Gemeinsames Merkmal aller bisher betrachteten
graphisch optischen Symbole ist ihre Wirkung
durch Einschneiden in das Strahlungsfeld ohne
Rücksicht auf dessen Zusammensetzung, d. h. wirk-
sam sind bloße Verschiedenheiten der Form, in
vielfach sehr feinen Abstufungen. Außerdem be-
steht nun aber die Möglichkeit einer Zerlegung
der .Strahlen, und in der Tat sehen wir, daß
gleichfalls Farben als Symbole wirken. Damit
gelangen wir aus dem Bereiche der Noologie
oder Lehre der Überlegungen, die wohl ausschließ-
lich Formensymbole kennt, in den der Äsihologie
oder Lehre der Empfindungen. Denn Emp-
findungen zunächst sind es, die als Farbensymbole
in die Erscheinung treten. Und nur deren Vor-
handensein, von allen graphisch-optischen Sym-
bolen, entwickelte sich, in größter Verschiedenheit,
unter vielen Arten nicht menschlicher Lebewesen.
Diese graphisch-optischen Symbole zweiter Art
verdanken ihre Wirksamkeit als Vertsändigungs-
mittel gelegentlich zwar ebenfalls der vorherigen
Vereinbarung (z. B. im Falle farbiger Signal-
lichter, beständiger oder wechselnder, wie an
Leuchttürmen), wurzeln aber zumeist, und beim
Tiere stets, in angeborenen Erbmassen oder ent-
sprechend tief eingeschliffenen Einzelerfahrungen.
Unbewußte Assoziationen sind hier maßgebend für
die entsprechenden Fixationen. Die nicht selten er-
regende Wirkung von Rot, beispielsweise, dürfte
auf Assoziation mit der Farbe des Wirbeltierblutes
beruhen, gleich wie die Wirkung anderer Farben
auf anderen dunklen oder vererbten Erinnerungen.
Doch sind diese Symbole zweiter Art infolge der
im allgemeinen recht beschränkten Farbenunter-
scheidung durch das Lebewesen so wenig diffe-
renziert, daß ihr Wert als Ausdrucks- oder Ver-
ständigungsmittel gegen den durch Symbole der
ersten Art sehr weit zurücksteht.
Vergegenwärtigen wir uns nunmehr, was unsere
analytische Betrachtung uns gelehrt hat, so dürfen
wir ohne Zögern behaupten, daß die Tiere, über
deren in wenigen Monaten oder Jahren eingeübte
Leistungen berichtet wird, einen Entwicklungs-
oder Bildungsweg mit einer Geschwindigkeit zurück-
gelegt haben, wogegen der Weg und die Entwick-
lungsgeschwindigkeit der allergrößten Geister
menschlicher Rasse seit ihrer Geburt kaum mehr
als mittelmäßig erscheinen.
Angesichts dieser außerordentlichen Tatsache
können wir den Ausdruck des Bedauerns nicht
zurückhalten, daß die Nachprüfung der Leistungen,
so weit wir aus der uns bekannten Literatur er-
sehen konnten, offenbar ziemlich planlos vor sich
geht. So findet sich beispielsweise beim Rechnen
die allererste Frage : In welchem Ziffernsystem
rechnet der Hund oder das Pferd ? weder beant-
wortet, noch, scheint es, überhaupt gestellt. Es
wird stillschweigend angenommen, daß der Prüfling
dezimal rechnet, wie sein Lehrer, ohne Rücksicht
darauf, daß in Sonderheit einem Pferde, das sich
seiner vier Hufe bewußt sein mag, gewiß aber nichts
weiß von seinen vier rudimentären Zehen außer-
dem an jedem Bein, die Operationen mit einem
Zehnersystem ähnlich fernliegen könnten, wie uns,
Dezimalrechnern, diejenigen mit einem Fünfund-
zwanzigersystem. Gerade die geheimnisvollsten
Phasen einer tierischen Rechenoperation, wie etwa
beim Radizieren, sollten es dem ernsten Forscher
nahelegen, zu allernächst diese Frage gewissenhaft
zu prüfen, ja er muß solches tun, weil er, ohne
zu wissen in welchem Ziffernsystem die Antwort
gegeben wird, überhaupt nicht wissen kann,
ob sie richtig ist.') Denn die aus Ziffern
') Meine eigenen Erfahrungen mit den seinerzeit berühmten
Pferden von Elberfeld beschränken sich auf eine kurze Korre-
spondenz mit deren Besitzer. Gelegenilich einer Reise, die mich
unweit vorüberführen mußte, hatte ich um Audienz angefragt,
erhielt aber von Herrn Krall zur Antwort, daß die Pferde
N. F. XVI. Nr. 2l
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
381
aufgebauten Zahlen sind wiederum Symbole, deren
Verbindungsgesetze man kennen muß, um ihren
Sinn zu verstehen.
Zusammenfassend dürfen wir sagen, daß die
Symbole, beider Arten, welche wir unterschieden,
erscheinen wie die Tasten einer Klaviatur, worauf
die Außenwelt spielt, um durch ihren Anschlag das
Instrument der Innenwelt des Lebewesens zu erregen.
Es kann daher jeweils nur das gespielt werden, wozu
die Tasten gegeben und bis in die letzten Teile
des anschließenden Mechanismus wirkbereit sind.
wegen Überarbeitung momentan nicht sichtbar seien, dal3 er
aber holTe, daß ich nach meinem Interesse für die Sache der
Gesellschaft (für Tierpsychologie) beitreten werde. Ich ant-
wortete, mich darüber erst entscheiden zu können angesichts
der Leistungen, die ich zunächst persönlich kennen lernen
müßte; daß ich dazu den Mitgliedsbeitrag (von dem mir Herr
K. mitgeteilt hatte, daß ich ihn in Basel einzahlen könne) als
Eintritt erlegen wolle. Eine unerwartete Verschiebung meiner
Reise gab mir Gelegenheit, nach einigen Wochen, in der An-
nahme die Pferde würden sich inzwischen erholt haben, noch-
mals wegen eines Besuches anzufragen. Jetzt kam aber der
drahtliche Bescheid „Pferde werden nur Mitgliedern gezeigt",
— woraufhin ich von weiteren Bemühungen leider .abstand
nehmen mußte.
Ob solches der Fall, dieses entscheidet unfehlbar
und endgültig über die Fähigkeit zu bestimmten
Leistungen, die ansonsten unmöglich sind, ebenso
unmöglich wie etwa das Klavierspielen auf einer
Schreibmaschine oder umgekehrt. Und genau das
Gleiche wie für die Verständigung zwischen Mensch
und Mensch gilt für diejenige zwischen Mensch und
Tier: sie kann nicht weiter gehen als Umfang und
Einrichtung der Klaviatur, d. h. das jeweilige
System der Symbole, reichen.
Die Möglichkeit aber ein solches System in dem
zu den behaupteten Leistungen erforderlichen Um-
fang an der Hirnrinde eines nicht menschlichen
Lebewesens zu errichten, vermag zu bestehen nur
auf Grund einer Fähigkeit der Erinnerung oder
Fixierung, d. h. von Konstitutionseinzelheiten, dort-
selbst, welche die, deren Äußerungen wir von allen
diesen, wofern uns bekannten, Wesen bisher jemals
beobachteten, ganz wesentlich an Differenzierung
übertrifft, demnach die Behauptung des Geleisteten
der Wirklichkeit nicht entsprechen kann und die
eingangs genannten Prüfungsberichte selber der
Nachprüfung bedürfen. 23. Mai 1917.
D.1S Coroniiini, ein uueiitdecktes Edelgas.
INachdruck verboten.] Von Karl Kuhn.
Das Coronium ist ein Element, das noch nie-
mals ein Chemiker unter den Händen gehabt hat
und doch besitzen wir schon eine Reihe von
Kenntnissen über diesen Stoff. Zum ersten Male
sind im Jahre 1869 die Forscher \' o u n g und
Harkness auf Anzeichen gestoßen, welche ihnen
das Vorhandensein eines auf der t^rde unbekannten
Gases nahe legten. Bei der totalen Sonnen-
finsternis des Jahres 1869 richteten Young und
Harkness das Spektroskop auf die Corona,
jenen die Sonne umgebenden Strahlenkranz, der
bei Finsternissen mit bloßen Augen gesehen wird,
und beobachteten nun auf einem schwachen kon-
tinuierlichen Spektrum die hellen Linien des
Wasserstoffs und des Heliums, der leichtesten
irdischen Elemente, die wir kennen, und außer-
dem noch eine helle Linie im Grün, für welche
die neueren Messungen eine Wellenlänge von
5303,2 Angströmeinheiten ^) ergeben haben. Diese
grüne Linie, welche man als die Coronalinie be-
zeichnet, ist mit keiner Linie eines irdischen
Stoffes identisch und man hat sie einem nur in
der Sonnenatmosphäre vorkommenden, derSonnen-
corona eigentümlichen Gase, dem Coronium, zu-
geschrieben.
Daß wir es beim Coronium mit einem neuen
Elemente zu tun haben und nicht mit einem
irdischen Stoff, der vielleicht unter den von
unseren Laboratoriumsverhältnissen weit verschie-
denen Bedingungen des Leuchtens auf der Sonne
') I Angström (in der Spektroskopie gebräuchliche Längen-
einheit) = Vio Millimikron {u/i) == 0,0000001 mm.
jene hellgrüne Linie aussendet, ist dadurch sehr
wahrscheinlich, daß das Coronium in höheren
Schichten der Sonnenatmosphäre vorkommt als
die leichtesten irdischen Gase wie Helium und
Wasserstoff. Das läßt vermuten, daß wir es beim
Coronium mit einem Element von noch geringerem
Atomgewicht wie Wasserstoff zu tun haben.
Im Jahre 1868 halte der französische Astronom
Jannsen in Ostindien eine gelbe Linie in der
Chromosphäre der Sonne gesehen, welche von
keinem damals bekannten irdischen Element her-
rührte. Frankland und Norman Lockyer
schlugen für jenes hypothetische Sonnengas den
Namen Helium vor und die Astrophysiker haben
bald darauf die gelbe Heliumlinie auf zahlreichen
anderen Sonnen oder Fixsternen entdeckt. Da
kam gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die
großartige Entdeckung der Edelgase durch Wil-
liam Ramsay und im Jahre 1895 fand dieser
den Sonnenstoff Helium auch in der Lufthülle der
Erde und in allen radioaktiven Mineralien. Damit
wurde dann das bis dahin für den Chemiker in
unerreichbarer Ferne befindliche Edelgas Helium
zum ersten Male der chemischen und physikali-
schen Untersuchung zugänglich.
Helium ist in der atmosphärischen Luft zu
0,0005 Volumprozent enthalten. Daß in der Luft
-so wenig Helium vorkommt, rührt nach einer
geistreichen Hypothese Stoney's daher, daß
das durch die Mineralquellen und radioaktiven
Substanzen der Luft zugeführte Helium aus den
obersten Schichten der Erdatmosphäre in den
Weltenraum entflieht, weil die Anziehungskraft
382
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
der Erde gegenüber der großen Molekular-
geschwindigkeit des Heliums zu gering ist. Dann
ist natürlich der Gehalt der Luft an Coronium,
wenn es überhaupt in der Erdatmosphäre vor-
kommt, noch geringer, da das Coronium wahr-
scheinlich noch leichter ist wie Helium.
In William R am say's Laboratorium wurden
bereits 2 Versuche zur Auffindung des Coroniums
in der Luft gemacht. Beim letzten Versuch im
Jahre 1908 hat H. E. Watson^) schließlich nicht
weniger wie 73000 1 Luft mit den empfindlichsten
Spektroskopen auf Coronium ohne Erfolg ana-
lysiert.
Möglicherweise haben aber doch schon einige
Forscher Coronium unter den Händen gehabt;
als im Jahre 1898 Nasini, Anderlini undSal-
vatori'-) die Gase der Solfataren und Fumarolen
des Vesuvs untersuchten, fanden sie wiederholt
eine grüne Spektrallinie bei 5315 oder 5317. Sie
sprechen die Vermutung aus, daß damit Coronium
möglicherweise auf der Erde nachgewiesen sei.
Es ist aber zu beachten, daß die Wellenlänge der
Coroniumlinie der Sonne sich von Nasin i's Linie
um etwa 14 Angströmeinheiten unterscheidet und
das macht die Beobachtung zweifelhaft.
Im Jahre 1900 untersuchten Liveing und
Dewar^) die Gase der Luft, welche durch
flüssigen Wasserstoff nicht kondensiert werden
konnten und sahen neben vielen unbekannten
Linien auch eine schwache Linie bei 5304, welche
dem Coronium gehören könnte. Es ist jedoch
sicher, daß diese Beobachtung De war's durch
die neueren erwähnten Untersuchungen inRam-
say 's Laboratorium recht zweifelhaft geworden ist.
Der berühmte russische Chemiker Mende-
lejeff,'') der eine Reihe von früher unbekannten
Elementen mit Erfolg genau vorhergesagt hatte,
beschäftigte sich im Jahre 1903 auch mit dem
Coronium. Mit Hilfe des periodischen Systems
der chemischen Elemente kam er zu der Ver-
mutung, daß das Coronium, welches er als Ele-
ment y bezeichnete, ein sehr leichtes Edelgas
etwa vom Atomgewicht 0,4 sei. „Da das Coro-
nium in solchen Entfernungen von der Sonne
sich nachweisen läßt, in denen keine Wasserstoff-
linien mehr zu sehen sind, so muß dem Gase in
der Tat ein viel geringeres Atomgewicht und
eine viel geringere Dichte wie dem Wasserstoff
zugeschrieben werden."
Die leichten Gase Wasserstoff und Helium
kommen an der Erdoberfläche in der Luft nur in
sehr geringer Menge vor; in größeren Höhen da-
gegen finden sich beträchtlichere Mengen in der
Atmosphäre, da sich die leichten Gase mit zu-
nehmenden Höhen immer mehr anreichern. So
») Proc. Roy. Soc. A., Vol. Sl, S. 181— 194 (1908).
«) Chemiker -Zeitung XXII, Nr. 58 (20. VII. 1898) und
Kayser: Handbuch der Spektroskopie, Bd. V, S. 336 (Leipzig
1910, Hirzel).
^) Proc. Roy. Soc. A., Vol. 67, S. 467—474 (1900).
^) C. Schmidt: Das periodische System der chemischen
Elemente S. 53—57 (Leipzig 1917, J. A. Barth).
könnte vielleicht auch das Coronium nur in einigen
hundert Kilometer Höhe in der Luft vorkommen
und wir könnten es mit Wahrscheinlichkeit dort
finden; aber der höchste Registrierballonaufstieg
erreichte nur 35 km Höhe. Da hat nun die Natur
selbst ein großartiges Experiment angestellt, das
uns Aufschluß über die Natur der Gase in 100
bis 400 km Höhe liefern kann. In solchen Höhen
spielt sich nämlich das Polarlicht ab und mit
Hilfe von Spektroskopen können wir Aufschluß
über die Natur der dort in magischem Licht er-
glühenden Gase erhalten. Schon im Jahre 1S69
fand Angström, daß die Hauptintensität des
Nordlichts durch eine grüne Linie im Spektrum
hervorgerufen wird und nach den neuesten Mes-
sungen Vegard 's M im Jahre 1913 hat die Nord-
lichtlinie die Wellenlänge 5572,5.
Alfred Wegener'^) hat es durch Zusammen-
stellung der verschiedenartigsten physikalischen
Erscheinungen in den höchsten Atmosphären-
schichten (wie Dämmerungsbögen, Aufleuchten
der Sternschnuppen usw.) sehr wahrscheinlich ge-
macht, daß sich etwa zwischen 100 — 500 km Höhe
unsere .Atmosphäre aus einem Gase zusammen-
setzt, das leichter ist wie Wasserstoff. Denn die
grüne Nordlichtlinie ist noch in Höhen sichtbar,
wo keine Wasserstofflinien mehr vorhanden sind.
Das Gas, welches im Spektrum die grüne Nord-
lichtlinie bei 5572 zeigt, nennt Wegener Geo-
coronium, da das Sonnencoronium seine Spektral-
linie bei 5303 hat. Wegener glaubt aber, daß
das Geocoronium identisch sei mit dem Coronium
der Sonne und die verschiedenen Wellenlängen
der beiden grünen Linien sollen durch die ver-
schiedene Art der Leuchterregung bedingt sein:
beim Sonnencoronium handelt es sich um ein
Leuchten bei sehr hohen Temperaturen, beim
Nordlicht dagegen um eine elektrische Licht-
erregung des Coroniums. Es ist aber doch vom
physikalischen Standpunkt aus eme solche Wellen-
längenverschiebung von 269 Angström ganz un-
wahrscheinlich.
Überdies stimmt die Wellenlänge der grünen
Nordlichtlinie, welche noch gar nicht auf eine
Angströmeinheit genau bestimmt ist, gut mit der
Wellenlänge von 2 Edelgasen überein. Schuster
undHuggins machten 1898 darauf aufmerksam,
daß das Krypton eine grüne Linie bei 5570 be-
sitzt und 1913 wies Vegard auf die grüne Linie
5572 des Argons hin. Es ist aber ausgeschlossen,
daß das sehr schwere Krypton (Atomgewicht 82,9)
noch in Nordlichthöhen vorkommt; eher wäre
dies beim Argon vom Atomgewicht 39,8 möglich.
Für zahlreiche physikalische Probleme der
höchsten Atmosphärenschichten wäre es von
größtem Interesse, zu wissen, ob das Geocoronium
ein neues Element von geringerem Atomgewicht
wie Wasserstoff {^= i) ist oder ob es vielleicht
') Physikalische Zeitschrift XIV, Nr. 15, S. 677-
(Leipzig 1913, Hirzel).
2) Physikalische Zeitschrift XII, Nr. 5 u. 6 (191 1).
N. F. XVI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
nur das bekannte Argon (39.8) oder Krypton (82,9)
darstellt. Da ist nun in jüngster Zeit eine geist-
reiche physikalische Methode von Bourget,
Fabry und Buisson'j ausgearbeitet worden,
welche erlaubt aus einer einzigen Spektrallinie
das Atomgewicht des Elementes zu bestimmen,
welches diese Linie aussendet. Diese wunderbare
Leistung der modernen S[)ektroskopie , sei hier
zum Schlüsse noch beschrieben. Bekanntlich be-
wegen sich die Atome oder Moleküle eines Gases
schon bei gewöhnlicher Temperatur mit ziemlich
erheblichen Geschwindigkeiten, das Wasserstoff-
molekül z. B. bei o" Celsius mit rund 1800 m in
der Sekunde. Bringt man den Wasserstoff in einer
Geißlerröhre elektrisch zum Leuchten, so kann
man in guten Spektroskopen keine vollkommen
scharfen Linie bekommen, denn das eine leuchtende
Wassersloffmolekül nähert sich vielleicht gerade
dem Spektroskop mit 1800 m Geschwindigkeit,
während ein anderes sich mit ähnlicher Geschwin-
digkeit von ihm entfernt und die Linien müssen
desiialb nach Doppler's Prinzip eine gewisse
Verbreiterung erfahren.
Unter Doppler's Prinzip versteht man z.B.
die bekannte Erscheinung, daß eine Schallquelle
für einen Beobachter, welcher sich ihr rasch nähert,
einen höheren Ton aussendet wie für einen
ruhenden Beobachter. Das rührt daher, daß der
bewegte Beobachter in einer Sekunde dieselbe
Anzahl von Schallwellen empfängt wie der ruhende
Beobachter; aber dazu kommen noch die sämt-
lichen Schallwellen, welche auf der Strecke ver-
teilt sind, die der bewegte Beobachter in einer
Sekunde durchschneidet, das heißt dieser empfängt
mehr Schallwellen, er hört einen höheren Ton.
So ist es auch beim Licht. Ein leuchtendes
') Compt. rend. 158 (1914),
S. 241—258 (1914)-
ad Astrophys. Je
Gasatom, das sich dem Spektroskop rasch nähert,
sendet Licht von einer scheinbar kürzeren Wellen-
länge aus und ein Gasatom, das sich rasch ent-
fernt, sendet Licht von größerer Wellenlänge aus.
Eine Spektral„linie'' kann also keine mathemati-
sche Linie sein, sondern sie muß eine gewisse
Breite haben und sie wird um so breiter sein, je
rascher sich die leuchtenden Gasatome bewegen.
Mit den modernen Interferenzspektroskopen läßt
sich die Breite der Spektrallinien genau messen
und daraus läßt sich sofort die Geschwindigkeit
der leuchtenden Gasatome berechnen. Die Ge-
schwindigkeit der Atome eines Gases hängt neben
der Temperatur nur von seinem Atomgewicht ab.
Das Atom eines schweren Elementes bewegt sich
bei gleicher Temperatur viel langsamer wie das
Atom eines leichten Gases. Kennt man die Ge-
schwindigkeit und die Temperatur, so läßt sich das
Atomgewicht sofort angeben. Die Geschwindigkeit
der Gasatome des Geocoroniums ließe sich aber
durch die Messung der Breite der grünen Nord-
lichtlinie feststellen.
Die hier geschilderte Methode wurde zuerst
von Bourget, FabryundBuisson zur Bestim-
mung des Atomgewichts des nicht irdischen Ele-
ments Nebulium im Orionnebel angewandt. Es
ist sicher eine große Leistung, auf optischem Wege
die Atomgewichte unbekannter Elemente eines in
unermeßlicher Ferne schimmernden kosmischen
Nebels zu ermitteln. Zur Untersuchung des Nord-
lichts ist diese Methode noch nicht benützt worden
und sie wird bei dessen Lichtschwäche sicher ihre
Schwierigkeit haben. Aber es ist hier wenigstens
die Möglichkeit vorhanden, das Atomgewicht des
Gases mit der rätselhaften grünen Nordlichtlinie
festzustellen und es wäre gewiß von größtem
Interesse, die kühnen Spekulationen A. Wegen er's
über die Gase der höchsten Atmosphärenschichten
zu bestätigen oder zu widerlegen.
Einzelberichte.
Geologie. Ober „die erdgeschichtliche Ent-
wicklung des Zechsteins im Vorlande des Riesen-
gebirges" berichtet H. Scupin in den Sitzungber.
der K. Preuß. Akad. der Wissenschaften 19 16.
Der Zechstein Niederschlesiens schmiegt sich den
Mulden im Norden des Riesengebirges in Form
eines schmalen Bandes an. Er verdient unser
ganz besonderes Interesse, da er einerseits das
östlichste Zechsteinvorkommen in Deutschland ist,
andererseits weil er noch in engere Beziehungen
zum Rande der böhmischen Masse tritt als der
thüringische und sächsische Zechstein.
Das Liegende des Zechsteins bildet das Rot-
liegende, das eine von sehr verschieden
mächtigen Schuttmassen des alten Variskischen
Gebirges bedeckte Landschaft war. Unterrot-
liegendes fehlt. Das Mittelrotliegende
besteht unten aus grauen bis gelben groben
Konglomeraten und Sandsteinen mit gelegentlich
zwischengelagerten Kalkbänkchen und grauen
bis bituminösen Schiefern mit der Lebacher Fauna,
oben aus roten Gesteinen mit mächtigen Eruptiv-
decken von Melaphyr und Porphyr. Die beiden
Stufen lassen einen Klimawechsel von einer
kühleren feuchten zu einer wärmeren Periode er-
kennen. Das Oberrotliegende setzt sich aus
mächtigen roten sandigen Porphyrkonglomeraten
und roten Sandsteinen zusammen, die im Norden
des Riesengebirges zwischen Lausitzer Neisse und
der ostsudetischen Randlinie von einem Kalk-
konglomerat überlagert werden, das in über-
greifender Lagerung nach Südwesten die älteren
Glieder des Mittel- und Oberrotliegenden überdeckt
384
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
und bereits die stärkere Senkung des Landes im
Nordosten der böhmischen Landmasse anzeigt.
Ohne scharfe Scheidung wird im Südwesten der
ganze Untere, dann auch der Mittlere Zechstein
von diesem durchschnittlich 25 m, stellenweise
40—50 m mächtigen Kalkkonglomerat ersetzt, das
sehr wahrscheinlich kontinentaler Entstehung ist
(VVindkanter usw.). Dieses Kalkkonglomerat, auch
Grenzkonglomerat genannt, läßt sehr deutlich die
Geländeverhältnisse der alten Landoberfläche zur
Zechsteinzeit verfolgen.
Im N. und O. ist der Untere und Mittlere
Zechstein in Form mariner Kalke ausgebildet, die
im Katzbachgebiet etwa 20 m mächtig sind und
in den liegenden (unteren Zechstein) und den
hangenden (mittleren Zechstein) Hauptkalk einge-
teilt werden. Der Hauptkalk führt die bekannte
deutsche Zechsteinfauna mit auffallend vielen
Individuen von Schizodus und anderen Zweischalern,
dagegen nur ganz vereinzelten Individuen von
Productus horridus. Der Untere Zechstein
besteht zu unterst aus dem etwa i m mächtigen
Zechsteinkonglomerat mit Pseudomonotis spelun-
caria, das dem Thüringer Zechstein äquivalent ist.
Darüber folgt der liegende Hauptkalk (ca 14 m)
mit Mergelschiefern, die in der Mitte Kupfer führen.
Dieser sogenannte schlesische Kupferschiefer
— etwa 3 m mächtig und weithin verfolgbar —
ist weder petrographisch noch stratigraphisch mit
dem mitteldeutschen Kupferschiefer identisch, da
er dem mittleren und nicht wie in Mitteldeutsch-
land dem tiefen Teil des Unteren Zechsteins angehört.
Mit dem Abschluß des Unteren Zechsteins beginnt
der Rückzug des Meeres. Das ganze flache Meer
wird noch flacher. Im Mittleren Zech stein
entstehen nun statt Kalken und Mergelschiefern,
Dolomite und dolomitische Kalke, die den
hangenden Hauptkalk (ca 6—8 m) bilden.
Mit Beginn des Oberen Zechsteins erreicht
der weitere Rückzug des Meeres seinen Höhepunkt
in den Roten Zwischenschichten, auch Unterer
Zechsteinsandstein genannt (= Untere Letten
Thüringens), die im Katzbachtal etwa 6— 8 m
mächtig sind. Es sind bunte Letten und Sandsteine
mit Gipslagern und Steinsalzpseudomorphosen.
In dem darüber liegenden Plattendolomit oder
Oberkalk (10 m) kehrt das Meer nochmals kurze
Zeit zurück, um sich dann dauernd zurückzuziehen.
Nun kommt eine 60 m mächtige Schichtfolge von
klastischen Wüstensedimenten (Letten, Kalk- und
Dolomitbänkchen) zur Ablagerung, die als Oberer
Zechsteinsandstein bezeichnet wurde und den
Oberen Letten Thüringens entspricht. Die ge-
waltige Mächtigkeit dieser Bildungen ist nirgends-
wo in anderen Zechsteingegenden Deutschlands
zu finden. Ohne wesentliche klimatischeÄnderungen
geht der Obere Zechsteinsandstein in den Bunt-
sandstein über.
Die interessanten Untersuchungen haben ge-
zeigt, daß der niederschlesische Zechstein eine
typische Randbildung ist, die in sehr enge Be-
ziehungen zur böhmischen Masse tritt. Charakte-
ristisch ist der auffallende Fazieswechsel in der
Richtung gegen SW. Nur im N. und O. herrschten
normalere Verhältnisse. Hier zeigt der nieder-
schlesische Zechstein in allen seinen Gliedern
weitgehende Ähnlichkeit mit dem mitteldeutschen,
insbesondere dem sächsischen und thüringischen
Zechstein. V. Hohenstein.
Botanik. Die Ernährung von Blaualgen durch
organische Stoffe. Während m.an früher der An-
sichtTwar, daß die chlorophyllhaltige, assimilierende
Pflanze organische Körper zu ihrer Ernährung
nicht verwenden könne, ist für eine Reihe von
Algen in neuerer Zeit nachgewiesen worden, daß
sie neben den unorganischen Verbindungen (die
schon allein zu ihrer Ernährung genügen) auch
organische Stoffe zu verarbeiten vermögen.
Hierhin gehören nach Küster (Kultur der Mikro-
organismen 1913, S. 109) viele einzellige Grün-
algen sowie die Desmidiaceen und Diatomaceen.
Bei den Blaualgen (Cyanophyceen) ist diese Fähig-
keit der ,,heterotrophen" Ernährung (neben der
„autotrophen" durch unorganische Stoffe) noch
nicht mit Sicherheit nachgewiesen. Das liegt
daran, daß in den meisten Versuchen, die darüber
angestellt worden sind, keine bakterienfreien Rein-
kulturen erzielt wurden. Erst P r i n g s h e i m konnte
191 3 zwei Oscillarien und ein Nostoc bakterienfrei
züchten. Seine Versuche fielen im wesentlichen
negativ aus: die untersuchten Algen erwiesen
sich zu heterotropher Ernährung nur in sehr ge-
ringem Maße oder gar nicht befähigt. Und doch
weisen verschiedene Umstände darauf hin, daß
manche Blaualgen ohne rein autotrophe Ernäh-
rung fortkommen müssen; ganz besonders legt
ihr Vorkommen im Innern anderer Pflanzen diesen
Schluß fast mit Notwendigkeit nahe. Bekanntlich
findet sich Nostoc nicht nur freilebend, sondern
auch innerhalb gewisser Lebermoose und in den
Blatthöhlungen von Azolla, ja sogar in den tief
in die Erde eindringenden Luftwurzeln von Cy-
cadeen und in den Rhizomen von Gunnera, also
in absoluter Dunkelheit. Hariot hat 1892 die
Algen aus diesen Pflanzen isoliert und festgestellt,
daß sie alle zur gleichen Art, nämlich Nostoc
punctiforme (Kütz.) P. Hariot gehören, aber es
sind von ihm keine physiologischen Ergebnisse
mitgeteilt worden. Andere kulturversuche sind
mißlungen. Jetzt hat Richard Härder über
umfassende und sorgfältige Versuche berichtet, in
denen Nostoc aus Gunnera isoliert und in Rein-
kultur gezüchtet wurde, so daß die oben be-
berührten ernährungsphysiologischen Fragen ge-
prüft werden konnten. Er gibt eine ausführliche
Darstellung des Kulturverfahrens und der Ent-
wicklungsgeschichte und Morphologie des kulti-
vierten Nostoc punctiforme sowie des Verhaltens
der Algen in den verschiedenen Nährmedien. An
Mineralstoffen enthielten diese zumeist je 0,01 %
K.,HPO, undMgSO^ und 0,05 % Ca(NO,,),,. Hierzu
N. F. XVI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
38s
kamen dann in den einzelnen Versuchen ver-
schiedene organische Verbindungen.
Es zeigte sich, daß schon in belichteten Kul-
turen das Wachstum der Algen bei Anwesenheit
geeigneter organischer Stoffe meistens besser war.
Selbst zur Zeit der günstigsten Beleuchtungs-
bedingungen, im Sommer, war die erzeugte Algen-
masse auf solchen Nährböden größer als auf den
rein anorganischen, weil das Wachstum auf diesen
nur oberflächlich war, während auf jenen auch
die tieferen, weniger gut beleuchteten Algenfäden
noch wachsen konnten. Noch viel deutlicher war
die günstige Beeinflussung durch organische Stoffe
im Herbst- und Winterlicht. Je geringer die Licht-
menge war, mit der die Kulturen beleuchtet
wurden, desto stärker trat die Förderung durch
die heterotrophe Ernährung hervor. Wenn eine
solche Nostoc- Kultur mit organischem Nährstoff
(Petrischale) zur Hälfte mit Papier bedeckt wurde,
so ließ sich diese Wirkung an derselben Schale
schön verfolgen. Am stärksten war der Gegen-
satz zwischen organischer und anorganischer fc;r-
nährung bei Kultur in völliger Dunkelheit; hier
unterblieb auf reinen Mineralsalzböden jedes Wachs-
tum, und nur bei Zusatz organischer Verbindungen
erfolgte Entwicklung. Das Dunkelwachstum war
ini allgemeinen sehr viel langsamer als das im
Lichte, woraus sich die große Bedeutung der
autotrophen Ernährung ergibt. Das dürfte für die
Chlorophyllhalligen Algen allgemein zutreffen, in-
dessen wird in einem F"alle (Cystococcus) ange-
geben, daß die Photosynthese bei Gegenwart von
Traubenzucker fast oder ganz ausgeschaltet war.
Als gute Nährquellen erwiesen sich die Kohlen-
hydrate, namentlich Trauben- und Rohrzucker,
auch andere Hexosen und Disaccharide, ferner
Polysaccharide (Stärke, Dextrin). Viel weniger
günstig und z. T. unbrauchbar waren Alkohole
und organische Säuren. Bei Steigerung der Kon-
zentration von 0,1 "/„ bis 5";',, Rohrzucker wurde
eine Zunahme der Entwicklung beobachtet; Kon-
zentrationen von 10% und darüber erwiesen sich
als schädlich.
Aus diesen Ergebnissen darf nicht der Schluß
gezogen werden, daß alle Blaualgen zu hetero-
tropher Ernährung fähig sind; Verf. betont auch,
daß kein Grund vorliegt, an der Richtigkeit der
oben erwähnten negativen Ergebnisse P rings -
heim's zu zweifeln, schon deshalb, weil das
Gunnera Nostoc eine seinem natürlichen Standort
angepaßte physiologische Rasse darstellen könnte.
Bemerkenswert ist, daß die Algen in den
Dunkelkulturen des Verfassers dunkler gefärbt und
bedeutend intensiver blaugrün waren als die der
Lichtkulturen, die mehr rein grün aussahen. Die
Erhaltung des Chlorophylls im Dunkeln hatte
schon Bouilhac (1898) für Nostoc punctiforme,
Brunnthaler (1909) für Gloeothece rupestris
beobachtet, während bei einigen anderen niederen
grünen Organismen festgestellt worden ist, daß
sie bei Kultur im Dunkeln auf organischen Stoffen
unter gewissen Bedingungen ihr Chlorophyll ver-
lieren.
Reinke, der 1871 die Nostoc-Kolonien in
Gunnera -Rhizomen entdeckte, erklärte sie für
Parasiten, die darauf angewiesen seien, ihr Dasein
von dem gerbstoffreichen Saft der Gunnera zu
fristen. Ob ihnen dieser Gerbstoff in der Tat als
Nährquelle dienen kann, ist erst noch festzu-
stellen. Die Kulturversuche, die Härder mit
chemisch reinem Acidum tannicum ausführte, er-
gaben eigentümlicherweise, daß gerade der Gerb-
stoff zur Ernährung von Nostoc punctiforme völlig
untauglich ist, ja sogar schädlich wirken kann.
Daß Gunnera die Alge nicht nötig hat, zeigte
schon Reinke, indem er sie ohne Nostoc züch-
tete; und daß auch der ,, Einmieter" zum selb-
ständigen Leben außerhalb der Wirtspflanze be-
fähigt ist, wird durch Härder 's Kulturen er-
wiesen. Auch ist Nostoc punctiforme sonst in
der Natur weit verbreitet. „Offenbar lebt die
Alge im Freien autotroph und ernährt sich viel-
leicht auch noch an der Oberfläche des Rhizoms,
solange sie sich noch in schwachem Lichte be-
findet, selbständig, bei dem weiteren Eindringen
in das Innere wird der Nostoc dann zum Para-
siten, der, ohne große Ansprüche zu machen und
ohne die Wirtspflanze wesentlich zu schädigen,
auf deren Kosten lebt." Aus welchen Gründen
die Alge aber überhaupt in das Gunnera-Rhizom
eindringt, ist um so rätselhafter, als ihre beweg-
lichen Fäden (Hormogonien), die die Infektion
herbeiführen, positiv phototaktisch sind. Da sie
durch die Kanäle der schleimabsondernden Außen-
drüsen des Rhizoms in das Innere eindringen, so
ist die Vermutung gerechtfertigt, daß der Schleim
auf sie anlockend wirkt. (Zeitschrift für Botanik
Jahrg. 9, 1917, Heft 3, S. 145—242.)
F. Moewes.
Der Geotropismus der Mistel. Viscum album
wird vielfach noch jetzt als Beispiel einer Pflanze
genannt, die kein geotropisches, durch den Schwer-
kraftreiz bestimmtes Wachstum zeigt. Wie Hein-
richer darlegt, ist diese Auffassung irrig und
beruht hauptsächlich darauf, daß die geotropischen
Reaktionen der Mistel zeitlich beschränkt sind
und zumeist nicht dauernd erhalten bleiben. Jeder
junge Trieb eines Mistelbusches zeigt aber, wie
Heinricher an seinen kultivierten Misteln fest-
gestellt hat, im Frühjahr eine Periode geotropischer
Empfindlichkeit und antwortet auf den Schwer-
kraftreiz mit einer Aufwärtskrümmung (negativem
Geotropismus). Der Wahrnehmung dieses Ver-
haltens mag auch der Umstand im Wege ge-
standen haben, daß an natürlichen Standorten
die Misteln sich in Höhen und Lagen finden, die
solche Beobachtungen sehr erschweren oder un-
möglich machen. Die geotropische Aufwärts-
krümmung des ganzen Triebes erlischt bald, und
an ihre Stelle treten autonome Wachstumskrüm-
mungen (Nutationskrümmungen), die oft bis in
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
den Herbst hinein dauern. Ebenso allgemein wie
die jungen Jahrestriebe der älteren Mistelpflanze
zeigen auch die Hypokotyle der Mistelkeimlinge
negativen Geotropismus. Das war schon von
Wiesner erkannt worden, dessen Klinostaten-
versuche indessen keinen genügenden Beweis
dafür lieferten. Heinricher hat diese Krüm-
mungsbewegungen des Hypokotyls der Mistel in
einer eigenen Untersuchung behandelt. Auch er
kam mit Versuchen am Klinostaten nicht zum
Ziel; der Grund lag darin, daß es bei den ge-
wählten Versuchsbedingungen nicht gelang, den
Mistelsamen die zu ihrer Keimung nötige hohe
Lichtmenge zuzuführen. In dieser Hinsicht ist
die Mistel nämlich sehr anspruchsvoll; ihre Emp-
findlichkeit gegen Lichtverminderung ist außer-
ordentlich groß, und bei noch verhältnismäßig
hoher, aber für sie nicht ausreichender Helligkeit
tritt Verzögerung oder Einstellung der Keimung,
ja sogar Erlöschen des Keimvermögens ein. Den
Beweis für den Geotropismus des Hypokotyls
erbrachten ganz einfache Versuche, am klarsten
Kulturen von Mistelsamen auf horizontal liegenden
glatten Glasplatten. Das aus dem Samen aus-
tretende Hypokotyl krümmt sich zuerst vom Lichte
weg. (Dieser negative Phototropismus des Mistel-
hypokotyls ist seit lange bekannt.) Die Glätte
der Platte verhindert aber mei.stens eine Befesti-
gung des Hypokotyls mit der Haftscheibe, und
da die phototrope Empfindlichkeit bald ausklingt,
an ihre Stelle nun aber eine solche für den
Schwerereiz tritt, so stellen sich die Hypokotyle
mehr oder minder vollkommen in die Lotrichtung
ein. Die geotropische Reizbarkeit hält auch bei
den Hypokotylen nur kurze Zeit an. Weiter zeigt
Heinricher an der Hand von photographischen
Aufnahmen aus seinen langjährigen Kulturen, daß
an Hauptstämmen von Mistelpflanzen nicht selten
starke und dauernde negativ geotropische
Krümmungen zu beobachten sind. Da seine
Misteln besonders an den senkrechten Stämmen
der Wirtspflanzen herangezogen waren, trat ihre
geotrope Aufrichtung besonders auffällig hervor,
was in der freien Natur, wo die Drosseln die
Aussaat besorgen, weniger der Fall ist. An den
Mistelsprossen zweiter und dritter Ordnung wird
diese dauernde geotropische Reaktion nicht wahr-
genommen. Die Adventivsprosse aber, die sich
nach dem Zugrundegehen des primären Sprosses
aus der Haftscheibe entwickeln, scheinen sich wie
die Hauptachsen verhalten zu können. Im übrigen
ist die geotropische Empfindlichkeit bei den
Misteln individuell sehr verschieden; bei vielen
äußert sie sich nur in geringem Grade oder fehlt
ganz. (Jahrbücher für wissenschaftliche Botanik
1916, Bd. 57, S. 221—262. Berichte der Deutschen
Botanischen Gesellschaft, Bd. 34, S. 818 — 829.)
F. Moewes.
Paläontologie. Paläobiologische Studien. In
den bisher besprochenen „Paläontologischen Be-
trachtungen" legte W. De ecke den Hauptwert
auf das biologische Moment, welches uns Gesteins-
beschaffenheit, Vergesellschaftung und dgl. liefert.
In seinen „Paläobiologischen Studien" (Sitzungsber.
der Heidelberger Akad. d. Wissensch. Jahrg. 1916)
führt Deecke eine andere biologische Gruppierung
der fossilen Invertebraten durch und hebt vor
allem die Ähnlichkeit in der äußeren Form und
inneren Struktur der Schale hervor, soweit sie
durch die Lebensweise bedingt ist. Es handelt
sich um Konvergenzerscheinungen bei ganz
heterogenen Gruppen, z. T. um Betonung einer
in der Natur liegenden Entwicklung oder latenter
resp. untergeordneter Eigenschaften bei verwandten
Gruppen.
Ein charakteristisches Beispiel ist das Fest-
wachsen, das am vollkommensten durch
Inkrustieren erfolgt, wie das bei den Coelenteraten
(Stromatoporen, Hydrozoen, Porites, Thamnastraea,
sowie vielen Bryozocn) und den Lithothamnien
der Fall ist. Kleinheit der Einzelindividuen bei
reicher Kalkabsonderung, Krustenbildung mit
F'lächenwachstum sind das Charakteristische.
Crinoiden, Brachiopoden, Zweischaler, Schnecken
und Krebse zeigen dies nicht, da ihre Individuen
hoch bei kleiner Anheftungsfläche sind oder sie
überhaupt nur beschränkt festgewachsen sind. Bei
den Crinoiden kann die Wurzel zu einem dem
vergrößeiten Stocke entsprechenden Anker weiter-
wachsen (Apiocrinus, Millericrinus). Es ist eine
Art Alterserscheinung, bei welcher auf diese Weise
die Kalksalze unschädlich gemacht werden. Im
allgemeinen hört nach der Jugend die Befestigung auf
oder sie erfolgt im mittleren Lebensalter durch
Wurzeläste (Omphyma) oder Fortsätze der Schale
(Productus, Spondylus, Chama). Das Bestreben der
Einzeltiere geht dahin, den gemeinsamen Stock zu
verbreitern und hinauszuwachsen in den Raum, um
vollkommene Atmung und reichlichere Nahrung zu
erhalten (kegelförmige und becherartige Spongien,
säulenförmige Korallen, Hippuriten, langröhrige
Vermetiden, Serpuliden und Teredinen). Die kegel-
förmigen Gestalten lassen sich in 2 Gruppen
gliedern, einerseits solche, welche eine zeitlebens
mitwachsende Wurzel besitzen wie die Spongien
oder solche bei denen diese fehlt wie bei den
meisten Einzelkorallen (Cystiphyllum, Montlivaultia)
den Deckelkorallen (Goniophyllum, Calceola) und
den Hippuriten. Alle diese nicht genügend be-
festigten Tiere lieben weichen mergeligen Boden,
nicht aber sandige lockere Sedimente, die wenig
Halt bieten. Bei Diceras, Requienia und manchen
Exogyren schützt spirales Wachsen um den
Anwachspunkt vor Abbrechen und verkehrter
Lagerung. Spondylus und Chama erzeugen auf
der Unterklappe Dornen, mit denen sie die
Auflagerungsfläche berühren. Flache Ostrea- und
Anomia-Arten sind vielfach auf Aminonitenschalen
festgewachsen; besonders merkwürdig sind jene
auf den Steinkernen von Ceratites nodosus, die
wohl das dünne Ammonitengehäuse beim Wachsen
resorbiert haben müssen.
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
387
Die Art der Unterlage beeinflußt die Form der
angehefteten Tiergehäuse ziemlich stark, wodurch
die oft wechselnde Gestalt der Austern entsteht,
die beim Bestimmen vielfach große Schwierigkeiten
bereitet. Auch die auf Spongien der oberen
Kreide aufsitzenden Spondylusindividuen können
sehr vielgestaltig sein.
Bei allen aufgewachsenen Tieren ist rasches
Wachstum notwendig, um nicht im Schlamme
des Sedimentes zu ersticken oder um sich ge-
nügend Spielraum freizuhalten. Dies ermöglichen
die lockere innere Struktur und mit dieser die
Endothekalbildung. Zu einer massiven Kalk-
bildung würde die Zeit nicht ausreichen.
DieLockerung des Gesamtgewebes zeigen am
deutlichsten die Poritiden und Madreporiden unter
den Korallen. Septen, Mauer- und Endothekal-
lamellen sind durchbrochen. Beides sind junge
Formen, die erst in der Neuzeit zur Blüte gelangten.
Nach ganz kurzer Zeit waren die Hafenanlagen
von Port Sudan am Roten Meere mit langen
Madreporen dicht bedeckt. Innere Kammerung
bzw. lockeren Bau zeigen die Hippuriten, die
Wirbel von üiceras und Caprina, die Unterklappe
derSpondyliden,dieVermetidenundMagilusformen.
Schwammig und locker, um mit der geringsten
Menge von Kalksalzen auszukommen, sind die
Basisplatte von Baianus, die Alcyonarien, die
Echinodermen und Knochen der Vertebraten
(Plesiosauriden, Elephanten) ausgestattet. Nicht
selten werden zur Erhöhung raschen Wachstums
organische Substanzen, ja bei manchen Röhren-
würmern Fremdkörper eingeschlossen.
Freien Spielraum gewährt das Aufwachsen auf
beweglichen, teils kriechenden oder schwimmenden,
teils flottierenden Körpern, so von Seerosen auf
Paguriden, von Lepadiden aufF'ischen, Bimssteinen,
Holz, Schiffen, bei Pentacrinus durch Umfassen
von Treibholz. Muscheln befestigen sich mittels
des Byssus, Brachiopoden mit dem Stiel.
Eine andere Gruppe von F"ormen hat sehr
geringen Ortswechsel, ist daher sessil zu neuen,
ohne angewachsen zu sein. Es sind vorwiegend
Tiere, deren Oberschale Mützengestalt hat. Haupt-
vertreter sind die Patellen und Fissurellen, aber
auch Capulus, Ancylus, Siphonaria gehören hier-
her, also ganz verschiedene Gruppen ; analog sind
ebenso die Haliotiden unter den Pleurotomarien.
Von den Brachiopoden sind Crania, Discina und
die Oboliden zu erwähnen. Das dichte Anziehen
der Schale an den Untergrund ist das beste
Schutzmittel, das am vollkommensten durch die
runde bis ovale Napfform eines Deckels bewirkt
wird (Rudisten, Richthofcnien).
Weitere Fragen beziehen sich auf die An-
passungserscheiiiungen, von denen die starke
Chitinbildung bei Süßwassermollusken erwähnt sei."
Unioniden, Pisidien, Paludina-Planorbis-Limnaeus-
Arten zeigen sie. Der Chitinschutz dürfte wohl
mit dem CO.j-reicheren Wasser zusammenhängen,
das den Kalk der .Schalen zu sehr angreifen würde.
Diese Hornausscheidung zeigen alle Mollusken,
zeitweilig tritt sie gegenüber der Kalkabsonderung
zurück (z. B. bei Meeresschnecken und -Muscheln,
dafür dann die entsprechende Buntfärbung).
Den Mollusken ist gemeinsam, den bilateralen
Bau einseitig durch Schraube nbildung
umzugestalten; Schnecken, dann Diceras und
Requienia unter den Muscheln, Turrilites und
Heteroceras unter den Kreidecephalopoden. Der
Schraubenbildung entgegengesetzt ist die Auf-
lösung des in sich geschlossenen Gehäuses. Die
paläozoischen Capuliden zeigen alle Übergänge
vom normalen naticaartigen Gehäuse bis zur losen
Schrauben -und spitzen Mützenform. Auch Magilus
und Vermetus geben infolge anderweitigen Haltes
die Konsolidierung des Gehäuses in sich selbst auf.
Konvergenzen zeigen sich bei den Mollusken
in der Skulptur und äußeren Gestalt.
Silurische Pleurotomarien von Gotland nehmen
an der Basis denselben verbreiterten flachen Kiel
und eingetiefte Untersehe an wie die tertiären
und rezenten Xenophoriden. Die paläozoischen
Murchisonien gleichen auffallend den Turritellen,
die Nerineen den Terebra- Arten, Actaeonellen
den Coniden. Auch der Gang in der Entwicklung
der Verzierung ist bei den Gastropodengehäusen
sehr gleichartig; Terebra nimmt die gleiche Knotung
an wie Nerinea. Bei der Ammonitenskulptur er-
scheinen dickere Rippen, Knoten und Dornen erst
an der Innenseite, dann in der Mitte und schließlich
auf der Externseite. ( Trachyceraten, Cosmoceraten,
Stephanoceraten). Bei sehr vielen Muscheln ist
die Skulptur am Hinterende kräftiger als an der
Vorderseite; aber auch hier erfolgt die Zunahme
der Skulpturierung wie bei den Gastropoden und
Cephalopoden in durchaus gleichartiger Weise
bei bestimmten Familien und Ordnungen. Im
Gegensatz dazu stehen Gruppen, die dauernd glatt
sind (.Actaeon, Actaeonella, Bulla, Pulmonaten,
Naticiden; Luciniden, Donax, Mactra; Ptychites,
Arcestes, Phylloceras, Lytoceras.
Eine weitere Eigentümlichkeit ist die Loch-
b i 1 d u n g bei Seeigeln, den jurassisch-cretacischen
Pygope-Arten und den jungtertiären und rezenten
Scutelliden (Encope), die sich schrittweise ver-
folgen läßt.
Von Interesse ist auch der Schalenverschluß,
der bei kleinen Formen einfach ist, bei stattlichen
kalkschaligen Brachiopoden zum Ausschweifen der
Ränder, also zum Ineinandergreifen von Sinus und
Rippen führt; Spirifer und Rhynchonella, letztere
Gattung vom Silur bis zur Gegenwart. Pentame-
riden, Athyriden, Terebrateln nehmen den Rhyn-
chonellaHabitus an. Ganz gleich verhält es sich
mit den Zweischalern, die im Paläozoicum glatt
sind, im Mesozoicum aber Leisten, Kerben und Vor-
sprünge bilden. Ostrea Marshi ist die Parallelform
zu Rhynchonella; dasselbe bei tertiären und rezenten
Cardien. Kerbung am Schalenrand besitzen Astarten,
Carditen, Veneriden, Donaeiden, mit denen die
Tiere bei kräftigem Schließen der Schale ungebetene
Gäste (Würmer, Nacktschnecken, kleine Krebse)
abbeißen können.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
Analogien zeigen sich auch in der Größen-
entwicklung bei zahlreichen Gattungen;
Gryphaea arcuata im unteren Lias ist mäßig groß,
Gryphaea cymbium im mittleren Lias stattlich.
Ähnliche Reihen ergeben sich bei Myophoria,
Trigonia, Inoceramus, Pholadomya; Nerinea, Murex,
Strombus, Fusus, Cypraea usw.; Spirifer, Zeilleria,
Pentacrinus, Nummulites usw.
Andere Formen werden in den verschiedenen
Gegenden zu Kü mm er formen; z. B. Aucella
im russisch-sibirischen Jura groß, im zentralund
westeuropäischen Jura klein, ebenso Cardioceras.
Ganze Faunen verkümmern nach Art der rezenten
Ostseefauna infolge Absperrung von der offenen
See. Alte Formen, die irgendwo persistieren,
kehren vielfach bei Verschiebung von
Meer und Land wieder; z. B. Actinostromaria
im Cenocaen, die kaum von dem paläozoischen
seit dem Carbon verschwundenen Actinostroma
zu trennen ist; dasselbe gilt für Chaetetiden und
Megalodon.
Im Gegensatz dazu treten in allen Tiergruppen
Dauertypen auf, die in einer Gegend lange
ausharren können; Discina, Lingula, Atrypa reticu-
laris; Pecten textorius geht bald größer, bald
kleiner durch alle Jurastufen hindurch.
Eigentümlich ist das bank weise Vor-
walten einer oder ganz weniger Arten
auf weiten Flächen. Heutige Beispiele sind die
Austernbänke oder in Binnenmeeren vom Ostsee-
charakter die Cardien- und Mytilussaiide. Fossil
entsprechen ihnen die Austernschichten, Cardien-
sande, Paludinen- undCongerienzonen des jüngeren
Tertiärs, die Limabänke des VVellenkalkes; ebenso
den muschel- und schneckenreichen Küstenabsätzen
der Nordsee, der Atlantischen Küste und des Mittel-
meeres entsprechende Lagen des Pariser Grob-
kalks, mancher Kreidevorkommen, des Malms
N.- und S.-Deutschlands, des rheinischen Unter-
und Mitteldevons. Dagegen gibt es Bänke wie
die Fusulinenkalke oder die Bänke mit Terebratula
lagenalis und Rhynchonella varians, denen wir
heute nichts an die Seite setzen können.
V. Hohenstein.
Zoologie. Es ist bekannt, daß die Kopffüßler
(Cephalopoda) unter allen wirbellosen Tieren allein
die Fähigkeit der Akkommodation besitzen, d. h.
sie vermögen je nach der Entfernung des ge-
sehenen Objekts die Refraktion ihres Auges so zu
verändern, daß jedem Objektpunkt ein Bildpunkt
entspricht, welcher auf die Netzhaut fällt; sie
können also Bedingungen schaffen , wie sie für
das deutliche Wahrnehmen eines zu sehenden
Gegenstands erforderlich sind. Bei den Wirbel-
tieren wird die Akkommodation dadurch erreicht,
daß die Brechkraft der Linse gesteigert bzw.
herabgesetzt wird durch eine Verkleinerung bzw.
Vergrößerung ihres Krümmungsradius.
Im ersteren Fall wird die Linse stärker ge-
krümmt und vermag nun auch die divergenten
Strahlen, welche ein naher Objektpunkt auf die
Linse fallen läßt, auf der Netzhaut zu einem Schnitt-
punkt zu vereinigen, während im zweiten Fall die
schwächer gekrümmte Linse die praktisch parallelen
Straiilen eines entfernten Objektpunkts zu einem
Bildpunkt auf der Netzhaut vereinigt. Bei den
Kopffüßlern aber, deren Linse wie bei allen
Wassertieren nahezu kugelig ist, weil sie gewöhn-
lich nur in der Nähe deutlich sehen müssen, er-
leidet die Linse keine Formveränderung beim
Sehen in noch größerer Nähe; der Schnittpunkt der
noch stärker divergierenden Strahlen eines noch
näheren Objektpunkts wird dadurch auf die Netz-
haut gebracht, daß die Linse in toto durch einen
Akkommodationsmuskel derselben genährt wird.
Dasselbe wird dann auch mit dem Bild geschehen
und dasselbe auf die Netzhaut fallen. Ist also der
Mechanismus der Akkommodation des Cephalo-
podenauges ein anderer wie bei den Wirbeltieren,
so besitzen doch die Kopffüßler allein von allen
Wirbellosen die P'ähigkeit der Akkommodation
überhaupt; ihre Organisationshöhe spricht sich ja
auch im Bau der Netzhaut der zwei großen paarigen
Augen zu beiden Seiten des Kopfes aus, welche
die einzigen Sehorgane bilden und je einen Seh-
nerven von den Hirnganglien erhalten; freilich
sind die Schichten der ts'etzhaut gerade umgekehrt
angeordnet wie bei den Wirbeltieren.
Es verdient nun unser besonderes Interesse,
das Verhalten der Kopffüßler in bezug auf das
Sehen am lebenden Tier zu studieren. In der
Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften
vom 12. März 1917 berichtete Maria Goldsmith
über ihre Versuche bezüglich der Sinneswahr-
nehmungen des häufigsten achtarmigen Kopffüßlers,
des gemeinen Seepolypen (Octopus vulgaris Lam.)
(C. R. Ac. sc. Paris, Nr. 11, 1917).
Das Tastgefühl ist sehr hoch entwickelt, und
es genügte schon, das Wasser des Aquariums zu
bewegen, um die Tiere nach einer bestimmten
Stelle hin zu locken, i — 2 Stunden später re-
agierten sie nicht mehr auf die Bewegung des
VVassers, wenn sie dort nichts fanden, sei es, weil
sie es müde wurden dorthin zu schwimmen oder .
weil sie die Erfahrung gemacht hatten, daß dort
nichts zu finden war. Wurden die Tiere auf eine
bestimmte Farbe dressiert, etwa indem ihnen
gleichzeitig etwas Freßbares und ein buntgefärbter
Gegenstand dargeboten wurde, so bevorzugten sie
bei späteren Versuchen jene Körper, welche mit
dem ersten gleichgefärbt waren, den sie früher
beim Futter kennen gelernt hatten. Sie ließen
sich also auf eine bestimmte Farbe dressieren,
indem sie den dadurch ausgelösten Sinneseindruck
im Gedächtnis eine Zeitlang behielten; sie ließen
sich nur höchstens zweimal vergeblich anlocken,
öfter nicht. Noch besser haftete in demselben
eine Tastempfindung. Mit den Armen Erfaßtes
brachten sie zur Mundöffnung, ließen es aber als-
bald wieder fallen, wenn es nichts Freßbares war.
Wenn die Tiere die Erfahrung 6 oder 7 mal ge-
macht hatten, geschah dies sofort. Die Erinnerung
N. F. XVI. Nr. 2l
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
389
für den Tastsinn büeb 8 Stunden bestehen, die
für den Gesichtssinn aber nur 2 Stunden. Ein
Polyp, welcher eine Erfahrung schon gemacht
hatte, benahm sich ganz anders als ein Neuling.
Vier Tiere zeigten insofern Abweichungen
voneinander, als die einen rascher eine Farbe
wieder erkannten als die andern; ebenso schwankte
die Zeit der Erinnerung zwischen 2 — 3 Stunden.
Schwarz und Rot wirkten in demselben Grad.
Bei Versuchen mit blauen und roten, roten und
grünen Streifen zeigte sich, daß die Erinnerung
an Rot sich rascher festsetzte als die an Rlau.
Wurde eine schwarze und eine rote Scheibe zu-
gleich dargeboten, stürzte sich der Polyp auf Rot.
Zusammenfassend sagt G. : Es wird Schwarz
mit Rot nicht verwechselt. Es können sich Asso-
ziationen zwischen einer Farbe und dem Futter
bilden , auch wenn die Farbe normalerweise in
der Umgebung des Tieres nicht vorkommt; diese
bleiben aber nur kurze Zeit bestehen.
Kathariner.
Die bombenwerfenden Flieger der Natur. Es
ist eine besonders den deutsche n Ornithologen
angehende Frage, die H. Krohn im IVIaiheft der
Ornithologischen Monatsschrift anschneidet, denn
fast alle Vogelarten, um die es sich handelt, ge-
hören zu denen der deutschen Fauna und alle
neueren Beobachtungen stammen aus Deutsch-
land oder dem jetzt von uns besetzten Gebiet.
„Vögel , die ihre Beute zerschellen lassen", die
hartschalige Beutestücke auf Steine fallen lassen,
um sie zu zertrümmern und um zu dem nahrhaften
Inhalt zu gelangen. Es verlohnt sich , die in
unseren Naturgescliichtswerken nur unvollständig
behandelten und noch auf Zweifel stoßenden Tat-
sachen sich einmal zu vergegenwärtigen und einige
gewiß zeitgemäße Betrachtungen daran zu knüpfen.
Nach Plinius, berichtet zunächst Krohn, sei
Äschylos durch eine Schildkröte erschlagen worden,
die ein Adler auf den kahlen Scheitel des Greises
herabgeworfen habe. Albertus Magnus be-
richtet von einer kleinen und bunten Adlerart,
die „Beinbrecher" genannt werde und die Knochen
verzehrter Tiere auf Felsen fallen lasse, um das
Mark zu gewinnen; wahrscheinlich sei der Schell-
adler gemeint. Eine arabische Sage wolle sogar
von einem riesenhaften Vogel wissen, der es
ebenso mit ganzen Elefanten mache.
1909 sah man Krähen in Hamburg öfter
Knochen in die Luft emporführen und auf die
Glasdächer der Kunsthalle fallen lassen. Größere
Knochen schlugen glatt durch. Auch ein abge-
brochener Schirmgriff aus Hörn wurde einmal in
dieser Weise abgeworfen. An der Nordseeküste
sieht man zu anderer Zeit Krähen, und zwar
Nebelkrähen, Muscheln so oft bis 30 m hoch
tragen und dann auf Steine fallen lassen, bis sie
zerschellen und der Inhalt vom Vogel gefressen
wird. Ebenso verfuhr, nach v. Tschusi zu
Sc h m id h of f e n, eine Rabenkrähe mit einer
Weinbergschnecke, überhaupt Krähen auch mit
Fluß- oder Teichmuscheln und Walnüssen, ge-
legentlich mit einer Feldmaus. Auch vom Kolk-
raben liegen entsprechende Beobachtungen vor,
sodann von Möwen.
Aber Fitzinger stellt derartige Berichte, die
sich auf den Stelzengeier beziehen, als Fabeln hin,
und unser Gewährsmann, Krohn, bezweifelt bei
den vorher erwähnten Vögeln die Absicht, die
Beute zu zerschellen, meint vielmehr, sie entfalle
dem Vogel nur versehentlich und werde mitunter
vor dem Niederfallen noch wieder ergriffen. Die
zum absichtlichen Zerschellenlassen nötige Treff-
sicherheit könne bei keinem Tier vorausgesetzt
werden, „da man doch weiß, daß der Herr der
Schöpfung in seiner Eigenschaft als bomben-
werfender Flieger bei der ganzen Größe seiner
Vernunft oft nur verhältnismäßig geringe Resul-
tate erzielt." Soweit nach Krohn.
Obwohl es nun gewiß vorkommt, daß Krähen
oder Raubvögeln ihre Beute versehentlich entfällt,
fügt doch C. R. Hennicke als Herausgeber der
Ornithologischen Monatsschrift den kritischen Aus-
führungen K r o h n ' s sicher mit vollem Rechte
seinen eigenen und Leege's Beobachtungen an
Möven an, die Muscheln, Krebse oder Wellhorn-
gehäuse mit Einsiedlerkrebsen erbeutet hatten,
sowie Reiser 's Angabe in der „Ornis balcanica",
daß ein Bartgeier eitien Knochen oftmals hinter-
einander aus ungefähr 80 m Höhe immer wieder
auf einen Felsen fallen ließ und schließlich herab-
kam und den Knochen, den er im Schnabel hielt,
durch Anschlagen gegen einen Stein zu zerhauen
suchte. Die Absicht ist unverkennbar.
Der Bart- oder Lämmergeier führt bei den
spanischen Hirten den Namen Ossifraga nach
dieser seiner Gewohnheit, die auch den Tod des
Äschylos herbeigeführt haben mag, die aber von
Naturforschern noch wenig beobachtet worden
ist. Daher ist sehr beachtenswert, was neuer-
dings Major V. V. an diesem Vogel in Serbien
feststellte und vor etwa Jahresfrist in der Deutschen
Jägerzeitung mitteilte. Oftmals nacheinander habe
er einen solchen Vogel von hohem Gebirge aus
sich etwa 300 m hoch erheben und einen Gegen-
stand, vermutlich eine griechische Landschildkröte,
fallen lassen, die, soweit erkennbar, mit erstaun-
licher Treffsicherheit immer auf dieselbe Stelle,
ein Felsplateau, fiel. Der Vogel folgte dem
fallenden Körper in großen Kreisen und erneute
sein Spiel, vielmehr seine Arbeit, und zwar
machte er stets vor Abwurf in der Luft einen
Augenblick halt, hob die Flügel ein wenig, so
daß er sich etwas senkte, und gab dem Wurf-
körper noch einen Stoß durch Abstrecken der
Fänge.
Hier wurde also eine erstaunliche Treff-
sicherheit und, was dem entspricht, eine be-
sondere Kunst des Abwerfe ns unmittelbar
beobachtet.
Der Vergleich mit dem bombenabwerfenden
menschlichen Flieger mag naheliegend erscheinen;
wer aber in heutigen Tagen oft Flugzeuge und
390
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
Luftkämpfe sieht, wird finden, daß dieser Ver-
gleich hinist im Verhältnis zu anderweitiger
Tierähnlichkeit der jetzigen Flugzeuge. Auch das
geht den Naturforschern an. Denn ach! wie
leicht ist es, ein Loblied auf die fast naturgleiche
Vollkommenheit unserer Flugapparate zu singen.
Von nahe gesehen, hat solch eine Maschine, auf
der Erde ruhend, in ihrer Erscheinung, sagen wir
in ihrem Körperbau, ungemein viel von der Heu-
schrecke, dabei aber lotrechte und wagrechte
Schwanzflossen wie Fisch und Wal zusammen,
nebst den steifen Tragflächen des fliegenden
Käfers. Die Farbe ist wie bei Tieren unterseits
hell, manchmal himmelblau, oberseits gelände-
farben, meist grün und braun gewölkt, also aus-
gesprochene Schutzfarbe. Nur Jagdflieger wählen
statt dessen öfter auffallende Trutzfatbe, und zwar
um so auffallendere, je erfolgreicher und kühner
sie sind. Das bleibende Element in der Farbe
ist nur das „Artabzeichen", bei den Deutschen
das Eiserne Kreuz. Luftkämpfe erinnern fabel-
haft an Bilder aus dem Vogelleben, bald an die
Zweikämpfe zwischen Falke oder Krähe und Bus-
sard, bald an die Jagd des Habichts auf flüchtende
Tauben.
Jedem unbefangenen Betrachter drängen sich
diese Eindrücke ungewollt auf, den Zoologen
fordern sie zu biologischen Betrachtungen und
Vergleichen über Anpassungen heraus, und dem
Naturbeobachter bereitet der Anblick von Luft-
kämpfen denselben Naturgenuß wie entsprechende
Vorgänge im Tierleben.
Gern wird man daran die auch sonst fest-
stehende, wenn selbstverständig immer nur rela-
tive Vollkommenheit dieser vom Menschen ge-
schaffenen Maschinen ermessen — obwohl der
Mensch nicht eigentlich die Natur nachahmen
darf, sondern ihr nur bis zu gewissem Grade
selbständig nacherfinden kann und zum Beispiel
recht daran tut, die Gelenkigkeit von Flügeln
und Beinen durch die um ihre Achse rotierenden
Propeller und Räder zu ersetzen, Einrichtungen,
über die die Natur ein für allemal nicht
verfügt.
Wie vollkommen, und wie ganz anders als
das Geschütz, das mit riesigem Kraftaufwand
hundert- oder tausendmal fehlschießt, mit dem
jetzt das blühende Frankreich von den eigenen
Soldaten und ihren Verbündeten zu Bruch ge-
geschossen wird, während kaum die geringsten
gewollten Erfolge erzielt werden, steht ferner das
Flugzeug als Waffe dal Es führt ein einziges Ge-
wehr und einige 100 Patronen mit sich, die mit-
unter kaum angerissen werden, und damit wird
der Gegner verjagt, zur Landung gezwungen oder
zum Absturz gebracht.
Gleichwohl wird man von vornherein an-
nehmen, daß der naturgeschafifene Vogel in allen
seinen Verrichtungen immer noch den vom Men-
schen geschaffenen erheblich übertrifft — soweit
solche Abschätzungen überhaupt zulässig sind —
und was nun den Flieger als Bomben werfer
betrifft, so lehrt das oben nach v. V. Erwähnte,
daß hierin der Vogel vor dem Flugzeug weit
voransteht. Der Hinweis auf den Menschen als
Herrn der Schöpfung hat also wieder einmal
zu einem P'ehlschluß in der Beurteilung des
Tierlebens geführt, wie es ja nicht anders sein
kann. V. Franz.
Bücherbesprechuugen.
H. Henning, Der Geruch. VIII u. 533 gr 8»,
Leipzig 1916. Johann Ambrosius 13arth. —
Geh. 15 M., geb. 17 M.
Das Werk enthält Forschungen, die in der
Zeitschrift für Psychologie Bd. 73 ft". durch vier
Nummern schon veröffentlicht wurden, bereichert
durch neu hinzukommende Abschnitte besonders
über die Reaktion der Tiere auf Riechstoffe. Was
dieser Arbeit unter den neueren psychologischen
Publikationen unstreitbar einen besonderen Wert
verleiht, ist die Vollständigkeit in der Bewertung
des bisher über den Gegenstand Gearbeiteten, die
strenge Durchführung der methodischen Gesichts-
punkte, die reiche Ernte neuer psychologischer
Erkenntnisse, schließlich der gründlich durch-
dachte Versuch, das elementare Sinnesbild neu zu
konstruieren. So ist ein Buch entstanden, das
man zurzeit gerade als das Werk über diesen Teil
des Sinneslebens bezeichnen kann. M. E. ist unsere
Kenntnis des psychologischen Themas durch diese
Studien einen entschiedenen Schritt weiter geführt.
Die chemische Unterlage der Henning 'sehen
Theorie zu würdigen, muß ich anderen überlassen.
Die methodischen Gesichtspunkte, die es anwendet
und die ihn auf ganz neue Bahnen bringen, muß
man anerkennen. In der Frage der Einteilung
war man bisher so ziemlich bei Linn6 stehen
geblieben und eine experimental-psychologische
Prüfung der Geruchsqualitäten ist unterblieben.
Sehr treffend ist die scharfe Kritik der Klassi-
fikationsmethode von Zwaardemaker, der che-
mische, psychologische und andere Gesichtspunkte
vermengt und sich nicht an Selbstwahrnehmurgen
hält. Bei den von ihm selbst vorgenommenen
Versuchen hielt sich Henning fest an die
Art der Aufgabe, die ja eine psychologische ist
und die das Augenmerk zuallererst auf die Samm-
lung eines Erfahrungsmaterials von qualitativen
Geruchserlebnissen richten mußte. Sehr wertvoll
sind in dieser Schrift die Selbstbeobachtungen,
die in den Aussagen der Vpn. enthalten sind.
Ein Hauptgewicht wurde gelegt auf das bisher
N. F. XVI. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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etwas vernachlässigte unwissentliche Verfahren.
Zur Frage der Geruchsmessung wird wichtiges
vorgebracht. Verf. kritisiert die bisherigen Me-
thoden. Seinen eignen Versuchen lag eine Messung
nach der Gewichtsmethode (Wolffsche Flaschen)
und nach der Volummethode (vgl. d. ehem. Gaso-
metrie) zugrunde.
Die große Leistung Hs. ist vor allem die neue
Einteilung der Geruchsarten. Eine bestimmte
Gliederung der psychologischen Inhalte wird nach
dem Princip der Qualiiätsbeschaffenheit durch-
geführt und damit eine Parallele zu dem syste-
matischem Aufbau der Farben- und Toneindrücke
hergestellt. In dem damit bezeichneten Sinne
spricht H. von Grundgerüchen und führt als solche
die folgenden 6 auf: Würzig, blumig, fruchtig,
harzig, brenzlich und faulig. Indem er den ver-
gleichenden Gesichtspunkt festhält, wird er zur
bildlichen Aufstellung eines sogenannten Geruchs-
prismas veranlaßt. Jede einzelne Grundempfindung
wird durch dieses Modell als kontinuierlich in
jede andere übergehend dargestellt, während die
sechs Ecken die Umkehrpunkte der Ähnlichkeits-
richtung darstellen. Die sonstige chemische Be-
schaffenheit der riechenden Substanzen hat bei
dieser Klassenordnung nichts zu sagen, aber in
der innermolekularen Bindung besteht für alle
Chemikalien derselben psychologischen Geruchs-
klasse die gleiche Eigenart. Das Entscheidende
bei der qualitativen Reizwirkung wird demnach in
dem Bauplan des Moleküls gesucht. Im übrigen
werden sehr aufklärende Untersuchungen angestellt
über die natürlichen Reizbedingungen für die Sinnes-
erregung (Klima, Tageszeit, Vegetationsprozeß,
Wasserdruck) sowie über die Vorgänge, die an-
genommenermaßen in dem Riechorgan stattfinden
und die Empfindungen erregen. Nur mit zu gutem
Grunde wird der Übelstand der Geruchsbezeichnung
hervorgehoben. Gerade beim Geruch, der unser
empfindlichster Sinn ist, werden dadurch eine große
Unsicherheit und allerlei Irrungen verursacht.
Sehr leicht kommt es dazu, das man einem er-
lebten und eigentlich richtig erkannten Eindruck
einen falschen Namen beilegt. Beim Riechen wirkt
der vom Bewußtsein festgehaltene Gegenstands-
eindruck sehr wesentlich mit zur Ausprägung des
inhaltlichen Sinneserlebnisses. Das Rauchen mit
geschlossenen Augen schmeckt auf die Dauer nicht.
Hierbei spielt bekanntlich die innige Verschmelzung
mit Reizwirkungen anderer Sinne eine wichtige
Rolle; Verf. untersucht sorgfältig, wie sich Druck-
empfindungen, Stich-, Temperatur- und Ge-
schmacksempfindungen am Geruchserlebnis be-
teiligen können. Besonders die Prüfung des letzt-
genannten Punktes führte zu einer erheblichen
neuen Erkenntnis, die H. dahin zusammenfaßt,
daß der enge Zusammenhang des Geschmacks-
und des Geruchssinnes nicht das Schmecken mit
der Zunge, sonden nur das nasale Schmecken
betrifft.
Einen eigenen Abschnitt bei jeder Geruchs-
psychologie stellen die Verhältnisse bei den
Mischungen dar. Auch hier bietet H. wesentlich
neues. Zunächst ist als verdienstvoll hervor-
zuheben, daß er die Z waardemaker'sche
Methode, die Riechstoffe monorhin darzubieten,
durch die dirhine Exposition ersetzt, die den
sinnlichen Eindruck entschieden in größerem
Reichtum hervortreten läßt. Im allgemeinen
konstatierte H., daß Mischungen der Gerüche sich
psychologisch ziemlich in Analogie mit den Tat-
sachen auf dem Tongebiet (bei Zusammentreffen
verschiedener Tonhöhen) verhalten, daß aber die
Gerüche den Farbenempfindungen in der Rich-
tungsveränderung ähneln, die in der Qualitätsreihe
einsetzt. Wenn man gleichzeitig disparate Riech-
stoffe mit den beiden Nasenlöchern riecht (bei
sogenannten dichorhinem Riechen), tritt Wettstreit
ein oder Unterdrückung kann stattfinden — nur
die intensivere Komponente wird beachtet; nie
aber fand H. bei seinen Versuchen eine Kompen-
sation, und er bestreitet die Kompensation in dem
Sinne, daß man beim Zusammenrücken verschie-
dener Riechstofte erreichen kann, daß überhaupt
gar nichts gerochen wird.
Mehr als zuvor wird darauf hingewiesen, daß
der Empfindungsinhalt beim Riechen im ersten
Stadium, bei fehlender Übung oder unter be-
sonderen psychologischen Umständen, diffus und
unbestimmt sein kann. Es werden feine Beobach-
tungen darüber gemacht, wie bedeutungsvoll es
für die Wiedererkennung sein kann, daß der be-
treffende Riechstoff mit dem ihm zugehörigen
Namen reproduziert wird. Vieles hat dabei die
„Einstellung" zu sagen. Bei Mischungen treten
gut bekannte Gcruchskomponenten viel eindring-
licher hervor als wenn der hervorgerufene Teil-
geruch wenig bekannt oder fremd erscheint.
Minimum perceptibile muß überhaupt größer an-
gesetzt werden, wenn einem die Gerüche un-
bekannt sind. Es begegnet hier eine sonderbare
Spaltung in der Stellung des Bewustseins zur
VVahrnehmung des Geruches, indem gelegentlich
eine Seite der Empfindung als bekannt erscheinen
kann, andere Seiten hingegen nicht. H. erörtert
in diesem Zusammenhang etwas, das er F"remd-
heitsqualität bezeichnet. Ob das nicht auf ein
fehlendes Vermögen hinauskommt, die tatsächlich
erlebte Geruchsempfindung mit einem anschau-
lichen Bilde des gegenständlichen Trägers zu
verknüpfen?
Bei der Untersuchung über die F'älle einer
angeblichen Ermüdung der Geruchsempfindung
wird außer der tatsächlichen Ermüdung des End-
organs das Verhalten der Aufmerksamkeit er-
klärend herangezogen. Ein eindringlicher Geruch
nimmt in störender Weise unsere Aufmerksamkeit
mit Beschlag. Dieser Umstand bewirkt, daß wir
vorziehen, uns der Nähe zu stark parfümierter
Personen zu entziehen. Die natürliche Kapazität
des menschlichen Sensoriums ist nicht als gering
zu bemessen. Es ist nicht erweislich, daß dem
Geruchssinn des Menschen Fähigkeiten abgehen,
die dem Tiere zu Gebole stehen. Die beim
392
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 28
Menschen (und Affen) vorhandene Rückbildung
des Zentralapparats (im Paläokefalon) für diesen
— sowie für andere sogenannte niedere Sinne
beweisen noch keine Unterlegenheit elementarer
Art. — Manche Eigentümlichkeit in der subjektiven
Gefühlswirkung des Geruches, seine vielfach
variierende Lust- oder Unlustbetonung, steht in
merkbarer Abhängigkeit von Rassenverhältnissen,
was der Verfasser durch viele Belege veranschau-
licht. Vielleicht wäre die Vermutung berechtigt,
daß bei der Sache auch die Adaptation mitspricht,
die ja gerade auf diesem Sinnesgebiete eine große
Rolle spielt.
Wie aus dem Obigen schon hervorgehen wird,
bietet das Werk eine Fülle neuer Beobachtungen;
in der Tat wird fast das ganze Feld der Psycho-
logie von H. bearbeitet, soweit sich Anknüpfungen
mit dem Geruchserlebnis ergeben. P^in Punkt, der
noch weiterer Erforschung harrt, betriff: die intern
psychologische PVage von der Beziehung dieser
Sinnesempfindung zum Gefüiilsleben. Die Erre-
gungen, um die es sich hier handelt, sind quali-
tativ reichlich differenziert. Gerade beim Geruch
ist die qualitative Mannigfaltigkeit fast unbegrenzt
groß. Zu gleicher Zeit ist eben auf diesem Gebiet
die Beziehung zur Lust-Unlustempfindung eine
besonders innige. Bei Gerüchen wird es oft
problematisch sein, ob das elementare an dem
Erlebnis nicht gerade die sinnliche Gefühlserregung,
zumal eine Gemein- oder Organempfindung ist.
Der psychologische Inhalt kommt hierdurch unter
dem Gesichtspunkt der von Stumpf angeregten
Diskussion über die Gefühlsempfindungen — ein
Problem, das, soviel ich sehe, vom Autor völlig
unberührt gelassen ist.
Um so erschöpfender ist seine Erörterung
der übrigen psychologischen Streitpunkte. Sein
Werk, das auf naturwissenschaftlicher Grundlage
baut, ist vor allem die Leistung eines Psychologen
und enthält gerade für die psychologische P"or-
schung wertvolle Lehren. Gestützt auf eigenen
Experimenten räumt H. mit vielen falschen oder
unsicheren Urteilen auf, die bisher für gut und
sicher galten. So widerlegt er z. B. die Behaup-
tung, daß mit vergrößertem Reiz die Empfindungs-
stärke zunächst steigt, um dann wieder zu fallen.
Das Geschlecht fand er in keinem Punkte maß-
gebend für die Feinheit des Sinnes; das entschei-
dende liegt an den Erfahrungen des Lebens. Bei
den Erscheinungen der sogenannten Parosmie
bestreitet er das Recht, etwas der P'arbenblindheit
analoges aufzustellen. Viele angebliche Anomalien
sind einfach auf mangelnde Übung zurückzuführen.
Kein Sinn wird dermaßen vernachlässigt wie der
Geruchssinn. — Schließlich verdient eine Beobach-
tung noch erwähnt zu werden, durch die H. m. E.
die allgemeine Psychologie um einen wesentlich
neuen Gesichtspunkt bereichert hat und zwar auf
einem Sinnesgebiete, daß besonders der Auf-
klärung bedarf, nämlich das Gebiet für die
sinnliche Auffassung der Mannigfaltig-
keit und d erReihen folge. H's. Experimente
drängen ihn zu der Ansicht, daß es ein allgemeines
geruchliches Nebeneinander und Hintereinander
ohne diejenigen räumlichen Charaktere gibt, die
wir bisher aus der Raumpsychologie kennen
gelernt haben. Ein derartiges allgemeines Neben-
einander wird empfunden auch wo die Geruchs-
eindrücke uns über die Lokalisation nichts melden.
Anathon Aall aus Kristiania.
Hirt, W., Dr. PI in neuer Weg zur Er-
forschung der Seele. München 1917,
E. Reinhardt.
Das Buch ist einesjener phantastischen Gedanken-
gebäude, die, fern von jeder gesunden Skepsis und
kritischen Philosophie errichtet, den Anspruch
machen, wenn nicht alle, so doch die meisten
Probleme Himmels und der Erde durch einige
Zauberformeln zu lösen. Ein merkwürdiges
Durcheinander physikalischer, psychologischer und
soziologischer Begriffe bildet das Baumaterial.
Dabei sind diese Begrifie jedoch nicht etwa hand-
feste Ziegelsteine, die ihre Gestalt an den ver-
schiedenen Ecken des Gebäudes bewahren, sondern
schattenhafte Nebelschleier von beliebiger Dehn-
barkeit und Gestalt.
Die so zutage geförderten Sätze sind zum Teil
reine Wortassoziationen, höchstens bildhafte Apho-
rismen. Wenn wir noch hinzugefügt haben, daß
sehr viel zitiert wird, können wir die Be-
sprechung dieser Publikation schließen.
Petersen.
Literatur.
Müller, Prof. P. Joh., Kepler's und Newlon's Gesetze
über die Bewegungen im Sonnenrauni im Lichte der Strahlen
und Ätherdrucktheorie. Wien, Teschen, Leipzig '16, K. Prochaska.
Meißner, C, Das schöne Kurland. Ein deutsches Land.
München '17, R. Piper & Co. — 2,80 M.
Hermann v. tielmholtz, Zwei Vorträge über Goethe.
Braunschweig '17, K. Vieweg & Sohn. Feldausgabe. — So Pf.
Karl Kräpelin's Leitfaden für den zoolo-
gischen Unterricht in den unteren und mittleren Klassen
der höheren Schulen. I. Teil; Wirbeltiere. 7. Aufl. Be-
arbeitet von Prof. Dr. C. Schäffer. Mit 226 Textabbildungen
und drei farbigen Tafeln. Leipzig und Berlin '15, B. G.
Teubner. — 2,60 M.
Inhalt I J. J. Taudin Chabot, Zur Bewertung der geistigen Leistungen von Hund und Pferd. S. 377. Karl Kuhn,
Das Coronium, ein unentdecktcs Edelgas. S. 381. — Einzelberichte: H. Scupin: „Die erdgeschichtliche Entwicklung
des Zechsteins im Vorlande des Riesengebirges". S. 383. Richard Härder, Die Ernährung von Blaualgen durch
organische Stoffe. S. 384. Heinricher, Der Geotropismus der Mistel. S. 385. De ecke, Paläobiologische Studien. S. 386.
Maria Goldsraith, Das Verhalten der KopffülSler in bczug auf das Sehen. S. 3S8. Krohn, Die bombenwerfenden
Flieger der Natur. S. 38g. — Bücherbesprechungen: H. Henning, Der Geruch. S. 390. W. Hirt, Ein neuer
Weg zur Erforschung der Seele. S. 392. — Literatur: Liste S. 392.
Manuskripte und Zuschriften
iße
en an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invali.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
erbeten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 22. Juli 1917.
Nummer ä9.
[Nachdruck verboten.]
Die Seevögel waren es, an die in der ersten
bedeutungsvollem Durchführung die Vogelzug-
kunde ihre sog. Zugstraßentheorie knüpfte. Pal-
men, der schwedische Forscher, hatte 1876 in
seinem grundlegenden Werke „Die Zugstraßen der
Vögel" die Lehre gebracht, den bekannten Satz,
daß jede Vogelart, die für den Sommer- und
Winteraufenthalt zwischen zwei Gebieten regel-
recht wechselt, hierbei eine bestimmte Straße
habe, von der sie ohne Not nicht abweicht. Bei
den 19 hochnordischen Wasser- und Schwimm-
vögeln, deren Wege den Gegenstand der Pal men-
schen Untersuchung gebildet hatten, kamen haupt-
sächlich die großzügigen Küstenlinien als Richt-
male in Betracht. Ein leicht übersichtliches Bild
also, das man nun aber, besonders in der Laien-
welt, nur zu sehr ins Allgemeine zu übertragen
sich gewöhnte, indem ein so einfacher, gleich-
mäßiger Verlauf (bei den Landvögeln an Müssen
und ähnlichen Leitlinien entlang) nach und nach
für die Fernfahrten von so ziemlich allen Zug-
vögeln als von vornherein selbstverständlich an-
genommen wurde. Aber nicht nur, daß für ge-
wisse Überlandflieger von fachkundiger Seite —
wie es heute mehr und mehr scheinen will, mit
Recht — „ein Ziehen in breiter Front", also
ohne die gedachte Weggebundenheit geltend ge-
macht wird, so stellen sich nach den Ergebnissen
der neuern F"orschungsmethoden, der Vogelwarten-
beobachtung und des mit ihr Hand in Hand
gehenden, vom Leiter der Vogelwarte Rossitten,
Prof. Thienemann, begründeten Ringexperi-
mentes, *) auch die Zugverhältnisse unserer See-
vögel teilweise doch etwas verwickelter dar.
Aber gerade in dieser Mannigfaltigkeit offenbart
sich uns auch hier die Gestaltungskraft der Natur
in ihrem ganzen Reiz und ihrer Fülle.
Am buntesten mutet das Wandergetriebe der
Möwen an, dieser Charaktervögel unserer, wie
überhaupt der Meeresküsten. Von der Silber-
möwe (Larus argentatus) weiß man jetzt, daß
sie gar kein eigentlicher Zugvogel ist, keiner
wenigstens, der „nach dem Süden", gar bis Afrika
pilgert. Über die Nord- und Ostsee scheinen die
hier beheimateten nicht hinauszugehen, kaum daß
ein vereinzeltes Hinüberwechseln von der einen
Die Wanderungen unserer Seevögel.
Von A. WesemüUer.
') Von der Vogelwarte Rossillen und Helgoland werden
bekanntlich mit der Herkunftsbezeichnung und einer Nummer
versehene Aluminiumringe ausgegeben und eingefangenen
Vögeln um den Kuß gelegt. Über On und Zeit des Auf-
lasses wird genau Buch gefuhrt. Es kommt nun darauf an,
daß, wenn irgendwo ein solches Tier erbeutet wird, die Warte
dann den King mit Angaben über Ort und Zeit der Erbeutung
zurückerhält. Seit Jahren sind auf diese Weise wertvolle
Aufschlüsse über den Vogelzug zustande gekommen.
in die andere vorkommt, wobei dann die Grenz-
scheide nicht weit überschritten wird. Die größte
Strecke, auf die sich eine gleichwohl noch inner-
halb des Meeresbeckens verbleibende Ostseemöwe
entfernte, betrug 530 km. Gelegentlich der großen
Herbstzüge, die in bunter Folge der Arten von
den russischen Ostseeprovinzen über die Kurische
Nehrung heranfluten, war sie hier gefangen, um
von der Vogelwarte Rossitten den Nummernring
zu erhalten. Nach zwei Monaten hatte sie dann
an der Ostküste Seelands (Dänemark) das Auge
eines Jagdschützen erspäht, durch den der Er-
kennungsring an die Warte zurückkam. Immerhin
bei einer V\'egstrecke fast zweimal so lang wie
von Hamburg bis Berlin eine ganz ansehnliche,
schon wie „Zug" aussehende Reise, zumal diese
schon, wer weiß wie weit, jenseits Rossittens be-
gonnen hatte. Doch ist es ein außergewöhn-
licher Fall.
In der Nordsee sind auf dem Memmert, einer
winzigen Insel, aber viel genannten Vogelkolonie
bei Juist, als Nestlinge gezeichnete Silbermöwen
im zweitfolgenden Winter bei Rotterdam erbeutet
worden, vier weitere fand man, zwei davon vor
Frost oder Hunger verendet, in einem Watt der
Niederlande hinter Ulrum, Provinz Groningen,
wieder. Die Entfernung bis Rotterdam beträgt
260, die bis Ulrum nur etwa 55 km. Ein Lieb-
lingsziel zur Sommerzeit ist scheinbar die Insel
Texel, Provinz Nord-Holland. Memmert-Möwen
wurden hier, etwa i 50 km von der Geburtsheimat,
wiederholt festgestellt. Eine in Dänemark am
Rinkjoebing Fjord erbeutete Silbermöwe wies mit
dem Ring am Fuß ihre Herkunft von den Färöern,
ihre dänische Staatszugehörigkeit also über 260 km
hin nach. Für „Zugvögel" sind das alles keine
großen Entfernungen. Deshalb spricht man nun-
mehr auch lieber von Streifzügen der Silbermöwe.
Die Tiere brüten sogar, wie man heute ebenfalls
mit ziemlicher Sicherheit annehmen kann, in der
engern Heimat, wenn nicht in derselben Nist-
kolonie wieder, in der sie das Licht der Welt
erblickten.
In starkem Gegensatz zu diesem Pfahlbürger-
tum steht die Reiselust der Lachmöwen. Sie
machen sozusagen ganze Weltfahrten und be-
schränken sich dabei nicht auf die bisher immer
angenommene Leitlinie der Wasserkante. Schon
Palmen zeigt, daß viele von der See zur Rhein-
Rhonestraße abbiegen. Das Beringungsverfahren
hat ihm recht gegeben: Von Ro>sittener Lach-
möwen, die also das gesamte deutsche Meeres-
gebiet durchmaßen, liegen Ringfunde vor aus dem
Oberelsaß vom Rhein-Rhönekanal, von Bregenz
394
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
am Bodeiisee, von der Reede von Genf und
mehrere von der Rhönemündung (1700 km von
Rossitten I). Schon am Genfer See ist ein be-
liebtes Winterquartier, was die Anwohnerschaft
leider zu recht argen Nachstellungen, sogar mit
Gift, veranlassen soll. Viele bleiben am Golf von
Lion, andere aber folgen der italienischen Küste
oder der durch die Baiearen gewiesenen Richtung
und gelangen so nach Tunis und Algier.
Die an der Rheinmündung ihren westlichen
Weg fortsetzenden Scharen landen teils in Eng-
land, teils an den Allantischen Gestaden Frank-
reichs, von wo manche noch weiter wandern
nach Portugal, Spanien, bis Afrika. Lauter Ge-
biete, aus denen unsern Vogelwarten Ringe von
Lachmöwen zugingen, die in den verschiedensten
Gegenden der Nord- und Ostsee damit gekenn-
zeichnet waren.
Zum Mittelmeer führen nun aber auch, allen
bisherigen Anschauungen entgegen, mancherlei
Wanderwege von der Ostsee unmittelbar südwärts
über das F'estland, indem offenbar Ströme wie
Elbe, Oder und Weichsel die Anfangsrichtung be-
stimmen. Wir haben z. B. Ringfunde in einer
Reihe von Königsberg (Rossitten) über die untere
Weichsel, Breslau hin bis Wien, daneben aus der
Gegend von Berlin (bei Grünau und von einer
am Möwenkäfig des zoologischen Gartens ange-
flogenen Lachmöwe), von Dresden, aus Böhmen und
Mähren. Weiter südlich dann von der Donau und
Save, die eine beliebte Zugstraße bilden, darauf
aus der Umgebung von Görz und Triest, von der
dalmatischen Küste (Spalato) einerseits, andrer-
seits von der Pomündung, aus den Lagunen von
Venedig, der Provinz Ravenna, wo viele Möwen
überwintern, u. s. f. Eine Lachmöwe durchquerte,
wahrscheinlich das Eisacktal benutzend, sogar die
Alpen. Sie wurde im Trentino erlegt. Auf dem-
selben Wege werden sich die bei München und
im Inntal erbeuteten Lachmöwen befunden haben,
die ebenfalls von Beringungslaiionen der Ostsee
aufgelassen waren. Daß sie auch sonst auf ihrem
Fluge Gebirgsland nicht scheuen, beweisen ring-
geschichtliche Stellen in den Westalpen am Ufer
der oberen Durance und in den Vorbergen der
Pyrennäen, genau in der Mitte des Festlands-
bandes zwischen dem Golf von Biskaya und dem
Mittelmeer.
Die Lachmöwe unserer Meere ist also ein
Seevogel, der seinen Zug wohl am Meere entlang
nimmt, aber sich nicht daran bindet, der auch
den Flußläufen folgt, aber sonst in bezug auf die
Geländeart nicht immer wählerisch ist. Nimmt
man hinzu, daß eine auf dem Wörthsee bei
München erbeutete und markierte Lachmöwe auf
dem Herbstzuge nach Norden flog, nämlich den
Rhein abwärts und dann an der Küste entlang
bis Holland, so möchte man sagen : Es ist weder
ein angeborener Richtungssinn, noch von vorn-
herein eine bestimmte Landschaftsform, welche
hier die Wanderungen leiten. Vielmehr scheinen
dies die am besten sich bietenden Nahrungs-
quellen, wenn nur in irgendwie gangbarem Gebiet,
zu tun. Wie wenig eine andere Gesetzmäßigkeit
in Frage kommt, beweist der Fall, wo fünf auf
dem Möwenbruch bei Rossitten als Nestlinge ge-
zeichnete Lachmöwen nach wenigstens zwei ver-
schiedenen Richtungen mit fünf verschiedenen
Zielen, die erreicht wurden, zu gleicher Zeit aus-
einander gepilgert sind: je ein Stück nach Ungarn
und Kroatien und je eins bis Wesipreußen, Eng-
land und sogar über den Atlantischen Ozean nach
Westindien. Die angedeutete Rolle der Nahrungs-
quellen bestätigt folgender außerordentliche P'all:
Bei Ciwitz m Böhmen auf dem hier 80— 90 m
breiten Flusse Mieß sind Möwen selten; Wasser-
vögel überhaupt kommen nur auf dem Durchzuge
an und rasten hier dann nur kurze Zeit. Infolge
andauernder Trockenheit war der Wasserstand ein
recht niedriger geworden, so daß unzählige tote
Fische den Spiegel bedeckten. Infolgedessen
kamen ein paar IVlöwen zugeflogen, am dritten,
vierten Tage einige Haufen, schließlich Massen
von 200 Stück, die über dem Flußbett auf- und
abschwebten und in ungefähr einer Woche das
ganze Mahl vertilgten. Eine aus den Schwärmen
herausgeschossene Lachmöwe trug einen Er-
kennungsring vom Wörthsee bei München. Also
waren es Möwen aus einer Richtung, in der sonst
die vom Wörthsee nie zu ziehen pflegen. Nur
die am Ort plötzlich auftauchenden Futtermengen
bestimmten ihn zum Ziel. —
Ein weniger ausgeprägter Zugvogeltyp als die
Lachmöwe, aber in dieser Eigenschaft doch ent-
wickelter als die Silbermöwe ist die Sturm-
möwe (Larus canus). Sie streift weiter als diese
und wandert doch nicht so ausschließlich und
regelrecht wie jene. In heißen Sommern siedeln
manche recht zeitig von der Ost- zur Nordsee
hinüber. So erlebte Helgoland in der Gluthitze
des Jahres 191 1 eine geradezu „abnorme Sturm-
möwenüberschwemmung" (Angabe von Dr. Wei-
gold, dem Leiter der Vogelwarte Helgoland).
Sonst findet eine stärkere Verbreitung nach Westen
erst im Herbst oder Spätherbst statt, auch bei
den in der Nordsee beheimateten. Die F"ahrt
geht dann wohl bis Holland, England und Frank-
reich. In West-Lynn in der Grafschaft Norfolk
werden zu der Zeit wöchentlich viele Hunderte
gefangen. Obwohl Rückmeldungen von Rossittener
Beringten von der Atlantischen Küste Frankreichs
(Bucht von Morbihan) und eine sogar aus dem
Binnenlande, von Paris, vorliegen, scheinen die
Sturmmöwen die Nordsee oder doch den Ärmel-
kanal im allgemeinen nicht zu überschreiten. Auch
in der Ostsee bleiben manche den Winter über
zurück, wie beringte Beutestücke von der Flens-
burger Förde, aus Süd-Schweden und West-
Dänemark bezeugen. Im Vogelleben Helgolands
spiegelt sich das periodische Hin- und Zurück-
fluten der Massen in der Weise wider, daß An-
fang April z. B. ein halbes Tausend gesichtet
werden, das im Mai, offenbar weiter ostwärts
sich verteilend, wieder verschwindet. Im August
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
395
mehrt sich der Zuzug aufs neue, um abermals
abzuflauen, bis November die Rückwanderung be-
ginnt mit der Höchststeigerung gegen Ende des
Monats. —
Als richtige Weltenbummler zeigt uns die Be-
ringungsmethode die Heringsmöwen (Larus
fuscus). Rossittener Ringe gelangten durch sie
nach Ungarn (Saromberke an der Marosch), sowie
bis Belgrad, ins deutsche Voigtland (die Umgebung
von Plauen), nach Süditalien (Kalabrien) und je
ein Färöerring nach Mindelo im nördlichen Por-
tugal und nach Casablanka in Marokko. Also
ein Auseinanderschweifen fast nach allen vier
Winden. Dabei ist aber doch eine Vorliebe für
die mehr westliche Zugstraße zu erkennen. Wenig-
stens liegen eine ganze Reihe Fundorte anf dieser
Strecke, von Liebau an über die pommersche
Küste, auf der andern Seite über Dänemark und
Schweden, weiter über Holland bis zur Atlanti-
schen Küste, an der entlang jedenfalls die Färöerln
von England aus über Frankreich und Spanien
nach Marokko gelangt ist.
Von der Mantel- und der Dreizehenmöwe
(Larus marinus und Rissa tridactyla), die auch in
unseren Meeren vorkommen, ist nach den bis-
herigen Untersuchungen noch nicht viel zu sagen.
Es sind die Tiere des hohen Nordens, die meist
nur den Winter bei uns verbringen. Besonders
die zweite Art ist von Oktober ab bei Helgoland
ziemlich häufig, fliegt von Fischdampfer zu Fisch
dampfer, von Kutter zu Kutter, um auf Nahrungs-
abfälle zu warten. Die große, schwarzflügelige
Mantelmöwe kommt in der Ostsee aus hohen
Breiten hauptsächlich bei starken West- und Süd-
westwinden an, also halb gegen den Wind. Sie
wandert von hier auch wohl noch westwärts und
sogar bis Südeuropa und darüber hinaus. Raub-
möwen, die unsere Nordseegestade besuchen und
unter denen die auffälligste die Riesenraub-
möwe (Stercorarius catarrhactes) mit ihren i '/^ m
Flügelbreite ist, stammen gewöhnlich von Nor-
wegen, Grönland und Spitzbergen. —
Von den Aufenthaltsbewegungen der See-
schwalben in der Nordsee gibt uns der Leiter
der Helgoländer Warte, Dr. W e i g o 1 d , aus einem
der letzten Jahre ein interessantes Bild. Die
Fluß- und Küstenseeschwalben, die in
den Zugverhältnissen ziemlich übereinstimmen,
faßt er dabei zusammen. Im Juli sind sie alle
noch an den Brutplätzen. Im August beginnt
das Umherstreifen, das in der zweiten Hälfte des
Monats stark zunimmt: Ringmeldungen von der
Unterelbe, aus Holstein, von den nordfriesischen
Inseln. Um den 24. und 25. treten große Mengen
bei Helgoland auf, wo sie zahllose junge Heringe
finden, wo sie aber auch zu Hunderten zu Putz-
und Sportzwecken geschossen werden. Zugleich
ziehen schon zahlreiche Scharen südwestwärts
über See, so daß unter den üblichen Eingängen
bei der Vogelwarte die aus der Nähe Dünkirchens,
von Klippen der französischen Küste am Pas de
Calais, von Yarmouth in England nicht überraschen.
Massen sind aber noch geblieben, die in böse
Weststürme geraten, so daß bald Ringe von weit
nach Ost Verschlagenen eintreffen, aus dem
Mecklenburgischen und von Rügen. Die nach
Rügen gelangte und eine von den Mecklen-
burgischen werden, ein Opfer des Wetters, ver-
endet aufgefunden. Mitte September setzt der
Abzug des Restes ein bis auf einzelne umher-
.streifende, von denen eine Gezeichnete im Olden-
burgischen am Zwischenahner Meer und eine an
der Unterelbe betroffen wird. Von den Fern-
züglern geht aber inzwischen schon eine Ring-
botschaft aus der holländischen Provinz Groningen
ein, sowie je zwei von der Somme und der Seine-
mündung, eine von Cherbourg und am 28. Sep-
tember eine sogar von Lissabon. In Andalusien
sollen einige Seeichwalben schon überwintern.
Bei den Brandseeschwalben (Sterna can-
tiaca) liegen die Verhältnisse ähnlich. Nur haben
sich ihre Scharen gegen frühere Zeiten bei Helgo-
land sehr verringert, da ihre Futterzufuhren, die
Züge der Sprotten und Heringe, hier merklich
im Abnehmen sind. Auf dem Memmert dagegen
konnte vor kurzem eine Zunahme um das Sieben-
fache festgestellt werden. Eine in Holland be-
ringte war bis zur Goldküste Afrikas geflogen.
Da ferner eine russische von der Insel Ösel (Ost-
seeprovinzen) auf der Unterelbe geschossen wurde,
so liegen über Seeschwalben überhaupt jetzt be-
stimmte Daten vor von Kurland über die Ost- und
Nordsee, am Atlantischen Ozean hin bis zum Golf
von Guinea. Die Fortführung des Beringungs-
verfahrens verspricht jedenfalls noch wertvolle
Aufschlüsse. —
Über das Verhalten der meisten anderen See-
vögel zur Zeit der großen Umsiedlungen weiß
man noch nicht viel. Die Stockente (Anas
boschas) kehrt im Jahr nach der Geburt in
Heimatnähe zurück. Herbstzügler aus Kurland
und Ostpreußen strebten westwärts, bis in die
Gegend von .Antwerpen und weiter, ins Innere
von Nordfrankreich (Departement Aube), ebenso
eine Krikente (Anas crecca) von Föhr zur
französischen Kanalküste. Andrerseits aber endete
eine Ostpreußin der ersten Art, die an der Weichsel
entlang gewandert sein wird, bei Olmütz in
Mähren und eine Krikente aus dem Gouverne-
ment St. Petersburg in Südungarn, wo sie mit
über hundert Stammesgenossinnnen gelandet war.
Auch die Wege der Löffelente (Spatula
clypeata) scheinen von Küsten- und Stromverlauf
abzuhängen : Ein Ring gelangte mit einer solchen
Ente von der schwedischen Insel Öland in ein
Teichgelände der Somme, 100 km von der Mün-
dung aufwärts. Noch weniger haben uns bis
heute die Brand- und Spießenten von ihren
'Wanderungen verraten. Wissenschaftlich merk-
würdig wurde eine Pfeifente (Anas penelope),
die, mit einem Ringzeichen von Ulrum versehen,
auf dem See Suolijärvi in Finnland der Kugel
zum Opfer fiel und zwar zur Herbstzeit. Sie
hatte sich also auffallenderweise nordwärts ge-
39Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
wandt, bis über den 66. Breitengrad hinaus,
30 Grad östHcher Länge von Greenwich. Andere
ihresgleichen dagegen bevorzugten von derselben
Markierungsstelle aus die Westrichtung am Ge-
stade entlang, wobei eine die 625 km entfernte
Seinemündung erreichte. Derselben Heerstraße
gehören die IVIassenflüge der Trauer- und
Sammetente (Oidemia nigra und fusca) an,
die, über Helgoland kommend, Mitte Dezember
an der holländischen Küste zu ganzen Myriaden
anwachsen, so daß Weigold durch ein solches
Gewimmel einmal dreiviertel Stunden lang fuhr.
Im allgemeinen kann man also von unseren
Seevögeln sagen, daß meistens zwar die lang-
gedehnte „Wasserkante" unseres Erdteils ihre
Zugstraßen bestimmt, daß aber die Wanderflüge
ins Binnenland und auf früher weniger beachteten
Straßen über das Festland hinweg durchaus nicht
verschwindende Ausnahmen bilden. Die große
Zugbahn Ost-West, bzw. Ost-Südwest erfährt zu-
dem noch manche Verbreiterung seewärts wie
landwärts. Daß die Wege der nördlicher brütenden
Vögel geradezu senkrecht zu dieser Linie stehen,
ist selbstverstär.dlich und schon früher beachtet
worden. Die Randlinien Schwedens, Norwegens
und F"innlands lenken ihren auf Süden, im Früh-
jahr umgekehrt eingestellten Umzugsflug. Vor-
nehmlich sind es Alken, Lummen, Eider-
enten, der Papageitaucher, Nordsee-
taucher, die Ringelgans u. ä., die auf diesen
Straßen ziehen und von Herbst bis Frühjahr in
'der Nord- und Ostsee in großen Scharen (im Ok-
tober bei Helgoland z. B. bis zu 1500 Stück) er-
scheinen, manche wie die Ringelgans nur auf dem
Durchzuge. Auch der wilde Schwan (Cygnus
musicus) ist in Deutschland vielfach nur Durch-
zügler, überwintert aber auch zahlreich an unseren
Küsten.
Zu den Seevögeln, die beim Quartierwerhsel
für die Hin- und Rückreise verschiedene Wege
einschlagen, zählt unter anderen der Große
Brachvogel (Numenius arcuatus). Er kommt
im März und April durch Deutschland, zieht aber
abwandernd längs der Meeresküste. Heere von
Tausenden erfüllen dann bei Norderney, Helgo-
land und Sylt mit ihrem lauten Geschrei die Luft,
in der Gewalt des Eindruckes nur noch über-
boten vom Vorübersausen der Goldregen-
pfeifer (Charadrius apricarius), die gleichfalls
beide Strecken ziehen, in der größern Zahl jedoch,
sowohl März wie Oktober, den Seeweg wählen.
Von den sibirischen Tundren kommen sie in
Legionen herangewallt, schreiend und in raketen-
artig sausendem Flug, so daß wohl der Jäger auf
der Lauer vor Schrecken das Anlegen des Ge-
wehres ganz vergißt. Leider erliegt dieser schöne
Vogel aber doch massenweise den Nachstellungen,
und, trotzdem er noch immer in riesenhaften
Mengen bei Helgoland erscheint, kann Weigold
gegen die früheren Zeiten, wo Gätke noch
Vogelwart auf der Insel war, eine merkliche Ab-
nahme der „delikaten Goldhühner" feststellen.
Wie bei so mancher Vogelart hält eben die Mord-
waffe des Menschen gegen die schöpferische Fülle
des Lebens in der Natur nicht nur gleichen
Schritt, sondern weiß sie in brutaler Weise an
Macht auch noch zu übertreffen.
Kleinere Mitteilungen.
Das Deutsche Tierleben in der verflossenen
Kälteperiode'). Infolge der ungewöhnlich strengen
Kälie im vergangenen Januar, Februar und März
hat der Wolf öfter als in sonstigen Wintern aus
Rußland nach Ostpreußen, namentlich nach Masureri,
herüber gewechselt. —
Vom nutzbaren Wild ist erfreulicherweise
trotz der Fütterungsschwierigkeiten nur wenig ein-
gegangen, selbst in Gebirgen, wie im Odenwald, im
Harz und in der Rhön, wo es anscheinend besonders
wetterfest ist. Erfreulich ist das, weil infolge der
Fleischknappheit die Wildbestände fast überall
stark vermindert sind und jetzt ständig für Jagd-
pachten utiglaublich hohe Preise geboten und ge-
zahlt werden, die wieder herauskommen sollen.
Nur vereinzelte gefallene und schalenwunde Stücke
Rot- und Rehwild wurden gefunden, vielleicht
in Westpreußen zahlreichere; Schwarzwild war
bloß abgemagert. Mehrfach sind die Junghasen
') Nach Berichten der „Deutschen Jägerzeitu
Mai und nach anderen Quellen.
erfroren. In Wolhynien wurde am 25. Februar
ein dreitägiger Junghase lebend gefunden. Also
selbst im dortigen rauhen Klima gibt es zeitige
Hasensätze.
Auch F"asanen haben, zumal bei fehlender Fütte-
rung, natürlich stark Hunger gelitten, Rebhühner
traf man gelegentlich mit erfrorenen Ständern, so
daß sie unfähig waren, zu laufen oder aufzufliegen;
ebenso einmal ein Teichhuhn.
In Bayern gab es erfrorene Stare, „Drosseln"
und „Feldlerchen" — vermutlich Amseln und
Haubenlerchen, anderwärts Buch- und Bergfinken,
Goldammern, Rotkehlchen, Eisvogel, Taucher,
Teichhühner und Steinkauz. Selbst Krähen lagen
verendet unter den Schlafbäumen.
Die Jagd auf Wassergeflügel fiel meist gut
aus, da Enten, Gänse, Säger, Taucher, Teich-
hühner ') und in Norddeutschland Schwäne zahl-
reicher als sonst aus Norden herankamen und
die ganzen Scharen der Zug- und Standvögel sich
') Keine Art gil( heute mehr für ungenießbar.
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
397
nach Zufrieren der Seen zur Äsung; an den wenigen
eisfreien Stellen und an den Ufern sammelten.
Höchstens an der Küste, wie in Ostfriesland, fanden
sie auf dem offenen Meere eine vor Nachstellungen
etwas geschütztere Zufluchtsstätte. Durch Hunger
ermattet, konnten viele von den Schwimmvögeln
mit der Hand gegriffen werden. Solches etwa
wird berichtet aus Kurland, Holstein, Mecklenburg,
Schlesien, dem bergischen Lande, vom Rhein, aus
Belgien, aus Bayern. Viel Äsung fand die
Vogelwelt, Enten und Säger, Möwen und Krähen,
auf den Flüssen, z. B. auf dem Rhein, als er mit
Eisschollen bedeckt war, die erfrorenes Kleingetier
vom Grunde nebst Küchenabfällen führten. Zu
Tausenden fuhren die Vögel auf den Schollen
einige Kilometer stromab, strichen dann wieder
der Strömung entgegen, und so fort. Aber immer
mehr engt sich der offene Strom ein, immer
kleiner wird damit die Äsungsfläche, schließlich
steht die Eismasse fest und wächst stromaufwärts.
Mit ihr wandern stromauf die Vögel.
Anderwärts sah man Raubvögel infolge des
verschärften Daseinskampfes sich herbei-
lassen, in der Nähe des Menschen, namentlich am
frischen Stallmist, gemeinsam mit Krähen zu kröpfen.
Krähen setzten Junghasen hart zu, nahmen auch
zu mehreren einen erwachsenen Hasen an. Auf
der Maas erschnappten Krähen Stare, mit denen
sie gemeinsam auf Eisschollen trieben. Da keine
Mäuse hervorkamen, hielten sich Falken viel mehr
als sonst an die Kleinvogelwelt. In Hadmersleben
wurde ein Mäusebussard mehrmals von einem
Stalldache verjagt, wo er sich anscheinend den
Hühnern zu nähern versuchte. Bei Mors wurde
beobachtet, wie ein Mauser eine Elster schlug.
Sonst ist bekanntlich der Bussard ein träger Vogel,
der sich eher von Krähen verjagen läßt. Ich sah
vor etwa i V-i Jahren einen, der, offenbar infolge
ausgiebigen Kröpfens, so faul war, daß er sich von
zwei nacheinander herankletternden Krähen und
sogar einer Elster in den Ständer beißen ließ,
worauf er endlich langsam abstrich.
Ein einziges Dompfaffen[)ärchen hat einen
Kirschbaum von Knospen leer gefressen.
Vor den Toren einer rheinischen Stadt er-
schienen Großirappen, und in den Straßen
Bacharachs schlug man eine Wildkatze tot. Der
Fuchs vergriff sich an Schwänen, wenigstens an
geflügelten, und hat mehrfach auch seinesgleichen
gerissen und gefressen.
Alles vierläufige Raubzeug hatte ein besonderes
dichtes Winterkleid angelegt.
Bei der Schnepfe, die kaum vor Mitte März
irgendwo in Deutschland erschien, hat sich der
Frühjahrszug an den meisten Orten von
Ungarn bis Belgien sicher um etwa 8 bis 14 Tage
verspätet. Auch Schwalben sah man verspätet
eintreffen. Während der vorangegangenen kalten
Monate waren zwar einzelne Schnepfen da: das
sind die wenigen Standschnepfen, die wir all-
winterlich haben.
Viele Schwimmvögel rüsteten ungewöhnlich
spät zum Aufbruch nach Norden, und ein'ge werden
sich wohl, da sie bereits legereife Eier trugen,
ihrer Gewohnheit entgegen zum Bleiben ent-
schlossen haben.
Sonst ist mir, außer vielleicht vom Osten, aus
Kurland, nicht sicher bekannt geworden, daß sich
bei größeren oder bei kleineren Vögeln die Zug-
zeit in diesem kalten Spätwinter merklich ver-
schoben hätte, vielmehr fiel in mehreren Gegenden
auf, daß die Kiebitze zur gewohnten Zeit in den
ersten Märztagen auf den noch völlig vereisten
Wiesen eintrafen. Ungezählte Mengen sah man
in Belgisch- Limburg.
Hinwiederum wurden Standschnepfen In Belgien
und Kleiber, Stare und Rotkehlchen in Deutsch-
land in Gegenden, wo sonst fast all winterlich
einige ausharren, diesmal nicht mehr gesehen.
Sie kehrten vielleicht im März wieder zurück.
Anders im besetzten Frankreich mit seinem
bekanntlich im Durchschnitt milderen Klima.
Ich traf am 27. Januar in der Gegend von Valen-
ciennes ein, also im nördlichen Nordostfrankreich,
wo der Schnee ebenso wie am Rhein und etwa halb
so hoch lag wie im Osten Deutschlands. Ohne
viel auf die Natur achten zu können, sah ich doch,
daß Stare und Rotkehlchen auch in den strengsten
Wintertagen trotz der für diesen Landstrich ganz
ungewohnten Rauhheit der Witterung hier blieben.
Die Rotkehlchen hielten sich viel in Höfen am
Erdboden und zeigten kaum mehr Scheu vor
dem Menschen. .'\n 22. März durchritt ich bei
heftigem Schneeweiter einen Laubwald und befand
mich plötzlich inmitten von fünf laut um die
Wette balzenden Rotkehlchenhähnen, die samt den
das Gebüsch durchschlüpfenden Weibchen mein
Erscheinen und das Wiehern meines Pferdes nicht
beachteten. Zur gleichen Zeit war in Nord-
deutschland — Lüneburg, Leipzig — „noch alles
tot und still". Das ganze Liebesleben der Vögel,
auch soweit diese schon da waren, setzte offenbar
im größten Teile Deutschlands ziemlich spät ein.
Bestimmt wird dies von der Birkhahnbalz mehr-
fach berichtet. Auch sie fand gelegentlich bei
heftigem Schneegestöber statt.
In der vom Brocken herabströmenden Ilse, die
bis auf den Grund gefror, ist der Forellenbestand
schwer geschädigt, vielleicht vollständig vernichtet
worden. Ebenso sind verschiedentlich in Fisch-
teichen viele Karpfen und Aale zugrunde ge-
gangen, sowie sonstiges Wassergetier in bis zum
Grund gefrorenen Kleingewässern. Begreiflicher-
weise erwachte auch das lenzliche Leben der
Lurche und Kriechtiere allgemein spät.
V. Franz.
Bemerkungen zur Tonerzeugung der Schweb-
fliegen. In Nr. II der Naturwissenschaftlichen
Wochenschrift, Jahrgang 1917, erschien eine Ab-
handlung von Prof Dr. W. v. Reichenau über
den „Gesang der Unsichtbaren im Föhrenwalde".
398
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
Prof V. Reichenau schreibt, daf3 bei den Schweb-
fliegen (Syrphus) eine richtige Singstimme vor-
handen sei, ein willkürlich ausgestoßener Ton,
kein Flügelgeräusch.
Im folgenden soll erörtert werden, was bisher
vom Tönen der Dipteren bekannt ist, unter Hin-
zufügen eigener Beobachtung.
Wie Landois in seinen „Tierstimmen" 1874
ausführt, haben wir bei den Dipteren 3 Stimmen
oder Töne zu unterscheiden.
1. Ein relativ hoher Ton entsteht durch die
vibrierenden Flügelschwingungen, die ja bei den
Dipteren besonders hoch an Zahl sind, z. B. bei
Mücken 200— 300 mal in der Sekunde. Außer
diesen durch Vibration äußerer Körperteile hervor-
gebrachten Tönen unterscheidet Landois
2. eine Stimme, die von den Fliegen und Mücken
durch die Stigmen der Brust hervorgebracht werden
soll. Er hat diese Stimme dann bei einzelnen Fliegen
untersucht, z.B. bei der Schlammfliege, Stubenfliege,
Dungfliege. Nachdem er den Rumpf vom Abdomen,
dem Kopf und allen Anhängen befreit hatte, tönte der
Rumpf doch noch und gab einen Laut von sich.
Landois meinte, daß diese Stimme nur ein
Respirationston sein könne, der durch die aus
den Stigmen ausströmende Luft hervorgerufen
werde, die hier Stimmbänder in Schwingungen
versetzen sollten. Er führt dies noch weiter aus
und gibt Zeichnungen und Beschreibungen der
kunstvoll eingerichteten Atmungsorgane, die diese
Töne ermöglichen sollten.
Als 3. Ton fand er dann noch bei einigen Fliegen
einen Vibrationston, hervorgerufen durch eine
Vibration des Kopfes; hierdurch wurde ein
Brummen verursacht.
Wir hätten also bei den Dipteren eine drei-
fache Stimmbildung, erstens Flügelschwingungen,
zweitens Respirationstöne, drittens Vibrieren des
Kopfes. Der Respirationstheorie ist dann von
verschiedener Seite entgegengetreten worden. Eine
Zusammenfassung der ganzen F"rage in kritischer
Erörterung findet man bei Prochnow, Die Laut-
apparate der Insekten, Guben 1907.
Prochnow beweist, daß ein Respirationston
bei den Dipteren nicht vorkommt, daß also nicht ein
ausströmender Luflstrom ausgespannte Häute in
den Stigmen in Bewegung setze, sondern daß der
Ton, der neben dem Schwirren der Flügel er-
klingt, durch lebhafte Kontraktionen der Flügel-
muskeln hervorgerufen werde, die auch nach dem
Abschneiden der Flügel noch wirksam bleiben
und den gesamten Thorax in Schwingungen ver-
setzen, „Schwingungen, die wegen der Elastizität
des Chitins schneller erfolgen als die normalen
Muskelkontraktionen und eine größere Höhe des
sekundären Flugtones bedingen, als sie der Haupt-
flügelton aufweist".
Hierzu möchte ich nun hinzufügen, daß ich
Ende Juli 1916 im Eulengebirge auch Beobach-
tungen über den Gesang der Dipteren im Walde
anstellen konnte, und zwar bei Syrphiden.
Ich hörte damals neben dem gewöhnlichen
Ton, der durch das schnelle Schwingen der Flügel
hervorgerufen wird, einige Male einen anderen
Ton, der einen ganz anderen Klang hatte, vielleicht
am besten mit einem feinen Klingen einer Saite
verglichen werden konnte. Er blieb mir unerklär-
lich, bis ich dann bald darauf ihn aus einem
Strauche in nächster Nähe hörte und hier auch
die Ursache entdeckte. Eine Schwebfliege saß
auf einem Blatte, hatte die Flügel angelegt und
saß scheinbar ganz stille. Bei genauerem Hin-
sehen sah ich, wie die Halteren in rasender Ge-
schwindigkeit schwangen. Durch dieses Schwingen
wurde der feine Sington hervorgerufen. Ob nun
der feine Ton auch während des Fluges hervor-
gerufen werden kann, kann ich nicht entscheiden,
aber es scheint mir nach meinen Beobachtungen so.
Jedenfalls steht hierdurch fest, daß auch dieser
merkwürdige Gesang der Syrphiden, den wohl
auch Prof v. Reichenau beobachtet hat, nicht
ein Respirationston ist, sondern ein Vibrationston.
Echte Respirationstöne sind in der Insektenwelt
bisher wohl nur vom Totenkopfschwärmer,
Acherontia atropos, festgestellt worden, was aller-
dings auch noch bestritten wird.
Wieweit dieser sekundäre Ton der Syrphiden
im Leben der Tiere von Bedeutung ist, steht
nicht fest. Mir will es nach meinen Beobach-
tungen scheinen, als ob er ein Anlockungs- oder
Verständigungsmittel ist.
Dr. Hans Lüttschwager.
Einzelberichte.
Chemie. Außerordentlich interessante Unter-
suchungen über die Beziehungen zwischen der
Wasserstoffionenkonzentration von Flüssigkeiten
und ihrem sauren Geschmack sind neuerdings von
Theodor Paul in Ergänzung seiner in dieser
Zeitschrift bereits früher erörterten Arbeiten über
den Säuregrad des Weines von physikalisch-
chemischem Standpunkte aus ausgeführt worden
und sollen im folgenden kurz besprochen
werden. *)
Versuche, die Beziehungen zwischen dem sauren
Geschmack und der sauren Reaktion von Lösungen
klar zu stellen, sind zwar schon von verschiedenen
') Theodor Paul, Beziehungen zwischen saurem Ge-
schmack und Wasserstoffionenkonzentration, Ber. d. deutsch.
Chem. Gesellsch., Jahrg. 49 (1916), S. 2124—2137.
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
399
Seiten angestellt worden, haben aber zu keinem
schlüssigen Ergebnis geführt, weil die physio-
logischen Empfindungen, die hier in Betracht
kommen, außerordentlich subtiler Natur sind und
der Mensch saure Geschmacksempfindungen nur
innerhalb sehr enger Grenzen zu differenzieren
vermag; auch ist es nicht möglich, zu sagen, daß
die eine Flüssigkeit doppelt oder dreimal so sauer
schmeckt als die andere, die Angabe muß sich
vielmehr auf die qualitative Aussage beschränken,
daß diese F^lüssigkeit saurer als jene schmecke.
Hierzu kommt noch eins: Die Versuche sind meist
mit wässerigen Lösungen reiner Säuren angestellt
worden, also Flüssigkeiten, auf die unsere Ge-
schmacksorgane überhaupt nicht eingestellt sind,
denn auch der Geschmack der einzigen Säure,
mit der die Zunge des Menschen häufiger in Be-
rührung kommt, der der Essigsäure, wird wesent-
lich durch die im Essig vorhandenen, von seiner
Herstellung herrührenden aromatischen Stoffe be-
einflußt. Paul wählte für seine Versuche daher
ein zwar recht kompliziert zusammengesetztes
Material, den Wein, das aber den Vorteil bot, daß
es der Zunge des Menschen bereits gut bekannt ist.
Was die Säure des Weines anbelangt, so sind,
wie Paul in Gemeinschaft mit Ad. Günther
bereits früher eingehend nachgewiesen hat, zwei
Dinge zu unterscheiden, nämlich einerseits der
nur durch physikalisch-chemische Methoden, wie
die Methylazetatkatalyse oder die Zuckerinversion
bestimmbare Säuregrad, d. h. die aktuelle Wasser-
stoffionenkonzentration, und der Säuregehalt, d. h.
die Menge Wasserstoffionen, die man bei der
Titration aus dem Wein herausholen kann '). Für
die Geschmacksprüfung kommt, da die Wasser-
stoffionen beim Schmecken ja wohl nicht ver-
braucht oder doch rasch wieder ersetzt werden,
nur der Säuregrad in Frage, und dieser schwankt
nach den umfassenden Untersuchungen von
Paul beim Wein im allgemeinen zwischen den
verhältnismäßig engen Grenzen von 0,17 bis 1,61
mg Ion Wasserstoff im Liter. Die Weine, deren Säure-
grad an der unteren Grenze liegt, schmecken über-
haupt kaum sauer, diejenigen, deren Säuregrad an
der oberen Grenze liegt, sind so sauer, daß sie kaum
mehr genießbar erscheinen. Das Gebiet von 0,17
bis 1,61 mg-Ion Wasserstoff bezeichnet also ungefähr
das Säuregebiet, das die Zunge des Menschen zu
beherrschen vermag. Paul entsäuerte nun, um
bei den geplanten Geschmacksversuchen von jedem
neben dem Säuregeschmack vorhandenen sonstigen
Geschmack des Weines unabhängig zu sein, einen und
den selben Wein durch Zusatz verschieden großer
Mengen von Dikaliumtartrat K.X^H^Og- VaHjO -)
und erhielt so eine Reihe von Proben, die sich
in geschmacklicher Hinsicht im wesentlichen nur
durch die Menge ihres Säuregrades unterschieden. -
') Vgl. Naturw. VVochenschr., N. F. Bd. 14 (1915),
S. 6u — 634.
2) Die entsäuernde Wirkung des Dikaliumtartrats beruht
darauf, daß das Weinsäureion QH^O^ sich zum Teil mit
dem VVassersloffion H+ zu dem Ion CiHjOoH— verbindet.
Diese Proben setzte er einigen Fachleuten, einem
Kellermeister, einem Küfer, einem Weingroßhändler,
sowie einigen besonders weinverständigen Privat-
personen vor, die die Proben mit ihrer geübten Zunge
prüfen und in der Reihenfolge abnehmenden Säure-
geschmacks anordnen sollten. Das Ergebnis dieser
Versuche, die mit drei verschiedenen Weinsorten
mit je 7 im Durchschnitt um 0,1 bis 0,2 mglon
Wasserstoff im Liter verschiedenen Säuregradstufen
durchgeführt worden ist, war durchaus das erwartete:
Im allgemeinen wurden die Proben in der richtigen
Reihenfolge angeordnet.
Bestätigt wurden diese Ergebnisse durch einen
auf der letzten Hauptversammlung der Deutschen
BunsenGesellschaft für angewandte physikalische
Chemie im großen durchgeführten Versuch '):
Den — im Weinprobieren natürlich weniger ge-
übten — Teilnehmern der Versammlung wurde
ein sehr saurer Wein mit dem enormen Eigen-
säuregrad von 1,80 mglon H+ im Liter in
ursprünglicher F'orm und nach der mit steigenden
Mengen von Dikaliumtartrat vorgenommenen Ent-
säurung auf 0,95, 0,55 und 0,25 mg-Ion H+ zur
Prüfung vorgesetzt. Bei der Prüfung ordneten von
62 Teilnehmern 37 (=6o''/o) die verschiedenen
Proben ganz richtig, [8 Teilnehmer (=29"/,,) be-
gingen einen und nur 7 Teilnehmer (=11"/^) be-
gingen zwei Fehler — ein überraschend gutes
Ergebnis. Mg.
Über die Herstellung homogener Wolfram-
kristallfäden für Glühlampen referierte auf der
letzten Hauptversammlung der Deutschen Bunsen-
Gesellschaft für angewandte physikalische Chemie
Prof. Dr. W. Böttger- Leipzig. Seinem, soeben
in der Zeitschrift für Elektrochemie (Bd. 23,
S. 121 — 126; 1917) veröffentlichten, höchst
interessanten Vortrage sowie auch einem kurzen
Bericht mehr technischen Charakters, der jüngst
in der Elektrotechnischen Zeitschrift (Bd. 38,
S. 234 — 235; 1917) erschienen ist, sind die
folgenden Mitteilungen entnommen.
Bisher wurden die Wolframfaden entweder
dadurch, daß das Wolframpulver, das bei der
Gewinnung des metallischen Wolframs zunächst
immer erhalten wird, bei hoher Temperatur durch
Hänmiern zu kleinen Klumpen verschweißt und
dann durch Walze- und Ziehprozesse in Drahtform
gebracht, oder durch „Spritzen," d. h. in der
Weise hergestellt, daß das feinverteilte Metall mit
einem geeigneten Bindemittel zu einer plastischen
Masse verarbeitet und dann unter hohem Druck durch
Diamantdrüsen hindurch gepreßt wurde. Die so
erhaltenen Fäden wurden nach geeigneter Vor-
behandlung durch einen allmählich gesteigerten
elektrischen Strom bis zur Sinterung erhitzt. Hierbei
erhalten sie ein glänzendes metallisches Aussehen,
') Theodor Paul, Wissenschaftliche Weinprobe zur
Feststellung der Beziehungen zwischen der Stärke des sauren
Geschmackes und der Wasserstoffionenkonzentralion, Zcilschr.
f. Elektroch., 23 (1917), S. 87—93.
400
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
bleiben aber hart und spröde und zerbrechen bei
dem Versuche, sie zu biegen.
Günstiger als Fäden aus reinem Wolfram ver-
halten sich Fäden, die unter Zusatz von etwa 2''/o
Thoriumoxyd, aber sonst in der gleichen Weise
hergestellt sind, denn sie lassen sich über eine
ziemlich scharfe Kante knicken, ohne zu zerbrechen.
Nun aber zeigte sich bald, daß die mit Thorium-
oxyd hergestellten Wolframfäden diese größere
Festigkeit nicht gleichmäßig über ihre ganze Länge
hin besitzen, es ergab sich vielmehr, daß sich in
ganz unregelmäßiger Verteilung neben Stellen von
größter Knickfestigkeit Stellen fanden, an denen
der Faden bei jedem Knickversuch in zwei Stücke
zerbrach. Diese Tatsache bildete den Ausgangs-
punkt für die neuen von Direktor Otto Schaller,
Dr. H. Orbig und Ingenieur Elstner von der
bekannten Firma Julius Pint«ch in Berlin aus-
geführten, in ihrem Zielbewußtsein mustergültigen
Untersuchungen, über deren ganz eigenartige und
überraschende Ergebnisse im folgenden kurz be-
richtet werden soll.
Zunächst schrieb man — das ist ja selbst-
verständlich — das unregelmäßige Auftreten der
Stellen geringer Knickfestigkeit dem Walten des
Zufalles zu und suchte sie durch ganz besonders
peinliches Arbeiten zu vermeiden. Indessen ohne
jeden Erfolg: die schwachen Stellen treten vor
wie nach in gleicher Unregelmäßigkeit auf.
Dieser unbefriedigende Zustand änderte sich,
als die Metallographie zu Rate gezogen wurde.
Als die Fäden nämlich in geeigneter Weise geätzt
und dann im Mikroskop betrachtet wurden, stellte
sich heraus, daß sie aus einzelnen unregelmäßig
aneinanderstoßenden, säulenförmigen Kristallen
bestanden. Und die weitere Untersuchung ergab
nun sehr rasch die Ursache für die Unregelmäßig-
keiten in der Festigkeit der Fäden: Die Kristalle
selbst besaßen eine hohe Knickfestigkeit; sie
konnten geknickt werden, ohne dabei zu zerbrechen,
äußerst empfindlich gegen das Knicken aber
waren — das ist ja begreiflich — die Stellen, an
denen zwei Kristalle aneinander stießen: an diesen
Stellen trat bei jedem Knickversuch sofort Bruch ein,
In den Abbildungen i bis 3 werden die be-
schriebenen Frscheinungen im Bilde dargestellt.
Abbildung i läßt die Stelle deutlich erkennen, an
der zwei Kristalle aneinander stoßen. Abbildung 2
zeigt den achteckigen Querschnitt der Kristalle.
Zu diesem Bilde ist aber folgendes zu bemerken :
Die Fäden haben nach der Herstellung einen runden
Querschnitt; den achteckigen Querschnitt erhalten
sieerstdurchdenÄtzprozeß. Die der Böttger'schen
Abhandlung beigegebenen Abbildungen sowie die
Beschreibungen zeigen, daß dem runden Krystall-
faden ein Bestreben innewohnt, auch die ihm als
Kristall zukommende äußere F"orm, die Begrenzung
durch ebene Flächen, anzunehmen, und diesem ja
verständliche Bestreben durch die Ätzung gewisser-
maßen eine Möglichkeit zur Betätigung gegeben
wird. So entsteht ja auch, wenn man eine
Kalkspathkugel in verdünnte Säure oder eine
Kochsalzkugel in Wasser legt, als „Lösungskörper"
ein Rhomboeder bzw. ein Oktaeder oder Würfel.
Hierdurch erklärt sich die Abbildung 3, die einen
zunächst zur Hälfte weggeschliffenen und dann zum
Teil angeätzten Kristall darstellt; sie läßt deutlich
den halb weggeschliffenen, nunmehr einen halbkreis-
förmigen Querschnitt besitzenden Teil und daran
anstoßend den „Ätzkörper" mit seinem charakte-
ristischen achteckigen Querschnitt erkennen.
Mit der Erkenntnis der Ursache für das Auf-
treten der knickempfindlichen Stellen war das
zunächst praktisch wohl unlösbar erscheinende
Problem gegeben, die Entstehung verschiedener
Kristalle in demselben Faden zu verhindern, d. h.
Fäden herzustellen, die in ihrer ganzen Länge aus
einem einzigen einheitlichen Kristall bestehen. Dies
Problem ist von Schaller, Orbig und Elstner
in folgender Weise gelöst worden : Der gespritzte
Faden wird nicht mittels des elektrischen Stromes
gleichzeitig in seiner ganzen Länge zur Sinterung ge-
brannt, denn in diesem Falle entstehen ja gerade
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
401
viele einzelne Kristallisationskeime und wachsen, ein
jeder für sich, bis die groß gewordenen Kristalle
zusammenstoßen, sondern er wird durch äußere
Erhitzung zunächst nur an einer einzigen Stelle
erhitzt, so daß sich auch nur ein Kristallkeim bildet
und nun schreitet die Erhitzung langsam in der
Länge des Fadens fort, so daß diesem einen Kristall-
keim Gelegenheit zum Weiterwachsen gegeben
ist. Praktisch wird dies, wie Abbildung 4 zeigt,
in der Weise ausgeführt, daß man den gespritzten
geschwindigkeit gerade Schritt hält. So wird es
tatsächlich erreicht, daß der zu Anfang gebildete
Kristallkeim, langsam und ohne daß sich neue
Kristallkeime bilden, in den gespritzten, aus
amorphem oder mikrokristallinem Material be-
stehenden Faden hineinwächst und als Endergebnis
schließlich ein einziger homogener Wolfram-
kristall D von theoretisch beliebiger Länge er-
halten und auf der Rolle R aufgewickelt wird.
Das Wachstum selbst geht, wie Abbildung 5 zeigt,
Abb. 3.
Faden F durch eine mit einem indifferenten Gase
(Wasserstoff) gefüllte Heizkammer K laufen läßt, in
der er zunächst in einer Heizspirale S vorgewärmt
und dann in der eigentlichen Kristallisierzone s,
einer auf 2400 bis 2600" erhitzten Wolframspirale
zur Kristallisation gebracht wird. Die Weiterbe-
wegung des Fadens geschieht mit einer Ge-
schwindigkeit von etwa 2V2 m in der Stunde und ist
so geregelt, daß sie mit der Kristallisations-
in der Richtung von innen nach außen vor sich;
die — im Bilde dunkel erscheinende — Spitze
des wachsenden Kristalls schiebt sich wie ein Keil
in die — im Bilde hell erscheinende — Masse
des noch nicht kristallisierten Fadens m.
Die Wolframkristalle werden in der Technik
in der Länge von 25 m hergestellt; ihre Dicke
beträgt 0,02 bis 1,00 mm. Ihre Zugfestigkeit hat
den hohen Wert von 164 kg pro qmm, und sie
sind so biegsam, daß man sie, ohne daß sie zer-
reißen, zu festen Knoten schürzen kann.
Über die Bedeutung, die die technische Dar-
stellung des Kristallfadens für die Glühlampen-
Industrie hat, brauchen nach dem Vorstehenden
nur wenige Worte gesagt zu werden. Bei einem
gewöhnlichen, nach dem aUen Verfahren her-
gestellten Wolframfaden wachsen im Laufe der
zahlreichen Erhitzungen während des praktischen
Gebrauches die einzelnen Kristallkeime, und der
Faden wird dadurch als Ganzes immer empfindlicher
gegen zufällige Stöße. Bei dem Kristallfaden aber,
der zur Herstellung der Sirius-Metallfadenlampe
dient, kommt gerade dieser unweigerlich schließlich
zu Bruch des Fadens führende Faktor nicht in
Betracht, denn der Faden besteht ja schon aus
einem einzigen langen Kristall. Also wird die
Lebensdauer des Fadens und damit die Lebensdauer
der Glühlampe; durch diesen, die Lebensdauer
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
der gewöhnlichen Glühlampen am meisten ab-
kürzenden Umstand nicht beeinflußt. Dazu kommt,
daß die in gewöhnlicher Weise hergestellten
Wolframfäden, die bei niedriger Temperatur
erheblicli starrer als die verhältnismäßig weichen
und duktilen Kristallfäden sind, bei der hohen
Temperatur der Glühlampe weich werden, so daß
sie sich leicht durchbiegen, während die Kristall-
fäden bei der hohen Temperatur der brennenden
Lampe merkwürdigerweise eine größere Starrheit
als bei Zimmertemperatur besitzen.
Es ist sehr dankenswert, daß die Firma Julius
Pintsch die Veröffentlichung ihres Verfahrens zu-
gelassen hat; es ist dadurch eine reiche Quelle
wertvollster Anregungen für die Wissenschaft wie
für die Praxis erschlossen. Mg.
Eine Reihe von sehr interessanten Verbindungen
ist in letzter Zeit von W. Seh lenk und seinen
Schülern dargestellt worden, über die im folgen-
den kurz berichtet werden möge.
Das Triphenylmethylnatrium ')
(CeH,)3C.Na
entsteht durch Einwirkung von Natrium in Form
von2''/jigemNatriumamalgamaufTriphenylmethyl-
chlorid {CgU^).^CC\, das in vollkommen trockenem
Äther gelöst ist. Die Reaktion, die in einer At-
mosphäre von reinem Stickstoff vorgenommen
werden muß, verläuft nach der Gleichung
(QHJ3CCI + 2Na = (CgH5)3C- Na + NaCl.
Das Triphenylmethylnatrium, ein Stofif von dunkel-
orangeroter Farbe, der vermutlich der chinoiden
Strukturformel , — [
C =
^Na
entspricht und in ätherischer Lösung Leitfahigkeits-
messungen zufolge überraschenderweise deutlich
ionisiert ist, ähnelt den bekannten Grignard'schen
Magnesiumverbindungen, ist ihnen aber in bezug
auf Reaktionsfähigkeit weit überlegen. So liefert
es mit Benzoesäuremethylester CgH^-CO-OCHj
in rascher Reaktion neben Natriummethylalkoholat
/9-Benzpinakolin :
(CgH JaCNa + CH3O . CO . C„H,
= (QHJsC . COQH, + CH3 0Na.
Mit wenig Sauerstoff oder Luft geschüttelt liefert
seine ätherische Lösung zunächst Triphenylmethyl
und Natriumsuperoxyd
(CeHJ^CNa + O^ = (CeH.OgC + NaO.„
') W. Schlenk und E. Marcus, „Über Metalladdi-
tionen an freie organische Radiljale", Ber. d. deutsch, ehem.
Gesellsch., Bd. 47 (1914), S. 1665 - 166S. — W.Schlenk und
RudolfOchs, „Zur Kenntnis des Ttiphenylmethylnatriums",
ebenda, Bd. 49 (1916). S. 608—614.
während ein Überschuß des Sauerstoffs das Tri-
phenylmethyl selbst natürlich weiter in das Super-
oxyd (CgH5)3C-02 verwandelt. Kohlendioxyd
absorbiert es unter Bildung von triphenylessig-
saurem Natrium
(QHg^CNa -f CO2 = (C,H5)3C • CO.,Na,
mit Wasser setzt es sich sofort unter Bildung von
Triphenylmethan um
(CaHjlgCNa + H^O = (QHJaCH + NaOH.
Bemerkenswert ist sein Verhalten gegen Verbin-
dungen mit labilem Wasserstoffatom, da es mit
ihnen unter Austausch des Natriums gegen Wasser-
stoff Triphenylmethan bildet, z. B.
(CeH,)3C.Na-fCH«.C0.C,H,
= (CgHgigCH + CH3:C(ONa).OC2H6.
Mit Ammoniak liefert es Triphenylmethan und
Natriumamid
(QHj^CNa + NH3 = (QH^^gCH + NaNH,,.
Von besonderem Interesse ist sein Verhalten gegen
Tetramethylammoniumchlorjd N(CH3)4CI, mit dem
es in glatter Reaktion das Triphenylmethyltetra-
methylammonium (CuHg)3C-N(CH.5\
(CeH5)3CNa + ClXCCHg),
= NaCl-f (C6H5)3C-N(CH3)j,
die erste Substanz, in der — was bislang meist
für „unmöglich" gehalten worden ist — alle fünf
Wertigkeiten des Stickstoffatoms unmittelbar an
Kohlenstoff gebunden sind. ')
Das Triphenylmethyltetramethylammonium ist
ein schön kristallisierter Stoff von leuchtend
roter Farbe, der sich ähnlich wie das Triphenyl-
methylnatrium (siehe oben) durch seine große Emp-
findlichkeit gegen Wasser, Kohlendioxyd und
Sauerstoff auszeichnet. Mit Wasser liefert es Triphe-
nylmethan und Tetramethylammoniumhydroxyd
= (QH5)3CH-f (CHg^N-OH,
mit Kohlendioxyd das Tetramethylammoniumsalz
der Triphenylessigsäure
(QH^lg • C • N(CH3 ), + CO., = (C„H, ) . CO • ON(CH3),
und mit Sauerstoff oder Luft aller Wahrscheinlich-
keit nach Triphenylmethyl (bzw. Triphenylmethyl-
superoxyd) und Tetramelhylammoniumsuperoxyd
(CH3)4N-0.,. Seine Lösung in wasserfreiem Pyridin
leitet den elektrischen Strom, also ist der Triphe-
nylmethylrest, eine Erinnerung an die Ammonium-
valenz, an das Stickstoffatom ionogen gebunden.
Die Versuche, in ähnlicher Weise wie das
Triphenyltetramethylammonium einfachere Pen-
taalkylverbindungen des Stickstoffs darzustellen,
setzte den Besitz der bisher nicht mit Sicherheit
bekannten einfachen Metallalkyle, insbesondere
') W. Schlenk und Johanna Holtz, „Über eine
Verbindung des Stickstoffs mit fünf Kohlenwasserstoffresten",
ebenda, Bd. 49 (1916), S. 603— 60S.
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
403
der Alkalimetallalkyle voraus. Ihre Darstellung
gelang *) durch Einwirkung von Natrium- oder
Litliiummetall auf die schon lange bekannten
Quecksilberalkyle, z. B.
Hg(CH3)2 + 2Na = 2Hg + 2NaCH3.
Diese Reaktionen erwiesen sich, wie ja auch zu
erwarten war, trotz ihrer einfachen Formulierung
als recht diffizil; sie mußten, da die metall-
organischen Alkaliverbindungen ebenso wie das
Triphenylmethjdnatrium und das Triphenylmethyl-
tetramethylammonium gegen Luft, Feuchtigkeit
und Kohlendioxyd äußerst empfindlich sind, bei
vollkommenem Ausschluß atmosphärischer Luft in
einer Atmosphäre von ganz reinem, trockenen
Stickstoff ausgeführt werden. Dargestellt und in
reiner Form isoliert wurden die Alkalialkyle
NaCHa, NaC,H„ NaQH,, n — NaCsH^,, LiCHg
und LiCjHg,
die Alkaliphenyle
NaCgHj, und LiQH,
und das Natriumbenzyl
NaCH.,.CoH5.
Die Natriumalkyle sind farblose, amorphe,
in indifferenten Lösungsmitteln vollkommen un-
lösliche Pulver, die sich beim Erhitzen, ohne zu
schmelzen, zersetzen. An der Luft sind sie un-
gemein entzündlich, so daß sich selbst vom Natrium-
oktyl, obwohl die Entflammbarkeit mit steigender
Größe des Alkylrestes abnimmt, größere Partikel
an der Luft sofort entzünden. Das Lithiummethyl
steht den Natriumalkylen nahe, das Lithiumäthyl
hingegen ist in Benzol und Benzin löslich und kann
aus diesen Lösungsmitteln in Form von Kristallen
mit scharfem Schmelzpunkte erhalten werden.
Natrium- und Lithiumphenyl gleichen den Natrium-
alkylen.
Von besonderem Interesse ist das Natriumbenzyl,
denn es ist ähnlich wie das Triphcnylmethylna-
trium und das Triphenylmeihyltetramethylam-
monium ein intensiv roter, kristallisierter Stoff, der
das Natrium mit ionogener Valenz an den Kohlen-
stoff gebunden enthält, denn seine ätherische
Lösung leitet den elektrischen Strom. Mit Kohlen-
dioxyd liefert er phenylessigsaures Natrium
QH5 . CH., . Na + CO2 = QH, . CH.^ • CO., Na,
und er ist auch das einzige von den einfachen
Metallalkylen, das bisher ähnlich wie das Triphe-
nylmethylnatrium mit Tetramethylammonium-
chlorid eine Stickstoffverbindung ergab, an deren
Stickstoffatom fünfKohlensloffatome gebunden sind:
QH^ . CHa ■ Na + C1N(CH.,\
= CeHg . CHs, . N(CH3), + NaCl.
Auch das Benzyltetramethylammonium ist ein
gegen Sauerstoff äußerst empfindlicher, leuchtend
rot gefärbter Stoff. Vermutlich enthält auch er
den Benzylrest in ionogener Bindung an den
Stickstoff gebunden.') Mg.
Physik. Mit der Höhe des Nordlichts be-
schäftigt sich eine Arbeit von L. Vegard und
O. Krogness in den Annal. d. Phys. 51, S. 416,
1916. Die Messungen wurden in dem auf An-
regung von Prof Birkeland 1911 — 13 auf der
Haiddespitze im nördlichen Norwegen erbauten
Observatorium (904 m üb. d. Meere) ausgeführt.
Es wurde gleichzeitig auf 2 verschiedenen, tele-
phonisch miteinander verbundenen Stationen ein
und dasselbe Nordlicht photographiert. Aus der
Lage irgendeines identifizierbaren Punktes in
beiden Aufnahmen relativ zum Sternenhimmel
und dem bekannten Abstand der Stationen (er
betrug zwischen 17 und 40 km) läßt sich dann
die Höhe dieses Punktes berechnen. In den
Jahren 191 3 und 14 wurden über 400 gute paral-
laktische Aufnahmen gewonnen, deren Auswertung
natürlich viel Zeit und Mühe kostete; bis jetzt
ist die Lage von ca. 2500 Nordlichtpunkten be-
stimmt. Die obere Grenze der Nordlichter ist
gewöhnlich unscharf und läßt sich daher nicht
sehr genau messen; sie schwankt zwischen lOO
und 300 km. Anders die untere Grenze, sie ist
meistens außerordentlich scharf und läßt sich
genau feststellen. Die meisten der beobachteten
Nordlichter dringen bis zu iio bis 100 km her-
unter; als tiefste untere Grenze wurde 85 km
festgestellt. Und zwar gilt das gleichmäßig für
die 3 Hauptformen : Bogen, Draperien und dra-
perieförmige Bogen. Ordnet man die Nordlichter
nach der Höhenlage ihrer unteren Grenze, dann
ergibt sich, wie schon erwähnt, daß die meisten
zwischen 100 und 110 km liegen; weiter zeigt
sich, daß die Höhe lOO km und 106 km besonders
häufig ist, daß also zwei Maxima in der Ver-
teilungskurve vorhanden sind. Diese Tatsache
führt zu folgender Annahme: ein großer Teil der
kosmischen Strahlen, die die Nordlichter hervor-
rufen, besteht aus 2 Gruppen, wovon jede eine
ganz bestimmte Durchdringungsfähigkeit besitzt.
Da alle 3 häufigsten Nordlichtformen diese Maxima
zeigen, müssen diese Formen« durch dieselbe
Strahlenart verursacht werden. Seh.
Über Lichtenberg'sche Figuren veröffent-
licht S. Mikola in ^rThTsikal.Zeitschr. (XVIII,
S. 158, 1917) Untersuchungen. Auf einer Metall-
platte, die mit der äußeren Belegung einer Leidener
Flasche verbunden ist, legt man eine photogra-
phische Platte, auf die Schichtseite derselben eine
zweite Platte, die über einer Funkenstrecke mit
der inneren Belegung der Flasche in Verbindung
steht. Lädt man jetzt (in der Dunkelkammer bei
rotem Licht) mittels einer Elektrisiermaschine die
') W. Schlenk uad Johanna Holtz, „Über die ein-
fachsten melallorganischen Alkylverbindungen", ebenda, Bd. 50
(1917), S. 262-274.
■) W. Schlenk und Johanna Holtz, „Über Benzyl-
tetramethylammonium", ebenda, Bd. 50 (1917), S. 274—275.
404
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
Flasche und den ihr parallel geschalteten Platten-
kondensator auf, bis ein Funke die Funkenstrecke
durchschlägt, und entwickelt die Platte, so sieht man
auf ihr schöne Lieh t en berg' sehe Figuren. War
die obere, der Schichtseite aufliegende Elektrode
negativer Pol, so gehen vom Rande desselben
geradlinige feine Strahlenbüschel wie ein feiner
Haarkranz aus; war sie dagegen positiv, so sind
die Büschel länger, breiter und verästelt. Steigert
man die Spannung, bei der die Entladung erfolgt,
so nimmt die Länge (Reichweite) der Streifen zu.
Übersteigt sie einen bestimmten Wert, so treten
dort, wo die Streifen aufhören, „Explosionszentren"
auf, d. h. von bestimmten Punkten gehen radial
neue Büschel von Strahlen aus, als wenn hier
eine zweite punktförmige Elektrode angebracht
wäre. Bei weiter erhöiiter Spannung nimmt die
Zahl dieser Zentren zu, das entstehende Bild wird
dadurch natürlich verwickelter. Das Aussehen
der Figuren wird durch Gestalt und Material der
Elektroden und durch den Charakter der Ent-
ladung — oszillatorisch oder nicht — keineswegs
beeinflußt. Wesentlich für das Zustandekommen
ist, daß die Entladung einen disruptiven Charakter
hat, daß also die Spannung plötzlich von einem
hohen Wert auf Null sinkt oder umgekehrt von
Null auf einen hohen Wert steigt. Bei der dis-
ruptiven Entladung erleiden die Kraftlinien eine
plötzliche Richtungs- und Geschwindigkeitsände-
rung, diese gibt Veranlassung zu elektromagneti-
schen Impulsen, die nun die am Rande der Platte
befindlichen Luftmoleküle in Atomionen und Elek-
tronen von hoher Geschwindigkeit spalten. Die
Bahnen dieser korpuskularen Strahlen bringen auf
der photographischen Platte die Figuren hervor;
diese sind nach dieser Theorie nichts anderes als
Ionen- und Elektronenbahnen, wie sie Wilson
in seinen schönen Versuchen mit Hilfe von Wasser-
dampfkondensation sichtbar gemacht hat. Daß
die Reichweite mit der Spannung zunimmt, stimmt
gut zu dieser Erklärung, ebenso daß die Reich-
weiten in verdünnter Luft größer werden und
daß elektrische Felder eine Ablenkung der Strahlen
hervorrufen. Daß eine solche durch magnetische
Kräfte nicht nachgewiesen wurde, hat namentlich
darin seinen Grund, daß die zur Verfügung stehende
Feldstärke zu schwach war. Es gelang auf empiri-
schem Wege eine Formel aufzustellen über die
Beziehung zwischen Reichweite und Spannung.
Daß sich dabei, je nachdem ob es sich um posi-
tive oder negative .Strahlen handelt, eine ver-
schiedene Gesetzmäßigkeit ergibt, deutet darauf
hin, daß die positiven und negativen Ionen ver-
schiedene Struktur zeigen. — Wenn die Sekundär-
spule eines Teslatransformators sprüht, entstehen
ganz ähnliche Bilder wie die Lichtenberg'schen
Figuren. Seh.
Botanik. Eins der ältesten und bekanntesten
Beispiele für Jungfernzeugung im Pflanzenreich
ist das Armleuchtergewäclis, Chara crinita, eine
Süßwasseralge. Wie A. Braun schon im Jahre
1856 nachwies, sind in verschiedenen Ländern,
von Algier und Arabien hinauf bis nach Schweden
und Finnland, an zahlreichen Standorten immer
nur weibliche Pflanzen gefunden worden. Er
konnte dann aber selber zeigen, daß das männ-
liche Geschlecht nicht ganz verloren gegangen
ist, denn bestimmte, von sehr weit zerstreuten
Orten stammende Herbarproben enthielten auch
männliche Pflanzen. Seither gilt Chara crinita als
eine zweihäusige Pflanze, die fast überall durch
die Ungunst der Verhältnisse, d. h. infolge des
Fehlens der Männchen, „verwitwet" ist und nur
an wenigen Stellen der Erde noch in normaler
ehelicher Gemeinschaft leben kann. A. Ernst
gelang nun der interessante Nachweis, daß die
Verhältnisse etwas anders liegen. ') Er beschaffte
sich aus verschiedenen Ländern einmal die
„Witwen" und dann, und zwar aus Ungarn und
Sizilien, Pflanzenmaterial, das sowohl weibliche
als männliche Individuen umfaßte. Bei dem Ver-
such nun, die weiblichen Pflanzen zu befruchten,
machte er die überraschende Entdeckung, daß
man unter den Weibchen zweierlei Formen unter-
scheiden muß, nämlich solche, die nicht befruchtet
zu werden brauchen, ja sich gar nicht befruchten
lassen, und solche, die nur nach Befruchtung reife
Oosporen entwickeln. Erstere sind die bekannten
Formen, die von den verbreiteten Witwenstand-
orten stammten, letztere dagegen Weibchen, die
an dem seltenen ungarischen und sizilischen
Standort mit Männchen vergesellschaftet sind.
Beide Arten von Weibchen unterschieden sich
auch durch gewisse morphologische Merkmale
und besonders dadurch, daß bei jenen der Ei-
behälter nicht die eigentümliche, die Empfängnis-
fähigkeit befördernde Lockerung seiner Hüllzellen
erkennen ließ, wie sie bei diesen stets eintrat,
wenn die Eizelle reif war. Überdies ergab die
zytologische Untersuchung noch den weiteren
Unterschied, daß jene doppelt so viel Chromo-
somen besaßen als diese. Die Art Chara crinita
besteht also aus dreierlei Formen, geschlechtslosen
Individuen vom Typus der Weibchen, echten
Weibchen und Männchen. Die gewöhnliche Chara
crinita wird demnach zu Unrecht als verwitwet
bezeichnet, da sie überhaupt nicht heiratsfähig
ist. Sie kann auch nicht im strengsten Sinne
parthenogenetisch genannt werden, ebensowenig
wie alle übrigen Fälle unter den Blüten-
pflanzen diese Bezeichnung verdienen. Denn
überall handelt es sich nicht um die Weiterent-
wicklung einer sonst befruchtungsfähigen Eizelle,
sondern eigentlich um vegetative Vermehrung, die
mit Hilfe einer von den normalen Eizellen in
ihrem Chromosomenbestande abweichenden Ei-
zelle bewirkt wird. Es liegt nach der Bezeich-
nungsweise H. Winkle r's somatische, nicht aber
') Experimentelle Erzeugung erblicher Parthenogenesis.
Zeilschr. f. induktive Abstammungs- und Vererbungslehre,
Bd. XVII, 1917, S. 203.
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
40s
generative Parthenogenese vor. Während aber
bei den partiienogeneti.-chen Blütenpflanzen die
Eizellen ebensoviele Chromosomen haben, als die
Körperzellen der Pflanzen, hat Chara crinita in
seiner entsprechenden geschlechtslosen Form zwar
auch in Ei- und Körperzellen gleichviel Chromo-
somen, es sind aber doppelt so viel als die in
den Ei- und Körperzellen der Geschlechtspflanzen,
die aber wieder unter sich gleich viel haben. Die
Reduktion der Chromosomen muß also bei nor-
maler geschlechtlicher Fortpflanzung erst beim
Keimen der befruchteten Eizelle, der Zygote, ein-
treten, am Anfang der Entwicklung, nicht wie ge-
wöhnlich am Ende bei der Bildung der Geschlechts-
zellen. Bei der ehemaligen Entstehung der ge-
schlechtslosen Form ist nun wahrscheinlich diese
Reduktion ausgefallen, so daß sie diploid (d. h.
doppehchromosomig) geblieben ist. Ob dieser
Ausfall der Reduktion die Ursache der Entstehung
der parthenogenetischen Form war, ist nicht ohne
weiteres zu entscheiden, jedenfalls gelang es dem
Verfasser nicht, durch experimentelle Eingriffe bei
der Keimung befruchteter Eizellen die Reduktion
zu verhindern und so etwa Pflanzen von der Art
der „Witwen" zu erzielen. Dagegen gibt er in
dieser vorläufigen Mitteilung an, daß sich unbe-
fruchtete Eizellen der echten Weibchen künstlich
zur Forlentwicklung bringen ließen und wieder
haploide (einfachchromosomige) Weibchen lieferten,
die aber befruchtungsfähige Eizellen hervorbringen.
Inwieweit dies nun eine experimentell erzeugte
„erbliche" Parthenogenese sein soll, darüber sowie
über manche andere PVagen müssen wir die
Belehrung des Autors in seiner ausführlichen Ab-
handlung abwarten. Miehe.
Die Ursache der Blütenstielkrümmungen, wie
sie beispielsweise an den nickenden Blüten des
Mohns, des Maiglöckchens usw. auftreten, ist Jahr-
zehnte hindurch der Gegenstand von Unter-
suchungen und Erörterungen gewesen. Auf der
einen Seite betrachtete man die Krümmung als
aktive Reaktion auf den Schwerkraftreiz, also als
eine geotropische Reizerscheinuiig; auf der anderen
glaubt man, daß eine passive Lastkrümmung vor-
liege, die nur durch das Gewicht der Blütenknospe
vorliegt. Diese zweite Anschauung, die später
besonders für den Mohn vertreten wurde, vermochte
sich der ersten gegenüber zwar nicht zu behaupten,
wurde aber von Wiesner dahin abgeändert, daß
er eine vitale Lastkrümmung annahm. Hierbei
sollte zwar die Biegung auch mechanisch durch
das Gewicht der Knospe veranlaßt werden, aber
das gekrümmte Organ sollte sich nicht wie eine
tote Masse verhalten, sondern durch beschleunigtes
Wachstum auf der Oberseite und vermindertes.
Wachstum an der Unterseite des Blütenstiels ant-
worten und die anfänglich passive Krümmung
fixieren.
Neue experimentelle Untersuchungen, die Otto
Bannert im Berliner pflanzenphysiologischen In-
stitut ausgeführt hat, ergaben, daß die Annahme
Wiesner's unbegiündet ist. Um sie zu stützen,
hatte Port heim darauf hingewiesen, daß die
Stiele von Maiglöckchenblüten, aus denen er zur
Verminderung des Gewichts Fruchtknoten und
Staubblätter entfernt hatte, sich bei Inversstellung
der Blütenstände nicht oder nur unbedeutend
krümmten. Bannert machte nun denselben Ver-
such, ersetzte aber die ausgeschnittenen Geschlechts-
organe durch Paraffinstückchen von gleichem Ge-
wicht und fand, daß die so behandelten Blüten-
knospen 24 Stunden nach Inversstellung der Pflanze
ihre Lage ebensowenig verändert hatten wie an
der gleichen Pflanze befindliche kastrierte Blüten
ohne Paraffingewicht, während die unverletzten
Knospen sämtlich abwärts gerichtet waren. Nach
48 Stunden hatten die verletzten Knospen eine
geringe Abwärtskrümmung ausgeführt, doch war
ein Unterschied zwischen den paraffinführenden und
den paraffinfreien Blüten nicht zu bemerken. Das
Ausbleiben der normalen Krümmung war also
keine Folge der Gewichtsverminderung, sondern
entweder eine Wirkung des Wundschocks oder
der Ausschaltung der geotropischen Reizwirkung
unter den neuen Verhältnissen. Daß nicht ein
von der Schwerkraft unabhängiges Wachstum der
Oberseite des Blütenstiels (Epinastie) die Krüm-
mung verursacht, bewiesen Rotationsversuche am
Klimostaten, wobei die Blütenstiele der (um die
horizontale Achse rotierenden) Maiblume vollständig
gerade blieben. Auch Kontrebalancierungsversuche
wurden angestellt, derart daß das Gewicht einiger
Blütenknospen durch Anbringung von Gegen-
gewichten aufgehoben wurde: die Stiele krümmten
sich trotzdem. Aus allem folgt, daß nur der Geo-
tropismus der Stiele die Krümmung bewirkt. Zu
dem gleichen Ergebnis führten Versuche mit
den Blütenstielen einiger anderer Pflanzen, wie
Fuchsia, Ipomoea usw., auch mit Blütenstandsachsen
von Wimosa und Pelargonium. In allen Blüten-
stielen und Blütenstandsachsen wurde übrigens
stets reichlich Statolithenstärke gefunden. Sie
war meist in ein- bis mehrschichtigen Scheiden,
welche die Gefäßbündel umgeben, enthalten. (Bei-
träge zur allgemeinen Botanik, Bd. i, S. i — 43.)
F. Moewes.
Paläontologie. Über die Variation der Blatt-
form von Ginkgo biloba L. und ihre Bedeutung
für die Paläobotanik gibt R. Krause l im Central-
blatt für Mmeralogie, Geologie und Paläontologie
19 17 Nr. 3 mancherlei beachtenswerte Anregungen.
Ginkgo biloba L., der ostasiatische Tempel-
baum, welcher in unseren botanischen Gärten und
Parkanlagen mancherorts gehalten wird, ist in
Japan als einziger Vertreter der Gattung Ginkgo,
sowie der Ordnung der Ginkgoinae und der Fa-
milie der Ginkgoaceae zu Hause. Die durch ihren
charakteristischen Blattnervenverlauf ausgezeich-
neten Ginkgoinae sind seit dem oberen Rot-
liegenden in zahlreichen fossilen Arten von Ginkgo
4o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
und verwandten Gattungen wie Baiera, Saportaea,
Ginkgophyllum, Ginkgodium usw. vertreten. Be-
reits Seward und neuerdings Krau sei haben
sich mit der Frage beschäftigt, ob diese zahl-
reichen Arten zu Recht aufgestellt sind, da auch
der lebende Baum sehr stark in seiner Blattform
variiert. Seward hat den spezifischen Wert
vieler fossiler Arten angezweifelt, die ein Analogen
in manchen bei Ginkgo biloba beobachteten Formen
finden. Er zieht Ginkgo digitata Heer und Ginkgo
Huttoni Sternb. zusammen und zeigt, daß auch
die Abgrenzung von Ginkgo und Baiera nach der
Blattform willkürlich und im Bau der Frukti-
fikationsorgane nur wenig verschieden sei.
Ginkgo biloba weist nicht selten Abweichungen
des Blattes von der Normalform auf Alle Über-
gänge von völlig ganzrandigen Blättern über die
Normalform zu mehr oder weniger ganz zer-
schlitzten Blättern kommen vor. Man beobachtet
dies in Ostasien aber ebenso auch an den außer-
halb der Heimat wachsenden Bäumen wie an
gärtnerisch gezüchteten Exemplaren. Kommer-
zienrat Hesse, der Inhaber der bekannten Baum-
schulen in Weener (Hannover) beobachtete an
jungen Sämlingen und einjährigen Pflanzen sehr
häufig tiefgeschlitzte Blätter, während bei Blättern
mehrjähriger Zweige oft auch der mittlere Ein-
schnitt ganz vernarbt. Verschiedene abweichende
Blätter könnten so, wenn sie fossil vorliegen
würden, zu Ginkgo antarctica Sap. oder G. Hut-
toni, ja einige sogar zu Baiera gestellt werden.
Da der Artbegriff von den meisten Faläo-
botanikern äußerst streng gefaßt wird und die
Variationsmöglichkeiten schon des IVIaterials wegen
vielfach nicht berücksichtigt werden können, so
kommt Krau sei zu dem Resultate, daß mehrere
der auf Blattreste hin aufgestellten Arten ginkgo-
ähnlicher Pflanzen ihr Analogon innerhalb der
rezenten G. biloba finden. Zum Schlüsse wird
die verwirrende Fülle fossiler Arten kritisiert, die
oft das Zusammenarbeiten von Botanik und Paläo-
botanik erschwert. V. Hohenstein.
Die Fossilführung des Zechsteins von Nieder-
schlesien behandelt im Anschluß an die Unter-
suchungen von H. Scupin (vgl. die vorige Nr. der
Naturw. Wochenschrift) dessen Schülerin Hertha
Riedel in einer Hallenser Dissertation 1917.
Das Gebiet des Unteren Zechsteins zer-
fällt in eine Z w e i sc h al e r faz i es, für welche
ein fossilführender Sandstein charakteristisch ist
.(SO., Katzbachgebiet) und eine Brachiopoden-
fazies (N., Gröditzbergj. Eine Vermischung beider
Faunen mit einem Vorherrschen der Brachiopoden-
fazies zeigt sich im Queiß-Neiße Gebiet. Veran-
schaulicht wird dies vor allem durch das Leit-
fossil Productus horridus, das im Katzbachgebiet
fast ganz fehlt, in den nördlicher gelegenen küsten-
fernen Gebieten von Gröditzberg und dem Queiß-
Neiße-Gebiet aber vorherrschend wird. Auffallend
ist, daß diese Charakterform des Zechsteins in
Schlesien nur auf den Unteren Zechstein beschränkt
bleibt, während sie in Thüringen auch im Mitt-
leren Zechstein vorkommt. Arm an Versteine-
rungen ist das östliche und westliche Bobergebiet.
Scharfe Leitfossilienhorizonte durch ganz Schlesien
kommen nicht vor, dagegen konnten örtlich durch
das Vorherrschen einer Art die den Unteren Zech-
stein abschließenden Gervillien-Sch. in der
Zweischalerfazies und dieProductusbank in
der nördlicher gelegenen Brachiopodenfazies aus-
geschieden werden.
Der Mittlere Zechstein mit seinen dolo-
mitischen Kalken und Letten ist fossilärmer;
häufiger kommt Schizodus Schlotheimi var. trun-
cata und Liebea Hausmanni vor. Ein Faziesunter-
schied {."^t nicht mehr vorhanden.
Im Oberen Zechstein tritt Schizodus ro-
tundatus sowohl im Plattendolomit wie in den
roten Zwischenschichten durchweg leitend auf
Da der schlesische Zechstein das östlichste
Vorkommen in Deutschland ist, so lag der Ge-
danke nahe, seine Fauna gegen die russische ab-
zuwägen. Die Untersuchungen von H. Riedel
konnten indessen keine Beziehungen zur russischen
Fauna feststellen, da auch sämtliche in Schlesien
nachgewiesenen Versteinerungen ebenso in Thü-
ringen vorkommen. V. Hohenstein.
Medizin. Es war den Militärärzten der fran-
zösischen Feldarmee schon 1914/1915 aufgefallen,
daß in gewissen fern voneinander gelegenen und
gar nicht miteinander zusammenhängenden
Schützengräben eine typische Erkrankung der
Füße vorkam , auch bei Personen , welche nur
kurze Zeit dortselbst verweilt hatten. Alles
sprach dafür, daß man im Schützengrabenfuß
(Pied de tranchee), wie die Affektion von den
Militärärzten genannt wurde, eine Infektionskrank-
heit vor sich habe. Die Krankheit äußerte sich
zuerst in einer Entzündung der Zehen, namentlich
der großen Zehe, hatte aber im schlimmsten Fall
nur einen Verlust derselben durch Amputation
zur Folge. Als ursächliches Moment hatte man
im Anfang das Erfrieren der Füße, das tagelange
Stehen im kalten Wasser, sowie die mangelhafte
Blutzirkulation in den vom Schuhwerk einge-
schnürten Füßen in Verdacht; daß man aber
damit fehl ging, ergab sich mit aller Sicherheit
daraus, daß bei den in dieser Beziehung doch
gleich gestellten Besatzungen der Schützengräben
anderer Gegenden die typische Erkrankung fehlte;
sie war offenbar eine lokalisierte Infektions-
krankheit.
Im Winter 1916/17 trat sie in einer besonders
schweren Form bei den Arabern und namentlich
den Sudannegern in der französischen Feldarmee
auf In zwei Fällen galt sie sogar als die direkte
Todesursache. Wie mikroskopische Befunde und
Kuliuruntersuchungen zeigten, wird der ,, Schützen-
grabenfuß" durch einen dem Erdboden entstammen-
den Pilz, Sterigmatocystis versicolor, verursacht.
N. F. XVI. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
407
Derselbe dringt durch die Talgdrüsen und Haut-
abschürfungen des Fußes ein und wird durch den
Blutkreislauf im ganzen Körper verbreitet, so daß
nicht nur lokale Schädigungen, sondern schwere
AUgemeincrkrankungen (hochgradige Albuminurie,
typhöse Erscheinungen seitens des Darmkanals,
Temperatursteigerung, Leber- und Nierenerkran-
kungen und endlich Kachexie) sich als Folge-
erscheinungen seines Eindringens geltend machen
können. Neben dieser, wie es scheint, für den
Schützengrabenfuß spezifischen Form werden noch
andere Pilzarten in den Läsionen gefunden, so die
auch bei den Europäern anzutreffende Art Scopu-
lariopsis Königii Oudemans, das Fenicillium glaucum
und verschiedene Schimmelpilze, namentlich der
Gattung Mucor. Die für ihr Gedeihen nötigen
Existenzbedingungen finden diese Pilze nur beim
langen Stehen in den feuchten Schützengräben;
nur dann vermögen sie in das lebende Gewebe
einzudringen und aus Ektoparasiten und Sapro-
phyten zu pathogenen Endoparasiten zu werden.
Bei einem diesbezüglichen Tierversuch, wobei
beide Pfoten des Versuchstieres tagelang im kalten
Wasser festgehalten wurden, stellte sich an der
mit Penicillium geimpften Pfote ein schleimiges
Ödem ein, während die andere nicht geimpfte
Pfote gesund blieb. (cTc) Kathariner.
Bttcherbesprechungen.
Deutsches Wörterbuch für die gesamte Optik,
herausgegeben vom „Fremdwortausschuß für die
Optik". 85 S. Berlin, A. Ehrlich.
Auf Veranlassung der Schriftleitung der
„Deutschen Optischen Wochenschrift" hat ein aus
Vertretern der Wissenschaft und insbesondere der
Industrie, Technik und Ladenoptik zusammen-
gesetzter Ausschuß die Aufgabe übernommen, für
das Gebiet der Optik eine sachgemäße Ver-
deutschung der entbehrlichen PVemdwörter durchzu-
führen.
Das vorliegende kleine Wörterbuch enthält das
Ergebnis dieser Arbeit auf den 44 ersten Seiten.
Es will nicht etwa die endgültige und vollständige
Lösung der PVemdwortfrage in der Optik für sich
in Anspruch nehmen, sondern es stellt nur einen
ersten, auf voller Sachkenntnis beruhenden Ver-
such dar, die Fremdwörter soviel als möglich
durch den deutschen Ausdruck zu ersetzen. Die
Bearbeiter vertreten dabei den zweifellos allein
richtigen Standpunkt, daß vornehmlieh diejenigen
Fremdwörter auszumerzen sind, für die die deutsche
Sprache ohne weiteres einen äquivalenten, sinn-
gemäßen Ausdruck besitzt und deren Benutzung
dann vielfach nur aus Unkenntnis, Gedanken-
losigkeit oder auch aus falscher Eitelkeit oder
törichter Berechnung erfolgt. Natürlich bean-
spruchen die in diesen Fällen gemachten Vor-
schläge vielfach keine Originalität. Anders liegen
die Verhältnisse bei den wissenschaftlichen und
technischen Ausdrücken, die häufig als P^ach-
ausdrücke für ganz bestimmte Begriffe eigens ge-
prägt sind und daher weder in der deutschen
noch in einer anderen lebenden Sprache passende
Deckwörter besitzen. Ein notwendiges Bedürfnis
nach solchen Deckwörtern tritt hier meist zurück,
und das Wörterbuch führt derartige Ausdrücke
auch meist unverändert an. Immerhin muß jeder
gelungene Ersatz durch das deutsche Wort auch
in diesen Fällen als wertvolle Bereicherung unseres
sprachlichen Ausdrucksvermögens und desdeutschen
allgemeinen Wissens angesehen und daher soviel
als möglich erstrebt werden. Die starke Neigung
nach Bildung komplizierter zusammengesetzter
Wörter dürfte hier nach Ansicht des Ref. dem
durchgreifenden Erfolg oft im Wege stehen. Der
Ersatzausdruck läßt sich dabei zwar oft leicht ver-
ständlich und sinngemäß, selten aber einfach und
leicht anwendbar gestalten. Hier sollte man wohl
vor originellen Neubildungen weniger zurück-
schrecken, die der allgemeinen Benutzung wohl
ebenso leicht zugänglich werden könnten als jede
durch Übersetzung des griechischen bzw. latei-
nischen Wortes erhaltene komplizierte Zusammen-
setzung. Daß es jedenfalls bei der Verdeutschung
nicht lediglich anf eine Übersetzung sondern auf
die Wiedergabe des Sinnes ankommt, betont das
vorliegende Wörterbuch mit Recht.
Gut gewählte Deckwörter dürften beispielsweise:
Feinuhr für Chronometer, außerachsig iür dezen-
triert oder exzentrisch, Schleifkante für Facette,
gegengleich für holosymmetrisch, Tauchlinse für
Immersion, Merker für Markiervorrichtung, nach-
bessern für retuschieren, Druckhülse für Tube sein,
während die Angaben: Kaltlichtstrahlung für
Lumineszenz, Warmlichtstrahlung für Temperatur-
strahlung kaum glücklich gewählt und die Aus-
drücke: Gegengleichheitsmangel für Asymmetrie
oder Bewegtbild- Gerät für Kinematograph Bei-
spiele zu komplizierter und daher kaum brauch-
barer Zusammensetzungen sind.
Die zweite Hälfte des Buches enthält
Empfehlungsanzeigen einer größeren Zahl für
optische Bedarfsartikel in Betracht kommender
Firmen, auf die Interessenten hingewiesen seinen.
A. Becker.
Arthur Sachs, Die Bodenschätze der Erde
(Salze, Kohlen, Erze, Edelsteine). Deu-
ticke, Wien u. Leipzig 1916.
„Zur Einführung für Laien und Studierende
das Wichtigste über die Bodenschätze der Erde
in kürzester Form darzustellen" ist die Absicht des
4o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 29
Heftchens. Ob Studenten und Laien unbedenklich
gleiche geistige Kost gewährt werden kann, wird
man ebenso in Frage stellen können wie die
Möglichkeit, auf 37 Seiten bei wenig kompendiösem
Druck auch nur das Allerwichtigste über Theorie
und Praxis eines so umfassenden Gebiets zusammen-
zubringen. Wird so mancher Leser diesen oder
jenen Wunsch unberücksichtigt finden können,
ist das Gebotene doch durchaus einwandfrei und
durch Übersichtlichkeit brauchbar. Selbst eine zu-
sammenfassende Darstellung von Stellung und Auf-
gabe der Geologie, von den Formationen und tek-
tonischen Vorbedingungen für Vorkommen und
Gestalt der Lagerstätten fehlt nicht. Die einzelnen
Bodenschätze werden nach Alter und geographischer
Verbreitung, Entstehungsmöglichkeit und chemi-
schem Aufbau, wirtschaftlicher Bedeutung und
Produktionswerten behandelt. Edw. Hennig.
Anregungen und Antworten.
Der Aufsatz „Die Bedeutung der Anatomie lebender und
fossiler Hölzer für die Phyloeenie der Koniferen" in Nr. 23
der Naturw. VVochenschr. findet ausführliche Begründung in
einer Arbeit, die in der Palaeontographica erscheint und neben
eingehenden Literaturnachweisen eine kritische Auf-
zählung sämtlicher bisher beschriebenen fossilen
Koniferenhölzer (außer A raucarioxylon) bietet.
Die Arbeit ist druckfertig, konnte aber bisher infolge der
durch die Zeitumstände bedingten technischen Schwierigkeiten
noch nicht erscheinen.
Gleichzeitig bitte ich , folgende Druckfehler zu be-
richtigen :
S. 306 rechts, Zeile 3 von oben lies Abb. 8 statt 6.
„ ,, „ 9 „ ,, ,, ermöglicht eine statt
eine ermöglicht.
S. 307 rechts, Zeile 2 von unten lies anormal statt normal.
,, links, Zeile 4 von unten lies tüpfel statt tüpel.
S. 309 rechts, ,, 35 von oben lies Cupressineen statt
Cupressinieen.
S. 3 10 rechts, Zeile 19 von oben lies araucarioid statt modern.
S. 311 links, „ 19 von unten lies echten statt ersten.
„ rechts, Zeile 2 von unten lies Koniferenhölzer statt
Koniferen. R. Kräusel.
Was versteht man unter Isostasie in der Geologie? Die
Lehre von der Isostasie besagt nach K. Kays er,') daß die
auf einer flüssigen Magmazone schwimmend gedachte feste
Erdrinde infolge der Achsendrehung der Erde in allen ihren
Teilen in einem hydrostatischen Gleichgewichtszusland sich
befindet. Dementsprechend werden infolge der Zentrifugalkraft
des rotierenden Erdkörpers die leicliteren Schollen in die
Höhe getrieben, die schwereren Schollen in die Tiefe sinken
und die Erde sich so verhalten, wie wenn sie flüssig wäre.
') Lehrbuch der allgi
S. 810.
Geologie, 4. Au
Der Gleichgewichtszustand der festen Erdrinde erleidet
durch die Abtragung und Wiederaufschüttung des abgetragenen
Materials an anderen Stellen fortwährende Störungen im Sinne
einer Entlastung und Belastung. Einer stärkeren Belastung
auf der einen Seite entspricht ein Aufpressen auf der anderen
Seite. Dadurch erklären sich die reichlich nachgewiesenen
Vertikalbewegungen wie auch das Aufdringen scbmelzfiüssiger
Lavamassen.
Eine Hauptstütze erfährt die isostatische Theorie durch
die Schweremessungen, welche gezeigt haben, daß die ozea-
nischen Schollen durchweg aus dichteren Massen bestehen als
die Kontinente. Viele Geologen und Geodäten sind Anhänger
der Theorie von der Isostasie.
Eine vorzügliche Erörterung der isostatischen Theorie gab
Eberhard Walter in einem Aufsatz in der Naturw.
Wochenschr., N. F. XII. Bd., Nr. 35, 1913.
V. Hohenstein.
Literatur.
Keibel, Prof. Dr. Fr., Über experimentelle Entwicklungs-
geschichte. Akademische Rede. Straßburg '17, J. H. Ed. Heitz
(Heitz & Mündel). — i M.
Kryptogamenflora für Anfänger. Band IV, 3.
Die Algen. 3. Abteilung. Die Meeresalgen von Prof. Dr.
R.Pilger. Mit 183 Textfiguren. Berlin '17, J. Springer. —
5,60 M.
Synopsis der Mitteleuropäischen Flora.
92. Lieferung. Bd. VII. Euphorbiaceae (Fortsetzung). Leipzig
'17, M. Engelmann. - 3 M.
Spranger, E., Begabung und Erziehung. Leipzig und
Berlin '17. — B. G. Teubner. — 2 M.
Abel, Prof. Dr. O., Allgemeine Paläontologie. Mit 54
Abbildungen. Sammlung Göschen 1917. — I M.
Werth, Dr. E., Das Eiszeitalter. Mit 18 Abbildungen
und einer Karte. Ebenda. — I M.
Machatschek, Prof. Dr. Fr., Gletscherkunde. Mit
5 Abbildungen und 16 Tafeln. Ebenda. — i M.
Inhalt: A. Weseraüller, Die Wanderungen unserer Seevögel. S. 393. — Kleinere Mitteilungen: V. Franz, Das deutsche
Tierleben in der verflossenen Kälteperiode. S. 396. H. Lüttschwager, Bemerkungen zur Tonerzeugung der Schweb-
fliegen. S. 397. — Einzelberichte: Theodor Paul, Die Beziehungen zwischen der Wasserstoffionenkonzentration von
Flüssigkeiten und ihrem sauren Geschmack. S. 398. W. Böttger, Über die Herstellung homogener Wolframkristall-
fäden für Glühlampen. (5 Abb.) S. 399. W. Schlenk, Eine Reihe von sehr interessanten Verbindungen. S. 402.
L. Vegard und O. Krogness, Höhe des Nordlichts. S. 403. S. Mikola, Lichtenbrrg'sche Figuren. S. 403.
A. Ernst, Jungfernzeugung im Pflanzenreich. S. 404. Bannert, Die Ursache der Blütenstielkrümmungen. S. 405.
R. Kräusel, Über die Variation der Blattform von Ginkgo biloba L. und ihre Bedeutung für die Paläobotanik. S. 405.
H. Riedel, Die Fossilführung des Zechsteins von Niederschlesicn. S. 406. Kathariner, Schützengrabenfaß. S. 406. —
Bücherbesprechungen: Deutsches Wörterbuch für die gesamte Optik. S. 407. Arthur Sachs, Die Bodenschätze
der Erde (Salze, Kohlen, Erze, Edelsteine). S. 407. — Anregungen und Antworten: Die Bedeutung der Anatomie
lebender und fossiler Hölzer für die Phylogenie der Koniferen. S. 408. Was versteht man unter Isostasie in der
Geologie? S. 408. — Literatur: Liste S. 408.
Manuskr
: und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S
denstraße 42, erbete
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 29. Juli 1917.
Nummer 30.
[Nachdruck verboten.)
Zu den schönsten
gehören ohne Zweifel
Die Entdeckung der Paradiesvögel.
Von Prof. Dr. -S. Killermann, Regensburg.
Mit 3 Abbildungen.
Gestalten der Tierwelt
die Paradiesvögel; ihre
Zusammenstellung in den Schaukästen unserer
Sammlungen bildet immer ein Glanzstück und
einen großen Anziehungspunkt für das Publikum.
Die Vögel, die mit unseren Raben in Verwandt-
schaft stehen, sind hinsichtlich ihrer Verbreitung
sehr beschränkt und kommen hauptsächlich auf
Neu-Guinea und einigen umliegenden Inseln vor.
Sie waren zum Teil bis vor kurzem noch Mit-
bürger unserer Kolonialfauna.
A. Reichenow zählt in seinem Handbuch
der systematischen Ornithologie ') eine große
Anzahl von Paradiesvögeln auf und ordnet sie in
drei Gruppen. Es kommt uns hier besonders auf
die drei Arten an: Göttervogel (Paradisea apoda L.)
ausgezeichnet durch lange , orangegelbe Schleier-
federn; roter Paradiesvogel (Paradisea rubra Daud.)
mehr rotbraun gefärbt mit zwei langen bandartigen
Schwanzfedern; Königsparadiesvogel (Cicinnurus
regius L.) glänzend kirschrot und mit zwei draht-
förmigen, am Ende plättchenartig verbreiterten
Schwanzfedern. Abb. s. bei Brehm, Vögel, 4. Bd.,
4. Aufl., S. 275 u. f.
Bezüglich ihres Vorkommens sagt Brehm,
daß der Königsparadiesvogel der verbreitctste von
allen sei; er finde sich auf dem ganzen nördlichen
Teil von Neu-Guinea, sowie auf Misul, Salawati
und den Aru-Inseln. Der Göttervogel dagegen
kommt nur auf den letztgenannten Inseln vor und
der rote Paradiesvogel auf Waigiu, Batanta und
Gemien (nach Reichenow).
Einer der ersten Naturforscher, der das Leben
und Treiben der schönen , aber meist verborgen
in den Urwäldern oder hohen Baumkronen lebenden
Vögel an Ort und Stelle beobachtete, war be-
kanntlich A. R. VVallace; er hielt sich längere
Zeit 1S57 u. 58 auf den Molukken und in Neu-
Guinea auf und hat uns über seine Erlebnisse
eine sehr ansprechende Schilderung -) hinterlassen.
Von den Paradiesvögeln handelt besonders das
38. Kapitel des IL Bd.; dort auch Karten der
malayischen Inselwelt. Wenn VVallace jedoch
(S. 360) meint, daß diese Tiere bis zum Jahre
1760, als Linne die größte Art Paradisea apoda
(fußloser Paradiesvogel) benannte, nie im voll-
kommenen Zustande in Europa gesehen wurden,
') A. Reichenow, Handbuch der systematischen Orni-
thologie, 2. Bd. (Stuttgart 1914), S. 335— 33S.
'-) A. R. Wallace, Der malayische Archipel, die Heimat
des Orang-Utan und des Paradiesvogels. Deutsche Ausgabe,
2 Bde. Braunschweig 1S69.
so können wir ihm auf Grund des folgenden nicht
beistimmen.
Von den Paradiesvögeln (aves paradisi) ist
zum erstenmal bereits im Mittelalter die Rede.
Albertus Magnus') sagt (nach Avicenna),
daß es (im Orient) braune dohlenartige Vögel
gäbe von großer Schönheit; sie wandern und
man weiß nicht, woher sie kommen. Ahnlich
spricht sich P i er ca ndido -) in seinem 1460 ge-
schriebenen, in der Vatikanischen Bibliothek be-
findlichen, schöngemalten Tierbuche aus. „Die
Farbe dieser Vögel sei braun und etwas rot; sie
seien kleiner als Dohlen. Leider habe er von
den Autoren über die Natur derselben nichts
weiter erfahren können." '') Illustriert ist das
Kapitel mit mehreren Bildern, welche den Immen-
fresser und den wirklichen Paradiesvogel (Paradisea
apoda) zur Veranschaulichung bringen. Die Zeich-
nung des letzteren ist aus Gesner (s. u.) ent-
<\ twci-i "if . ''. it/nfii^w« inj(n.-/ii6riiriÄ«^
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Abb. 1. Die Paradiesvögel bei Picrcandido (Vatik. Bibl.
geschrieben 1460, ausgemalt im 16. Jahrh.).
Links Balg vom Göttervogel (Paradisea apoda);
rechts der Immenfresser. Gr. ca. '/.,.
(Ausschnitt; phot. Killermann.)"
nommen — ein Beweis, daß der Kodex erst im
16. Jahrh. ausgemalt wurde (vgl. Abb. i).
Es scheinen bereits im Mittelalter Bälge von
Paradiesvögeln durch den Handel über Indien und
Arabien nach Europa gelangt zu sein ; doch haben
wir für diese Ansicht keinen urkundlichen Beleg.
') Alberti Magni liber animalium XXIII, N. 25 (Pariser
Ausgabe 1891 Tom. XII). Vgl. meine Arbeit: Die Vogel-
kunde des Albertus M. Regensburg 1910, S. 92 u. f.
-) Vgl. meine Arbeit: Das Tierbuch des Petrus Candidus
geschrieben 1460, gemalt im 16. Jahrh. (Code.'i Vaticanus Urb.
lat. 276). Zoolog. Annalen, Bd. VI (Würzburg 1914), S. 120
u. 171.
') Color illis fuscus atque subrutilus, monedulae forma
minores sunt. Ceterum nihil a me e.\ illustribus auctoribus
de his aut earum natura perspectum est. (L. c. fol. 74 V.)
416
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
Die Bälge waren der Beine beraubt; daher die
Meinung, daß diese Vögel stets in der Luft
schweben und nie auf den trdboden herabkommen.
Der erste Europäer, der in das Land der
Paradiesvögel gedrungen ist und von ihnen einen
Bericht hinterlassen hat, war der Italiener A nt o n
Pigafetta, der Reisegenosse Magalhaes'.
Unter dem 17. Dezember 1521 heißt es in seinem
Tagebuche 'j: „Er (der König von Bachian) gab
uns auch zwei sehr schöne tote Vögel für den
König von Spanien. Dieser Vogel hat die Größe
einer Drossel , einen kleinen Kopf, einen langen
Schnabel, und Beine von der Dicke einer Schreib-
feder und einen Paimo lang. Sein Schwanz gleicht
dem Schwänze der Drossel ; er hat aber keine
Flügel, sondern an ihrer Stelle lange Federn von
verschiedenen Farben, beinahe wie die Reiher-
federn. Alle übrigen Federn sind von dunkler
Farbe. Dieser Vogel fliegt nur, wenn der Wind
geht. Man sagt, daß er aus dem Paradiese käme,
und nennt ihn Bolondinata, d. h. Gottesvogel."
Das ereignete sich auf der Insel Tadore in der
Molukkenstraße (jetzt Tidor zwischen Celebes und
Neu-Guinea). Die Seefahrer müssen dann noch
einige Exemplare erhalten haben.
Pigafetta's Eigenbericht'-) lautet genauer :
Zwei tote sehr schöne Vögel, stark wie Drosseln,
haben einen kleinen Kopf mit langem Schnabel;
ihre Beine sind etwa handlang und fein wie ein
Rohr. Sie haben keine Flügel, sondern an ihrer
Stelle lange Federn von verschiedener Färbung
wie große Hutfedern; ihr Schweif gleicht dem
einer Drossel; alle anderen Federn, ausgenommen
die Flügel, sind lohfarben und sie können nur
mit dem Winde fliegen. Man behauptet, daß
diese Vögel aus dem irdischen Paradies kommen,
und heißt sie bolon dinata d. h. Gottesvögel.
Pigafetta war einer der wenigen, die die
ganze Weltreise überstanden (MagelhSes selbst
war schon am l-]. April 1521 auf den Philippinen
in einem Gefecht mit Eingeborenen gefallen; die
meisten wurden durch Skorbut aufgerieben). Die
Landung in Spanien, welche am 6. Sept. 1522
stattfand, und der Einzug in Valladolid vor dem
Kaiser Karl V. waren Ereignisse, bei denen auch
die mitgebrachten Paradiesvögel eine Rolle spielten.
Ein Deutscher, der Geheimsekretär des Kaisers,
Maximilianus Transsilvanus, hat uns in
einem Briefe an den Erzbischof Lang von Salz-
burg, datiert Valladolid 24. Okt. 1522, einen
1) An ton Pi ga f etta' s Beschreibung der von Mag eil an
unternommenen ersten Reise um die Welt (Gotha 1801)1 S. 203.
Das Original befindet sich in Mailand Bibl. Ambrosiana.
2) Veröffentlicht in Pigafetta Raccolta V, 3, 99 (seit 1894
aus Anlaß des Kolumbus-Jubiläums erschienen); „due uccelli
morti bcUissimi. questi uccelli sono grossi come tordi, hanno
lo capo piccolo con lo becco longo, le sue gambe sono
longhe un palmo et sottili come un calamo. non hanno ale
ma in loco di quelle penne longhe de diversi colori come
gran penachi; la sua coda e come quella del tordo ; tutte le
altre sue penne eccetto le ale sono del colore di taneto e
mai non volano se non quando e vento. costoro ne dicono
questi uccelli venire del paradiso terrestre e le chiamano
„bolon dinata cioe uccelli de Dio".
Bericht ^) über das, was er dort gesehen, hinter-
lassen: Der Vogel „Manucco Diata", der Götter-
vogel, stellte das vornehmste Geschenk dar. Er
wird so genannt, weil die Leute sich damit im
Gefechte gesichert und unsiegbar wähnen. Davon
waren es fünf; einen habe ich vom Schiffskapitän
mir erbeten, den ich nun meinem verehrtesten
Herrn (dem Bischof) schicke, nicht damit er sich
auch, wie jene meinen, durch ihn vor Nach-
stellungen und dem Schwerte gesichert glaube,
sondern damit er sich an der Seltenheit und
.Schönheit desselben erfreue. -)
Vorher hatte Maximilianus Transsil-
vanus nämlich geschrieben: „Reges illarum (in-
sularum Moluccarum) paucis ante annis immortales
animas esse credere coepere, haud alio argu-
mento ducti, quam quod aviculam quandam
pulcherrimam nunquam terrae aut cuiquam alii
rei, quae in terra esset, insidere animadverterent,
sed aliquando ex summo aethere exanimem in
humum decidere. Et cum Machometani, qui
ad eos commercii causa commearent, hanc aviculam
in Paradyso ortam, Paradysum vero locum ani-
marum (eorum), qui vita functi essent, attestaren-
tur, induerunt hi Reguli Machometi sectam, quod
haec de hoc animarum loco mira polliceretur.
Aviculam vero Manucco Diata appelarunt, hoc
est Dei Avem, quamadeo sancte religioseque
habent, ut se ea Reges in hello tutos existiment,
etiamsi suo more in prima acie collocati fuerint."
Dieser Bericht über die Herkunft des Vogel-
namens, der wohl aus dem Munde Pigafetta's
und seiner Genossen stammt, ist später über-
gegangen in die Gesn er 'sehen Vogelbücher,
aus denen er auch von Brehm (Vögel i. Bd.
3. Aufl. S. 415) wiedergegeben wird.
C. Gesn er selbst hat in den ersten Auflagen
seines Werkes den Paradiesvogel noch nicht ab-
gebildet. Meines Wissens erscheint ein Bild von
dem Vogel zum erstenmal in der Ausgabe von
Heußlin (Vogelbuch 1600 p. 393). Das Bild
stammt von C. Peutinger^), der auch nach
ihm bezeugt, daß er einen solchen Vogel tot ge-
sehen habe. „Vnd ist onlangst (um 1600) eine
Figur dieses Vogels zu Nürnberg gedruckt vnd
mir (Heußlein) mit diesen Worten zugeschickt
worden", was sich auf die Beschreibung bezieht
(s. diese übrigens bei Brehm). In der P""rank-
furter Ausgabe vom Jahre 1669 ist die Zahl der
verschiedenen Paradiesvögel bereits auf ^/j Dutzend
angewachsen.
M Editio princeps, Cöln 1523, Januar. Das Original-
manusltript hat sich hier in Regensburg St. Katharinen-
Spital, wo Transsilvanus gestorben ist, aufgefunden.
'-) ,,Sed praecipuum donura Manucco Diata, hoc est
avicula illa Dei, qua se in proelio tutos invictosque putant.
Harum quinque missae fuere, unam impetravi a Praefecto navis,
(juam Kev. D. V. mitto, non quod se ea ab insidiis et
ferro tutum putet, ut illi perhibent, sed quod eins raritate et
pulchriludine delectetur."
') Über die Beziehungen dieses Humanisten zu den
Welsern und anderen schiffahrenden Kreisen s. Fr. Wieser,
Magalläes-Straße und Austral-Continent auf den Globen des
Joh. Schöner (Innsbruck 1881) S. 97.
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
411
Während früher die Zoologen sich über die
Beinlosigkeit des Vogels stritten und sogar an
derselben festhielten (auch Aldrovandi, de
avibus Tom. I p. 807), obwohl schon Pigafetta
diesen Irrtum richtiggestellt hatte, dämmerte es
jetzt erst (1669) dem Herausgeber des Gesn er-
sehen Vogelbuches auf, warum die Vögel immer
ohne Beine nach Europa gebracht wurden. Nach
Thuanus, heißt es, schneiden die Eingebornen
den Vögeln die Beine ab, um sie auf diese Weise
als größere Wunder in den Augen der Europäer
hinzustellen und mehr Geld aus dem Verkaufe zu
gewinnen. Unterdessen hatte aber die Kunst
schon den Paradiesvogel wie lebend mit zwei
Beinen laufend zur Darstellung gebracht.
Der Paradiesvogel bildet auf den im 16. und
17. Jahrhundert beliebten Paradiesesbildern ein oft
wiederkehrendes Zubehör. Freilich Raffael muß
sich in dem ihm zugeschriebenen P^resko „Schöpfung
der Tierwelt" ') (Loggien im Vatikan) noch mit dem
Fasan als einem der schönsten Vertreter der Vogel-
welt im Paradiese behelfen. Dagegen lassen die
berühmten J. B r u e gh el'schen Bilder fast immer
den Paradiesvogel sehen.
Als das beste Bild dieses Meisters, der haupt-
sächlich von 1600 ab in Antwerpen arbeitete und
an Paradiesvögeln besondere Freude hatte, ist
F. Francken (t 1642); sein „Paradies" (Dresden,
K. Gemäldegalerie Nr. 946) führt uns zwei Exem-
plare dieser Gattung vor (P. apoda und rubra?).
Auf R. Savery's Gemälden, die manchmal die
Dronte (Dido ineptus L) bergen,') spielen die
Paradiesvögel keine besondere Rolle.
Eine andere Art fand ich in der Handzeich-
nungensammlung des Herzogl. Museums in Braun-
schweig dargestellt. Das Blatt ist in feiner .A.quarell-
Abh. 2. Der Göttervogel (Paradisca apoda).
n Külien Adams schreitend, auf dem Paradiesesbild
von J. Brueghel d. Ä. (um IÖOO-1625).
(Haag, Reichsmuseum \r. 253. Ausschnitt.)
1625 starb, gilt das Bild im Reichsmuseum im
Haag Nr. 253. Hier erscheint mitten unter .AfTen,
Kaninchen, Putten und anderem Getier links ein
laufender Paradiesvogel mit goldgelbem Schweif
und grünem Kopf — ohne Zweifel der Götter-
vogel (Paradisea apoda L.). Mit festen derben
vierzehigen Beinen trippelt er als der schönste im
ganzen Vogelreigen vor den Füßen des sitzenden
Adam herum (s. Abb. 2). Auch in der Luft
schwirrt ein Vogel dieser Gattung (P. rubra nach
meinen Aufzeichnungen). Auf einem anderen Bild
dieses Meisters, genannt Herbstflora (Madrid Prado
Nr. 1248) tummelt sich der Göttervogel mit unserem.
Pirol und mit Meerschweinchen in einem früchte-
reichen Garten. Ein zweiter Maler jener Zeit, der
Abb. 3. Eine .^rt Königsparadiesvogel (Cicinnurus spec.)
Aquarell von H. H engst enburgh , um 1700.
(BrauDSchweig, Herzogl. Museum.)
maierei ausgeführt und stellt uns eine Art Königs-
paradiesvogel (Cincinnurus) mit den charakteristi-
schen Schwanzfedern vor (vgl. Abb. 3).
Es stammt nach der Signatur von Hermann
Hengstenburgh, der von 1667 — 1726 lebte.
Auf seinen Studienblättern erscheinen noch ver-
schiedene andere exotische Tiergestalten, so der
Seidenweber, das Chamäleon, die Gespenstheu-
schrecken, der Nashornkäfer u. a. m.
Auch der merkwürdige Maler T. v. Kessel
( 1626—1679», der sich bemühte, seinen Zeitgenossen
tropische Landschaften im Bilde vorzuführen, kennt
den Paradiesvogel und läßt ihn auf seinen asiati-
schen Landschaften (allerdings schon in Ägypten)
durch die Luft schwirren (Schleißheim, Galerie
Nr. 1117).
F"ür die in Rede stehenden Tiere interessierte
sich im 18. Jahrhundert besonders der überhaupt
etwas schöngeistige französische Naturforscher
Buffon. Die eigentliche Erforschung dieser
Vogelfamilie hebt an mitWallace. Er war der
erste, dem es 1862 gelang, zwei Stück lebend
nach Europa zu bringen. Er ernährte sie mit
Reis und Schaben. Später kamen auch einige
nach Hamburg und in die deutschen zoologischen
>) Als sonstige schöne Vögel finde ich darauf noch dar-
gestellt; Pfau, StrauiJ (sehr gut), Storch, Kranich im Fluge.
1) Vgl. meinen Artikel: Die ausgestorbenen Maskare
Vögel in dieser Zeitschrift, N. F. XIV (1915). Nr. 23 u.
412
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
Gärten. Nach einer Notiz in der Zeitschrift
„Zoologischer Garten" (1891, S. 1571 gelang es
zum erstenmal in Kalkutta Paradiesvögel „durch-
zubringen" (wahrscheinlich bis zur Fortpflanzung,
was sehr wünschenswert wäre).
Seit den Forschungen von Wallace, der
18 Arten von Paradiesvögeln kannte, ist die Zahl
derselben infolge der Erforschung des Inneren von
Neu-Guinea viel größer geworden; unterdessen
sind noch einige ganz wunderbare Arten hinzu-
gekommen, so der Kaiser-VVilhelin-Paradiesvogel,
der in Deutsch-Neu-Guinea gefunden wurde, und
der blaue oder Kronprinz-Rudolf-Paradiesvogel,
der in den Owen Stanley-Bergen von Britisch-
Neu-Guinea heimisch ist. Wie H. Johnston ^)
') Paradiesvögel in „Die Wunder der Natur", 2. Bd.,
S. 162 — 168. Dort auch eine gute Zusammenstellung von
Abbildungen.
darlegt, sind viele Arten im Aussterben begriffen.
„Die Sucht der Damen, ihre Hüte mit solchen
Federn zu schmücken, der Wunsch der malayischen
Häuptlinge, Paradiesvogelbälge als Zier des Turbans
zu verwenden, und die sinnlose Sammelwut über-
spannter Amerikaner haben einen solchen Ver-
nichtungskrieg gegen die Paradiesvögel hervor-
gerufen, daß viele Arten bereits im Aussterben,
wenn nicht gar schon ausgestorben sind." Auch
aus dem vormals deutschen Teil von Neu-Guinea
wurden mehr als genug von Paradiesvogelbälgen
ausgeführt: 1909 um 65000 Mark, 1910 um
152000 Mark. Wenn die deutsche Flagge, was
Gott geben möge, wieder über jener Inselwelt
gehißt wird, möge sie auch den schönsten Ge-
schöpfen der Tierwelt ein Zeichen des F"riedens
und Schutzes seini
Einzelberichte.
Anthropologie. Über die Eigenart der Mu-
sikerschädel veröffentlichte AdolfKoelsch eine
Artikelserie in der Neuen Zur. Ztg. (Dezember 1916).
Die schon vor mehr als einem Jahrhundert von
Gall aufgenommenen Forschungen über die Be-
ziehungen zwischen Gehirnentwicklung und Schädel-
gestalt wurden in neuerer Zeit und auf neuen Grund-
lagen fortgesetzt, namentlich von Schwalbe,
Tandler, Auerbach und anderen. An der
Außenseite menschlicher (wie auch tierischer)
Schädel treten Hervorwölbungen auf, welche be-
stimmten Gehirnteilen, ja sogar einzelnen genau
angebbaren Windungen des Großhirns entsprechen.
Diese äußerlichen Anzeichen des Gehirnbaues sind
freilich nicht am ganzen Gehirnschädel vorhanden
(wie Gall gemeint hatte); sie beschränkten sich beim
Menschen vielmehr auf zwei scharf umschriebene
Bezirke, nämlich auf die Umgebung des Hinter-
hauptsloches, durch welches das Eückenmark aus
dem Schädel tritt, und auf die Schläfengegend.
Die Ursache hiervon ist, daß nur an jenen Stellen,
wo die Schädelkapsel stark mit Muskulatur be-
deckt ist, die knöcherne Hülle so dünn und nach-
giebig bleibt, daß es auf ihr zu einer Abbildung
des Windungsreliefs der darunterliegenden Hirn-
teile kommen kann. Am menschlichen Schädel
sind nun gerade Hinterhaupt und Schläfengegend
die Partien mit starker Muskelbepackung; in der
Umgebung des Hinterhauptloches heften sich die
Nackenmuskeln an, in der Schläfengegend die
Ohr-, Schläfen- und Kiefermuskeln. Sie bilden
für die darunter verborgenen Teile einen so reich-
lichen Schutz, daß eine viel leichtere Knochen-
verschalung als an den übrigen Schädelperipherien
für die Befestigung des kranialen Gewölbes genügt.
Besonders eigenartig sind die Verhältnisse in der
Schläfenregion, weil hier das Schädeldach so dünn
und unstarr ist, daß sich die darunterliegenden
Hirnwülste, nach Maßgabe ihres Umfangs, auf der
knöchernen Hülle abklatschen und schon am
Lebenden zu Verrätern seiner geistigen Anlagen
werden können. Bis jetzt ist zwar noch keines-
wegs für jede buckeltreibende Windung des
Schläfen- und Hinterhirnlappen auch die geistige
Funktion genau festgestellt, die in ihr ihren Sitz
hat. Doch ist mindestens für eine Art ein-
seitiger Begabung die bestimmte Beziehung
zwischen Gehirnbeschaffenheit und Schädelform
nachgewiesen, nämlich für besondere musikalische
Fähigkeit. Die bisher an einem relativ umfang-
reichen Material vorgenommenen Untersuchungen')
ergaben bei den Trägern musikalischer Fähigkeiten
Gehirne mit starker bis enormer Breitenentfaltung
der vorderen und mittleren Schläfenwindung,
reicher Gliederung dieser Partien und nicht minder
auffallender, das gewöhnliche Maß weit über-
schreitender Ausbildung des benachbarten, zum
Scheitellappen führenden Ran d hö ckers (Gyrus
supramarginalis). Bei Personen ohne musikalische
I*"ähigkeiten war dagegen an der Bildung der
Schläfenlappen des Gehirns nichts Besonderes zu
bemerken.
In Verbindung mit den bezeichneten Eigen-
heiten der Musikerschädel ist zu beachten, daß
schon seit langem der vorderste Teil des Schläfen-
gehirns als Sitz des Gehörsinns erkannt ist, und
es ist gar nicht verwunderlich, wenn Tonbegabung
mit hervorragender Ausbildung des Gehörsinnes
verbunden ist. Zur musikalischen Begabung ge-
hört jedoch außer einem guten Gehör noch der
eigentliche Ton- und Musiksinn, der zweifellos
1) Sieg m und Auerbach's Untersuchungen an Ton-
künstlergehirnen im Archiv für Anatomie und Entwicklungs-
geschichte (1906, 1908, 1911, 1913, 1915) „Über den Schädel
Haydns" Mitteilungen der Anlhrop. Gesellschaft Wien, Bd. 39,
,,Über die Innenform und Auflenform des Schädels" (Deutsches
Archiv für klinische Medizin 1903) und „Über alte und neue
Phrenologie" (Korrespondenzblatt für Anthropologie, Ethno-
logie und Urgeschichte, Bd. 37),
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
413
seinen Sitz in jenen Feldern des Schläfenlappens
hat, die sich an allen untersuchten Musiker-
gehirnen, und nur bei diesen, durch außerordent-
liche Größe und außerordentlichen Bau aus-
zeichneten.
Auch äußerlich macht sich bei den meisten
musikalisch hervorragend begabten Personen die
starke Füllung der Schädelkapsel im Schläfen-
bezirk in ganz scharf umschriebenen Buckelbil-
dungen des Schläfenbeins bemerkbar. Wie
Schwalbe gezeigt hat, pausen sich schon am
Schädel des Durchschnittsmenschen die vordere,
mittlere und untere Schläfenwindung bald mehr,
bald weniger deutlich in drei knöcherne Wulst-
streifen ab, von vorn und unten nach hinten und
oben über das Schläfen- und Schuppenbein ziehen,
und die man an schwach verschwarteten Schädeln
durch Betasten des Kopfes nicht immer, aber
doch häufig schon am Lebenden feststellen kann.
Der unterste dieser knöchernen Buckel liegt dicht
über dem äußeren Eingang zum Ohr. An Musiker-
schädeln pflegen von diesen knöchernen Vortrei-
bungen ausgerechnet die beiden vorderen, welche
die Lokalisationszentren des Gehör- und Musik-
sinns überdecken, viel stärker ausgebildet zu sein
als an gewöhnlichen Schädeln und sich deswegen
im Leben schon sehr merkbar vorzudrängen. Von
Von berühmten Musikern machen Schubert
und Mottl eine Ausnaiime von dieser Regel, die
man auf die besondere Schädelform beider (Lang-
köpfigkeit) zurückführt. H. Fehlinger.
Chemie. Die Zerstörungen, die die Metalle und
Legierungen unter dem Einflüsse von Wasser und
wässerigen Lösungen im praktischen Gebrauche
erleiden, spielen in der Praxis bekanntlich eine
außerordentlich wichtige Rolle. Sie sind im
wesentlichen auf die Entstehung elektrischer
Ströme zurückzuführen, die entweder zwischen
verschiedenen, in demselben Metallbauwerk neben-
einander verwendeten Metallen oder zwischen ver-
schiedenen Stellen desselben Metalles infolge von
Temperaturunterschieden oder infolge von Unter-
schieden in der Bearbeitung oder noch aus anderen
Gründen entstehen können. So entsteht, wenn ver-
schiedene Metalle in demselben Metallbauwerk ver-
wendet werden, ein galvanisches Element, in dem
sich das mehr positive Metall auflöst. An Dampf-
kesseln sind Zerstörungen nachgewiesen worden,
deren Ursache in thermoelektrischen Strömen zu
suchen ist. Werden Metallteile umgebördelt, ge-
nietet, gehämmert, kurz irgendwie bearbeitet, so
verhalten sich die beanspruchten Teile den un-
veränderten Teilen gegenüber elektrisch positiv
und werden daher zerfressen. Die durch diese
Zerfressungen hervorgerufenen Schwierigkeiten zu
beheben, ist oft versucht worden. So hatte schon
Davy im Jahre 1824 den Vorschlag gemacht,
die elektrischen Ströme so zu leiten, daß sie
keine Zerstörungen an den in Frage kommenden
Metallteilen hervorrufen können, er hatte nämlich
vorgeschlagen, an dem Metallbauwerk, also z. B.
an der Maschine, an dem Kondensatorrohr usw.
an geeigneten Stellen und in leitender Berührung
mit ihm ein sehr stark positives Metall, nämlich
Zink anzubringen. Hierbei sollte das Zink Anode
werden und, indem es allein zerfressen wird, das
andere Metall vor dem Zerfressen schützen. Dies
Verfahren hat sich jedoch in der Praxis nicht
durchführen lassen. Einerseits schützt nämlich
I qm Zink in seiner günstigsten Form — als
reines gewalztes Zink — nur etwa 50 qm der
anderen Metalle, es wären also, um eine durch-
greifende Schutzwirkung zu erzielen, große Mengen
von Zink erforderlich, haben doch z. B. die Dampf-
anlagen auf den großen Ozeandampfern wasser-
berührte Kessel- und Kondensatorflächen von vielen
Hunderten von Quadratmetern. Andererseits über-
zieht sich erfahrungsgemäß das Zink sehr bald
infolge von Oxydation mit Oxydationsschichten,
ändert dadurch sein Potential und kann unter Um-
ständen, indem es edler wird als das schützende
Metall, dessen Zerstörung, anstatt sie aufzuhalten,
beschleunigen. Das Davy 'sehe Verfahren hat
sich also, so richtig der ihm zugrunde liegende
Gedanke auch ist, doch in der Praxis nicht be-
währt.
Hier greift nun ein neues Verfahren ein, das
vor einigen Jahren von einem Ingenieur namens
Cumberland vorgeschlagen worden ist. Cum-
berland leitet mit Hilfe einer Niederspannungs-
maschine einen Strom von 6 — 10 Volt Spannung
durch das zu schützende System und die es um-
spülende Flüssigkeit, in die er in geeigneter
Weise Eisenelektroden einsenkt, so daß diese
Elektroden als Anoden dienend zerfressen und
die schützenden Metallteile als Kathoden fun-
gierend vor dem Zerfressen geschützt werden.
Die Stromdichte, die zu wirksamem Schutz er-
forderlich ist, ist nur gering; so genügt bei Ober-
flächenkondensatoren I Ampere zum Schutz von
46,5 qm Oberfläche vollkommen.
Außer dieser Schutzwirkung übt das C u m b e r -
1 a n d - Verfahren auch einen außerordentlich gün-
stigen Einfluß auf die oft sehr lästige Bildung von
Kesselstein aus. Da bei dem Cumberland-
Verfahren fortwährend ein elektrischer Strom durch
das Kesselwasser fließt, tritt Elektrolyse ein, die
positiven Metallionen wandern zur negativen Elek-
trode, d. h. zur Kesselwand, werden hier infolge
der verhältnismäßig hohen Spannung entladen und
setzten sich nun in sekundärer Reaktion mit dem
Kesselwasser zu Wasserstoff und freier Base um.
Es findet also an der Kesselwand ständig eine
schwache Wasserstoftentwicklung statt, und diese
. hindert die Ablagerung von festem Kesselstein an
der Kesselwand. Der Kesselstein kann sich nur
als loser Schlamm absetzen und in dieser Form
bei der Reinigung des Kessels leicht abgeblasen
werden. Ja es hat sich sogar gezeigt, daß alte
fest an der Kesselwandung haftende Kesselstein-
schichten bei Einführung des Cumberlan d'schen
4i4
Maturwissenschaftliche Wochenschrilt.
N. F. XVI. Nr. 30
Verfahrens erweichen und sich so von selbst von
der Kesselwand loslösen.
In der Praxis hat sich das Cumberland' sehe
Verfahren nach den bisher vorliegenden Berichten
ausgezeichnet bewährt. Eine Anzahl Dampfschiff-
fahrtsgesellschaften, wie die White Star-Linie, die
Union Steamship Company of New Zealand und
andere, haben es für iiire Schiffe eingeführt. So
waren bei einem der White Star-Linie gehörigen
Schiff, das 14 Monate lang Dienst als Hilfskreuzer
getan hatte, bei seiner Rückkehr in den Hafen
die Kessel in vorzüglichem Zustande, frei von
Rost und Kesselstein, und die Kondensatoren,
die früher durch das Zerfressen von Rohren viel
gelitten hatten, ganz unversehrt — gewiß ein
ganz hervorragendes Ergebnis.
Das vorliegende Referat beruht auf einem Be-
richt, den der Oberingenieur Janzen in Berlin-
Siemensstadt unter dem Titel „Das elektrolytische
Verfahren zur Verhütung der Zerfressungen von
Metallen" über das Cumberland' sehe Verfahren
in der „Zeitschrift d. Vereins Deutscher Ingenieure"
(Jahrgang 191 7, Heft 7, S. 140 — 143) erstattet hat.
Mg.
Zoologie. Die Zahl der Generationen beim
ungleichen Borkenkäfer (Anisandrus dispar F.) hat,
dem Ergebnis seiner früheren Beobachtungen ent-
sprechend, O. Schneider-Orelli für die
Schweiz erneut mit Sicherheit mit einer fest-
gestellt. ■') Für diese Käferart werden in der
Literatur beinahe ausnahmslos zwei Generationen
angegeben.
Der ungleiche Borkenkäfer verläßt seine Bohr-
löcher im Frühjahr. Ende Juni und Anfang Juli
191 6 wurden dem Verfasser an den befallenen
Apfelbäumen neue Bohrlöcher gemeldet. Die
genaue Untersuchung ergab, daß dieselben aber
vom großen Obstbaumsplintkäfer herrührten. Mitte
Juli stellte sich noch die dritte Art ein, nämlich
der kleine Obstbaumsplintkäfer. Dieser Umstand
ist nicht nur deshalb von besonderem Interesse,
weil er die anlockende Wirkung des geeigneten
Brutholzes auf die verschiedenen Borkenkäferarten
veranschaulicht, sondern auch weil er zeigt, wie
die irrtümlichen Angaben über die Zahl der Ge-
nerationen aufkommen können. Der ungleiche
Borkenkäfer überwintert als fertiges Insekt, wäh-
rend die beiden Obstbaumsplintkäfer dies im
Larvenzustand tun. Diese Tatsache führt zu ver-
schiedenen Flugzeiten. Alle haben aber nur eine
einzige jährliche Generation. A. Heß.
Weitere Beobachtungen über die Partheno-
genese der Infusorien. (Mit 2 Abbildungen.) Die kürz-
lich an dieser Stelle besprochenen Untersuchungen
von Woodruff und Er d mann über den pe-
') Über den ungleichen Borkenkäfer an Obstbäumen im
Sommer 1916. Schweiz. ,,Zeitschr. für Obst- und Weinbau"
1917-
riodischen Reorganisationsprozeß bei Infusorien ')
haben durch neue Experimente von Jollos^)
eine wichtige Erweiterung erfahren. Jollos
suchte eine Antwort zu finden auf die Frage:
Ist die Parthenogenese durch die innere, er-
erbte Konstitution der Infusorien oder durch
äußere Faktoren bedingt? Woodruff und
Erdmann sind geneigt, innere Faktoren für
die Reorganisation des Kernapparates verantwort-
lich zu machen. Die äußeren Bedingungen, Tem-
peratur, Ernährung, Beleuchtungsverhältnisse usw.,
waren ja in ihren jahrelangen Zuchten dauernd
nach Möglichkeit gleichmäßig, und der Prozeß
wiedft-holte sich ganz regelmäßig nach einer
„bestimmten" Anzahl vegetativer Teilungen,
ausschalten ließen sich die „Rhythmen" nicht.
Auch Jollos stellte diese periodische Wiederkehr
der Parthenogenese in gleichförmigen Kulturen
von Paramaecium caudatum fest. So zeigt Abb. I
Teilungsfrequenz
innerhalb 24 Stunden
3 g-
I 3
.
_^^
+ <:^
1
>
~?
^^
^-<-
^x
20-22
23-25
26—28
die Teilungsfrequenz einer Paramäcienrasse, die
mit Bacterium proteus gefüttert wurde, eine Nah-
rung, die besonders geeignet ist, um eine gleich-
mäßige Fortpflanzung zu erzielen. Mit ziemlicher
Regelmäßigkeit erfolgen in der Rasse innerhalb
24 Stunden 2^3 Teilungen. Nach einiger Zeit
beobachten wir plötzlich ein rasches Absinken
') Naturw. Wochenschr., N. F. Bd. 14, 1915 (H. Nachts-
heim, Parthenogenese bei Infusorien) und N. F. Bd. 16, 19 17
(Woodruff und Erdmann, Der periodische Reorganisa-
tionsprozeß bei Infusorien).
''■) Jollos, V., Die Fortpflanzung der Infusorien und die
potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen. Biol. Zentralbl.,
Bd. 36, 1916.
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
41 5
der Teilungsgeschwindigkeit, der dann ein ebenso
lasches Ansteigen bis zur ursprünglichen Höhe
folgt. Während dieser Veränderungen der Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit findet regelmäßig die
Erneuerung des Kernapparates (-f-) statt. In einem
sehr wichtigen Punkte unterscheidet sich aber
diese Darstellung der Teilungsfrequenz von der
Woodruffs und Erdmann's. Diese geben
eine wellenförmig verlaufende Teilungsfrequenz-
kurve wieder, d. h. nach ihren Angaben sollen
die Teilungen zwischen zwei Reorganisations-
prozessen nicht in regelmäßigen Intervallen er-
folgen, sondern die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
soll nach der Reorganisation des Kernapparates
langsam zunehmen bis zu einem gewissen Höhe-
punkte, um dann ebenso langsam bis zu einer
neuen Reorganisation wieder abzusinken. Da
Woodruff und Erdmann im Gegensatz zu
Jollos keine näheren statistischen Angaben über
die Zu- und Abnahme der Teilungsfrequenz
machen, muß man wohl die Darstellung des letz-
teren für die richtige halten.
Das relativ regelmäßige Auftreten der Partheno-
genese unter gleichförmigen Außenbedingungen
ist nun aber noch kein Beweis für ihren kon-
stitutionellen Ursprung. Die gleichförmigen Be-
dingungen können auch gleichmäßig sich sum-
mierende oder periodisch einwirkende Schädi-
gungen im Gefolge haben. Daß dem tatsächlich
so ist, geht denn auch aus den weiteren Experi-
menten von Jollos hervor.
Abb. 2 gibt die Teilungsfrequenz einer unter
normalen Bedingungen bei 21'' in der Zeit vom
März April Mai
l ^ ^ ii l ^ ^lll ^ l i ^ l i i X
W : ■ ■ : ■ ■ ■ 4: ■
: i i ■ i : ^
i J,-^-\ t
= •• =/ \t
-\ ^ 4^ *
\ = ^^
»^
Abb. 2.
Weitere Erklärung im Text. (Aus Jollos.)
_ normale Abzweigungen von der nor-
■~ Kultur ' ■ ■ ' malen Kultur zur Auslosung
von Parthenogenese
= Parthenogenese.
13. März bis 5. Mai 1916 geführten Hauptkultur
von Paramaecium aurelia wieder, von der zu ge-
wissen Zeiten Zweigkulturen angelegt wurden.
Diese Nebenzuchten wurden in besondere, die
Parthenogenesis begünstigende Bedingungen ver-
setzt. Solche Bedingungen können erzielt werden,
indem man die tägliche Isolierung und Über-
tragung der Paramäcien unterläßt, indem man
die Temperatur um einige Grad erhöht, sodann
durch Hinzufügung von stark verdünntem Am-
moniakwasser zu dem Kulturmedium oder durch
Einführung verschiedener Bakleriensorten. Die Ab-
zweigung der Zuchten geschah am 14., 23. und
28. März, am 4., 9., 15. und 23. April. In der
Hauptkultur fand vom 13. März bis zum 5. Mai
zweimal Parthenogenese statt (■ = Parthenogenese),
in sämtlichen Zweigkulturen wurde sie fast un-
mittelbar nach Versetzung unter die auslösenden
Bedingungen, mindestens aber in den nächsten
Tagen festgestellt. In weiteren Experimenten
wurden bei etwas anderer Versuchsanordnung ganz
ähnliche Resultate erzielt. Die Auslösung der
Parthenogenese kann also in jedem Zeitpunkte
des Lebens der Paramäcien durch äußere Fak-
toren erfolgen. Versetzt man die Zweigkulturen
wieder in die „normalen" Verhältnisse, so verhalten
sie sich wieder wie die Hauptkultur. Indem
andererseits Jollos einen Stamm mehrere Wochen
lang unter den „besonderen" Bedingungen beließ,
konnte er es erreichen, daß jeden dritten Tag,
d. h. durchschnittlich nach 5—6 Teilungen, die
Erneuerung des Kernapparates erfolgte.
Wenn aber die Parthenogenese in jedem
Lebensabschnitt durch Faktoren der Außenwelt
hervorgerufen werden kann, so erhebt sich die
weitere Frage, ob sich nicht andererseits Be-
dingungen schaffen lassen, unter denen die Par-
thenogenese ganz vermieden werden kann. Ver-
langt die erbliche Konstitution des Organismus
unter allen Umständen eine zeitweise Erneuerung
des Kernapparates, oder vermag er unter gewissen
Bedingungen dauernd zu funktionieren? Unter den
von Woodruff und Erdmann angewandten
Bedingungen schreitet ein Paramaecium aurelia
nach 40—50, längstens aber 60 Generationen zur
Parthenogenese. Indem Jollos statt der hohl-
geschliffenen Objektträger größere Gefäße, die je-
doch die tägliche genaue Durchmusterung noch
zuließen, zur Aufzucht benutzte und Salatwasser
statt Bouillon als Nährmedium verwandte, ver-
mochte er die Lebensbedingungen für die Para-
mäcien noch bedeutend zu verbessern, und so
gelang es ihm, den Eintritt der Parthenogenese
bis nach 130 — 140, in einem Falle sogar bis nach
168 Teilungsschritten hinauszuschieben. Dauernd
die parthenogenetischen Prozesse auszuschalten,
war jedoch nicht möglich. Nun ist damit aller-
dings noch nicht der Beweis erbracht, daß das
überhaupt unmöglich ist, aber mit Recht erklärt
Jollos, daß die Wahrscheinlichkeit, daß der
Makronukleus der Infusorien unter bestimmten
Bedingungen dauernd funktionsfähig bleiben kann,
außerordentlich gering ist. „Der Makronukleus
besitzt", sagt Jollos, „nur eine beschränkte
Lebensdauer; nicht so beschränkt, wie es nach
den in dieser Hinsicht ungünstigen Kulturbedin-
gungen von Woodruff erschien, wie ja auch die
Lebenszeit des Menschen nicht nach dem von
einer, besonderer Schädigung ausgesetzten Berufs-
klasse im Durchschnitt erreichten Alter allgemein
bemessen werden kann — aber Altern und natür-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
liebem Tode ist er offenbar doch unterworfen."
Durch besondere Pflege vermögen wir die Lebens-
dauer eines Infusors ebenso wie die eines viel-
zelligen Organismus zu verlängern, Unsterb-
lichkeit können wir indessen keinem verleihen.
Am Schlüsse seiner Abhandlung nimmt J o 1 1 o s
noch Stellung zu Weismann's Lehre von der
potentiellen Unsterblichkeit der Protisten. Bei
Besprechung der Untersuchungen Woodruffs
und Erdm ann's hatten wir — ebenso wie diese —
den Standpunkt \ertreten, daß die Weismann-
sehe Theorie dadurch unhaltbar geworden ist.
Jollos ist anderer Ansicht. Gewiß könne man
heute die Infusorien nicht mehr als potentiell
unsterblich bezeichnen, aber die Weisman n'sche
Lehre bestehe auch weiterhin zu Recht. Bei den
Infusorien sei ■ — im Gegensatz zu den übrigen
Protisten — bereits eine Trennung in Soma und
Keimplasma (Makronukleus und Mikronukleus)
eingetreten, sie gehörten also in dieser Hinsicht
schon zu den Vielzelligen; diese Weismann bei
Aufstellung seiner Theorie noch unbekannte Tat-
sache mache es verständlich, daß es auch bei den
Infusorien einen Tod gebe, ja es wäre geradezu
ein Beweis gegen die Richtigkeit der Weis-
man n ' sehen Theorie, wenn der Makronukleus zu
dauernder Erhaltung befähigt wäre, da dieses eine
potentielle Unsterblichkeit des Somas dartun würde.
Doch, so fragen wir, wo ist denn der Beweis, daß
bei den übrigen Protisten, bei denen sich mor-
phologisch eine Trennung in Soma und Keim-
plasma noch nicht nachweisen läßt, diese auch
physiologisch noch nicht erfolgt ist ? Es
liegen bereits Beobachtungen vor, die es wahr-
scheinlich machen, daß auch in anderen Gruppen
von Protisten Reorganisationsprozesse stattfinden,
die mit der Parthenogenese der Infusorien im
Prinzip übereinstimmen. Weitere Untersuchungen
müssen hier weitere Klarheit schaffen. Jedenfalls
ist die Kluft, die Weis mann zwischen Protisten
und vielzelligen Organismen konstruiert hat, nicht
vorhanden. Jollos will diese Kluft an eine
andere Stelle setzen, sie existiert indessen wohl
überhaupt nicht. „Auch die Protozoen verhalten
sich", um mit R. Hertwig') zu sprechen, „wie
Maschinen, welche bei ihrer Tätigkeit nicht nur
das ihnen zugeführte Material zu Arbeitsleistung
verbrauchen, sondern zugleich auch eine ihren
Fortbestand gefährdende Abnutzung erfahren."
Übrigens scheint auch Jollos, obwohl er als
Verteidiger der Weis mann'schen Theorie auf-
tritt, auf einem ganz ähnlichen Standpunkte zu
stehen. Aber es heißt doch den Inhalt von
Weismann's Theorie auf ein Minimum be-
schränken, wenn er sie in die These faßt: „Der
Lebensprozeß braucht den Keim des Todes nicht
in sich zu enthalten." Mögen wir auch das
Altern nicht als eine Grund eigenschaft der
') Hertwig, R., Über Parthenogenesis der Infusorien
und die Depressionszustände der Protozoen. Biol. Zentralbl.,
Bd. 34, 1914.
lebendigen Substanz betrachten, der Tod ist sicher
schon sehr frühzeitig aufgetreten in der Entwick-
lung des Organischen. Auch er zeigt eine all-
mähliche Entwicklung. Die „Monere" mag so
langsam altern, daß sie für uns unsterblich ist,
die Mehrzahl der heute lebenden Protisten ist
aber ebensowenig unsterblich wie die Metazoen
und Metaphyten, wenn auch jene nur einem
„Partialtode" verfallen, während „bei Vielzellern
der Tod mehr und mehr seine Domäne erweitert"
(R. Hertwig)'). „Nicht erst mit der Vielzellig-
keit setzte der Tod ein," — diesen Schlußworten
von Jollos stimmen wir vollkommen zu — „wir
finden ihn vielmehr als Teilerscheinung („Partial-
tod" R. Hertwig) auch im Reiche der Ein-
zelligen fortschreitend ausgebildet, sehr sinnfällig,
wie wir sahen, bei den Infusorien, aber bald in
dieser, bald in jener Form, bald geringe, bald
große Teile der lebendigen Substanz erfassend
auch bei den meisten, wenn nicht allen anderen
heutigen Protistenformen. Sind doch die Protisten
für uns nicht mehr die „einfachsten Organismen",
wie sie es noch für Weis mann waren und bei
dem damaligen Stande der Wissenschaft sein
mußten, sondern „höchst entwickelte Zellen"."
Nachtsheim.
Über die Dauer der Puppenruhe beim Frost-
spanner hat O. Schneider-Orelli bemerkens-
werte Versuche angestellt und deren Ergebnisse
veröffentlicht. ^)
Die Flugzeit des Frostspanners (Operophthera
[Cheimatobia] brumata L.) fällt in den Spätherbst.
Als Erscheinungszeit des Falters wird zumeist der
Zeitpunkt des Auftretens der ersten Nachtfröste
angegeben. Dieselbe fällt je nach der Lage des
Beobachtungsortes auf eine verschieden vorge-
rückte Jahreszeit. Bei Petersburg und in den
baltischen Provinzen erscheinen die Frostspanner
Ende September und in der ersten Oktoberhälfte,
in Zentralrußland Mitte bis Ende Oktober und in
der Krim sogar erst Ende November. Im schwei-
zerischen Hochgebirge erscheint er Ende Sep-
tember. In Wädenswil am Zürichsee (480 m ü. IVI.)
erscheinen die ersten Exemplare Mitte Oktober.
Ende des Monats oder in der ersten Hälfte des
November erreicht die Flugzeit ihren Höhepunkt
und Anfang Dezember gelangt sie zum Abschluß.
Aus diesen wenigen Angaben schon geht her-
vor, daß der Frostspannerflug im Gebirge und in
nördlich gelegenen Gebieten früher einsetzt als in
tiefen und südlichen Lagen. Dieser Umstand ist
verständlich, weil ein Ausschlüpfen der Falter aus
dem Boden in rauheren Gegenden der Schnee-
decke oder des starken Frostes wegen später
') H e r t w i g , R., Über den Ursprung des Todes. Vortrag
zum Besten des Petlenkoferhauses. Beilage zur Allgemeinen
Zeitung, Jahrg. 1906.
^) Temperaturversuche mit Frostspannerpuppen, Operoph-
thera brumata L., in „Mitteilungen der Entomologia Zürich
und Umgebung", Heft 3, 1916,
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
417
nicht mehr möglich wäre. Die Puppenruhe muß
demnach in kälteren Lagen weniger lang dauern,
als in milderen, da auch der spätere Frühlings-
eintritt in den ersteren einen späteren Ausfall der
überwinterten Eier und eine spätere Verpuppung
der Raupen zur Folge haben muß.
Der Verfasser wollte feststellen, ob die ersten
Fröste oder richtiger ausgedrückt die spätherbst-
liche Abkühlung den Anstoß zum Ausschlüpfen
der Falter aus den Puppen gibt. Zur Erforschung
dieser physiologischen Erscheinung nahm er im
Jahre 19 16 verschiedene Versuche vor.
In Wädenswil gesammelte Puppen wurden zum
Teil nach dem Großen St. Bernhard (2473 m ü. M.)
geschickt. Diese 2000 m höher gelegene Ver-
suchsstation hat eine um ungefähr 10" C tiefere
mittlere Jahrestemperatur als Wädenswil.
Die Versuche ergaben, daß die Psalter auf dem
Großen St. Bernhard später schlüpften als bei
den in Wädenswil zurückbehaltenen Kontroll-
puppen. Sie wären auf der Höhenstation wohl
gar nicht mehr pro 1916 geschlüpft, wenn die
Behälter nicht in ein, allerdings ungeheiztes,
Zimmer genommen worden wären, als die Außen-
temperatur zu tief sank. In Wädenswil verblieben
die Zuchtkasten immer im Freien.
Die tiefere Temperatur hatte also eine Ver-
zögerung im Schlüpfen des Falters zur Folge.
Zum gleichen Ergebnis führte ein anderer Ver-
such. Die Puppen wurden bei demselben in
Wädenswil behalten, aber vom 8. Juni bis 12. Juli
im Eisraum und dann im Freien gehalten.
„Das Erscheinen der brumata-Falter ist demnach
nicht einfach die Folge der starken herbstlichen
Abkühlung, sondern der Abschluß außerordent-
lich komplizierter physiologischer Reifungspro-
zesse."
Versuche über den Einfluß einer starken Tem-
peraturerhöhung auf das Schlüpfen der PVost-
spannerfalter, die an Puppen vorgenommen wurden,
führten noch zu keinem bestimmten Ergebnis.
Dagegen gelang bei anderen, wie dies zu er-
warten war, Eier in der erhöhten Temperatur
des Laboratoriums zu einem früheren Ausschlüpfen
als im P"reien zu bringen. Auch die Raupen ent-
wickelten sich rascher bei einer erhöhten Tem-
peratur und kamen früher zur Verpuppung. Als
Ergebnis der bisherigen Versuche wurde festge-
stellt, daß beim PVostspanner die Dauer des Ei-
zustandes, die in tieferen Lagen der Schweiz gegen
5V.2 Monate, im Gebirge sicher noch mehr be-
trägt, durch Aufbewahren der Eier in hoher Tem-
peratur auf beinahe den fünften Teil verkürzt
werden kann. Das Raupenstadium der schweize-
rischen Talfrostspanner, welches durchschnittlich
etwa 6 Wochen dauert, läßt sich durch die Auf-
zucht in erhöhter Temperatur bedeutend ver-
kürzen. So z. B. bei einer beständigen Tempe-
ratur von 25 " C auf den dritten Teil der nor-
malen Dauer. Nicht gelungen ist aber die bei
den schweizerischen Talfrostspannern ungefähr
5 Monate dauernde Puppenruhe in entsprechendem
Maße abzukürzen. „Das Verbringen von Talpuppen
an einen 2000 m höher liegenden Standort im
Gebirge oder vorübergehend auch in künstlich
abgekühlte Räume rief wiederholt eine deutliche,
wenn auch an und für sich nicht sehr bedeutende
Verzögerung des Ausschlüpfens der Falter hervor.
Wahrscheinlich aber dauert die Puppenruhe des
Frostspanners in unseren (schweizerischen) Ge-
birgslagen nur etwa 3V2 Monate. Es wird sich
in künftigen Versuchen vor allem darum handeln,
mit solchen Gebirgsfrostspannern im Tale Zucht-
versuche durchzuführen, um festzustellen, ob sie
hier ihre kürzere alpine Puppendauer beibehalten,
oder aber unter dem Einfluß der veränderten
äußeren Bedingungen sie verlängern, d. h. den
Talfrostspannern ähnlicher werden. Jedenfalls läßt
sich aus den vorliegenden Versuchen ersehen, daß
das Ausschlüpfen der brumata-Falter in erster Linie
vom inneren Reifungsgrad der Puppen abhängt
und durch P'rostwirkung nicht beschleunigt werden
kann." A. Heß.
Biologie. Über einen neuen Fall von Sym-
biose zwischen einem Kieselschwamm mit einer
Actinie und einem Ringelwurm in der Tiefsee des
Atlantischen Ozeans berichtet Ch. J. Gravier
in der Sitzung der Pariser Akademie der Wissen-
schaften vom 19. Februar 191 7 (Sur l'association
d'une Eponge siliceuse, d'une Anemone de mer
et d'un Anelide polychete des profondeurs de
L'At'lantique. Presentee par Ed. Perrier. C. R.
Ac. sc. Paris Nr. 8, 191 7). Auf den Forschungs-
fahrten der „Princesse Alice" des Fürsten von
Monaco wurden in der Nähe von Cap Vert in einer
Tiefe von 800— 121 1 m zahlreiche noch lebende
Bruchstücke einer Hexactinellide gefunden, welche
als Sarostegia oculata beschrieben wurde. Der
Schwamm ist koloniebildend; auf einer schmalen
Platte erheben sich zahlreiche unregelmäßig dicho-
tomisch geteilte, alle ziemlich gleich lange Äste.
Das Ganze hat bisweilen die Form eines großen
Fächers; der Stock ist zu zerbrechlich um im
Schleppnetz ganz zu bleiben, so daß nur Stücke
davon nach oben kommen; er stellt ein Röhren-
werk dar, dessen bald gerade, bald gebogene Äste,
wie bei einem Fächer am einen Ende ovale 5
bis 6 mm große, einander gegenüberliegende
Öffnungen haben. Das Skelett besteht aus drei-
achsigen Kieselnadeln, zwischen denen am freien
Ende zackige zerteiUe Spiculae liegen. Der
Schwamm wird von sehr zahlreichen Actinien be-
deckt, deren größte 4 mm breit war. Jetzt, nach
langem Aufenthalt in Alkohol, sehen sie aus wie
gräuliche Flecken auf dem braunen Schwamm;
ihre Form ist die einer wenig dicken Scheibe; das
. Peristom ist tief eingezogen, so daß kein einziger
Tentakel zu sehen ist. Das ganze Tier wird von
einer dicken Schicht von Fremdkörpern, größten-
teils Foraminiferen, bedeckt. Die Tentakeln, etwa
30, sind in zwei ringförmigen Reihen an-
geordnet.
4i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
Der Sphinkter ist mächtig entwickelt, die Fuß-
scheibe dagegen sehr reduziert. Aus dem Fehlen
von Nesselfäden und Muskeln in den Tentakeln
kann man schließen, daß die Actinie nur sehr
wenig und vor allem keine großen lebenden Tiere
fängt. Infolge ihres dicken Belags mit Foramini-
feren ist die Actinie schwer und rigid. Oberhalb
des Sphinkters kann sie offenbar nur in ganz be-
schränktem Maße Bewegungen ausführen. Höchst-
wahrscheinlich dienen ihr zur Nahrung verschiedene
Organismen, welche im Wasser in der Umgebung
des Schwammes suspendiert sind. Wie man weiß,
sind die Schwämme nur insofern aktiv, als sie das
umgebende Wasser in das Innere ihres Körpers
hineinstrudeln. Das Schmarotzertum der Actinie
beschränkt sich also auf einen Kominensalismus').
Die Actinie aber wird dem Schwamm dadurch
nützlich, daß sie ihn davor bewahrt von anderen
Lebewesen, wie z. B. von Moostierchen überkrustet
zu werden, denn dieselben könnten nämlich den
Schwamm allmählich so einschließen, daß seine
Gewebe nekrotisch würden, wogegen die kleinen
Actinien einen hinreichend großen Teil seiner
Oberfläche freilassen. Aus allem geht hervor, daß
der Schwamm nicht lediglich als Unterlage in Be-
tracht kommt, wie ja auch auf den abgestorbenen
Ästen sich keine Actinien mehr finden; ganz
allgemein beginnen sie sich dann zu lösen um sich
auf anderen lebenden Tieren, wie Mollusken oder
Crustaceen anzusiedeln. Der Schwamm seiner-
seits bietet der Actinie die gleichen Vorteile,
welche ein ortsveränderliches Tier hat, indem er
ihr stets frisches Wasser zuführt.
In den Verästelungen des Schwammes fand sich
eine neue Polychäte der Gattung Hermadion
Kinberg aus der Familie der Polynoidei; der Wurm
hält den Zugang zu den Gallerien des Schwammes
offen, deren Verstopfung für diesen verderblich sein
würde. Der festsitzende Wurm seinerseits genießt
den Vorteil eines ständig von zirkulierendem Wasser
durchströmten Verstecks.
Zusammenfassend kann man sagen, daß die
Hexactinellide zwei ganz verschiedenen Tieren ein
Obdach gewährt; das eine davon ist festsitzend
wie der Schwamm selbst und spielt die Rolle
eines äußeren Halbparasiten, dessen Schicksal eng
mit dem des Wirtstieres verknüpft ist; es wäre
dies die Actinie, während der andere, der Wurm,
immer nur zwischen den Asten des Schwammes
sitzt und unabhängiger vom Wirtstier ist als der
vorige. Die Vorteile, welche Actinie und Ringel-
wurm aus dieser heterogenen Vergesellschaftung
') Vom Parasitismus unterscheidet sich derselbe dadurch,
daß beide Tiere, Wirt und Parasit, ihre Nahrung von außen
beziehen; das eine benachteiligt das andere nur als Mit-
bewerber, aber nicht dadurch, daß es seine Nahrung aus dem
Körper des anderen zieht, wie sich bei dem Parasitismus der
Schmarotzer dem Wirtstiere gegenüber verhält.
ziehen, ist für beide von verschiedenem Wert.
Bei dem einen beruht er auf Gegenseitigkeit, bei
dem anderen ist er zwar nicht gleich groß, aber
der Ringelwurm hat doch seinen Nutzen von der
Symbiose. Jedenfalls ist aber der Nutzen für den
Ringelwurm und noch mehr für die Actinie größer
als der für den Schwamm. Kathariner.
Geologie. Beiträge zur Kenntnis des Rhät-
sandsteins im Schönbuch zwischen Stuttgart und
Tübingen gibt M. Brä u häuser in den Jahresber.
u. Mitteilungen des Oberrheinischen geologischen
Vereins, N. F. B. VI, 1916/17, H. 2.
Die oberste Stufe des Keupers, das Rhät, ist
mit einer weit ausholenden Transgression sowohl
in den Gebieten der alpinen wie auch der ger-
manischen Trias mit einer ähnlichen Fauna (Avi-
cula contorta usw.) zur Ablagerung gekommen.
In der germanischen Trias folgen auf die bis-
herigen Kontinentalablagerungen nunmehr marine
Schichten, die in den Jura überleiten. Bräu-
häuser's Untersuchungen haben ergeben, daß
die Umgrenzung der Rhätsandsteingebiete eine
ganz unregelmäßige ist und daß im mittleren
Schwaben ebenso wie im badisch-schweizerischen
Grenzgebiet die rhätischen Schichten durch oft
rasches Einsetzen oder unvermutetes Auskeilen
charakterisiert sind. Marine Fauna liegt im Schön-
buch in der Umgebung der Berge um Waiden-
buch, Steinenbronn und Echterdingen, die z. T.
dem weltberühmten Vorkommen von Nürtingen
am Fuße der Alb an die Seite treten können.
Im Verbände der feinkörnigen Rhätsandsteine und
nicht in der Grenzebene von Rhät und Lias
kommen eine oder mehrere Knochentrümmer
führende Lagen („Bonebed") vielfach zusammen
mit großen Gerollen vor.
Der Rhätsandstein ist eine fremdartige Bildung
über den bisher germanisch entwickelten Trias-
schichten. Er ist die Ablagerung des nun auch
in Deutschland eingebrochenen offenen Welt-
meeres, das in den Alpen und fernen außeralpinen
Gebieten mit einer ähnlichen Lebewelt auftritt.
Die Rhätfauna weist mancherlei Beziehungen zu
der darüber folgenden Liasfauna auf (Präkursor-
fauna). Auf der anderen Seite lassen vor allem
die Ammoniten des Rhäts noch engere Zusammen-
hänge mit der marinen Fauna der vorangegangenen
Triaszeit erkennen. Auf die Auswertung der Fauna
darf man mit Recht gespannt sein.
Die Annahme gelegentlicher Wiederaufarbei-
tung und Umlagerung schon zu rhätischer Zeit ab-
gesetzt gewesener Sedimente zu Beginn der Lias-
bildung hilft über mancherlei Schwierigkeiten der
Abgrenzung und der Deutung von Einzelheiten
in den schwäbischen Profilen hinweg.
V. Hohenstein.
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Bücherbesprechungen.
Die Chemie im täglichen Leben. Gemeinver-
ständliche Vorträge von Prof. Dr. Lassar- Cohn,
Königsberg i. Pr. Achte verbesserte Auflage,
mit 23 Abbild, im Text. Leipzig 1916,
Leopold Voß. — Preis 4,80 M.
Wie der Verfasser im Vorwort bemerkt, liegen
nunmehr von diesem bekannten Buch Über-
setzungen vor ins Englische, Finnische, Französische,
Hebräische, Italienische, Polnische, Portugiesische,
Russische, Schwedische, Serbische, Spanische und
Tschechische. Außerdem ist das Werk in deutsche
Blindenschrift übertragen und in Newyork erschien
ein Nachdruck mit englischen Anmerkungen, um
als deutsches Lesebuch in englichen Schulen zu
dienen. Dieser gewaltige Erfolg ist im höchsten
Maße erfreulich, zeigt er doch, daß ganz allgemein
der Wunsch im Publikum besteht, sich mit den
Dingen des täglichen Lebens etwas ernsthafter
zu beschäftigen, als es lange Zeit der Fall war. —
An populärer naturwissenschaftlicher Literatur
herrscht ja kein Mangel, aber meistens beschäftigen
sich derartige Bücher mit biologischteleologischen
P'ragen, die in der Mehrzahl nicht von Gelehrten,
sondern von Schriftstellern vorgetragen werden,
denen es im Grunde genommen mehr um die
F^orm als um den Inhalt zu tun ist. Die Folge
davon ist — abgesehen von der Wiedergabe von
Unrichtigkeiten — Hervorkehren „aktueller" Hy-
pothesen, was für besonders reizvoll gehalten wird,
und eine Darstellungsweise, die sich möglichst
eng an feuilletonistische Darbietungen anlehnt.
In den Kreisen der Gelehrten betrachtet man
darum vielfach die sogenannte populäre natur-
wissenschaftliche Literatur recht skeptisch, ohne
zu bedenken, daß dem Mangel abzuhelfen wäre,
wenn die Gelehrten selbst das Popularisieren in
die Hand nehmen würden. Ref führt den Erfolg
des vorliegenden Buches — abgesehen von der
klaren und fließenden Darstellungsweise — nicht
zum wenigsten darauf zurück, daß das Laien-
publikum instinktiv die Überlegenheit des Autors
merkt, der den Leser auf jeder Seile fühlen läßt,
daß er den Stoft' durchaus beherrscht. — Von der
Reichhaltigkeit des verarbeiteten Stoftes zeugt ein
Blick in das Sachregister; wir werden über das
„Abschäumen der Suppe", über „Anästhetika",
„Baumwollfärberei", „Beefsteakfieisch", die „Camera
obscura", „Chilisalpeter" ebenso belehrt wie über
„Eisenbahnschienen", „Explosivstoffe", „flüssige
Luft" und „Fußbekleidung". Die „Gärung", das
„Glas", „Hämmern des Eisens", „Holz" und „Jodo-
form" werden dem Leser vorgeführt wie die
„Kartoffeln", das „Kokain", die „Lichtputzschere"
und der „Madeira". Der „Nährwert des Alkohols",
das „Opium" und „Porzellan", das „Rosten des-
Eisens", die „Seidenfärberei", der „Speck" und der
„Stallmist" geben dem Verfasser Veranlassung,
chemische Kenntnisse zu verbreiten wie der „Torf",
das „Viehfutter", der „Weizen" und die „Zucker-
krankheit". — In der neuen Auflage ist der, Zucker-
krankheit und ihrer Behandlung eine ganz besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Verf , der selbst zucker-
krank ist, hat mit seiner Methode sehr günstige
Erfolge an sich erzielt und darum glaubt er
seinen Leidensgenossen seine Erfahrungen nicht vor-
enthalten zu sollen. Verf neigt der Ansicht
zu, „daß es sich bei Zuckerkranken um einen in
ihrer Blutbahn kreisenden Stoff handelt, der die
Nieren veranlaßt, Zucker mit dem Harn zusammen
durchtreten zu lassen". Im Auftreten von Durst
sieht er „eine Selbsthilfe der Natur" und abgesehen
von einer gewissen Einschränkung von Kohle-
hydrat armer Kost wird eine Wirkung erzielt
durch „eine Art von Dauertrinkkur". Jede wässerige
Flüssigkeit, die nichts enthält, was dem Pflanzen-
reich entstammt, ist für diese Trinkkur geeignet.
Verf empfiehlt seine Kur, die eine Ergänzung der
Roiloschen Diät darstellt, allen Zuckerkranken,
denen es ihr Arzt erlaubt. Wächter.
Fr. Frech, Geologie Kleinasiens im Be-
reich der Bagdadbahn (Ergebnisse eigener
Reisen, vergleichender Studien und paläonto-
logischer Untersuchungen). Aus: Zeitschr. d.
deutsch, geol. Ges. Bd. 68, Berlin 1916, als
Sonderdruck bei F. Enke-Stuttgart m. 20 palä-
ontol. Tafeln, 3 geolog. Karten, i Profil, 5 Text-
bildern. — 20,20 M.
Die Aufmerksamkeit des ganzen deutschen
Volkes ist in erhöhtem Maße auf die Entwicklung
all der starken natürlichen Kräfte unseres wackeren
türkischen Bundesgenossen gelenkt worden. Die
vielen ungehobenen Bodenschätze und ihre Zu-
kunft stehen dabei mit in erster Linie. Mehr als eine
Zusammenfassung ist darüber erschienen. In dem
hier angezeigten Werke aber handelt es sich um
weniger und um mehr: Die praktisch bergbau-
lichen Fragen treten bewußt ein wenig zurück
hinter der Erfassung des ganzen geologischen
Gebäudes der kleinasiatischen Halbinsel. Es ist
das Ergebnis mehrerer Reisen und ihrer Auswertung
unter rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten.
Eine geologische Übersichtskarte zieht das Fazit
aus den Untersuchungen des Verfassers. Die letzte
der Expeditionen wurde im Auftrage der Bagdad-
bahn unternommen, die auch mit dieser Förde-
rung der Forschung ihrem Wesen als Kulturpionier
treu geblieben ist.
Vielleicht, daß die plötzlich gesteigerte Be-
deutung des Themas für die Allgemeinheit die
Arbeit zu etwas beschleunigtem Abschluß gebracht
hat? Gewisse Unausgeglichenheiten scheinen dar-
auf hinzuweisen : Die Ausführungen auf S. 82/83
über „die Frage des Erdbebenschutzes von Ge-
bäuden und Eisenbahnbauten" wiederholen sich
wörtlich auf S. 1 89/191. Eine Zahl schwerwiegen-
der Einwände in geographisch-geologischem Sinne
ist von einem solchen Kenner des Landes wie
Philippson in einem späteren Heft der gleichen
420
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
Zeitschrift erschienen, gegen die sich freilich der
Verfasser großenteils erfolgreich (wenn auch in
bedauerlicher Gereiztheit) zu wehren vermochte;
gleichzeitig geht Oppenheim gegen gewisse
Ergebnisse paläontologisch-stratigraphischer Art
an, auf die der Verf. gerade besonderen Wert ge-
legt zu haben scheint, und in diesem Falle dürfte
die Verteidigung recht schwierig sein.
Selbst in der Disposition des Ganzen herrscht
aber nicht immer wünschenswerte Klarheit. Ab-
schnitt I behandelt den Gebirgsbau von Anatolien
und zwar in Schilderungen einzelner Beobachtungs-
abschnitte. Demgegenüber ist Abschnitt II eine
zusammenfassende Übersicht über „den Gebirgsbau
Kleinasiens" nach geographischen Bezirken nebst
Hinblicken auf Nachbarländer, insbesondere Hellas.
Hier wie dort sind dem Tauros bestimmte Kapitel
gewidmet, der nunmehr aber nicht alsTeil von Anato-
lien sondern als ihm gleichgeordnet erscheint, so daß
das begriffliche Verhältnis von Anatolien und Klein-
asien in dauernd wechselnder Beleuchtung auftritt,
ohne dabei an Klarheit zu gewinnen. Wiederholun-
gen waren so nicht ganz zu vermeiden. Abschnitt
III und IV sind sodann historisch angelegt, und zwar
wird das Fossilmaierial aus dem Tauros und seine
paläogeographische Bedeutung für Silur-Devon,
Karbon und Kreide gesondert beschrieben, sowie
zum Schluß eine Erdgeschichte der Halbinsel (die
nun aber wieder Anatolien heißt) nach geologischen
Zeiten getrennt geliefert, womit sich aber wieder
die Einführung zu Abschnitt III mindestens dem
Thema nach deckt. Der Leser verliert so ein
wenig die Übersicht, wo er Einzelheiten noch
einmal nachzuschlagen hat. Kulturgeschichtliche
Beobachtungen und Meinungsäußerungen von
großem Interesse sind hier und da eingestreut,
schweifen aber zuweilen vom geraden Pfade des
Themas ab.
Es bedarf des Hinweises kaum, daß das
Frech 'sehe Werk als Materialsammlung und
durch zahlreiche wichtige Anregungen bedeutenden
Wert besitzt und bei der ferneren Durchforschung
Kleinasiens als nicht zu umgehender Ratgeber
dienen wird. Eine auch theoretisch höchst wichtige
Neu-Erfahrung wäre das ungestörte Übergehen
stark gefalteter Schichten in horizontal gelagerte
nach oben hin innerhalb der Oberkreideschichten
am Berge Kessek oberhalb der Tschakii-Schlucht.
Es würden also nach der Frech 'sehen Darstellung
unter Umständen gebirgsbildende Kräfte die unteren
Lagen zusammenpressen, die oberen aber lediglich
zu heben vermögen. Zweifellos ist das ein zu-
nächst schwer vorstellbarer Vorgang. Aber die
Faltengebirgs-Tektonik hat unserer Vorstellungs-
kraft ja schon ganz andere Aufgaben gestellt 1
Immerhin sind eingehendere Beobachtungen natür-
lich abzuwarten. Das Problem könnte mit dem
anderen, paläontologischen im Zusammenhange zu
erfassen sein, wonach die Seeigelgattung Clypeaster,
die für tertiäre Schichten überaus charakteristisch
ist, an jenem Berge bereits in der Oberkreide
auftreten solle. Nach den erwähnten Oppenheim-
schen Einwänden muß doch damit gerechnet
werden, daß wir es auch hier mit echtem Tertiär
zu tun haben; dann aber könnte auch jene auf-
fallende Lagerung auf andere Weise eine Auf-
klärung finden.
In der Legende zur geologischen Karte ist bei
„Serpentin" zu ergänzen: „Granit im Norden und
Zentrum" (S. 309, Fußnote i). Freilich bleibt
auch dann eine einheitliche Farbengebung für
genetisch und zeitlich so grundsätzlich verschiedene
Massengesteine nichts weniger als glücklich.
Edw. Hennig.
CG. Calwer's Käferbuch, Naturgeschichte
der Käfer Europas. Sechste, völlig um-
gearbeitete Auflage, herausgegeben von Camillo
Schaufuß. 2 Bände mit 1390 Seiten, 48 Tafeln
und 254 Textfiguren. Stuttgart, E. Schweizer-
bart'sche Verlagsbuchhandlung, Nägele und
Dr. Sproesser. 1916, Kostenpreis — 38 M.
Das stattliche Buch liegt nun fertig vor. Die
Literatur für die Coleopterologen und Käferfreunde
ist wieder um ein gutes Werk bereichert. Ein
solches Käferbuch fehlte uns in unseren Jugend-
jahren und später. Es zeichnet sich neben der
gewaltigen Beherrschung des systematischen Haupt-
teils besonders durch die reichlichen Mitteilungen
über die Lebensverhältnisse der Käferarten
aus, die aligemein willkommen sein werden. Zum
ersten Male ist das bionomische Material über
Käfer in diesem Umfange gesammelt und der
Öffentlichkeit mitgeteilt. Wer da weiß, wie zer-
streut in der Literatur die immerhin zahlreichen
Angaben über die Bionomie der vielen Käferarten
sind, der wird die große Sachkenntnis und die
Emsigkeit des Verfassers im Zusammentragen
dieser in langer Zeit von Hunderten von Beobachtern
gewonnenen Kenntnisse bewundern.
Die außerordentlich fleißige Bearbeitung der
Bionomie der Käfer, die durch alle Gattungen,
soweit sie in dieser Beziehung erforscht sind, durch-
geführt ist, erscheint als der Eckstein, an dem wir
dieses Käferbuch ganz besonders schätzen. Wir
erkennen dabei, wie viel schon bekannt, wie außer-
ordentlich viel aber noch unbekannt ist, und daß
für neue Jünger stiller Beobachtung intimster
Vorgänge in der Kleintierwelt noch ein weites
P"eld unbekannter Lebensgeheimnisse vorliegt und
noch viel zu erforschen ist.
Der allgemeine Teil des Werkes umfaßt von
S. 7~'5'4 die Kapitel „über den Körperbau", „über
die Entwicklung", „über die Lebensweise" (Fort-
pflanzung, Ernährung, Klima, Bodenbeschaffenheit
und sonstige örtliche Verhältnisse, Selbsterhaltungs-
trieb, Schutzsuchen vor Feinden, geographische
Verbreitung), „Fang und Zucht", „Bestimmen
und Ordnen", „Kauf, Tausch und Versand".
Den größten Raum beansprucht selbst-
verständlich der systematische Teil. Am Kopfe
der einzelnen P'amilien befindet sich je eine
tabellarische Übersicht zum Bestimmen der Gruppen.
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
421
Darauf folgen die Übersichten der Gattungen mit
einem Bestimmungsschlüssel.
Bei der Einteilung der Käfer in die großen
Familiengruppen hätte der Herr Verfasser sich an
mein System der Käfer anlehnen können, wie das
in vorbildlicher Weise Reitter in seiner eben
abgeschlossenen „Fauna Germanica. Die Käfer
des Deutschen Reiches" getan hat. Dem Werte
des Schaufuß'schen Werkes an sich schadet diese
Unterlassung allerdings nicht.
Die meisten Arten Nord- und Mitteleuropas
und manche südeuropäische sind beschrieben.
Alle europäischen und noch andere Arten des
paläarktischen Gebietes sind aufgezählt. Nicht
alle Arten, besonders nicht die zahlreichen kleinsten
Staphyliniden und noch verschiedene andere,
konnten aufgeführt und beschrieben werden, wegen
des mangelnden Raumes. Die geographische Ver-
breitung und Angaben über die Verwandlungs-
stadien sind eingehend berücksichtigt. Ebenso
ist das Vorkommen nebst der Erscheinungszeit
angemerkt. Wichtige und wissenschaftlich wert-
volle Lebensverhältnisse sind in dem beschrei-
benden Teile z. T. eingehend behandelt. Das
gilt besonders von den myrmekophilen Käfern. Die
angeblich parthenogenetisch sich fortpflanzenden
Käfer sind angeführt, dann die heliotropen und
heliofugen Gattungen, auch die im Wasser lebenden
Rüsselkäfer {Hydroiiumiis, Lifodaciyiis, Phylohiits,
E/iiiryc/ii/is 7'rlafiis), von denen der letztere tauchen
und schwimmen kann.
Die Tomiciden (Borkenkäfer), für die der Verf
den verwirrenden Namen „Jpiden", nach dem Vor-
schlage hypermoderner Entomologen, einführt, sind
recht vielseitig bearbeitet, besonders inbionomischer
Beziehung. Die neuzeitlichen Forschungen über
die noch ungenau und unklar bekannte Pilz-
nahrung der „Holzbrüter" sind hinsichtlich der
verschiedenen Standpunkte der Forscher einer
allseitigen Betrachtung gewürdigt.
Die Bru tpflege im weiteren Sinne ist vom
Verf. nach dem Vorgange des Rezensenten be-
handelt. Die providente Brutpflege bei den Tomi-
ciden (.Anlage von Ei-Nischen) und die besonders
ausgebildete Brutpflege der Rhynchitiden usw. sind
auf S. 1032 — 1033 behandelt. Auf die parentelle
Brutpflege ist S. 887 hingewiesen. Die Gattung
//iv?'/'('/>//////5 (Brutpflege S. 15) ist mit dem weniger
guten Namen /fvdra/is bezeichnet. Seit alter Zeit
in der Schul- und Lehrliteratur, auch in der
Gelehrten- und populären Literatur gebräuchliche
und von alters her eingebürgerte Tier- und Pflanzen-
namen sollten aus pädagogischen und aus Gründen
der Pietät und Nützlichkeit beibehalten werden.
Die neueste wissenschaftliche Literatur ist
vollständig verwertet, so daß das Werk den
wissenschaftlichen Standpunkt der gegenwärtigen
Käferkunde vertritt. Dagegen fehlen bei den
Gattungen und Arten die Literaturangaben, die
das Buch sonst zu umfangreich werden ließen.
Ein weises Bestreben zeigt deutlich, daß der von
dem reichen Stoffe ausgehende Trieb nach Aus-
dehnung möglichst oft zurückgedrängt wurde.
Dennoch ist es recht dickleibig geworden; denn
es umfaßt 1390 Seiten.
Die vielen bionomischen Angaben sind es vor-
nehmlich, die das Buch als Nachschlagewerk sehr
nützlich machen.
Es ist ein sehr gutes Lehrbuch der Käferkunde
in des Wortes bester Bedeutung geworden. Sein
gründlicher und vielseitiger Inhalt, in Verbindung
mit der reichen Illustrierung macht es zu einem
Werke, welches jeder Käferkundige, nicht nur der
Anfänger, gebrauchen sollte. Es ist nicht nur für
Laien, sondern auch für Entomologen und auch
für jene geschrieben, welche es zu gelegentlicher
Belehrung benutzen wollen. Gegenüber den
früheren Ausgaben des Calwer ist dieses neueste
Werk reichhaltiger und wissenschaftlicher aus-
gearbeitet. Der neueste „Calwer" ist in Wahr-
heit eine Naturgeschichte der Käfer, wie auch auf
dem Titelblatt angegeben ist; ein Lehrbuch und
zugleich ein Buch zum Bestimmen der Käfer der
näheren und entfernteren Heimat, mit Hinweisen
auf alle europäischen Gattungen und Arten. Wer
es benutzt, kann aus einem Sammler ein Beobachter
und Forscher werden. Professor H. Kolbe.
Kobert, R., Prof. Dr., Über die Benutzung
von Blut als Zusatz zu Nahrungs-
mitteln. Ein Mahnwort zur Kriegszeit.
4. wiederum vermehrte und zeitgemäß umge-
arbeitete Auflage. Stuttgart 191 7, F. Enke. —
3 M.
Das Büchlein des Rostocker Pharmakologen
ist in der gegenwärtigen Zeit der Revision unserer
Ernährungsbegriffe sehr verdienstlich, enthält aber
über diese ephemeren Ziele hinausgreifend, auch
so viel allgemein interessantes und ist zudem so
lebhaft und fesselnd geschrieben , daß es eine
nachdrückliche Pimpfehlung verdient. Der Verf.
macht höchst energische Propaganda für möglichst
umfängliche Verwertung des Blutes zur mensch-
lichen Ernährung, sammelt dazu ein großes
Material, widerlegt Einwände, klärt über Nährwert,
Zusammensetzung des Blutes auf und gibt vor
allem Anleitungen und Anregungen zu einer
möglichst vernünftigen Verwendung dieses wert-
vollen Nahrungsmittels an. Man muß ihm grund-
sätzlich beipflichten. Der Standpunkt, Nahrungs-
mittel nicht in erster Linie nach dem Nährwert
und selbstverständlich auch nach Geschmack und
Geruch zu beurteilen und zu wählen, sondern
allerhand andere unklare, ja abergläubische Ein-
flüsse mitwirken zu lassen, ist eines gebildeten
Menschen nicht würdig. Nun, der Krieg hat
manchen erzogen, dem die eigentlich zu jeder
richtigen Erziehung gehörige Essensdisziplin ge-
fehlt hat; wir essen jetzt endlich auch mehr mit
dem Verstände und — müssen es. Daß das Buch
während des Krieges schon vier Auflagen erlebt
hat, zeigt, auf ein wie großes allgemeines Interesse
422
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
die Erörterung solcher F"ragen stößt. Zu wünschen scheint es noch sehr zu hapern, so daß wohl die
wäre allerdings, daß man auch etwas mehr von meisten trotz guten Willens gar keine Gelegenheit
den Anwendungen des Blutes und von den Blut- haben, ihn auch in die Tat umzusetzen. (G.C.)
Präparaten in der Praxis zu sehen bekäme, da Miehe.
Anregungen und Antworten.
Literatur.
dem
.587-
-424
Die folgende Liter aturli
der „Naturw. Wochenschr." erschienenen Aufsatz von
Dr. Lenk „Slützeewebe und Integumente der Tiere" konnte
leider wegen verspäteten Eingangs dem genannten .Aufsatz
nicht angefügt werden. Da sie aber gewiß für viele Leser
Interesse besitzt, sei sie hier nachträglich mitgeteilt.
Die Redaktion.
1. O. V. Fürth, Vergleichende chemische Physiologie der
niederen Tiere. Jena 1903, 44X — 490.
2. C. Fr. \V. Kruk enb erg, Grundzüge einer vergleichenden
Physiologie der tierischen Gerüstsubstanzen. Vgl.
physiol. Vorträge, Heft IV, 184— 269 (1886).
E. D r e c h s c 1 , Hermann's Handb. d. Physiologie, Vll
Leipzig 1883.
3. L. Rhumbler, Zeitschr. wiss. Zool. 61 (1896).
4. Bütschli, Zool. Anz. 30, 7S4 — 789 (1906).
5. E. Harnack, Zeitschr. physiol. Chemie, 24, 412-
(1898).
6. P. Friedländer, Ber. d. deutsch, ehem. Ges. 42, 765
{1909); Monatsh. f. Chemie 30, 247 (1909).
7. H. L. Wheeler u. L. B. Mendel, Journ. of biol. Chem.
7, I (1909).
8. M. Henze, Zeitschr. f. physiol. Chemie 51, 64(1907).
C. T. Mörner, Zeitschr. f. physiol. Chemie 51, 33 (1907).
H. L. W h e e 1 e r u. G. S. J a m e s o n , Amer. Chem. Journ.
34, 365 (1905); Biochem. Zentralbl. 4, 251 (1905/06).
9. C. Th. Mörner, Zeitschr. f. physiol. Chemie 51, 33— 62
(1907); 55. 77-83 (1908); 55, 223-235 (1908).
10. W. Lindemann, Zeitschr. Biol. 39, 18 — 36 (1900).
11. O. V. Fürth u. E. Lenk, Biochem. Zeitschr. 33, 341
(191 1); Wiener klin. Wochenschr. Nr. 30 (1911).
12. O. Schmiedeberg, Mitteil, aus d. zool. Station zu
Neapel 111 373—392 (18S2).
13. G. u. H. Harley, Proz. Roy. Soc. 43, 461 (1888).
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G. Zemplen, Biochem. Handlexikon 2, 527 — 536 (1911).
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Mathem.-naturw. Kl. HO Abt. IIb Dez. (1901).
Th. R. Off er, Biochem. Zeitschr. 7, 117 (1907).
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(1907).
20. E. Winterstein, Ber. d. deutsch, chem. Ges. 26, 362
(1893); Zeitschr. physiol. Chemie 18, 43 (1893).
21. E. Abderhalden u. G. Zeraplen, Zeitschr. f. physiol.
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23. C. Oppenheimer, Handb. d. Biochemie des Menschen
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(1910).
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M. Tanaka, Biochem. Zeitschr. 35, 113 (1911).
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Zähne: II. Aron, Handb. d. Biochemie 2 11, 178—212
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27. J. A, Schabad, Arch. f. Kinderheilkunde 52, 47 (1909).
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M. Samec, Biochem. Zeitschr. 17, 235
28. C. Catta
29. Th. Gafii
30. F. Hofm(
W. Pauli
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31. O. Klotz, Journ. of e.xperira. Med. 7, 633 (1905).
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Stoeltzner, Pathol. u. Therapie d. Rachitis, Berlin 1904,
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Pfaundler-Schloßraann, Rachitis 1910, 2. Aufl.
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Arch. f. Kinderh. 1901, Bd. 31.
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33. Literatur über den Mineralstoffwechsel bei Rachitis
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34. Meinhard Pfaundler, Jahrb. f. Kinderheilk. 60, 123
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35. H. Aron u. Seebauer: ß'iochem. Zeitschr. 8, I (1907);
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Arbeiten aus dem pathol. Inst. Tübingen
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Crohnheim u. F. Müller, Jahrb. f. Kinderheilk. 57,
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37. C. Voit, Forster u. Erwin Voit, Lehmann,
König, Baginsky, Rohloff, Aron u. Seebauer,
Stöltzner, Pfiüger's Arch. 122, 509 (1908) usw.
38. Heitzmann, Baginsky, Weiske, Caspari,
Götting, Virchow's Arch. 197, I (1909) usw.
39. Literatur über kalkarme und säurereiche Ernährung:
H. Aron, Handb. d. Biochemie 2, II 195—202 (1909).
Stöltzner, Pathol. u. Therapie der Rachitis. Berlin ( 1 904).
40. Vgl. Lehnerdt: Ergebnisse d. inn. Med. 6, 120 (19101.
41. F. V. Reckling hausen, Untersuchungen über Rachitis
und Osteomalacie. Verlag Gustav Fischer, Jena 1910.
42. Literatur über den Einfluß der Kastration auf den
Stoffwechsel: A. Magnus Levy, Noorden's Handb.
d. Pathol, d. Stoffwechsels I, 415 — 423 (1906).
43. E. Bircher, Arch. f. klin. Chir. 91, 554 (1910).
44. Literatur über Exstirpation der Hypophyse: A. Biedl;
Innere Sekretion 290—295 (1910).
I. Mor.iwski, Zeitschr. f. Neurol. u. Psychiatrie 7, 207
,19..).
N. F. XVI. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45. M. Sternberg, Die Akromegalie. Nothnagel's Hand-
buch 1897.
L. Borchhardl, Funktion und funktionelle Erkrankungen
der Hypophyse. Ergebn. d. inner. Med. 3, 2SS ( 1909)-
R. Hirsch, Handb. d. Biochemie 3,1, 340—343(1910).
E. Münzer (Sammelreferat), Berl. klin. Wochenschr. 47,
342, 392 (1912).
A. Biedl, Innere Sekretion 303—315 (1910).
46. J. Hochenegg, 37. Kongr. d. Ges. f. Chir. 80 (1908);
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Stumme, Arch. f. klin. Chirurgie 87, 437 (1908).
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47. Arthur Schiff, Zeitschr. f. klin. Med. 32, Suppl. (18971 ;
vgl. auch V. H. Thompson and H. M. Johnston,
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48. Vgl. J. A. Schabad, Zeitschr. f. klin. Med. 68, 94 (19091.
Birk, Monatschr. f. Kinderheilk. 7, 450 ligoSj.
49. Sc hau mann, 4. Tagung d. deutsch, tropenmed. Ges.
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Y. Ternuechi (Tokio), Zentralbl. f d. ges. Biol. 12,
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50. Literatur über Leim- und Gelatinefabrikation:
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Verlag A. Hartlcben, Wien u. Leipzig 1906, 4. Aull.
Dr. L. Thiele, Die Fabrikation von Leim und Gelatine.
Verlag Dr. Max Jänickc. Hannover 1907.
Victor Cambon, Fabrication des Collcs animales.
H. Dunod .>i E. Pinaut. Paris 1907.
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Verlag Fr. Vieweg & Sohn. Braunschweig 1906/7.
51. Literatur über die Chemie des Knorpelgewebes:
H. Aron, Handb. d. Biochemie 2, II, 212—219 (1909).
52. C. Th. Morner, Skandin. Arch. f. Physiol. I, 210 (1889),
Zeitschr. f. physiol. Chemie 12, 396(18881 ; 20,356(1894);
Jahresb. f. Tierchemie 24, 402 (18941.
O. Schmiedeberg, Arch. f. exper. Pathol. 28,355 (1891).
53. K. Kondo, Biochem. Zeitschr. 26, 116 (1910).
Pons, Arch. Internat, de Physiol. S, 393 (1909).
i;4. Literatur über die Chemie des Bindegewebes:
Hans Aron, Handbuch der Biochemie 11,2, 2 1 7 ff.
55. Literatur über die Chemie der Zähne : ebenda S. 2f>7fT.
56. Literatur über die Chemie der Haut und ihrer Gebilde :
ebenda S. 219 ff.
57. Literatur über die Chemie der Haare: ebenda S, 222 f.
Zur Bestimmung freilebend beobachteter deutscher Vögel
ist Floericke's „Taschcnbucn zum Vogelbestimraen", Stuttgart,
Franck'scher Veilag, das Gegebene. Es behandelt die Stimmen
der Vögel zwar weniger vollständig als das von Ihnen bereits
erwähnte Voigt'sche Buch berücksichtigt, aber um so vielseitiger
auch die Kennzeichen im Aussehen, Gebahren, Flugbild,
sowie die der Eier und der Spuren. Für Haartiere ist
vielleicht am besten das Büchlein von Henning „Die Säuge-
tiere Deutschlands", Leipzig, Ouelle und Mayer, zu verwenden;
für Kriechtiere und Lurche das Buch von D übrigen, für
Fische B. Hofer 's Werke, für Wassertiere ferner Lampe rt,
„Das Leben der Binnengewässer"; Kerbtiere werden am ehesten
in „Brehms Tierleben" in dem gewünschten Sinne behandelt,
welches Werk, 4. Aufl., natürlich auch für die anderen Tier-
klassen verwendet werden kann. Über Fährten gibt Riesen-
thal's Jagdlexikon Auskunft.
Trepanation alter Schädel. Vielleicht interessiert die folgende
Mitteilung, die sich auf den Aufsatz: Eine prähistorische
Operation, in Nr. 17 der Naturw. Wochenschr. bezieht. Vor
einer Reihe von Jahren habe ich für die Eichstätter Lyzeal-
sammlung aus dem germanischen Reihengräberfeld bei
Kipfenberg an der Altmühl eine Serie von 33 Schädeln, auch
einige Skelette, erworben. Das Gräberfeld liegt am Fuße
des romantischen Michelsberges mit seiner prähistorischen,
teilweise auch historischen Befestigung; die Gräber stammen,
wie die Beigaben beweisen, aus der Merowingerzeit, also aus
dem 6. bis 7. Jahrhundert n. Chr. Zwei von den Schädeln
nun sind ebenfalls trepaniert und zwar entweder nach dem
Tode der Besitzer oder unter Todesfolge, denn Reaktionsspuren
sind am Knochen absolut nicht sichtbar. Die beiden Löcher
sitzen an fast i d e n t i s c h e n S t e 1 1 e n der Schädel, an jedem
Schädel eines, nämlich in der Ecke des rechten Scheitelbeins
zwischen der Krön- und Pfeilnaht, und sind auffallend
klein. Das eine, am Schädel Nr. i der Sammlung, 43 der
Gräberreihenfolge, hat einen Durchmesser von 7 : 6 mm, das
zweite am Schädel Nr. 2, Grabnummer 51, gar nur von 4 mm.
Die Knochenränder sind beim zweiten glatt, beim ersten etwas
rauh und nach innen leicht konisch verjüngt, jedesmal ohne
Sprünge. Die betr. Personen waren bejahrt, wenigstens sind
die am zweiten Kopf vorhandenen Zähne des Oberkiefers
stark abgekaut. Die beiden Köpfe sind typische Langschädel
mit 71,42 und 73,40 Längenbreitenindex. An der ganzen
Schädelserie zeigt sich derselbe Vorgang, den v. Ranke an
Lindauer Schädeln konstatierte. Während die jetzige Be-
völkerung der Gegend sehr überwiegend kurzköpfig ist, hatten
die Germanen des Kipfenberger Reihengräberfeldes fast nur
Langschädel. 21 unter den 33 waren dolichocephal , also
Ö3.63°'o' 9 mesocephal und bloß 3 brachycephal, darunter
I eigentlicher Rundkopf mit 91,43 Index. Zwei Langschädel
maß ich mit dem Indices 66,5 (197 ; 131 mm) und 66,66
(180:120 mm). Schaltknochen in den Nähten sind häufig.
Prof. Dr. Schwertschlager, Eichstätt.
Wie Herr Oberlehrer Dr. Quehl in Berlin-Karlshorst
mitteilt, ist ein empfehlenswertes Buch über die makrosko-
pische Anatomie der Wirbeltiere auch P. Rö seier und
H. Laraprecht. Handbuch für Biologische Übungen. Berlin
1914, J. Springer.
Nochmals der Sang der Unsichtbaren im Föhrenwalde.
Herr Professor v. Reichenau beschreibt in Nr. II S. 144
der Naturw. Wochenschr. von 1917 sehr richtig das in Kiefern-
wäldern hörbare und jedem aufmerksamen Naturforscher und
Naturfreunde bekannte , eigentümliche Geräusch (Waldes-
rauschen) und nennt es „den Sang der Unsichtbaren".
Die Tatsache ist unbestritten, doch irrt Herr Professor
V. Reichenau in der Deutung. Er schreibt dieses leise
Tönen und Summen der Tätigkeit der Syrphiden zu; doch
mit Unrecht. Diese Dipteren sind sicher daran unschuldig.
Es handelt sich nämlich in diesem Fall um das ganz
spezifische Geräusch, das der Wind in den Nadeln der Kiefer,
Pinus silvestris L. und zwar nur und ausschließlich in
dieser hervorruft. Dieses eigentümliche und höchst charakte-
ristische Rauschen ist weder im Laubwalde noch in anderen
Nadelwäldern, also auch nicht im Fichten-, Tannen- oder
Lärchenwäldern warnehmbar. Diese Tatsache ist jedem Be-
obachter bekannt, der aufmerksam und liebevoll auf die
Stimmen des Waldes achtet 1
Zum Zustandekommen dieses Geräusches ist auch gar
nicht eine Mehrzahl von Bäumen, also ein Wald, notwendig;
selbst eine einzelne ,,auf stolzer Höhe" stehende Kiefer macht
diese eigentümliche Musik, die mit zu- und abnehmender
Windstärke lauter oder leiser ertönt.
So beschreibt auch Herr v. Reichenau vollkommen
zutreft'end die Gehörsempfindung, die mau im Kiefern walde
bei einem herannahenden Windzug wahrnimmt; gerade daran
kann man aber erkennen , daß der Wind das Rauschen
hervorruft und nicht die Syrphiden , deren Summen sicher
nicht so weit hörbar sein dürfte.
Auf welche Weise der Luftzug dieses Tönen in den
Kiefernadeln bewirkt, ist mir unbekannt. Es könnte sich
entweder um Reibung der langen Nadeln (deren Länge war-
scheinlich maßgebend ist) aneinander handeln, die dann bei
ihrer harzigen Oberfläche in der Art eines Violinbogens
wirken würden, und das scheint mir das Wahrscheinlichere,
oder es würde sich um die Reibung der Luft bei ihrem
Durchgang zwischen den scharfen, kantigen Nadeln der Kiefer
handeln. Für die erstere Annahme spricht auch die Tatsache,
daß diese zarte und liebliche Naturmusik bei keinem anderen
Nadelholz hörbar ist.
424
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 30
Syrphiden aber gibt es genug in jedem Walde. Weiterhin
ist zu bemerken, dafi dieses Phänomen im Sommer wie im
Winter, am Tage sowie in der Nacht zu beobachten ist,
mithin auch zu Zeiten, in denen es weder Syrphiden noch
andere musizierende Insekten gibt, und zwar genau in der-
selben Weise, wie es von Herrn Prof. v. Reichenau durch-
aus richtig beschrieben worden ist.
Richard Hilbert-Sensburg, z. Z. im Felde.
Ein Wünschelruten- Jubiläum. Die Ausführungen von
Prof.lidw. Hennig übe/ die Wünschelrute in Nr. 19
der „Naturw. Wochenschr." rechtfertigen vielleicht eine Er-
innerung daran, daß vor gerade 100 Jahren der wunderlichen
Erscheinung des Rutengehens eine ähnliche Fürsprache zuteil
geworden ist. Damals erschien (als „neue wohlfeile Ausgabe")
eine Übersetzung des Werkes der Frau von Genlis
„Botanique hislorique et liiteraire" von Dr. K. J. Stang
(Bamberg und Würzburg 1S17), in der es Teil I, S. 320 hcil3t;
„Man spottet über die Wünschelruthe und über die
Thorheit und Lächerlichkeit des Glaubens daran, und hat
auch vollkommen recht. Unterdessen hat sie dennoch zu
allen Zeiten, zur Schande der Wissenschaft, Beschützer und
Vertheidiger, selbst unter den Gelehrten, gefunden; denn alles
wird mißbraucht, die Wissenschaft so gut, wie alles übrige."
Hierzu nun macht der Übersetzer folgende Fußnote:
„Die Verf. theilt es mit so Vielen, diesem Gegenstande
nur eine Ansicht von dieser Seite abgewinnen zu können,
und in demselben nur Betrug und Charlatanerie, Aberglauben
und Selbsttäuschung, lächerliche Sonderbarkeit und Träumerey
zu erblicken. Schon darum, daß alle diese Dinge so häufig
bey ihm im Spiele sind und waren, und ihn hauptsächlich
verrufen machten; so wie auch um der Furcht und Besorgnis
willen, sich durch ein Wort dafür als kurzsichtig und schwach
bloß zu geben, wird dieser Gegenstand noch lange verkannt
und anstößig bleiben, und noch lange eine unbefangene Be-
achtung desselben unmöglich seyn. Und doch wäre diese
nicht so schwer. Denn, auch abgesehen von so vielen
sprechenden Thatsachen hierinne, bedarf es zum glücklichen
Anfange nicht mehr, als des lebendigen Gedankens an das
organische Band, das die ganze Natur umschlingt, und alles
Besondere in ihr zur durchgängigen Wechselwirkung und
W'ahlverwandtschaft verknüpft. Dieser Gedanke muß den
Menschen gleichfalls nur unter diesem Gesetze, im innigsten
Wechselverbande mit allem ihn nahe oder fern Umgebenden,
im freundlichen oder feindlichen Verhältnisse, in höherem
oder minderem Grade der Wirkung und Gegenwirkung er-
blicken, und der geheime, unsichtbare Einfluß der Außendinge
auf den Menschen, und seine Empfänglichkeit dafür hat ihm
so wenig Befremdendes, als die gröberen und sinnefälligeren
Erscheinungen der magnetischen, der elektrischen und galva-
nischen Kraft. Von diesem Standpunkte aus ist es aber nicht
mehr wohl möglich, die Wünschelruthe mit ihren Erschei-
nungen so geradezu als eine bloße Betrügerey, und als einen
bloljen Aberglauben der Verlachung zu überweisen, und von
einer ernstlichen Untersuchung auszuschließen. Zur näheren
wissenschaftlichen Betrachtung dieses Gegenstandes sey hier
schließlich die gehaltvolle, in Nürnberg bey Campe er-
schienene, von dem Herrn Prof. Spindler verfaßte Schrift
über den Menschen-Magnetismus anempfohlen."
F. Moewes.
Literatur.
Che
Bavink, Dr. B., Einführung in die all^,
,,Aus Natur- und Geisteswelt". — 1,25 M.
St ad 1 mann, Prof. Dr. Jos., Der Weltkrieg und die
Naturwissenschaften. Wien '17, A. Holder.
Lietzmann, Dr. W., Riesen und Zwerge im Zahlenreich.
„Mathematische Bibliothek". Leipzig und Berlin '16, B. G.
Teubner. — So Pf.
Hartmann. Prof. Dr. M. u. Schilling, Prof. Dr. Cl.,
Die pathogenen Protozoen und die durch sie verursachten
Krankheiten. Zugleich eine Einführung in die allgemeine
l'rotozoenkunde. Ein Lehrbuch für Mediziner und Zoologen.
Mit 337 Textabbildungen. Berlin '17, J. Springer. — 22 M.
Löffl, Dr. V. K., Die chemische Industrie Frankreichs.
Eine industriewirtschaftliche Studie über den Stand der
chemischen Wissenschaft und Industrie in Frankreich. Mit
15 Kurven. Stuttgart '17, F. Enke. — 10 M.
Soergel, Privatdozent Dr. W., Das Problem der Perma-
nenz der Ozeane und Kontinente. Habilitationsvortrag. Stutt-
gart '17, E. Schweizerbart'sche Verlagsbuchhandlung, Nägele
u. Dr. Sproesser.
Fit fing, Prof. Dr. H., Die Pflanze als lebender Orga-
nismus. Akademische Rede. Jena '17, G. Fischer. — 1,50 M.
Thedering, Dr. med. F., Sonne als Heilmittel.
Gemeinverständliche Abhandlung. Oldenburg i. Gr. '17,
G. Stalling. — I M.
Günther, H., Das Mikroskop und seine Nebenapparate.
Mit 107 Abbildungen. Stuttgart '17, Geschäftsstelle des
„Mikrokosmos" Frankh'sche Verlagshandlung. — 2,25 M.
Strasburger's Lehrbuch der Botanik. 13., um-
gearbeitete Auflage, bearbeitet von H. Fitting, L. J o s t ,
H. Schenck, G. Karsten. Mit S45 z. T. farbigen Ab-
bildungen. Jena '17, G. Fischer. — 1 1 M.
Foerster, K., Vom Blütengarten der Zukunft, Er-
fahrungen und Bilder aus der neuzeitlichen Garlenentwicklung.
Mit 36 Schwarz-Weiß-Bildbeilagen und 10 Vierfarbendrucken.
Berlin '17, Furche-Verlag. — 4M.
Einstein, A., Über die spezielle und die allgemeine
Relativitätstheorie. Gemeinverständlich. Braunschweig, F. Vie-
weg & Sohn. — 2,So M.
Wolff, Dr. H., Karte und Kroki. Leipzig und Berlin '17,
B. G. Teubner. — 80 Pf.
Schroeder, Prof. Dr. H., Die Hypothesen über die
chemischen Vorgänge bei der Kohlensäure-Assimilation und
ihre Grundlagen. Jena '17, G. Fischer. — 4,50 M.
Exner, Prof. Dr. F., Dynamische Meteorologie. Mit
68 Textfiguren. Leipzig und Berlin '17, B. G. Teubner. —
1^ M.
Inhalt) S. Killermann, Die Entdeckung der Paradiesvögel. (3 Abb.) S. 409. — Einzelberichte: Adolf Koelsch,
Über die Eigenart der Musikerschädel. S. 412. Janzen, Die Zerstörungen, die die Metalle und Legierungen
unter dem Einflüsse von Wasser und wässerigen Lösungen im praktischen Gebrauche erleiden. S. 413. O. Seh neide r-
Orelli, Die Zahl der Generationen beim ungleichen Borkenkäfer. S. 414. Jollos, Weitere Beobachtungen über die
Parthenogenese der Infusorien. (2 Abb.) S. 414. O. S c h n e i d e r- O r elli , Über die Dauer der Puppenruhe beim
Frostspanner. S. 416. Ch. J. Gravier, Über einen neuen Fall von Symbiose zwischen einem Kieselschwamm mit
einer Actinie und einem Ringelwurm in der Tiefsee des Atlantischen Ozeans. S. 417. M. Bräuhäuser, Beiträge zur
Kenntnis des Rhätsandsteins im Schönbuch zwischen Stuttgart und Tübingen. S. 418. — Bücherbesprechungen:
Lassar-Cohn, Die Chemie im täglichen Leben. S. 419 Fr. Frech, Geologie Kleinasiens im Bereich der
Bagdadbahn. S. 419. C. G. Calwer's Käferbuch. S. 420. R. Robert, Über die Benutzung von Blut als Zusatz zu
Nahrungsmitteln. S. 421. — Anregungen und Antworten: Literaturliste zu Dr. Lenk ,,Slützgewebe und Integumentc
der Tiere". S. 422. Zur Bestimmung freilebend beobachteter Tiere. S. 423. Trepanation alter Schädel. S. 423. Buch
über die makroskopische Anatomie der Wirbeltiere. S. 423. Nochmals der Sang der Unsichtbaren im Föhrenwalde. S. 423.
Ein Wünschelruten- Jubiläum. S. 424. — Literatur: Liste. S. 424.
Ma
kripte und Zuschrifte
Druck der G.
ien an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4,
Verlag von Gustav Fischer in Jena,
hen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Na
validenstraße 42, erbeten,
nburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 5. August 1917.
Nummer 31.
Über den Druck der Lichtstrahlen.
[Nachdruck verboten.]
Wir sind gewohnt, uns unter Lichtstrahlen
etwas außerordentlich F"eines und Zartes vorzu-
stellen, so daß es uns Schwierigkeiten macht zu
glauben, daß das Licht auf die Oberfläche, auf
die es fällt, einen Druck ausübt. Sehen wir zu-
nächst zu, welche Vorstellung sich die Wissen-
schaft im Laufe der Zeit vom Wesen des Lichtes
gemacht hat, um hieraus über die Möglichkeit
eines Lichtdrucks Aufschluß zu erhalten. Das
Altertum war sich über den Vorgang des Sehens
durchaus nicht klar; man war sich nicht einig
darüber, ob die Strahlen vom leuchtenden Körper
zum Auge oder umgekehrt von diesem zum Ob-
jekt gingen, wenn auch schon Aristoteles gegen
die letztere Ansicht den schwerwiegenden Ein-
wand erhob, daß dann die Körper auch im Dunkeln
sichtbar sein müßten. Eine durchgearbeitete Theorie
über das Wesen des Lichtes wurde zuerst von
Gassendi in der ersten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts und um 1700 von Newton in seiner
Optik aufgestellt, die sog. Emissionstheorie.
Nach ihr gehen vom leuchtenden Objekt kleine
Kügelchen aus, die sich mit Lichtgeschwindigkeit
fortbewegen, ins beobachtende Augen dringen und
ihm Kunde von dem Gegenstand geben. Licht
ist danach, um einen heute gebräuchlichen Aus-
druck zu gebrauchen, eine korpuskulare
Strahlung, wie wir sie in den Kathoden- und den
a- und /^Strahlen der radioaktiven Körper kennen.
Daß diese mit hoher Geschwindigkeit sich be-
wegenden Teile eine mechanische Wirkung, also
einen Druck, ausüben können, kann man sich
sehr wohl vorstellen. Doch schon vor Newton's
Optik war eine Abhandlung von Huyghens
(1678) erschienen, in der eine wesentlich andere
Lichthypothese aufgestellt wurde, die Wellen-
theorie. Nach ihr ist Licht ein Bewegungs-
vorgang und zwar eine sehr feine Wellenbewegung
des Äthers, wie wir sie in viel gröberer Weise
auf einer Wasseroberfläche beobachten können.
Die Arbeiten zahlreicher Forscher, unter ihnen
namentlich Fresnel, führten dann den Nachweis,
daß die Wellentheorie der Newton'schen vorzu-
ziehen wäre, und so fand die erstere zu Anfang
des 19. Jahrhunderts allgemeine Anerkennung. Nun
ist es ja alltägliche Erfahrung, daß Wasserwellen,
die gegen eine Ufermauer anlaufen, auf diese einen
Druck ausüben; es macht demnach auch die
Wellentheorie der Vorstellung eines Lichtdruckes
anscheinend keine Schwierigkeit. Doch ist zu
bedenken, daß der Träger der Lichtwellen, der
Äther, masselos und ohne Trägheit ist, daß er
ferner alle Körper durchdringt und erfüllt, so daß
Dr. K. Schutt, Hamburg.
die Möglichkeit eines Strahlungsdruckes doch
zweifelhaft erscheint.
Doch auch die Huyghens'sche Theorie, daß
längs einem Lichtstrahl eine mechanische, wellen-
förmige Bewegung der Äiherteilchen stattfindet,
hatte keinen langen Bestand. Schon in den 50 er
und 60 er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte
Maxwell, fußend auf den experimentellen Unter-
suchungen Faraday's, seine elektromagne-
tische Lichttheorie, die in den 70er und
80 er Jahren allmählich Anerkennung fand. Nach
ihr bestehen die Lichtwellen in den Schwingungen
elektrischer und magnetischer Kräfte im Äther.
Die glänzende experimentelle Bestätigung der
Maxwell'schen Gedanken brachten in den 80er
Jahren die Versuche von Hertz.
Maxwell') kam auf Grund der von ihm auf-
gestellten Gleichungen zu dem Resultat, daß die
Oberfläche eines Körpers, auf den Licht fallt,
einen Druck erfährt, und zwar ist er bei senk-
rechtem Einfall auf die Flächeneinheit (i qcm) be-
rechnet numerisch gleich der in der Volumeinheit
1 1 ccm) enthaltenen strahlenden Energie, falls der
Körper absolut schwarz ist , also sämtliche auf
ihn fallende elektromagtietische Strahlung ver-
schluckt. Wird dagegen die Strahlung voll-
kommen reflektiert, ist also die Oberfläche ein
idealer Spiegel, dann ist er doppelt so groß.
Dieses Resultat ist aus mathematischen Gleichun-
gen errechnet. Durch einen abstrakten Rechen-
beweis ist der richtige Physiker jedoch nicht recht
befriedigt, er muß sich vielmehr die Tatsachen
auch anschaulich machen können; das nennt er
erst „Verstehen". Wie steht es nun damit in
diesem Fall? Wie schon gesagt, finden längs
einem Lichtstrahl Schwingungen elektrischer und
magnetischer Kräfte senkrectl zur Fortpflanzungs-
ricluung des Strahles statt und zwar schwingt
die magnetische Kraft senkrecht zur elektrischen.
Unter magnetischen und elektrischen Kräften
stellen wir uns Spannungszustände im Räume
vor, von deren Richtung und Größe wir uns an-
schaulich ein Bild machen durch Kraftlinien, wie
wir sie im Felde eines Hufeisenmagneten leicht
durch Eisenfeile sichtbar machen können. Jede
magnetische Kraftlinie, die sich vom Nordpol zum
Südpol herumschwingt, hat das Bestreben sich zu
verkürzen; sie verhält sich demnach genau wie
ein gespannter Gummischlauch. Auch die-^er übt
in seiner Richtung einen Zug und senkrecht
i873.'
') Maxwel
r. and magnet. Art. 792,
4i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
dazu einen Druck aus. Ganz ähnlich ist es
bei den elektrischen Kraftlinien, die man ebenfalls
sichtbar machen kann; auch hier wirken in Rich-
tung der Kraftlinien Zug-,_ senkrecht zu ihnen
Druckkräfte. Um also ein Bild von den Vor-
gängen auf einem Lichtstrahl zu gewinnen, müssen
wir uns vorstellen, daß der Raum von elektrischen
und senkrecht zu ihnen von magnetischen Kraft-
linien durchzogen ist, die nun beide wieder senk-
recht zur Fortpflanzungsrichtung des Strahles
stehen. Die Kraftlinien sind in außerordentlich
schneller Bewegung, sie wechseln in jeder Sekunde
rund 10" mal ihre Richtung. Vermöge des Druckes,
den die Kraftlinien senkrecht zu ihrer Richtung
ausüben, drücken sie sich in Richtung
des Lichtstrahls voneinander fort, so
daß wir also zu einem Druck in Rich-
tung des Strahles kommen.
Doch mit dieser anschaulichen Vorstellung vom
Lichtdruck ist natürlich noch nicht bewiesen, daß
er wirklich vorhanden ist; das ist vielmehr Sache
des Versuches. Ein solcher experimenteller Nach-
weis schien schon 1873 geliefert zu sein durch
einen von Crookes angegebenen Apparat, das
Radiometer (Lichtmühle). Dieses kleine In-
strument, das man vielfach im Schaufenster des
Optikers sich drehen sieht, besteht aus vier äußerst
leichten Kreisblättchen aus Glimmer oder Alu-
minium, die vertikal stehen und an einem vier-
armigen Kreuz befestigt sind. Dieses ist mittels
eines Glashütchens drehbar um eine vertikale
Achse aufgehängt. Das ganze hat also Ähnlich-
keit mit einem Anemometer, mit dem die Wind-
geschwindigkeit gemessen wird. Das Flügelrad
ist in einem hinreichend luftleeren Glasballon an-
gebracht. Die Blättchen sind auf der einen Seite
geschwärzt. Fällt Licht auf das Radiometer, so
dreht es sich, wobei die nicht geschwärzten
Seiten vorangehen, und zwar um so schneller, je
größer die Intensität der Strahlen ist. Es sieht
also aus, als wenn das Licht auf die geschwärzten
Flächen einen größeren Druck ausübten als auf
die ungeschwärzten, was im Widerspruch zu
Maxwell's Theorie steht. Die weitere Unter-
suchung hat gezeigt, daß bei zunehmender Ver-
dünnung der Luft im Glasballon die Drehge-
schwindigkeit zunimmt, bei einem bestimmten
Druck einen höchsten Wert erreicht, um dann
bei weiterem Leerpumpen wieder abzunehmen.
Wird die Luft sehr stark verdünnt, dann bleibt
das Rädchen stehen. Wäre es tatsächlich der
Lichtdruck, der die Bewegung verursacht, dann
müßte bei der höchsten Verdünnung die Dreh-
geschwindigkeit am größten sein, da dann die
Luftreibung, die die Bewegung hemmt, am
kleinsten ist. Der Druck der Lichtstrahlen
kann also nicht die Mühle in Bewegung
setzen. Die Erscheinung erklärt sich auf ganz
andere Weise: Die geschwärzte Seite der Flügel-
chen absorbiert die Strahlen, sie wird daher
wärmer als die ungeschwärzte. Die Luftmoleküle,
die auf die geschwärzten Flächen aufprallen, er-
wärmen sich an ihr, d. h. ihre Bewegungsenergie
wird gesteigert; sie verlassen also die geschwärzte
Seite mit größerer Geschwindigkeit als die, welche
der ungeschwärzten, kälteren Fläche abprallen.
Mithin ist auch der Rückstoß auf die geschwärzte
Fläche (die Moleküle stoßen sich gleichsam von
ihr ab) größer, die Drehung erfolgt im oben an-
gegebenen Sinn. Das Radiometer hat also
mit dem Lichtdruck nichts zu tun; es
kann vielmehr als experimenteller Beweis für die
Richtigkeit der Anschauungen der kinetischen
Gastheorie gelten.
Erst im Jahre 1900 ist es F. Lebedew^) ge-
lungen, den Lichtdruck durch den Versuch nach-
zuweisen und zu messen. Um eine Vorstellung
von den experimentellen Schwierigkeiten, die es
dabei zu überwinden galt, zu geben, sei eine Be-
rechnung der Größe des zu messenden Druckes für
Sonnenlicht angeführt. Denken wir uns an der
Grenze der Atmosphäre ein Quadratzentimeter
eines schwarzen Körpers, auf das die Sonnen-
strahlen senkrecht auffallen, so empfängt dieses
pro Minute einen Energiebetrag von rund 2 Gramm-
kalorien oder 80-10" Erg., das sind j- 10" Erg. in
der Sekunde. Diese Energiemenge können wir
uns in einem über dem Quadratzentimeter er-
richteten Zylinder enthalten denken, dessen Höhe
gleich der P'ortpflanzungsgeschwindigkeit des Lich-
tes, also 300000 km ist. Das ergibt für einen
Kubikzentimeter einen Energiebetrag (Energie-
dichte) von 4- 10": 3- 10'" = ^ • lO"' Erg. Nun ist
ja wie oben angeführt nach Maxwell dieser
Energiebetrag numerisch gleich dem Druck auf
das Quadratzentimeter. Dieser ist demnach rund
^- iO~* Dynen auf i qcm oder ^ Dyn pro Quadrat-
meter bestrahlter Fläche. Da 1 Dyn etwa gleich
dem Gewicht von 1 mg ist, so handelt es sich
also darum, den Druck von ^ mg auf i Quadrat-
meter Fläche nachzuweisen, eine Aufgabe, die
kaum lösbar erscheint. Und doch wurde sie be-
wältigt. Der Lebedew'sche Apparat, der mit
dem Radiometer eine gewisse Ähnlichkeit hat,
ist eine um eine vertikale Achse drehbare Dreh-
wage; an einem kurzen seitlichen Arm ist an
jeder Seite ein rundes Blättchen (5 mm Durch-
messer), dessen Fläche vertikal steht, angebracht.
Auf eins derselben fällt durch ein Linsensystem
konzentriert das Licht einer Bogenlampe. Aus
Schwingungen wird die Ruhelage des drehbaren
Systems bestimmt. Dann lenkt man durch ge-
eignet angebrachte Spiegel das Licht auf die
Rückseite des Blättchens und bestimmt von neuem
die Ruhelage; sie ist in Richtung der Strahlen
verschoben, aus der Differenz der beiden Ruhe-
lagen läßt sich der Lichtdruck berechnen. Ein
Gefäß mit Wasser nimmt aus dem Licht der
Bogenlampe die infraroten, die Glaslinsen, die
ultravioletten Strahlen fort. Die Blättchen be-
stehen aus Platin (blank und platiniert), aus Alu-
minium, Nickel und Glimmer. Ihre IDicke liegt
') Drudes Ann. der Phys. 6, 433 (1901).
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
427
zwischen yV ""^ t^^ ^^- ^'^ Schwankungen
in dem Energiestrom, durch ungleichmäßiges
Brennen der Bogenlampe hervorgerufen, werden
durch ein Thermoelement kontrolliert. Die ab-
solute IVIenge der Strahlenenergie, die das Blätt-
chen trifft, wird mit einem Kalorimeter zu 1,2
bis 1,8 Grammkalorien pro Minute gemessen.
Der ganze Apparat befindet sich in einem Glas-
ballon, in dem der Druck bis auf 0,0001 mm
Quecksilbersäule erniedrigt ist. Der aus den
Versuchen errechnete Lichtdruck
stimmt gut mit dem sich aus der Theorie
ergebenden überein. Bei seinen Versuchen
war L e b e d e w sicher, daß die beobachteten Ab-
lenkungen der Scheibchen nicht durch radiome-
trische Wirkungen hervorgerufen waren. Die Ver-
suche wurden 1901 von Nichols und Hüll
wiederholt und ergaben wieder mit der Theorie
übereinstimmende Resultate. Der Lebedew'sche
Apparat stellt eine Vorrichtung dar, wie ihn die
Technik seit langer Zeit sucht, nämlich eine Vor-
richtung, durch welche die elektromagnetische
Energie der Sonnenstrahlung direkt in mechanische
Bewegungsenergie umgewandelt wird. Leider ist
die erzeugte Leistung so gering, daß von einer
praktischen Ausnutzung keine Rede sein kann.
Um über die Bedeutung des Strahlungsdruckes
weitere .Aufschlüsse zu erhalten, wollen wir ihn
mit der Gravitation vergleichen, einer Energieform,
die ja ebenso wie die strahlende überall im
Weltenraum gegenwärtig und wirksam ist. Da
ist ohne weiteres klar, daß der Lichtdruck, der
z. B. die Erde \) von der Sonne forttreibt, zu ver-
nachlässigen ist gegenüber der Kraft, mit der die
Erde von der Sonne angezogen wird. Anders
wird aber die Sachlage, wenn wir die Kugel, auf
die beide Kräfte wirken, kleiner und kleiner
werden lassen. Ihre Masse, die für die Gravi-
tation in Betracht kommt, nimmt dabei mit der
dritten Potenz des Radius ab, während die (halbe)
Oberfläche, auf welche der Lichtdruck wirkt, mit
der zweiten Potenz kleiner wird. Die Masse wird
demnach schneller kleiner als die Oberfläche, und
für eine genügend kleine Kugel wird der Strah-
lungsdruck gleich, ja größer als ihre Schwere
werden. Um die Zunahme der Oberfläche bei
wachsender Zerteilung eines Körpers zu erläutern,
dazu diene folgende Zusammenstellung, die das
Oberflächenwachstum für einen Würfel bei zu-
nehmender dezimaler Zerteilung angibt:
Zahl der Gesamte
Würfel Oberfläche
I 6 qcm
I mm IO-* 60 „
0,001 „ ^ I /( 10''^ 6qm
0,000001 „ = 1 jufi 10-^ 6000 „
0,001 /</( ic"" 6qkm
Kantenlänge
cm
') Für die gesamte Erdkugel berechnet sich der Druck
der Sonnenstrahlen unter der Voraussetzung, daß die Strahlen
vollständig absorbiert werden, zu rund 60 Millionen Kilogramm.
Nehmen wir an, daß die Sonnenstrahlen senk-
recht zu einer Quadratfläche auftreffen, so ist der
Lichtdruck auf den Würfel von i cm Kantenlänge
|-lO ■* Dyn, während er insgesamt 500 Dyn =
rund 0,5 g beträgt, wenn wir den Würfel in kleine
von I ftfi Seitenlänge zerlegen. Es ist also zu
erwarten, daß sehr kleine Körper sehr wohl ent-
gegen der Schwere durch den Strahlungsdruck in
Bewegung gesetzt werden können. Versuche nach
dieser Richtung sind zuerst von den Amerikanern
Nichols und Hüll gemacht. Sie verkohlen die
Sporen vom Bovist durch Erhitzen auf Rotglut
und erhalten so ein feines poröses Kohlenpulver
von etwa 0,002 mm Durchmesser. Dieses wird
mit feinstem Schmirgelpulver gemischt in ein
evakuiertes stundenglasförmiges Geläß gebracht.
Der Pulverstrom rieselt durch die feine Öffnung
in feinem Strahle vertikal nach unten in das
untere Gefäß. Richtet man jetzt von der Seite
her auf den Strahl das durch Linsen konzentrierte
Licht einer Bogenlampe, so werden die Kohle-
teilchen durch den Strahlungsdruck zur Seite ge-
trieben, während der schwere Schmirgel weiter
lotrecht herabfallt. Eingehendere Versuche sind
kürzlich von F. Ehrenhaft') in Wien gemacht
bei Gelegenheit, elektrische Ladungen zu ermitteln,
die kleiner sind als die Ladung des Elektrons.
Durch Zerstäuben von Metallen -) im galvanischen
Lichtbogen wurden Metallparlikel hergestellt, deren
Durchmesser zwischen 10 * und lO"* mm lag.
Die Teilchen wurden zwischen die horizontal
liegenden Platten eines kleinen Kondensators ge-
bracht und von der Seite her durch die horizontal
verlaufenden Strahlen einer Bogenlampe beleuchtet,
die durch ein Mikroskopobjektiv zu einem inten-
siven Lichtkegel gesammelt wurden. Wegen der
starken Beugung an den kleinen Partikeln geschah
die Beobachtung senkrecht zu den Lichtstrahlen
mit einem looofach vergrößernden Mikroskop
(Ultramikroskop). Man sah namentlich im hellsten
Teile des Lichtkegels die intensiv leuchtenden
Gold- oder Quecksilberteilchen, doch waren sie
auch im übrigen Teil im diffusen Licht sichtbar.
Der eigentliche Zweck der Untersuchung war
nun der, die Bewegung der elektrisch geladenen
Teilchen zu untersuchen; sie fielen und konnten
durch Anlegen einer geeigneten Spannung an den
Kondensator schwebend erhalten oder gehoben
werden. Aus ihrer Bewegung ließen sich Schlüsse
auf die Größe ihrer Ladung machen. Im diffus
beleuchteten Raum fielen die Teilchen lotrecht
nach unten; sobald sie in den intensiven Licht-
kegel traten, erhielten sie durch den Lichtdruck
einen horizontalen Impuls, so daß sie sich oft in
horizontaler Bahn bewegten. Die Horizontalge-
schwindigkeit, die zwischen 5,8 und 6o- 10 ^ cm/sek
lag, nahm ab, wenn sie aus der hellsten Zone
') Physikal. Zeitschr. XV, 608 (1914).
2) Auf ähnliche Weise wurden von G. Bredig durch
elektrisches Zerstäuben unter Wasser kolloide Silberlösungen
hergestellt.
428
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
herauskamen. Eine radiometrische Wirkung war
nach Ehrenfest bei den Versuchen ausge-
schlossen. Die Größe der Partikel wurde aus
ihrer vertikalen Fallgeschwindigkeit nach dem
Stokes'schen Gesetz und aus der Farbe des
abgebeugten Lichtes bestimmt.
Noch bevor das Vorhandensein des Strah-
lungsdruckes experimentell nachgewiesen war,
ist er von Boltzmann (1884) zur Ableitung
seines Gesetzes über die Abhängigkeit der Ge-
samtstrahlung des schwarzen Körpers von der
Temperatur benutzt worden. Die theoretische
Physik nimmt ja ihre Zuflucht häufig zu Ge-
dankenexperimenten, deren Ausführung technisch
unmöglich ist, die aber doch, wenn der Ablauf
aller in Betracht kommenden Vorgänge genau
bekannt ist, zu richtigen Ergebnissen führen. Man
denke z. B. an die idealen Kreisprozesse in der
Wärmelehre. Denkt man sich nach Boltz man n
die Strahlung des schwarzen Körpers in einem
Raum mit vollkommen spiegelnden Wänden ein-
gefangen und darin abgeschlossen, so kann ein
Energieaustausch mit den Wänden nicht statt-
finden, da immer wenn die Strahlen die Wände
treffen, sie von diesen ohne Verlust (Verwandlung
in Wärme) reflektiert werden. Die in dem Räume
eingeschlossene Energie, die also nicht in eine
andere Energieform übergehen kann, hat eine
ganz bestimmte Dichte, d. h. im Kubikzentimer
sind eine bestimmte Anzahl Erg enthalten. Hat der
schwarze Körper, dessen Strahlung ich einschließe,
eine höhere Temperatur, so ist auch die Strah-
lungsdichte größer; sie steigt demnach mit
wachsender Temperatur. Nun gibt es aber noch
ein zweites Mittel, die Strahlungsdichte zu steigern,
nämlich dadurch, daß man den Hohlraum ver-
kleinert, dann wird die in der Volumeinheit ent-
haltene Energiemenge größer. Bei dieser Kom-
pression muß man eine Arbeit gegen den Strah-
lungsdruck leisten, deren Größe sich berechnen
läßt, und die zu einer Erhöhung der Strahlungs-
dichte und damit der Temperatur der Strahlung
verwandt wird. Man kann nun berechnen, daß
die Strahlungsdichte und damit die Emission des
schwarzen Körpers mit der vierten Potenz der
absoluten Temperatur zunimmt (St ephan-Boltz-
mann'sches Gesetz). Da der Strahlungsdruck
nach Maxwell numerisch gleich der Energie-
dichte ist, folgt ohne weiteres, daß auch der
Lichtdruck proportional der vierten Potenz der
absoluten Temperatur der Strahlungsquelle sein
muß. Wäre die Temperatur unserer Sonne doppelt
so hoch, dann wäre der Strahlungsdruck auf der
Erde 16 mal so groß. Der Wert wäre immer
noch sehr klein. Der Grund dafür ist die außer-
ordentlich hohe Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
strahlenden Energie, nämlich 300000 km pro Se-
kunde. Infolgedessen ist die in der Volumeinheit
des durchstrahlten Raumes enthaltene Energie
klein, obgleich sehr große Energiemengen den
Raum durcheilen.
Die Allgegenwärtigkeit der strahlenden Energie
und damit des Strahlungsdruckes im Weltenraume
legen den Gedanken nahe, nach einem Zusammen-
hang zwischen kosmischen Erscheinungen und dem
Lichtdruck zu suchen. Schon Kepler, der das
Licht noch für eine korpuskulare Strahlung hielt,
hat im Anfang des 17. Jahrhunderts den Druck
der Sonnenstrahlen zur Erklärung für die Bildung
der Kometenschweife herangezogen. Neuerdings
sind diese Gedanken namentlich von A r r h e n i u s ')
(1900) aufgenommen und weiter verfolgt worden.
Zwei Kräfte sind es, die auf jeden zum
Sonnensystem gehörenden Körper wirken, die
Gravitation, die die Körper zur Sonne zieht, und
der Strahlungsdruck, der sie von der Sonne fort-
treibt. Wegen der größeren Sonnenmasse ist die
Schwere an der Sonnenoberfläche 27,5 mal größer
als auf der Erde, der Lichtdruck ist dagegen rund
46000 mal so groß, er beträgt 2,75 mg auf das
Ouadratzentimeter. Daraus berechnet der schwe-
dische Forscher, daß an einer Kugel mit schwarzer
Oberfläche und der Dichte i sich die beiden Kräfte
das Gleichgewicht halten, wenn ihr Durchmesser
1,5 /( ^ 0,0015 mm beträgt. Für größere Partikel
überwiegt die Anziehung, für kleinere die Ab-
stoßung. Man sollte nun denken, daß die letztere
um so größer wird, je kleiner die Partikel wird.
Das ist aber wie der kürzlich verstorbene Astronom
Schwarzschild ^) gezeigt hat, keineswegs der
F'all. Vielmehr ist die abstoßende Wirkung der
Strahlen am größten, wenn der Durchmesser der
Kugel gleich einem Drittel der Wellenlänge des
Lichtes ist. In diesem Fall hat das Verhältnis
des Druckes zur Massenanziehung ein Maximum.
Wird die Partikel kleiner, dann nimmt dieses
Verhältnis schnell ab, so daß schließlich die
Schwere wieder überwiegt. Der Grund hierfür
liegt in der Beugung, die die Strahlen an so
kleinen Körperchen erleiden ; diese läßt den Licht-
druck nicht voll zur Wirkung kommen. Die Be-
deutung der von .Schwarzschild an der Ar-
r h e n i u s ' sehen Rechnung angebrachten Korrektur
liegt auf der Hand. Für Gasmoleküle, deren
Durchmesser von der Größenordnung i ii/t ist,
während für den hellsten Teil des Sonnenlichtes
3
160 fift beträgt, überwiegt die Anziehung. Da-
gegen werden Partikel, deren Größe 160 ftft und
darüber bis 1,5 /< = 1500 ,((/( ist (immer unter der
Voraussetzung, daß ihre Dichte i ist) durch den
Strahlungsdruck von der Sonne fort und in den
Weltenraum hinausgetrieben. Die Sonne verliert
also dauernd an Masse, die in Gestalt fein ver-
teilter Materie von ihr aufsteigt, doch wird dieser
Verlust sehr wahrscheinlich durch die in die Sonne
stürzenden Meteore reichlich wieder ausgeglichen.
Diese Staubmassen, welche die Sonne umgeben,
beobachten wir bei einer totalen Sonnenfinsternis
in der rätselhaften Korona, einer leuchtenden
Dunsthülle, deren Durchmesser namentlich zu-
') S. Arrhenius: Das Werden der Welten. Leipzi
'-) Münchener Berichte 31, 293 (1901).
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
429
Zeiten lebhafter Sonnentätigkeit den Sonnendurch-
messer manchmal um das sechsfache übertrifift.
Der der Sonne zunächst gelegene Teil besteht,
wie die spektroskopische Untersuchung ergibt,
aus Wasserstoff und einem unbekannten, Koro-
nium genannten Gas, während die äußere Korona
durch ihr kontinuierliches Spektrum sich als aus
festen und flüssigen Partikeln bestehend erweist.
Daß die Koronamaterie äußerst verdünnt ist, geht
daraus hervor, daß sie nur sehr wenig IJcht aus-
strahlt und daß mehrere Kometen, die in weniger
als einem Sonnenradius an der Sonne vorbei-
gingen, in ihrer Bewegung nicht gestört wurden.
Ein Teil der die Korona bildenden Partikel ver-
läßt unter dem Einfluß des Strahlungsdruckes die
Sonne und dringt in den Weltenraum, und zwar
findet eine solche Ausstrahlung von feiner Materie
bei jedem Fixstern statt; sie ist um so stärker
je heißer der Stern ist. Der Weltenraum ist von
diesem kosmischen Staub in äußerster Ver-
dünnung erfüllt. Es ist nun nicht ausgeschlossen,
daß sich die Teilchen bei zufälligem Zusammen-
treffen allmählich zu größeren Massen zusammen-
ballen und so kleine Weltkörper, die Meteore,
bilden. Daß eine Neubildung von Meteoren statt-
finden muß, erhellt aus folgender Überlegung:
Jeder größere Weltkörper wirkt reinigend auf
den ihn umgebenden Raum, indem er vermöge
seiner größeren Masse kleinere in seinen Wirkungs-
bereich tretende Massen anzieht und einfängt. Die
Masse der auf die Erde stürzenden Meteore wird
allein auf etwa 20000 Tonnen pro Jahr schätzungs-
weise berechnet. Wenn sie sich nicht neu bil-
deten, müßte ihre Zahl im Laufe der Zeiten ver-
schwindend klein geworden sein. Auch die Struktur
der Meteore, die unter dem Mikroskop aus einer
Unzahl feiner Körner zusammengewachsen er-
scheinen, spricht für diese Ansicht.
Der durch den Strahlungsdruck in den Raum
hinausgetriebene kosmische Staub stellt also die
Verbindung zwischen den einzelnen Weltkörpern
dar. Wenn es eine Zeit gegeben hat, wo die che-
mische Zusammensetzung der Sterne verschieden
war, so muß dieser Transport von feinster Materie
von -Stern zu Stern zu einer Einheitlichkeit in
der qualitativen chemischen Zusammensetzung der
Wehkörper führen. So ist z. B. nicht ausgeschlossen,
daß der Wasserstoff, der in den höchsten Schichten
der Erdatmosphäre sich befindet, und die Edelgase,
deren Vorhandensein in der Luft erst seit 1894 be-
kannt ist, eingeschlossen in Sonnenstaub zur Frde
gekommen sind. Ein Teilchen von 160 (</< Durch-
messer (Dichte i), das sich, wie oben erwähnt,
am schnellsten bewegt, würde etwa 60 Stunden
brauchen, um von der Sonne zur Erde zu ge-
langen; die Marsbahn würde es nach 20 Tagen,
die Neptunbahn nach 14 Monaten überschreiten.
Das nächste Sonnensystem («Centauri) würde es
erst nach 9000 Jahren erreichen. Unter diesen
Umständen scheint es nicht unmöglich, daß
lebende Organismen durch den Strahlungsdruck
von einem Stern zum anderen befördert werden.
Die Dauersporen einer Reihe von Bakterien haben
die für den Lichtdruck günstige Größe. Da bei
tiefen Temperaturen die Lebensfunkiionen außer-
ordentlich langsam ablaufen, ist es wohl möglich,
daß bei der Reise durch den äußerst kalten Welt-
raum ihre Keimkraft so lange erhalten bleibt, daß
sie bei ihrer Ankunft noch lebensfähig sind. Die
abtötende Wirkung des Lichtes auf diese Lebe-
wesen tritt nur bei Gegenwart der Luft in Er-
scheinung. Auch die Möglichkeit dafür, daß sie
die Erde verlassen, ist vorhanden; Luftströmungen
tragen sie bis in die höchsten Schichten der At-
mosphäre empor. Da hier, wie die Erscheinung
der Nordlichter zeigt, Elektronen vorhanden sind,
können sie sich elektrisch laden und nun unter
dem Einfluß der elektrischen Kräfte aus dem Be-
reich der Erde in den Raum hinausgetrieben
werden, um hier an irgendeiner Stelle von dem
Strahlungsdruck erfaßt und weiter fortgeführt zu
werden.
Als Newton sein Gravitationsgesetz aus den
Kepler 'sehen Gesetzen abgeleitet hatte, schien
die Mechanik ein Gesetz zu haben, dem sich die
Bewegung sämtlicher Himmelskörper unterordnete.
Eine Ausnahme machen die Kometen; der Schweif,
der sich, wenn sich der Komet auf seiner flachen
elliptischen Bahn der Sonne nähert, mehr und
mehr ausbildet, ist nämlich stets von der Sonne
abgekehrt, scheint also nicht der Sonnenschwere
unterworfen zu sein, sondern von der Sonne ab-
gestoßen zu werden. Messungen haben ergeben,
daß die Abstoßung verschieden groß ist; bei
einigen Kometen ist sie gleich dem vierzigfachen
der Schwerkraft, Das Licht des Kometen erweist
sich bei der spektralen Untersuchung als Sonnen-
licht, doch finden sich, namentlich wenn der
Komet weit von der Sonne entfernt ist, dem
kontinuierlichen Spektrum übergelagerte Banden-
spektren, die auf die Gegenwart von Kohlen-
wasserstoffen schließen lassen. Nähert er sich
der Sonne, so zersetzen sich die organischen Ver-
bindungen unter dem Einfluß der Sonnenwärme,
Wasserstoff und andere Gase entweichen und es
bleiben kleinste, schwammartige Kohlenteilchen
zurück, die nun vom Strahlungsdruck
von der Sonne fortgetrieben werden
und den Schweif des Kometen bilden.
Wenn bei wachsender Annäherung an die Sonne
die Temperatur steigt, verdampfen auch schwerer
siedende Körper; man beobachtet die Natrium-
und wohl auch Eisenlinien. Der auf Seite 427
angeführte Versuch von N i c h o 1 s und Hüll ist
nichts anderes als eine Nachahmung von Kometen-
schweifen im kleinen. Genauere Rechnungen
zeigen, daß die Kometen in allem die Schlüsse
bestätigen, zu welchen die Lehre vom Strahlungs-
druck führt.
Mit dem Strahlungsdruck ist es in der Wissen-
schaft gegangen wie mit so vielen anderen Er-
scheinungen. Zunächst bedarf es großer Mühe,
die Erscheinung festzustellen. Ist das gelungen,
dann ergibt sich, daß sie überall wirksam ist und
430
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
daß sie in unserem Weltbilde oder für unsere
Technik eine große Rolle spielt. Diese Entwick-
lung können wir besonders bei den elektrischen
Erscheinungen feststellen; Vor reichlich 100 Jahren
waren sie wenig bekannt, und erst die \^olta-
schen Versuche brachten uns in den galvanischen
Elementen eine recht unvollkommene Vorrichtung,
elektrische Ströme zu erzeugen. Und heute, —
welche Rolle spielt die elektrische Energie in
unserem Leben, überall lassen wir sie für uns
arbeiten. Ja die Wissenschaft neigt zu der An-
sicht, daß die Grundbausteine aller Materie elek-
trischer Natur sind.
Maischwanim uud Erdsinimerling.
Von Prof. Dr. S. Killermann, Regensburg.
Mit 5 Abbildungen.
Neben dem bekannten Stein- oder Edelpilz
(Boletus edulis Bull.) spielen in der Volksnahrung
seit alter Zeit Maischwamm und Erd.simmerling
eine Rolle. Beide gehören zu den Ritterlingen
(Tricholoma Fr.), die meist weiße, am Stiel aus-
geschnittene Blätter und weiße Sporen besitzen
(Leucospori). Die genannten zwei Arten (s. Abb.
I u. 2) sind weichfleischig, von angenehmem, mehl-
der wissenschaftlichen Literatur ziemlich viele:
Tricholoma gambosum Fr., auch Pomonae Lenz,
Georgii (Clus.) Fr., albellum Fr., graveolens Fers.,
Allescheri Britz.; vgl. Saccardo, Sylloge V. Bd.
pag. 120 — 123. Tr. gambosum ist abgebildet bei
Krombholz taf. 63 fig. 18 — 22, Gonnermann-
R a b e n h o r s t taf 1 8 fig. 3, M i g u 1 a taf 1 26 fig.
Abb. I. Maischwamm (Tricholoma Georgii Fr.V
Vom Regensburger Markt Mai 1917; Gr. '/»■
(Nach Phot. des Verf.)
Erdsimmerling (Tricholoma conglobatum Vitt.).
Aus der Umgebung von Regensburg,
olonie in '/a Gr. (Nach Phot. des Verf.)
artigem Geschmack und Geruch und sehr wohl eß-
bar '). Im Mai, Juni und dann im Herbst erscheinen
diese Pilze auf unseren Märkten (Regensburg) und
werden gern gekauft. Die Zubereitung ist die ge-
wöhnliche und braucht hier nicht geschildert zu
werden.
Als Maischwämme bezeichnet das Volk Früh-
pilze, die, wie der Name sagt, im Mai, manchmal
schon im April, „um Georgi" (24. April) erscheinen
und bis in den Sommer hinein wachsen. Dieses
Jahr (191 7) habe ich sie anfangs Mai noch nicht
gesehen, wahrscheinlich infolge des außerordentlich
strengen Frühjahrs. Doch kommen die Pilze auch
manchmal schon unter dem Schnee zur Entwicklung
und gerade diese gelten als die besten.
Die Namen für diese Maischwämme sind in
') Über den Nährgehalt gibt leider das Buch von
J. Zellner (Chemie der höheren Pilze, Leipzig 1907) keinen
näheren AufschluS.
I — 3 (aber nicht gut), Bresadola f mang, e vel.
taf. 28 a (als Georgii var. flavida). Tr. Georgii
findet sich bei letztgenanntem Autor taf 27, bei
Patouillard Nr. 103, Ricken taf 95 fig. 2;
Tr. albellum bei Gonnermann-R. taf. 15 fig. 3,
C o o k e taf 1 05 und bei G i 1 1 e t ; Tr. graveolens
bei Krombholz taf 55 fig. 2—6, Britz elmayr
Leucospori fig. 428; Tr. Allescheri bei letzterem
fig. 453. In Michael's Führer für Pilzkunde
dürften fig. Nr. 87 (bezeichnet als .Agaricus gambosa)
Tricholoma graveolens und fig. Nr. 118 (bezeichnet
als Georgii) Tricholoma gambosum sein.
Ich habe gegen ein Dutzend „Maischwämme"
von verschiedenen Lokalitäten; es wird wohl am
besten sein, alle die genannten 4 — 5 Arten mit
Ricken zu einer Hauptart zusammenzuwerfen.
Die Synonymik steht gerade in der Pilzkunde,
bei diesen so variablen und schwierig zu konser-
vierenden Objekten in großer Blüte. Als Name
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
431
dieser Art ist am besten mit Bresadola die Be-
zeichnung Tricholoma Georgii (Clus.) Fr. zu wählen.
Was die mikroskopischen Verhältnisse aller
dieser Pilze betrifft, so sind die Sporen bei
ihnen eiförmig elliptisch 5 — 6/3 u lang und breit,
mit etwas körnigem Inhalt; die Basidien keil-
förmig 20/5 /' lang und breit , mit 4 kurzen
Sterigmen ausgestattet. An den Lamellen (Blättern)
sehe ich bei jüngeren Exemplaren vielfach feine
haarförmige Cystiden von bis 50/4 fi Länge und
Dicke. Das Fleisch ist weiß, von angenehmem
mehlartigen auch nußähnlichen Geschmack; im
trockenen Zustand hat es oft einen Duft wie Honig.
Die Maischwämme charakterisieren sich durch
ihr frühzeitiges Wachstum ; sie wachsen meist in
kurzem Grase an sonnigen Stellen, auf mageren
Viehweiden, an Feldrainen, an Berghängen, auch
unter Gestrüpp und Gesträuch sowie in Parkanlagen,
falls es nicht zu schattig ist. Der Pilz tritt auf
in Zickzackstreifen und Hexenringen gleich den
Abb. 3. Erdsimmerling aus Schwandorf.
Kolonie in i/j GrölSe.
(Nach Phot. des Verf.)
blauen, im Herbste erscheinenden Ritterlingen, aber
immer einzeln, nicht viele zu einem Stock zu-
sammengewachsen. Wie mir scheint, fehlt der
Pilz dem Urgebirge und ist mehr an Kalkboden
gebunden. Nach dem Standort gibt es Abweichungen
von der normalen Form.
Die Varietäten unterscheiden sich teils durch
die Färbung, teils durch den Geruch: gambosum
hat einen weißgelblichen gefleckten, bei älteren
Exemplaren ausgeschweiften oder zerrissenen Hut
(s. Michael 1. c. Nr. i iS); die Varietät wächst mehr
an schattigen Stellen. Die var. albella Fr. hat
weißen, schuppig-gefleckten, schließlich grau-
braunen, immer regelmäßigen Hut; der Geruch
ist schwächer. Hierher wird A. pallidus Schaeffer
taf. 50 gezogen, der freilich nach der dürftigen Be-
schreibung dieses Gelehrten „an den Wurzeln der
Bäume und auf alten Baumstöcken" wächst; im
Index secundus wird der Pilz mit zwei anderen (Clito-
pilus prunulus Scop. und Tricholoma tigrinum
Schaff) als „Mouceron" angesprochen, demnach
als eßbar hingestellt. Ich finde ähnliche Pilze an
sonnigen Waldwegen, also immerhin in der Nähe
von Baumwurzeln, z. B. um Landshut. Die var.
graveolens Pers. ist mehr knollig mit halbkugeligem
Hut, verfärbt sich gern ins Rußige; sie ist aus-
gezeichnet durch starken, fast unangenehmen Ge-
ruch; ich fand diesen Pilz in den Jurabergen bei
Regensburg am Rande von Wald und Feld.
Die Verbreitung der Maischwämme ist eine
große. Saccardo gibt insbesondere von der Art
Tr. Georgii an, daß sie hauptsächlich in Osteuropa,
dann auch in Südafrika (Vorgebirge der Guten
Hoffnung) und in China, hier unter dem Namen
Ta ting-mo und Pai-kou-mo (nach Bretsch neide r)
bekannt sei. Tr. gambosum , albellum und
graveolens scheinen mehr auf die nördlichen Ge-
genden beschränkt zu sein. In Schweden tritt dafür
ein Tricholoma boreale Fr. taf. 41 fig. i, auch bei
Cooke taf 11 23 abgebildet; ich konnte diesen
Pilz, den ich nur als \'erspäteten Maischwamm be-
trachte, im Herbst auch um Regensburg aufwiesen
konstatieren. Um diese Zeit wird er, da andere
bessere Speiseschwämme aufgetreten sind, natürlich
nicht mehr gesammelt. Über die Beziehungen
von Tricholoma gambosum und boreale Fr. s.
auch R. Schulz, Studie über die Pilze des Riesen-
gebirges (Verhdlg. des bot. Vereins der Provinz
Brandenburg 54. Jhrg. (1912) S. 112).
Vom Mai oder Georgischwamm ist bereits um
1600 bei Clusius, dem Begründer der Pilzkunde,
die Rede. Unter den I'ungi esculenti beschreibt er ihn
als Genus III folgendermaßen ') : Tertii generis, quod
Ungari S.zciif Gvrwrgi gainhaia, Germani Saut
Gä\rg S4:Ird'iiiiniicii appellant, quia circa diem
D. Georgio sacrum (qui in vicesimum tertium
Aprilis incidit) invenitur, unicam observabam
speciem. Parva autem illa est, duarum unciarum
amplitudinem vix aequans, orbiculari fere forma,
superne quidem aliquantulum extuberante, et
quodammodo pulvinatä; inferne vero concame-
rata, et quibusdam veluti venis distincta, pediculo
crasso, brevique; coloris exalbidi, cui flavi quid-
piam admistum sit. Crescit in siccioribus atque
pascuis pratis: et fortasse is erit fungus, quem
Horatius satyra quarta lib. II. Sermonum, Optimum
pronunciat his verbis,
— pratensibus optima fungis
Natura est: aliis male creditur.
Est vero tertium hoc genus, aliorum fungorum
modo praeparandus, qui repurgati, ut plurimum
elixari solent, et in frusta concidi, quae inter binas
lances reposita, insperso oleo olivarum vel butyro,
et pipere addito, super prunas coquuntur: aut cum
larido inijcitur iusculum ex lactis cremore paratum,
quod Germani Milckrain appellant.
Clusius fügt dieser, auch gastronomisch inter-
essanten Beschreibung, welche keinen Zweifel läßt,
daß ihm Tricholoma Georgii Fr. oder eine ver-
wandte Art vorlag, zwei Holzschnitte und ein
farbiges Bild bei. Die Holzschnitte (Istvanffi 1. c.)
stellen den Pilz von oben und von unten dar, hier
mit abgeschnittenen dünnen Stiel; das Aquarell
') Istvanffi Gyula, A Clusius-Codex, Budapest ic
fol. (4).
432
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
(bei Istvanffi Tafel 18 in der Mitte mit der
Überschrift tertii generis esc.) führt den Pilz in
sehr jungem knollenförmigen Zustand vor, so daß
man seine Zugehörigkeit nur erraten kann.
Die Meinung, daß Horaz bereits in der ange-
zogenen Satyre diesen Wiescnschwamm als gute
Speise kannte, ist natürlich nicht gesichert; immer-
hin kommt Tricholoma Georgii auch in Italien vor
und wird von Vittadini (funghi mangerecci e
velenosi taf 12) abgebildet und als eßbar hin-
gestellt.
Ein zweiter interessanter, nur im Herbst er-
scheinender Pilz führt bei uns (Bayern) den Namen
„Erdsimmerling"; er ist dunkel mausgrau ge-
färbt und wächst gesellig im Sande magerer
Kiefernwälder, so besonders im Keupergebiet bei
Schwandorf (s. Abb. 4 u. 5). Hier finden sich
Kolonien mit einem Durchmesser von fast '/., m:
Dutzende von einzelnen größeren und kleineren
Exemplaren sind zu einem Pilzstock vereinigt. Sie
Exemplaren, die von unserem „Erdsimmerling"
ziemlich abstehen.
Eine der ersten und besten Abbildungen lieferte
m. E. Schaff er mit seiner Taf. L XIV. Dieser
Autor heißt den Pilz in seinem Kommentar
(Erlangen 1800, p. 28): „Agaricus terreus, der erd-
farbige Blätterschwamm" und beschreibt ihn
folgendermaßen : „Der Hut ist erdfarb, auch mauß-
farb, über und über zart gestrichelt, die Blätter und
der Stiel weißlich; wächst im Herbst in Wäldern."
Von seiner Eßbarkeit sagt er zwar nichts, bemerkt
aber, daß er mit dem Fungus esculentus Mich,
(nov. gen. plant, p. 155 n. 11 und 12) synonym
sei. Gewöhnlich wird das Bild Schaeffer's
auf die Art Tricholoma terreum Sowerby t. 76 und
der Autoren, z. B. Gonnermann et Rabenhorst
t. 17 fig. 2, Cooke taf 83 und 84, bezogen. Doch
war schon Pe rs o o n (Kommentar zu Schaeffer
Abb. 4. Erdsimmerling.
Natürl. Standort, sandiger Kieferwald.
(Nach Phot. des Verf.)
Abb. 5. Pilz (Clitocybe cartilaginea Bull.). Gr. '/j.
Aus den AUeengärten von Regensburg.
(Nach Phot. des Verf.)
werden höchstens i dm hoch; der Hut halbkugelig
gewölbt mit eingezogenem Rande, bis V2 dm, meist
nur I — 2 cm breit, der Stiel unten knollig. Aus
dieser knolligen Basis entwickeln sich die einzelnen
Pilzindividuen. Die Farbe des Hutes ist wie ge-
sagt grau bis bräunlich; er erscheint auch fein
gestrichelt oder glänzend, netzig oder schmierig.
Der Stiel ist weiß, rauhwollig, nicht glatt.
Die Lamellen sind behaart ; diese Haare (Zysti-
den) sind geweihartige, mit glänzenden Körperchen
versehene Gebilde, etwa 70 tt lang und 4 u dünn.
Die Basidien erheben sich bis 14/1 über den Rand
und tragen an 4 Sterigmen eiförmige Sporen von
5 — 6=4 — 5 /( Durchmesser.
Der „Erdsimmerling" heißt in der Pilzliteratur
Tricholoma conglobatum Vitt., d. h. geselliger
Ritterling. Abbildungen finden sich bei Bresadola
tav. XXXIV und XXXV. Nach Ansicht dieses
Forschers sind einige meiner Pilze, die ich ihm
vorgelegt habe, mehr zur Clitocybe cinerascens
(Bull.) Bres. (1. c. tav. XXXV) hinneigend. Die
letztgenannte Art erscheint bei Bulliard taf
428 fig. II in über i dm großen, weißlichen
p. 26) im Zweifel, ob die Art Schaeffer's
dieselbe wie Sowerby's sei, und Saccardo
(tom. V p. 104) findet das Seh ae ffer'sche Bild
mit Recht „atypisch". M. E. hatte Schaeffer
unseren „Erdsimmerling" im Auge und nannte
ihn richtig (Tricholoma) terreum. Die Bezeichnung
ist dann übergegangen auf einen ebenfalls im
Herbst an Waldrändern und Waldwegen häufig
erscheinenden Pilz, der bei Bull. t. 423 fig. i
als (Trich.) argyraceus erstmals abgebildet ist, auf
den auch Persoon (1. c.) hinweist.
Weiter haben auch die Fig. 5, 6, 7 und 10 auf
Schäffer's Taf XIV, von ihm Agaricus multi-
formis genannt, einige Ähnlichkeit mit unserem
Erdsimmerling. Da dieser Forscher in Regensburg
arbeitete, dürfte er wohl diesen Pilz gekannt haben.
Was den Standort des Pilzes betrifft, so machen
Saccardo (p. 126) und Ricken (p. 360) keine
näheren Angaben. Der letztere bemerkt nur, daß
er im Rhöngebiet in großen vielköpfigen Rasen
und langen Reihen spät, selbst noch bei leichten
Frösten wachse. Sonst wird der gesellige Ritter-
ling noch für Italien, wo er eben von Vittadini
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
433
zuerst festgestellt wurde, und für Frankreich von
Constantin und D u f o u r ') (nicht von G i 1 1 e tj
angegeben.
Daß der Erdsimmerling eßbar ist und sogar
ein gutes Pilzgericht liefert, scheint zuerst
Schroeter (1889) in seinem Werke über die
Pilze Schlesiens (S. 660) festgestellt zu haben.
Weder Saccardo, noch Krombholz, der den
Pilz gar nicht aufführt, sagen etwas über die
Eßbarkeit. Schroeter bemerkt, daß Tricholoma
conglobatum zwar eßbar, aber in Schlesien als
Speisepilz nicht bekannt sei. Aus seiner Be-
schreibung und der Bemerkung, daß der Pilz in
Gärten und Höfen wachse, ergibt sich aber, daß
er nicht unseren in Kiefernwäldern wachsenden
„Erdsimmerling" vor sich hatte, sondern einen
ähnlichen geselligen Pilz, der in der Literatur als
Clitocybe hortensis Pers., cartilaginea (Bull.) Bres.
figuriert (Abb. bei Bull. taf. 589 fig. 2).
Diese Art (s. Abb. 5) wächst auch in Regensburg
in den Alleegärten während der Ilerbstmonate
(August bis Oktober) sehr viel, namentlich an etwas
feuchten Stellen bei den Wasserbecken und dgl.
Dieser Gartenpilz zeigt wie der Erdsimmerling ein
rasiges Wachstum und Mehlgeruch; der Stiel ist
aber nicht so knollig, der Hut flacher, schlapp
und bis handgroß, die Haut fest, lederig, die Kon-
sistenz etwas zäh und elastisch. Die Farbe ist
licht- bis dunkelbraun, auch schwärzlich.
P. Hennings erzählt in der Hedwigia Bd. 42
(1903) S. 216 von einem riesigen Pilz, der 50 x 30 cm
lang und breit und 25 cm hoch zu Strasburg U.-M.
in einem Keller aus den Steinfugen gewachsen
und ihm zugesendet worden war. Jeder der P'rucht-
körper des etwa aus 30 Hüten bestehenden Büschels
war auf das merkwürdigste „blumenkohlartig" ver-
bildet (s. 1. c. taf IX); das ganze Gebilde war von
weißer Färbung, doch fingen die Hüte nach einigen
Tagen an sich an der Luft zu färben. Die abnorme
Färbung und Ausbildung der Hüte ist natürlich
auf den Lichtabschluß und auf das Wachstum
unter besonderen Umständen zurückzuführen.
P. Hennings spricht diesen ihm zugesandten
Pilz als Tricholoma conglobatum Vitt. an und be-
merkt, daß derselbe in Berlin am Wege und auf
Grasflächen am Botan. Museum jährlich, mit-
unter schon im August nach Regen, 1903 allerdings
erst Anfang Oktober in gewaltigen, aus mehreren
Hundert Fruchtkörpern bestehenden Büscheln sich
entwickelt. Dieselben seien auch im Jugendzustande
zu dichten Knollen verwachsen. Er möchte den
Pilz nicht, wie Bresadola will, zu Clitocybe
stellen, da die Lamellen dem Stiel buchtig ange-
heftet sind. Dieser Meinung bin ich auch.
Eine andere Frage ist diese, ob es sich bei dem
Gartenpilz wirklich um Tricholoma conglobatum
') Nouvelle Flore des Champignons (4. ed. Paris) p. 17.
Vitt. im Sinne der Autoren, den „geselligen Ritter-
ling" und Speisepilz, handelt. Daß bei beiden der
Geruch angenehm ist, wurde schon erwähnt.
Sporenform und -große sind wenig verschieden;
bei dem Gartenpilz erscheinen die Sporen mehr
kugelig, 5 — 7 (/. Bei der zähen Konsistenz des
letzteren dürfte seine Bedeutung als Eßpilz nicht
hoch anzuschlagen sein.
J. Rothmayr, der sehr viele Pilze in bezug
auf ihre Brauchbarkeit persönlich probiert hat, sagt
von dem geselligen Ritterling, daß sein Geschmack
unbedeutend und der Pilz „eßbar" ist, ohne ihm
eine besondere Note zu erteilen. Er meint hier,
wie seine Abb. Nr. 29 zeigt, den im Gärten
wachsenden Pilz und glaubt, daß derselbe, da ihm
Rabenhorst's Kryptogamenflora im Anschluß an
V i 1 1 a d i n i Norditalien als Heimat angewiesen hat,
erst in den letzten Jahrzehnten über die Alpen einge-
wandert sei (Fßbare und giftige Pilze des Waldes,
2. Aufl., Luzern 1910, Nr. 29). Da, wie wir oben
gesagt haben, Bilder dieses Pilzes schon bei
Schaff er auftauchen, erscheint diese Hypothese
gewagt. ^
Die PVage, wie der Erdsimmerling, ein wirklich
guter Speisepilz (Tricholoma conglobatum Vitt. var.
cinerascens Bull, im Sinne Bresadola' s), und der
ähnliche Gartenpilz (Tr. conglobatum Vitt.?, Clito-
cybe hortensis Pers.) zusammenhängen, könnte
vielleicht dadurch gelöst werden, daß man Erd-
simmerlinge in Gärten, wo keine andereren ähnlichen
Pilze vorkommen, ausstreut - ein Versuch, der
von mir unternommen worden ist.
Literatur.
Saccardo, P. A., Syllogc Hymenomycelum. Vol. V.
Patavii 1S87.
Bresadola, G., I funghi mangerecci e vclenosi II. ediz
Trient igoö.
Britzelmayr, M., Die Hymenomyceten aus Südbayern
Kand Leukosporen.
Bulliard, P., Ilerbier de la France. Paris 1780—1812,
Cooke, M. C, Ulustrations of British Fungi. London
1S81 — 1S90.
Fries, E. M., Icones sclectae. Upsala 1S67 — 1SS4, ab'
gekürzt Fr.
Gillet, C. C, Lcs Champignons de la France, Hynr
mycetes. Alenv,on 1877 — 95.
Gonnermann-Rabenhorst, Mycologia Europaea
Dresden 1S09— 1S73.
Michael, E., Fuhrer für Pilzfreunde. 3 Bdchen,
Zwickau 1901 — 1905.
M igula.W,, Kryptogamen-Flora. Bd. III: Pilze. Gera 1912,
Krombholz, J. V., Naturgetreue Abbildungen und
Beschreibungen der eßbaren, schädlichen und verdächtigen
Schwämme. Prag 1831 — 1849.
Rabenhorst- Winter, Kryptogamenflora, Pilze.
Leipzig 1SS4.
Ricken, A., Die Blätterpilze. Leipzig 1915.
Schaeffer, J. Chr., Natürliche ausgewählte Abbildungen
bayerischer und pfälzischer Schwämme. Regensburg 1 762— 1 770.
Schroeter. J,, Die Pilze Schlesiens. Breslau 1889.
Vitt ad in i, C, Descript. dei Funghi mang, e velen.
d'Italia. Milano 1835.
434
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
Kleinere Mitteilungen
Fledermausguanolager in der Umgebung von
Budapest. In jenen Höhlen , die zum Versteck
der Fledermäuse geeignet sind, findet man häufig
bedeutende Mengen von Guano. Die in der Um-
gebung von Budapest, im Solymärer Dachstein-
kalk vorkommende Höhle ist besonders reich an
Guano. Die Höhle, auch Teufelsloch genannt,
ist bereits seit längerer Zeit bekannt und einige
Proben des vorkommenden Guanos, die ich dem
ufelslochhühlc.
landwirtschaftlich-chemischen Institut der techni-
schen Hochschule in Budapest zukommen ließ,
wurden auf ihren Düngerwert bereits im vorigen
Jahre untersucht.
IVIit Hilfe einiger Studierenden wurde nun im
vergangenen Winter eine eingehende Untersuchung
dieser Höhle, deren Einfahrt die zahlreichen Ver-
engungen und die bedeutenden Niveauänderungen
erschweren , unternommen. Die sciiematische
Aufnahme, mit Bezeichnung der Fundorte ge-
nommener Proben, ist in Abb. i angegeben.
Zu vielen Tausenden scharten sich im Winter-
schlaf die Fledermäuse und hingen von den Kanten
und Tropfsteinen der Höhle in dichten Gruppen
herab (Photographische Aufnahme, Abb. 2). Der
Guano selbst erscheint als eine braune, erdige
Masse, die nur an einzelnen Stellen und in den
oberen Schichten deutlich ammoniakalisch riecht.
Je nach der Menge des einsickernden Wassers
ist der F"euchtigkeitsgrad desselben eine sehr ver-
änderlicher. Die beiläufig geschätzte Menge des
in einzelnen Teilen der Höhle vorkommenden
Guanos und die Resultate der chemischen Analysen
mitgebrachter, bei 100" C getrockneter Proben,
sind in Tabelle i angegeben. ') Der Stickstoff-
gehalt schwankt zwischen 0,54 — 10,26 "/i, , doch
ist ungefähr die Hälfte desselben als Chitin an
die Plügelrückstände aufgezehrter Insekten ge-
bunden.
Die Grenzwerte des Phosphorsäuregehaltes
und der erhaltenen Asche waren 2,40 — /.SS"/»«
bzw. 33,18 — 69,05",,. Gesteinstrümmer und Ton
geben besonders bei jenen Proben größere Prozent-
zahlen, die aus den verhältnismäßig guanoarmen
Teilen der Höhle genommen wurden. Die
Mächtigkeit der Guanoschichten ist sehr ver-
änderlich. Stellenweise beträgt dieselbe nur
') Bei den Analysen war mir Frl. Dr. E. Menth
hilflich. Für die pbotographische Aufnahme Sprech
dem Herrn Dr. K. Jordan meinen besten Dank aus.
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
435
Tabelle i.
Teufelsloch
Nagyszä
11
m
IV
V
VI VII VIII
IX
X
XI
I
II III
IV
V
Guano in q
160
5°
120
140
160 70 : —
90
420
'5
-
- i -
~
-
Stickstoff 1 0'
N ( '»
6,40
4.97
9,28
0.54
7,08 1 2,11 9,70
10,26
8,55
1,76
2.48
3.15
4,04
1,27
1,06
Phosphor- 1
pS i"'"
5."
3,82
6,30
2,40
5.99 2,84 i 7.33
6,56
6,07
2,61
6,60
2.77
4,89
6,68
5.42
einige Zentimeter, wogegen in den Vertiefungen
mehrere Meter gemessen wurden, ohne den Boden
anzutreffen. Die Menge des in den bezeichneten
Stellen vorkommenden Guanos kann auf ca. 1 500
Meterzentner geschätzt werden, doch muß die in
der Höhle vorkonmiende Gesamtmenge desselben
bedeutend größer sein.
Es wurde auch eine andere Höhle in der
Umgebung von Budapest, am Berge Nagyszal
(bei Waitzen) auf seinen Guanogehalt nachgeprüft.
In einem einzigen Räume konnte ich da ca. 350
Meterzentner antreffen. Die Analysen der aus
verschiedenen Tiefen und Teilen genommenen
Proben sind in Tabelle i angegeben.
Was die Ausbeute der Fledermausguanolager an-
belangt, so kann es zu derselben, trotz des Phosphat-
mangels, erst dann kommen, sobald die Ange-
legenheit einflußreiche Protektoren erhalten hat.
Eventuell wird sich im kleinen derselbe Fall
wiederholen, wie beim Erdgas. Bereits vor hundert
Jahren haben dasselbe die Siebenbürger Sachsen
benützt. Zur Ausbeute des nun zufälligerweise
in größerer Menge vorgefundenen (lases kam es
aber erst mit der Unterstützung und unter der
Leitung der Deutschen Bank.
Prof. Dr. M. Rc'izsa (Budapest).
Einzelberichte.
Biologie. Da Goethes „Wahlverwandt-
schaften" noch niemals von naturwissenschaftlicher
Seite aus kritisch beleuchtet worden sind, untersucht
Johannes Orth in einer interessanten Studie
das biologische Problem in Goethes Wahlverwandt-
schaften (Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen
Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1916,
zweiter Halbband, Stück L, S. 1198 — 12 12).
In den „Wahlverwandtschaften" entspringt be-
kanntlich einer lieblosen Umarmung von Eduard
und Charlotte ein Kind, das die Eigenschaften
zweier anderer Personen besitzt, an deren eine —
nämlich Ottilie — Eduard im Augenblicke der
Kohabitation gedacht, und an deren andere —
nämlich den Hauptmann — Charlotte. Orth geht
nun dem Problem nach, ob es tatsächlich möglich
sei, daß männliche und weibliche Keimzellen
während des Beischlafes sich durch gewisse
Phantasievorstellungen so verändern können, daß
schließlich der Nachkomme ganz besondere Körper-
eigenschafien zur Welt bringe. Die Annahme, daß
seelische Einwirkungen im Augenblick der Um-
armung bestimmend für die Gestalt des Nach-
kommen sein könnten, erweist sich als ganz alt,
wie Orth ausführlich zeigt. Aus der Erörterung
aller einschlägigen Fragen der Vererbungslehre
ergibt sich dann nach ihm, daß die Goethesche
PLrklärung der besonderen Körpereigenschaft des
Kindes von Eduard und Charlotten zwar gewisser,
tatsächlicher Grundlagen nicht entbehre, da sich
die Keimzellen der beiden Erzeuger gerade in
ihrer sog. sensiblen Phase befanden, also in der
Phase, in welcher jedenfalls eine besondere
Empfänglichkeit für veränderungsbewirkende Be-
dingungen besteht. Indessen ist eine gleichzeitige
Einwirkung der beiden Erzeuger nach Orths
Darlegungen nicht denkbar. Wenn es sich nur
um eine Einwirkung auf das Ei allein handelte,
so wäre, da es sich vermutlich noch im Ovar
Charlottens befand, wenigstens noch eine Ab-
hängigkeit vom Körper vorhanden gewesen, und
durch psychische Emotionen hätten vielleicht
sekretorische Vorgänge ausgelöst werden können,
wenngleich auch damit die für das zukünftige
Soma formgebenden Einwirkungen uns noch un-
erklärbar sind. Wie kann jedoch ein solcher Ein-
fluß auf die Spermien stattgefunden haben, die
bereits alles körperlichen Zusammenhanges ent-
rückt waren ? Hier versagt unsere Erklärung, und
wir können mit Orth in dem ganzen biologischen
Problem in Goethes „Wahlverwandtschaften" nur
dichterische Phantasie, nicht Wirklichkeit sehen.
Rudolph Zaunick, Dresden.
436
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
Zoologie. Über das Vorkommen von physio-
logischen örtlichen Rassen beim Grasfrosch, die
sich also nicht nach äußeren Kennzeichen der
einzelnen Stücke, sondern nur nach gewissen
physiologischen oder entwicklungsmechanischen
Verhaltungsweisen unterscheiden lassen, handelt
eine Arbeit von B. Dürken. Dieser Forscher
hat nämlich folgendes bei Rana fusca aus der
Gegend von Göttingen festgestellt, was bei Fröschen
der gleichen Art, aber aus anderer Gegend, nicht
wiederzukehren scheint: sehr frühzeitige Entfernung
einer embryonalen B e i n a nl ag e unter Verhinderung
der Regeneration bewirkt, daß oft auch die anderen
drei Beine in ihrer Entwicklung gehemmt werden,
unter Umständen bis zur gänzlichen Unterdrückung
eines nicht operierten Beines. Entsprechende
Entwicklungshemmungen fanden sich in solchen
Fällen am Skelett, nicht minder am Zentral-
nervensystem: bei normaler Beschaffenheit der
Gewebe treten abnorme Asymmetrien im Rücken-
mark, Mittel- und Vorderhirn an den Zentren der
exstirplerten Beinanlage auf, und diese Ent-
wicklungshemmungen greifen wiederum über auch
auf die Nerven und Zentren der nichtoperierten
Gliedmaßen. Frühzeitige Exstirpation eines Auges
ferner ruft im Mittelhirn zunächst auf der
einen, dann auf der anderen Seite die gleichen
Entwicklungshemmungen hervor wie die Ent-
fernung einer Gliedmaße. Diese greifen weiterhin
auf die Gliedmaßen sowie auf das andere Auge
über, so daß auch an diesen Teilen dann Hemmungen
beobachtet werden. Der verwickelte Korrelations-
komplex, in welchem jeder Teil auf die normale
Entwicklung des anderen von Einfluß ist, da seine
Zerstörung schrittweise die anderen Teile
schädigt, läßt sich abgekürzt so schreiben :
Auge
Auge
Vorderbein
Rückenmarks- / \ Rückenmarks-
zentren / \ Zentren
Vorderbein
Rückenmarks-
zentren
Rükenmarks-
zentren
Hinterbein
Hinterbein
Merkwürdigerweise hat nun ein anderer Forscher,
Luther, der an Froschmaterial aus der Gegend
von Rostock arbeitete, nach Entfernung von
Extremitäten keine korrelativen Einwirkungen
beobachtet und somit die ganz gewiß sorgfältig
gewonnenen, oftmals sich selbst bestätigenden
und nicht im mindesten unwahrscheinlichen Er-
gebnisse Dürken 's nicht bestätigen können.
Dürken möchte hieraus schließen, daß es sich
bei den I'Vöschen von Rostock um eine sich anders
verhaltende Lokalrasse handeln muß als bei denen
aus Göttingen, und dabei erinnert er daran, daß,
nach R. H e r t w i g ' s einwandfreien P'eststellungen,
in anderer Hinsicht Rana esculenta physiologisclie
Lokalrassen hat: bei der einen tritt sehr früh-
zeitige Bestimmung des Geschlechts ein, bei der
anderen herrscht lange Zeit ein indifferenter Zu-
stand, der die künstliche Geschlechtsbestimmung
weitgehend ermöglicht (B. Dürken: Über Ent-
wicklungskorrclation und Lokalrassen bei Rana
fusca. Biol. Zentralbl. Bd. 37, 191 7, Nr. 3).
Franz.
Über Bau und Entwicklungsgeschichte der
Mallophagen. — Die Pelzfresser, Federlinge,
Haarlinge oder Mallopliagcn sind kleine In-
sekten, die auf der Haut, zwischen den Haaren
oder den Federn von Warmblütlern, von Säuge-
tieren sowohl wie hauptsächlich von Vögeln, leben.
Die Mallophagen sind, wenn sie auch häufig in
Massen das Haar- oder Federkleid ihrer Wirte be-
völkern, für diese nicht schädlich, da sie nicht,
wie die Tierläuse das Blut ihrer Wirte mit ihrem
Stich entnehmen, sondern sich lediglich von Haaren
oder P'edern, eventuell noch von oberflächlichen
Hautschüppchen nähren. Die Zahl der Haarlinge
auf allen Säugetieren — nur wenige Ausnahmen
gibt es, wie die Waltiere, die Elefanten und F"leder-
mäuse, die keine Haarlinge besitzen — ist Legion
und besonders die Vögel sind oftmals mit den
Parasiten gleichsam übersät. Trotzdem sind unsere
Kenntnisse von der Biologie und der Systematik,
von der Anatomie und Entwicklungsgeschichte der
Haarlinge noch äußerst lückenhafte. In den letzten
Jahren erst hat Henrik Strindberg eingehen-
dere wissenschaftliche Untersuchungen angestellt
über die Entwicklungsgeschichte und den Bau
dieser interessanten Tiere. ') Er hat sich dabei
als P'orschungsmaterial der bekannten Haarlinge
des Meerschweinchens {Cavia cobaya Schreb.),
des (ilin'cola gnnilis N. und des Gyro'pus o^'aii'sN.
bedient. Die anatomischen Verhältnisse und in
erhöhtem Maße noch die entwicklungsgeschicht-
lichen Ergebnisse, wie sie sich bei den beiden
untersuchten Mallophagen darstellten, lassen
Strindberg vermuten, „daß eine ausgeprägte
Verwandtschaft mit denisoptera, Termiten,
herrscht". Allerdings, um die Inxierung der ge-
nauen Stellung der Haarlinge im Insektenreiche,
sowie der Zusammengehörigkeit der verschiedenen
E'amilien und Gattungen innerhalb derselben Ord-
nung zu ermöglichen, dazu bedarf es auch nach
Strindberg's Ansicht noch eingehendster ana-
tomischer P'orschung. H. W. P^ickhinger.
Mineralogie. Weiterwachsen von Orthoklas
im Ackerboden, worüber O. Mügge im Central-
blatt iür Mineralogie, Geologie und Paläontologie
') Zeitschr. f. wissensch. Zoologie, Bd. 115, H. 3.
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
437
191 7 Nr. 6 eine kurze Mitteilung gibt, klingt höchst
merkwürdig, denn jedes geologische Lehrbuch
führt den Zerfall des Feldspates in seine Bestand-
teile als ein Beispiel der chemischen Verwitterung
an. Und doch wird auch ein Weiterwachsen selbst
im Ackerboden beobachtet. Beim Hemers Bauer
auf dem linken Ufer der Eger westlich Karlsbad
wurden vor etwa 20 Jahren reichlich Karlsbader
Zwillinge gesammelt, die von dort in alle Samm-
lungen der Welt gewandert sind. Zumeist waren
es Bruchstücke mit unebener oder zerfressener
Oberfläche, die sich zur Erläuterung des Zwillings-
gesetzes sehr gut eigneten. Die alten Bruch-
flächen tragen einen kleinen Überzug von neu-
gebildetem Orthoklas, dessen Flächen mit denen
des Hauptkristalls annähernd gleichzeitig ein-
spiegeln. Desgleichen sind zu erwähnen die Feld-
spatvorkommcn vom Schneekopf und Ochsenkopf
im Fichtelgebirge und von Wunsiedel, soweit sie
ausgewittert sind. Neubildungen fehlen auf den
aus dem Gestein frisch herausgeschlagenen Ein-
sprengungen. iVlügge erwähnt noch, daß Grand-
jean in zahlreichen Kalken von karbonischem bis
tertiärem Alter Neubildungen von Feldspat beob-
achtet hat, die z. T. gleichzeitig mit den Sedi-
menten entstanden sind und ebenso hat van Hise
in sehr alten Sandsteinen von Eagle Harbour ein
Weiterwachsen von Feldspat beobachtet.
Ref. möchte weiterhin darauf aufmerksam
machen, daß G. Fischer in seiner vorzüglichen
Arbeit: „Beitrag zur Kenntnis der unterfränkischen
Triasgesteine" (Geogn. Jahreshefte 1908) eine reich-
haltige Literatur über Neubildungen von F"eldspat
erwähnt. Außerdem konnte H. Fischer im Sedi-
ment neugebildete (also nicht transportierte) klare
mikroskopische Feldspatkristalle in umkristalli-
sierten Triaskalken häufig beobachten. Es scheint,
daß die Bildungsmöglichkeit für diagenetisch ent-
standene Feldspatkristalle noch etwas besser ist
als für Quarzkristalle. Ebenso konnten an Feld-
spatbruchstücken des Trigonoduskalkes und des
Letteiikohlenhauptsandsteines die bei Quarzen
besser bekannten Regenerationserscheinungen nach-
gewiesen werden. Neugebildete Feldspatkristalle
ebenso wie Quarzkristalle kommen nur in um-
kristallisierten, also diagenetisch veränderten Ge-
steinen vor. Sie sind da am häufigsten, wo die
Umkristallisation am größten war.
V. Hohenstein.
Botanik. Beziehungen zwischen Funktion und
Lage des Zellkerns. Vor 30 Jahren hat Haber-
fandt die Beobachtung mitgeteilt, daß der Zell-
kern in wachsenden Pflanzenteilen sich meist in
der Nähe derjenigen Stelle befindet, an der das
Wachstum der Zelle am lebhaftesten vor sich
geht oder am längsten andauert. Er schloß daraus,
daß der Kern auf das Wachstum der Zellhaut und
der Zelle überhaupt einen bestimmenden Einfluß
ausübt. Bei Wurzelhaaren und einzelligen Haaren
an oberirdischen Organen wandert der Kern sogar
in das wachsende Haar hinein und hält sich
meistens nicht weit von der Spitze entfernt, und
hiermit steht es im Einklang, das die Wachstums-
zone, wie Haberia n dt durch Markierungsver-
suche ermittelte, nur in das halbkugelförmige Ende
des Haares fällt. 20 Jahre nach dieser Veröffent-
lichung wies Küster auf einige Tatsachen hin,
die der Theorie Haberlandt's widersprachen.
Er hatte nämlich gefunden, daß in den Wurzel-
haaren bestimmter Pflanzen der Kern stets an der
Basis lag. Zumeist handelte es sich dabei um
die Wurzelhaare von Wasserpflanzen und von
Aroideen und Orchideen mit Luftwurzeln.
Erich Windel, der die F'rage im Berliner
pflanzenphysiologischen Institut neuerdings einer
experimentellen Prüfung unterzogen hat, fand bei
Luftwurzeln den Kern gerade in den jüngeren,
lebhaft wachsenden Haaren der Spitze des Haares
sehr oft so genähert, daß hier seiner Ansicht nach
von typischen Ausnahmen nicht gesprochen werden
kann. Dagegen bestätigt er die Angaben Küster's
für Wasserpflanzen (Hydrocharis morsus ranae und
Trianea bogotensis). Der Kern lag ausnahmslos
im Grunde der Wurzelhaarzelle. Durch Messungen
an Haaren, an denen durch Bestäubung mit feinster
Mennige Marken hergestellt waren, wurde fest-
gestellt, daß auch diese Haare nicht etwa an der
Basis, sondern wie die Wurzelhaare von Land-
pflanzen an der Spitze wachsen.
Aber diese Tatsache reicht, wie Windel zeigt,
nicht aus, um dem Zellkern die angenommene
Bedeutung für das Wachstum abzusprechen. Die
Wurzelhaare der untersuchten Wasserpflanzen sind
nämlich durch lebhafte Bewegung ihres reichen
Plasmainhalts ausgezeichnet. Es wäre daher mög-
lich, daß eine Verlagerung des Kernes deshalb
überflüssig wird, weil vom Kerne ausgeschiedene
Stoffe rasch zur wachsenden Spitze gelangen
können. Um Anhaltspunkte für diese Annahme
zu gewinnen, kultivierte Windel die beiden
Wasserpflanzen in der Weise, daß die Wurzeln
sich statt in Wasser in Sand befanden. Es gelang
ihm durch geschickte Versuchsanordnung, bei der
teils grober, mit einer Wasserschicht bedeckter,
teils ganz feiner, mit Wasser durchfeuchteter und
nur anfangs wasserüberschichteter Sand zur Ver-
wendung kam, eine Anzahl solcher Kulturen einige
Wochen hindurch zu erhalten. Gleich nach Ab-
schluß des Versuchs wurden die Wurzelhaare
fixiert.
Es zeigte sich nun, daß die Wurzelhaare in
dem groben Sand da, wo sie auf den Wider-
stand von Sandteilchen trafen. Formen annahmen,
wie sie an Landpflanzen auftreten; sie waren
mehrfach gewunden und hatten keulig verdickte
und gelappte Enden. Und hier fand sich der
Zellkern, der unter normalen Bedingungen nie-
mals die Basis verläßt, fast ausschließlich an den
Stellen, wo das Haar zu den besonderen Gestal-
tungen gezwungen war. Oft wiesen verhätnis-
mäßig lange Haare unmittelbar hinter der Spitze
den Kern auf. Bei Haaren mit mehreren Auf-
438
Naturwissenschaftlich e Woch ensch rift.
N. F. XVI. Nr. 31
treibungen fand sich der Kern stets in der jüngsten
Auftreibung. In den Wurzelhaaren, die ungestört
gerade gewachsen waren, • — augenscheinlich solche,
die sich in wassererfüllten Hohlräumen entwickelt
hatten — , lag der Kern regelmäßig in der Basis.
In dem dichteren Medium, das der feine Sand
darstellte, kamen die erwähnten Anschwellungen
an den Wurzelhaaren wegen des Fehlens größerer
Körnchen, die umwachsen werden mußten, nicht
zustande. Die Haare behielten ihre normale Ge-
stalt bei, zeigten aber häufig Membranverdickungen
am Scheitel, die vermutlich durch den Widerstand
des Mediums ausgelöst waren. Der Kern lag hier
in vielen Fällen in der Spitze des Haares. Bei
abnehmendem Wassergehalt und dadurch ge-
steigerter Dichte des Mediums nahmen die Kern-
verlagerungen stetig zu, so daß in der Hälfte der
untersuchten Haare der Kern in ihrem oberen
Teile lag.
In den j ünge ren Haaren fand sich der Kern
zumeist in der Nähe des Scheitels. Auch bei den
Wurzelhaaren der Landpflanzen hat er nur in den
jugendlichen Haaren diese Lage, während sie in
den ausgewachsenen Haaren wechselt.
Bei den geschilderten Kernverlagerungen in
Sandkulturen handelt es sich nicht um Folgen
einer Verwundung (Traumatotaxis), wie sie von
Nest 1er, Mi ehe u.a. beschrieben worden sind.
Die Möglichkeit einer chemotaktischen Wanderung
(Ritter) scheidet ebenso aus, da der sorgfältig
gereinigte Sand als chemisch indifferent anzusehen
war. Auch eine passive, durch Strömung oder
Zusammenballung des Plasmas herbeigeführte Ver-
lagerung des Kerns betrachtet Verf. nach seinen
Beobachtungen und Versuchen für ausgeschlossen.
Dagegen hat er festgestellt, daß die Schnelligkeit
der Plasmaströmung in den Wurzelhaaren der
Sandkulturen gegenüber der Strömungsgeschwin-
digkeit in den normalen (im Wasser wachsenden)
Wurzelhaaren bedeutend herabgesetzt ist. Er
schließt daraus, daß eine gewisse Annäherung
des Kernes an die wachsende Haarspitze not-
wendig sei, damit der stoffliche Einfluß des Kernes
auf die Plasmahaut der Spitze gesichert werde.
Wenn weit hinter der Spitze Wülste und Aus-
sackungen gebildet werden sollen, sei die un-
mittelbare Nähe des Kernes notwendig, da an
solchen Stellen die Plasmahaut erst wieder zur
Membranbildung angeregt werden müsse.
Die Ortsveränderung des Kernes ist als eine
Reizbewegung anzusehen und als thigmotaktisch
zu bezeichnen, „da sie zweifellos durch die Be-
rührung der Wurzelhaare mit den Sandkörnchen
bzw. durch den von diesen geleisteten Widerstand
ausgelöst wird."
Zur Stütze seiner Deutung, die der Theorie
Haberlandt's günstig ist, führt Verf. noch zwei
Beobachtungen an : erstens, daß in den Wurzel-
haaren des Hafers die hier ausnahmsweise vor-
handene rasche Plasmaströmung mit einer mehr
basalen Kernlagerung verknüpft ist, und zweitens,
daß die im Wasser entstehenden Wurzelhaare von
Azolla caroliniana, die so lange von der Wurzel-
haube umschlossen bleiben, bis sie eine beträcht-
liche Länge erreicht haben, den Zellkern in der
Spitze führen; er erklärt dies mit dem be-
deutenden Widerstände, den die stark eingeengten
Haare unter der Wurzelhaube finden. (Beiträge
zur allgemeinen Botanik Bd. i, S. 45 — 79.)
F. Moewes.
Anatomie. Wie aus den Untersuchungen von
Richard Hertwig hervorgeht, spielt im Leben
der Zelle des Organismus das Mengenverhältnis
von Kern-und Protoplasma eine äußerst wichtige
Rolle. Dies ergibt sich, von der Vererbung ab-
gesehen, schon daraus, daß die Störung der Kern-
plasmarelation, welche infolge des Zellwachstums
eine Verschiebung zu Ungunsten des Kerns erfahren
hat, Ursache der Zellteilung ist.
Von P. Schiefferdecker (Pflüger's Archiv
Bd. 165, II. u. 12 Heft, 1916) erfahren wir, daß
das Verhältnis der Fasern und Kerne der Musku-
latur des menschlichen Herzens zueinander ge-
wissen Schwankungen unterliegt. Die Durchschnitts-
zahl beim Erwachsenen für das Verhältnis der
Kernmasse zur Herzfasermasse beträgt 3,73 : 3,90.
Die Größe des Faserquerschniltes nimmt mit dem
Alter zu, ebenso werden dann die Sarkoplasmahöfe
größer und besonders deutlich bei Herzhyper-
trophie. Es unterliegt also das Verhältnis von
Muskelkern und -faser zueinander Verschiebungen,
je nach dem Lebensalter. Wenn auch die Kern-
volumina im einzeln stark verschieden sind, so
sind doch die Verschiedenheiten zwischen der ge-
samten Kernmasse gering. Die Querschnittsgröße
der Muskelfaser nimmt zu in den zwei ersten
Lebensjahren (25"/„) und vom 15. oder 16. Lebens-
jahr bis zum Erwachsenen (41%). Nach Schieffer-
decker gehören alle Menschen zu einer bestimmten
Gruppe mit großen oder kleinen Kernen. Beim
Kamerunneger und Chinesen war der Faserquer-
schnitt um etwa 40" (, größer als bei den Deutschen,
im Maxium sogar äg^j^. Entweder sind die Men-
schen in dieser Beziehung reinrassig oder nur das eine
ihrer Eltern gehörte zu einem der beiden Stänmie.
Die Untersuchungen Sch.'s bezogen sich auf 20
menschliche Herzen von verschiedenen Lebens-
altern. Das Herz war zweimal i Jahr, einmal i %,
einmal 2 Jahre, zweimal 3 Jahre, einmal nicht
genau bestimmt 3 — 4 Jahre alt; es folgten jetzt
gleich 10 Jahre, dann zweimal 15 und einmal
16 Jahre, dann 22, 24, 27, 52 Jahre, soweit han-
delte es sich um Deutsche; außerdem erhielt Seh.
ein Herz von einer 77 jährigen Italienerin, einem
21 jährigen Kamerunneger und einem 30jährigen
Chinesen.
Was die Veränderungen im Laufe des Lebens
anbetrifft, so wächst die Kernmasse von der Ge-
burt an bis zur Beendigung des Wachstums und
die Zahl der Kerne, auf welche sie sich verteilt,
ist bereits im 10. Lebensjahr gleich der beim
Erwachsenen. Die Schwankungen im Verlauf des
N. F. XVI. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
439
individuellen Lebens werden nun durchaus nicht
durch eine Größenabnahme der Kernmasse ver-
ursacht, welche vielmehr stets gleich bleibt, sondern
dieselbe wird auf verschieden zahlreiche und dem-
entsprechend auf verschieden große Kerne verteilt.
Die Differenz in den verschiedenen Lebensaltern
beträgt nur 13 — M^/o, die urrassige Verschieden-
heit aber ist weit größer, nämlich 30—40% der
kleineren Zahl. Je feiner und zahlreicher die
Muskelfasern und -kerne sind, um so mehr kann
die Tätigkeit des Muskels differenziert werden.
Gerade die Herzmuskeln zeichnen sich nun durch
die Feinheit und große Zahl der Fasern vor der
Skelettmuskulatur aus.
Das Verhältnis der Kerngröße zur Muskelfaser
muß besonders groß sein bei starken körperlichen
Anstrengungen ; vielleicht seien bei den Feldsoldaten
manche üble Zufälle auf eine zu geringe Größe
des Kerns der Herzmuskelfasern zurückzuführen.
Kathariner.
Bücherbesprechungen.
C. Doelter, Die Mineralschätze der Bal-
kanländer und Kleinasiens. Lex. 8,
VII u. 138 S., 27 Textabb. Stuttgart 191 6,
Ferd. Enke. — Brosch. 6,40 M.
Die vorliegende, sehr zeitgemäße Darstellung
des durch eigene einschlägige Arbeiten in den
Balkanländern bekannten Wiener Mineralogen
möchte die Kenntnis der nutzbaren Lagerstätten
der genannten Länder fördern und verbreiten, da
zu hoffen steht, daß die letzteren uns nach dem
Weltkriege nicht nur wirtschaftlich und politisch
näher kommen werden, sondern in ihnen auch
ein erneuter Aufschwung in bergbaulicher Hinsicht
erfolgen wird, dessen die durch die Balkanwirren
beunruhigten Länder durchaus bedürfen. Außer
Bosnien, dessen Lagerstätten in dem vorliegenden
Buche nicht mit behandelt wurden, ist besonders
das alte Serbien, wie es vor den Balkankriegen
bestand, in bergbaulicher Beziehung einigermaßen
gut bekannt, während die über Bulgarien, Albanien
und Mazedonien gesammelten Daten einen An-
spruch auf Vollständigkeit nicht erheben können.
Das Erliegen des einst so blühenden, bis in die
Römerzeit, ja in einzelnen Distrikten bis in prä-
historische Zeit zurückgehenden Bergbaues be-
ruhte auf verschiedenen Ursachen. Außer der
Entdeckung Amerikas und der größeren Nutzbar-
machung Asiens, welche beide viele Metalle
lieferten, was natürlich auf die Preise drückte,
sind noch ai\dere Gründe mitbestimmend gewesen.
Dahin gehören Abnahme des Erzadels, nachdem
die reicheren Erze abgebaut waren, höhere Arbeits-
löhne infolge Fehlens von ohne Lohn arbeitenden
Sklaven und Kriegsgefangenen , endlich die Ab-
holzung der in der Nähe der Bergbaue gelegenen
Wälder zum Zwecke des „Feuersetzens", das hier
wegen Mangels an Sprengmitteln üblich war.
Schließlich kam bezüglich des Erliegens des
Bergbaues auch noch das von den Sultanen nach
der Eroberung dieser Länder erlassene Ausfuhr-
verbot für Edelmetalle in Betracht; Kriege, Aus-
treibung der bis dahin produzierenden Bevölkerung
und andere Umstände taten dann das Übrige,
um den Stillstand bald zu einem definitiven werden
zu lassen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist
durch fremdes Kapital, insbesondere französisches
und belgisches, weniger deutsches, der Bergbau
in einigem Umfange wieder aktiviert worden.
Doch wird dessen Zukunft neben der Herstellung
guter Verbindungen ganz davon abhängen, ob
künftige Regierungen demselben mit Wohlwollen
und Interesse gegenübertreten und in der Lage
sein werden, unlautere Elemente, wie sie nur zu
häufig zum Schaden der beteiligten Kapitalisten
ihr Spiel getrieben haben, fernzuhalten. Erste
Vorbedingung aber bleibt noch eine unparteiische,
wissenschaftliche Untersuchung der Lagerstätten,
welche erst endgültig feststellen kann , was an
Vorräten der einzelnen nutzbaren Mineralien
überhaupt vorhanden ist. Namentlich Serbien,
welches an mehreren Punkten wertvolle Metalle,
wie Kupfer, Antimon, Chrom enthält, dürfte unter
den genannten Umständen eine günstige berg-
bauliche Prognose gestellt werden können. Der
Besprechung der Vorkommen von nutzbaren
Mineralien (einschließlich Kohlen und Mineral-
quellen) in diesem Lande folgt das gleiche für
Bulgarien, Mazedonien, Griechisch-Mazedonien (und
Thessalien), Europäische Türkei (nebst Albanien
und Montenegro), sowie Asiatische Türkei, insbe-
sondere Kleinasien. Für letzteres läßt sich eine
sehr günstige Prognose stellen, falls die Beförde-
rungs- und Verkehrsverhältnisse merklich ge-
bessert werden , da dieselben zurzeit noch sehr
im argen liegen. Neben Kohlen, Erdöl, Asphalt
und Steinsalz kommen von Erzen namentlich
Chrom- und Kupfererze, auch Eisenerze in Be-
tracht. Letztere sind zum Teil sehr hochwertig,
leiden aber naturgemäß am meisten unter Ab-
gelegenheit vom Verkehr. Im allgemeinen er-
gibt sich hinsichtlich der Mineralschätze der be-
handelten Länder ein nicht ungünstiges Bild. Es
kann daher der Doelt er'schen Übersicht über
diese, auch für unsere eigene kulturelle und in-
dustrielle Zukunft nicht unwichtigen Dinge nur
weiteste Verbreitung gewünscht werden, (g^c.)
Andree.
Doflein, Franz, Die Fortpflanzung, die
Schwangerschaft und das Gebären
der Säugetiere. Eine zoologische Feld-
vorlesung für meine im Feld stehenden Studenten.
440
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 31
5^ Seiten. Mit 25 Abbildungen im Text. Jena
1917, Verlag von G. F'ischer. — Preis geh. 1,50 M.
In der Form einer Vorlesung behandelt D o f 1 e i n
eines der interessantesten Kapitel der Biologie,
ein Kapitel, „das in und nach dem Krieg von
größter Bedeutung für uns alle sein wird". Denn
„nach dem Krieg wird es zu den großen und
heiligen Aufgaben unseres Volkes gehören, die
Verluste, die uns der Krieg an Männern gebracht
hat, zu ersetzen. Da wird es von größter Be-
deutung sein, daß gediegene Kenntnisse über die
biologischen Grundlagen der Fortpflanzung in
weiteren Kreisen verbreitet sind". Doflein
wendet sich im besonderen an seine im Felde
stehenden Schüler, die jungen Naturwissenschaftler
und Mediziner. Die Ausführungen Doflein 's,
der es trefflich versteht, seine Materie in leichtem
Plaudertone vorzutragen, werden indessen sicher
auch bei dem nicht speziell naturwissenschaftlich
oder medizinisch Gebildeten reges Interesse finden,
zumal da sie so gehalten sind, daß jeder ihnen
leicht zu folgen vermag. Gerade über die Vor-
gänge bei der Fortpflanzung, über die Befruchtung,
die Schwangerschaft und den Geburtsakt, herrscht
in Laienkreisen oft eine fast unglaubliche Un-
wissenheit. Schuld daran trägt natürlich in erster
Linie die gänzlich ungenügende Behandlung dieser
Fragen im Biologieunterricht der Schulen, sodann
jedoch auch der Mangel an populären, zugleich
aber wissenschaftlichen Darstellungen des Themas.
Möge daher das vorliegende Werkchen nicht nur
recht häufig ins Feld hinauswandern, sondern auch
sonst weite Verbreitung finden und dazu bei-
tragen, die Kenntnisse über diese so wichtigen
Fragen zu verbreiten.
Doflein beginnt, um nur einiges über den
Inhalt mitzuteilen, mit einer Besprechung der
Geschlechtszellen und ihrer Reifung. Es schließt
sich an eine Darstellung der Befruchtungsvorgänge.
Weiter berichtet er dann über den Bau des
weiblichen Geschlechtsapparates und seine Funk-
tion, über die Beziehungen der Mutter zur Frucht,
über den Geburtsakt und die bald mehr, bald
weniger große Sorge der Mutter um ihre Jungen.
Eine Reihe guter Abbildungen ist dem Texte
beigegeben.
Mit einem Appell an seine Studenten, Körper
und Seele rein zu halten im Felde wie in der
Heimat und stets dessen eingedenk zu bleiben,
daß von der Gesundheit und Kraft unserer männ-
lichen Jugend das Glück und Gedeihen Deutsch-
lands abhängt, mit der Mahnung, die Ehrfurcht
vor der Mutter hochzuhalten und nicht zu ver-
gessen, welche Verantwortung auf den jungen
Männern ruht, daß sie nicht Krankheit auf Mutter
und Frucht übertragen, schließt Doflein seine
Ausführungen. Nachtsheim.
Mehmke, Rudolf, Dr., Leitfaden zum gra-
phischen Rechnen. Mit 1 2 1 F"ig. im Text.
152 S. Sammlung math.-physik. Lehrbücher 19.
Leipzig undBerlm 1917, Teubner. — Geh. 4,80 M.,
geb. 5,40 M.
Das Buch enthält zunächst die Vorlesungen
des Verfassers an der technischen Hochschule in
Stuttgart, ist aber bestimmt für alle, die bei Auf-
lösung algebraischer und analytischer Gleichungen
die Wurzeln numerisch erhalten wollen. Diese
Aufgabe wird in sehr befriedigender Weise er-
füllt, indem systematisch zuerst die gewöhnlichen
Rechnungen und Auflösungen von Gleichungen
behandelt werden, unter Anwendung gewöhnlicher
und logarithmischer Maßstäbe. Dann wird Diffe-
rentiation und Integration behandelt, und bis zu
der Lösung von Differentialgleichungen dritter
und höherer Ordnung fortgeschritten. Dadurch,
daß die einzelnen Aufgaben an Hand der Figuren
bis zur Lösung durchgeführt werden, erhält das
Buch einen ungemein praktischen Wert, so daß
ihm unter Techiükern, Ingenieuren und Physikern
weite Verbreitung zu wünschen ist. Riem.
Koppe, M., Prof., Die Bahnen der beweg-
lichen Gestirne im Jahre 191 7. Eine
astronomische Tafel nebst Erklärung. Berlin
19 17, Springer. — 0,40 M.
Das Heftchen ist den Freunden der Himmels-
kunde ein bewährter Führer, der durch einen
Blick auf die Zeichnungen angibt, ob ein Planet
sichtbar ist, wann und wo. Auch die gegenseitige
Stellung der beiden sonnennahen Venus und
Merkur als Abend- oder Morgenstern ist besonders
dargestellt. Neu ist die Bestimmung der Süd-
richtung mit Hilfe der Taschenuhr, die sich gegen
die zwar einfachere aber falsche Vorschrift wendet,
die man bei Pfadfindern, Wandervögeln usw. an-
gegeben findet. Es wäre wünschenswert, daß das
Heftchen schon immer im Herbst des Vorjahres
erschiene, um bei Zeiten darauf hinweisen zu
können. Riem.
Inhalt: K. Schutt, Über den Druck der Lichtstrahlen. S. 425. S. Killermann, Maischwamm und Erdsimmerling. (5 Abb.)
S. 430. — Kleinere Mitteilungen: R6zsa, Fledermausguanolager in der Umgebung von Budapest. (2 Abb.) S. 434. —
Einzelberichte: Johannes Orth, Das biologische Problem in Goethes Wahlverwandtschaften. S. 435. B. Dürken,
Von physiologischen örtlichen Rassen beim Grasfrosch. S. 436. Henrik Strindbcrg, Über Bau und Entwicklungs-
geschichte der Mallophagen. S. 436. O. Mügge, Weiterwachsen von Orthoklas im Ackerboden. S. 436. E.Windel,
Beziehungen zwischen Funktion und Lage des Zellkerns. S. 437. P. Seh ie f f erd e c k er , Das Verhältnis der Fasern
und Kerne der Muskulatur des menschlichen Herzens zueinander. S. 438. — Bücherbesprechungen: C. Doelter,
Die Mineralschätze der Balkanländer und Kleinasiens. S. 439. Franz Doflein, Die Fortpflanzung, die Schwanger-
schaft und das Gebären der Säugetiere. S. 439. Rudolf Mehmke, Leitfaden zum graphischen Rechnen. S. 440.
M. Koppe, Die Bahnen der beweglichen Gestirne im Jahre 191 7. S. 440.
Manuskr
pte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 12. August 1917.
Nummer 33.
(Nachdruck verboten.]
Der Basenaustausch der Silikate.
Von Werner Mecklenburg.
Mit 4 Abbildungen im Text.
Einleitung.
Die Lehre vom Basenaustausch der Silikate,
ein in theoretischer und praktischer Hinsicht gleich
wichtiges und neuerdings besonders durch die
Einführung des Permutits in die Praxis der Wasser-
reinigung auch für weitere Kreise beachtenswert
gewordenes Gebiet der wissenschaftlichen For-
schung, ist aus Untersuchungen über das Absorp-
tionsvermögen der Ackererde hervorgegangen.
Als Absorptionsvermögen der Ackererde be-
zeichnet mau bekanntlich die Fähigkeit der Acker-
erde, Pflanzennährstoffe wie z. B. das Kali oder
das Ammoniak, die ihr in löslicher Form zugeführt
werden, so festzuhalten, daß sie von dem Regen
und der strömenden Bodenfeuchtigkeit nicht weg-
gewaschen werden können. Diese Tätigkeit be-
ruht indessen nicht etwa, wie man zunächst viel-
leicht meinen möchte, auf Adsorption '), sondern
auf einer, wie weiterhin noch im einzelnen dar-
gelegt werden wird, der AdbOrption in ihren
Gesetzmäßigkeiten zwar recht nahe verwandten,
grundsätzlich aber — wenigstens zunächst — scharf
von ihr zu unterscheidenden Erscheinung, nämlich
der Erscheinung, daß gewisse, im Ackerboden
vorhandene Stoffe von zeolithischem Charakter
das in ihnen enthaltene Calcium gegen das Ka-
lium oder Ammonium des Bodenwassers auszu-
tauschen vermögen. Die diesen Austausch be-
herrschenden Gesetzmäßigkeiten, im wesentlichen
schon in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts von dem hervorragenden
englischen Agrikulturchemiker J. ThomasWay
erkannt, sind im Laute der Zeit sowohl von agri-
kulturchemischer als auch von mineralogischer
Seite eingehend untersucht worden und haben
sich als so eigenartig erwiesen, daß ihre zusammen-
fassende Darstellung auch an dieser Stelle zweifel-
los von Interesse ist.
Der Basenaustausch der Silikate.
Die Darstellung schließt zweckmäßig sogleich
an ein konkretes Beispiel an.
Schüttelt man einen natürlichen oder einen
künstlich hergestellten Zeolith, der die P^ähigkeit
des Basenaustausches besitzt, bei konstanter Tem-
peratur mit einer wässerigen Lösung von Chlor-
ammonium, so wird ein Teil des vorhandenen
Ammoniumions NH^+ von dem Zeolith aufge-
nommen und gleichzeitig tritt eine dem auf-
genommenen Ion annähernd äquivalente Menge
') Vgl. Werner Mecklenburg, Die Adsorption,
Nalurw. Wochenscbr., N. F. Bd. XV, S. 409—418; 1916.
des Calciums oder eines anderen im Zeolith ent-
haltenen Ions in die Lösung über. Das Chlorion
nimmt an der Reaktion nicht teil, es bleibt un-
verändert in der Lösung. Bemerkenswert ist es
nun, daß sich zwischen dem Ammoniumion in
der Lösung und dem von dem Zeolith aufge-
nommenen Ammoniumion ein wohldefiniertes, von
beiden Seiten her einstellbares Gleichgewicht
ausbildet, das durchaus den Charakter eines Ad-
sorptionsgleichgewichtes trägt und sich auch ziem-
lich gut nach der bekannten Boedeker- van
B e m m e 1 e n 'sehen Adsorptionsgleichung ^)
y = ax''
berechnen läßt, sich von einem echten Adsorptions-
gleichgewicht aber durch den bereits erwähnten
Umstand unterscheidet, daß von dem Zeolith eine
der Menge des in ihn eingetretenen Ammoniumions
annähernd äquivalente Menge Kation an die Lösung
abgegeben ist. Als Beleg für die Richtigkeit des
Gesagten dienen die beiden Abbildungen und
die beiden Tabellen i und 2; sie zeigen, daß
(Tabelle i) die Boedeker- van Bemmelen-
Tabelle i.
Anwendbarkeit der Boedeker- van Bemmelen-
schen Formel auf das Austauschgleichgewicht
zwischen einem künstlichen Zeolith (Permutit) und
einer wässerigen Chlorammoniumlösung nach
Georg W i e g n e r.
Millimole NH.
I ccm der
Lösung
aufgenomtnen von i g Permutit
berechnet nach der
Formel
y' = 2,823 x°'336'
o.ooSS
0.5 'S
0.574
0,0274
o,So7
0,843
0,0487
'.°54
1,023
0,0964
1.356
1,286
0,0972
■.376
1,289
0,2250
1.S51
:.7.o
0,2483
1.834
1,768
0,5649
2.304
2,330
1,3429
2,726
2,556
3.0899
3,580
—
4,6943
3,436
-
') In der Gleichung ist y die von einer konstanten Menge
des Zeoliths bei konstanter Temperatur im Verteilungsgleich-
gewicht aufgenommene Menge des Ammoniumions, x die
442
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
sehe Gleichung das Austauschgleichgewicht ebenso Ammoniun\s als Funktion der Gleichgewichts-
gut oder ebenso schlecht wiedergibt wie ein konzentration in der Lösung darstellt, den
gewöhnliches Adsorptionsgleichgewicht — so gleichen Charakter wie eine gewöhnliche Adsorp-
versagt sie insbesondere beim Austauschgleich- tionskurve (Abbildung 2) hat.
/ J
rl
Sio-ywn^.
Adsorption von Arsenik durch hydratisches Eisenoxyd nach Werner Mecklenbi
gewicht ebenso wie beim Adsorptionsgleichgewicht
für die höheren, dem konstanten Endwerte sich ^•»
nähernden Konzentrationen — , daß (Tabelle 2)
Tabelle 2.
Beweis dafür, daß der Basenaustausch annähernd
im Äquivalentverhältnis erfolgt. Nach Geor
W i e g n e r. Versuchsmaterial : ein
Zeolith (Permutit).
künstlicher
In der Lösung waren
vor der Adsorption
enthalten MiUimole
und sind nach der Adsorption in der
Gleichgewichtslösung enthalten
MiUimole
NH« +
NH4 +
'/jCa-H-| K-t-
Summe
34,060
24,807
6,387
3.326
34.520
17,084
10,208
4,616
2.475
17,299
10,291
S.019
3-490
2,069
10,578
6,825
2,792
2.541
1,732
7,065
3.467
0,882
1,678
1,184
3.744
Konzentration des Ammoniumions in der Gleichgewichts-
lösung, a eine von dem spezifischen Austauschvermögen des
Zeoliths sowie von den gewählten Maßeinheiten abhängige
Konstante und b eine Konstante, deren Zahlenwert stets
zwischen o und I, in der Kegel zwischen etwa 0,2 und 0,7
liegt. — Als auf eine historisch bemerkenswerte Tatsache sei
darauf hingewiesen, daß die Boedeker-van Bemmelen-
sche ,, Adsorptionsformel" in Wirklichkeit gerade für den
Basenaustausch der Silikate abgeleitet worden ist; ihre An-
wendung auf das eigentliche Adsorptionsgleichgewicht ist erst
später erfolgt.
Abb. 2. Austauschgleichgew
Ammoniumchloridlösung um
icht zwischen einer wässerigen
kristallisiertem Desmin nach
Zoch.
der Austausch annähernd im Äquivalentverhältnis
erfolgt, und daß die Kurve (Abbildung i), die
die von dem Zeolith aufgenommene Menge des
Die Silikate, die zu dem im Vorstehenden in
seiner interessantesten Eigentümlichkeit skizzierten
Basenaustausch befähigt sind, sind, wie bereits
weiter oben bemerkt worden ist, Stoffe von zeo-
lithischem Charakter. Sie finden sich — in amor-
pher oder krypto-kristallinischer Form — im
Ackerboden, zu ihnen gehören aber auch wohl-
kristalii^ierte Zeolithe, wie z. B. der Desmin und
der Chabasit, sowie künstlich hergestellte —
amorphe oder kristallisierte — Präparate, deren
wichtigste die Permutite sind. Sie sind, wie schon
Way für den Fall des Ackerbodens festgestellt
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
443
hat, Doppelsilikate von Aluminium einerseits und
den Alkalien und den alkalischen Erden anderer-
seits, und zwar sind diese Doppelsilikate — das
hat R. Gans wahrscheinlich gemacht — dann
zum Basenaustausch besonders befähigt, wenn sie
„Aluniinatsilikate" sind, d. h. wenn die in ihnen
enthaltenen Alkalien und alkalischen Erden un-
mittelbar nicht an die Kieselsäure, sondern an
die Tonerde des Silikatmoleküls gebunden sind.
Im übrigen ist das Au^tauschvermögen der ver-
schiedenen Silikate verschieden; es hängt im
einen Falle stark, im anderen Falle nur wenig
von der Temperatur ab, auch ist bei einem ge-
gebenen Material keineswegs immer die Gesamt-
menge, sondern häufig nur ein Teil der Alkalien
und alkalischen Erden von ihnen austauschbar, so
daß man bei Annahme der Vorstellungen von
Gans zu der Vermutung gedrängt wird, daß nur
ein Teil der Alkalien und Erdalkalien an Tonerde,
der Rest aber an Kieselsäure gebunden ist. Auch
ist — dies geht aus den auserordentlich lehr-
reichen Untersuchungen von Felix Singer
hervor — die Austauschfähigkeit keineswegs auf
„Aluminatsilikate" beschränkt, denn es hat sich,
ohne daß das Vermögen des Basenaustausches
verloren geht, die Kieselsäure SiOj der Präparate
ganz oder teilweise durch Titandioxyd TiO., oder
Zinndioxyd SnO.j (aber nicht durch Zirkondioxyd
ZrO,2 oder Blcisuperoxyd PbO») und die Tonerde
durch Bortrioxyd BjOg, Vanadintrioxyd V.,0.j,
Manganoxyd Mn203, Eisenoxyd Fe.jOg und Cobalt-
oxyd Co._,Og (nicht aber durch Chromoxyd CrjOg)
ersetzen lassen. An dem Austausch selbst nehmen
nur die in den austauschfähigen Zeolithen ent-
haltenen Alkalien und Erdalkalien teil, und zwar
können sie nach den bisherigen Erfahrungen gegen
die negativen Bestandteile aller mögliciien wässe-
rigen Salzlösungen, so gegen andere Alkalien und
Erdalkalien, gegen Silber-, Kupfer-, Nickelion usw.
ausgetauscht werden, ja, wie Singer gefunden hat,
lassen sich durch Behandlung der austauschfähigen
Zeolithe mit wässerigen Lösungen von Alkalisulfidcn
oder-polysulfiden wie z. B. mit wässerigen Lösungen
von (NHj).,S oder NaoSj sogar lebhaft gefärbte
schwefelhaltige „Zeolithe" gewinnen, die durchaus
den Charakter von Ultramarinen tragen. ')
Der kristallographisch-ch emische Ab-
und Umbau.
Ob die Zeolithe kristallisiert wie der Desmin
oder der Heulandit oder ob sie amorph (oder
') Der Umstand, daß auch der Schwefel in das Zeolith-
molekül einzutrrtrn vermag, ist bemerkenswert. Vermutlich
handelt es sich hier um eine mit dem Basenaustausch nicht
ohne weiteres zu identifizierende Erschemung, die den in dem
Abschnitt über den kristallographisch-rhemischen Abbau von
Silikaten naher zu besprechenden Vorgängen, wie der Abgabe
von Wasser und der Aufnahme anderer Stofte durch den
Desmin, nahesteht. Es wäre von Wichtigkeit, festzustellen,
ob die Aufnahme des Schwefels durch die Zeolithe auch im
Äquivalentverhällnis erfolgt, d. h. eiwa für jedes in den Zeolith
eintretende Molekül NajS ein Molekül CaO aus dem Zeolith
in die Lösung übertritt.
kryptokristallinisch) wie die austauschfähigen Be-
standteile des Ackerbodens oder der Permutit
sind, ist auf die Tatsache der Austauschfähigkeit
ohne Einfluß, wenn auch insbesondere die Ge-
schwindigkeit des Austausches von der äußeren
Erscheinungsform des Materials stark beeinflußt
wird; so stellte sich nach Wiegner das Aus-
tauschgleichgewicht zwischen einem amorphen
KalkKali-Pcrmutit und einer wässerigen Ammo-
niumchloridlösung innerhalb weniger Minuten ein,
während nach Ilse Zoch die Einstellung des
Austauschgleichgewichtes zwischen kristallisiertem
Desmin und einer wässerigen Ammoniumchlorid-
lösung einen Zeitraum von 40 bis 50 Tagen er-
forderte. Sehr bemerkenswert aber, ja vielleicht
eine der eigentümlichsten Tatsachen, die die neuere
Wissenschaft aufgefunden hat, ist es, daß bei den
kristallisierten Zeolithen der Austausch nicht, wie
man zunächst wohl erwarten dürfte, mit einer
Zerstörung des Kristallgebäudes verbunden zu
sein braucht, sondern unter dessen Erhaltung vor
sich gehen kann. Durch diese Tatsache wird der
Basenaustausch der Silikate in Parallele zu den
höchst interessanten Beobachtungen gestellt, die
in neuerer Zeit hauptsächlich, wenn auch nicht
ausschließlich, von mineralogischer Seite gemacht
worden sind und die sich kurz unter dem von
F. Rinne geprägten Stichwort des ,,kristallo-
graphisch-chemischen Ab- und Umbaues" zu-
sammenfassen lassen.
In anbetracht des hervorragenden Interesses,
das die Erscheinungen des kristallographisch-
chemischen Ab- und Umbaus bieten, seien sie hier
etwas eingehender besprochen.
Die ältesten Beobachtungen, aus denen hervor-
geht, daß Kristalle an chemischen Reaktionen
teilnehmen können, ohne daß ein Zusammenbruch
des Kristallgebäudes erfolgt '), dürften wohl die-
jenigen sein, die E. Mallard i. J. 1882 über die
Wirkung der Wärme auf den Heulandit angestellt
hat. Der Heulandit gibt beim Erwärmen Wasser
ab, ohne daß dabei die Heulanditkristalle zerstört
würden. Diese Erscheinung ist jedoch keineswegs
aufdie Zeolithe beschränkt, denn wie G. Tarn mann,
z. T. in Gemeinschaft mit seinen Schülern, nach-
gewiesen hat, gibt es auch künstlich hergestellte
') Zu den hier besprochenen Erscheinungen gehören die
dem Mineralogen schon seit langem bekannten Erscheinungen
der Pseudomorphose, d. h. das Auftreten von Mineralien in
ihnen nicht zukommenden kristallographischen Formen nicht.
Allerdings bleibt, wenn etwa der Schwefelkies FeS» durch
Verwitterung in Brauneisenerz Fe^Oj aq. übergeht, häufig die
äußere Form des Schwefelkieses erhalten, die Pseudomorphosen
des Brauneisenerzes nach dem Schwefelkies sind aber keine
echten, sondern — dies hat schon vor mehr als 100 Jahren
Gottlob Abraham Werner erkannt— nur Afterkristalle,
d. h. ihr innerer -Aufbau, wie er etwa durch die optischen
Untersuchungsmethoden ermittelt werden kann, entspricht
nicht ihrer äußeren Form. So sind auch die monoklinen
Schwefelkristalle, die man aus dem Schmelzflusse erhält,
anfangs zwar wirklich monoklin, im Laufe der Zeit aber gehen
sie — dies zeigt z. B. die Bestimmung ihres spezifischen Ge-
wichtes — , ohne daß sie ihre äußere monokline Form verlören,
in rhombische Kristalle über; es liegt dann eine Pseudo-
morphose von rhombischem nach monoklinem Schwefel vor.
444
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
Salzhydrate, die wie das Magnesiumplatincyanür
Mg:2Pt(CN)^ • 7H2O, das Thoriumoxalat Th(C2 04).,
•6H.,0, das Natriumammoniumaluminiumoxalat
Na3(NHJ;,AU-(C.,OJ„-7H,0, das Strychninsulfat
(C2,H,„N.,(3,).,H2S0^.6H,Ö u. a., das in ihnen
enthaltene Wasser ganz oder teilweise abgeben,
ohne daß die Kristalle sich, wie es verwitternde
Kristalle sonst zu tun pflegen, trüben. Daß
es sich hier in der Tat um eine ganz eigenartige
Erscheinung handelt, ist wohl zuerst bei der
Untersuchung des iVIagnesiumplatincyanürs erkannt
worden. Verwittert ein normales Salz, z. B. das
Kupfersulfat CuS0,-5H.,0
CuSOi • SH^O = CuSO, ■ 3H2O + 2H2O,
so bleibt der Wasserdampfdruck des verwitternden
Systems, sofern man die Temperatur konstant läßt,
so lange konstant, bis die Gesamtmenge des
Pentahydrats in das Trihydrat umgewandelt ist,
sinkt dann, wenn die Verwitterung bei derselben
Temperatur weiter fortschreitet, mit einem Sprung
auf einen niedrigeren Betrag, der dem Dampf-
druck des Systems
CuSO, . 3H2O ;<=>■ CuSO, . H^O + 2H,0
entspricht, und bleibt hier wieder konstant, bis
das gesamte Trihydrat in Monohydrat verwandelt
ist. Abbildung 3 zeigt das Gesagte. Mit der
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Abb. 3. Verwitterung des Kupfervitriols bei 50" C als Bei-
spiel für die normale Verwitterung von Salzhydraten.
Phasenregel '■) steht dies Verhalten in bester Über-
einstimmung, denn in dem aus 2 Komponenten K,
dem wasserfreien Salz und dem Wasser aufgebauten
Systeme liegen 3 Phasen P, das höhere und das
niedrigere Hydrat und die Dampfphase, vor, also
ist die Zahl der Freiheiten
F = K+2— P=2-f 2 — 3=1
d. h. zu der gegebenen Temperatur gehört ein
eindeutig definierter, nur von der Natur der beiden
Hydrate bestimmter, von ihrem Mengenverhältnis
aber unabhängiger Dampfdruck.
Ganz anders verhalten sich nun aber die Zeo-
lithe und die ohne Trübungserscheinungen ver-
witternden Salzhydrate wie das Magnesiumplatin-
cyanür. Wie schon das Ausbleiben der Trübungs-
erscheinungen bei der Verwitterung beweist, wird
durch die Wasserabgabe keine neue Phase gebildet,
das in der Verwitterung befindliche System besteht
vielmehr nur aus zwei Phasen, nämlich außer der
dampfförmigen aus nur einer festen Phase, also
jst die Zahl der Freiheiten
F = K-l-2— P = 2 + 2 — 2 = 2,
d. h. bei gegebener Temperatur ist der Wasser-
dampfdruck des verwitternden Systems nicht kon-
stant, sondern hängt von dem Wassergehalt der
festen Phase ab. Abbildung 4 zeigt das Gesagte
am Beispiele des Strychninsulfats.
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3 f 5
1 7
•) Vgl. Dr. A. V. Vegesack, Die Lehre von den
heterogenen Gleichgewichten, Naturw. Wochenschr., N. F.,
Bd. 9, S. 214 — 221 ; 1910.
Verwitterung des Strychninsulfats nach E. Li
stein als Beispiel für die anomale,
die ,,zeolithische" Verwitterung.
Ganz ähnlich wie das Wasser kann man nun
— das geht besonders aus den schönen, in che-
mischen Kreisen leider wenig bekannten Unter-
suchungen von F. Rinne hervor — kristallisierten
Stoffen auch andere Bestandteile als das Wasser ent-
ziehen, ohne daß das Kristallsystem zusammenbricht.
Als besonders markantes Beispiel sei der Koenenit,
ein trigonales, positiv doppelbrechendes Aluminium-
magnesiumoxychlorid von der Formel A1,0., ■ 3MgO
• 2MgClj-6H80 angeführt. Ohne daß das Kristall-
gebäude einstürzt, kann man dem Koenenit durch
Kochen mit Wasser zunächst seinen Gehalt an
Magnesiumchlorid MgClj, dann durch konzentrierte
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
445
Chlorammoniumlösung das Magnesiumoxyd MgO
und endlich durch vorsichtiges Erhitzen sein Wasser
entziehen, so daß schließlich reines Aluminiumoxyd
AlgOg in Form des Koenenits übrig bleibt. Bei
diesem ganzen Abbau ist, schreibt Rinne,
„gleichwie der allgemeine optische Typus auch die
kennzeichnende basische Spaltbarkeit und die ganz
außerordentlich große Biegsamkeit und Weichheit
des Materials eriialten geblieben". In ähnlicher
Weise kann man auch die Zeolithe ohne Zu-
sammenbruch der Kristallstruktur bis zur Kiesel-
säure abbauen, und zwar erweist sich — das ist
ja leicht verständlich — das Kristallsystem als
um so widerstaiid>fähiger, je kieselsäurereicher
der Zeolith ist; so hat Rinne aus dem verhältnis-
mäßig kie-ielsäurereichen Desmin wasserfreies Sili-
ciumdioxyd SiO.3 in der Kristallform des Desmins
erhalten können. Auch in der Natur treten Vor-
gänge dieser Art auf; sowohl die heute nach
Rinne's Vorgang meist als „B a u e r i t i s i e r u n g"
bezeichnete, altbekannte Bleichung sowie die
Chloritisierung der Glimmer werden von Rinne
als Beispiele kristallographisch-chemischen Abbaues
gedeutet.
In die Lücken, die durch die beschriebene
Wegführung von Stoffen im ursprünglichen Kri-
stall entstehen, können nun, das ist wieder eine
sehr bemerkenswerte Tatsache, unter Umständen
andere Stoffe eingeführt werden. Daß die Zeolithe
sowie die ihnen in ihrem Verhalten bei der Ent-
wässerung entsprechenden Salzhydrate das ihnen
entzogene Wasser in vollkommen reversibler
Reaktion wieder aufnehmen können, geht ins-
besondere aus den sorgfaltigen Untersuchungen
von E. Löwenstein hervor. Überraschend aber
ist es, daß, wie G. Friedel festgestellt hat, auch
Ammoniak, Schwefelkohlenstoff, Alkohol, Chloro-
form und andere Stoffe in die Lücken eintreten
können, ohne daß die Kristalle ihren Kristall-
charakter verlieren. Eine physikalisch chemische
Untersuchung dieser Vorgänge steht leider noch
aus, wie ja überhaupt die hier in kurzer Skizze
behandelten Erscheinungen eine Fülle wichtigster
physikalisch-chemischer Fragen an den Forscher
stellen, wohl aber liegt eine sehr interesante Ab-
handlung über die kristallographisch optischen
Begleiterscheinungen dieser eigentümlichen Reak-
tion von F. Grandjean vor. Als Versuchs-
material diente Grandjean ein natürlicher Zeolith,
ein Chabasit von Aussig. Dieser Chabasit wurde
zunächst mit seinem natürlichen Wassergehalt
untersucht, dann wurde er entwässert, und schließ-
lich wurden in den entwässerten Chabasit bei
Zimmertemperatur Luft und Ammoniak und bei
höheren Temperaturen die Dämpfe von Jod, von
Quecksilberchlorür HgCI, von Quecksilber, von
Schwefel und von Zinnober bis zur Sättigung mit
dem betreffenden Stoffe eingeführt. Die Mengen,
die der Zeolith unter den von Grandjean an-
gewandten Versuchsbedingungen aufnahm, war
bei den verschiedenen Stoften sehr verschieden.
Gering beim Jod (0,9 "/ß) sind sie beim Kalomel
und beim Quecksilber ganz enorm: Der bei 500"
entwässerte Chabasit nahm z. B. bei 300" 35 "L
Quecksilber und bei Behandlung mit Wasser in
der Kälte außerdem noch 25 "/„ Wasser auf. „A
chaud, l'eau s'en va, puis le mercure, et l'on re-
trouve la chabasie initiale prete ä une nouvelle
adsorption." Bei allen diesen Vorgängen aber
bleibt, wenn auch die Kristalle selbst in einzelnen
Fällen durch die Fülle aufgenommenen Stoffes
zertrümmert werden, doch die Kristallstruktur als
solche erhalten ; nur ändern die optischen Kon-
stanten, wie z. B. der Grad und der Charakter
der Doppelbrechung, ihre Werte.
Genauere Versuche über die Abhängigkeit der
optischen Eigenschaften von der Menge der Stoffe,
die in die leerstehenden Wohnungen des Kristall-
gebäudes eingezogen sind, sind, soweit dem Be-
richterstatter bekannt ist, nur von Rinne, und
zwar für Zeolithe mit kontinuierlich abnehmendem
Wassergehalt ausgeführt worden. Die Ergebnisse
dieser Versuche, deren Diskussion im einzelnen
an dieser Stelle zu weit fuhren würde, lassen sich
kurz dahin zusammenfassen, daß die Änderung
der optischen Verhältnisse der allmählichen Ent-
wässerung vollkommen parallel geht und daß
insbesondere einfache Molekularverhältnisse zwi-
schen dem Zeolith und dem in ihm enthaltenen
Wasser auch physikalisch durch besonders einfache
optische Verhältnisse gekennzeichnet sind: „Die
chemischen Zustände multipler Molekularpropor-
tionen heben sich aus der fortlaufenden Reihe
physikalisch heraus."
Die Theorie des Basenaustausches.
In kristallographischer Hinsicht ist der Basen-
austausch der Silikate eine dem kristallographisch-
chemischen Ab- und Umbau vollkommen analoge
Erscheinung. Aus zahlreichen Versuchen, vor
allem auch den jahrelang fortgesetzten mineral-
synthetischen Untersuchungen von J. Lemberg
über den Basenaustausch bei natürlichen Silikaten
sowie der bereits weiter oben besprochenen Arbeit
von Ilse Zoch geht hervor, daß der Basenaus-
tausch der Silikate in grundsätzlich gleicher Weise
mit kristallisiertem wie mit amorphem (oder
kryptokristallinischem) Material vor sich geht und
daß der Basenaustausch selbst eine Zerstörung
der Kristallstruktur nicht zur Folge hat. Das
folgende Zitat aus der Arbeit von Ilse Zoch
möge als Beleg für das Gesagte dienen. Das
Versuchsmaterial, bis zu einer Korngröße von
0,25 mm zerkleinerter Desmin vom Berufjord,
„bestand aus eckigen, unregelmäßig begrenzten
Spaltstücken, die unter dem Mikroskop bei ge-
kreuzten Nikols init Ausnahme der feinsten, das
Gesichtsfeld nur schwach aufhellenden Teilchen leb-
hafte Interferenzfarben aufwiesen." Als das Material
dann auf dem Dampfbade mit starker, mehrfach
erneuerter Chlorammoniumlösung behandelt wurde,
ließ sich bereits nach einigen Tagen „deutliche Ab-
nahme der Doppelbrechung erkennen : Zahlreiche
446
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
kleine Splitter zeigten jetzt das Grau erster Ordnung,
einige der größeren nur noch stellenweise, be-
sonders in der Mitte, höhere Doppelbrechung. Je
länger die Einwirkung dauerte und je geringere
Mengen Calcium noch in Lösung gingen, desto
sichtbarer trat der Unterschied zwischen dem
ursprünglichen und dem umgewandelten Zustande
hervor. Als sich Calcium in der Lösung mittels
Ammonoxalat nicht mehr nachweisen ließ, war
auch das gesamte Pulver fast einfachbrechend ge-
worden." Würde nun das Ammonium durch Be-
handlung des Ammoniumdesmins mit Natronlauge
durch Natrium ersetzt, so wurde die Doppel-
brechung wieder stärker, bei darauf folgendem
Wiederersatz durch Ammonium wieder schwächer
usw. Die Kristallstruktur des Desmins bleibt
also — das ist das Wesentliche — beim Basen-
austausch erhalten.
Die Theorie des Basenaustausches hat vor
allen Dingen im Anschluß an die Permutitfrage
zu lebhafter Diskussion Veranlassung gegeben.
Nun ist der Permutit des Handels allerdings ein
amorphes Material, d. h. ein Material, dessen
Kristallstruktur nicht nachweisbar ist, es liegt aber
kein Grund vor, dem Permutit und den — eben-
falls amorphen — austauschfahigen Silikaten der
Ackererde eine Ausnahmestellung unter den ande-
ren basenaustaiischenden Silikaten mit zweifellosem
Kristallcharakter zu geben, man wird also un-
bedenklich die Erscheinung des Basenaustausches
als grundsätzlich gleichartig mit den Erscheinungen
des kristallographisch-chemischen Ab- und Um-
baues ansehen dürfen. Die Erscheinungen des
kristallographischen Ab- und Umbaues aber ge-
hören wohl sicher zu den Erscheinungen der Ad-
sorption und den Erscheinungen, die bei der Auf-
nahme von Flü'^sigkeiten durch nichtquellbare
Gele wie das Gel der Kieselsäure auftreten *),
denn soweit bisher genauere Untersuchungen vor-
liegen, sind die in Frage kommenden Gesetzmäßig-
keiten, mögen sie sich auch in Einzelheiten unter-
scheiden, doch im wesentlichen die gleichen.
Darnach würde also der Basenaustausch der Sili-
kate unter die Adsorptionsvorgänge einzureihen
sein. Dieser Einreihung scheint nun aber der be-
reits im ersten Abschnitt des vorliegenden Be-
richtes betonte Unterschied zwischen Basenaus-
tausch und Adsorption, nämlich der Umstand zu
widersprechen, daß der Basenaustausch, wie schon
der Name sagt, eine A ustausch reaktion, und
zwar eine Austauschreaktion im Äquivalentver-
hältnis ist, während die eigentliche Adsorption
mit einem Austausch an sich nicht verbunden ist.
Dieser Unterschied, der insbesondere R. Gans
dazu geführt hat, den Basenaustausch als eine ein-
fache chemische L'msetzung etwa nach der Art
der Umsetzung zwischen dem im Wasser schwer
löslichen Baryumkarbonat und löslichem Natrium-
') Vgl. Werner Mecklenburg, L'ber das Gel der
Kieselsäure, Nalurw. Wochenschr., N. F., Bd. 14, S. 545—553;
1915-
Sulfat zu dem sehr schwer löslichen Baryumsulfat
und löslichem Natriumkarbonat
BaCOg + Na., SO, = BaSO, -f Na.XO^
anzusehen, ist indessen — darauf hat vor allem
Georg Wiegner aufmerksam gemacht — mit
dem Begriff der Adsorption nicht unvereinbar,
sofern man die elektrischen Umstände des Vor-
ganges zur Beurteilung der Sachlage mit heranzieht.
Würde nämlich, um auch hier sogleich wieder an
ein konkretes Beispiel anzuknüpfen, das Am-
moniumion einer Chlorammoniumlösung von dem
Caiciumzeolith adsorbiert, ohne daß gleichzeitig
die äquivalente Menge eines anderen Kations in
der Lösung erscheint, so würde sich der Zeolith
außerordentlich stark positiv aufladen und die
Lösung außerordentlich stark negativ geladen zu-
rückbleiben. Da sich ein derartiger elektrostatischer
Gegensatz nicht ausbilden kann, muß notwendiger-
weise für jedes in den Zeolith eintretende Kation
ein Kation in äquivalenter Menge aus den Zeolith
in die Lösung übergehen, d. h. es muß ein lonen-
austausch im Äquivalentverhältnis stattfinden.
Der Basenaustausch der Silikate wäre demnach
als ein durch elektrostatische Einflüsse in das
Äquivalenzschema gezwängter Adsorptionsvorgang
anzusehen. Hiermit stimmt es überein, daß der
Basenaustausch nur bei der Adsorption von Ionen
stattfindet; bei der Aufnahme von Nicht-Ionen
verhalten sich die kristalli>ierten Stoffe, soweit
bisher Beobachtungen vorliegen, im wesentlichen
gerade so wie die gewöhnlichen Adsorbentien.
DieVer Wendung des Basenaustausches
in der Praxis.
In der Technik scheint der Basenaustausch
mit Bewußtsein zuerst von Harms und unab-
hängig von ihm von Rümpler angewendet worden
zu sein, um aus Zuckersäften die die Kristallisation
behindernden und dadurch die Zuckerausbeute
herabsetzenden Stoffe, wie das Kali, herauszuziehen
und durch den weniger schädlichen Kalk zu ersetzen.
Eine größere praktische Bedeutung gewann die
PIrscheinung aber erst, als R. Gans in zielbewußter
Arbeit besonders rasch und reichlich austauschende
Zeolithe, die sogenannten ,,Permu tit e", künstlich
herzustellen lehrte und für die VVasserreinigung
und andere technische Zwecke nutzbar machte.
Die Herstellung der Permutite ist je nach dem
Verwendungszweck verschieden. Im wesentlichen
beruht sie auf dem Zusammenschmelzen eines in
bestimmtem Mengenverhältnis, insbesondere unter
Vermeidung eines Überschusses von Alkalikarbonat,
gegebenenfalls unter Zuschlag von Quarz her-
gestellten Gemisches von Tonerdesilikaten oder
-mineralien mit Alkalikarbonat, Körnung des dabei
entstehenden grünlichen Glases und Behandlung
mit Wasser. Durch die Behandlung mit Wasser
wird der Schmelze das als Nebenprodukt entstandene
Alkalisilikat entzogen und gleichzeitig geht das
durch den Schmelzprozeß gebildete Aluminatsilikat
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
447
unter Aufnahme von Wasser in eine zeolithartige
Substanz von körniger Struktur über. Die so ge-
wonnenen Produkte enthalten neben 20 bis 30 "/g
Wasser auf i Molekül AljOj i Molekül Na.,0
(oder KjO) und 2 bis 4 Moleküle SiO,,. Ein „ideales"
Präparat, d. h. ein Präparat von maximaler
Austauschfähigkeit entspräche nach Gans der Zu-
sammensetzung 2Si0.3-Al.,03 Na.O + öHgO. Aus
dem so primär erhaltenen Permutit können durch
Behandlung mit Salzlösungen andere Permutite,
so durch Behandlung mit Calciumchloridlösung
Calciumpermutit oder durch Behandlung mit
Mangansulfatlösung Manganpermutit hergestellt
werden. Die entsprechenden Gleichungen sind,
wenn man mit Pe den Permutitkomplex bezeichnet,
soweit er an dem Austausch nicht beteiligt ist:
Pe.Na.,0 + CaCIj = PeCaO -f 2NaCl
Pe-Na^Ö + MnSO, = Pe-MnO -f Na^SO,.
Selbstverständlich ist, da sich im allgemeinen
zwischen den Kationen in der Lösung und den
Kationen im Permutit ein Gleichgewicht einstellt,
ein praktisch quantitativer Austausch nur dadurch
zu erreichen, daß man den umzusetzenden Permutit
mit einer immer erneuten Lösung des einzuführenden
Kations behandelt. In der wissenschaftlichen und
technischen Praxis verfährt man daher, entsprechend
einem Vorschlage von Gans stets so, daß man
den Permutit als Filter benutzt, durch das man die
betreffende Salzlösung langsam hindurchlaufen läßt.
Von den zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten
des Permutits ist zurzeit bei weitem die wichtigste
seine Verwendung zur Reinigung des Kessel-
speisewassers. Das natürliche Wasser enthält be-
kanntlich stets eine mehr oder minder große
Menge von Kalk- (oder Magnesia)salzen, die teils
in Form von Bikarbonat CaH(CO.,).,, teils in Form
von Sulfat CaS04 gelöst sind. Beim Kochen des
Wassers im Dampfkessel scheiden sich nun, so-
wohl weil die die Karbonate in Lösung haltende
Kohlensäure aus der Lösung entweicht als auch
weil die Lösung sich infolge der ständigen Ver-
dampfung des Wassers im Kessel stark konzentriert,
die Kalksalze als häufig sich fest an den Boden
und die Wandungen des Kessels ansetzender
„Kesselstein" aus, der den Dampfkesselbetrieb arg
zu stören, zu verteuern, ja unter Umständen sogar
sehr gefährlich zu machen geeignet ist. Es ist
daher eine für den Dampfkesselbesitzer sehr
wichtige Aufgabe, das Kesselspeisewasser vor der
Verwendung von seinen Kalk- und Magnesiasalzen
zu befreien, und hierzu eignet sich gerade das
Permutitverfahren ausgezeichnet: Man braucht ein
als Kesselspeisewasser ungeeignetes Wasser bloß
durch ein Filter von Natriumpermutit laufen zu
lassen, so werden die Kalk- und Magnesiasalze
mehr oder minder vollständig durch die un-
schädlichen Alkalien ersetzt, z. B.
Pe ■ Na^O + CaSO, = Pe • CaO + NaaSO,,
und das vorher infolge seines zu hohen Gehaltes
an Kalk- (und Magnesia) -Salzen ungeeignete
Wasser kann nun unbedenklich für den Kessel-
betrieb verwendet werden. Im Permutitfilter
reichern sich hierbei im I^aufe der Zeit natürlich die
Kalksalzean, und die entkalkende Wirkung läßt daher
allmählich nach. Dies spielt indessen in der Praxis
keine große Rolle. Man braucht das Filter näm-
lich, sobald seine Wirkung nachläßt, nur mit einer
konzentrierten Kochsalzlösung durchzuspülen, um
den im regelmäßigen Betnebe aufgenommenen
Kalk wieder durch Natrium zu verdrängen
Pe ■ CaO + 2NaCl = Pe ■ NaoO -f CaCl.,,
und damit das Filter zu regenerieren.
Außer der Reinigung von Kesselspeisewasser
werden von Gans bzw. der Permutitgesellschaft,
wie bereits angedeutet wurde, noch andere Ver-
wendungsmöglichkeiten des Permutits, so die Ver-
wendung zur Enteisenung und Entmanganung von
Leitungswasser angegeben, indessen muß, soweit
dem Berichterstatter bekannt geworden ist, noch
dahingestellt bleiben, wie weit sich diese Ver-
wendungsmöglichkeiten in der Praxis wirklich be-
währt haben ; von ihrer Besprechung kann daher
an dieser Stelle Abstand genommen werden.
Wichtigere Literaturnachweise.
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1. R. Gans, Zeolithe und ähnliche Verbindungen, ihre
Konstitution und Bedeutung für Technik und Landwirtschaft.
Jahrb. d. Königl. Preu8. Geol. Landesamt, 26 (1905),
S. 179 — 211.
2. — , Konstitution der Zeolithe , ihre Herstellung und
technische Verwendung. Ebenda, 27 (1906), S. 63—94.
3. — , Zur Frage der chemischen oder physikalischen
Natur der kolloidalen wasserhaltigen Tonerdesilikate. Ebenda,
34 11 (l9'3), S. 242—282.
4. Georg Wiegner, Zum Basenaustausch in der Acker-
erde. Journ. f. Landwirtscb., Jahrg. 1912, S. III — 150 und
S. 197 — 222.
5. Felix Singer, Über künstliche Zeolithe und ihren
konstitutionellen Zusammenhang mit anderen Silikaten. Disser-
tation der Königl. Technischen Hochschule Berlin, 1910.
6. Ilse Zoch, Über den Basenauslausch kristallisierter
Zeolithe gegen neutrale Sahlösungen. Inaugural-Dissertation
der Universität Berlin, 1915.
II. Kr istallograph isch - chemischer Ab- und
Umbau:
1. F. Rinne, Kristallographisch- chemischer Ab- und
Umbau insbesondere von Zeolithen. Fortschr. d. Mineral.,
Kristallogr. u. Pelrograph., 3 (1913), S. 159 — 183.
2. G. T a m m a n n , Über die Dampfspannung von Hydraten,
welche beim Verwittern durchsichtig bleiben. Wiedem. Ann.
d. Phys., 63 (1897), S. 16—22.
3. E. Löwenstein, Über Hydrate, deren Dampf-
spannung sich kontinuierlich mit der Zusammensetzung ändert.
Zeitschr. f. anorg. Chem., 63 (1909), S. 69 — 139.
4. F. Grandjean, Etüde optique de l'adsorption des
vapeurs lourdes par certaines zeolilhes. Compt. Rend., 149
(1909), S. 866—868.
III. Die praktische Verwendung des Basen-
austausches:
1. A. Rümpler, Über die Reinigung von Rübensäften
durch Silikate. V. Internal. Kongreß f. angew. Chemie, Bd. III,
S. 59-69.
2. R.Gans, Über die technische Bedeutung der Permutite
(der künstlichen zeolithartigen Verbindungen). Chem. Industrie,
32 (1909), S. 197 — 200.
3. A. Kolb, Über Permutit, dessen Anwendungen und
die mit ihm gemachten Erfahrungen. Sozial-Technik, 14(1915),
Heft 7. (GX:)
Naturwissenschafthche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
Einzelberichte.
Physik. Mit der sogenannten Verbesserung
der Blitzableiter beschäftigt sich L. WebTr
TKiel) in der Elektrotechn. Zeitschr. 1916, Heft 14.
Er gibt zunächst einen kurzen geschichtlichen
Überblick über die Anleitungen für den Bau des
Blitzableiters, dessen Grundgedanke ja einfach der
ist, vom Dachfirst bis ins Erdreich eine metallische
Bahn anzubringen, die den Blitz von anderen ge-
fährlichen Wegen durch das Haus abzieht und
ihn unschädlich abfließen läßt. Eine Erklärung
der Berliner Akademie von 1880, daß auch ein
mangelhaft angelegter Blitzableiter die Gerährlich-
keit des Blitzschlages vermindere, scheint in
manchen Kreisen in Vergessenheit zu geraten.
Ja man scheint vielerorts zu glauben, daß ein
nicht ganz vollkommener Abieiter eher schädlich
als nützlich sei. Die Hinweise des Württembergers
Find eisen verdienen Beachtung; dieser drang
mit Recht darauf, daß an den Gebäuden vor-
handene Metallgegenstände, wie Dachrinnen, Ab-
fallrohre, eiserne Träger u. dgl. beim Bau des
Blitzableiters mitverwendet würden, um die Kosten
desselben zu vermindern und damit seine Ver-
breitung zu fördern. Man hat diese aus ökono-
mischen Gesichtspunkten geforderten Verein-
fachungen wohl als „Findeisen'sches System"
bezeichnet und damit in manchen Volkskreisen
die Meinung erweckt, als handele es sich um die
Anwendung neuer physikalischer oder elektro-
technischer Grundlagen, durch welche die her-
kömmlichen und bewährten Blitzableiterkonstruk-
tionen über den Haufen geworfen würden. Noch
bedenklicher ist es, wenn in Tageszeitungen statt
von vereinfachten gelegentlich von „verbesserten"
Blitzableitern gesprochen wird. Es liegt im Inter-
esse der Allgemeinheit und der ruhigen Ent-
wicklung des Blitzableiterwesens vor solchen Miß-
verständnissen zu warnen.
Die^ angebliche Zunahme der Blitzgefahr
untersucht G. Hell mann in den^Sitzungs^
ber. d. kgl. preuß. Akademie der Wissenschaften
191 7, S. 198 auf Grund statistischer Angaben
über die Todesfälle, die seit 1869 im Königreich
Preußen durch Blitzschlag eingetreten sind. Die
absolute Zahl der jährlich vom Blitz getöteten
Personen hat zugenommen, berechnet man jedoch
die auf eine Million Einwohner entfallende Zahl
von Blitztötungen, so findet man im ersten und
letzten Jahrzehnt des betrachteten Zeitraums
(1871 — 1913) 4,2 bzw. 4,3. Die Schwankungen
in der jährlichen Zahl hängen hauptsächlich von
der wechselnden Gewittertätigkeit ab. Beide
Kurven zeigen im allgemeinen denselben Verlauf.
Plötzliche An- und Abstiege treten in beiden zur
selben Zeit auf Hieraus geht unzweifelhaft her-
vor, daß die Blitzge fahr für den Menschen
in Preußen nicht zugenommen hat,
ferner zeigt sich, daß auch die Zahl der Gewitter-
meldungen seit 1891 keinerlei systematische Zu-
nahme erkennen läßt. K. Seh.
Ähnlich wie für die Materie nimmt man auch
für .die Elektrizität einen atomistischen Auf-
bau an; man nennt bekanntlich die (negativen)
Elektrizitätsatome Elektronen. Die Gründe, die
zu diesen Anschauungen führen, sind im vorigen
Jahre in der Naturw. Wochenschr. (S. 217 — 220)
auseinandergesetzt worden; sie beruhen der
Hauptsache nach auf Versuchen, die von dem
amerikanischen Gelehrten Millikan und seinen
Mitarbeitern ausgeführt worden sind. Vor einer
Reihe von Jahren hat der Wiener Forscher
Ehrenhaft (1909) Zweifel an der Richtigkeit
dieser scheinbar so sicher begründeten und unserer
Vorstellung außerordentlich zusagenden Ansicht
erhoben; er habe elektrische Ladungen nach-
gewiesen, die wesentlich kleiner sind als die
Ladung des Elektrons (4,7 10 1»}. Damit wäre
natürlich ein atomistischer Aufbau der Elektrizität
nicht ausgeschlossen ; man wäre lediglich genötigt,
das was man bisher für ein Elektrizitätsatom ge-
hahen hat, das Elektron, als aus noch kleineren
Atomen zusammengesetzt anzunehmen. In den
Naturwissenschaften V, 373 (1917) gibt
W. König einen Überblick dieser für unsere
Grundanschauungen so außerordentlich wichtigen
Streitfrage. Beide Forscher, Millikan wie
Ehrenhaft, arbeiten im Prinzip nach demselben
Verfahren, indem sie ein elektrisch geladenes
Partikelchen in das Feld eines kleinen Konden-
sators mit horizontalen Platten bringen, seine
Bewegung unter dem Einfluß der Schwere und
der elektrischen Kräfte beobachten und aus der
beobachteten Geschwindigkeit Schlüsse auf die
Größe seiner Ladung und seine eigene Größe
ziehen, Millikan erhält die Partikel durch
mechanisches Zerstäuben von Flüssigkeiten (Wasser,
Öl, Quecksilber); sie haben einen Radius von
60 bis 5-10-^ cm (in der letzten Arbeit 1916
2,5- 10^ cm) und werden mit einem Fernrohr
in einem Kondensator von 20 cm Plattendurch-
messer beobachtet. Bei den Versuchen von
Ehrenhaft sind alle Dimensionen kleiner. Seine
durch Zerstäubung von Edelmetallen im elek-
trischen Lichtbogen erhaltenen Partikel sind fast
alle kleiner als die kleinsten von Millikan be-
obachteten, ihre Radien liegen zwischen 2,5 und
0,6 • 10 ^ cm. Seine Kondensatorplatten haben
nur 14 mm Durchmesser, und die Beobachtung
geschieht durch ein Mikroskop von 220- bis
1 000 facher Vergrößerung. Für die größeren seiner
Teilchen findet er Ladungen, die sich nicht auf-
fallend von den M i 1 1 i ka n 'sehen Werten unter-
scheiden; erst bei noch kleineren wird das
Elementarquantum unterschritten, das nach seiner
Meinung wesentlich kleiner (0,1 • 10 ^°) ange-
nommen werden muß. Da an der Richtigkeit
und Exaktheit der Beobachtungen der beiden
Forscher nicht zu zweifeln ist, dreht sich der
Streit um eine Deutung der Messungen. Eine
wesentliche Stütze erhält die Millikan 'sehe
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
449
Ansicht dadurch, daß die Ladung des Elektrons
auf verschiedenen, ganz anderen Wegen (Elek-
trolyse, Planck'sche Strahlungsformel, Zählung
der a-Teilchen radioaktiver Stoffe) auch rund
gleich 4,7 •10'" gemessen wird. Demnach
kann wohl kein Zweifel sein, daß dieser
Wert der richtige ist — darüber ist sich die
Mehrzahl der Forscher einig. Es fragt sich nun-
mehr, wo wir dem M ill ikan 'sehen Standpunkte
beigetreten sind, wie die Eh re n h a ft 'sehen
Messungen zu deuten sind. Da ist es nun zweifel-
haft, ob die Beweglichkeit der Teilchen richtig
gemessen ist, ob das Stokes'sche Gesetz, das bei
dieser Messung benutzt wird, noch gültig ist, wenn
die Teilchen so klein werden wie bei den
Ehrenhaft 'sehen Versuchen. Man hat daher
die Beweglichkeit auch nach einer anderen
Methode gemessen, nämlich unter Benutzung der
Theorie, die von Einstein für die Bro wn'sche
Bewegung aufgestellt ist. Es ergibt sich, daß
eine Übereinstimmung für die beiden
B e r e c h n u n g s a r t e n nicht besteht,
während sie für die größeren Partikel
Millihan's vorhanden ist. Es bedarf dem-
nach einer neuen theoretischen und experimen-
tellen Nachprüfung der Gesetze, die für die Be-
wegung so kleiner Teilchen in einem Gas be-
stehen; erst dann dürfte man in der Lage sein,
die Ergebnisse Ehrenhaft's, deren Wert für die
Wissenschaft nicht zu verkennen ist, richtig zu
deuten und die heute noch bestehenden Wider-
sprüche zu beseitigen. K. Seh.
Anthropologie. Die Maori. Die Plingebornen
Neu-Seelands und der umliegenden kleinen Inseln
werden Maori genannt. Sie gehören zur polyne-
sischen Rasse, deren Verbreitungsgebiet von Hawaii
im Norden über Samoa nach Neu-Seeland im
Süden und bis zur Osterinsel im Osten reicht; es
umfaßt also die Inseln des östlichen Stillen Ozeans.
Die Maori sind mittelgroß; nach Deniker be-
trägt die durchschnittliche Körperlänge der Männer
168 cm. Der Körperbau ist ebenmäßig und
muskulös; man sieht weder zu schlanke noch zu
dicke Leute. Die Gesichtsbildung ähnelt sehr
jener der Europäer, so daß sogar ein in bezug
auf Hypothesen so vorsichtiger Anthropologe wie
C. H. St ratz') der Meinung zuneigt, man habe
es hier mit einem versprengten Stamm von rein
mittelländischer Rasse zu tun. Wahrscheinlich
ist dies allerdings nicht, sondern es ist vielmehr
Konvergenzähnlichkeit anzunehmen. Die Nase ist
mittellang und mäßig hoch, schmal bis mittelbreit
und meist etwas gebogen. Die Lippen sind
mittelbreit, aber gewöhnlich doch etwas dicker
als bei Europäern. Die Stirne ist meist hoch
und breit. Die Gesichtszüge werden häufig durch
kunstvolle blaue Tätauierungen etwas verdeckt,
aber auch unter dieser Maske erkennt man den
kühnen regelmäßigen Gesichtsschnitt. Die Haut-
') Rassenschönheit, S. 238.
färbe ist gewöhnlich hellbraun, wie die eines
reifen Weizenkornes, doch kommen auch ziemlich
dunkelhäutige Personen vor. Th. MoUison^)
faßt diese dunkelhäutigen Individuen — die jedoch
in bezug auf die Schädelbildung von den hell-
häutigen nicht zu trennen sind — als einen au-
stralisch - melanesischen Einschlag auf Andere
polynesische Gruppen , wie die Chatam- und
Sandwich Insulaner (Hawaiier) zeigen dasselbe Bild.
So nimmt Mollison wohl mit Recht an, daß
auf allen diesen Inselgruppen eine dunkle Urschicht
der Bevölkerung vorhanden war, als die Polynesier
kamen, die sie dann zum Teil ausrotteten, zum
Teil in sich aufnahmen. Der Wuchs des Kopf-
haares ist straff oder mehr oder weniger wellig,
niemals kraus. Die Haarfarbe ist bei der Mehrzahl
der Maori dunkelbraun, bei manchen Personen aber
rot oder rotblond — ein Umstand, der mit dazu
verleitet, an ihre europäische Herkunft zu denken.
Dem Charakter nach sind die Maori stolz,
selbstbewußt, aber auch rachsüchtig und leicht
verletzbar. Diese Charaktereigenschaften waren
gewiß viel Schuld an den bis in die Mitte des
vorigen Jahrhunderts andauernden fortwährenden
Kämpfen der einzelnen Stämme untereinander,
durch welche die Volkszahl stets gering gehalten
wurde. Kinder und alte Leute werden gut be-
handelt. In geistiger Beziehung zeichnen sich die
Maori durch Regsamkeit und gute Auffassungs-
gabe aus. Das Temperament ist, wie bei den
Polynesiern überhaupt, ziemlich lebhaft, wenn
auch ein Einschlag von Schwermut nicht fehlt, der
vielleicht als l^'olge einer melanesischen Blutbei-
mischung aufzufassen ist. Der mündlich überlieferte
Schatz erzählender Dichtungen ist ziemlich reich. ^)
Bei den Maori hat sich die Überlieferung der
Einwanderung aus einem fernen Lande erhalten,
das Hawaiki genannt wird; doch war es bisher
noch nicht möglich, mit Sicherheit festzustellen,
welches Land dies ist. P. Smith nimmt auf
Grund der Traditionen der Maori und ihrer
augenscheinlichen körperlichen Verwandtschafts-
beziehungen an, daß sie aus Vorderindien kamen.
Die Auswanderung von dort müßte allerdings in
der vor-buddhistischen Zeit erfolgt sein, da weder
die Religion der Maori, noch die anderer Polynesier,
eine Spur buddhistischen Einflusses erkennen läßt.
Schon sehr frühzeitig, etwa im 5. oder 6. Jahr-
hundert unserer Zeitrechnung, waren Polynesier
auf den Fidschiinseln ansäßig und von dort
scheinen sie sich sowohl nach Osten und Nord-
osten, wie nach Süden, ausgebreitet zu haben.
Diese Wanderungen wurden durch die Meeres-
strömungen und die herrschenden Windrichtungen
begünstigt. Als kaum zweifelhaft gelten können
noch spätere Wanderungen von den mittelpoly-
nesischen Inseln nach Neu-Seeland.
Gewöhnlich wird angenommen, daß die Zahl
der Maori zur Zeit der Entdeckung Neu-Seelands
') Mollison, Beitrag zur Kraniologie und Osteologie der
Miiori. Zeitschr. f. Morphol. und Anthropol., Bd. 1 1, S. 529—595.
2) Vgl. „Südseemärchen". Jena 1916, Eugen Diederichs.
450
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
durch T asm an (1642) viel größer gewesen sei
als jetzt, und daß infolge der Kämpfe mit den
europäischen Kolonisten und infolge verderblicher
Einflüsse der europäischen Kultur die Einge-
borenenbevölkerung dieser Inselgruppe stark zu-
rückging. 1) In jüngster Zeit hat sich die Zahl
der Maori vermehrt. Sie betrug: 1891 42COO;
1896 40000; 1901 43 100; 1906 477CO und
1911 49800; davon waren 26500 männlichen und
23 300 weiblichen Geschlechts — es besteht also,
wie bei fast allen „Farbigen", ein erheblicher
IVIännerüberschuß. Die Zahl der Maori-Mischlinge
nahm von 4865 1S91 auf 7060 I911 zu; von
diesen lebten 2873 auf europäische Art und unter
Europäern. Die Masse der Maori hält zähe an
der überlieferten Lebensweise und der Stammes-
organisation fest. Nach und nach aber werden
sie doch europäisiert, und zwar vornehmlich durch
den Einfluß der Geistlichkeit. Die Kleidung be-
stand früher aus lose um den Körper geschlungenen
Flachsmatten; jetzt werden schon vorwiegend
europäische Kleider getragen. Besondere Ge-
schicklichkeit und Kunstfertigkeit zeigen die Maori
im Bau und in der Ausschmückung ihrer Wohn-
häuser und Boote, die reich mit Schnitzerei ver-
ziert sind. Heute ist diese Kunst ebenfalls schon
im Verfall begriffen. Vom Haus- und Bootbau
abgesehen, hatten die Gewerbe bei den Maori
niemals große Bedeutung. Hackbau und Fischerei
bildeten in der Vergangenheit die wichtigsten
Erwerbsquellen und sie sind es heute noch, ob-
zwar man sich auf selten der britischen Ansiedler
bemüht, die Maori zum Übergang zu europäischer
Wirtschaftsweise zu veranlassen.
An ein Aussterben der Maori, das von manchen
Autoren befürchtet wird, ist unter den jetzigen
Verhältnissen kaum zu denken, da der Geburten-
überschuß, trotz hoher Sterblichkeit, relativ groß
ist und eine Zunahme der Eingebornen verbürgt.
Die Rassenkreuzung mit englischen Kolonisten
ist nicht umfangreich. Mehr gefährdet werden
könnte die Existenz der reinen Maoribevölkerung
durch zunehmende Einwanderung von Ostasiaten
und Kreuzung mit denselben. H. Fehlinger.
Meteorologie. Fließt eine Flüssigkeit durch
eine Röhre, so laufen die Stromfäden nur parallel
der Achse, solange die sogenannte Reynoldsche
Zahl R= - --^ kleiner als rund 2000 ist. Hierin ist
Q die Dichte, v die mittlere Geschwindigkeit, /< der
Reibungskoeffizient der P'lüssigkeit, 1 der Röhren-
durchmesser. Bei Überschreitung des Grenzwertes
geht die Strömung in eine turbulente über, die
einzelnen Flüssigkeitsteilchen bewegen sich in
Wirbelfäden. In der freien Atmosphäre sind nun
die Verhältnisse derart, daß immer Turbulenz
auftritt, d. h. die Luftströmung findet stets in
mehr oder minder heftigen Windstößen statt.
A. Wegener (Meteorol. Zeitschr. 191 2, S. 49)
') Vgl. z. B. Buschan, „Völkerkunde", Seite 213. —
K. und L. J. Stout, New Zealand, Seite 83 ; Cambridge 1911.
hat zuerst auf die Bedeutung dieser Erscheinung
für die atmosphärische Zirkulation hingewiesen.
E. Barkow hat gezeigt (Meteorol. Zeitschr. 1915,
S. 97), daß die Größe der einzelnen Windstöße,
der Turbulenzelemente, etwa proportional der
Windstärke ist. Um nun die Beziehungen zwischen
Turbulenz und Windänderung mit der Höhe in
übersichtlicherer Form darstellen zu können, führt
Barkow (Ann. d. Hydrograph. 45, 1917, S. i) den
neuen Begriff des „Turbulenzkörpers" ein. Er stellt
einen Mittelwert der Ausschläge der einzelnen
Lufiteilchen von der Mittellage dar. Er hat mithin
eine ähnliche Bedeutung wie die mittere freie Weg-
länge der Moleküle in der kinetischen Gastheorie.
Der Turbulenzkörper wird eine Kugel, wenn
die Größe der Bewegungen in horizontaler und
vertikaler Richtung gleich ist. Dies ist der Fall,
wenn die Temperaturverteilung in der Atmosphäre
adiabatisch ist. Beträgt aber die Temperatur-
abnahme weniger als i" pro 100 m, so bleibt die
horizontale Bewegung ungeändert, dagegen ist ein
Luftteilchen am unteren Ende seiner Bahn im
Mittel zu warm, am oberen zu kalt. Die vertikale
Bewegung ist also gehemmt. Der Turbulenzkörper
wird demnach ein abgeplatteter Rotationskörper
sein. Die Abplattung wird um so stärker, je kleiner
der Temperaturgradient ist; besonders stark, wenn
er negativ ist, d. h. in den Inversionsschichten.
Die Turbulenzkörper benachbarter Raumteile
werden einander durchdringen, so daß benachbarte
Luftschichten, zwischen denen in der Regel eine
gewisse Geschwindigkeitsdifferenz besteht, einander
beeinflussen werden. Dies wird um so mehr der
Fall sein, je ausgedehnter die Turbulenzkörper in
vertikaler Richtung sind. Die Reibung wird dem-
nach um so größer, je größer der vertikale
Temperaturgradient in der Atmosphäre ist. Sind
die Turbulenzkörper flach, so ist eine größere
Anzahl zur Ausfüllung des Raumes zwischen den
Schichten nötig, es kann ein größerer Windsprung
auftreten. Setzt in einem aufsteigenden Luftstrom
Kondensation des Wasserdampfes ein, so vermindert
sich damit plötzlich der Temperaturgradient um
etwa die Hälfte; die Turbulenzkörper werden ent-
sprechend flacher. Daher wird auch häufig an
Wolkengrenzen eine sprungweise Windzunahme
beobachtet.
In der freien Atmosphäre können die Turbulenz-
bewegungen ungestört verlaufen. Bei Annäherung
an den Erdboden muß sich jedoch der Turbulenz-
körper in immer kleinere Wirbel auflösen. Die
Reibung wird hier also immer kleiner. Die Be-
einflussung beginnt erst merklich zu werden in
einer Höhe über dem Erdboden, die der Größen-
ordnung des Turbulenzkörpers entspricht. In den
winterlichen Hochdruckgebieten mit den stark
ausgebildeten nächtlichen Bodeninversionen muß
deshalb schon in geringer Höhe die Wind-
geschwindigkeit ziemlich groß sein. Bei zu-
nehmendem Temperaturgradienten tritt dann ein
Ausgleich ein ; die Geschwindigkeit wird am Boden
größer und in der Höhe geringer. Scholich.
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
4SI
Bücherbesprechungen.
Schwarzschild, K., Dr., Über das System
der Fixsterne. Mit 13 Fig. im Text. Berlin
I und Leipzig 1916, Teubner. — i M.
I Das Heft ist das erste der von der Urania in
Berlin herausgegebenen Sammlung naturwiss.
Vorträge und Schriften und unveränderter, nur
mit einigen besseren Bildern versehener Abdruck
der Ausgabe von 1909. Wir, die wir um den
vor kurzem an den Folgen des Krieges vorzeitig
verstorbenen großen Gelehrten trauern, freuen
uns, daß dies sein gedankenreiches Weik eine
neue Ausgabe verlangt. Die 4 Vorträge, vom
Fernrohr, über Lambert's kosmologische Briefe,
über das System der Fixsterne und vom Universum,
geben weit mehr, als der anspruchslose Titel an-
deutet. Jedes Thema, auch das historische zweite
steht auf der Höhe modernsten Wissens, und ist
reich an wichtigen Ideen und Tatsachen, die in
der glänzendsten Weise übermittelt werden.
Riem.
Jacobsthal, Walther, Prof. Dr., Mondphasen,
Osterrechnung und ewiger Kalender.
116 S. Berlin 191 7, Springer. — 2 M.
Auch ein Werk, das nur bei den Hunnen ge-
schrieben werden konnte, dessen Verfasser als
Hauptmann und Kompagnieführer im Felde steht,
und das den feldgrauen Freunden zugeeignet ist,
von denen der Verfasser weiß, wie sie oft nach
geistiger Nahrung hungern und auch bisweilen
mit Nutzen angeben möchten, wanp eine be-
stimmte Mondphase eintritt. Anknüpfend an die
Gaußische Osterformel zeigt der Verfasser den
Weg, wie man zu deren und ähnlicher F"ormeln
Ableitung gelangen kann , um zum Schluß eine
eigene bequeme zu bringen. Auf diesem Wege
aber gewinnt er eine Anzahl interessanter Er-
gebnisse nebenher, die das Buch auch für den
angehenden Mathematiker, ja für die Schüler der
höheren Lehranstalten wertvoll machen, indem sie
Leben in die Mathematik bringen, besonders in
einige wenig gelehrte Zweige der einfachen
Zahlentheorie. Den Schluß bildet eine Oster-
tabelle von 1582— 1999. Riem.
Müller, P. I., Sludienrat Prof., Kepler's und
Newton 's Gesetze über die Bewe-
gungen im Sonnenrauine im Lichte
der Strahlendruck- und Ätherdruck-
theorie. Wien, Teschen, Leipzig 1916,
K. Prochaska.
Ein höchst unerfreulicher Genuß des auf diesem
Gebiete schon bekannten Verfassers. Wenn er
behauptet, daß die Kepler'schen und Newton-
schen Gesetze, weil nicht auf dem Gebiete der
Physik und Chemie fußend, als Irrlehren zu ver-
werfen seien, und daß der Pythagoras diejenige
mathematische Idee sei, die die Bedingungen er-
möglicht, unter denen sich organisches Leben bis
zur höchsten Stufe entwickeln und bestehen
könne, so fragt man sich entsetzt, wo denn da
der Fehler liegt. Man findet ihn darin, daß die
Gravitation nicht erklären kann, woher die tangen-
tiale Bewegung der Planeten um die Sonne kommt!
Gerade als wenn das nicht ein kosmologisches
Problem wäre. Wir verlangen doch auch nicht
von der Physik, anzugeben, woher Kraft und
Materie kommen. Verfasser berechnet die Erd-
atmosphäre zu 42162,59 km- Höhe I! und erhält
damit das spezifische Gewicht der Erde zu
0,0125017!! und ähnliche Unbegreiflichkeiten mehr.
Und das bei der jetzigen Papierknappheit.
Riem.
Lietzmann, W., Dr., Riesen und Zwerge
im Zahlenreich. Mit 18 Fig. im Text.
Mathematische Bibliothek, Heft 25. Leipzig und
Berlin 1916, Teubner. — 0,80 M.
Das Büchlein erfüllt den ihm zugeschriebenen
Zweck, durch seine Plaudereien kleinen und großen
Freunden der Rechenkunst in diesen trüben Zeiten
einige fröhliche Stunden zu bereiten, im höchsten
Maße. Nicht nur die vergnügliche Art der Dar-
stellung, sondern auch die oft verblüffenden und
unerwarteten Ergebnisse der scheinbar ganz ein-
fachen Aufgaben ziehen immer wieder an, und
reizen dazu, auch andere mit den eben gewonnenen
Kenntnissen ins Erstaunen zu versetzen, oder
hineinzulegen. Wer hätte je daran gedacht, die
Moleküle eines Kubikzentimeters als Perien anzu-
ordnen oder auf einem Tisch auszubrehen und zu
überlegen, wie lang die Schnur wird oder wie
groß der Tisch sein muß! Solche Scherze, zum
Teil auch bekannte, wie die Sandrechnung des
Archimedes, sind hier so hübsch vereinigt, daß
jeder Lehrer froh sein wird, die Mathematikstunde
mit den hier gegebenen Gewürzen schmackhafter
zu machen. Riem.
Kunkel, K., Zur Biologie der Lungen-
schnecken. Heidelberg 1916.
Will man dem Buch Künkel's, seinem
Lebenswerk, voll und ganz gerecht werden, so
muß man die ungewöhnlichen Umstände würdigen,
unter denen dieses Werk entstanden ist. In dem
Vorwort erfahren wir von Kunkel, daß ihn
das Schneckenfutter allein während seiner Unter-
suchung mehrere Tausend Mark gekostet hat.
Daß er aber, ganz unbemittelt, hierbei auf
seinen Gehalt als Seminarlehrer angewiesen war,
und daß er daher seinen letzten Sparpfennig für
die Schnecken hingab, wußten nur die Einge-
weihten. Diese finanziellen Opfer sind ja nicht
das Wichtigste. Dennoch spreche ich von ihnen
zuerst, denn sie bleiben immer ein guter Prüfstein
des Idealismus.
Als sein Lebenswerk darf Kunkel diese
Publikation bezeichnen, obwohl sie nur die Früchte
seiner freien, neben seinem anstrengenden Beruf
452
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
erübrigten Zeit darstellt. Über 15 Jahre hat er
daran mit nimmermüder Begeisterung gearbeitet.
Wer ihn kennt und damals schon kannte ist bei-
nahe versucht zu sagen, daß er der Sklave seiner
Schnecken wurde. Aber damit würde man das
Wesentliche nicht treffen : er war der Sklave seines
Forschungstriebes.
Die Ergebnisse seiner Arbeit sind gleich be-
deutungsvoll für den Morphologen, den Systema-
tiker, den Biologen und den Physiologen, und
auch dem experimentellen Zoologen bieten sie
viel Anregung. Es wäre zu wünschen, daß dieses
Werk über den Kreis der Fachzoologen hinaus
recht weite Verbreitung fände. Möge es anderen
Lehrern ein Beispiel sein, wie ein jeder neben
seinem Beruf der Wissenschaft Wertvolles leisten
kann, wenn sich nur mit klarem Denken Forscher-
drang und Selbstkritik in glücklicher Weise ver-
binden. Künkel's Werk mag ihnen zeigen, wie
weit sich auch eine groß angelegte Untersuchung
vertiefen und fruchtbringend durchführen läßt,
auch wenn die modernen Hilfsmittel nicht in
vollem Umfange zu Gebote stehen.
Der erste Teil des Buches behandelt die
Wasser- Aufnahme und Abgabe und die Bedeutung
des Wassers im Organismus.
Der Schleim, den die Schnecken ausscheiden,
ist in hohem Maße quellungsfähig. Wasserarmer
Schleim klebt nicht nur an der Unterlage, sondern
auch an dem Körper der Schnecke und erschwert
so die Kriechbewegungen oder hebt sie ganz auf.
Wasserarme Schnecken vermögen aus der mit
Wasserdampf gesättigten Luft kein Wasser auf-
zunehmen. Bei Beträufelung mit Wasser können
Nacktschnecken durch die Haut bis zu 74 "/o ihres
Körpergewichts Wasser aufnehmen. Das auf diesem
Wege gewonnene Wasser genügt jedoch nicht um
die Schnecke dauernd am [.eben zu erhalten. Dies
spricht dafür, daß das durch die Haut aufgenommene
Wasser nicht beliebig im Körper verwendet
werden kann, sondern an die peripheren Bezirke
gebunden bleibt, d. h. also, daß es nicht ins Blut
übergeht. Dies wird durch Versuche mit Salz-
lösungen erhärtet. Durch den Mund vermögen
wasserarme Nacktschnecken bis zu dem 4,3 fachen
des Körpergewichts Wasser aufzunehmen. Die
Gehäuseschnecken stehen in dieser Hinsicht be-
deutend zurück. Sie sind andererseits auch gegen
Wasserabgabe besser geschützt als die Nackt-
schnecken.
Nur sehr wasserreiche Schnecken sind fähig,
Wasser durch die Haut auszupressen. Der weit-
aus größte Teil des von den Schnecken getrunkenen
Wassers wird durch Verdunstung abgegeben. Bei
hohem Wassergehalt ertragen Nacktschnecken
einen Wasserverlust bis zu 80 "/^ des Körper-
gewichts. Die Austrocknungsfähigkeit der Ge-
häuseschnecken ist viel geringer. Das verschlossene
Gehäuse ist ein sehr wirksamer Schutz gegen die
Wasserverdunstung. Bei einer Nemoralis betrug
der Gewichtsverlust der kriechenden Schnecke in
derselben Zeit (16 Minuten) 44 mal so viel als bei
der in geschlossenem Gehäuse ruhenden. Helix
arbustorum vermag bis zu 58"/,, ihres Gewichts
an Wasser zu verlieren ohne Schaden zu nehmen.
Die in Winterruhe liegenden Schnecken enthalten
eine relativ geringe Menge Wasser. Dadurch wird
der Stoffwechsel stark herabgesetzt. Der Gewichts-
verlust der Schnecken in der Winterruhe wird
beinahe ausschließlich durch Wasserabgabe be-
dingt. Die Kohlensäureabgabe liefert nur mini-
male Beträge.
Nur wenn die Tiere durch reichliche Wasser-
aufnahme über die nötige Blutmenge verfügen,
sind sie imstande die Kopulationsorgane auszu-
stülpen. Bei genügendem Wasservorrat bleibt das
Sperma, das ein Tier bei der Kopulation emp-
fangen hat , mindestens ein volles Jahr lebens-
und befruchtungsfähig. Die Eier wasserreicher
Tiere haben eine straffe Eihülle, die wasserarmer
Tiere weisen eine schlaffe Hülle auf Wasserreiche
Limax legen ihre Eier einzeln ab, bei wasser-
armen hängen sie perlschnurartig zusammen. Zu
geringer Wassergehalt macht die Eiablage un-
möglich.
Das durch die Haut aufgenommene Wasser
wird durch die Drüsenöffnungen von dem Drüsen-
schleim aufgesaugt. Fori aquiferi konnten nicht
nachgewiesen werden. In das Blut gelangt das
durch die Haut aufgenommene Wasser nicht,
sondern nur in die Schleimdrüsen und in die
Gewebe der Körperwand.
Der zweite Teil des Buches berichtet über
Zuchtversuche, die interessante Ergebnisse der
verschiedensten Art lieferten. Wie Lang so er-
hielt auch Kunkel von linksgewundenen Stamm-
eltern ausschließhch rechtsgewundene Nachkommen.
Nach eingetretener Geschlechtsreife sind die
männlichen, nicht aber auch die weiblichen Ge-
schlechtszellen entwickelt. Bei der Kopula wird
das Sperma stets gleichzeitig übertragen. Aktive
Bewegungen der Spermatozoen von Arionen
wurden nie beobachtet. Sie wandern passiv von
der Zwitterdrüse zum Zwittergang und von da
zum Epiphallus, wo sie zu einer Sparmatophore
vereinigt werden. Nachdem das Sperma über-
tragen ist, wird im Receptaculum der Schwanz-
faden samt dem Achsenfaden aufgelöst, und man
findet bald nur noch Spermienköpfe, die ebenfalls
unbeweglich sind. Erst in diesem Zustande
scheinen sie begattungsfähig zu sein. Sonst müßte
stets eine Selbstbefruchtung eintreten, da zur Zeit
der Eiablage Zwittergang und Divertikel noch
reichlich eigene geschwänzte Spermatozoen ent-
halten.
Schließt man eine Limax von der Kopulation
mit einem anderen Tier aus, so findet man trotz-
dem bei geschlechtsreifen Tieren das Receptaculum
mit Sperma erfüllt, das bald wie fremdes Sperma
den Schwanzfaden verliert. Dieses eigene Sperma
ist in normaler Weise befähigt, die Eier zu be-
fruchten. Die F"urchung und die Embryonal-
entwicklung der selbstbefruchteten Eier verläuft
normal (96 % der Eier entwickelten sich). Daß
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
453
die Eier wirlthch befruchtet waren , ist aus der
Ausstoßung beider Richtungskörperchen zu
schließen.
Es findet also bei diesen Tieren Selbstbe-
fruchtung und zwar ohne Selbstbegaltung statt.
Damit sind die wesentlichsten Ergebnisse
wiedergegeben. Eine reiche Fülle von Beobach-
tungen konnten hier nicht ausführlich behandelt
werden. So Ermittelungen des Lebensalters, der
Widerstandsfähigkeit gegen Hunger, Kälte, Er-
trinken, ferner Beobachtungen über den Winter-
schlaf, über die Blutzusammeiisetzung, über die
Embryonalentwicklung. Bei den Zuchtversuchen
wird die Pflege dieser Tiere näher erläutert, wir
erfahren mancherlei über die Nahrung, über die
Unterbringung. Es folgen Angaben über die
Kopulation, Eiablage, über Wachstumsperiode,
Gehäusewachstum, Vererbung von Pigment und
Pigmentlosigkeit. Hierbei hat sich ergeben, daß
Arion rufus und ater nur eine Art sind. Es
schließen sich Versuche über die Beeinflussung der
Farbe durch das Futter an. Die Humussäure
scheint hierbei eine bedeutsame Rolle zu spielen.
R. Demoll.
Bolle, J., Direktor i. R. der k. k. landw. ehem.
Versuchsstation in Görz, Österreich: Die Be-
dingungen für das Gedeihen der
Seidenzucht und deren volkswirt-
schaftliche Bedeutung. 4. Flugschrift der
deutschen Gesellschaft für angewandte Ento-
mologie. Mit 33 Textabbildungen. Verlag von
Paul Parey in Berlin SW, Hedemannstr. 10. —
Preis 1,60 M.
Nach statistischen Angaben verbrauchte
Deutschland vom Jahre 1908 — 1910 im Durch-
schnitt jährlich 3502000 kg Rohseide, die sämt-
lich aus dem Ausland bezogen wurden. Nicht
immer lagen die Verhältnisse so, daß in Deutsch-
land überhaupt keine Seide erzeugt wurde. In
vielen Gegenden, besonders in Süddeutschland
finden sich noch Maulbeerbäume, die in einer
Zeit angebaut worden waren, als die Zucht der
Seidenraupe eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung
besaß. Es ist nicht anzunehmen, daß die Seiden-
raupenzucht bei uns lediglich aus äußerlichen
Gründen wieder aufgegeben wurde. Einer gedeih-
lichen Entwicklung standen vielmehr gewichtige
sachliche Hindernisse im Weg, die zum Teil im
Fortkommen der Seidenraupen in unserem Klima,
zum Teil in der wirtschaftlichen Rentabilität der
Zuchten lagen.
Schon der Gegensatz zwischen Erzeugung und
Verbrauch, dann der Umstand, daß das Ausland
keine Seide mehr liefern kann, noch mehr aber
das Bestreben, unseren Kriegsinvaliden einen
lohnenden Erwerb zu sichern, hat den Gedanken
reifen lassen, neuerdings zu versuchen, den Seiden-
bau in Deutschland heimisch zu machen. Es ist
ja nicht ausgeschlossen, daß das Zusammenarbeiten
wissenschaftlicher und praktischer Sachverständiger
unter den heutigen Bedingungen es ermöglicht.
daß die Fehlschläge einer vergangenen Zeit ver-
mieden werden. Auf der einen Seite wird mit
Eifer für die Idee Stimmung gemacht, auf der
anderen Seite warnend abgeraten. Bei der Un-
klarheit der Meinungen ist die vorliegende un-
parteiische Schrift Bolle's von besonderem Wert,
der als einer der besten Kenner der Seidenzucht-
probleme gilt und durch langjährige Erfahrung
sowie durch persönliche Anschauung der Ver-
hältnisse ausländischer Seidenbaubezirke in der
Lage ist, ein maßgebendes Urteil zu fällen.
Bolle gibt kein Gutachten ab, ob sich der
Seidenbau in Deutschland rentieren wird oder
nicht. Er legt ganz allgemein die Bedingungen
klar, unter denen ein erfolgreicher Betrieb möglich
ist. „Die Seidenzucht kann nur dort gedeihen,
wo jene Bedingungen vorhanden sind, welche
ihren Betrieb in großem Maßstabe, sowie ihre
weitere Ausbreitung ermöglichen. Vor allem ist
es nötig, daß ausgedehnte und gut kultivierte
Anlagen von Maulbeerbäumen das erforderliche
Laub in genügender Menge und guter Qualität
liefern. Dann muß durch eine rationelle Aufzucht
der Seidenraupe eine quantitativ und qualitativ
entsprechende Kokonsernte gesichert werden und
schließlich muß diese eine solche Verwendung
finden, daß der Seidenzüchter einen sicheren und
gewinnbringenden Verdienst in Geld für seine
Mühe erziele." Diese verschiedenen Bedingungen
werden in einzelnen Kapiteln nacheinander durch-
gesprochen. Jedes Land, das die Seidenzucht neu
einführen will, wird die Nutzanwendung aus den
allgemein gehaltenen Darlegungen ziehen können.
Welche Bedeutung die Nahrung für die Raupen
spielt, geht am besten aus der folgenden Über-
legung hervor: Etwa 30 g Seidenraupeneier
(Samen) liefern etwa 42000 Räupchen. Für ihre
Aufzucht benötigt man 10 — 12 Meterzentner Laub
oder 25 bis 30 Maulbeerbäume in vollster Ent-
wicklung. Wie die Obstbäume müssen daher die.
Maulbeerbäume gut gepflegt und gedüngt werden,
wenn sie guten Ertrag liefern sollen. In Süd-
europa werden sie in eigenen Kulturen oder längs
der Straßen und Feldwege gepflanzt. Die Blätter
werden entweder abgestreift oder samt den
Zweigen abgeschnitten.
Da die Bäume in kälteren Gegenden zu spät
ausschlagen und überhaupt etwa erst nach
6 — 7 Jahren ertragsfähig werden, wird von vielen
Seiten als Ersatz die Schwarzwurzel empfohlen.
Bolle rät auf Grund seiner Aufzuchtversuche,
die geradezu kläglich verliefen, und seiner Be-
obachtungen in anderen Gebieten ganz davon ab.
Die Raupen fressen wenig, bleiben in der Ent-
wicklung zurück, werden leicht krank und liefern
keine marktfähigen Kokons.
Die Aufzucht kann überall dort betrieben
werden, wo bei genügender Nahrung für die Tiere
Zuchträume mit Heizvorrichtung vorhanden sind,
da die Raupen eine Wärme von 21 " C bean-
spruchen. Ein besonders wichtiger Faktor ist die
Auswahl der Rasse. Sie muß vor allem gegen
454
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
die Schlaft'sucht widerstandsfähig sein. Mehr als
eine Unze Samen, d. h. 30 g kann eine Familie
nicht aufziehen; denn zur Zeit, wo sich die
Raupen verpuppen wollen, haben Mann und Frau,
ein erwachsener Jüngling oder zwei Knaben oder
Mädchen eine unausgesetzte fleißige Arbeit zu
versehen, die nur kurz von den notwendigsten
Hausarbeiten, vom Essen und Schlafen, unter-
brochen werden darf. Zuerst alle zwei, später
alle drei oder vier Stunden muß Futter gereicht
werden , täglich erfolgt eine Umbettung der
Raupen vom alten zum neuen Futter, für Rein-
lichkeit, Lufterneuerung und Heizung ist zu sorgen.
Dazu kommt neben manchem anderen die Vor-
bereitung der Hürden, wenn sich die Raupen
einspinnen wollen, und nach etwa acht Tagen die
Auslese der Kokons, von denen nur ein Teil
tadellos und preiswert ist. Bei rationeller Züchtung
werden von 30 g Samen etwa 60 kg solcher
Kokons erzielt. Abzüglich aller Auslagen liefern
sie einen Gewinn von etwa 100 M., ein geringer
Lohn für die Mühe, die die ganze Aufzucht ver-
ursacht. Daraus folgt, daß die Seidenzucht nur
dort einträglich ist, wo nicht für andere Arbeiten
hohe Löhne bezahlt werden oder wo, wie auf
dem Lande, billige, zum Teil kostenlose Arbeits-
kräfte zur Verfügung stehen.
Die Verarbeitung der Kokons zu Seidenstoffen
kann bei uns als Hausindustrie nicht betrieben
werden. Sie wird am besten von größeren Firmen
oder Anstalten übernommen, die das Abtöten
der Schmetterlinge, das Abhaspeln der Fäden, die
Gewinnung gesunden Samens und die Auslese
besonders leistungsfähiger Rassen betreiben.
Biologische und wirtschaftliche Umstände sind
es also, die wohl erwogen werden müssen, wenn
die Seidenzucht in einem Lande auch wirtschaft-
liche Bedeutung erlangen soll. Grundbedingung
ist Futter in genügender Menge und gesunder
Seidenraupensamen. Dazu kommt noch, daß die
Bevölkerung willig sein muß, sich einer nicht
mühelosen Arbeit mit Eifer und Liebe zu widmen.
Welche Erfolge die Seidenzucht erreichen kann,
wenn diese Bedingungen erfüllt sind, lehrt deutlich
das Beispiel der Wiedereinführung der Seidenzucht
in Ungarn, wo das Unternehmen staatlich orga-
nisiert und finanziert ist. Stellwaag.
Anregungen und Antworten.
Zunahme von Tierarten im Kriege. Benecke in Bad
Schmiedeberg erwähnt, daß dort die Wachtel und bei
Wittenberg die Nachtigall neuerdings wieder zahlreicher ge-
worden sei, und möchte es auf verminderte Nachstellungen
während des Krieges zurückführen. Unsere Wachteln wandern,
wie Röhrig nachgewiesen hat, im Winter nach Ruflland;
auch dort könnten sie jetzt weniger gefangen werden als in
Friedenszeit (Ornithologische Monatsschrift, 1917, S. 148 — 150).
Es wären also Parallclfälle zu dem neulich von der Elster
hier erwähnten. Es wird auch über Zunahme der Fuchsplage
in manchen Gegenden geklagt sowie über die immer zahl-
reicher auftretenden ,, Fixköter" und verwilderten Katzen.
_Auch das sind Folgen des Kriegs, insbesondere des fehlenden
Abschusses, wie bei der Elster. Schon einige Stellvertretende
Generalkommandos sahen sich veranlaßt, dem durch wildernde
Hunde veranlaßten Schaden durch besondere Verordnungen
entgegenzuwirken. Gleich der Elster sind Wachtel, Nachtigall,
verwilderte Katzen, Fuchs und ,, Fixköter" im besetzten Westen
und wenigstens die beiden letzteren auch im Osten viel zahl-
reicher als in Deutschland vorhanden. V. Franz.
Ein weiterer Nachtrag zu den Katastrophen von Krakatau
und Santiago. '| Die Krakalau-Explosion soll am 26. August
1SS3 eine Neben- oder genauer Vorläufererscheinung an der
Unterelbe gehabt haben. Nach dem Altonaer Schriftsteller
Th. Overbeck soll am Vormittage dieses Sonntags
gegen 10 '/j Uhr der große Kronleuchter der Hauptkirche
Altonas in Schwingungen geraten sein. Der Vorfall hätte
solchen Eindruck gemacht, daß der amtierende Prediger, Herr
Pastor Köster, den Gottesdienst unterbrochen habe.
Dieser Bericht fesselte mich in hohem Grade. Im Falle
seiner Bestätigung war ein neues Beispiel seismischer Korre-
spondenz im Meridianäquator der Pendulation gesichert bei
starker Ausbruchstäligkeit nahe dem einen Pole der Pendu-
lation, im Sundagebiet, und bei vulkanischen Nebenerschei-
nungen (Erddonner in Westindien) nahe dem anderen Pole.
') Vgl. die Mitteilung „Ein Nachtrag zur Katastrophe
von Krakatau" auf S. 183 des „Weltall" 1916, 21/22, sowie
Nr. 30 der „Naturw. Wochenschr.", N. F. XV.
Um so mehr bedauerte ich das nachfolgende Anfangs-Ergebnis
meiner schon sogleich nach der Veröffentlichung eingeleiteten
Nachforschungen in Altona.
Die Altonaer und Hamburger Tageszeitungen 1883 der
letzten August- und der ersten Septemberwochen enthielten
keine Mitteilung des Ereignisses.
In den Kirchenbüchern der Hauptkirche war, nach Aus-
kunft des Herrn Hauptpastor Esmarch, in den hinterlassenen
geschichtlichen Aufzeichnungen und sonstigen chronologisch
genau geordneten Papieren des früheren Hauptpastor W a 1 1 r o t ,
nach Aussage seines Sohnes Herrn Pastor Wallrot, eben-
falls keine Andeutung zu finden.
Nach dem für den 26. August 1S83 in Hamburger und
Altonaer Tageszeitungen mitgeteilten Kirchenzettel amtierte an
diesem Sonntage Herr Propst Lilie und nicht Herr Pastor
Köster.
Die seit einigen Jahren verwitwete Frau Pastor Köster,
die ebenfalls bei meinem Besuche schriftliche Aufzeichnungen
zu Rate ziehen konnte, hatte weder bei ihren regelmäßigen,
höchstens durch Krankheit unterbrochenen Kirchenbesuclien
einen solchen Vorfall erlebt, noch gesprächsweise von ihrem
Manne dergleichen erfahren.
Als einziger Zeuge blieb der Kirchenälteste Herr Drogen-
händler Meßtor ff in Altona. Er verwickelte sich aber in-
sofern in Widersprüche, als er die Schwankungen des Leuchters
erst vom Kirchenältestenstuhle aus beobachtet haben wollte,
während er in 18S3 nur Gemeindevertreter und deshalb zu
einem anderen, weiter abgelegenen Kirchenstuhle zusiändig
war. Auch wußte er auf den Hinweis, daß Herr Propst
Lilie und nicht Herr Pastor Köster amtierte, nur zu ent-
gegnen, daß vielleicht ein anderer Sonntag in Frage kam.
Damit stürzt aber der ganze behauptete Zusammenhang
mit der Krakatau-Katastrophe zusammen.
Vom Küster Herrn Rcschke hörte ich noch, daß der
Kronleuchter bestimmt vor etwa 10 Jahren (vor 1916, also 1906)
geschwankt habe. Das würde, der Jahreszahl nach, in Über-
einstimmung stehen mit einer sicheren Beobachtung solcher
Korrespondenz des meridianäquatorialen Bodens gerade an
der Unterelbe mit einer schweren Erdkataslrophe nicht allzu-
weit von einem der Pole der Pendulation. Freilich habe ich
über diese Beobachtung sehr bald danach in Hamburger
N. F. XVI. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
455
Tageszeitungen veröffentlicht, so daß es sich bei der angeb-
lichen Altonaer Beobachtung von 1906 auch sehr wohl um
einen der im modernen Zeitungsleben nicht seltenen Revenants
handeln konnte. Jedenfalls sei an dieser Stelle die an mich
gerichtete briefliche Mitteilung des Beobachters, des in Schiff-
bauerkreisen hochgeschätzten Ingenieurs Herrn L. Benjamin,
hier als geophysikalische Urkunde im Wortlaut mitgeteilt.
Hamburg, den 27. August 1906.
Rentzelstrafie 16.
Meinem Versprechen gemäß teile ich Ihnen hierdurch er-
gebenst mit, daß an dem Tage, an welchem abends das Erd-
beben in Santiago gemeldet wurde, nachmittags um 5'/s L'hr
in meiner Wohnung deutliche Anzeichen davon durch das
Schwingen der Hängelampen, wie ich solches früher häufig
in Japan bei Erdbeben zu beobachten Gelegenheit gehabt
habe, zu spüren waren . . . (gez.) Ludwig Benjamin."
Daß sich zu dieser sicheren Hamburger Beobachtung eine
entsprechende Altonaer Beobachtung an dem lang herab
pendelnden Kronleuchter der Hauptkirche gesellte, ist durch-
aus nicht unwahrscheinlich. Der volle Nachweis ist für diesen
Erdbebentag, den 16./17. August 1906, allerdings nicht er-
bracht.
Für den zö.jzj. August 1883 mußte aus diesen ersten
Ergebnissen meiner Erhebungen leider ein strenger Gegen-
beweis gegen die O verbec k'sche Darstellung gefolgert
werden.
Zu den dargelegten Gegengründen der Altonaer Erhebung
über das Ereignis in der dortigen Hauptkirche vor 34 Jahren
trat noch als erschwerender Umstand, daß nach den Geburts-
und Taufregistern des Jahres 1883 am 26. August dieses
Jahres eine Vertretung des Propstes Lilie durch den jungen
Pastor K Osler ausgeschlossen erschien. Denn nach Aussage
beider Register waren an diesem Sonntag 6 Taufen vom
Propst (Pr.) und nur I Taufe von seinem Kompastor (Comp.)
vollzogen.
Doch setzte gerade an dieser Stelle die Gegenwirkung
ein gegen die scheinbar erdrückende Last der Widerstände.
Sie beruhte auf der bestimmten und amtserfahrenen Aussage
eines noch lebenden Freundes des Pastor K Osler, des Herrn
Propstes Pauls en an der Altonaer Johanniskirche. Nach
ihr war Pastor Kost er damals gar nicht Kompastor der
Hauptkirche, sondern persönlicher .\djunkt des Propstes Lilie,
während Kompastor ein älterer Geistlicher Biernatzki war.
Als Adjunkt hatte Pastor Köster auch die Taufen in Ver-
tretung des Propstes zu vollziehen, ohne selbst genannt zu
werden. So war der Gegengrund aus jenen Registern hin-
fällig. Außerdem erklärte Herr Paulsen, sich bestimmt der
Erzählung seines Freundes zu erinnern, daß jenes Erlebnis
sich ereignete, als er den Propst Lilie einmal zu vertreten
hatte. Im Jahre 1906 gehörte dieser längst nicht mehr den
Lebenden an. Das chilenische Erdbeben vom lö. .August
dieses Jahres kam danach für jenes Erlebnis nicht in Krage.
Daß Frau Pastor Köster sich dessen nicht entsinnt,
kann an einer langwierigen sehr schweren Erkrankung liegen,
unter der sie in der ersten Zeit ihrer Ehe litt.
Die Widersprüche in der Aussage des Kirchenältesten
Meßtorff finden eine besser befriedigende Lösung auch
wohl darin, daß er nach dem Gottesdienste am 26. August
1883 von dem Stuhle der Gemeindevertreter nach dem der
Kirchenältesten hingegangen war und sich, wie er sich auch
erinnerte, an der Besprechung des Zwischenfalles beteiligt
hatte.
So darf, wenn man die Ergebnisse der Altonaer Erhebung
abwägt, doch am "Ende auf die Bewahrheitung dieses Vor-
ganges und auf seinen Zusammenhang mit einem der der Ex-
plo!.ion de
Krakatau
ngegan
iignisse
katastrophaler Art geschlossen werden. Aus den Schwierig-
keiten dieser nachträglichen Erhebung geht hervor, wie
wichtig und für wissenschaftliche Zwecke geradezu notwendig
es ist, daß solche Vorfälle sofortige Veröffentlichung erfahren.
Denn jene Erhebung schien zuerst ein völlig negatives Ergebnis
zu lielern.
Späte VeröffentlichuDg wurde auch einer anderen Neben-
erscheinung der Krakatau-Katastrophe zuteil, die wegen ihrer
noch weiteren Entfernung von deren Herde ein besonderes
Interesse bietet. Es war eine Schallerscheinung, die im
Kolonial-Patois der Bewohner Haitis als Gouffre bezeichnet wird.
,,Die Oktobernummer 1 907 des Meteorologischen Bulletin,
verölTentlicht von Professor S c h e r e r vom College St. Martial,
Port au Prince, Haiti, enthält eine Mitteilung über den
Goufifre, der erklärt wird als ein Geräusch ähnlich dem
Donnerrollen eines Gewitters oder fernem Kanonendonner,
und der häufig in Haiti beobachtet sein soll. Besonders
geschah das zur Zeit des Krakatau-Ausbruches."
Dieses in getreuer ÜberseUung gebrachte Zitat aus dem
Dezemberhefte 1907 des amerikanischen Monthly Wealher
Review (S. 575) ist tatsächlich das Erste, was die wissenschaft-
liche Welt von dieser Beteiligung der Großen Antillen an
der Krakatau-Katastrophe erfährt. An dieser Beteiligung ist
von vornherein ein Zweifel deshalb ausgeschlossen, weil von
einer anderen Inselgruppe Westindiens ein ganz ähnlicher
Bericht bereits vorlag. Er war, auf Grund eines Briefes des
Schiffskapitäns Rob. Woodville, schon im März 1885 von
F. A. Forel der Pariser Akademie im März 1885 erstattet
worden. Er betraf donnernde Geräusche, die am 26. August
1883 auf der Insel Caiman-Brac, westlich von Jamaika, gehört
worden waren und dort eine Panik erzeugt hatten. Ich lasse
die wörtliche Übersetzung auch dieser überaus wichtigen
wissenschaftlichen Urkunde folgen:
,,.'\m Sonntag dem 26. August 1883 wurden die Be-
wohner von Caiman-Brac überrascht von der Wahrnehmung
von Geräuschen wie fernem Donnerrollen. Der Himmel
war jedoch klar. Ihr erster Gedanke war, daß ein spanischer
Kreuzer einen kubanischen Flibustier abgefaßt hätte. Da
sie im Süden nichts sahen, liefen sie über die Insel nach
Norden. .Xber, nach welcher Richtung sie auch die Blicke
schweifen ließen, sie sahen weder Rauch noch Schiff. In-
dessen hielt die Kanonade an. Zurücklaufend kamen sie
dahinter, daß dieses Getöse unterirdisch war. Im ersten
Augenblick erwarteten sie, ihr Eiland vom Meere ver-
schlungen oder in einen Vulkan verwandelt zu sehen. Aber
allmählich hörten die Donnerschläge auf, und die Besorgnisse
wichen mit ihnen. Diese ungewöhnliche Erscheinung bildete
noch lange ein Gesprächsthema. Man hatte weder die
Tatsache noch ihr Datum vergessen, als die Zeitungen die
ersten Nachrichten von der Krakatau-Katastrophe brachten.
Die Nachdenklichen stellten fest, daß die Caimans und Java
ungefähr zueinander antipodal gelegen sind." —
Das Ereignis von Caiman geschah , wie zweifellos aus
dem Berichte hervorgehl, am hellen Tage. Für die eigentliche
Explosionskatastrophe des Krakatau war es deshalb zu früh.
Wenn man die Zeit ihrer frühesten Angabe, von Buitenzorg,
zugrunde legt, ereignete sich diese Explosion erst gegen 6 h 45
am Morgen des 27. August 1883 der Sundazeit, deshalb
frühestens gegen 7 am Abende des 26. August der westindischen
Zeit.
Die gleichen Zeilverhältnisse kommen für die Altonaer
Begleiterscheinung in Betracht, wie Th. Overbeck, der sich
das unleugbare Verdienst ihrer ersten Kettung für die Wissen-
schaft erwarb, auch schon ganz richtig andeutete. Jene Sunda-
zeit entfiel in die Mitlernachtstunde zum 27. August 1883 für
Altona, auf (oh 37a mitteleuropäischer), oh 17a Altonaer Zeit.
Die Vormitlagszeit des vorhergehenden Sonntags zwischen
10 und 11 entsprach der Sundazeit zwischen 4 und 5 Uhr
nachmittags am 26. August 1883. In dieser Hinsicht erscheint
eine Stelle des Buches „Krakatau" von Bedeutung, das der
Chefingenieur des niederländisch - indischen Bergwesens
R. D. M. Verbeek im Auftrage des Generalgouverneurs
verfaßt hat. Verbeek berichtet da als Ohrenzeuge in
Buitenzorg selbst: „Bald wurden die Donnerschläge stärker,
besonders gegen 5 Uhr nachmittags. Die später erhaltenen
Meldungen haben uns berichtet, daß diese Detonationen auf
der ganzen Insel Java gehört worden waren." — Das war
auf die beträchtliche Entfernung bis nahezu 1200 Kilometer.
Es liegt nahe, die Steigerung der unterirdischen Vorgänge,
die von jenen Detonationen angezeigt wurden, als eigentliche
Ursachen der Nebenerscheinungen im holsteinischen Altona
und auf den grnannten westindischen Inseln zu beanspruchen.
Eigentliche Erdbeben waren es aber nicht. Auch nicht Erd-
beben der schwächsten Art wurden bei der Katastrophe des
August 1S83, wie schon bei ihrer Vorläuferin im Mai 1883,
beobachtet. Verbeek hat das auf S. 33 seines Buches aus-
4S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 32
drücklich festgestellt. Auch kamen für Westindien nicht
Schallschwingungen der Luft in Betracht. Denn, wie aus den
Zeilangaben der im Schallgebiete der Krakatau-Katastrophe am
weitesten nach Osten gelegenen australischen Stationen Alice
Springs und Daly Waters übereinstimmend hervorgeht, wurde
auf diese Höchstentfernungen tatsächlich der Donner der
eigentlichen Krakatau-E.xplosion vom Morgen des 27. August
1883 gehört. Der Telegraphenbeamte Skinner gab für
Alice Springs loh 10, der Telegraphenbeamte Kemp für
Daly Waters 9h 20 bis loh am Vormittage des 27. August an.
Diese Angaben entsprachen hinreichend der Sundazeit zwischen
6 und 7 am Morgen dieses Tages. Für den Donner von
Caiman-Brac kam dieses Maximum des von der Luft ver-
breiteten Krakatau-Donners also ebenso zu spät, wie das
Maxiraum der Ausbruchs-Explosionen.
So können für die Erscheinungen in Westindien und in
Holstein nur Ereignisse des Erdinnern in Betracht kommen.
Und zwar nur solche, die der Explosions-Katastrophe des
Krakatau vorbereitend vorausgingen. Das zwingt zu der An-
nahme einer Wellbeben-Erscheinung, die im Sundagebiete
ihre Auslösung und gewissermaßen Entlastung durch den
vulkanischen Ausbruch erfahren hat. Mit ihrer so mächtig
betonten geographischen Beziehung zum Sundagebiet steht sie
auch keineswegs vereinzelt da.
Holsteinische Wetter- und Sonnen-Warte
Schneisen bei Hamburg-Altona.
Wilhelm Krebs.
Zu der oben mitgeteilten Beobachtung kann ich aus eigener
Erfahiung noch folgendes hinzufügen. Bei einem gefechts-
mäßigen Infanterieschiefien konnte ich, neben den Schulzen
kniend, mit einem Zeißglase die Geschoßbahn als eigentüm-
lichen flimmernden oder schlierigen Streifen wahrnehmen, so-
daß sich auch dann, wenn der Geschoßeinschlag nicht oder
nicht scharf sichtbar war, ziemlich gut das Ergebnis des Schusses
angeben ließ. Die Sonne stand im Rücken. (G.c:) M.
Ein seltenes Echo-Phänomen habe ich auf einem Spazier-
gang im Kampfgelände an der Aisne beobachtet:
Bei völliger Windstille und klarem Sonnen-Nachmittag
tackte in 400 m Entfernung von meinem Standpunkte ein
Maschinengewehr 4, 5 Schüsse hintereinander; 2, 3 Sekunden
nachher begann das Echo diese Schüsse zu wiederholen.
Ich veränderte, verdutzt, wiederholt meinen Standpunkt, indem
ich einen Kreis von '/ä l^n> Halbmesser schlug: Das Echo
schwieg nicht; es äffte sogar, um meine Verblüffung zu steigern,
Abschüsse schwerer Geschütze nach und zwar sowohl solche
eigner als auch feindlicher Stellungen. Endlich stellte ich als
widerwerfende Schallwand fest: einen Fesselballon in ungefähr
800 m Höhe über mir. (GX.)
Oberstabsarzt Dr. Fuhrmann.
Daß Luftwellen als Schlieren sichtbar werden können,
und zwar auf, wenn nicht richtiger gesagt vor vielleicht
1000 m hohen weißen Schrapnellwolken, die von einer
Fliegerbeschießung herrühren, sah ich zum ersten Male am
6. April 1917. Man sah mit einer Geschwindigkeit, die auf
rund 300 m in der Sekunde, also auch auf Schallgeschwindig-
keit, geschätzt werden könnte, parallele helle Linien in Ab-
ständen von rund 300 m voneinander sich über die Wolke
hinwegschieben. Einige Sekunden dauerte die merkwürdige
Kriegshimmelserscheinung, um dann zu schwinden und bald
wieder in genau derselben Weise einzutreten; doch wurden
diese stets aus einer und derselben Richtung heranfließenden
Lichtstreifen mitunter auch gekreuzt von solchen , die aus
einer anderen Richtung kamen, und für Augenblicke war die
Wolke voller Lichtreflexe wie eine gekräuselte Wasserfläche.
Das Zerfließen der Wolke setzte der Erscheinung ein Ende,
doch wurde sie am folgenden Tage — nicht von mir —
wieder beobachtet. Ich vermute, daß die fortschreitenden
scheinbar geradlinigen, parallelen Lichtstreifen Teile sehr
großer konzentrisch sich vergrößernder Kreise sind und diese
nichts anderes als das optische Bild von Kugelwellen, die
von den Mündungen feuernder Geschütze ausgehen und den
Luftraum durcheilen. Daß sie auf der Sprengwolke sichtbar
werden, mag an deren verhältnismäßig geringer Höhe, an der
etwa tangentialen Blickrichtung des Beobachters und vielleicht
noch an weiteren Gründen liegen, wahrscheinlich auch
wesentlich an ihrer Größe — Wellenlänge — und Stärke und
dem geeigneten Abstand des Beobachters. Auf anderem,
höherem Gewölk sowie am blauen Himmel sah man nichts
davon. In der Annahme, daß der Anblick noch nicht be-
schrieben ist und sich vielleicht auch jemand anders zu seiner
Erklärung äußern könnte, möchte ich mit diesen Zeilen darauf
hinweisen. V. Franz.
Literatur.
Escherich, Prof. Dr. K., Die Ameise, Schilderung ihrer
Lebensweise. 2. verbesserte und vermehrte Auflage. Mit
gS Abbildungen. Braunschweig '17, F. Vieweg & Sohn. —
10 M.
Dessoir, M., Vom Jenseits der Seele. Die Geheim-
wissenschaften in kritischer Betrachtung. Stuttgart '17, F. Enke.
— II M.
C. K. Schneider's illustriertes Handwörterbuch der
Botanik. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter, heraus-
gegeben von Prof. Dr. K. Linsbauer (Graz). 2. völlig um-
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M. Engelmann. — 25 M.
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'17, V. Vieweg & Sohn. — 4 M.
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Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen
Relativitätstheorie. Berlin '17, J. Springer. — 2,40 M.
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Abbildungen im Text und 15 farbigen und schwarzen Tafeln.
Leipzig '17, Verlag „Naturwissenschaften". — 16 M.
Auerbach, Prof. Dr. F., Die Grundbegriflfe der modernen
Naturlehre. Einführung in die Physik, 4. Aufl. Mit 71 Text-
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I Werner Mecklenburg, Der Basenaustausch der Silikate. (4 Abb.) S. 441. — Einzelberichte: L. Weber,
Sogenannte Verbesserung der Blitzableiter. S. 44S. Hellmann, Die aägebliche Zunahme der Blitzgefahr. W. König,
Alomistischer Bau der Elektrizität. S. 44S. Mollison, Die Maori. S. 449. E. Barkow, Turbulenz und Windänderung
mit der Höhe. S. 450. — Bücherbesprechungen: K. Schwarzschild, Über das System der Fixsterne. S. 451.
Walther Jacobsthal, Mondphasen, Osterrechnung und ewiger Kalender. S.451. P. I.Müller, Kepler'sund Newton's
Gesetze über die Bewegungen im Sonnenraume im Lichte der Strahlendruck- und Ätherdrucktheorie. S. 451. W. Lietz-
mann, Riesen und Zwerge im Zahlenreich. S.451. K. K ü n k e 1 , Zur Biologie der Lungenschnecken. S.451. J. Bolle,
Die Bedingungen für das Gedeihen der Seidenzucht und deren volkswirtschaftliche Bedeutung. S. 453. — Anregungen
und Antworten : Zunahme von Tierarten im Kriege. S. 454. Ein weiterer Nachtrag zu den Katastrophen von Krakatau und
Santiago. S. 454. Luftwellen als Schlieren sichtbar. S. 456. Ein seltenes Echo-Phänomen. S. 456. — Literatur: Liste. S. 456.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippcrt & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den ig. August 1917.
Nummer 33.
Zur Lösung der Frage des Organismenlichtes.
[Nachdrurk verboten
Von Privatdozent Dr. E. Trojan (Prag).
Das Kapitel vom Licht der Lebewesen ist
wohl eines der buntesten in der Wissenschafts-
geschichte; es reicht so weit zurück, als die Lite-
ratur der Naturgeschichte überhaupt. Schon Ari-
stoteles waren die Leuchtkäfer gut bekannt.
Welche Vorstellungen bei den Römern das herr-
liche Phänomen des Meerleuchtens auslöste, wenn
sie von ihren berühmten Bädern zu Bajä aus die
See in warmen Nächten weit hinüber bis nach Capri
in weißem Silberglanz erstrahlen sahen, erfahren
wir aus keiner Schrift. Nur des Dichters Wort
sagt uns, daß die Erscheinung wert war, unter
den Schönheiten der Natur besungen zu werden.
Daß er selbst oder andere dabei an Licht der
der Tiere gedacht hätten, zumal Plinius
von leuchtenden Medusen und Pholaden lehrte,
soll nicht für ausgeschlossen gelten. Und wenn-
gleich schon von den Griechen und Römern ab alle
Völker um die Gestade der Meere das Leuchten
der See gewiß gekannt, kühne Seefahrer auch
später jahraus jahrein von dem seltsamen Wunder
zu erzählen wußten, dauerte es jahrhundertelang,
bevor die Versuche begannen, natürliche Gründe
für jenes bezaubernde Spiel der Natur zu finden.
Je vertrauter die Menschen seit der Entdeckung
Amerikas mit den ( Izeanen wurden, desto zahl-
reicher mehrten sich die Angaben, denen zufolge
bald hier, bald dort Polypen, Medusen, Rippen-
quallen, Würmer und Kruster leuchtend gesehen
wurden. Häufiger denn eliedem fand sich nach
dem hergestellten Kontakt mit der neuen Welt
und namentlich den Tropen Gelegenheit, auch
leuchtende Tiere des Festlandes, neue Arten von
Käfern und Tausendfüßlern, zu entdecken. Daß aber
die Ursache des auffälligsten Exempels tierischen
Lichtes, des Meerleuchtens, beinahe am längsten
verborgen bleiben mußte, war nicht anders mög-
lich, da es sich hier in erster Reihe in den Er-
zeugern des Lichtes um Urtiere handelte, deren
Wesen dem Forscherauge insolange verschlossen
blieb, als es ihm an der richtigen optischen Aus-
rüstung gebrach. Inzwischen war der freien
Phantasie Raum gelassen und bald an Vulkane
des Meeres, bald an die Reibung von Salzteilchen
des Seewassers untereinander oder gegen die an-
grenzenden Luftschichten, kurz an die Begleit-
erscheinung der Reibungselektrizität gedacht; eine
Zeitlang behauptete sich auch die Meinung, daß
der Phosphorgehalt des Meeres Grund des Leuch-
tens sei. Andere glaubten das Licht im Gefolge
der F"äulnisprozesse von Seetierexkrementen oder
Schleimabsonderungen bzw. verendeten Seetieren,
wieder andere als die Wiedergabe jener Fülle von
Licht und Wärme der Sonne, die der Wasser-
spiegel tagsüber in sich aufgenommen hatte,
deuten zu können. Wenn ferner zur Erklärung
des Phänomens die Analogie der Irrlichter, Eis-
bildung oder endlich einfache Reflexion heran-
gezogen wurde, so sind damit wohl alle die
irrigen Anschauungen der Vergangenheit erschöpft.
Sie waren mit einem Schlage aus der Welt ge-
schafft, als das überzeugende Experiment, das
Filtrieren des leuchtenden Seewassers zeigte, daß
nur der Rückstand im Filter zu leuchten vermag,
nicht aber das Wasser. Die optischen Behelfe
gestatteten auch bereits insoweit eine Analyse
des Filterinhaltes, daß man mit unzweifelhafter
Sicherheit Tiere als die Träger des Lichtes er-
kannte. Am längsten dauerte es, bevor das Bak-
terienlicht unserem Wissen erschlossen wurde.
Mit der Feststellung des lebenden Objektes,
der Lichterzeuger, ist der Wissenschaft ein neues
Problem erstanden : Wie kommt das Organismen-
licht zustande? Die einschlägige Literatur gibt
das beste Zeugnis dafür, daß das Interesse der
Forscher für diese Materie von Jahr zu Jahr
immer reger wurde. Daß die bedeutendste I'^örde-
rung der Sache durch die stets intensiver sich
gestaltende Tiefseeforschung zuteil ward, hängt
mit dem natürlichen Reiz des tierischen Lichtes
zusammen; die Neugierde, zu erfahren ob an der
märchenhaften Lichtpracht der Tiefen des Welt-
meeres, wo es von selbstleuchtenden Uuallen,
Würmern, Krebsen, Weichtieren, See- und
Schlangensternen und Fischen nur wimmle und
ganze Rasenflächen von Korallentieren und Bryo-
zoen im Licht erstrahlen, etwas Wahres sei, war
nur berechtigt. Heutzutage ist für jeden , der
sich ernst mit der P^rage des Organismenlichtes
beschäftigt und persönlich Erfahrungen mit leuch-
tenden Tieren gesammelt hat, jene Ansicht so gut
wie abgetan. Groß ist ja die Zahl der bisher
beobachteten leuchtenden Formen und dazu dürfen
wir uns noch nicht rühmen, von allen bereits Kennt-
nis erlangt zu haben; jede Tiefseeexpedition hat
bisher Ungeahntes auch auf diesem Spezialgebiete
beschert und so ist aller Grund vorhanden, daß
auch bei nächster Gelegenheit neue Bereicherung
bevorsteht. Das eine aber läßt sich schon heute
mit Sicherheit sagen: nur bei den Plschen ist
eine kontinuierliche, auf längere Zeit sich er-
streckende Lichtausstrahlung beobachtet worden;
mag man aber von all dem anderen leuchtenden
Getier reichlich genug beisammen haben und in
der glücklichen Lage sein, es unter günstigen Be-
dingungen lebend zu halten und Tag und Nacht
darüber zu wachen: das bald da, bald dort auf-
blitzende Licht oder der intermittierende Schein,
458
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 33
der noch dazu nicht freiwillig, sondern erst in-
folge eines äußeren Anstoßes auftritt, gebietet
jedweder phantastischen Vorstellung Halt. Über-
dies gilt es heute auch als erwiesen, daß die
sich immerzu wiederholenden Angaben über das
Leuchten von Spongien irrtümlich sind ; das Licht
hat sich bisher in allen Fällen auf andere Indi-
viduen, die in dem reichen Kanalsystem des
Schwammes Aufenthalt genommen haben, zurück-
führen lassen.
Es ist klar, daß die Forschung nicht dabei
stehen bleiben konnte, bloß festzustellen, welche
Tiere leuchten oder nicht; der nächste Schritt
galt der Suche nach dem eigentlichen Sitz der
Luminiszenz. Eine Durchsicht des kompilatori-
schen Teiles der verdienstvollen Arbeit iVIan-
gold's*) über die Produktion von Licht, die
mit dem Jahre 1910 abschließt oder der auch
die späteren Leistungen aufnehmenden, derzeit
erscheinenden Kapitel zur Lichtproduktion bei
Tieren von D a h 1 g r e n -) eröffnet dem Leser,
wie produktiv dieser Zweig biologischer Forschung
bisher gewesen ist.
Im Frotistenleib, dessen Plasma an sich schon
mit einer ganzen Reihe von Funktionen bedacht
ist, gesellt sich bei manchen Organismen noch
die der Lichtentwicklung hinzu. Gleichberechtigt
mit den anderen nimmt auch sie mit dem Ein-
tritte der Arbeitsteilung im Metazoenkörper eine
Zellart für sich in Anspruch. Als einer einfachen
Drüsenzelle im Hauptepithel niederer Tiere be-
gegnen wir da dem Leuchtorgan in seiner primi-
tivsten P^orm. Seine Leistungsfähigkeit steigert
sich im Zusammenschluß von 2, 4 und mehr
solcher Drüsenzellen, die in Form einer echten
Drüse mehr oder weniger tief in die Körperdecke
sich versenken, ja schließlich bloß durch einen
feinen Kanal ihre Verbindung mit der Außenwelt
bewahren. So lassen sie dem Drüsenhals ein
Sekret entströmen, das nach seinem Austritt im
Kontakt mit dem Seewasser zu feurigen Kugeln
sich ballt oder in feinster Verteilung das Wasser
milchig glänzend macht. Bisweilen ist aber von einer
Abgabe leuchtender Substanz nichts zu merken und
es leuchten die Drüsenzellen mit ihrem Inhalte
an sich; so etwas mag den Drüsenkanal überflüssig
erscheinen lassen, so daß es wohl verständlich
ist, wenn man ihn bei einem Typus von Leucht-
organen zum Teil, anderswo auch ganz rückgebildet
sieht. Die Drüsen sind nicht mehr offen, sondern
geschlossen. Ausschließlich an solch letzteren
setzt auch der Hebel zur Erreichung des mög-
lichst großen Lichteffektes an : so kommen Hilfs-
apparate zustande, wie der Reflektor im Hinter-
grunde der Drüse, ein Refraktor in ihrem Zen-
trum und nicht selten vor ihr suspendiert eine
Sammellinse. Ja selbst an Lidfalten fehlt es nicht,
') Mangold, E., Die Produktion von Licht. Handbuch
der vergl. Physiologie, herausg. von Winterslein. 3, 2. Hälfte,
S. 225 (1910 — 1914).
2) Dahlgren, U., The production of liglit by .-inimals.
Journal of Ihe Franklin Institute. 1916.
wo es gilt, das Licht abzublenden. Damit ist
aber auch der Höhepunkt der Organisation eines
Leuchtorgans erreicht. Es braucht wohl nicht erst
besonders betont zu werden, welcher Fülle von Ob
jekten es bedurft hat, bevor die hier mit wenigen
Worten wiedergegebene Erkenntnis der phylogene-
tischen Entwicklung des tierisclien Leuchtapparates
gereift ist; sie hat die größte Förderung durch die
reichhaltige Sammlung leuchtender Cephalopoden
und P'ische anläßlich der „Valdivia"-Tiefseeexpe-
dition erfahren. So steht es seit etwa 5 Jahren
um die morphologische Seite der Frage und
nachdem von Neuerscheinungen seit jener Zeit
nichts zu verbuchen ist, was sich in das obige
Schema nicht einreihen ließe, könnte leicht die
Meinung entstehen, daß sich dem Problem von
selten der Zoologen kaum etwas Wesentliches
mehr abgewinnen lassen wird. Daß dem nicht
so ist, soll das Nachfolgende lehren.
Die Frage des Organismenlichtes ist noch
lange nicht damit erschöpft, wenn wir den Bau
der Leuchtorgane bis ins Genaueste kennen, sie
birgt ein biologisches Rätsel, dessen Lösung der
Biochemie wird vorbehalten bleiben müssen, nach-
dem heutzutage kein Zweifel darüber besteht, daß
es sich bei jener Art des Lichtes um eine Che-
moluminiszenz handelt. Aber wie in vielen anderen
Fällen dürfte man auch hier rascher zum Ziele
kommen, wenn die einzelnen P"achwissenschaften
Hand in Hand zusammen, statt wie bisher ge-
sondert gehen. Gerade dem letzten Umstände
ist es nicht zum geringen Teil zuzuschreiben, daß
die Bemühungen um die vorliegende Materie
seitens der Chemie bei weitem noch keine greif-
baren Resultate zeitigten. An Versuchen hat es
nicht gefehlt. Daß es sich bei dem sog. Nocti-
lucin, dessen Namen leicht die Vorstellung einer
chemischen Substanz erwecken kann, niemals um
eine solche gehandelt hat, sondern um Massen
von Leuchtbakterien, hat Molisch') bereits vor
Jahren festgestellt. Zwei andere Substanzen hin-
gegen mit vollem Ansprüche, als spezifische I .eucht-
stoffe anerkannt zu werden, fanden durch D u -
bois") seinerzeit zum erstenmal in der Literatur
Eingang, das Lu eiferin und die Luciferase.
Beide entstammten ein und derselben Ouelle,
nämlich der Bohrmuschel (Pholas dactylus), einem
ziemlich weit in den Meeren verbreiteten Mollusk.
Jenes Tier antwortet auf Angriffe von außen mit
einem Strahl klarer Flüssigkeit, die im F"instern
leuchet. Das Drüsengewebe, das jenen leuch-
tenden Schleim erzeugt, liefert mit Sand in 90 %
Alkohol verrieben, 12 Stunden lang mazeriert und
nachher filtriert, eine Plüssigkeit, die Licht ent-
wickelt, wenn sie mit einer zweiten gemischt
wird, die aus dem mit Chloroformwasser behan-
delten Rückstand nach mehreren Stunden Stehens
abfiltriert wird. Für sich allein leuchtet
') Molisch, H., Leuchtende Pflanzen. Jena 1904.
') Dubois, R., Nouvelles recherches sur la production
de la lumiere par les animaux et les vegetaux. C. R. 111
(1890). — Lecon de physiologie etc. Paris 189S.
N. F. XVI. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
459
weder die eine noch die andere. Der Leucht-
versuch gehngt aber nicht mehr, wenn die letztere
Flüssigkeit zum Sieden erhitzt oder mit viel Al-
kohof gemischt wird; sie gibt dann einen flockigen
Niederschlag. Nach seinen mit der Bohrmuschel
gemachten Erfahrungen sah der französische Phy-
siologe im Organismenlicht einen fermentativen
Vorgang. Luciferase nennt er die eiweißartige
Substanz mit den Eigenschaften eines Ferments
und bezeichnet ausschließlich die Leuchtdrüsen
als ihren Sitz; Lu eiferin nennt er einen unbe-
kannten, kristallisierbaren Körper, der überall im
Körper des Tieres verteilt sei. Dieser entwickle
mit jener unter Beisein von Sauerstoff und Wasser
Licht. Es ist leicht verständlich, wenn D u b o i s
der Vorwurf nicht erspart bleiben konnte, daß
sein Ferment, die Luciferase auf eine etwas un-
exakte Weise beurteilt worden und daher frag-
licher Xatur sei. Denn der flockige Niederschlag
nach der Behandlung des mazerierten, mit Chloro-
formwasser ausgewaschenen Rückstandes könnte
leicht anderen Ursprungs sein, nachdem laut
eigenen Angaben des Autors das zu untersuchende
LcLichtdrüsengewebe durch einfaches Abschaben
mit dem Messer gewonnen wurde. Dubois') ist
auf diesen Einwand eingegangen und hat bei
seinen nächsten Versuchen bloß mit dem ent-
leerten Sekret des Pholaden gearbeitet; seine Ex-
perimente modifizierte er derart, daß er fürs erste
eine Portion des ausgespritzten Saftes bis zum
Erlöschen des Lichtes aufbewahrte, fürs zweite
eine andere frisch leuchtende auf 70 Grad er-
hitzte. Abermals waren so beide Flüssigkeiten
wie seinerzeit ihres Eigenlichtes bar, mit dem
Momente ihres Zusammentreffens jedoch trat die
Luminiszenz ein. Dubois geht von der Voraus-
setzung aus, daß Luciferin und Luciferase
anfangs in beiden Flüssigkeiten enthalten sind;
nachdem durch das Erhitzen diese in der letzteren
Flüssigkeit unwirksam gemacht werde, bleibe hier
nur jenes übrig. Um mit diesem Licht zu ge-
winnen, bedürfe es, wie er in seinen weiteren
Versuchen zeigte, nicht einmal des obigen abge-
standenen Sekretes desselben Pholaden, es genügt,
in das Reagenzglas mit Luciferin Leibeshöhlen-
flüssigkeit anderer Weichtiere oder auch Krebse,
ja selbst Blut, Wasserstoffsuperoxyd oder Kalium-
permanganat zu bringen und der Lichteftekt ist
da. Auf solche Tatsachen gestützt, glaubt D u -
bois letzthin in der Luciferase eine Peroxydase
mit weiter Verbreitung im Tierreich zu erkennen;
das Luciferin, das er für ein Nukleoalbumin
hält, komme, wie er meint, nur Tieren mit Leucht-
vermögen zu: bei der Oxydation dieses Eiweiß-
körpers durch jene Peroxydase entstehe das
Organismenlicht.
Molisch,-) der über die Lichtentwicklung
bei Bakterien eingehende und umfassende Studien
') Dubois, R., Nouvellcs rechcrches sur la lumiei
physiologique chez Pholas dactylus. C. R. 153, S. 690 (1911
■') Molisch, IL, 1. c.
durchgeführt hatte, sprach sich anfangs für eine
zuwartende Haltung gegenüber der Ferment-
theorie von Dubois aus und kam zu dem
Schlüsse, es handle sich bei leuchtenden Tieren
wahrscheinlich um die Erzeugung einer spezifi-
schen Substanz, des Photogens, wie er den
Stoff nannte, das bei Gegenwart von Wasser und
freiem Sauerstoff Licht zu entwickeln vermag.
Aber sein Hinweis von damals auf die einst zu
erhoffende Darstellung jenes Photogens im
Reagenzglase losgetrennt von der lebenden Zelle
ähnlich der Gewinnung der Zymase aus der Hefe,
scheint mir darauf hinzudeuten, daß er mit den
Ansichten Dubois sympathisiere.
In neuester Zeit ist allerdings den Versuchen
jenes französischen Gelehrten ein böses Schicksal
beschieden gewesen. Harvey''') wandte nämlich
die obigen .Arbeitsmethoden bei einer Anzahl leuch-
tender Tiere und zwar bei 2 Leuchtkäferarten,
Luciola parva und vitticoUis, dem Krebschen
Cypridina Hilgendorfii, dem Plsche Wata-
senia scintillans, dem Korallentier Caver-
nularia Haberi und dem Urtierchen Nocti-
luca miliaris an. Überall, bis auf die Leucht-
käfer und den Leuchtkrebs schlugen die Versuche
fehl und dazu sah sich Harvey auf Grund der
gewonnenen Resultate genötigt, dort, wo nach
Dubois die Diagnose auf Luciferase ausfiel,
für das Luciferin einzustehen und umgekehrt
statt des Luciferin für Luciferase. Der
sonst unvermeidlichen Verwirrung konnte nur
durch Schaffung neuer Benennungen abgeholfen
werden: Photogenin statt Luc iferase, Pho-
to p h e 1 e i n statt Luciferin; das erstere soll im
Gegensatz zu Dubois' Anschauung als der wahre
Lichterzeuger gelten und kein Ferment sein, das
letztere helfe bei den chemischen Prozessen gleich-
sam als „Koenzym" mit. Wenn schließlich Harvey
darauf deutet, daß bei der Photogenin -Photo-
phelein - Lichtreaktion Ähnlichkeiten mit der Zy-
mase der Hefe bestehen, so beweist das nur, daß
auch er der Fermenttheorie huldigt. Ob nun
Luciferin und Luciferase oder Photogen
oder Photogenin und Photophelein — wir
haben bisher noch keinen Anhaltspunkt, um eine
dieser hypothetischen Substanzen chemisch zu
fassen und bei den widersprechenden Erfahrungen
seitens Dubois und Harvey tauchen unwill-
kürlich Zweifel an der Exaktheit der Methoden
auf, zumal es sich bei dem amerikanischen Forscher
wieder um Leuchttiere handelt, bei denen die
Möglicheit einer Isolierung der Leuchtsubstanzen
aus dem Körper in Frage gestellt werden muß.
Ein gemeinsamer Zug wohnt aber allen jenen
Bestrebungen der biochemischen F"orschung inne,
die Suche nach einem spezifischen, chemisch de-
finierten Substrat, dem Leuchtstoff. Und doch
müßte es vielleicht gar keinen solchen überhaupt
') Harvey, E. N., Tlie light- producing substances
photogenin and photophelein of luminous animals. Science,
N. S. XLIV, Nr. II 40.
460
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 33
in der Natur geben; hat doch Rad zisze wski ')
schon gezeigt, daß Alkohole, die mehr als vier
Kohlenstoffatome im Molekül enthalten, ferner
ätherische Öle, Fettsubstanzen, namentlich fette
Öle und deren einzelne Bestandteile, gewisse
Kohlenwasserstoffe, organische Säuren und Lipoide
im Laboratorium zur Luminiszenz gebracht werden
können, und wir wissen, daß mehrere von diesen
Stoffen und Verbindungen in lebenden Organismen
vorkommen; so haben weiter Trautz und Scho-
rigin-) dargetan, daß die Mehrzahl organischer
Stoffe, sofern sie unter 400 Grad oxydierbar sind,
beim Oxydationsprozeß leuchten. Der Schwer-
punkt der Frage der Bioluminiszenz würde in
solchem Falle nicht so sehr nach dem Leucht-
stoff, als vielmehr nach dem Leuchtprozeß
neigen.
Es mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich
aussehen, daß in solchen Dingen ein Zoologe mit
seinem Fachwissen etwas von Nutzen mitsprechen
könnte; um so mehr gereichte es mir zur Freude
und war gewissermaßen eine Genugtuung für
mich, daß sich die aus meinen vielfachen Er-
fahrungen mit lebenden leuchtenden Tieren und
Studien über ihre l>euchtorgane gezogenen Schlüsse
auf den Leuchtvorgang mit den Ansichten eines
Biochemikers deckten, der ohne leuchtende Tiere
auf dem Wege der Laboratoriumsversuche mit
gleichen Gedanken um die Lösung desselben
Problems bemüht war. Der Konsens der Mei-
nungen bei unserem zufälligen persönlichen Zu-
sammentreffen im verflossenen Winter bot uns
Bürgschaft genug, daß der eingeschlagene Weg
der richtige sei und wir beschlossen daher, gleich-
zeitig zu publizieren. ^) Mein Ideengang gründet
sich auf biologische Momente, die, durch morpho-
logische Tatsachen gestützt, den Leuchtprozeß
unter den Gesichtswinkel des allgemeinen Stoff-
wechselgetriebes im Organismus stellen. So oft
in den letzten Jahren über das Leuchtvermögen
eines Tieres berichtet wurde, fehlte es nie an der
guten Absicht, einen besonderen Nutzen des
Lichtes für dessen Träger ausfindig zu machen.
So lebte man sich allmählich in die Vorstellungen
ein, daß in dem Dunkel der Tiefsee die Nahrungs-
suche erleichtert, Beute geködert. Feinde ge-
schreckt, Artangehörige erkannt werden u.a.m.
Wenn auch die eine oder andere Erklärung recht
plausibel klingt, so läßt sich nicht leugnen, daß
bei einer großen Anzahl von Tieren gar keine
paßt; man denke nur an die Heere winziger,
leuchtender Protisten, an leuchtende Würmer und
Schlangensterne, die in Sand und Schlamm oder
eigenen Wohnröhren zeitlebens ihr Dasein fristen,
') Radziszewski, B., tjber die Phosphoreszenz der
organischen und organisierten Körper. Liebig's Ann. d. Chemie,
203, S. 305 (1S80).
-) Trautz und Schorigin, Über Chemilurainiszenz.
Zeitschr. f. wiss. Photographie, 3 (1905).
') Trojan, E., Die Lichtentwicklung bei Tieren. Inter-
nat. Zeitschr. f. physik.-chem. Biologie, 3, S. 94 (1917). —
Heller, R., Bioluminiszenz und Stoffwechsel. Ebenda, S. 106
(1917)-
an die kleinsten Krebschen des Planktons mit
ihrem aufblitzenden Licht u. a. Nur in einem
Falle ist ein höherer biologischer Wert für tieri-
sches Licht durch das Experiment erwiesen, d. i.
bei Leuchtkäfern die Anziehung der Geschlechter
zur Paarungszeit. Es leuchtet das Weibchen von
Luciola italica nur solange, bis es ein Männ-
chen seiner Spezies auf sich aufmerksam gemacht
und herbeigelockt hat, ja es richtet zu diesem
Zwecke das Weibchen von Lampyris nocti-
luca die bei normaler Körperhaltung dem Boden
zugekehrten Leuchtorgane gerade dem fliegenden
Männchen zu ; es legt sich im Gras auf den
Rücken und streckt den Hinterleib empor. Nahezu
mit der Beweiskraft eines Experiments zwingen
gewisse Umstände auch bei manchen P'ischen
die gleiche Erklärung gelten zu lassen. Die bei
Angehörigen ein und derselben Art erstaunlicher-
weise genau eingehaltene gleiche Zahl und Lage
der Leuchtorgane am Körper der Tiere, das Er-
scheinen gewisser Leuchtorgaiie und Leuchtplatten
erst zur Zeit der Geschlechtsreife, insbesondere
die Beobachtung, daß eine Uschart (Porich thys)
trotz reichlichen Besitzes an Leuchtorganen gar
kein Licht, oder bei Anwendung künstlicher Reize
nur wenig davon merken ließ, während Exemplare
derselben Spezies bei der Brutpflege herrlich
leuchtend gesehen worden sind, sprechen für die
Analogie zum Hochzeitskleid im besonderen, wie
für den Ersatz an Farben anderer Tiere im all-
gemeinen.
Das von mir seit Jahren an marinen Stationen
beobachtete Tiermaterial war zur Aufstellung von
Hypothesen bezeichneter Art größtenteils nicht
geeignet und ich begnügte mich daher des öfteren
mit der Annahme, daß das Leuchten eine zu-
fällige Begleiterscheinung im Stoffwechsel des be-
treffenden Tieres sei; weil ich aber bei niederen
Tieren das Lichtphänomen zumeist an eine Ab-
scheidung gekettet sah, kam mir der Gedanke,
ob sich nicht etwa der Organismus bei dieser
Gelegenheit eines Baiastes an Abbauprodukten
entledigt. Die Bildung der Farbstoffe im Tier-
körper beruht auf einer Ablagerung gewisser Abbau-
stoffe des Dissimilationsprozesses; sie kann, muß
aber nicht zu sekundären Geschlechtsmerkmalen
führen; vielleicht ließe sich Ähnliches vom Or-
ganismenlicht denken. Die seinerzeit von mir
an leuchtenden Pyrocysteen gemachte Beobach-
tung, daß das Licht an der Peripherie ihrer Chro-
matojihoren erscheint, die Verlagerung der Leucht-
drüsen am Hinterleib des Chaetopterus in
den Nephridialkanal, das aus alter Zeit schon ge-
meldete Leuchten des menschlichen Harnes, eine
Erscheinung, die auch heute durch Verabreichung
gewisser Stoffe herbeigeführt werden kann, sowie die
Erscheinung leuchtenden menschlichen Schweißes
konnten der besagten Idee nur förderlich sein;
der Umstand, daß in der Nähe der Leuchtdrüsen
mitunter harnsaures Ammoniak, harnsaures Kali,
harnsaurer Kalk oder Guanin vorhanden ist, kam
ihr nur zustatten. Bei den Purinsubstanzen so
N. F. XVI. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
461
angelangt, verfolgte ich den Gedanken weiter und
meine, daß, da ja auch unter den tierischen Farb-
stoffen Purinsubstanzen bereits bekannt sind, Licht-
kleid und Farbenkleid nicht nur biologisch, son-
dern auch biochemisch zusammengehören. Es ist
erwiesen, daß die Pigmente der menschlichen Haut,
des Auges u. a., kurz die Melanine ihre Entstehung
als sekundäre Umwandlungsprodukte von Amino-
säuren den Eiweißkörpern verdanken; daß es
sich aber auch beim Organismenlicht um den
Zerfall gerade der letzteren handelt, machen die
Versuche Weitlaner's 'j mit leuchtendem Humus
wahrscheinlich. Von Eiweißkörpern verlangen die
Nukleoproteide hier volles Interesse, weil die Iso-
lierung der Purinbasen Guanin, Adenin, Xanthin
und Hypoxanthin aus ihnen bereits gelungen ist.
Schwebte mir so als nächste Aufgabe der Bio-
chemie die Beobachtung von Umsetzungen bei
der Bildung von Purinsubstanzen vor, so ist gleich-
zeitig, wie ich jetzt ausführlich meiner Schwester-
publikation entnehme, der Beginn der Arbeit in-
auguriert. Heller ist zu der Überzeugung ge-
langt, daß sich bestimmtere Vorstellungen über
den Reaktionstypus der biochemischen Prozesse
des Organismenlichtes am ehesten von den \'er-
suchen Radziszewski's'-) gewinnen lassen
werden, zumal jene heutzutage einer experimen-
tellen Prüfung nicht unzugänglich sind. Den .»Aus-
gangspunkt bildet für ihn die Luminiszenz des
Lophins.
CuH-,-C— NHv
>C— C,H-,.
C,J-Ir,-C— N/
Zwei Möglichkeiten bestehen, um von dem
Leuchten des Lophins aus die Frage des Orga-
nismenlichtes anzugehen , entweder auf Wegen
der Canizzaro' sehen Reaktion oder von Ein-
griffen auf den Imidazolring. Nachdem der Autor
die Gründe für und gegen die Annahme der
ersten Möglichkeit diskutiert hat, holt er die
Tatsache hervor, daß in den verbreitetsten End-
produkten des Stoffwechsels, den Purinkörpern,
ein Imidazolring im Molekül vorkommt. Das
weist ihn auf die Eventualität eines Zusammen-
hanges zwischen Bioluminiszenz und den Abbau-
prozessen stickstoffhaltiger Stoffwechselprodukte.
Wie die große Verbreitung des Organismenlichtes
bei Tieren verschiedenster Stämme und seine
geringe biologische Bedeutung bei der Überzahl
derselben und der Umstand, daß es schon an die
frühesten Stadien des Lebens geknüpft ist u. a. m.
gegen die Annahme spezifischer Leuchtstoffe
spricht, so drängen dieselben Tatsachen um so
mehr zu der Überzeugung, daß das Licht an
') Weitlaner, Weiteres vom Johanniskäferlicht und
vom Organismenleuchten überhaupt. Verh. zool. bot. Ges.
Wien. 61 (191 1).
^) Radziszewski, B., Über das Leuchten des Lophins.
Ber. deutsch, ehem. Ges. 10.
allgemeine Stoffwechselprodukte geknüpft ist.
„Da Imidazolverbindungen als allgemeine End-
produkte des Abbaues stickstoffhaltiger Ver-
bindungen in Organismen auftreten , ist die ein-
fachste und exakten Versuchen zugänglichste
Annahme jene, daß die Bioluminiszenz an die
letzten Phasen des Abbaues im Stickstoffwechsel
geknüpft ist, die zur Ausscheidung von Purin-
körpern führt." Unter den Purinkörpern ist für
Harnsäure Chemiluminiszenz bei Einwirkung von
Chlorkalk, Natriumhypochlorit, Kalium- und
Natriumhypobromit erwiesen. Heller hat es
nun aber auch für eine ganze Reihe von Purin-
derivaten, die bei seinen Versuchen eine intensive
und länger andauernde Photophosphoreszenz
zeigten, höchst wahrscheinlich gemacht, daß sie
unter geeigneten Bedingungen vielfach auch bei
chemischen Reaktionen Luminiszenz entwickeln
werden. Es sind dies:
Monoxypurine: Hypoxanthin (6- Oxypurin).
Aminooxypurine: Guanin (2-Amino, 6-
Oxypurin), Guanosin (Guanin-d-Ribose).
Dioxypurine: Xanthin (2, 6-Dioxypurin),
8-Methylxanthin.
Theobromin (3, 7-Dimethylxanthin), Theobro-
minum natro-aceticum und salicylicum, Theobro-
minsäure.
Coffein (i, 3, 7-Trimethylxanthin).
Coffeinum citricum, natro - salicylicum und
hydrochloricum.
8-Methylcoffein, Hydroxycoffein.
Von anderen Substanzen, die mit dem Stickstoff-
stoffwechsel in inniger Beziehung stehen, phos-
phoreszierten besonders stark:
Uracil, Allantoin, Phenylhydantoinprolin,
Gaunidin, Guanidinchlorhydrat, Kreatin, Krea-
tinin,
Amidobarbitursäure , Alloxan, Alloxanthin,
Parabansäure.
Die chemische Zusammensetzung speziell dieser
Stoffe lasse schließen, daß möglicherweise auch
der weitere Abbau der Purinkörper von Luminis-
zenz begleitet ist (Pyrimidinring, Imidazolring)
oder so mancher von jenen Stoffwechselprozessen,
die zu anderen Stickstoffringen beziehungsweise
nicht ringförmigen Stickstoffverbindungen, ins-
besondere also zu aliphatischen Harnstoffderivaten
führen.
Die nächste Aufgabe wird es nach Hell er 's
Dafürhalten sein, die Phase des Abbaues, in der
das Licht auftritt, zu finden. Ob es sich bereits
auf der Stufe der Nukleinsäuren zeigt (vgl. meinen
Hinweis oben) oder später, ob und inwiefern
Fermente eine Rolle dabei spielen, läßt sich heute
nicht sagen.
Sollten sich aber die hier entwickelten Direktiven
für die biochemische Lösung der Frage als frucht-
bar erweisen, dann haben Zoologen gewiß einen
guten Teil dazu beigetragen.
462
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 33
Einzelberichte.
Astronomie. Über die chemische Zusammen-
setzung der Meteore berichtet Merril in den
Mem. of the national Akad. of Sciences, Washington
1916. F"est stand schon lange die Anwesenheit
folgender nicht gasförmigen Elemente : Silizium,
Aluminium, Eisen, Chrom, Mangan, Nickel, Kobalt,
Magnesium, Calzium, Natrium, Kalium, Schwefel,
Phosphor, Kohlenstoff. Mehr oder weniger zweifel-
haft erschien das Vorkommen von Antimon,
Arsenik, Kupfer, Gold, Blei, Palladium, Platin, Zinn,
Titan, Wolfram, Uran, Vanadium und Zink. Es
handelte sich darum, durch genaueste Analyse und
mikroskopische Untersuchung das Vorkommen
dieser und gegebenenfalles anderen Elementen
festzustellen. Vor allem bei Meteoren des Feld-
spathtypus wurden sorgfältig nach Barium, Stron-
tium und Zirkon gesucht. In zweifelhaften Phallen
suchte man ein Stück desselben Meteores zu er-
halten, von dem eine frühere Analyse das ange-
deutete Element ergeben hatte. Ein Stück von
etwa 50 g Gewicht war immer ausreichend, und
nur in seltenen Fällen mußte man sich mit Proben
von nur 10 g begnügen. Die Arbeit gibt nun die
genauen Analysen einer größeren Anzahl von
Meteoren an, in denen sich bis zu 21 verschiedene
Mineralien finden. Die Verarbeitung aller dieser
Einzelergebnisse zeitigt folgende Schlüsse. Gold
hat sich weder in den Eisen- noch in den Stein-
meteoren gefunden, wohl aber Spuren von Platin,
Palladium, Iridium und Ruthenium. Demgegen-
über hat aber Mingay e im Pallasit von Mt
Dyrring, Neusüdwales bestimmt Spuren von Gold
in Verbindung mit Platin, Iridium und Palladium
gefunden, ebenso in dem Eisenmeteor von Barraba
Platin, Iridium und Spuren von Zinn. Hinsichtlich
des Phosphor scheint die PYage noch immer oft'en
zu sein, möglicherweise hat sich des Material im
Laufe der Zeit so verändert, daß es seinen Phosphor-
gehalt durch Verwitterung abgegeben hat. Silizium
ist sicher nachgewiesen, doch ist noch problema-
tisch, in welchen Verbindungen es auftritt. Schwefel
kommt vor an Eisen gebunden oder als Oldhamit
an Kalzium gebunden. Zinn kommt vor teils an
Eisen gebunden, teils als Schwefel Verbindung.
Vanadium ist in zwei Fällen nachgewiesen, Titan
nicht, aber es ist anzunehmen, daß in anderen
Meteoren dies Metall noch vorkommen wird, nach
Analogie seines Vorkommens auf der Erde. Ebenso
ist das Nichtauftreten von Barium und Strontium
in den Analysen der Tatsache zuzuschreiben, daß
die Mineralproben nicht dem Feldspathtypus an-
gehörten, solche waren nicht zu beschaffen. Zum
Schluß gibt eine tabellarische Zusammenstellung
von 61 Analysen einen Überblick über das Ver-
hältnis des Vorkommens der einzelnen Elemente
und Verbindungen in den Meteoren. So kommt
Kohlenstoff immer nur geringfügig vor, ebenso
Kupfer. Minerale, die auf der Erde nicht vorkämen,
erwähnt die Arbeit nicht. Riem.
Eine abschließende Bearbeitung des gesamten,
in den Museen der Vereinigten Staaten und Mexikos
vorhandenen Materials an Meteorsteinen gibt uns
der 13. Band der Veröff. der National Academy
of Sciences, Washington 191 5. Alle bis zum
1. Jan. 1909 bekannt gewordenen Fälle sind da
eingehend besprochen, eine Mitteilung über Beob-
achtungen beim Niederfallen, Suchen und Finden
des Steines, dessen genaue Beschreibung nach
Gewicht, mineralogischer und chemischer Zu-
sammensetzung, und äußerem Ansehen. Die Ver-
öffentlichung bringt sogar auf Karten der einzelnen
Staaten die I*"undstelle und deren geographische
Koordinaten, offenbar, damit in dem dünnbe-
völkerten Lande das Suchen nach etwaigen Bruch-
stücken ermöglicht wird. Das Gewicht der in
den Museen gesammelten Steine geht von wenigen
Gramm bis zu 27000 Kilo, und umfaßt 201 ein-
zelne Funde, von denen mehrere eine Anzahl zu-
sammengehöriger Teile umfassen. Wenn auch
keinerlei Abbildungen der Meteore selber, oder
ihrer Schleifflächen oder des mikroskopischen Be-
fundes gegeben sind, so ist das sehr umfangreiche
Werk doch für die iMeteoritenliteratur eine be-
deutende und wichtige Erscheinung, wie sie in
gleicher Vollständigkeit sonst noch nicht vor-
handen ist. Riem.
Vererbungslehre. Einen Beitrag zur Ver-
erbungslehre bringt der Berner Pathologe W egelin
in einer Arbeit „Über eine erbliche Mißbildung
des kleinen Fingers".^) Wegelin teilt den
.Stammbaum einer Familie mit, in welcher in drei
Generationen eine vererbbare Mißbildung des
kleinen Fingers vorgekommen ist. Die Mißbildung
besteht in einer Abbiegung der Endphalanx nach
der radialen Seite hin, wie es das Röntgenbild
(Abb. i) zeigt. Die Endphalanx selbst ist völlig
normal, aber die distale Gelenkfläche der Mittel-
phalanx ist nach der radialen Seite geneigt,
woraus sich eine abnorme Stellung der End-
phalanx ergibt. Auch ist die Mittelphalanx zu
kurz. Im übrigen ist der kleine Finger, wie
auch die anderen P"inger, völlig normal. Die Miß-
bildung ist stets an beiden Händen vorhanden.
An den Füßen fehlt die Verbiegung der Zehen.
Die Angehörigen dieser in Trawelan (Berner
Jura) lebenden Familie wurden von Wegelin
größtenteils persönlich untersucht , zum Teil
stützte er sich auf die genauen Angaben von
P'amilienmitgliedern. Die Verbreitung dieser Miß-
bildung in der Familie illustriert der beifolgende
Stammbaum (Abb. 2), in welchem die positiven
Fälle durch Schwarz gekennzeichnet sind. Die
Mißbildung ist durch die Großmutter (P) in die
F"amilie gekommen. In der nächsten Generation (Fj )
waren von 10 Kindern 6 mit der Mißbildung be-
haftet. Eine Bevorzugung des Geschlechts war nicht
'j Berliner klinische Wochenschrift igiy, Nr. 12.
N. F. XVI. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
463
vorhanden. Von den 10 Kindern heirateten 9
normale Individuen. Die Kinder (F.,) waren nor-
mal, soweit sie von normalen Eltern abstammten.
Dagegen waren in allen übrigen Familien, wo
einer der Eltern die Mißbildung aufwies, miß-
bildete Kinder vorhanden. In 4 Familien waren
sämtliche Kinder mißbildet, was besonders
pflegt und somit dominanten Charakter besitzt".
Nimmt man an, daß die Fingerverkrümmung ein
dominantes Merkmal darstellt, die normale Gestalt
des kleinen Fingers dagegen ein rezessives , so
kann die Generation P, die das dominante Merk-
mal besitzt, homozygot sein, d. h. von zwei miß-
bildeten Eltern abstammen, oder heterozygot.
Abb. I. Nach W
<?5
? S f
TT nun
Abb. 2. Nach VVegcIin.
bei der einen siebenköpfigen Familie in die Augen
fällt.
Es handelt sich also um eine in hohem Maße
vererbbare Mißbildung, die einer ganzen Reihe
anderer vererbbarer Mißbildungen der Extremitäten
an die Seite zu stellen ist. Es fragt sich nun,
ob die Vererbung dieser Mißbildung den Mendel -
sehen Vererbungsregeln folgt. Nach W e g e 1 i n
ist das nicht der Fall: „Das einzig Sichere, was
sich aus unserem Stammbaum ergibt, ist die
Tatsache, daß die beschriebene Fingerverkrümmung
bei der Mehrzahl der Nachkommen aufzutreten
d. h. von einem normalen und einem mißbildeten
abstammen. Das letztere ist von vornherein
wahrscheinlicher: es sollte also die Hälfte der
Kinder (F, ) normal, die Hälfte mißbildet sein.
Das beobachtete Verhältnis — 4 und 6 — ent-
spricht dem ungefähr. In der nächsten Gene-
ration (F.,) sollte wieder die Hälfte normal, die
Hälfte niißbildet sein. Auf den ersten Blick
scheint auch hier dieses Verhältnis gewahrt
(16 normale: 14 mißbildete). Wegelin weist
jedoch darauf hin, daß die Dinge hier nicht so
einfach genommen werden können. Denn wenn
464
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 33
man die einzelnen Familien von F, vornimmt, so
sind hier wider Erwarten häufig sämtliche
Kinder mit der Mißbildung behaftet, was nament-
lich bei der siebenköpfigen Familie der Fall ist.
Der Vater besitzt hier völlig normale Finger, und
wenigstens ein Teil der Kinder sollte hier
normal sein.
VVegelin weist auf Grund seiner und anderer
Beobachtungen darauf hin, daß man in der Praxis,
in der Eugenik, sich nicht ganz von den durch
die M e n d e r sehen Regeln gegebenen Gesichts-
punkten leiten lassen darf. „Jedenfalls ist so viel
sicher, daß das bei Ehen zwischen Mißbildeten
und Normalen . . . eine Vorausbestimmung der
Zahl der Mißbildeten nach den Mendel'schen
Regeln in den meisten Fällen nicht möglich er-
scheint und noch viel unsicherer ist die Be-
rechnung bei erblichen Krankheiten, welche
manchmal erst im späteren Leben zum Ausbruch
kommen." VVegelin schlägt darum in gutem
])raktischen Sinn vor, daß die Aufgabe des Arztes,
welcher der Eugenik folgen will, nur sein soll,
„in jedem Einzelfall durch möglichst genaue
genealogische Forschung die Wahrscheinlichkeits-
quote der Erblichkeit festzustellen. Natürlich
wird man sich bei den Schlußfolgerungen danach
zu richten haben, inwieweit Individuum und All-
gemeinheit durch eine vererbbare Mißbildung oder
Krankheit geschädigt werden und ob nicht der
Schaden durch die zu erwartende Zahl der Ge-
sunden aufgewogen wird."
Wegelin erörtert zum Schluß noch ein
anderes Problem, das ebenfalls von praktischer
Bedeutung für die Eugenik werden kann.
Wegelin weist darauf hin, daß die von ihm
beobachtete Fingerverkrümmung keine absolut
konstante Größe darstellte: sie ist bei den ein-
zelnen Mitgliedern der Familie verschieden stark
ausgebildet. Es wäre natürlich möglich , daß es
sich um ein Merkmal handelt, das um einen
Mittelwert schwankt. Es wäre aber auch daran
zu denken, daß es sich um eine unvoll-
kommene Dominanz handelt. „Es wäre von
Interesse, bei variablen vererbbaren Mißbildungen
und Krankheiten des Menschen künftig darauf zu
achten, wie sich in der Deszendenz das Verhältnis
der einzelnen Abstufungen zueinander gestaltet.
Vorerst ist hierüber noch nichts bekannt, jeden-
falls aber ist die Abschwächung einer erblichen
Mißbildung oder Krankheit durch die Ehe mit
einem Gesunden praktisch nicht ohne Bedeutung."
Lipschütz.
Zoologie. Immer weniger, scheint es, sollen
wir an den Schönheitssinn im Tierreich glauben;
doch die Wahrheit würde uns nie enttäuschen.
sondern wir spüren ihr nach. Vor wenigen Jahren
sprach S. Günther die Vermutung aus, die Be-
deutung der sogenannten Schmuckfarben männ-
licher Vögel bestehe nicht in der Anwartschaft
auf den Schönheitssinn der Weibchen, wie Darwin
meinte, sondern die auffallenden Farben dienen viel-
leicht mehr zur Einschüchterung anderer Männchen
beim Werben um die Weibchen. Nun spräche
noch die Tatsache, daß manche Vögel ihr Nest
mit Blüten schmücken, wie der .Stieglitz unter den
einheimischen, die Laubenvögel unter vielen aus-
ländischen Arten, für den Schönheitssinn dieser
Arten. Andre Vogelarten tragen grüne Pflanzen-
teile herbei: der Wespenbussard Lärchenreislein,
Tannenzweige der Nußhäher und Hühnerhabicht,
grüne Kleestengel nimmt der kleine Würger,
Erlenblätter die Singdrossel, und eine Schwarz-
amsel nahm, wie Pastor W. Schuster') berichtet,
Stecklinge von Kohlrabi. Der Buchfink und noch
viele andre Vögel verwenden frischgrünes Moos.
Soweit grüne Pflanzenteile verwendet werden,
denkt man vielleicht am ehesten daran, daß diese
das Nest teilweise verdecken und es somit vor
feindlichen Augen schützen. Diesen Gedanken
zieht allerdings Schuster gar nicht in Betracht.
Weiterhin mag die Bedeutung lebender Pflanzen-
teile darin bestehen, daß deren Geruch
schädliche Insekten fernhält. Diese Er-
klärung erscheint Schuster im großen und
ganzen recht plausibel. Er wurde darauf aufmerk-
sam, daß die meisten von den Vögeln eingetragenen
grünen Stoffe stark riechen, was man für Nadel-
gewächse beim Bussard und andern Raubvögeln,
für Heidekraut bei der Steppenweihe zugeben wird
und selbst für frischduftendes Buchenlaub und andre
weniger stark riechende Pflanzen wenigstens in dem
.Sinne annehmen kann, daß deren zarter Duft
auf Kerbtiere nicht anziehend wirkt. Der
Star holt sich in seine Nistkästen Salat und Thymian.
Thymian und Waldmeister legt auch der Mensch in
Schubladen, um Motten fern zu halten. Gerade
diejenigen Vögel, führt .Schuster aus, tragen mit
Vorliebe grüne Pflanzenteile auf ihrNest, deren Junge
von zugetragenen Mäusen, Ratten u. dgl. leben und
gewöhnlich Reste von Aas liegen lassen.
Es mag mit alledem die P'rage noch nicht
völlig geklärt sein. Doch könnte sehr wohl etwas
Wahres daran sein, daß der scheinbare Schmuck
der Nester der nützlichen Sauberkeit dient. Und
so wird von diesen Ausführungen jeder gern Kennt-
nis nehmen, auch wer nicht mit Schuster die
Erklärung durch einen einfachen Schönheitssinn
von vornherein als anthropozentrisch verwerfen
und der aristoselischen Erklärung, Zauberwirkung,
gleichstellen würde. V. Franz.
') Gesellschaft Luxemburger Naturfreunde 1917.
_ ■» K. Trojan, Zur Lösung der Frage des Organis
Zusammensetzung der Meteore. S. 462. — Meteorsteine
S. Günther, Schönheitssinn im Tierreich. -S. 464.
lenlichtes. S. 457. — Einzelberichte: Merril, Chemische
S. 462. Wegelin, Erbliche Mil3bildung. (2 Abb.) S. 462.
;en an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Lippcrt & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Ml
nuskripte und Zuschrifte
Druck der G. Pätz'schen Buchd
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 26. August 1917.
Nummer 34.
Faraday's Stellung in der Geschichte der Physik.
Zu seinem 50. Todestag am 26. August.
Von Victor Engelhardt, Assistent am Physikalischen Institut der Kgl. Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin.
[Nachdruck verboten.] Mit 2 Abbildungen.
Fluida angenommen werden. Als Coulo
I. Faraday's Zeitalter und seine wissen-
schaftliche Persönlichkeit.
Wenn man einmal anfängt die historische
Nachbarschaft jedes einzelnen Arbeitsgebietes
eines Forschers zu untersuchen, so findet man
schnell eins ins andere so innig verwoben, daß
die Versuchung nahe liegt, die ganze Geschichte
der Wissenschaft überhaupt zu behandeln. Die
Unmöglichkeit dieses Vorhabens zwingt uns
Grenzen zu setzen , die historische Bedingtheit
einerseits und die Folgen der betrefTenden
Forschungsarbeit andererseits an einem mehr oder
minder willkürlichen Punkt abzubrechen. — Inner-
halb des so gefühlsmäßig bestimmten Gebietes
könnten wir streng historisch, d. h. rein chrono-
logisch verfahren. Dann müßten wir aber in
ebenso willkürlicher Weise, wie die Aufgaben im
Leben des Gelehrten wechselten, fortwährend
neue Fäden anknüpfen und wieder verlieren, was
in einer kurzen Betrachtung große Verwirrung
hervorrufen würde. — Man ist darum gezwungen,
ein der historischen Behandlungsweise vollkommen
fremdes Element einzuführen, bis zu gewissem
Grade systematisch vorzugehen. Freilich sehen
wir dann das Leben nur idealisiert, gleich einer
von ferne erschauten Landschaft, wir sehen die
Hauptzüge allein, können aber dafür deren Ver-
lauf ungehindert durch störendes Beiwerk ver-
folgen.
Auch ein so selbständiger Geist wie Faraday
ist historisch bestimmt. Um ihn ganz zu ver-
stehen, müssen wir, neben seinem persönlichen
Charakter, neben den zufälligen Umständen seiner
Umgebung, vor allem den wissenschaftlichen
Standpunkt der Zeit in Rechnung setzen, in
welcher er wirkt. — Newton') hatte 1686 das
Gesetz der allgemeinen Massenanziehung gefunden.
Wo er aber noch die Bildung jeder Hypothese
ablehnte, sprachen seine Nachfolger schon von
einer Qualität der Materie, die sie Gravitation
benannten. Als dann mit den Ergebnissen der
experimentellen Physik die elektrischen und
magnetischen Kräfte in den Mittelpunkt des
Interesses traten, war es für die Newtonianer
durchaus naheliegend, auch diese Kräfte als die
„Qualität" einer Materie anzusehen. Da sie mit
der gewöhnlichen Masse aber keineswegs immer
verbunden waren, mußten jedoch als Träger be-
sondere Materien, elektrische und magnetische,
') Philosophia naturalis principia mathemalica 1687.
b>)
langjährigen Versuchen von 1785 — 1789 für
Elektrizität und Magnetismus der Gravitations-
formel ähnliche Beziehungen fand, war das darum
denjenigen, welche diese Kräfte von Newton's
Standpunkt aus ansahen, eine große Stütze. Die
Kräfte wurden aber dadurch auf letzten Endes
unerklärbare Fernkräfte zurückgeführt und diese
wiederum an Materien gebunden, die nichts mit-
einander zu tun hatten. Da gab es keine Brücke
mehr, welche die Kräfte verband.
Soweit war die Zeit, als die experimentelle
Seite der Physik von neuem erstarkte und in
zahlreichen Entdeckungen den Zusammenhang
der Kräfte nachwies. Aber noch war man in
den gewohnten Anschauungen zu sehr befangen,
um die schlechte Übereinstimmung zwischen
Experiment und Theorie voll zu erfassen. • — Erst
eine neue, bisher noch ganz unbekannte Tatsache
vermochte die Geister aufzurütteln. Im Jahre 1820
beobachtete Oersted'-) die Ablenkung einer
Magnetnadel durch den elektrischen Strom. Der
dadurch nachgewiesene Zusammenhang zwischen
Elektrizität undMagnetismusveranlaßte Ampere"'),
das magnetische Fluidum zu eliminieren und den
Magnetismus auf elektrische Ströme zurückzu-
führen, welche die Moleküle umkreisten. Nach-
dem auf diese Weise wenigstens eine Scheidewand
zwischen den Kräften gefallen war, vermochte der
Gedanke immer mehr Boden zu gewinnen, daß
auch alle anderen Kräfte letzten Endes ein und
dasselbe seien.
Dieses Prinzip konnte in voller Klarheit aber
nur von einem Mann ausgesprochen werden,
welcher sich von der Fessel hergebrachter Tradi-
tionen frei genug fühlte, um auch das Neueste
und Kühnste mutig zu denken. Dieser Mann war
F"araday. — Faraday's große Unabhängigkeit
von der Überlieferung wurde durch seinen Charakter
und sein persönliches Schicksal bedingt. Er kam *)
am 22. September 1791 in Newington Butts bei
London, als der Sohn eines Hufschmieds, zur Welt.
In den einfachsten Verhältnissen aufgewachsen,
ging er im Alter von 13 Jahren zu einem Buch-
binder in die Lehre. Während seiner Lehrzeit
>) Mem. de l'acad. Par. 178c;— Sg.
2) Deutsch in Gilb. Ann. LXVl, 1S20, S. 295.
*) Mem. de l'acad. Par. 1S23.
*) S. P. Thompson, Michael Faraday's Leben und
Wirken, übersetzt von Schütte und Daneel, Knapp,
Halle 1900, S. I u. f.
466
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
fand Faraday Gelegenheit zur Selbstbildung in
den Büchern, die man ihm zum Einbinden gab
und in populären Vorträgen, die er durch die
Gunst seiner Kunden hörte. Sir Humphry
Davy, welcher auf Faraday als einen fleißigen
Zuhörer aufmerksam geworden war, stellte ihn
1813 als Laborant in der Royal Institution an.
Hier hat er es durch eisernen Fleiß immer
weiter bis zu den höchsten Ehren gebracht.
1824 wurde er IWitglied der Royal Society, 1825
Direktor des Laboratoriums und 183 1, nach der
Entdeckung der Induktion, wuchs sein Ruhm
weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus.
Faraday war also Autodidakt von unge-
wöhnlichem Geiste. Eine so eigenartige Laufbahn
konnte nicht ohne Einfluß auf die Art der
Forschung bleiben. Er hatte nur die Gemeinde-
schule besucht und keine anderen mathematischen
Kenntnisse erworben, als die einfachste Algebra.
Zwar bedauerte er oft sein „unvollkommenes
mathematisches Wissen", war stets bereit die
mathematischen Leistungen anderer aufrichtig zu
bewundern, und doch mußte er gefühlt haben,
daß diese Einseitigkeit des Geistes für ihn von
Vorteil wäre. Wir könnten sonst nicht verstehen,
warum er neben den physikalischen und che-
mischen, nicht auch die mathematischen Kennt-
nisse seiner Zeit nachgeholt hätte. Seine mathe-
matische Unbildung machte ihn freier von der
Tradition, als alle anderen Fachgenossen, denn sie
machte es ihm unmöglich, die abstrakten Fern-
kräfte der Newtonianer zu erfassen.
Da er aus Unkenntnis der Mathematik seine
Gedanken nicht in abstrakte Formen zu kleiden
vermochte, war er gezwungen, sich von diesen
Gedanken eine anschauliche Vorstellung zu bilden.
Fernkräfte waren nicht vorstellbar, die An-
schauung konnte sich nur eine Wirkung von
Teilchen zu Teilchen denken. — Durch diese Ab-
lehnung der Newton'schen Fernwirkung war es
Faraday natürlich leichter als allen anderen
Physikern seiner Zeit, auch die Vorstellung un-
abhängiger Huida über Bord zu werfen und den
in der Zeit schlummernden Gedanken der Kräfte-
verwandlung klar zu erfassen. Abgesehen von
seinen ersten chemischen Arbeiten, stand seine
ganze Forschung unter dem Einfluß dieses Grund-
gedankens der Kräfteverwandlung, welcher sich
aufs beste mit der Vorstellung der Nahkräfte
verband. Sein intuitiver Geist hatte ihn zu diesen
Gedanken geführt, und sie stellten ihm nun die
Probleme. Es ist wunderbar zu sehen, wie trotz
aller Phantasie Faraday in der experimentellen
Ausführung strenger war, als jeder Physiker der
Zeit. — Ein intuitiver Forscher wird gerade durch
diese Veranlagung seines Geistes verleitet, über
seine Wissenschaft hinaus ins Metaphysische zu
geraten. Faraday hatte eine solche Grenz-
überschreitung nicht nötig. Sein metaphysisches
Bedürfnis wurde in der Religion vollkommen be-
friedigt. Der hochberühmte Forscher war bis zu
seinem Ende ein treuer und überzeugter Anhänger
einer fast armseligen Sekte. In ihm trennte sich
Wissenschaft und Religion in ganz seltener Weise,
aber auch nur so ist es einigermaßen verständlich,
daß sein phantasievoller Geist sich so streng an
die Tatsachen hielt.
Anderersehs haben die rehgiösen Ansichten
seiner Gemeinde, verbunden mit einer idealen
Auffassung der Wissenschaft, Faraday dahin
gebracht, daß er aus eigenem Antrieb auf gewinn-
bringende Gutachten, gut bezahlte Analysen ver-
zichtete und freiwillig ein armer Forscher blieb.
Ein derartiger, fast mönchischer Verzicht auf die
Annehmlichkeiten des Lebens, wie ihn Faraday
der Wissenschaft zu Liebe leistete, mußte seinen
Lohn in einem ohne gleichen dastehenden Lebens-
werk finden.
Die Fülle der in diesem Lebenswerk nieder-
gelegten Forschungsergebnisse zwingt uns Ein-
schränkungen zu machen, nur das zu behandeln,
was für die Nachwelt von großer Wichtigkeit
wurde. Von einem solchen Gesichtspunkt aus
genügt es, die Arbeiten herauszugreiien, welche
in den „Experimentaluntersuchungen über Elektri-
zität" niedergelegt sind. ^)
II. Faraday's Forschungen.
a) Der Gedanke der Kräfteverwandlung.
Das Lebenswerk Faraday's, die Ex-peri-
mentaluntersuchungen über Elektrizität können
wir, allerdings nicht immer ganz ohne Zwang,
in zwei Hauptteile zerlegen, je nachdem der
eine oder der andere seiner Grundgedanken, die
Kräfteverwandlung oder der Begriff der Nah-
wirkung, besonders hervortritt. Mit der ersten
Gruppe wollen wir anfangen — uns aber dabei
immer vor Augen halten , daß die Trennung
einerseits keine chronologische ist, und anderer-
seits in ein und derselben Arbeit oft beide Grund-
gedanken stark vertreten sind.
Faraday's Forschung beginnt mit einem
großartigen Auftakt, mit der Entdeckung der
Induktion.
Selten ist wohl eine Entdeckung so wenig
zufällig gewesen wie diese. Das Problem lag in
der Luft, es war in dem Gedanken der Kräfte-
verwandlung mit enthalten. Oersted's Experi-
mente hatten Magnetismus durch Elektrizität er-
zeugt. Da war es naheliegend, nach der umge-
kehrten Erscheinung zu suchen, Elektrizität durch
Magnetismus hervorzubringen. Der Gedanke
mußte sich den Forschern der Zeit um so mehr
aufdrängen, als durch Amperes Vorstellungen
der Magnetismus durch einen elektrischen Strom
ersetzt worden war — , von einem Strom also analoge
Wirkungen auf einen anderen Leiter erwartet
werden konnten, wie von einem Magnet auf ein
Stück Eisen. Gleichzeitig erwiesen sich diese
') Ab 1831 in den Phil. Trans, übers, in Pogg. Ann.,
neu herausgegeb. in Oslwald's Klassikern der exakten Wissen-
schaften. Engelmann, Leipzig.
N. F. XVI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
467
Vorstellungen aber auch als ein Hemmschuh,
denn sie betonten allzusehr die magnetische
Influenz, die Wirkung ruhender Magnete. So
wurde bei dem Suchen nach Induktionserschei-
nungen nur mit ruhenden Strömen und Magneten
gearbeitet, ein Weg, auf dem man, wie man jetzt
weiß, erfolglos bleiben mußte. Die Physiker
gaben die Sache schließlich auf und kamen zu
dem Schluß, daß es eine Induktion nicht gäbe.
Da mußte erst ein Mann kommen, bei dem
der in der Zeit liegende Gedanke einer Kräfte-
verwandlung, oder, wie wir heute besser sagen,
Energieverwandlung, so fest saß, daß kein Miß-
erfolg ihn am Weiterforschen hindern konnte.
Der Mann war Faraday. Schon im Jahre 1822
sah er das Ziel klar vor Augen und schrieb ins
Notizbuch:*) „Verwandle Magnetismus in Elektri-
zität!" Da ihm die Aufgabe von der Zeit gestellt
worden war, konnte er sich aber auch von den
falschen Vorstellungen der Fachgenossen nicht
völlig befreien und suchte wie sie mit ruhenden
Strömen und Magneten Induktionswirkungen zu
finden. Acht bis neun Jahre hat Faraday so
experimentiert und immer wieder in sein Notiz-
buch das traurige „erfolglos" geschrieben. Jeden
anderen hätte das entmutigt, er jedoch war von
dem schließlichen Gelingen so überzeugt, daß er
sich ein Modell für die Westentasche anfertigte,
eine Drahtspirale mit einem Eisenkern, um stets
an sein Vorhaben erinnert zu werden. 1831 be-
gann er eine neue Versuchsreihe und sah sein
Ziel wiederum so klar vor Augen, daß er schon
vorher als Überschrift den Titel wählte: „Experi-
mente über die Erzeugung von Elektrizität durch
Magnetismus."
Nach jahrelangem Bemühen wurde ihm nun
der Lohn in der großartigen, erfolgreichen
Arbeit von 10 Tagen. Er hatte auf einen
Eisenring zwei Kupferspiralen A und B ge-
wickelt. In dem Augenblick, wo er die Spirale A
mit einer Batterie verband, floß durch B ein
kurzer, kräftiger Strom. Solange der Strom durch
A andauerte, war dagegen keine Wirkung be-
merkbar, und erst als derselbe unterbrochen wurde,
trat in B ein neuer Strom auf, jedoch diesmal
von der entgegengesetzten Richtung wie früher.
Die Induktion war entdeckt. Sie machte sich
nur im Augenblick des Üffnens und Schließens
bemerkbar, und darum waren alle bisherigen
Versuche vergeblich gewesen. Rasch und be-
geistert ging die F"orschung nun weiter. Während
der wenigen Arbeitstage des Winters 1831 hat
er alle Induktionserscheinungen in so muster-
gültiger Weise durchforscht, daß sein systematisch
geordneter Bericht, in der i. Reihe der Experi-
mentaluntersuchungen '■') noch heute als ein Lehr-
buch der Grundlagen dieses Gebiets benutzt
werden könnte.
Seinem scharfen Auge entging die ungeheure
Tragweite der Entdeckung in theoretischer und
praktischer Hinsicht keineswegs. Er sah die
Möglichkeit voraus, durch Magnetismus einen
dauernden Strom zu erzeugen und gab selbst die
erste „Magnetische Elektrisiermaschine" an. Wenn
man eine Kupferscheibe zwischen den Polen
eines starken Magneten drehte, wurden in der-
selben Ströme hervorgerufen, welche man mit
einer geeigneten Schleifvorrichtung abnehmen
konnte. So wird der unbeholfene Apparat zum
Urbild all der großartigen Dynamomaschinen,
welche heute spielend Ströme von ungeheurer
Stärke durch unsere Leitungen jagen.
Faraday's Geist war jedoch der reinen,
idealen Wissenschaft zu sehr ergeben, um technisch
praktische Fragen weiter zu verfolgen. In der
zweiten Reihe der Experimentaluntersuchungen
heißt es im 159. Abschnitt :*) „Ich habe indessen
immer mehr gewünscht, neue Tatsachen und Be-
ziehungen zu entdecken, die von der magnetisch-
elektrischen Induktion abhängen, als die Kraft
der schon gefundenen zu erhöhen ; denn ich bin
fest überzeugt, daß deren volle Entwicklung sich
später finden würde." — Dann wendete er sich
in der zweiten Reihe -) der elektrischen Arbeiten
den Induktionswirkungen zu, welche die Erde als
ein großer Magnet hervorbringen mußte und
kehrte 1834 von neuem zu dem alten Induktions-
problem zurück.^)
Jenkin^) hatte gezeigt, daß der Funke beim
Öffnen eines Stromkreises stärker wurde, wenn
der Draht spiralig um einen Eisenkern gewickelt
war. Faraday vermutete hier einen Zusammen-
hang mit einer Erscheinung, die er schon in der
ersten Abhandlung als notwendige Folge seiner
Entdeckung angedeutet hatte. Wenn ein Draht
auf einen daneben liegenden Induktionswirkungen
ausübte, so mußten doch auch die einzelnen
Teile einer Spirale auf die benachbarten Teile
derselben von Einfluß sein, mußten in ihnen auch
Ströme induzieren. Diese Ströme konnten das
Auftreten eines stärkeren „ÖfTnungsfunken" er-
klären und wurden von Faraday in der Tat
gefunden, als er durch Jenkin's Experimente
angeregt, die Untersuchungen in dieser Richtung
wieder aufnahm. Er nannte den Vorgang „Extra-
strom", fand neben dem Öffnungsstrom, welcher
den Funken hervorrief, auch einen entgegengesetzt
gerichteten Schließungsstrom, und gab die Mög-
lichkeit einer induktionsfreien Spule mit bifilarer
Wicklung an.
Damit hatte Faraday die Induktionserschei-
nungen nach allen Seiten so giündlich behandelt,
daß anderen nicht viel zu tun übrig geblieben
wäre, wenn er seinen Nachfolgern nicht vollbewußt
die praktische Ausnutzung überlassen hätte.
Welche ungeheure Entwicklung dieselbe ge-
nommen hat, namentlich durch die Verdienste
') Thompson,
«) E. U. I. 1832
a. O. S. 82 u. f.
1) Thompson, a. a. O. S. 98.
-) E. U. II. 1832 Ostw. Kl. Nr. 81.
^) E. U. IX. 1835 Ostw. Kl. Nr. 126.
*) a. a. O. S. 3.
468
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
von Gramme, Hefner- Alteneck und Siemens
um die Konstruktion der Dynamomaschine, ist
allbekannt und gehört der Ruhmesgeschichte der
Elektrotechnik an.
Durch die Entdeckung der Induktion hatte
bei den Zeitgenossen und namentlich bei Faraday
selbst der Begriff der „Kräfteverwandlung", der
Energieverwandlung eine große Stütze gefunden.
Unter dem Eindruck dieses Gedankens wandte
er sich nun den Beziehungen zwischen chemischen
und elektrischen Kräften zu, einem Gebiet, mit
dem sein Name auf immer verbunden sein wird,
und für das er sich nach Art seines Geistes ganz
besonders eignete. Die Geschichte der Elektro-
chemie beginnt mit dem Jahre 1800, in welchem
es Carl i sie') gelang, Wasser durch den elek-
trischen Strom zu zersetzen. Dieser wunderbaren
Tatsache folgte eine wahre Hochflut von Ver-
suchen, unter welchen namentlich Ritt er 's und
Davy's Experimente bedeutungsvoll sind. Die
verwirrende Fülle neuer Erscheinungen löste
natürlich auch eine große Zahl oft sehr wilder
Spekulationen aus, von denen die des Physikers
G r o t h u ß -) am wichtigsten waren, da ihr Einfluß
die Forschung der folgenden Jahrzehnte beherrschte
und selbst in den heutigen Vorstellungen über
Elektrolyse nachzuweisen ist. Allerdings stand
Grothuß noch unter dem Bann New ton 'scher
Fernkräfte und dachte sich eine Anziehungswirkung
von den Elektroden ausgehend, welche die Wasser-
moleküle so richtete, daß der Sauerstoff zum
positiven und der Wasserstoff zum negativen Fol
hinzeigte. An der positiven Elektrode wurde das
Sauerstoffatom vom Wasserstoff losgerissen, das
freie Wasserstoffatom holte sich den nächsten
Sauerstoff, das auf diese Weise frei gewordene
Wasserstoffatom wiederum das nächste Sauerstoff-
atom usw., bis endlich an der negativen Seite
ein Wasserstoffteilchen übrig blieb und frei wurde.
Daß elektrische Kräfte fähig waren, den Molekular-
verband in der Nähe der Elektroden zu zerreißen,
konnte am ungezwungensten dadurch erklärt
werden, daß man elektrische und chemische
Kräfte identisch setzte.
Ein derartiger Kräftezusammenhang war ein
Problem, welches Faraday interessieren mußte,
und auf das er auch als Schüler des großen
Elektrochemikers Davy ganz besonders hinge-
wiesen wurde. Darum widmete er ihm im folgenden
eine große Anzahl seiner Versuche. — Wenn er
sich zunächst in den vorhandenen Theorien über
Elektrolyse umsah, so mußte es, nach dem was
wir in der Einleitung ausführten, seinem Geiste
sehr unangenehm sein, auch hier, durch Grothuß
eingeführt, Fernkräfte zu finden. Daran konnte
Faraday nicht glauben, aber er war keiner von
denen, die nur verneinen; wenn er ablehnte,
brachte er auch etwas Neues. Für ihn war der
elektrische Strom, der von Pol zu Pol floß, „die
Achse einer Kraft, die nach entgegengesetzten
Richtungen genau gleich starke, aber entgegen-
gesetzte Wirkungen ausübt." ') Diese Kraftachse
war nichts Unwirkliches, sondern wurde von den
Teilchen getragen, welche einen gewissen Zustand
annahmen und an die nächsten weiter gaben.
Die Fernwirkung schien also in der Tat durch
eine Nahwirkung ersetzt, durch eine Erscheinung,
welche später in F"araday's Kraftlinienbegriff
so reiche Flüchte tragen sollte. Darum gehört
sie eigentlich in den 2. Teil unserer Betrachtungen,
muß aber doch wegen ihrer innigen Verknüpfung
mit der weiteren, elektrolytischen P^orschung schon
hier behandelt werden. — Die in der „Achse" der
Stromkraft liegenden Teilchen wurden in gewisser
Weise modifiziert, so daß ihre chemische Ver-
wandtschaftskraft nach der einen Seite hin stärker
war, als nach der anderen. Dadurch vertauschten
die benachbarten Moleküle ihre Atome, wie bei
Grothuß' Hypothese, wenn auch die Fern-
wirkung dieses Forschers durch eine Nahwirkung
ersetzt war.
Nach einigen vorbereitenden Arbeiten -) nahm
P'araday im Jahre 1834 in der 7. Reihe der
Experimentaluntersuchungen ■') die Versuche über
elektrolytische Vorgänge nach der quantitativen
Seite hin auf und begann die Gesetze der Elektro-
lyse, die er schon früher vermutet hatte, genau zu
beweisen. Dem ersten Gesetz, welches besagt,
daß die ausgeschiedenen Substanzmengen propor-
tional der durchgegangen Elektrizitätsmenge sind,
begegnen wir schon in der 3. Experimentalunter-
suchung, wo es Abschnitt 329 heißt :^) „Es liegt
sehr nahe zu glauben, daß die Menge des bei
elektrochemischer Zersetzung zerlegten Stoffes
proportional sei, nicht der Intensität, sondern der
Quantität der durchgegangenen Elektrizität." Diese
Vermutung wurde noch am Ende derselben Unter-
suchung für Jodkali als richtig bewiesen. — Das
andere Gesetz, welches die vom selben Strom aus-
geschiedenen Mengen verschiedener Substanzen
vergleicht, schwebte ihm bereits in der 5. Serie
vor Augen, wo er sagt:*) „Ich habe Grund zu
glauben, daß dieser Satz sich noch mehr verall-
gemeinern und folgender Gestalt ausdrücken lasse:
Bei konstanter Quantität von Elektrizität ist für
jeden zersetzt werdenden Leiter . . . auch der
Betrag der elektrochemischen Aktion eine kon-
stante Größe, d. h. äquivalent einem normalen,
auf der gewöhnlichen Affinität beruhenden chemi-
schen Effekt." — Um diese beiden, intuitiv geahnten
Sätze zu beweisen, mußte Faraday erst ein
Mittel finden, die „Quantität der Elektrizität", die
Elektrizitätsmenge zu messen. Er zeigte darum
in außerordentlich peinlichen Versuchen, daß das
zersetzte Wasservolumen jener Elektrizitätsmenge
') Gilb. Ann. VI. S. 346.
') Ann. de Chim. et de phys. l.VIII. iSob.
') E. U. V. 1833 Ostw. Kl. Nr. 86 S. Sl.
=) E. U. III. IV. V. 1833 Ostw. Kl. Nr. 86.
») E. U. Vll. 1834 Ostw. Kl. Nr, 87.
*) a. a. O. S. 22.
») a. a. O. S. 77.
N. F. XVI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
469
immer proportional war, wie auch die Verhältnisse
gewählt wurden. Der Wasserzersetzungsapparat er-
wies sich also als ein einfaches Hilfsmittel, um die
durchgegangene Elektrizitätsmenge zu bestimmen
und wurde demgemäß von F a r a d a y zu einem Meß-
apparat, zum Voltameter (Abb. i u. 2)*) umgebaut,
welches wir noch heute in ähnlicher Form be-
nutzen. — Nun schaltete er das Voltameter mit
anderen Zersetzungszellen hintereinander und
konnte nachweisen, daß beliebige
Körper dasselbe gesetzmäßige Ver-
halten wie Wasser zeigten. Weiter
ergab sich, daß die vom selben Strom,
in gleicher Zeit, zersetzten Mengen
verschiedener Substanzen sich wie
ihre chemischen Äquivalente ver-
hielten. Diese beiden wichtigen Ge-
setze, welche wir noch heute die
Faraday 'sehen nennen, deuteten
einen schon lange vermuteten, innigen
Zusammenhang zwischen elektrischer
und chemischer Kraft an, einen Zu-
sammenhang, welcher auf die folgen-
Abb. 2. ^^" Vorstellungen von großem Ein-
fluß werden sollte.
Durch seine elektrochemischen Untersuchungen
mußte Faraday notwendigerweise auch in den
damals brennenden Streit über die Theorie der Volta-
säule hineingezogen werden. In vier Reihen seiner
Untersuchungen ^) bekämpfte er die sogenannte
„Kontakttheorie". Diese wollte die elektromoto-
rische Kraft nur durch die einfache Berührung
verschiedener Metalle zustande kommen lassen,
während die von Faraday verteidigte chemische
Theorie im chemischen Prozeß die Ursache des
Vorgangs sah. Der interessanteste Punkt der
Untersuchung ist Faraday's Meinung, daß die
Kontakttheorie fortwährend elektrische Kraft aus
dem Nichts entstehen lasse. Hierin spricht sich
eine Ahnung vom Gesetz der Energieerhaltung
aus, welcher wir noch öfter begegnen werden.
Alles in allem waren aber Faraday's elektro-
chemische Arbeiten sowohl in praktischer, als auch
in theoretischer Hinsicht nicht so die Grundvvurzel
der folgenden Entwicklung, wie seine Entdeckung
der Induktion. Er war hier weniger der Schöpfer
eines neuen Wissenszweiges, als der mächtige
Förderer eines schon vorhandenen. Darum knüpften
auch seine theoretischen Vorstellungen, wie wir
') a. a. O. S. 50 Abb. 7 u. 9. Dem Verlag von Ostw.
Kl., W. Engelmann in Leipzig sei für die freundl. Überlassung
der Bilder hier bestens gedankt.
■') E. U. Vlll. 1834 O. K. 87, X. 1835 O. K. 126, XVI,
XVll. 1840 O. K. 134.
gesehen haben, an die älteren von Grothuß an.
Das Falsche derselben ließ Faraday fallen, die
Wechselwirkung der Moleküle behielt er bei und
betonte ganz besonders den innigen Zusammen-
hang zwischen Zersetzung und Leitung. — Mit
den von ihm gefundenen Tatsachen und nament-
lich mit seinen quantitativen Gesetzen mußte jeder
folgende Theoretiker, wie Hittorf, Clausius,
Helm hol tz und Svante Arrhenius, rechnen.
Sie gingen in ihren theoretischen Vorstellungen alle
mehr oder weniger auf G ro t h u ß zurück, nur daß
seit Clausius*) die Moleküle schon von vorn-
herein als in Ionen zerspalten angenommen wurden,
so daß die elektrische Spannung nur mehr noch
für die Bewegung derselben zu sorgen hatte. —
Das zweite Fa raday 'sehe Gesetz mußte in Ver-
bindung mit der „Dissoziationstheorie" von Svante
Arrhenius''^) zu der Vorstellung führen, daß
jedes Ion mit einer bestimmten unteilbaren Elek-
trizitätsmenge geladen sei, eine Annahme, die
schon Faraday 1834 mit folgenden Worten ver-
mutete: „. . . so haben die Atome von Körpern,
welche einander äquivalent in bezug auf ihre ge-
wöhnliche chemische Wirkung sind, gleicheMengen
von Elektrizität, die von Natur mit ihnen verbunden
sind." ^) In diesen Worten des alten Physikers
liegt schon eine Ahnung unserer heutigen Elek-
tronentheorie, welche durch die Lehre von den
Gasentladungen unterstützt, unsere Vorstellung
vom Wesen der Elektrizität so machtvoll fördern
sollte.
Die von uns immer wieder betonte und nach
Faraday's Worten in der nun zu betrachtenden
19. Reihe ,an Überzeugung streifende Meinung",
„daß die verschiedenen Formen, unter denen die
Kräfte der Materie auftreten, einen gemeinschaft-
lichen Ursprung haben", ^) führte F'araday schon
in früheren Jahren dazu, auch andere Energien,
namentlich das Licht in den Kreis seiner Betrach-
tungen zu ziehen. Schon 1835 finden wir die
inhahschwere Notiz „Untersuche Induktion eines
festen kristallinischen Körpers auf die daraus her-
vorgehende Wirkung auf das Licht". '') Bald nahm
er auch die Experiinente auf und setzte unter
anderm einen Glaswürfel hohen elektrischen Span-
nungen aus, ohne aber eine Wirkung auf hindurch-
gehendes Licht bemerken zu können. Nach längerer
Pause führten ihn die bereits angeführten elektro-
chemischen Experimente auf ein Problem, dessen
er schon 1834 erwähnte.^) Seine Vorstellung
über die Achse der Kraft im Elektrolyten, die
einem gewissen Spannungszustand entsprach, brachte
F"a raday auf den Gedanken, diesen Spannungs-
zustand mit Hilfe des polarisierten Lichtes nach-
zuweisen. Die Versuche blieben erfolglos, bis er
nach 14 Tagen, am 13. September 1845, statt
') Pogg- Ann- Bd. loi S. 33S, 1857.
2) Z. f. phys. Chemie I S. 631, 1887.
^) Thompson, a. a. O. S. 115.
■") E. U. XIX. 1846. Ostw. Kl. Nr. 136 S. 25.
^) Thomson, a. a. O. S. 121.
8) E. U. Vlll. Ostw. Kl. Nr. S; S. 135 u. f.
470
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
elektrischer Kräfte, magnetische anwandte. Er
hatte ein Stück Kristallglas auf die Pole
eines kräftigen Elektromagneten gelegt und
ließ polarisiertes Licht hindurchfallen. Im
Augenblick, in welchem er den Elektromag-
neten erregte, wurde die Polarisationsrichtung,
die Schwingungsrichtung des Lichtes deutlich ge-
dreht. — Die Folgen der Entdeckung waren von
größter Bedeutung, denn sie zeigten zum ersten
Mal den Zusammenhang zwischen magnetischen
Kräften und Licht, einen Zusammenhang, welcher
eine der wesentlichsten Stützen für die elektro-
magnetische Lichttheorie werden sollte.
Die bisher betrachteten Arbeiten, zusammen
mit einer erfolglosen Untersuchung über die Be-
ziehung der Schwerkraft zur Elektrizität, ^) stehen,
wie eingangs erwähnt, vor allem unter dem Ge-
sichtspunkt der Kräfteverwandlung. Dieser Gedanke
hatte zu seinen Experimenten geführt, deren Er-
gebnis wiederum seine Gedanken stärkte und
modifizierte, so daß Faraday schließlich an dem
Zusammenhang aller Kräfte nicht mehr zweifelte
und im Jahre 183S eine Vorlesung über die „Ver-
wandelbarkeit der Kräfte" hielt. Faraday's
intuitiver Geist ahnte aber noch mehr. Wir hatten
schon in seiner Polemik gegen die Kontaktlheorie
als wichtigstes Argument den Einwand kennen
gelernt, daß eine solche Vorstellung auf Erschaffung
von großen Wirkungen aus dem Nichts führen
würde. „Allein in keinem F"all . . . findet eine
Erschaffung oder Erzeugung von Kraft statt ohne
einen entsprechenden Verbrauch von etwas
anderem." ^) Mit diesem Ausspruch bereitete sich
in Faraday's Denken das Gesetz von der Er-
haltung der Energie vor, dem er 1839 in der
14. Reihe seiner Untersuchungen durch die Über-
zeugung noch näher gekommen war, „daß wir in
Zukunft mögen imstande sein, Korpuskularkräfte,
wie die der Schwere, Kohäsion, Elektrizität und
chemischen Verwandtschaften, miteinander zu ver-
gleichen und auf diese oder andere Weise ihre
relativen Äquivalente und ihre Effekte abzuleiten;
für jetzt vermögen wir es nicht." ^) — In dieser
Ahnung liegt eigentlich das Energiegesetz schon
vollkommen enthalten. Aber Faraday hat seine
mehr gefühlsmäßig erfaßte Meinung nicht weiter
verfolgt, er hat sie der Nachwelt als Anregung
hinterlassen. Er hat es einem Robert Mayer,
Joule und Helmholtz überlassen, das so
überaus wichtige Gesetz in exakter Weise zu
begründen.
b) Die Nahkräfte.
Im folgenden wollen wir als eine zweite Gruppe
jene Arbeiten herausgreifen, die nach dem Wesen
') E. U. XXIV. Phil. Trans. 1851, Pogg. Ann. Ergzb. III.
2) E. U. XVII. 1S40, a. a. O. S. 97. Rosenberger,
Geschichte d. Phys. III S. 28S.
') E. U. XIV. 1839, a. a. O. S, 8.
der ewig sich wandelnden Kraft fragen, ohne daß
wir dabei die schon erwähnte Willkürlichkeit ver-
gessen, die einer solchen schematischen Einteilung
zugrunde liegt. Die Faraday 'sehe Kraft-
auffassung ging, wie wir oben andeuteten, von
seiner Ablehnung der Fernkräfte aus. An ihre
Stelle traten Nahkräfle und Kraftlinien, welchen
wir schon in der Abhandlung über Induktion be-
gegnen, wo es unter Nr. 1 14 heißt: ') „Magnetische
Kurven nenne ich die Linien von magnetischen
Kräften, welche mit Hilfe von Eisenfeilspänen dar-
gestellt werden können." Bald werden diese ma-
gnetischen Kurven auch Kraftlinien genannt, was
allerdings vorläufig nur ein bequemer Ausdruck
war, um die beobachteten Erscheinungen klar zu
beschreiben. Die Induktionsvorgänge selbst führte
Faraday auf einen noch nicht klar erkannten,
„elektrotonischen Zustand" ■) zurück, von dem nur
so viel gewiß ist, daß er eine Art Spannung in
den Körpern darstellt. In den elektrolytischen
Vorstellungen, welche wir kennen gelernt haben,
wurde der Begriff der Kraftlinien unter dem Namen
einer Kraftachse dem Geiste Faraday's schließ-
lich schon so deutlich , daß er die folgenden
Experimente ganz unter die Herrschaft dieser An-
schauung stellen konnte.
80 Jahre vorherhatte Ca n ton die Erscheinung
der Influenz entdeckt, d. h. die Eigenschaft elek-
trisch geladener Körper, in benachbarten Gegen-
ständen ebenfalls Ladungen hervorzurufen. Als
Faraday beim elektrischen Strom nach einer
Analogie zu dieser Tatsache suchte, hatte er die
Induktion gefunden. Nun wandte er sich zu jener
älteren Erscheinung zurück, welche ihm durchaus
zuwider sein mußte, da sie nur mit Hilfe von
Fernwirkungen erklärbar schien. Er glaubte an
Fernwirkungen nicht. Da sie sich nach dem
Newton' sehen Gesetz geradlinig ausbreiten
mußten, bemühte er sich 1835, in der 11. Reihe, ^)
mit Erfolg eine krummlinige Ausbreitung der
Influenzwirkung um eine Metallplatte herum nach-
zuweisen. Die mit diesen Versuchen sichergestellte
Nahwirkung konnte nur durch die Vermittlung
des zwischenliegenden Mediums erklärt werden,
mußte also einen Einfluß auf dieses haben.
Faraday baute deswegen einen Kugelkonden-
sator, dessen Hohlraum mit verschiedenen Körpern
gefüllt werden konnte, und war in der Tat im-
stande zu zeigen, daß die angenommene Span-
nung, bei gegebener Elektrizitätsmenge, d. h. die
Kapazität von dem Füllmittel abhing. Außerdem
nahm der eingelegte Körper eine gewisse Ladung
an, welche nur langsam wieder abgegeben wurde.
Faraday erklärte die Ergebnisse durch einen
„Polarisationszustand" im Isolator unter dem Ein-
fluß elektrischer Kräfte, durch einen Zustand, in
welchem geladene Teilchen alle nach einer Rich-
tung gedreht wurden, wie die Elementarmagnete
') E. U. I. 1832, a. a. O. S. 38.
=) a. a. O. S. 19.
3) E. U. XI. 1S35, Ostw. Kl. Nr. 126.
N. F. XVI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
471
im Stahl. Die verschiedenen Körper setzten der
Ausbildung dieses Zustandes einen verschiedenen
Widerstand entgegen, wodurch die Kapazitäts-
unterschiede, das „spezifische Verteilungsvermögen"
erklärt wurde. Andererseits behielten aber die
Körper diesen Polarisationszi'stand nicht ewig bei,
sondern verloren ihn langsamer oder schneller,
wie das allmähliche Herauskommen der Ladung
aus dem Isolator bewies. Damit war jedoch
zwischen Leiter und Isolator nur mehr noch ein
gradueller Unterscliied übrig geblieben. Leiter
waren einfach solche Körper, in denen der I'olari-
sationszustand sofort wieder zusammenbrach, die
Spannung ausgeglichen wurde, und Isolatoren
solche, bei denen der Zustand längere Zeit anhielt.
Diese Erkenntnis veranlaßte Faraday nach einem
Übergang zwischen Leitern und Isolatoren zu
suchen, einen Übergang, welchen er in den elek-
trischen Entladungserscheinungen zu finden glaubte.
Für statische Elektrizität war der eigentliche
Vorgang somit in den Isolator verlegt, was Faraday
bevvog, auch bei den magnetischen und elektro-
magnetischen Erscheinungen demselben die wich-
tigste Rolle zu geben. Die Experimente, welche
er in der 14. Reihe*) nach dieser Richtung hin
machte, blieben aber ohne Erfolg. In einer längeren
Ruhezeit bis 1845 verließ ihn trotzdem der Ge-
danke nicht, daß auch die magnetische Kraft auf
Nahvvirkungen zurückzuführen und demgemäß ihr
Einfluß auf den Träger der Nahwirkung, auf das
umgebende Medium, nachzuweisen sei. Und in
der Tat gelang es ihm 1845, in der schon be-
handelten Drehung der Polarisationsebene in ma-
gnetischen Kräften ausgesetzten Körpern, einen
solchen Einfluß zu zeigen. Gleich nachher ge-
wannen seine Anschauungen eine weitere Stütze,
durch die in der 20. und 21.-) Reihe niedergelegte
wichtige Entdeckung des Diamagnetismus. Er
hatte gefunden, daß nicht nur magnetische Körper,
wie Eisen und Nickel, von einem Magneten ange-
zogen wurden, sondern, daß eine große Anzahl
anderer Körper, wenn keine Anziehung, so doch
eine Abstoßung erlitt. Die Tatsache schien erst
unerklärlich, wurde aber durch Faraday's Auf-
fassung, daß alle Körper, auch der leere Raum
mehr oder minder magnetisch seien, dem Ver-
ständnis näher gerückt. Befand sich dann ein stark
magnetischer Körper in einem schwach magneti-
schen, wie Eisen in Luft, dann wurde er angezogen;
befand sich aber ein schwach magnetischer in
einem stärker magnetischen, wie Wismut in Luft,
dann wurde er abgestoßen, war diamagnetisch.
Die Auffassung konnte Faraday als richtig nach-
weisen, ^) in dem er ein Röhrchen mit schwächerer,
bezüglich stärkerer Eisenvitriollösung in ein mittel-
starkes Bad desselben Salzes brachte und im ersten
Falle Abstoßung, in zweiten Anziehung erhielt.
Aus allen diesen Arbeiten schälte sich seine
ursprünglich nur dunkel geahnte Vorstellung vom
Wesen der Kraft immer deutlicher heraus und fand
ihren stärksten Ausdruck in der 28. —30. Reihe *)
der Experimentaluntersuchungen und anderen
Arbeiten : Eine Kraftwirkung in die Ferne gibt
es nicht, die Kräfte sind überall da, wo sie wirken,
auch schon immer vorhanden, als eine Kraftlinie,
als ein gewisser Spannungszustand oder noch all-
gemeiner als eine Modifikation des Raumes. Der
ganze durch die Kräfte modifizierte Raum stellt
das Kraftfeld vor, ein Ausdruck, welcher in der
20. Reihe zum erstenmal auftrat. -) Das F"eld läßt
sich mit Hilfe der Kraftlinien am besten beschreiben,
doch sind diese Kraftlinien jetzt nicht mehr nur
eine bequeme Ausdrucksweise, sondern haben reale
Existenz. Durch diese Vorstellung wird bei elek-
trischen Vorgängen alle Kraft Wirkung in den Isolator
verlegt, und die Erscheinungen an den Leitern sind
nichts anderes als Grenzwirkungen des Isolators.
Diese Kraftlinientheorie mußte Faraday in
Verbindung mit seinen Gedanken von der Kräfte-
verwandlung veranlassen, auch die optischen Er-
scheinungen von einem ähnlichen Standpunkt aus
zu betrachten. Er sagte es selbst, daß seine dahin-
gehenden Vermutungen nichts anderes seien als
ein „Schatten", als eine kühne Vision, und doch
konnte er es nicht unterlassen, die Ansicht zu
vertreten, Ausstrahlung sei „eine hohe Art von
Schwingung in den Kraftlinien, die, wie man weiß,
Atome und ebenfallsMassen miteinander verbinden".^)
So ist Faraday am Ende seines Lebens, das
mit einem großartigen, experimentellen Auftakt
begann, zu einer fast schwindelnden spekulativen
Höhe gelangt. Und doch fanden die Gedanken,
welche aller herkömmlichen Überlieferung so durch-
aus entgegengesetzt waren, langsam beiden Physikern
Aufnahme. Zunächst freilich erschien Faraday's
bildhaftes Denken als Hindernis und es war erst
ein Clerk Maxwell*) nötig, um Faraday's
Vorstellungen in die, allen Fachgenossen verständ-
liche, Sprache der Mathematik zu kleiden. Ja selbst
das, was Faraday den „Schatten einer Ver-
mutung" genannt hatte, die Annahme der elektro-
magnetischen Natur des Lichts, war der Analyse
zugänglich. Maxwell berechnete, daß die Ge-
schwindigkeit, mit der sich eine elektromagnetische
Störung durch den leeren Raum fortpflanzen mußte,
gleich dem Verhältnis der magnetischen Einheit
zur elektrischen Einheit der Eiektrizitätsmenge
wäre. Da sich dieses Verhältnis nach sorgfältigen
Messungen als nahezu gleich der Lichtgeschwindig-
keit erwiesen hatte, lag die Vermutung nahe, das
Licht selbst als eine solche elektromagnetische
Störung des Raumes aufzufassen. Durch Heinrich
Hertz' direkte Darstellung solcher elektromagne-
tischer Wellen wurde 1888 die Faraday-
Maxwell'sche Lichthypothese fast zur Gewiß-
') E. U. XIV. 1S38, Ostw. Kl. Nr. 131.
«) E. U. XX. 1846, XXI. 1847 O. Kl. Nr. 140.
') E. U. XXI. a. a. O. S. 35 u. f.
') E. U. XXVIII., XXIX. 1852, XXX. 1S55. Phil. Trans.
2) E. U. XX. a. a. O. S. 6.
») Thompson, a. a. O. S. 150.
') Maxwell, Dynamische Theorie des elektromagne-
tischen Feldes 1864.
472
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
F. N. XVI. Nr. 34
heit erhoben, und wenn heute in der drahtlosen
Telegraphie elektrische Wellen eine so bedeutende
Rolle spielen, so führt auch dieser modernste Zweig
der Elektroteciinik in seinen Grundwurzeln auf
P'araday zurück.
Das Ideal der Physik ist ein allgemeines Welt-
gesetz, welches alle speziellen Erscheinungen so
in sich enthält, daß sie auf analytischem Wege
daraus entwickelt werden können. Ein solches
Gesetz kann natürlich nur eine Utopie sein, dem
sich die Wissenschaft asymptotisch zu nähern
sucht. Die Faraday- Max well 'sehen Grund-
gleichungen stellen eine der weitgehendsten An-
näherungen an das Ideal dar, denn sie enthalten
auf zwei kurzen Zeilen Elektrizitätslehre, Magnetis-
mus und Optik.
Das Gesetz von der Erhaltung der Energie ist
aber ebenfalls eine solche weitgehende Annäherung,
denn aus ihm können, in Verbindung mit dem so-
genannten Entropiesatz, große Gebiete der Wärme-
lehre abgeleitet werden. Die Faraday- Maxwell-
schen Gleichungen einerseits und der Energiesatz
andererseits sind also zwei Gipfelpunkte der moder-
nen Physik, zwei Gipfelpunkte, die in ihren aller-
ersten Anfängen auf den beiden F"araday 'sehen
Vorstellungen über Nahkräfte und die Kräfte-
verwandlung ruhen.
Überblicken wir noch einmal den zurück-
gelegten Weg, so sehen wir ein Idealbild wissen-
schaftlicher Forschung vor uns. Faraday empfing
seine ersten Gedanken von der Zeit vor ihm, er
modifizierte sie nach den Ergebnissen seiner
Forschung und gab sie der Nachwelt als ein reiches
Erbe wieder. Er war trotz seiner Größe abhängig
von seiner Zeit, aber er gab mehr, als er empfing,
und das machte ihn zum Förderer der Wissen-
schaft, machte ihn zum Genie.
Einzelberichte.
Geologie. Über „das Landschaftsbild de
trockenen Champagne" schreibt Otto Jessen
in den Mitteilungen der Geogr. Gesellschaft in
München (ii. Band, Heft 2). Das Pariser Tertiär-
becken wird von einer Kreidezone eingefaßt, die
durch alttertiäre Ablagerungen in die westlichen
Kreideablagerungen der Picardie, Normandie und
Loire und den Abschnitt zwischen Yonne und
Oise zerfällt. Den letztgenannten Abschnitt stellt
die „Champagne" dar. Untere Kreide baut den
östlichen, obere Kreide den westlichen Teil auf.
Untere Kreide wird von Tonen und Sanden ge-
bildet. Zwischen Aire und Oberlauf der Aisne
heißt der Teil Argonnenwald. Von ihm bis zum
Tertiär des Beckeninnern reicht die sogenannte
„trockene Champagne".
Westlich begrenzt sie der Inselrand des Pariser
Beckens, östlich bildet die Erhebung der oberen
Kreide den Abschluß. Süd- und Nordgrenze sind
nicht so deutlich ausgeprägt.
Der Franzose nennt dieses Gebiet „Champagne
pouilleue", unsere Feldgrauen „Schlammpansch".
Alle Landschaften, die sie umgibt, zeichnen sich
durch landschaftliche Reize vor der „trockenen
Champagne" aus. Wie eine Wüstenei liegt diese
„Lausechampagne" in dem verhältnismäßig frucht-
baren, an Naturschönheiten reichen Nordfrankreich.
Gegen Westen fallen die oberen Kreideschichten
unter älterem Tertiär ein. Mancherorts ist der
Kreide eine erhöhte Beimischung von Ton eigen.
Die Schreibkreide ist wasserdurchlässig, homogen,
arm an makroskopischen Versteinerungen, an
Feuersteinknollen, reich an Strahlkieskonkretionen.
Das Regenwasser bleibt zunächst über der Deckton-
schicht stehen. Darum ist der Boden zuerst sehr
stark durchweicht. Nach Durchsickerung dieser
oberen Tonschicht, durchsinkt es sehr schnell die
Kreideschichten. Durch diese Eigenschaften der
Kreide wurde die Oberfläche des Landes, wie sie
jetzt ist, gestaltet, weniger durch tektonische
Einflüsse.
Oberflächenerosion kommt bei der Gestaltung
der „trockenen Champagne" nicht in Frage, da
Gefälle sonst gar nicht vorhanden ist, die Kreide
läßt das Wasser sehr schnell versickern und der
oberflächliche Ton ist nicht mächtig genug, das
Niederschlagswasser zu sammeln und in Flüssen
als Erosionsmittel zu gebrauchen. Wenn trotzdem
das Gelände hügelig ist, dann hat man der
chemischen Abtragung des Gesteines daran die
meiste Schuld zu geben. Stellenweis ist der Boden
von keinerlei Vegetation bedeckt und hier sorgen
Sonne und Wmd für ein beschleunigtes Ver-
schwinden der Niederschläge. Mit dem Karst
hat die Landschaft manches gemein, nur geschah
das Tieferlegen von Landschaftsflächen nicht durch
Dolinenbildung.
Was an fließenden Gewässern die „trockene
Champagne" durcheilt, sind Flüsse, die aus dem
Osten kommen oder Bäche, die aus Quellen ent-
stehen. Kleinere versiegen bald, größere (Py,
Suippes) kommen bis nach dem Westen.
Im Osten ragt der Höhenrand der oberen
Kreide 60 m über das Aisnetal bei St. Menehould
bis Attigny. Manche der Täler bilden darin
wenige hundert Meter lange mulden- oder trog-
förmige Täler. Der Talboden reicht zur Aisne-
niederung herab. Der unbedeutende, gar nicht
zur Breite des Tales im Verhältnis stehende Bach
beginnt meist erst da, wo von der Talsohle der
Grundwasserspiegel erreicht wird. Darum hat
das zutage tretende Grundwasser den Haupt-
anteil an der Ausbildung der Täler.
Der Steilrand im Westen steigt gegen 100 m
N. F. XVI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
473
an und ist zurückgedrängt, daß stellenweise nur
Hügel die Tertiärdecke verraten.
So ist nun infolge der schlechten Bewässerung
das Land arm an Vegetation. Nur im Tale, an
Quellen, an Tälern zur Aisne hinab gibts spär-
liche Vegetation. Das Klima ist milde.
Hundt, z. Zt. im Felde.
Die Geologie des mazedonischen Kriegs-
schauplatzes behandelt Dr. Kurt L e u c h s im
1 1. Band der Mitteilungen der Geographischen
Gesellschaft in München.
Von der Heeresleitung war dem Verfasser die
Aufgabe geworden, Mazedonien wissenschaftlich
zu bereisen. In einer Arbeit gibt er zuerst Grund-
züge des geologischen Baues von Mazedonien.
Der Hauptfiuß Mazedoniens ist der VVardar.
Breite Becken und enge Durchbruchsstrecken fügen
das Tal zusammen. Das große Becken von Üsküb
füllen jungtertiäre und eiszeitliche Schichten aus.
Die Ränder bilden paläozoische und kristalline
Gesteine.
Den südöstlichen Abschluß dieses Beckens
muß der Fluß durchbrechen im enggewundenen
Tal. Es kommen paläozoische Gesteine und Ser-
pentinstöcke dadurch zutage. Dann tritt er in
ein zweites Tertiärbecken ein (das von Veles).
Eine Talenge im Phyllit mit Serpentingängen
leitet von diesem Becken in das von Tikves.
Das Eiserne Tor (Demir Kapu) schließt es nach
Südosten hin ab. Hier durchnagte er eine Scholle
lichtgrauen Kreidekalkes, der auf kristallinen Schie-
fern transgressiv lagert. So eng ist das Durch-
bruchstal, daß kein Platz für Eisenbahn und
Straße bleibt, die durch Felssprengungen und
Aufmauerungen am Flusse erst Platz gewinnen.
Bei der Station Strumiza beginnt das Becken von
Gewgeli, umgeben von nicht allzu großen Höhen,
die im Südosten vom Flusse durchbrochen werden
{('ingane derbend), der dann durch eine Ebene
von Salonik zum Meere sich hinwendet.
Die Durchbruchstalstrecken sind zum Teil
durch Verwerfungen vorgezeichnet, zum Teil reine
Erosionstäler. Im großen aber ist das Wardartal
an tektonische Störungszonen gebunden, die im west-
lichen Balkan in NordwestSüdost-Richtung strei-
chen (Küstenverlauf der Adria, die drei finger-
förmigen Landzungen der Chalkidike).
Der größte Teil Mazedoniens wird von der
alten Gebirgsmasse des Rhodope-Gebirges ein-
genommen. Im Osten ist eine geschlossene Masse
alter kristalliner Schiefer, von Graniten und jungen
vulkanischen Gesteinen (Trachytcn) durchsetzt.
Nach Westen hin löst sich dieses Gebirge in ein-
zelne Wellen auf. Zwischen den kristallinen Ketten
breiten sich Becken mit tertiären Süßwasser-
ablagerungen aus. Paläozoische und mesozoische
Sedimente nehmen nur in untergeordnetem Maße
am, Gebirgsaufbau teil.
Südlich einer Linie von Prizren am Ostufer
des Prespasees, von da in Südsüdostrichtung über
Kastoria beginnt das „Albanisch-Griechische meso-
zoische Faltengebirge", das durch Störungslinie
vom kristallinen Gebirge getrennt wird.
Die alte Masse ist ebenfalls von Störungslinien
ohne bestimmte Richtung durchzogen. So ist
das ursprüngliche Gebirge zertrümmert worden.
An den Brüchen kamen Quarzporphyre, Trachyte
hoch, die mit den tertiären und quartären Ab-
lagerungen den früheren Bau etwas verdunkeln.
Die östliche Begrenzung des Beckens von
Gewgeli, ein Hügelland, baut sich aus meist kri-
stallinen Gesteinen auf, mit Eruptivgesteinen (Gra-
nulit, aplitischer Granit, Serpentin, Diabas, Trachyt).
Nach Osten zu treffen wir weiter grobe Konglo-
merate, mit Glimmer durchsetzte weiße Marmore,
im Nordosten über Gneißen transgressiv zunächst
grobe Grandkonglomerate, rote, grüne, graue Sand-
steine mit eingelagerten grauen und roten Kalk-
bänken.
Durch starke Insolation, große Temperatur-
unterschiede sind die Gesteine tiefgründig gelockert,
es haben sich bedeutende Schutt- und Sandbil-
dungen ausgeprägt, die Wassermassen leicht an
andere Stellen verfrachten. Erdige und tonige
Bestandteile können diese Schuttmassen verfestigen.
In engen 4 — 6 m tiefen Rissen und Schluchten
durchnagt das fließende Wasser diese Bildungen,
erzeugt es Erdpyramiden, Pfeiler und Säulen.
Die Profile solcher Aufschlüsse zeigen schön
die lagenweise Auflagerung des Schuttes, wie er
jeweilig vom Wasser niedergeschlagen wurde.
{gTc.) Rudolf Hundt, z. Zt. im Felde.
Heilkunde. Über die Ergebnisse der experimen-
tellen Kropfforschung 'j hat W e g e 1 i n , zum Teil auf
eigenen Untersuchungen fußend, soeben einen
ausführlichen Bericht erstattet. „Das Kropfproblem,
sagt Wegelin, hat der medizinischen Forschung
bisher mehr Enttäuschungen als erfreuliche Er-
rungenschaften gebracht. Denn jedesmal, wenn
ein Fortschritt sich zu verwirklichen schien,
stellten sich neue Schwierigkeiten ein." Bis vor
kurzem schien es ganz sicher zu stehen, daß der
Kropf durch das Trinkwasser erzeugt wird.
Namentlich die Beobachtungen von H. und
E. Bircher in Aarau an der Bevölkerung von
Rupperswil sprachen in dieser Richtung. Als der
Kropfort Rupperswil eine Jurawasserversorgung
bekam — der Jura ist kropfarm — , verschwand
dort der Kropf nach den Angaben von H. Bircher
fast vollständig. Für die Annahme, daß das
Wasser am Kropf schuld sei, sprachen auch Be-
obachtungen, die eine Reihe von Autoren an
P'orellen gemacht haben, und aus denen sich er-
gab, daß Fische ausgesprochene Schilddrüsen-
geschwülste aufweisen können. Wegelin hat
daraufhin mit seiner Schülerin Reicher Forellen
aus einer Gegend untersucht, in welcher der
') Wegelin, Die experimentelle Kropfforschung. Mit-
teilungen der Naturforschenden üesellschaft in Bern aus dem
Jahre 191 7.
474
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
menschliche Kropf sehr verbreitet ist. Aus-
gesprochener Kropf konnte bei diesen Forellen
jedoch nicht nachgewiesen werden, wenn auch
eine leichte Schilddrüsenvergrößerung vorhanden
war.
Man mußte sich nun fragen, wodurch das
Wasser zu einem Kropfwasser werde. Eine Reihe
Schweizer Kropfforscher haben sich mit dieser
Frage in Tränkungsversuchen mit der weißen
Ratte beschäftigt. Wilms glaubt gefunden zu
haben, daß im Kropfwasser giftige organische
Stoffe enthalten seien, die beim Erhitzen des
Wassers auf 80" zerstört werden. E. B i r c h e r
bezeichnet die wirksame Substanz als einen
kolloidalen Stoft', der bei der Dialyse zurück-
gehalten wird. Er wird nach E. Bircher durch
Kochen, längeresStehenlassen, starkes Schütteln usw.
zerstört. E. Bircher glaubt durch Tränkungs-
versuche mit Ratten nachgewiesen zu haben, daß
das Kropfwasser bei längerem Kontakt mit Jura-
kalk seine giftigen Eigenschaften einbüße.
Messerli wieder, der Tränkungsversuche mit
Wasser aus verschiedenen Quellen im Waadtland
ausgeführt hat, glaubt nachgewiesen zu haben,
daß das Kropfwasser durch seinen großen Gehalt
an Darmbakterien gekennzeichnet ist. Auch
andere Forscher, wie Sasaki und MacCarrison,
fanden, daß Ratten Kropf bekommen, wenn man
sie mit Fäkalien von Ratten oder kropfigen
Menschen füttert. Diese Forscher versuchten auch,
den Kropf beim Menschen durch eine Desinfektion
des Darmes zu bekämpfen. Sie geben an, daß
bei ihren Patienten eine erhebliche Besserung
oder sogar Heilung des Kropfes erzielt wurde.
Im Gegensatz zu diesen Befunden, die das
Wasser in den Mittelpunkt stellen, stehen die
neueren Untersuchungen von Hirsch feld und
Klinger vom Hygienischen Institut in Zürich.
Hirschfeld und Klinger tränkten Ratten in
einer Kropfgegend (Ringwil im Zürcher Oberland)
ausschließlich mit destilliertem oder gekochtem
Wasser, das eigens aus dem kropffreien Zürich herge-
holt wurde. Diese Tiere erkrankten trotzdem an
Kropf. Tränkten sie dagegen Tiere in einer
kropffreien Gegend (Bozen im Fricktal) mit Wasser
aus einer Kropfgegend (aus Ringwil), so blieben
die Tiere gesund. Aus den Versuchen von
Hirschfeld und Klinger kann geschlossen
werden, daß das kropferzeugende Moment nicht
allein im Wasser, vielleicht überhaupt nicht im
Wasser enthalten sei. Es ist möglich, daß die
allgemeinen hygienischen Verhältnisse,
eventuell sogar ohne Dazwischentreten von Bak-
terien, am Kropf schuld sind. Ähnliche Versuche wie
Hirschfeld und Klinger sind noch von anderen
Forschern, auch in Österreich, ausgeführt worden.
Das Ergebnis dieser Versuche war denjenigen
von Hirschfeld und Klinger gleich. So
sprechen heute zahlreiche Versuche dafür, daß der
Kropf ganz unabhängig vom Trinkwasser ent-
stehen kann. Zurzeit haben wir keinen Beweis
dafür, daß es „Kropfwasser" gibt.
Umfangreiche Untersuchungen über die Ent-
stehung des Kropfes wurden in den Jahren 191 1
bis 191 3 von der Schweizerischen Kropf kommission
ausgeführt, an denen sich auch Wegelin be-
teiligt hat. Weiße Ratten wurden im Verlaufe
von Monaten in verschiedenen Ortschaften der
Schweiz gehalten und dort mit bestimmten Wässern
getränkt. Auf Grund einer pathologisch-anato-
mischen und mikroskopischen Untersuchung der
Schilddrüsen von 150 Ratten ist Wegelin dahin
gelangt, daß die örtlichen Verhältnisse von größerer
Bedeutung zu sein scheinen als die Art des Trink-
wassers. Der Rattenkropf stimmt histologisch
mit dem endemischen Kropf des Menschen über-
ein. Dabei ist von großem Interesse, daß die
pathologischen Schilddrüsenveränderungen in den
einzelnen Gegenden der Schweiz verschieden sind
und charakteristische Eigentümlichkeiten zeigen.
Auch das spricht nicht für die Trinkwassertheorie.
Auch das Ergebnis einer anderen Reihe von
Ursachen spricht in derselben Richtung: „Die
Versuche mit Kochen, Dialysieren und Stehen-
lassen des Trinkwassers ergaben bei den be-
treffenden Tieren keine Vergrößerungen der
Schilddrüse und scheinen also auf den ersten Blick
mit der Trinkwassertheorie in Einklang zu stehen.
Bei Berücksichtigung der histologischen Struktur
ergibt sich jedoch, daß einige dieser Drüsen auch
eine deutliche Epithelwucherung oder degenerative
Veränderungen zeigen. Hier ist also bei einzelnen
Drüsen unzweifelhaft ein Anfang der Kropfbildung
vorhanden." Auf Grund aller dieser Versuche
kommt Wegelin zum Schluß, „daß sich die
Kropfbildung nicht allein aus der Be-
schaffenheit des Trinkwassers erklären
läßt... Immerhin wäre es möglich, daß das
Trinkwasser wenigstens zum Teil als Träger der
kropferzeugenden Schädlichkeit in Betracht käme
und daß sich durch Kochen, Dialysieren usw.
des Trinkwassers wenigstens eine unter mehreren
Bedingungen für die Kropfentstehung ausschalten
oder wenigstens abschwächen ließe" . . .
Wegelin bemerkt mit Recht, daß jedoch
auch mit den neuesten großen Kropfuntersuchungen
noch nicht das letzte Wort über die Trinkwasser-
theorie des menschlichen Kropfes gesprochen ist.
„Genaue ärztliche Beobachtungen über die Mög-
lichkeit einer Verhütung des Kropfes durch
Kochen des Trinkwassers wären jedenfalls dringend
erwünscht." Vor allem aber wird es nach
Wegelin jetzt nötig sein, zu erforschen, „ob der
Kropf mit einer bestimmten Darmbakterienflora
zusammenhängt, welche ihrerseits wieder durch
Eigenschaften der Nahrung oder eventuell des
Trinkwassers bedingt sein könnte". Dabei müßte
man annehmen, daß der vermeintliche Erreger
des Kropfes stets erneut von außen in den Körper
eingeführt wird. Denn bei kropfigen Ratten und
Menschen, die aus einer Kropfgegend in eine
kropffreie Gegend kommen, tritt nach einiger
Zeit eine Verkleinerung der Schilddrüse ein.
Manche Erfahrungen sprechen dafür, daß auch
N. F. XVI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
475
eine sehr eiweißreiche Nahrung eine Vergrößerung
der Schilddrüse hervorrufen kann.
Als prophylaktisches Mittel gegen den Kropf
sollte nach W egelin eine geeignete Jodzufuhr
in sehr kleinen, nicht gesundheitsschädlichen Dosen
im Kindesalter in Erwägung gezogen werden.
Lipschütz.
Zoologie. Die Nack^chneckenplage im Sommer
1916. Der nasse^ommer des vergangenen Jahres
begünstigte die Entwicklung der Nacktschnecken
sehr und so war es nicht verwunderlich, daß sich
aus allen Teilen des Reiches die Klagen mehrten
über den Schaden, den die Nacktschnecken m den
Gemüsegärten anrichteten. Nach Prof. Dr. L. Reh
(Hamburg) (Zeitschr. f. Pflanzenkrankheiten, 27. Bd.,
Jahrg. 1917, Heft 2/3) litten in seinem Garten be-
sonders die Bohnenpflanzungen, welche trotz mehr-
facher Bestellung nicht mehr hochzubekommen
waren. Ihre Blätter fielen immer wieder den Nackt-
schnecken zum Opfer. Auch den Kartoffeln stelUen
die Schnecken sehr nach, sie fraßen das Kartoffel-
kraut ständig ab und verhinderten so die Knollen-
bildung. Von den Kohlarten war es besonders
der Kopfkohl, den die Schnecken heimsuchten,
während der Blattkohl von ihnen viel weniger an-
gegangen wurde; auch die Salatpflanzen wurden
merkwürdigerweise von den Schnecken nicht er-
heblich beschädigt. Dagegen wurden von ihnen
im Herbst faule bzw. moniliakranke Fallapfel sehr
gerne aufgesucht, allerdings weniger, um sich von
ihrem Fruchtfleisch zu nähren, als um von ihnen
die Moniliapilze abzuweiden. Mit Ausnahme der
Bohnenblätter, von denen die Schnecken nur die
Skeletteile übrigließen, wurden die anderen von
ihnen befallenen Blätter nur vom Rande oder durch
Löcher in der Spreite angefressen; auch Stiele und
Stengel wurden von ihnen benagt. Bisher war
man immer der Ansicht gewesen, daß die Schnecken
unterirdische Pflanzenteile nicht angriffen, die Er-
fahrungen des letzten Jahres aber haben gelehrt,
daß diese Ansicht eine irrige war. Ob freilich die
Schnecken dabei selbst neue Wunden schlagen
oder vielleicht nur die Fraßbeschädigungen anderer
Tiere (Drahtwürmer, Erdraupen usw.) fortsetzen
darüber kann man sich heute noch kein Endurtcil
bilden. Jedenfalls konnte im letzten Jahre beob-
achtet werden, daß die Nacktschnecken „an den
dicht unter der Erdoberfläche befindlichen, durch
die Bewegung der Pflanze von der beiseite ge-
drückten Erde befreiten Stengelteilen fressen".
Auch über die Artenzahl der als Gartenschädlinge
erkannten Nacktschnecken waren die bisherigen
Kenntnisse einer Revision zu unterwerfen : während
man früher nur die Ackerschnecke [Agnoluiiax
ao-restis L.) und die große Wegschnecke
(Arion empiricorum Fer.) als für Gemüsebeete
schädlich bezeichnete, erwiesen sich im Sommer
1916 den Feststellungen Prof. Reh's und zahl-
reicher anderer Gartenbesitzer zufolge auch noch 2
andere Arten als zumindest ebenso schädlich: vor-
nehmlich die Gartenwegschnecke {Arton
Jiorfcnsis F e r.) und dann auch An'ou circinuscriphis
Johnst. Mit den eingeleiteten Bekämpfungs-
maßnahmen (Streuen von Eisenvitriol, Kalk und
Asche) hatte der Verfasser wenig Erfolg. Vor-
züglich ist zweifelsohne das Fangen in Biertellern,
aber bei dem ständigen Regen war im vorigen
Jahr auch damit wenig auszurichten. Ebenso ent-
täuschten Igel, Kröte und Amsel die in sie als
Schneckenfeinde gesetzten Hoffnungen. So blieb
als iiUiiniim rcfugium nur das allabendliche Ein-
sammeln mit der Hand und die Hoffnung auf die
dezimierende Wirkung des Winters".
H. W. Frickhinger.
Die Bekämpfung der_Reblaus^ d^rch_Um-
änder^ii^g~der^^be7ikdtur. Beobachtungen an
iibll^iifes^^ Weinstöcken in Bulgarien veranlassen
Popoff und Joakimoffi), Vorschläge zu einer
Umänderung der Rebenkultur zu machen, durch
die den Reben allgemein eine starke Widerstands-
fähigkeit gegen Reblausinfektionen veriiehen werden
soll In Anbetracht des großen Schadens, den der
Weinbau jähriich durch die Reblaus erleidet, ver-
dienen diese Vorschläge alle Beachtung.
Die Reblaus, Phylloxera vastatrix, wurde zu
Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahr-
hunderts von Amerika nach Europa verschleppt.
Während die amerikanischen Reben nahezu un-
empfindlich gegen die Reblaus sind, erwies sie
sich für die europäischen Weinstöcke als ein
außerordentlich gefährlicher Parasit. Mit einer
geradezu unheimlichen Geschwindigkeit verbreitete
sie sich in allen rebenzüchtenden Ländern Europas,
überall furchtbare Verwüstungen in ehedem
blühenden Weinbergen anrichtend. So betragt
der Schaden, den die Reblaus in Frankreich
verursacht hat, nach annähernden Schätzungen
ca. 9 Milliarden Franks, in Osterreich - Ungarn
ca ■; Milliarden, in Bulgarien seit dem Jahre ib«4
bis heute weit über 1 Milliarde. Daß man unter
diesen Umständen eifrig nach Mitteln sucht um
die Reblaus zu bekämpfen, ist selbstverständlich.
So «roß indessen auch die Zahl der bisher
empfohlenen Mittel ist, so vermag doch keines
vollständig zu befriedigen. Entweder ist ihre
Wirksamkeit überhaupt sehr gering, oder es stehen
ihrer praktischen Anwendung große Scliwierig-
keiten entgegen. Das gilt z. B für das vor-
nehmlich in Deutschland angewandte Mittel: die
Behandlung der infizierten Weinberge mit Schwefe -
kohlenstoff. Durch die Einführung von Schwetel-
kohlenstoffgasen in den Boden der verseuchten
Weinberge werden die auf den Wurzeln der Reben
lebenden Läuse abgetötet. Wird das Verfahren
planmäßig durchgeführt, so vermag man ganze
Gegenden reblausfrei zu machen, aber bei der
ungeheuren Vermehrungsfähigkeit und der großen
iTTc^ff M. und Joakimoff, D., Die Bekämpfung
der Reblaurdu;ch Umänderung der Rebenkultur. Ze.tschr,
f. angew. Entomologie, Bd. 3, 1916.
476
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
Ausbreitungsmöglichkeit der Reblaus hat das
Verfahren, das überdies sehr kostspielig ist,
dauernd nur Erfolg, wenn der Staat seine all-
gemeine Anwendung durchsetzt. Deutschland hat
auf diese Weise fast 97 % seiner Weinberge
reblausfrei erhalten können. In allen anderen
Ländern fehlt indessen eine ähnlich wirksame
staatliche Reblausbekämpfung. Das in manchen
Gegenden Frankreichs beliebte „Inundationsver-
fahren" — zeitweises Unter- Wasser-Setzen der in
den Flußniederungen angelegten Weinberge — ,
durch das die Wurzelläuse ertränkt werden, bietet
natürlich nur beschränkte Anwendungsmöglichkeit.
Auch Kreuzungen reblausfester amerikanischer
Rebensorten mit europäischen Reben hatten nicht
den gewünschten Erfolg. Der direkten Über-
tragung reblausfester Weinstöcke nach Europa
steht die Minderwertigkeit der amerikanischen
Reben im Wege. Man hat schließlich versucht,
die amerikanischen Reben durch gute europäische
Sorten zu veredeln. Nach langem Hin- und Her-
experimentieren ist man auch zu einigermaßen
befriedigenden Resultaten gekommen, und heute
sind bereits große Ländereien in Europa —
speziell in Frankreich — mit amerikanischen
Reben bepflanzt. Trotzdem bleibt die Veredelung
der amerikanischen Reben immer, nur ein Not-
behelf im Kampfe gegen die Reblaus. Die ver-
edelten Reben sind sehr empfindlich gegen die
klimatischen Bedingungen und die Bodenbe-
schaffenheit, gegen verschiedene Pilz- und kon-
stitutionelle Krankheiten. Daß man unter diesen
Umständen auch weiterhin nach Mitteln sucht,
um die Reblaus wirksam zu bekämpfen und da-
durch eine Neuanpflanzung der alten europäischen
Rebensorten zu ermöglichen, ist verständlich.
Popoff und Joakimoff glauben nun ge-
funden zu haben, daß die europäischen Reben
durch eine Umänderung ihrer Kultur widerstands-
fähig gegen die Reblaus gemacht werden können.
In den Weingegenden Bulgariens, in denen vor
10 — 20 Jahren die Weinberge durch die Reblaus
vollständig vernichtet worden sind, machten sie
die Beobachtung, daß die wildwachsenden
Reben noch üppig weitergedeihen. Die gleiche
Widerstandsfähigkeit gegen die Reblaus besitzen
alle baumartig hochgezogenen Wein-
stöcke, eine in Bulgarien sehr verbreitete Art
der Rebenzucht. Diese Weinlauben sind dort
unter dem Namen „Asma" bekannt. Man läßt
die Reben an andere Bäume angelehnt wachsen
oder auf besonderen Gestellen sich reich ver-
zweigen. Die einzelnen Stöcke werden in Ab-
ständen von 4—5 m voneinander gepflanzt, der
Boden wird niemals bearbeitet. Häufig werden
die Asmas entlang der Straßenfront der Häuser
gezogen, die Weinstöcke werden dann zu großen,
kletternden, lianenartigen Bäumen mit einem
Durchmesser von oft 15 — 20 cm, die ein Alter
von über 100 Jahren erreichen können; ihre
Wurzeln breiten sich unter dem Straßenpflaster
aus. In allen Ortschaften und Städten Bulgariens
und Mazedoniens, die früher durch ihre vorzüg-
lichen Weinberge berühmt waren, diese Berühmt-
heit aber durch die Reblaus eingebüßt haben,
sind die Asmas erhalten geblieben und gedeihen
vortrefflich. Auf Grund ihrer Beobachtungen
sowie eigens angestellter Experimente kommen
Popoff und Joakimoff zu dem Resultat, daß
die Widerstandsfähigkeit der baumartig gezogenen
Reben gegen die Reblaus nur auf die Art der
Kultivierung zurückgeführt werden kann.
Durch die Zucht der Reben als Stöcke werden
der Reblaus die günstigsten Bedingungen für ihre
Entwicklung geboten. Die ständige Auflockerung
des Bodens ermöglicht es dem Insekt, ohne große
Mühe bis zu den feinsten Wurzelverzweigungen
zu gelangen. Kommt die Zeit der geschlechtlichen
Fortpflanzung, so vermögen die Wurzelläuse leicht
an die Oberfläche zu steigen, eine Wanderung,
die zur Weiterführung des Entwicklungszyklus
der Reblaus notwendig erfolgen muß. Läßt man
die Reben sich aber ganz normal entfalten, so
entwickeln sie nicht nur eine reiche Krone,
sondern auch ein kräftiges Wurzelwerk, das tief
in den Boden geht und dadurch die Bearbeitung
des Bodens überflüssig macht, der Boden bleibt
fest und bereitet den Wurzelläusen große
Schwierigkeiten, ihre Wanderungen auszuführen.
Daß die laubenartig gezogenen Weinberge in
Tirol und Italien nicht reblausfest sind, hat seine
Ursache darin, daß dort die einzelnen Stöcke zu
dicht beisammen gepflanzt werden; die Wurzeln
können sich infolgedessen nicht ihrer Natur ent-
sprechend entwickeln, sie bleiben klein und
schwächlich , und dadurch wird eine zeitweise
Bearbeitung des Bodens notwendig, die den
Läusen das Eindringen und Wandern gestattet.
Die Asmas stehen nach Popoff und Joaki-
moff den in der P~orm von Stöcken gezogenen
Reben hinsichtlich ihrer Güte und Fruchtbarkeit
nicht nach , ja es sollen gerade die köstlichsten
und delikatesten Sorten von Tafeltrauben in
Bulgarien auf diese Weise gewonnen werden.
Da, wie die Erfahrung lehrt, alle Rebensorten
laubenartig kultiviert werden können, läßt sich
das in Bulgarien übliche Kultivierungsverfahren
auch in anderen Ländern erproben. Ob auch in
anderen Klimaten die laubenartig gezogenen
Reben die gleiche Widerstandsfähigkeit gegen die
Reblaus erreichen, ^) ob vor allem die Trauben
der normal gewachsenen Reben das gleiche Aroma
— und auf dieses legt der Weinbauer ja be-
sonderen Wert — entwickeln wie die dauernd
beschnittenen Weinstöcke, müssen die Versuche
lehren. Bei der großen volkswirtschaftlichen Be-
deutung des Weinbaues erscheint jedenfalls eine
sorgfältige Prüfung der Vorschläge von Popoff
und Joakimoff wünschenswert. (G.C.)
Nachtsheim.
') Auch in Deutschland sieht man in manchen Gegenden
— z. B. im Rheinland — hier und da baumartig gezogene
Reben. Ob Beobachtungen über die Widerstandsfähigkeit
solcher Reben gegen die Reblaus vorliegen, ist mir nicht bekannt.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
477
Zur Biologie der Bärenspinner. Während in
Südeuropa, so z. B. in Südfrankreich, der bekann-
teste Vertreter der Bärenspinner {^irctüdae), der
sogenannte Braune Bär {Arctia caja\^}j, dessen
dichtbehaarte schwarze Raupen bei uns vom August
an häufig anzutreffen sind, zu einem argen Schäd-
ling der Rebenkulturen werden kann, sind die
Bärenspinner bei uns vollkommen harmlose Tiere,
die nur eine Reihe von wildwachsenden Kräutern
und Sträuchern befallen, dagegen keine der Kultur-
pflanzen beschädigen. Von einem einheimischen
Bärenspinner, von. Ircfia hebe berichtet O. H o 1 i k in
der „Internationalen Entomologischen Zeitschrift"
(ll. Jahrg. 1917/18 Nr. i), daß er in der Prager
Gegend am liebsten Möhre und Löwenzahn an-
geht, aber im großen und ganzen in Bezug auf
seine Fultergewächse gar nicht wählerisch ist und
in der Gefangenschaft auch mit allerlei anderen
Pflanzen vorlieb nimmt. So hat der Verfasser in
seinen Zuchten die^i. //«i^c-Raupen stets mit bestem
Erfolg mit ßlumenkohlblättern gefüttert. Die
Raupen verspinnen sich am Boden und nehmen
auch dabei ganz wahllos alle möglichen Objekte
als Deckung: an Steinen, zwischen Erdschollen,
unter abgefallenem Laub, ja selbst an Eisenbahn-
schienen fand der Verfasser ihre Gespinste. Auch
bei der Häutung spinnen sich die Raupen in ein
„seidiges Schutzdach" ein, doch scheint dieses für
die Häutung nicht unerläßlich nötig zu sein; denn
gefangenen Raupen schadete die Zerstörung dieses
Gespinstes nichts. Die Raupen, wie die Puppen
sind äußerst sonnenliebend, gegen Kälte und starke
Feuchtigkeit sind sie überaus empfindlich. Die
jungen A. //f/;c- Raupen erweisen sich häufig als
von Schmarotzerinsekten befallen. Die Larven
dieser Raupenfliegen [Tacliiiien) verlassen aber
ihre Wirte noch, bevor diese ausgewachsen sind.
Deshalb sind ältere Raupen nur selten mit Parasiten
besetzt. Auch eine Wanzenart scheint nach
den Beobachtungen Holik's den .i. //(V^t-Raupen
nachzustellen : H o 1 i k traf die Wanzen mehrmals
dabei an, wie sie die Raupen aussaugten.
H. W. Frickhinger.
Zeitgemäße Bienenzucht. Die deutsche Gesell-
schaft für angewandte Entomologie hat sich
zur Aufgabe gestellt, die deutsche Bienenzucht
dadurch zu fördern, daß sie aus der Feder einer
so anerkannten Autorität auf dem Gebiete wie Prof.
Dr. Zander- Erlangen eine Anzahl Flugschriften
herausgibt. Der ersten Schrift aus dem Jahre 1916,
„Die Zukunft der deutschen Bienenzucht" (be-
sprochen in Nr. 24 dieser Zeitschrift) sind nun-
mehr zwei weitere Hefte gefolgt: Prof. Dr. Zander,
Zeitgemäße Bienenzucht. HeftI: Bienen-
wohnung und Bienenpflege. 28 Text-
abbildungen und Heft II: Zucht und
Pflege der Königin. 29. Textabbildungen.
Berlin 1917. Verlag Paul Parey. (Preis
1,80 M.)
Die Schriften verfolgen den Zweck ein ge-
treues Bild der ungeheuer großen, aber bisher in
weiteren Kreisen wenig verstandenen volkswirt-
schaftlichen Bedeutung der deutschen Bienenzucht
zu geben und die Bedingungen festzulegen, von
denen ihr zukünftiges Gedeihen abhängt. Durch
zahlreiche Beobachtungen und zeitraubende Ver-
suche war Zander jahrelang bemüht, die bisher
übliche Betriebsweise gründlich zu prüfen, ver-
altete Methoden und Einrichtungen rücksichtslos
auszumerzen und die ganze Zucht auf eine mo-
derne, wissenschaftlich begründete Grundlage zu
stellen. Da diese Arbeiten nunmehr nach seiner
eigenen Angabe zu einem gewissen Abschlüsse
gekommen sind, so haben wir in den genannten
Schriften eine kurz umrissene Darstellung ihrer
Ergebnisse zu sehen. Diese Tatsache gibt dem
Studium dieser Arbeiten einen besonderen Reiz,
besonders für den, der das oft sehr niedrige
wissenschaftliche Niveau eines großen Teiles der
überaus reichen bienenwirtschaftlichen Literatur
und Zeitschriften kennt. Vor allem wichtig er-
schien Zander zunächst die Beschaffung einer
wirklich praktischen Bienenwohnung, nachdem
sich herausgestellt hatte, daß die bisher üblichen,
in zahlreichen F"ormen vorliegenden Beuten nicht
oder nur unvollkommen den zu stellenden An-
forderungen genügen. Dabei leitete ihn der
Gesichtspunkt, daß wirklich lohnende Bienenzucht
nach neuen und verbesserten Methoden nur be-
trieben werden könne, wenn der Imker ohne
große Störung des Volkes, ohne viel Zeitverlust
und ohne der Natur zu viel Gewalt anzutun,
jederzeit in der Lage sei die Vorgänge im Stocke
selbst genau zu überblicken und zu regeln. In
Heft I beschreibt nun Zander die von ihm ge-
baute und durch langjährigen Gebrauch und weile
Verbreitung gut erprobte sog. „Zanderbeute". Mit
in die Beschreibung von Bau und Handhabung
wird noch manches eingeflochten, was für den
Imker von heute zum eisernen Bestände seiner
Kenntnisse zu gehören hat. Behandelt wird unter
anderem die Frühjahrsnachschau , die Förderung
der Volksentwicklung, die Seh warmpflege, die
Honigerntc, das für die Ausnutzung der mehr und
mehr verarmenden Honigweide so wichtig ge-
wordene Wandern, die Einwinterung u. a.
Ein besonderes Kapitel moderner Imkerei
bildet die zielbewußte Zucht und Auslese der
Bienenkönigin. Sie ist geradezu die Grundlage
jeder einträglichen Bienenzucht, so daß ohne sie
alle anderen Maßregeln ohne bleibenden Wert
sind. Ist es doch Zander, der seit 1910 plan-
mäßig züchtet, gelungen durch sorgfältige und
rücksichtslose Auslese nach Leistungen die Ertrag-
fähigkeit der Imkerei bedeutend zu steigern, die
Durchschnittsleistung der Völker zu verdoppeln.
Mit der Königinnenzucht befaßt sich daher das
II. Heft. Sein Studium kann ganz besonders
auch deshalb jedem Nichtimker empfohlen
werden, weil die Biene dank ihrer eigentüm-
lichen Fortpflanzungsverhältnisse mehr und mehr
zu einem Versuchstier für vererbungstheoretische
478
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
Beobachtungen geworden ist. Schon Gregor
Mendel ahnte ihren Wert. Um zu verstehen
wie wertvoll die Biene in dieser Beziehung für die
Wissenschaft werden kann, braucht nur darauf hin-
gewiesen zu werden, daß die Königin nur einmal
im Leben befruchtet wird, daß also ihre gesamte
Nachkommenschaft, die sich auf zwei, drei oder
mehr Jahre verteilen kann, einen Wurf dar»tellt,
bestehend aus vielen Tausenden von Arbeitsbienen
mit väterlichem und mütterlichem Einschlag, dazu
Hunderte von Drohnen, die bekanntlich nur aus
unbefruchteten Eiern hervorgehen, mit nur mütter-
lichem Vererbungsgut. Die Kreuzung verschiedener
Rassen gibt also die beste und schönste Gelegen-
heit zu Studien der Merkmalsverhältnisse. Eine
Schwierigkeit besteht allerdings noch. Die geradezu
unsinnige Einfuhr buntfarbiger norischer, italieni-
scher, cyprischer u. a. Rassen, von denen man sich
in Deutschland — wie sich gezeigt hat mit Unrecht
— Großes versprach, hat bewirkt, daß die heimische
Biene derart verbastadiert wurde, daß sie zurzeit
für Vererbungsstudien zunächst garnicht brauchbar
ist. Ehe das möglich ist, wird es nötig sein, das
fremde Blut wieder zu beseitigen, um sich rein
vererbende Linien zu schaffen. An die Lösung
dieser dankbaren, aber höchst schwierigen Aufgabe
ist Zander seit einiger Zeit herangegangen und
zwar mit dem Erfolge, daß ihm die Züchtung
eines rein sich vererbenden dunklen Stammes allem
Anscheine nach bereits gelungen ist. Voraussicht-
lich wird daher die Biene in Zukunft mehr als
bisher noch ein dankbares Studienobjekt für Zwecke
der experimentellen Biologie werden. Wer sich
daher mit dem Rüstzeug und vielfachen Gerät und
den aus einer außerordentlich sorgfältigen Beobach-
tung des Bienenlebens hervorgewachsenen Metho-
den der Königinnenzucht vertraut machen will,
diesem neuen Zweige der angewandten Entomo-
logie, der lese die kleine Schrift von Zander.
Olufsen.
Anthropologie. Über die Bewohner von Neu-
kaledonien und der Loyaltyinseln hat F. Sarasin
neue und wichtige Mitteilungen gemacht („Etüde
anthropologique sur les Neo-Caledoniens et les
Loyaltiens". Archives suisses d'Anthrop. gener.
Tome II 1916 — 17, S. 83; ferner: „Streiflichter
aus der Ergologie der Neukaledonier und Loyalty-
insulaner auf die europäische Prähistorie". Ver-
handl. d. Naturf Ges. in Basel Bd. XXVIII 2. Teil
1916) Das große Werk des Verfassers, das sämt-
liche Ergebnisse seiner in den Jahren 191 1 und
191 2 unternommenen Forschungsreise bringen
wird, hat infolge der kriegerischen Ereignisse noch
nicht fertiggestellt werden können.
Die anthropologischen Verhältnisse beider Insel-
gruppen waren bis dahin wenig bekannt. Sarasin
ist es gelungen, mehr als 350 Individuen zu unter-
suchen und ungefähr 200 Schädel und viele Ske-
lette zu sammein. Die eingeborene Bevölkerung
von Neukaledonien zählte im Jahre 191 1 nur noch
16902 Individuen, darunter 9554 männliche und
734S weibliche, gegenüber 25975 Seelen im Jahre
1885; sie ist also innerhalb der letzten 26 Jahre
um ^3 zurückgegangen. Sie besteht aus mehreren
Stämmen, die eigene Sprachen sprechen und ver-
teilt sich auf 283 Dörfer, von denen die meisten
aber nicht mehr als 50 Individuen umfassen. Die
Dichtigkeit beträgt nur i Eingeborener auf den
Quadratkilometer. Günstiger liegen die Verhält-
nisse auf den Loyaltyinseln, wo seit der Besitz-
ergreifung durch die Franzosen im Jahre 1864
die europäische Ansiedlung verboten ist.
Was die somatischen Eigenschaften der Ein-
geborenen anlangt, so fand Sarasin in fast allen
wichtigen Körpermerkmalen regionale Differenzen.
So beträgt die mittlere Körpergröße von ganz
Neukaledonien für die Männer 166,4 cm, für die
Frauen i 56,6 cm, aber die Leute des Innenlandes
sind kleiner als diejenigen der Küste, und geht
man die letztere entlang gegen Süden, so kon-
statiert man eine beständige Zunahme der Statur.
So stehen sich inännliche Gruppenmittel von
162 cm (Stamm der Bonde) und von 171,4cm
(Dorf Bako bei Konej gegenüber. Die ganze
Körperentwicklung der Neukaledonier ist eine
robuste, die Muskulatur stark entwickelt; obere
und untere Extremität sind im Verhältnis zur
Statur lang, und der Fuß überragt durch seinen
kräftigen breiten Bau.
Ähnliche Unterschiede, wie bei der Körper-
größe, bestehen auch hinsichtlich der allgemeinen
Kopfform. Der mittere Längenbreitenindex des
Kopfes beträgt für Männer 76,5, für hVauen 76,7,
derjenige des Schädels allerdings nur 71,8 und
71,2, wieder ein Beweis dafür, daß die beiden
Indizes nie vermengt werden dürfen, weil die
Durchmesser am Kopfe durch die Auflagerung
der Weichteile bedeutend und in verschiedenem
Maße modifiziert werden. Die homogenste do-
lichokephale Gruppe (Index = 72,1 und 73,1) sitzt
in dem westlichen Teil der Insel, während an
der Südküste der mittlere Kopfindex bis auf 80,1
resp. 79,4 steigt, also bereits an Brachykephalie
streift, die sich auch ausgesprochen bei einzelnen
Individuen findet. Auf künstliche Eingriffe können
diese Unterschiede nicht zurückgeführt werden.
Der Neukaledonier hat zwar die Gewohnheit, den
Kopf des Neugeborenen leicht zu massieren, aber
dauernde Veränderungen der Kopfform können
durch so einfache und kurzdauernde Manipula-
tionen nicht hervorgerufen werden. Die Kopf-
form der Loyaltyinsulaner ist homogener und
deutlicher dolichokephal (L.-B. Index = 72,5 und
tu):, kein einziger Kurzkopf fand sich unter
ihnen. Charakteristisch für beide Gruppen ist die
starke Entwicklung der Glabella und der Augen-
brauenregion, unter der die Nasenwurzel und die
Augen wie von einem Schutzdach überschattet
liegen.
Von den verschiedenen Bildungen des Gesichtes
sei nur auf die sehr breite und niedere Entwick-
lung der Nase hingewiesen. Die absolute Breite
an den Nasenflügeln beläuft sich im Mittel auf
N. F. XVI. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
479
47 mm, steigt individuell aber auf 6omm, so daß
der mittlere Nasenindex 99,3 für die Männer und
98,1 für die Frauen, in einem Fall sogar 133,3,
beträgt. Das besagt, daß als Regel die Nase
ebenso breit wie hoch ist. Allerdings im Osten
der Insel nimmt vom Norden nach dem Süden
der Nasenindex ab, während, wie schon erwähnt,
Körpergröße und Längenbreitenindex des Kopfes
steigen. Stark vorstehende Kiefer in Verbindung
mit einer langen Mundspalte gehören mit zur
neukaledonischen Physiognomie.
Die Hautfarbe zeigt im allgemeinen mäßig
dunkelbraune und rötlich braune Töne, nur an
der vorderen Bauchwand kommen schwarzbraune
Nuancen vor. Die Hautfarbe der Frauen und
Kinder ist wesentlich heller; diejenige der letz-
teren erreicht erst gegen das 5. — 7. Lebensjahr
die Tönung der Erwachsenen, während bei den
Negern Afrikas dieser Prozeß viel rascher verläuft.
In merkwürdigem Kontrast zur Hautfarbe steht
die Irisfarbe, die im Kindesalter dunkler ist, als
bei den Erwachsenen; während die Hautpigmcn-
tation also zunimmt, muß diese während des
Wachstums abnehmen.
Besonderes Interesse verdienen die Unter-
suchungen Sarasin's über das Haar. Die
schwarze Haarfarbe, die von Natur nur einen
leichten bräunlichen Schimmer zeigt, ist durch
die Behandlung mit Kalk vielfach alteriert. Ebenso
wird der ursprünglich krause oder spiralgerollte
Charakter des Haares durch das künstliche Auf-
lösen und Verfilzen der Spiralen stark verändert.
Der Durchmesser der letzteren ist übrigens von
Natur sehr verschieden, er schwankt zwischen
2,5 mm und 20 mm. Im höheren Alter nimmt
die Spiralität des Haares bei beiden Geschlechtern
ab. Der Querschnitt des einzelnen Haares ist
groß und abgeplattet (täniomorph), wie es bei
spiralgerollten Haaren die Regel ist. Diese Eigen-
schaften scheinen sich aber erst während des
Wachstums herauszubilden. Bei Kindern im Alter
von I — 1^2 Jahren sind die Haare noch fast
schlicht oder leicht wellig und lockig, von ge-
ringem Querschnitt und von einer hellbraunen
bis blonden Färbung. Bis zum 8. Lebensjahr
findet dann die Umwandlung in die spiralgerollte
Form statt, während die Steigerung der Farb-
intensität bis zur definitiven Haarfarbe noch länger
dauert. Sarasin vermutet auf Grund dieses sich
ontogenetisch vollziehenden Prozesses, daß die
Neukaledonier von einer wellighaarigen (kymato-
trichen) Rasse abstammen. Man mag diese Hypo-
these für genügend begründet halten oder nicht,
jedenfalls verliert der bisher geltende Satz, daß
der definitive Rassecharakter der Haarform schon
bei der Geburt besteht, seine Allgemeingültigkeit.
Zur Entscheidung dieser sehr wichtigen F"rage
muß allerdings noch festgestellt werden, wie sich
bei dieser Änderung des Haarcharakters der Haar-
follikel verhält, ob es sich um einen vollständigen
Haarersatz handelt usw. Wichtig ist, daß auch
Körper und Gesicht an einigen Stellen im frühen
Kindesalter von ganz feinen Haaren bedeckt sind,
die an ein primäres Haarkleid erinnern. Für die
Erwachsenen ist eine starke sekundäre Körper-
behaarung mit deutlich spiralgerolltem Charakter,
die besonders Brust, Rücken, Schenkel und Vorder-
arme bedeckt, die Regel.
Unter den ergologischen Momenten, die Sa-
rasin auf Neukaledonien feststellen konnte, finden
sich solche, die interessante Analogien zur euro-
päischen Urgeschichte ergeben. Dazu gehört die
Verwendung roher, in ßachbetten aufgelesener
schwerer Rollsteine als Hämmer, einfacher Korallen-
zweige oder Rollsteine als Bohrer, die Benutzung
von Quarzsplittern ohne jede weitere Zubereitung
zu Aderlaßzwecken oder zum Glätten hölzerner
Keulen. F"rüher war, wie die Untersuchungen älterer
Ansiedlungen ergaben, das Steingeräteinventar
viel reicher z. T. von paläolithischem Typus neben
ausgesprochen neolithischen Formen. Dieses Per-
sistieren paläolithischer Tradition in der neolithi-
schen Periode ist auch für Europa nachgewiesen.
Die perforierten oder z.T. abgenutzten Muschel-
und Schneckenschalen aus europäischen prähistori-
schen Stationen wurden meist als Schmucksachen
angesprochen. Das ist wohl nicht immer richtig.
Für den primitiven Menschen ist die Muschel-
schale ein wahres Universalinstrument, wie die
Ergologie der Neukaledonier beweist. Die Durch-
bohrung dient in vielen Phallen zur Befestigung,
während der scharfe Rand als Hobel zum Glätten
von Holz oder zum Abschaben von Wurzelfrüchten
benutzt wird.
Auf Neukaledonien finden sich ferner auch
Steinreihen von einer Länge von 220 m, die, wie
aus übereinstimmenden Angaben hervorgeht, Sieges-
denkmäler darstellen, bei denen jeder Stein einen
gefallenen oder verspeisten Feind bedeutet. Als
Analogie kann hier an die besonders in der Bre-
tagne auftretenden „Alignements" erinnert werden,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß auch diese
Monumente einen ähnlichen Ursprung haben. Die
Steine, die so manchen Begräbnistumulus im Kreise
umgeben, sind vielleicht ebenfalls als Menschen-
opfer, die den Toten dargebracht wurden, zu
deuten, oder sollen wenigstens Menschen symbo-
lisieren. Auch die fremdartig geformten und ge-
färbten Steine, die man bei uns vornehmlich in
den Stationen des Magdalenien trifft, finden durch
Analogie mit Neukaledonien ihre Erklärung, denn
hier gelten alle solche Steine, die annähernd die
Form irgendeines Gegenstandes besitzen , als
Zaubersteine, denen man bestimmte Kräfte zu-
schreibt und die man dementsprechend behandelt.
Daß für die Bestattung der Leichen in Hocker-
stellung unumwunden die Furcht vor der Wieder-
kehr des Toten angegeben wird, ist eine neue
Bestätigung der schon von R. Andree einge-
führten und wohl auch für Europa gültigen Theorie.
Das Aufstellen von Schädeln in geschützten Fels-
spalten und Grotten wirft Licht auf ähnliche
Schädelanhäufungen, wie sie z. B. R. R. Schmidt
in der großen Ofnethöhle gefunden. Der Rück-
48o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 34
Schluß ist jedenfalls gestattet, daß es sich auch
in dem letzteren Fall um eine Art von Schädel-
altar, d. h. um eine Stätte handelt, die dem
Ahnenkultus geweiht war. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß diese und andere bei rezenten
Naturvölkern gemachten Beobachtungen geeignet
sind, viel zur Aufhellung der europäischen Prä-
historie beizutragen und die Deutung der Funde
aufden richtigen, dem europäischen Denken vielleicht
ganz fremden Weg zu leiten. R. Martin.
Bücherbesprechuugen.
P. Adloff, Die Entwicklung des Zahn-
systems der Säugetiere und des
Menschen. Eine Kritik der Dimertheorie von
Bolk. HO S. mit 83 Abb. Berlin 1916,
H. Meusser. — Brosch. s M.
Wie der Untertitel sagt, eine Streitschrift, die
die Einwände zusammenfaßt, welche Verf. schon
in mehreren Arbeiten gegen die Gültigkeit der
Bolk' sehen Theorie von der Entwicklung des
Säugetiergebisses erhoben hat. Bei dieser Gelegen-
heit wird natürlich das ganze Problem der phylo-
genetisch-ontogenetischen Zahnentwicklung mehr
oder weniger ausführlich behandelt, so daß die
kleine Schrift einen guten Überblick über den
derzeitigen Stand aller einschlägigen Fragen gibt.
Verf. tritt für die ältere Konkreszenztheorie
ein, hauptsächlich gestützt auf das Auftreten labialer
Fortsätze der Schmelzleiste, die er mit Leche,
als „prälakteale Dentition" bezeichnet, während
Bolk sie als „laterale Schmelzleiste" auffaßt. Es
handelt sich um die verschiedene Deutung der-
selben Bildung, die, wie Bolk einwandfrei nach-
gewiesen, ein normaler Bestandteil jeder Zahnanlage
zu sein scheint. Die von Bolk „Schmelzseptum"
und „Schmelznabel" genannten Bildungen werden
als bedeutungslos abgelehnt, wodurch auch seine
Auffassung, daß jedes Schmelzorgan aus zwei eng
aneinander geschlossenen Einzelorganen besteht,
negiert wird.
Hinsichtlich der Morphogenie der Primaten-
zähne wird auf die Schwierigkeit hingewiesen,
durch funktionelle Anpassung oder Selektion die
allmähliche Herausbildung der komplizierten Zahn-
formen restlos zu erklären. Die Cope-Osborn-
sche Theorie scheint Verf immer noch der beste
Erklärungsversuch. Im einzelnen wendet er sich
dann gegen die Auffassung Bolk's, daß nicht
nur die Molaren, sondern alle Zähne aus einer
Konzentration zweier trikonodonter Reptilienzähne
hervorgegangen seien ; an der Tatsache aber, daß
der trituberkuläre Zahn die Grundform für die
meisten Säugetierzähne darstellt, wird nicht
gezweifelt.
Besonders eingehend behandelt Verf die Be-
deutung der einzelnen Höcker der Molaren und
macht die zunehmende Komplikation und den all-
mählichen Übergang einer Zahnart in eine andere
durch gutausgewählle Beispiele und Abbildungen
deutlich. Die beiden letzten Abschnitte sind der
Homologie der Prämolaren und der ersten Molaren,
ferner der Dentitionszugehörigkeit der Molaren und
den überzähligen Höckern und Zähnchen in der
Mahbahngegend des Menschen gewidmet. Verf.
hat recht, wenn er energisch die Gefahren einer
falschen Deutung, die Möglichkeit einer Verwechs-
lung von Konvergenzen mit Homologien besonders
beim menschlichen Gebiß betont, weil hier zu den
normalen Differenzierungsprozessen noch eine Menge
von Anomalien und Mißbildungen kommen, die
mit der Rückbildung des Gebisses besonders bei
allen Kulturvölkern im Zusammenhang stehen.
R. Martin.
Literatur.
Tobler, Prof. Dr. Fr., Textilersatzstoffe. Dresden und
Leipzig '17, „Globus". 1,50 M.
Häuser, Dr. O., Der Mensch vor looooo Jahren. Mit
96 Abbildungen und 3 Karten. Leipzig '17, F. A. Brock-
haus. — 3 M.
Sachsze, Prof. Dr. R., Chemische Technologie usw.
Kurzgefaßtes Lehrbuch für Handels-, Gewerbe- und andere
Schulen und zum Selbstunterricht. 2. Aufl. Mit 96 Text-
abbildungen. Leipzig u. Berlin '17, B. G. Teubner.
Wegner, Prof. Dr. P., Lesebuch der Geologie und
Mineralogie für höhere Schulen. Große Ausgabe. Mit 322
Abbildungen und 4 Tafeln. 6. verbesserte Aufl. Ebenda. —
3 M.
Abderhalden, Prof. Dr. E., Die Grundlagen unserer
Ernährung unter besonderer Berücksichtigung der Jetztzeit.
Berlin '17, J. Springer. — 2, So M.
Zu I
Schrift N
sehen so
Druckfehlerberichtigung.
ikel ; Grundwasser und Quellen, Naturw. Woche
iiider unterlaufene Ve
Es muß heißen:
265—275;
sollen hier berichtigt v
S. 265, 1. Sp. Z. 37: „in Form von Wasserdampf"
S. 267, 1. Sp. Z. 19: „Orten"
S. 268, r. Sp. Z. 8/9: „das Grundwasser"
S. 272, r. Sp. Z. 3; „Herzogtum Krain"
Abb. 15; „Poik-Schwinde vor der Adelsberger Grotte"
K. Kr.
Inhalt: Engelhardt, Faraday's Stellung in der Geschichte der Physik. (2 Abb.) S. 465. — Einzelberichte : Otto Jessen,
Das Landschaflsbild der trocknen Champagne. S. 472. Kurt Leuchs, Die Geologie des mazedonischen Kriegsschau-
platzes. S. 473. Wegelin, Die Ergebnisse der experimentellen Kropfforschung. S. 474. L. Reh, Die Nacktschnecken-
plage im Sommer 1 91 6. S. 475. Pop off und Joakimoff, Die Bekämpfung der Reblaus durch Umänderung der Reben-
kultur. S. 475. O. Holik, Zur Biologie der Bärenspinner. S. 477. Zander, Zeitgemäße Bienenzucht. S. 477. Sarasin,
Bewohner von Neukaledonien und der Loyaltyinseln. S. 478. Bücherbesprechungen: P. Adloff, Die Entwicklung des
Zahnsystems der Säugetiere und des Menschen. S. 480. — Literatur: Liste. S. 480. — Druckfehlerberichtigung. S. 480.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, luvalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 2. September 1917.
Nummer 35.
Über die Bedeutung der Größe für Organismen.
(Nachdruck verboten
Die Begriffe
der Physik , soweit
Charakter von Größen haben , werden zurück-
geführt auf die drei F"undamentalgrößen, Länge L,
iVIasse M und Zeit T. Die Zurückführung ge-
schieht mit Hilfe irgendeiner auf Begriffsverbindung
oder Erfahrung beruhenden „geometrischen, kine-
matischen oder physikahschen Beziehung". ^) Alle
meßbaren Größen werden dadurch zu einem
„absoluten Maßsystem" vereinigt.
Die Abhängigkeit irgendeines physikalischen
Begriffes von den F"undamentalgrößen tritt am
deutlichsten hervor, wenn man nur ausdrückt,
welche Potenzen von L, M und T in seiner
Definition vorkommen. Die Kraft z. B. wird ge-
messen durch das Produkt aus Masse und Be-
schleunigung. Wenn man die Beschleunigung
mit Hilfe ihrer Definition auf L und T zurück-
führt, so ergibt sich für die Kraft das Produkt
LMT -. Durch diesen Ausdruck ist die „Dimen-
sion" der Kraft bestimmt.
Wenn man nur untersuchen will, wie irgend-
eine physikalische Erscheinung von der Größe
der beteiligten Körper abhängt, so genügt es an-
zugeben, welchen Potenzen von L allein die
Ursachen und Wirkungen, die man betrachtet,
proportional sind. Dabei wird also die Zeit ganz
außer acht gelassen. Die Masse dagegen ist
proportional L'' zu setzen, denn die Masse eines
Körpers oder seiner Teile ist gleich dem Produkt
aus dem Volumen und der spezifischen Dichte;
diese aber ist nur von der Beschaffenheit der
Stoffe, nicht von ihrer Ausdehnung abhängig.
Bevor ich die biologischen Anwendungen dieses
Gedankens gebe, möge ein Beispiel aus der Physik
betrachtet werden.
Man denke sich eine Dampfmaschine, die eine
Pumpe treibt, und daneben ein vollkommen ge-
treues Modell, das im Maßstabe i : 10 ausgeführt
ist; beide Maschinen sollen in gleichem Takt
laufen. Das Modell bietet dann dem Beschauer
das Bild einer geometrischen Verkleinerung, die
in jeder Bezieliung dem Original ähnlich ist.
Dennoch ist die Arbeit des Modells von der des
Originals wesentlich verschieden.
Diese Betrachtung wird einleuchtend, wenn
man sich einige Grundbegriffe der Mechanik in
die Erinnerung zurückruft.
Um einen ruhenden Körper (z. B. ein Geschoß)
durch einen Stoß in geradlinige Bewegung zu ver-
setzen, muß eine Kraft angewendet werden,
welche proportional ist dem Produkt aus der
)n Prof. Johannes Theel.
Mit I Abbildung.
sie den Masse des Körpers und der Beschleunigung,
die er bekommt. Beschleunigung bedeutet den
Zuwachs an Geschwindigkeit für die Zeiteinheit
und Geschwindigkeit (v) , bedeutet den Weg in
der Zeiteinheit.')
Wenn dagegen ein ruhendes Schwungrad durch
einmaligen Anstoß in Rotation versetzt werden
soll, so muß eine Kraft aufgewendet werden,
welche proportional ist dem Produkt aus dem
Trägheitsmoment des Rades und der
Winkelbeschleunigung, die es bekommt.
Winkelbeschleunigung bedeutet die Zunahme der
Winkelgeschwindigkeit für die Zeiteinheit und
Winkelgeschwindigkeit (w) bedeutet den Winkel,
den irgendein Punkt in der Zeiteinheit überstreichen
würde.
Hieraus ergibt sich: das Trägheitsmoment
spielt bei der Rotation dieselbe Rolle wie die
Masse bei der geradlinigen Bewegung (Translation).
Masse und Trägheitsmoment sind Bezeichnungen
für das, was der Beschleunigung widerstrebt.
Nun ist das Trägheitsmoment von der Form
9 = rmr- (m bedeutet die einzelnen Massenteile
und r ihren Abstand von der Rotationsachse). Das
Trägheitsmoment hängt also nicht nur von der
Masse, sondern erst recht von ihrer Verteilung
ab und wird um so größer, je weiter die Massen-
teile von der Rotationsachse entfernt sind. Die
Gleichung (-) = Emr'- zeigt außerdem, daß & der
fünften Potenz von L proportional ist, denn m
ist proportional L'"*.
Andererseits ist die kinetische Energie eines
geradlinig bewegten Körpers gleich ^mv'^ und die
eines rotierenden gleich \6io-. Auch im Ausdruck
der Energie erscheint das Trägheitsmoment bei
der Rotation anstelle der Masse bei der Trans-
lation. Für das Beispiel von der Dampfmaschine
und ihrem Modell ergibt sich nun folgendes: Da
bei der Maschine alle Längen das lofache der
entsprechenden Längen des Modells betragen, so
kann die Maschine in einer bestimmten Zeit
lO'' = 1000 mal so viel Wasser heben wie das
Modell und kann dadurch eine potentielle Energie
anhäufen, welche 10 • 10^ = 10 000 mal die Leistung
des Modells übertrifft. Dagegen steckt im
Schwungrad der Maschine eine kinetische Energie,
welche 10* = looooo mal so groß ist wie bei
dem Modell. In der Maschine herrscht also eine
andere Verteilung der Energien.
Solange beide in gleichem Takt arbeiten, be-
') Kc
iscb, Prakt. Phys. VUI. Aufl. S. 435.
') Abkürzungen sin
gebraucht werden sollen
hinzugefügt, wenn sie später
482
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 35
merkt man nichts von dieser inneren Verschieden-
heit. Wenn aber irgendeine Störung eintritt, so
wird die Maschine diese leichter überwinden, weil
in ihrem Schwungrad relativ mehr Energie auf-
gespeichert ist. Auch wenn man den Dampf ab-
stellt, wird das Modell viel schneller zur Ruhe
kommen als die Maschine; dementsprechend läuft
natürlich die Maschine langsamer an.
Zusammenfassend kann man sagen: Die
Maschine und das Modell können in der Ruhe
geometrisch ähnlich sein und sich auch sonst in
jeder Beziehung gleichen; sobald sie in Bewegung
gesetzt werden, hört die Ähnlichkeit auf, denn sie
funktionieren verschieden. Der Unterschied, auf
den hier hingewiesen wurde (es ist nicht der
einzige), läßt sich so formulieren: die wesentliche
Leistung des Schwungrades, nämlich der Maschine
durch seinen Energievorrat über kleine Störungen
hinwegzuhelfen, fehlt dem Modell um so mehr,
je kleiner es ist.
Das Beispiel sollte nur beweisen, daß die
Funktionen eines Mechanismus von seiner Größe
in verschiedenem Maße abhängen können.
Die Anwendung ähnlicher Betrachtungen auf
lebende Körper wird nun zeigen, wie weitgehend
und fühlbar der Einfluß ist, den die Größe allein
auf manche Lebenstätigkeiten der Organismen
ausübt. Kleine Wesen, obwohl denselben physi-
kalischen Gesetzen Untertan, leben doch sozusagen
in einer anderen Welt als wir und haben ihre
eigene Physik.
Einige Leistungen der Lebewesen sind von der
Art, daß sie von der Masse des Oiganismus be-
günstigt, von der Oberfläche dagegen beeinträchtigt
werden. Für solche Leistungen ist also das Ver-
hältnis F : M der Oberfläche zur Masse von Be-
deutung. Für eine Kugel vom Radius r und der
spezifischen Dichte a ist F : M = -. 5 — ^ — •
'^ f7iT^-a r ff
für einen Würfel mit der Kante a ergibt sich
-•-, für einen Tetraeder , für ein Okta-
eder
3r6
Bei der Kugel hat das Verhältnis
F : M seinen kleinsten Wert und die Kugelform
ist daher das Optimum, wenn es darauf ankommt,
viel Masse und wenig Fläche zu haben. Für
andere Körper ist F : M größer und zwar um so
mehr, je mehr einzelne Teile vorspringen. Bei
allen möglichen Gestalten aber ist F : M propor-
allein schon durch ihre Größe günstiger gestellt,
wenn es darauf ankommt viel Masse mit wenig
Oberfläche zu vereinen; im umgekehrten Falle
sind natürlich kleinere Körper begünstigt.
Ich wende mich nun zu den konkreten Fällen.
Der Wärme vor rat eines Organismus, d. h.
die Anzahl von Kalorien, die er abgeben kann,
ist seiner Masse proportional; auch die Möglich-
keit, durch physiologische Vorgänge Wärme zu
erzeugen, hängt von der Masse ab. Dagegen der
Wärme Verlust, den ein Körper (durch Leitung^
Strahlung oder Konvektion) erleidet, wenn er in
eine kältere Umgebung versetzt wird, ist eine
Funktion seiner Oberfläche und nimmt mit
dieser zu und ab. Daraus folgt, daß ein kleiner
Körper sich rascher abkühlen muß als ein großer,
oder, genauer gesprochen, wenn 2 geometrisch
ähnliche Körper von gleichem Material und
gleicher Temperatur gleichzeitig in eine kältere
Umgebung versetzt werden, so nimmt die Tempe-
ratur des kleineren rascher ab. Da nun die Masse
durch L^ und die Oberfläche durch L'^ gemessen
wird, so ist die Möglichkeit, eine höhere Tempe-
ratur zu bewahren, proportional L.
Für die Lebewelt folgt daraus, daß warm-
blütige Tiere nur von einer gewissen Körpergröße
an aufwärts lebensfähig sind. Die Warmblüter
oder besser Idiothermen bedürfen natürlich immer
eines besonderen Aufwandes, um ihre höhere
Temperatur in einer kälteren Umgebung zu be-
wahren. In den meisten Fällen genügt offenbar
das Haar- oder Federkleid. Diese schützende
Hülle wirkt nicht nur durch ihre eigene ge-
ringe Leitfähigkeit, sondern wohl vor allem
durch ihre Struktur, indem die geringe Leitfähig-
keit der Luft zuhilfe genommen wird. Andere
Einrichtungen zum Schutze der Eigenwärme seien
nur durch die folgenden Stichworte in die Erinne-
rung zurückgerufen: Fettschicht, Schlupfwinkel,
Winterschlaf
Alle diese Mittel würden aber bei einem zu
kleinen Tier nicht mehr ausreichen und die Vor-
stellung eines Warmblüters von der Größe eines
kleinen Käfers ist absurd, weil die geringe Körper-
masse nicht so viel Wärme erzeugen könnte, wie
durch die große Oberfläche auch bei gutem Wärme-
schutz verloren gehen müßte. Nur in nahezu
gleich temperierter Umgebung könnte ein solches
Geschöpf lebensfähig sein, aber dann verdiene es
nicht mehr die Bezeichnung Idio therm.
In der gegenwärtigen Tierwelt sind die klein-
sten Warmblüter zu finden unter den Vögeln, In-
sektenfressern und Nagetieren. Bei den Vögeln
wird die Wärmeabgabe durch das Federkleid sehr
vermindert und die Leistung dieses Wärmeschutzes
erscheint noch bedeutender, wenn man bedenkt,
wie schwer es gerade für einen kleinen Körper
ist, seine Wärme zusammenzuhalten. Unsere AUer-
kleinsten, Goldhähnchen, Tannenmeise und andere,
die im Winter bei uns aushalten, werden wohl
auch durch reichliche Nahrung in ihrem Kampfe
gegen die Kälte unterstützt: Ihren Kletterkünsten
und ihren spitzen Schnäbeln sind ja alle Schlupf-
winkel der Insekten und ihrer Brut zugänglich.
Wollen die Vögel schlafen, so stecken sie be-
kanntlich den Kopf unter einen Flügel und hocken
nieder, so daß auch die F"üße mit in das Feder-
kleid eingeschlossen werden. Die ganze Gestalt
nähert sich dann der Kugelform und erreicht
damit das Optimum für den Wärmeschutz, weil
N. F. XVI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
483
jetzt die Oberfläche im Vergleich zur gegebenen
Masse so klein wie möglich ist. Diese Steigerung
des Wärmeschutzes ist nötig, weil im Schlaf die
Wärmeproduktion vermindert wird. Das Bestreben,
sich während des Schlafes noch besonders gegen
Wärmeverluste zu schützen, zeigen alle Warm-
blüter, und gerade das Zusammenkauern des Kör-
pers, wodurch die Oberfläche vermindert wird,
ist ein gewöhnliches Mittel, das ja auch der
Mensch instinktiv anwendet, wenn ihn friert.
Ebenso ist das Aneinanderschmiegen mehrerer zu
verstehen. Die Tiere wollen sich nicht gegen-
seitig wärmen, wie man wohl sagt, denn sie sind
ja gleich warm, sondern sie wollen an Oberfläche
sparen.
Die Vögel haben, so viel ich weiß, den klein-
sten Warmblüter in ihren Reihen, nämlich den
Zwergkolibri (Trochilus minimus), dieser lebt
auf Haiti und Jamaika und wird nur 2 g schwer.
Die andere Gruppe der ganz Kleinen, die
Mäuse und Spitzmäuse, wahren sich vor Ab-
kühlung dadurch, daß sie in Gängen, Höhlen oder
Nestern Unterschlupf suchen, d. h. physikalisch,
sie begeben sich in eine schlecht leitende Um-
gebung von verhältnismäßig günstiger Temperatur.
Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht zuerst
und in höherem Grade andere Gründe diese Tiere
bestimmt haben, etwa unterirdische Gänge zu
graben, aber jedenfalls ist der Wärmeschutz, den
nun ein solcher Gang gewährt, von Bedeutung
für ihre Ökonomie und ermöglicht ihnen den
Aufenthalt in den sog. gemäßigten Zonen mit
ihren starken Temperaturextremen.
Die bekannten Nager im arktischen Gebiet
und im Hochgebirge, Lemming und Murmeltier,
sind übrigens recht große Vertreter ihres Ge-
schlechtes; trotzdem müssen diese Tiere erheb-
lichen Aufwand machen, um im Winter nicht zu
erfrieren; auch in den Hochregionen der Anden
sind die Nager durch große Typen, Viscacha
und Chinchilla vertreten. Überhaupt, wenn man
die Warmblüter aus der Umgebung der Pole und
den höchsten Gebirgsgegenden mustert, so trifft
man lauter große Tiere, und ich bin geneigt,
hierin die Wirkung einer Auslese durch die Kälte
zu erblicken. Allerdings weiß ich nicht sicher,
ob da nicht auch kleinere Warmblüter leben,
denn auf negative Fragen ist nicht leicht eine
sichere Antwort zu bekommen. Von einigen
Spitzmäusen wird angegeben „bis zu 2000 m";^)
aber da diese Tiere keinen Winterschlaf halten,
so handelt es sich wohl nur um sommerliche Ex-
kursionen.
Bei den peukilotropen Tieren, d. h. denjenigen,
deren Temperatur sich nach der Umgebung richtet,
gibt es weder eine obere noch eine untere Grenze
fiir die Größe. Aber je kleiner diese Tiere sind,
desto rascher müssen sie die Temperatur ihrer
Umgebung annehmen und desto vollständiger
müssen sie daher alle Schwankungen mitmachen.
') Martin, Naturgesch. 1, 161
Ihr Leben wird um so intensiver, je näher die
Temperatur der Umgebung ihrem eigenen Opti-
mum kommt. Jeder hat wohl schon beobachtet,
wie sehr das Leben in einem Ameisenhaufen von
der Sonne abhängt, so sehr, daß man den ganzen
Staat als eine kalorische Maschine bezeichnet hat.
Träge und steifbeinig kriechen die Tiere unter
den ersten Strahlen der Morgensonne einher und
in rasender Geschäftigkeit wirbeln sie unter der
Mittagsglut durcheinander. Dazwischen gibt es
alle Übergänge und jede Wolke, die vor die Sonne
zieht, bewirkt eine Dämpfung.
Diese strenge Abhängigkeit ist ein Ausdruck
dafür, daß so kleine Körper wegen der Größe
des Verhältnisses F:M alle Schwankungen der
Außentemperatur mitmachen müssen. Dagegen
werden große Peukilothermen die Temperatur
ihrer Umgebung entsprechend langsamer an-
nehmen. Die größten F'ormen, Krokodile, Riesen-
schlangen und die großen Schildkröten, leben
übrigens in Gegenden, deren Temperatur sich
von einem verhältnismäßig hohen Stande weder
rasch noch weit entfernt.
Der Umstand, daß F : M proportional L ' ist,
hat also zur Folge, daß Tiere sich um so weniger
vor Abkühlung schützen können, je kleiner sie
sind ; gerade ebenso steht es mit dem Austrocknen.
Die folgende Betrachtung gilt aber auch für
Pflanzen.
Der Wasser Vorrat eines Organismus ist näm-
lich seinem Volum en proportional, der Wasser-
verlust durch Verdunstung dagegen seiner O b e r -
fläche. Nun brauchen alle Lebewesen zu mani-
festem Leben viel Wasser, und wenn es ihnen
daran fehlt, gehen sie entweder zugrunde oder
treten in den Zustand des latenten Lebens über,
aus dem sie durch Wasserzufuhr wieder erweckt
werden können. Kleine Wesen sind also auf
dauernde Versorgung mit Wasser um so mehr
angewiesen, je kleiner sie sind, weil in demselben
Maße F : M zunimmt.
Daraus erklärt sich die biologische Tatsache,
daß die kleinsten Vertreter des Tier- und Pflanzen-
reiches zumeist im Wasser leben, viele auch auf
feuchten Substraten und manche in einer fast
immer gesättigten Atmosphäre. Als Beispiele
seien genannt die Bakterien, Diatomeen und Pro-
tozoen oder die Tiergesellschaft in feuchten
Moospolstern und die mancherlei Epiphyllen tro-
pischer Laubblätter. Alle diese unzähligen Wesen
können nur leben, solange die Feuchtigkeit der
Umgebung dazu ausreicht. Für den Fall der Aus-
trocknung bieten sich ihnen zwei Möglichkeiten
zur Erhaltung. Entweder sie haben die Fähig-
keit, in ausgetrocknetem Zustande ein latente-
Leben zu führen oder sie gehen zwar selbst zu,
gründe, sorgen aber vorher lür Erhaltung der Art
indem sie z. B. Sporen oder Eier ausbilden, welche
die Austrocknung vertragen können. Als Beispiele
für den ersten Modus können die Protozoen dienen,
welche sich zwar encystieren, aber wegen ihrer
Kleinheit schließlich doch austrocknen müssen.
484
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 35
Für den zweiten Weg seien als Beispiele genannt
die merkwürdigen Phyllopoden, welche zuweilen
in Tümpeln massenhaft erscheinen, wieder ver-
schwinden und manchmal nach Jahren aus Dauer-
eiern zu neuem Leben erwachen.
Während bisher die Abhängigkeit des Verhält-
nisses F:M von L für die Kleinen ungünstig war,
ist es in den folgenden beiden Fällen umgekehrt.
Das Verhältnis F : M ist nämlich auch von ent-
scheidender Bedeutung beim Fliegen oder, genauer
gesagt, beim Schweben.
Alle Körper fallen zwar gleich schnell, aber
nur im leeren Raum. In der Luft und im Wasser
wird die Geschwindigkeit des Falls durch den
Widerstand dieser Medien gehemmt, und zwar
um so mehr, je größer die Oberfläche des fallenden
Körpers im Vergleich zu seiner Masse ist. Die
Beschleunigung durch die Erdanziehung wirkt
eben auf die Masse, die Hemmung durch das
Medium dagegen wirkt auf die Oberfläche. Wenn
F : M sehr groß ist, so kann infolgedessen die
Fallgeschwindigkeit unmerklich klein werden. Ein
solches Fallen mit sehr verminderter Geschwindig-
keit soll hier als Schweben bezeichnet werden.
Zum Schweben sind alle Körper befähigt, auch
die von hohem spezifischen Gewicht, wenn nur
bei ihnen F : M groß genug ist. Beispiele sind
allgegenwärtig. Die Sonnenstäubchen in der Luft
sind ganz verschiedener Herkunft, auch kleine
Gesteinssplitter sind unter ihnen. Deren spezi-
fisches Gewicht ist ungefähr 2000 mal so groß
wie das der Luft. Alle schweben, nicht weil sie
leicht, sondern weil sie klein genug sind. Oder,
wenn man Ton in Wasser durch Umschütteln
suspendiert und dann das Wasser ruhig stehen
läßt, so sinken bekanntlich die größten Partikel
zuerst zu Boden und die kleineren folgen um so
langsamer, je kleiner sie sind. Man erhält ein
Sediment, in dem die Teilchen der Größe nach
geordnet sind.
Etwas anderes ist das Schweben eines Frei-
ballons in der Luft oder eines Fisches im Wasser.
Diese Körper sinken nicht, solange ihr spezifisches
Gewicht gleich dem ihrer Umgebung ist; sie
schweben auf Grund des A rchimedes'schen
Prinzips.
Hier ist nur die Rede vom Schweben auf
Grund der Oberflächenwirkung. Natürlich wird
dieses Schweben im eigentlichen Sinne begünstigt,
wenn das spezifische Gewicht über das des Me-
diums nicht weit hinausgeht. Für die Lebewelt
folgt daraus, daß ein Organismus um so leichter
schwebt, je kleiner er ist. Bei den kleinsten
Körpern ist das spezifische Gewicht nicht mehr
entscheidend.
Durchmustern wir nun von diesem Gesichts-
punkt aus die Flieger des Tier- und Pflanzen-
reiches. Für die vollkommensten P^lieger gelten
die Vögel, weil bei ihnen die Anpassung an das
Fliegen den höchsten Grad erreicht hat. Die be-
sonderen Einrichtungen, wie die Verringerung des
spezifischen Gewichtes, die spindelförmige Ge-
stalt u. a. sind hier nicht zu besprechen, sondern
nur die Frage, wie das Flugvermögen mit der
Größe zusammenhängt. Auf den ersten Blick
möchte man sagen , es gibt geschickte Flieger
unter den großen und den kleinen. Das ist
richtig. Unter Fliegen versteht man nämlich die
Gesamtheit der Leistungen, welche zur Fort-
bewegung in der Luft dienen, und natürlich
hängen Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit allein
von der Ausbildung des Flugapparates ab. Da-
gegen die Leichtigkeit des Fluges, — d. h.
das Verhältnis der Arbeit, welche auf das Schweben
verwandt werden muß, zu der Arbeit, welche der
Fortbewegung dient — hängt ab von F : M und
vom spezifischen Gewicht. Die Verminderung des
spezifischen Gewichtes, welche durch besondere
Einrichtungen des Organismus erzielt wird, ist
großen und kleinen Vögeln in gleichem Maße
möglich; dagegen die Begünstigung durch den
Umstand, daß F" : M mit abnehmender Größe zu-
nimmt, haben die kleinen vor den großen voraus.
Bei genauerem Hinsehen ergeben sich nun
auch schon bei den Vögeln Tatsachen, die be-
stätigen, daß die Größe des Quotienten F : M für
das Flugvermögen von Bedeutung ist. Hier nur
ein Beispiel. Es sind bekanntlich gerade die
größten Vögel, welche das Fliegen aufgegeben
haben. Bei ihnen war der größte Kraftaufwand
nötig und daher auch die Versuchung zu ver-
zichten am größten. Solche Riesengestalten wie
.^epyornis, Strauß, Kasuar, Emu, Nandu u. a. haben
wohl nie fliegen können, sondern Vorfahren von
ihnen, die kleiner waren, haben unter günstigen
Verhältnissen das Fliegen aufgegeben und die
Nachkommen konnten dann zu solchen Riesen
heranwachsen. Was für günstige Verhältnisse das
waren, läßt der Zustand der Neuseeländischen
Tierwelt erraten, bevor der Mensch eingegriffen
hat. Dort gab oder gibt es auch kleinere Vögel,
die offenbar schon lange nicht mehr geflogen
sind, denn ihr Flugapparat ist aufs äußerste redu-
ziert (Stringops, Kiwi). Sie konnten auf das
Fliegen verzichten, weil keine Raubtiere da waren,
die ihnen nachstellten.
Das große Heer der Flieger gehört dem
Stamme der Insekten an. Je kleiner die sind,
desto leichter haben sie das P'liegen. Die zier-
lichen Reigen der Mücken und die unermüdlichen
Tänze der Homalomyien werden off'enbar mit
ganz geringem Kraftaufwand ausgeführt. Aber
wie wenig Masse hat auch eine Mücke und wie-
viel Fläche im Vergleich dazu ; auch die kamm-
artigen Fühler und die 6 langen Beine helfen die
Fläche vermehren. Noch kleinere Wesen brauchen
dann gar keine Flügel mehr. Die Spinnen, die
den Altweibersommer machen, fliegen sozusagen
allein mit Hilfe der Oberfläche. Dabei muß ihnen
freilich der Wind helfen, aber nur zum Fort-
kommen, nicht zum Schweben. Vergleicht man
nun die Extreme unter den guten Fliegern, etwa
eine Möwe und eine Libelle, so wird man wohl
zugeben können, daß der Flugapparat der Möwe
N. F. XVI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
485
auf einer höheren Stufe steht. Ja, man könnte
sich darüber wundern, daß eine Libelle über-
haupt fliegen kann, wo ihr doch nur 4 elastische
Platten zur Verfügung stehen ohne alle die be-
wundernswerten technischen Einrichtungen des
Vogelflügels. Auch die Flügel der Schmetter-
linge und Käfer erscheinen unvollkommen im
Vergleich zum Vogelflügel und sie sind es auch
gewiß, denn ein kleines Tier braucht eben weniger
Aufwand zum Fliegen als ein großes, weil ihm
seine größere Oberfläche hilft, und deswegen wird
es auch weniger Aufwand machen.
Das Schweben im engeren Sinne ist eine
Eigentümlichkeit der zahlreichen Lebewesen,
welche zusammen das Plankton des Wassers
bilden. Zum Plankton gehören Tiere und Pflanzen
verschiedener systematischer Stellung, aber nur
kleine Organismen. Als Beispiel seien die Radio-
larien genannt. Man weiß, daß sie in abgestor-
benem Zustande auf den Meeresboden hinab-
sinken und da durch ihre Menge gesteinsbildend
wirken können. Sie sind also spezifisch schwerer
als Wasser. Man weiß andererseits, daß sie bei
gutem Wetter an der Oberfläche des Meeres
schwimmen und bei stürmischem Wetter wieder
in größere Tiefen hinabgehen. Sie müssen also
die Fähigkeit zum Steigen besitzen. Die Mittel,
mit deren Hilfe sie aufsteigen, sind nicht bekannt,
dagegen finden sich häufig und in mannigfacher
Ausbildung Einrichtungen, durch welche die Ober-
fläche des Körpers vergrößert wird. Die schönen,
mit langen Strahlen versehenen Skelette mancher
Radiolarien sind ja oft abgebildet worden, auch die
Pseudopodien helfen die Oberfläche vergrößern.
Die zierlichen Strahlen der Skelette sind meist als
Schwebevorrichtung gedeutet worden. Mit dem
Schweben der Radiolarien steht es demnach so:
das spezifisch schwere Tier sinkt sehr langsam,
erstens, weil es klein ist, und deshalb F : M einen
großen Wert hat, zweitens weil die Skelett-
strahlen und Pseudopodien den Widerstand des
Wassers noch vermehren. Aufsteigen dagegen
können sie nur aktiv mit Hilfe noch unbekannter
Mittel. Beim Aufsteigen sind die Einrichtungen,
welche das Sinken verlangsamen, zwar hinderlich,
aber in geringem Grade, da es sich nur um ganz
langsame Bewegung handelt.
Den höchsten Grad der Ausbildung erreicht
die Oberflächenvergrößerung bei pelagischen
Krebsen. Eine Vorstellung davon kann nur durch
Anschauung gewonnen werden; ich nenne des-
halb die Farbentafel „Pelagische Ruderkrebse" bei
C. Keller: Das Leben des Meeres. Es ist kein
Zweifel, daß die federähnlichen Anhängsel, welche
bei extremen F"ormen die eigentliche Körper-
oberfläche an Ausdehnung weit übertreffen, zum
Schweben dienen.
Auch im Pflanzenreich ist das Fliegen von
Bedeutung, und zwar zur Verbreitung des Pollens bei
Windblütlern und zur Samenverbreitung. Der
Blütenstaub, der von unberechenbar kleiner Masse
ist, braucht keine komplizierte Organisation zum
Fliegen und es ist schon ein extremer Fall, daß
z. B. die Kiefer Luftsäcke am Pollenkorn hat,
welche die Oberfläche vergrößern und das
Schweben begünstigen. Ebenso sind die Sporen
vieler Kryptogamen staubfein und bedürfen keiner
besonderen Schwebeeinrichtung. In vielen Fällen
sind sie kugelförmig oder eiförmig und können
sogar bei dieser ungünstigsten Form noch auf
genügende Verbreitung rechnen. Ebenso ist es
mit dem Samen der Orchideen, deren Gewicht
z. B. für Stanhopea oculata von Kerner zu
0,000003 g angegeben wird.
Schwerere Samen, wie z. B. die des Löwen-
zahns und anderer Kompositen haben schon be-
sondere Schwebevorrichtungen, die nach Art eines
Fallschirmes wirken. Sie sind so konstruiert, daß
F : M möglichst groß ist. Größere Samen sind
nicht mit Schwebeeinrichtungen versehen oder
doch nur mit solchen, die bewirken, daß sie
nicht senkrecht herabfallen, denn da es sich bei
Samen nur um ein Schweben mit passiver Fort-
bewegung handelt, so müßte ein großer Same
eine sehr bedeutende Oberflächenvergrößerung
vornehmen, um schwebfähig zu sein, und würde
damit die Grenze einer technisch brauchbaren
Konstruktion überschreiten. Die Natur hat andere
Mittel, für die Verbreitung größerer Samen zu
sorgen.
Hierher gehört auch eine Bemerkung über die
Wirkung des Windes auf die Organismen. Die
Kraft, welche der Wind ausüben kann, ist pro-
portional der Oberfläche, die sich ihm darbietet;
die Beschleunigung, die er irgendeinem Körper
erteilen kann, ist aber um so kleiner, je mehr
Masse der Körper hat. Die Wirkung des Windes
ist also dem Verhältnis zu F : M proportional.
Die Organismen sind demnach gegen den Wind
um so hilfloser, je größer bei ihnen F : M ist.
Diese Abhängigkeit vom Winde ist einerseits eine
Gefahr, andererseit gibt sie die Möglichkeit der
Verbreitung. Für beides sind zahlreiche Beispiele
leicht aufzufinden.
Hier soll die Wirkung des Windes nicht weiter
besprochen werden, weil dabei ein Faktor ent-
scheidend ist, der nicht in der Organisation der
Lebewesen begründet und auch nicht rein physi-
kalisch ist, nämlich die durchschnittliche Wind-
stärke der einzelnen Gegenden und die Intensität
der Maxima. Diese tatsächliche Windstärke ist
entscheidend dafür, bis zu welcher Größenstufe
die Organismen dem Winde unterworfen sind.
Schließlich ist hier noch eine ganz spezielle
Leistung mancher Tiere zu besprechen, die auch
vom Verhältnis F : M abhängt, nämlich das Klettern
mit Hilfe des Lufdrucks.
Als normalen Luftdruck in Meereshöhe be-
zeichnet man den Druck einer 760 mm hohen
Quecksilbersäule. Das bedeutet, auf absolutes
Maß umgerechnet, für jeden qcm einen Druck
von etwa i kg. Infolge der atmosphärischen Vor-
gänge schwankt dieser Druck fortwährend. Mit
steigender Erhebung über dem Meere nimmt er
486
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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jedenfalls ab. Denkt man sich nun an eine horizontale
Fläche von unten eine hohle Halbkugel angelegt,
und nimmt an, daß ihr Inneres luftleer gemacht
wird, so wirkt der Luftdruck nur von außen und
die einzelnen Druckkomponenten, die überall senk-
recht zur Fläche gerichtet sind, setzen sich zu
einer Resultante zusammen vom Betrage F-p,
wenn F die vom Rande der Halbkugel um-
schlossene Fläche und p den herrschenden Luft-
druck bedeutet. Die Halbkugel wird haften, selbst
wenn sie mit Gewichten beschwert ist, solange
ihr Gewicht insgesamt kleiner als F-p ist und
solange die Ränder luftdicht anschließen. In dem
Maße wie etwas Luft in das Innere dringt, wird
die Tragfähigkeit vermindert und zwar um den
Druck der eingedrungenen Luft.
Tiere können diese physikalische Tatsache
zum Klettern benutzen, wenn sie die Fähigkeit
haben , unter ihren Füßen einen luftverdünnten
Raum herzustellen und eine Weile zu erhalten.
Es ist bekannt, daß Fliegen, Egel und Eidechsen
so klettern und sogar imstande sind, an horizon-
talen Flächen unten hinzulaufen. Diese Fähigkeit
hat zwei praktische Grenzen.
I. Die Tragfähigkeit wächst mit der Größe
der Berührungsfläche und diese kann in erster
Annäherung der Oberfläche des Körpers propor-
tional gesetzt werden. Die vom Luftdrucksunter-
schied zu tragende Last dagegen wächst mit dem
Gewicht, d. h. proportional L'\ das Klettern mit
Hilfe des Luftdruckes ist also nur für kleine
\\'esen praktisch und in Wirklichkeit ja auch auf
diese beschränkt. Die größten „Luftdruckkletterer"
sind die Geckonen; die in Südeuropa vorkommende
Art (Platydactylus facetanus Aldrov.) erreicht
l6 cm Länge.
2. Die Abdichtung eines luftverdünnten Raumes
ist immer schwierig und hält jedenfalls nicht lange
vor. Die Möglichkeit, daß Luft eindringt, wächst
nun mit der Länge der Randlinie, also propor-
tional L, während der äußere Druck gleich F-p,
d. h. proportional L'- war. Die Sicherheit des
Haltens wird also begünstigt durch L'- und be-
einträchtigt durch L, d. h. sie ist proportional L.
Je kleiner also die Haftscheibe, desto geringer
wird ihre Zuverlässigkeit, und so ergibt sich für
diese Form des Kletterns aus der oberen auch
eine untere Grenze. Es ist mir allerdings nicht
bekannt, welches von den Tieren, die mit Hilfe
des Luftdrucks klettern, am kleinsten ist.
(Schluß folgt.)
Abschätzeu vou größeren Eutferiiuugeu unter Berücksichtigung der Luftperspektive.
[Nachdruck verboten.) Von Max Frank.
Das richtige Abschätzen von Entfernungen
spielt jetzt im Kriege eine besonders wichtige
Rolle, aber auch im Frieden hat der Soldat, der
Jäger, der Wanderer und manch anderer große
Vorteile, wenn er es versteht, sich über Ent-
fernungen ein durch Abschätzen genügend sicheres
Urteil zu bilden.
Die Natur bietet uns nun dazu verschiedene
Hilfsmittel, die man nur richtig anwenden muß.
Zunächst erscheint ein Gegenstand in unserem
Gesichtsfelde um so kleiner, je entfernter er ist.
Kennen wir also die Größe, so haben wir damit
auch einen genauen Anhaltspunkt für die Ent-
fernung. Auf dieser allbekannten Erscheinung
beruhen auch die einfacheren Entfernungsmesser,
bei denen die scheinbare Größe eines Menschen
als Maßstab benutzt wird.
Ist jedoch die Größe des geschauten Gegen-
standes nicht bekannt, so können wir die
Perspektive, so nennen wir das scheinbare
Kleinerwerden mit zunehmender Entfernung, nicht
zum Abschätzen des Abstandes benutzen. Bei
kleineren Entfernungen dient uns nun dabei eine
andere Erscheinung, nämlich das stereoskopische,
körperliche Sehen. Jedes unserer Augen erhält
ein anderes Bild, indem die vorderen Gegenstände
gegenüber den hinteren eine etwas andere Lage
im Gesichtsfelde einnehmen, weil die beiden
Augen etwa ö'/o cm (im Durchschnitt) von-
einander entfernt sind. Das Maß der Ver-
schiedenheit der beiden von unseren Augen
empfangenen Bilder gibt uns, ohne daß man sich
im allgemeinen dessen bewußt ist, die Möglich-
keit, die Entfernung der verschiedenen Gegen-
stände abzuschätzen.
Auch diese Erscheinung wird zu mechanischen
Entfernungsmessern ausgenützt, die im Kriege
von großer Bedeutung sind. Bei diesen optischen
Instrumenten werden die beiden verschiedenen
Bilder durch eine geeignete Einrichtung einander
angepaßt, wobei sich dann ohne weiteres die
jeweilige Entfernung ablesen läßt. — Da der Ab-
stand der Augen nur gering ist, so hört auch in
einer gewissen Entfernung die Verschiedenheit
der beiden erhaltenen Bilder auf, so daß das
stereoskopische Sehen, die „Tiefenwahrnehmung
im freien Sehen", wie der fachmännische Aus-
druck lautet, über eine Entfernung von 400 — 500 m
hinaus praktisch aufhört. Bei den erwähnten
optischen Entfernungsmessern ist jedoch der
Abstand der beiden Bilder, die stereoskopische
Basis, künstlich erweitert, so daß sie auch für
größere Entfernungen Anwendung finden können.
Für das freie Sehen kommt aber bei noch
größerer Entfernung als 400 — 500 m die sogenannte
Luftperspektive als Hilfsmittel zum Abschätzen
von Entfernungen in Betracht. Es ist dies eine
sehr interessante Erscheinung, die zwar schon
jeder oftmals gesehen hat, deren Ursachen jedoch
den meisten unbekannt sind und deren bewußte
Nutzanwendung nur selten stattfindet.
Durchsichtige Körper lassen von durch-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
487
scheinendem weißem Licht, das aus einer Reihe
farbiger Lichtstrahlen zusammengesetzt ist, nicht
immer alle seine Bestandteile gleichzeitig durch,
sondern verschlucken (absorbieren) sie teilweise.
Die Summe (optische Addition) der restlichen
Lichtstrahlen bestimmt dann die P'arbe, in der
uns die durchsichtige Substanz in der Durchsicht
erscheint. Vielfach lassen solche durchsichtige
oder durchscheinende Stoffe einen Teil des sie
treffenden Lichtes gar nicht erst herein, sondern
werfen ihn bereits an der Oberfläche zurück,
reflektieren ihn. Wird von allen Bestandteilen
des auffallenden Lichtes ein verhältnismäßig
gleicher Anteil reflektiert, so hat das reflektierte
Licht die gleiche I-'arbe wie das auffallende, die
Substanz erscheint in der Aufsicht in der Farbe
des auffallenden Lichtes. Reflektiert jedoch der
betreffende Stoff von den einzelnen Teilen des
auffallenden Lichtes verschieden viel, so weicht
die Aufsichtsfarbe von der P^arbe des auffallenden
Lichtes ab. Auf diesen beiden Grundzügen in
Verbindung mit der Einrichtung unseres Auges
bauen sich die gesamten Farbenerscheinungen in
der Natur auf.
Da nun aber vielfach ein und derselbe Stoff
von dem durchscheinenden Licht einen anderen
Teil hindurch läßt als von dem auffallenden re-
flektiert, so braucht Durchsichtsfarbe und Auf-
sichtsfarbe eines Stoffes nicht die gleiche zu sein.
Das ist unter anderem auch bei der mehr
oder weniger stark mit Wasser- und Staubteilchen
angefüllten Atmosphäre der Fall. Diese läßt
hauptsächlich gelbes und rotes Licht durch, re-
flektiert dagegen vor allem blaues Licht. Darauf
beruhen in der Natur zwei Erscheinungen. Von
dem weißen Sonnenlicht gelangen in den Morgen-
und Abendstunden, bei Sonnenaufgang und
-Untergang hauptsächlich nur die gelben und roten
Strahlen zu uns, weil das Licht bei dem niedrigen
Sonnenstande eine sehr lange Strecke durch die
die Erde umgebende Atmosphäre gehen muß.
Auch bei höherem Stande leuchtet die Sonne in
gelblicher Farbe, wenn sie durch eine Nebel-
schicht scheint. Ähnliche Beobachtungen können
wir bei künstlichen Lichtquellen machen.
Sehen wir uns dagegen eine Dunst- oder
Nebelschicht an, auf welche die Sonne scheint,
so werden wir deutlich die bläuliche Färbung
der Atmosphäre wahrnehmen. Ist die Dunst-
oder Nebelschicht nicht völlig undurchlässig,
sondern läßt sie auch die dahinterbefindliche
Natur erkennen, so werden deren Farben durch
den bläulichen Dunstschleier gesehen und erleiden
dadurch in ihrer Wirkung eine wesentliche Ver-
änderung, eine um so stärkere, je dunstiger die
Luft und je ausgedehnter die zwischen uns und
der geschauten Natur befindliche Luftschicht ist.
Diese Wirkung der Farben setzt sich also aus
den Eigenfarben der Natur und der Farbe der
Luft zusammen. Sehen wir uns nun die Einzel-
heiten genau an, so werden wir sehr interessante
Feststellungen machen. Am besten wählen wir
uns dazu an einem sonnigen, nicht allzu klaren
Tage einen Platz aus, von dem wir, die Sonne
im Rücken, vor uns eine schöne Fernsicht auf
eine Reihe hintereinanderliegender Bergketten
haben.
Den erwähnten Luftschleier, den bläulichen
Dunst, werden wir zuerst bei den Schatten sehen,
bei denen schon in verhältnismäßig geringer Ent-
fernung nach und nach alle Farben immer mehr
einer gemeinsamen dunkelblaugrauen Färbung
hinneigen. An den besonnten Teilen zeigt sich
die Wirkung erst in größerer Entfernung. Während
die Schatten schon keine Einzelheiten mehr in
den Farben erkennen lassen, geben die besonnten
Stellen der Natur die Unterschiede der Farben
noch deutlich wieder. Aber auch hier findet in
einer gewissen Entfernung eine Farbenveränderung
statt, indem alles immer mehr einen gemeinsamen
hellgraublauen Ton annimmt, so daß wir schließ-
lich nur mehr dunkelgraublaue Schatten und
hellgraublaue besonnte Stellen ohne Farben-
einzelheiten sehen. Aber auch diese Unterschiede
hören allmählich immer mehr auf. Licht und
Schatten nähern sich einem mittleren Tone, der
bläulichen Ferne, die zuletzt allmählich heller
werdend auch mit der Färbung des Himmels zu
eins verschmilzt.
Die reflektierende Wirkung der Atmosphäre
zeigt sich also in ihrer Wirkung in den ver-
schiedenen Entfernungen verschieden stark. Durch
diese Verschiedenheit können wir ganz deutlich
zwei hintereinander liegende, durch ein Tal ge-
trennte Berge unterscheiden, können auch Schlüsse
auf die ungefähre Entfernung der einzelnen Berge
und auf die Breite der dazwischenliegenden Täler
ziehen, können ferner, weil wir eben die unge-
fähre Entfernung kennen, uns ein Urteil über die
Höhe und Größe der Berge usw. bilden.
Diese Luftperspektive oder Farbenperspektive
ist daher dem geübten Beobachter ein richtiges
Hilfsmittel zum Abschätzen von Entfernungen,
auch bei ebenem Gelände. Da der Feuchtigkeits-
und Staubgehalt der Luft je nach der Whterung
stark schwankt, so zeigt sich zu den verschiedenen
Zeiten oft die Wirkung der Luftperspektive ver-
schieden. Dadurch wird manch einer, der die
Natur nur oberflächlich kennt, hinsichtlich der
Entfernungen und der Höhe von Bergen usw.
irregeführt, nicht aber der, welcher mit Bewußt-
sein die Luftperspektive sich dienstbar macht,
denn dieser erkennt schon an der Wirkung ihm
bekannter geringer Entfernungen, wie stark sich
gerade zurzeit die Luftperspektive äußert und
paßt danach sein Urteil an.
So hat denn auch hier der aufmerksame
Naturbeobachter manchen Nutzen voraus, der oft
zur Geltung kommt. (GX^)
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 35
Einzelberichte.
Zoologie. Der Spieg^elfleck am Vog^elköpfchen.
Dr. Hans Stübler in Bautzen gelang eine zu-
fällige Beobachtung, die er wahrscheinlich richtig
auswertet, ') und der eine ziemlich weitreichende
Bedeutung für die Erklärung gewisser Eigentüm-
lichkeiten in der Gefiederfärbung der Vögel, ins-
besondere auch unserer einheimischen, zukommen
dürfte. An einem glatten VVäschepfahl kletterte
eine Kohlmeise, die Zehen in einen Längsriß ein-
klemmend, in dessen tiefer, dunkler Spalte sie
offenbar nach Nahrung äugte. Dabei war jede
Bewegung des kleinen Meisenkopfes von der eines
etwa pfenniggroßen, gleich dem Vogel auf- und
niederhuschenden Lichtfleckes an dem Holz be-
gleitet, der namentlich dadurch, daß sich der ganze
Vorgang an der beschatteten Seite des Pfahles
abspielte, gut sichtbar wurde: es war der Wider-
schein des weißgefiederten Fleckes am Auge der
Kohlmeise. Damit wurde auf einmal klar, was
dieser weiße Fleck am Vogelköpfchen für eine
Bedeutung habe: er leistet bei der Nahrungssuche
den Dienst eines lichlwerfenden Spiegels. Auch
bei der Blaumeise und anderen Meisenarten, bemerkt
Stübler, kehrt dieser „Spiegelfleck", wie
man ihn füglich nennen kann, wieder, weiß ist
auch die Umgebung des Auges bei unseren Bunt-
spechten und bei der weißen Bachstelze. F"erner
erinnert Stübler daran, daß das Köpfchen des
Stieglitzes zur Hälfte mit spiegelndem Weiß, zur
Hälfte mit dämpfendemRot gefärbt ist. Dämpfende,
dunkle Befiederung rings ums Auge mag nament-
lich solchen Vögeln zu gute kommen, die ihre
Nahrung im grellen Sonnenlichte suchen müssen,
so das Schwarz am Köpfchen unserer Schwalben,
des Wiesenschmätzers, am Auge des rotrückigen
und rotköpfigen Würgers, das Rot am Buchfinken-
kopf. An einer ausgestopften Kohlmeise gelang
zwar nicht der Versuch, jenen Lichtreflex hervor-
zurufen, weil das blendende Weiß ihres Spiegel-
flecks nicht erhalten bleibt. Dagegen machte sich
Stübler am eigenen Auge einen „Spiegelfleck"
aus Papier, der bei Leseversuchen in einem gegen
das helle Fenster gehaltenen Buche forthalf, und
das sonderbare eigene Aussehen des Beobachters
in solcher Ausrüstung brachte ihn auf die Ver-
mutung, daß auch die Federkränze um das Eulen-
auge einen ähnlichen Dienst leisten mögen. Man
wird gewiß nicht fehl gehen, wenn man auch in
anderen Tierklassen nach derartigen Einrichtungen
suchen wird. Jedenfalls macht man sich klar, daß
auch nicht der kleinste Zug in der Gefiederfärbung
eines Vogels eines bestimmten Zweckes entbehrt.
V. Franz.
Über das Gewicht lebender Vogeleier stellte
der als Ornithologe bekarmte Pfarrer^WTS ch u s t e r
(Heilbronn) die ersten Untersuchungen an. -) Seine
') Ornilhol. Monatschrift, Junihcft 1917.
■') Zoologischer Anzeiger, Bd. XLVIII, Nr. 4/5, S. 138/139.
Angaben des Durchschnitts-, Mittel- und Höchst-
gewichts beziehen sich auf 21 Vogelarten; aus
der Literatur kommen 6 Angaben hinzu, während
die allermeisten Eierkundigen nur das Gewicht
der Eischale festgestellt haben, wie an ihr, dem
ausgeblasenen Ei, überhaupt fast allein die für die
Systematik wichtigen wissenschaftlichen Unter-
suchungen gemacht werden. Das kleinste und
bisher leichteste Ei, von 0,4 g Gewicht, ist das des
Goldhähnchens — die Spezies wird nicht genauer
bezeichnet; auffallend leicht im Verhältnis zum
Gesamtgewicht des Vogels ist ferner das Ei beim
Kuckuck, beim Adler, auffallend schwer dagegen
bei den Wasservögeln. Frisch gelegte Eier schwim-
men auf Wasser, bebrütete sinken unter; dieser
Gewichtsunterschied ist von Schuster ent-
schieden nicht genügend damit erklärt, daß das
Ei „infolge Verdunstens von Wasserstoff (sie) durch
die Eischalenporen einen kleinen Gewichtsverlust
erlitten hat". Beachtenswert ist der Hinweis, daß
dieselbe Art im Norden ein fast genau gleich
schweres Ei legt wie im Süden, während doch
die Vögel selber ebenso wie Haartiere in käheren
Regionen etwas größer zu werden pflegen als in
wärmeren. Letzteres hat man als Anpassung, als
Mittel zur Verminderung der Wärmeausstrahlung,
erklärt, und jenes Verhalten der Eier scheint diese
Erklärung zu stützen; denn sie sind der Wärme-
ausstrahlung viel weniger ausgesetzt als die Tiere.
V. Franz.
Abnehmen der Waldschnepfen. Seit Jahren
wird in der jagdlichen und forstlichen Literatur
darüber Klage geführt, daß die Zahl der Wald-
schnepfen in ständigem Abnehmen begriffen ist.
Da nicht alle Beobachter diese Anschauung teilten,
wurden vor einigen Jahren auf Veranlassung des
Frei herrn von Berg- Straßburg an die ein-
zelnen deutschen bundesstaatlichen Regierungen
Fragebogen hinausgegeben, auf denen erfahrene
F"orst- und Jagdbeamte sich über das Vorkommen
der Waldschnepfen in ihren Amtsbezirken zu
äußern gebeten • wurden. Wie nun Freiherr
V. Berg, der die Bearbeitung der ausgefüllten
Fragebogen übernommen hatte, im „Deutschen
Jäger" (39. Jahrg. 191 7, Nr. 12 u. 13) mitteilt,
ergab sich dabei, daß von 1432 Forst- und Jagd-
verwaltungsbezirken in 533 Bezirken eine Ab-
nahme, in 177 ein Zuwachs und in 713 keine
Veränderung beobachtet wurde. In 129 Revieren
beziehen sich diese Angaben zurücklaufend nur
auf einen Zeitraum von 1—5 Jahren; werden nur
die Angaben berücksichtigt, welche die VerhäU-
nisse des Schnepfenstandes mindestens 5— 21 Jahre
zurückverfolgen, so ändert sich das günstige Bild
dieser ersten Statistik wesentlich; dann stehen
den 53 Bezirken, in denen eine Zunahme der
Langschnäbel beobachtet wurde, 377 Bezirke
gegenüber, in denen die Zahl der vorkommenden
Schnepfen sich verringert hat. Datieren die Auf-
N. F. XVI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
489
Zeichnungen aus noch weiter zurückliegenden
Jahren, so ist nur in einem einzigen Falle eine
Zunahme der Schnepfen zu bemerken gewesen,
während ihre Abnahme in 84 Fällen festgestellt
werden konnte. Die Abnahme der Waldschnepfen
in einer großen Zahl deutscher Reviere muß
deshalb wohl als eine feststehende Tatsache be-
trachtet werden und es bliebe nur die Frage
nach ihren Ursachen zu erörtern. Bedeutend
schuld daran sind, wie an allen Zugvögelabgängen
selbstverständlich auch hier die einschneidenden
Nachstellungen, welche die nordische Zugvogel-
welt während ihres Winteraufenthaltes im Süden,
im „gastlichen" Lande Italien, zu ertragen hat.*)
Aber bei der Abnahme der Waldschnepfen ist
ihnen allein nicht alle Schuld aufzubürden: auch
unsere deutsche Jägerwelt ist nach der Anklage
Freiherr von Berg's nicht frei von Fehle. Die
Schnepfe wird bei uns bekanntlich hauptsächlich
im Frühjahr gejagt und es gibt vermögliche
Jagdherren, die es sich leisten können, dabei
große Strecken zu erzielen. Dieser Frühjahrs-
abschuß der Schnepfen wird nun häufig so weit
in den Frühling hinein fortgesetzt, daß von ihm
nicht nur die durchziehenden, sondern vor allem
auch die heimischen, bei uns brütenden Vögel
betroffen werden. „Dieser langandauernde,
die Vermehrung hindernde Frühjahrs-
abschuß, sagt Freiherr von Berg, muß des-
halb als eine Hauptursache angesehen werden,
daß es mit den Schnepfen immer mehr bergab
geht". Daneben werden natürlich auch in manchen
Gegenden die Urbarmachung ausgedehnter Wald-
gebiete und die ständige Erweiterung des Kultur-
landes, wohl auch in manchen F"ällen ungünstige
Witterungsverhältnisse auf den Zug und die Ver-
mehrung der Schnepfen hemmend eingewirkt
haben, den Hauptgrund werden wir aber neben
der Verbesserung der Schießwaffen, die sich
natürlich gerade bei der Jagd auf ein solch'
flüchtiges Wild bemerkbar machen wird, immer
und immer wieder in der langen Ausdehnung
des Frühjahrsabschusses zu erblicken haben. Des-
halb fordert der Verfasser — und darin schließt
sich ihm seit Jahren der bekannte österreichische
Ornithologe Viktor Ritter von Tschusi
zu Schmidhofen (Tännenhof bei Hallein) voll-
inhaltlich an (vgl. Deutscher Jäger 191 7, Nr. 17) —
vor allem strenge Schon Vorschriften und
die Festsetzung einer genügend langen Schonzeit
für diesen für jeden Jagdliebhaber wie Naturfreund
gleich reizvollen Vogel : erst wenn der Frühjahrs-
abschuß der Schnepfen durch gesetzliche Regelung
mit Ende März schließen muß und der Herbst-
abschuß (zum Schutze der 2. (Sommer- )Brut) erst
mit Anfang September beginnen darf, dann wird
es allmählich möglich sein, einer weiteren Ab-
nahme der Waldschnepfen wirksam zu steuern
und damit einen Vogel dem deutschen Walde
') Vgl. dazu meinen Bericht „Die Bedeutung Italiens für
den Vogelzug" in Heft ig dieses Jahrgangs.
zu erhalten, dessen vollkommene Ausrottung ein
unersetzlicher Verlust für unsere Forsten wäre.
H. W. Frickhinger.
Astronomie. Bei der großen Bedeutung der
Spiralnebel für die Kosmogonie ist die Frage nach
der inneren Bewegung oder Umdrehung
dieser Nebel von der größten Wichtigkeit. In
den letzten Jahren ist in mehreren Fällen davon
die Rede gewesen, daß man solche nachgewiesen
habe. Vor allem der große Spiralnebel Messier lOl,
der senkrecht zur Gesichtslinie liegt, muß sich
dazu besonders gut eignen, eine Umdrehung nach-
zuweisen, wenn eine solche vorhanden ist.
Van Maanen hat (Astroph Journ 44, Nr. 4)
vier Aufnahmen von der Licksternwarte und dem
Mt. Wilson aus den Jahren 1899 bis 191 5 im
Stereokomparator miteinander verglichen und gibt
hier seine Resultate wieder. 32 Sterne auf den
Aufnahmen , die wohl zum Teil dem Nebel an-
gehören mögen, dienten als Anhaltsterne der
Messung. 87 Punkte im Nebel, die sich deutlich
genug abhoben, wurden zum Messen ausgesucht,
und an die Sterne angeschlossen. Aus den
Messungen ergibt sich zuerst eine sehr kleine
Eigenbewegung des Nebels, nach deren Berück-
sichtigung die Drehbewegung erscheint. Diese
scheint sich entlang den Armen von innen nach
außen zu betätigen, ist jedoch überaus klein,
etwa 0,02" im Jahre, was einer Umdrehung des
ganzen Systems in etwa 59 000 000 Jahren ent-
spricht. Der Verfasser erinnert an die Chamberlin-
Moultonsche Hypothese der Entstehung solcher
Nebel durch das aneinander Vorbeilaufen zweier
Sonnen, die wechselseitig einen Flutberg erzeugen,
der zur Ausströmung von Materie in Spiralarmen
führen soll. Es ist aber die Frage, ob in diesem
Falle nicht sehr viel größere Geschwindigkeiten
erzeugt werden müssen, als die hier durch die
Messungen sich scheinbar ergebende. Und es ist
überhaupt fraglich, ob eine so langsame Um-
drehung irgendwelche kosmogonischen Wirkungen
haben kann, und ob sie nicht viel eher das Ende
eines solchen Prozesses bedeutet, der an irgend-
einem widerstehenden Mittel zum Stillstand ge-
kommen ist. Riem.
Die photometrische Bestimmungjler Helligkeit
so sehr heller Körper, wie Sonne und Mond
ist auch trotz unserer gegenwärtigen feinen Hilfs-
inittel noch immer recht schwierig, und nicht
völlig befriedigend, so daß immer neue Be-
obachtungsreihen unternommen werden. Die
erste Schwierigkeit liegt darin, daß das Licht des
hellen Körpers so lange abgeschwächt werden
muß, bis es im Meßapparate dem des schwächeren
gleich ist. Aber den Grad der Abschwächung
genau zu messen ist eben die Schwierigkeit. Dann
kommen Farbenunterschiede hinzu, die sehr störend
wirken, und zuletzt ist die sehr erhebliche VVirkung
der Extinktion zu berücksichtigen, das ist der
Betrag an Helligkeit, den das Sternenlicht in einer
490
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 35
bestimmten Höhe über dem Horizont hat im
Vergleich zu seiner Stellung im Zenit. Diese
beträgt im Horizont etwa drei Größenklassen
weniger als im Zenit. Als Normalstern kann der
Polarstern angesehen werden, der immer gleich-
mäßig hoch steht, und als der zweiten Größe
angegeben wird. Jede Größe ist 2^3 mal heller
als die nächste, oder nach bequemerer Angabe,
der Logarithmus des Helligkeitsunterschiedes
ist = 0,400. Damit läßt sich sehr leicht anzugeben,
um wieviel ein Stern heller ist, als der andere.
Ein Stern 9. Gr. ist um 7 Größen schwächer als
Polaris , 7 mal 0,400 ist = 2,800. Dazu gehört
der Numerus 630, um soviel mal ist der erste
Stern heller als der andere. Nun hat D u g a n
sich im Märzheft 1916 des Astroph Journal mit
den Gliedern unseres Systems befaßt, und ist zu
folgenden Ergebnissen gekommen. Für Sterne,
die heller sind als i. Gr. muß man folgerichtig
negative Größen einführen, es folgt also auf Gr. i
die Gr. o, dann — i, — 2 usw. So findet sich aus
gut zusammenstimmenden Messungen von der
Sonne im Anschluß an Capeila, Arkturus, Wega
und Sirius die Helligkeit — 26,72 Größen. Das
ist also um 27,72 Größen heller als ein Stern i. Gr.
und wir berechnen: 27,72 mal 0,400 ist = 11,088.
Diese Zahl ist der Logarithmus zu 122000000000,
welche Zahl angibt, wieviel mal heller die Sonne
ist als ein Stern erster Größe. Der an sich sehr
geringe Fehler von 0,04 Größen, der dem Er-
gebnis anhaftet, macht bei diesen riesigen Zahlen
schon soviel aus, daß wir anstatt 122 zu setzen
haben 127 oder 117, als Grenzen. P"ür die Planeten
findet sich Merkur — 0,97, Venus — 4,71, sie ist
der bei weitem hellste Stern des Himmels, 192 mal
so hell, wie ein Stern i. Gr., und kann ja auch
bei Tage gesehen werden, wenn man ihren Ort
kennt, vor allem auf höheren Bergen. Sie wirft
auchSchatten. Mars ist dann — 1,79, Jupiter — 2,29,
Saturn -(-0189. Uranus -f-S.74. Neptun +7,65.
Interessant sind die Messungen am Mond, setzt
man seine Helligkeit bei Vollmond = looo, wo
also Sonne, Erde, Mond eine Gerade bilden, so
ist bei einer Abweichung davon, dem Phasen-
winkel, von 10" die Helligkeit noch 816, bei
60" = 283, bei 120" =31, und bei 150" nur noch
= 4. Verglichen mit den Sternen hat der Mond
die Helligkeit —12,55 Größen, er ist also um
14,17 Größen schwächer als die Sonne, die ihn
um das 466 000 fache an Helligkeit übertrifft,
eine Zahl, die um etwa ein Zehntel unsicher sein
wird. Riem.
Physik. P'ür feste Stoffe ist die Löslichkeit
von der Kerngröße abhängig, wenn diese geringer
ist a.\s2 ju{i fi= Vi 000 mrn). und zwar sind kleinere
Körner leichter löslich als größere. W. Herr
untersucht die Frage, ob bei Flüssigkeiten, bei
denen von einer Kerngröße natürlich keine Rede
sein kann, ein Einfluß der Größe der Moleküle
auf die Löslichkeit besteht. (Zeitschr. f. Elektro-
chemie XXIII, S. 23 (1917)). Im allgemeinen ist die
Löslichkeit von Flüssigkeiten (in Wasser) um so
größer, je kleiner ihr Molekulardurchmesser 2 r
ist, z. B. :
2 r
Methylacetat 0,49-10-8 25 g | lösen sich in
Methylpropionat 1,04-10-8 jg j 100 g Wasser
Methylbutyrat i,i6-iO~^ i>7g) von 22".
Da die Größe der Molekeln von der Bindung
abhängt, haben die Molekeln isomerer Verbin-
dungen verschiedenen Durchmesser; bei nahe ver-
wandten Isomeren ist er nahezu gleich, diese
haben auch angenähert die gleiche Löslichkeit,
z. B. vom Butylalkohol (2 r = 0,74- lO"') lösen
sich 12 g, vom Isobut)'lalkohol (2 r = 0,75 • lO"*)
10,5 g in 100 g Wasser. Dagegen zeigen Isomeren
von verschiedenem Molekeldurchmesser auch ver-
schiedene Löslichkeit. Seh.
Die gebräuchlichen Röntgenröhren leiden unter
dem Mangel, daß Härte und Intensität der Strahlen
voneinander abhängig sind. Die Lil ien feld'sche
Röhre, die von diesem Mangel frei ist, ist vor
einiger Zeit in derNaturw. Wochenschr. beschrieben
worden. Jetzt hat auch die Firma Siemens u.
Halske eine Glühkathoden-Röntgenröhre kon-
struiert, die durch einfache Handgriffe gestattet,
Härte und Intensität der Strahlung unabhängig
voneinander zu regulieren. Sie wurde im Febr.
1916 der Berliner medizinischen Gesellschaft vor-
geführt. Die Röhre ist bis zum äußersten er-
reichbaren Vakuum leergepumpt, so daß sie über-
haupt keine Entladung durchläßt. Die Kathode
besteht aus einem Wolframdraht, wie er sich in
jeder Glühbirne findet. Durch einen besonderen
Stromkreis wird die Glühkathode zum Leuchten
gebracht; dabei entweichen aus ihr Elektronen,
die die Röhre leitend machen. Durch das elek-
trische Hochspannungsfeld beschleunigt, treffen sie
die Wolframantikathode, werden hier gebrennt,
und dabei entstehen die Röntgenstrahlen. Die
Härte derselben ist von der Höhe der angelegten
Betriebsspannung, ihre Intensität von der Menge
der dem Glühdraht entweichenden Elektronen,
also von der Heizstromstärke abhängig. Der von
der Firma konstruierte, in seiner Handhabung
außerordentlich bequeme Apparat gestattet, beide
Faktoren in einfacher Weise zu regulieren. Zum
Betrieb wird Wechselstrom genommen; eine
Gleichrichteranlage ist nicht nötig, da die Röhre
selber als Ventil wirkt und nur dann Strom hin-
durchläßt, wenn die Glühkathode negativer Pol
ist, während sie in entgegengesetzter Richtung
undurchlässig ist. Der Wechselstrom speist
2 Transformatoren, den Heiz- und den Hoch-
spannungstransformator. Die Stromstärke des
ersteren wird durch einen vor seiner Primärspule
liegenden Kurbelwiderstand reguliert, und dadurch
wird Temperatur der Glühkathode und ihre
Elektronabgabe bestimmt. Die Regulierung im
Hochspannungstransformator erfolgt dagegen auf
andere Weise, indem man nämlich das Über-
N. F. XVI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
491
Setzungsverhältnis, d. i. das Verhältnis der
Anzahl Primärwindungen zu den sekundären,
ändert, und zwar indem man mittels Kurbel einen
1 Teil der Primärwindungen abschaltet. Dadurch
wird erreicht, daß stets die gesamte Netzspannung
an der Primärspule liegt, während bei Regu-
lierung durch Verschaltwiderstand ein Teil der
Spannung in diesem unnütz verloren geht. An
der Sekundärspule liegt die Röhre; ein Milli-
amperemeter mißt den sie durchfließenden Strom.
Da die beiden Transformatorkreise voneinander
unabhängig sind, kann durch Betätigung des ersten
die Intensität, durch den zweiten die Härte der
Strahlung vollkommen unabhängig voneinander
reguliert werden. Ja man kann eine Aufnahme
oder Bestrahlung unter genau den gleichen Ver-
hältnissen wiederholen, was bei den bisher ge-
bräuchlichen Röhren wegen der Inkonstanz ihres
Vakuums nicht möglich war.
Durch geeignete Verbesserung der Apparate
ist es gelungen, ein Therapierohr zu erhalten,
das außerordentlich harte Strahlen (15" nach
Wehnelt, mit älteren Anordnungen 10 — ll")
liefert. Wie schon erwähnt, hängt die Härte der
Strahlen von der Geschwindigkeit der auf die
Antikathode aufschlagenden Elektronen und mithin
von der Höhe und Form der angelegten
Spannung ab. Bei dem gebräuchlichen Wechsel-
strom ändert sich bekanntlich während einer
Periode die Spannung wie ein Sinus, d. h. sie
steigt allmählich von o bis zum Maximalwert an,
lallt wieder bis o, um nun unterhalb der x-Achse
denselben Verlauf zu nehmen. Durch einen
rotierenden Umschalter wird in dem vielbenulzten
Hochspannungsgleichrichter der unter der Achse
liegende Teil der Spannungskurve nach oben ge-
klappt, so daß wir einen pulsierenden Gleichstrom
zum Betrieb der Röhre benutzen. Das ist aber
eine Spannungsform, die für die Homogenität und
Härte der Strahlung nicht günstig ist. Beim An-
wachsen der Spannung wird nämlich schon ein
Teil der Elektronen mit verhältnismäßig geringer
Geschwindigkeit gegen die Antikathode getrieben
und erzeugt hier weiche Strahlen; je mehr die
Spannung sich dem Maximalwert nähert, um so
härter wird die Strahlung, um nach Überschreiten
des Höchstwertes wieder weicher und weicher zu
werden, so daß also eine mit dem üblichen
Hochspannungsgleichrichter betriebene Röhre ein
Gemisch von Strahlen verschiedener Härte liefert,
indem die härtesten und für die Therapie wert-
vollsten nicht sehr zahlreich sind. Günstiger
liegen die Verhältnisse bei Benutzung eines In-
duktors, da hier die Spannungskurve schneller
ansteigt und abfällt. Das günstigste wäre nach
dem Gesagten ein Gleichstrom mit gleichbleibender
hoher Spannung. Influenzmaschinen sind zu delikat
in der Handhabung und nicht leistungsfähig genug.
Das Ziel wird von der Firma Siemens & Halske
mit ziemlicher Annäherung dadurch erreicht, daß
die negativen Teile der Spannungskurven eines
Dreiphasen(Dreh)stromes nach oben geklappt
werden und zwar werden dazu sechs Ventilröhren
benutzt, die nach Art der neuen Röntgenröhre
mit Glühkathode ausgerüstet sind. Der Drehsirom
wird entweder dem Kraftnetz direkt oder einem
Gleichstrom- bzw. Wechselstrom-Drehstromum-
former entnommen. Zur Erzeugung der Hoch-
spannung wird nicht ein Drehstromtransformator,
sondern aus rein praktischen Gründen zwei
Wechselstromtransformatoren in der sogenannten
V-Schaltung benutzt. Die Vorrichtung liefert
schwach pulsierenden hochgespannten Gleichstrom,
der Strahlen von beträchtlicher Härte in reich-
licher Menge erzeugt. Durch iMltration mittels
geeigneter Metallplatten läßt sich ihre Homogenität
weiter steigern. Bei der hohen Energiezufuhr
gerät der Wolframklotz der Antikathode trotz
seiner durch die große Oberfläche bedingten
starken Ausstrahlung bald ins Glühen , so daß
auch von der Antikathode Elektronen ausgehen
und die Röhre ihre Wirksamkeit als Ventil ver-
liert. Das ist aber belanglos, da ihr ja eine durch
die 6 Ventilröhren erzeugte Gleichspannung zu-
geführt wird.
Ein guter Schritt ist durch den Bau der
Lilienfeld- und der Glühkathodenröhre —
welche von den beiden die leistungsfähigere ist,
wird die Praxis erweisen — vorwärts getan ; durch
Ablesung eines Voltmeters (Messung der Betriebs-
spannung) wird die Härte, aus der Anzeige des
Milliamperemeter die Intensität der Strahlung be-
stimmt. Eine weitere Forderung ist die, eine
wirklich homogene Strahlung zu haben,
d. h. Strahlen von einer ganz bestimmten Wellen-
länge und nicht wie bisher ein Gemisch einer
mehr oder weniger großen Anzahl verschiedener
Wellenlängen. Diese Aufgabe wird auch durch die
neue Röhre nicht vollständig gelöst. Einer der
Gründe ist folgender: Da die Röhre nicht ganz
luftleer, trefTen die Elektronen auf ihrem Weg
zur Antikathode auf Gasmoleküle. Ein Teil fährt
durch dieselben hindurch, ein anderer macht bei
dem Zusammenprall Elektronen aus dem Ver-
bände des Moleküls frei. Diese werden durch
das Feld getrieben nach der Antikathode hin
beschleunigt und prallen mit verschiedener Ge-
schwindigkeit auf, je nachdem sie nahe vor der
Antikathode oder dicht hinter der Kathode durch
lonenstoß erzeugt sind. Sie lösen demnach
Strahlen von verschiedener Härte aus. Ferner
geht von dem Wolfram der Antikathode eine
Eigenstrahlung aus, deren Wellenlänge von der
Betriebsspannung ganz unabhängig ist.
K. Seh.
Heilkunde. Schilddrüsenstörungen und Meeres-
höhe. ') Bei der Untersuchung einer größeren
Anzahl von Schuldkindern in Tirol hat der Ober-
bezirksarzt Dr. Karl Pfeiffenb erger in Imst
') Karl Pfeiffenb erger, Scliilddrüsenerkrankungen
und Kropf bei Schulkindern im Bezirke Imst. Zeitschr. f. öffentl,
Gesundheitspflege II. 1914.
492
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 35
einen sehr interessanten Befund über die Abhängig-
keit der Schilddrüsenerkrankung von der Meeres-
höhe erhoben. Pfeiffenberger hat insgesamt
3346 Kinder untersucht, von denen 1632 Knaben
und 1714 Mädchen waren. Die untersuchten Ge-
meinden waren in einer Höhe von 600 — 1900 m
gelegen. Es verteilen sich die untersuchten Kinder
auf folgende Gemeinden:
Höhe
Gerat
aber den
Mee
600 — Soo
800 — 1000
1000 — 1200
1200 — 1900
776
1594
512
464
Kinder mit
Scliilddrüser
Störungen
I Zahl der Kinder
mit Schilddrüsen-
■0.95
10,85
13.47
4.74
Als Schilddrüsenstörung wurden nicht nur aus-
gesprochener Kropf, sondern auch alle nachweis-
baren Veränderungen in der Schilddrüse berück-
sichtigt. In der Mehrzahl der Fälle handelte es sich
um kleine cystische Veränderungen einzelner Schild-
drüsenpartien, in selteneren Fällen um allge-
meine Vergrößerungen des Organs. Wie die
Tabelle zeigt, weisen die Ortschaften mit einer
Höhenlage bis zu 1200 m einen ziemlich gleich-
bleibenden Prozentsatz von Schilddrüsenerkran-
kungen auf In Höhen über 1200 m nimmt
die Häufigkeit der Schilddrüsenstö-
rungen plötzlich ganz auffallend ab.
Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß zwischen
1200 und 1400 m sich einige Schulen befanden,
deren Kinder teilweise aus erheblich tiefer ge-
legenen Ortschaften stammen. „Am auffälligsten
zeigten sich diese Gegensätze zwischen Häufigkeit
der Störungen und Höhenlage der Ortschaften im
Oetztale, wo die Talortschaften reichlich Schild-
drüsenveränderungen , Kretinismus u. a. boten,
während die bezüglichen höher gelegenen Bergorte
nahezu ausnahmslos frei davon sind, bzw. die
vorgefundenen Fälle aus Talorten stammen. So
stammt beispielsweise der einzige Kropffall bei
Schulkindern in Niederthei, einer 1535 m hoch
gelegenen Ortschaft, aus einer 726 m tiefer ge-
legenen Talgemeinde (Sautens)".
Von großem Interesse ist auch der Befund von
Pfeiffenberger, daß die in die Schule neu
eingetretenen Kinder verhältnismäßig selten Schild-
drüsenstörungen aufweisen. Je höher die
Klasse, desto größer der Prozentsatz
der Kinder mit Schilddrüsenstörungen.
So fehlten z. B. im Orte Imst bei den 1 16 Schülern
der ersten zwei Jahrgänge Schilddrüsenverände-
rungen gänzlich. Im dritten Jahrgang waren bereits
10,9 •'/o Kinder mit Schilddrüsenstörungen behaftet,
in den folgenden Jahrgängen sogar 13,6 — iSiS'/o
der Kinder. Dieselben Verhältnisse lagen in
anderen Orten vor.
Bemerkenswert ist auch die Beobachtung von
Pfeiffenberger, daß mehr als ein Drittel aller
Kinder mit Schilddrüsenstörungen auch andere
Krankheiten aufwiesen : von den untersuchten 3346
Kindern waren 349 mit Schilddrüsenveränderungen
behaftet, und von diesen 349 Kindern hatten 136
noch andere Störungen, wie körperliche Minder-
wertigkeit, Kretinismus, Schwerhörigkeit, Rachitis,
auffallend unregelmäßiges Gebiß usw. Mit diesen
Störungen waren insgesamt 220 Kinder behaftet,
von denen, wie gesagt, 136 auch Schilddrüsen-
störungen hatten und nur 84 Kinder diese Störungen
allein.
Aus den Befunden von Pfeiffenberger geht
hervor, daß Höhenlagen für die Entwicklung der
Schilddrüsenerkrankungen ungünstig sind, vielleicht,
wie Pfeiffenberger annimmt, weil ein infek-
tiöses Agens „oberhalb bestimmter Höhenlagen in
der Entwicklung gehemmt ist, bzw. dort die
nötigen Entwicklungsbedingungen nicht mehr finden
kann". Pfeiffenberger erörtert die Möglich-
keit, daß die von Klasse zu Klasse zunehmende
Häufigkeit der Schilddrüsenerkrankungen bei den
Schulkindern dadurch erklärt werden könnte, daß
der dauernde Kontakt der Kinder miteinander die
Wirkung des in Betracht kommenden infektiösen
Agens begünstige. Vielleicht machen auch andere
Erkrankungen den Organismus für dieses infek-
tiöse Agens aufnahmefähiger, so daß die Schild-
drüsencrkrankung in einer großen Anzahl von
Fällen mit anderen Krankheiten vergesellschaftet
ist. Lipschütz.
Bücherbesprechuugen.
E. Werth, Das Eiszeitalter. Zweite, ver-
besserte Auflage. Slg. Göschen, Nr. 431. Berlin-
Leipzig 191 7.
Das bewährte kleine Werk, auf vielseitiger
eigener Beobachtung und fleißiger Verarbeitung
fußend, konnte zum zweitenmal aufgelegt werden
und hat dabei durch Anfügung eines Registers
und wesentliche Überarbeitung der beigehefteten
Karte gegenüber der ersten noch dankenswerte
Verbesserungen erfahren. Die bei so knappem
Raum bemerkenswerte Vollständigkeit der Über-
sicht über regionale Verbreitung der Erscheinungen,
P'ormenschatz, Tier- und Pflanzenwelt (auch die
menschliche Entwicklung in Körperbau und Kultur
findet noch kurz Aufnahme) hat sich also offenbar
ihren F"reundeskreis bereits erworben und wird
ihn zweifellos erfolgreich erweitern können.
Edw. Hennig.
Fr. Machatschek, Gletscherkunde. Zweite
Auflage. Slg. Göschen, Nr. 154. Berlin-Leipzig
1917.
Auch dies Büchlein, mit dem vorgenannten ein-
ander trefflich ergänzend, erlebt schon die zweite
N. F. XVI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
493
Auflage. Hier werden alle jene Beobachtungen
über Wesen und Wirken des Gletschereises und
seiner Beziehungen zum Klima (mit bewußter Be-
vorzugung der bestgekannten, nämlich alpinen
Vergletscherungen) in übersichtlicher und leicht-
verständlicher Form zusammengestellt, die uns
erst ermöglicht haben aus den Ablagerungen und
Oberflächenformen rückschließend die so viel ge-
waltigeren Inlandeismassen des Diluviums unge-
zwungen zu erschauen und zu begreifen. Die
geographischen Grundlagen aus der heutigen Er-
scheinungswelt haben jederzeit der Ausgangspunkt
und Ankerplatz aller Forschungen in der Vorzeit
zu bleiben, wie sie ihrerseits gerade auch in Fragen
der Vergletscherungen nur aus der Vergangenheit
heraus recht verstanden werden können. Diese
wohltätig fördernde Wechselwirkung kann aus
dem Studium der beiden Göschen Bändchen von
W e r t h und Machatschek entnommen werden,
die der rührige Verlag mit Recht zu gemeinsamer
Arbeit in die stets, auch mitten im heißesten
Ringen ums Leben aufnahmefreudigen deutschen
Leserkreise hinausgehen läßt. Edw. Hennig.
A. Hesse und H. Gro^mann, Englands Han.-
delskrieg und die chemische Industrie.
Neue Folge: England, Frankreich, Amerika.
344 S. gr. 8". Stuttgart 1917. Verlag von
Ferdinand Enke. — Preis: geh. 11 M.
V. Karl Löfll, Die chemische Industrie
Frankreichs, eine industriewirtschaftliche
Studie über den Stand der chemischen Wissen-
schaft und Industrie in Frankreich. Sonder-
abdruck aus Bd. XXIV der, Ahrens-Herz-
schen „Sammlung chemischer und chemisch-
technischer Vorträge". Stuttgart 191 7. Verlag
von Ferdinand Enke. Preis: geh. 10 IM.
Daß der von England gegen die IVlittelmächte,
insbesondere Deutschland inszenierte Handelskrieg
kein Bluff ist, sondern vor allem infolge der über
Erwarten langen Dauer des Krieges eine sehr große
Bedeutung hat, dürfte allgemein bekannt sein, und
ebenso dürfte allgemein bekannt sein, daß der
Industriezweig, gegen den sich der Handelskrieg
in erster Linie richtet, die chemische Industrie ist.
Das Wort „ohne Deutschlands chemische Industrie
kein Weltkrieg", ist, so zugespitzt es im ersten
Augenblick vielleicht erscheinen mag, sicherlich
nicht ganz unberechtigt. Die beiden Berliner
Professoren A. Hesse, der Herausgeber des
„Chemischen Zentralbalttes" und H. Groß mann,
aus dessen Feder schon manche wertvolle Arbeit
über die chemische Industrie hervorgegangen ist,
haben sich daher ein sehr großes Verdienst er-
worben, indem sie die wichtigsten Veröffent-
lichungen, die in den Ententeländern über den
Kampf gegen die chemische Industrie Deutschlands
erschienen sind, in deutscher Übersetzung zunächst
als Sonderbeilage zu der bekannten Zeitschrift
„Die chemische Industrie" und dann in Auswahl
auch in vorläufig zwei Bänden (Bd. I i. J. 1915,
Bd. II soeben) in Buchform herausgegeben haben.
Das in diesen Veröffentlichungen enthaltene Material
ist ganz außerordentlich interessant. Mitschonungs-
loser Offenheit werden besonders in England die
Gründe für die Rückständigkeit ihrer eigenen
gegenüber der deutschen chemischen Industrie und
die Wege erörtert, die neben der Schädigung der
deutschen die Hebung ihrer eigenen Industrie zum
Ziele haben, und es hieße besonders England ver-
kennen, wenn man meinen wollte, es bliebe alles
nur bei Worten stehen. Sicherlich wird die deut-
sche chemische Industrie nach dem Kriege einen
schweren Stand haben, wenn sie die alten, zum
großen Teil zunächst verlorenen Absatzgebiete
wieder gewinnen will, aber auch die deutsche
chemische Industrie ist ja für die Zeit nach dem
Kriege gut gerüstet, und es ist zu hoffen und zu
erwarten, daß sie aus den schweren Kämpfen, die
ihr bevorstehen, siegreich hervorgehen wird. Vor-
aussichtlich wird England sein Ziel auch hier
nicht erreichen.
Alle die, die für Englands Handelskrieg Inter-
esse haben, seien jedenfalls mit besonderem Nach-
druck auf die H e s s e- Großmann 'sehen
Publikationen hingewiesen.
Das Werk von Löffl über die chemische
Industrie Frankreichs ist von mehr speziellem
Charakter, und es genügt daher, an dieser Stelle
auf seine Existenz hinzuweisen.
Werner Mecklenburg.
Naef, Adolf, Die individuelle Entwick-
lung organischerFormen alsUrkunde
ihrer Stammesgeschichte. (Kritische
Betrachtungen über das sogenannte „biogene-
tische Grundgesetz"). ']'] S. Mit 4 Figuren im
Text. Jena 191 7, Verlag von G. Fischer. —
Preis: geh. 2,40 M.
„Die Keimesentwicklung (Ontogenesis) ist eine
gedrängte und abgekürzte Wiederholung der
Stammesentwicklung (Phylogenesis); und zwar ist
die Wiederholung um so vollständiger, je mehr
durch beständige Vererbung die ursprüngliche
Auszugsentwickiung (Palingenesis) beibehahen
wird, um so unvollständiger hingegen, je mehr
durch verschiedene Anpassung die spätere Störungs-
entwicklung (Cenogenesis) eingeführt wird." So
definierte Haeckel sein „biogenetisches Grund-
gesetz'". Seither ist dieses Gesetz von verschiedenen
Seiten und wiederholt einer kritischen Prüfung
unterzogen worden. Zwar bestreitet wohl
kaum ein Naturforscher die Richtigkeit seines
Leitgedankens, daß nämlich eine engere Beziehung
zwischen Ontogenie und Phylogenie überhaupt
besteht, aber die fortschreitende Kenntnis vom
Wesen des Entwicklungsprozesses und der Zelle
hat zu einer anderen Bewertung des „Gesetzes"
geführt, das von seinem Begründer in seiner Be-
deutung zweifellos weit überschätzt worden ist.
Es handelt sich um kein biologisches „Gesetz",
geschweige denn ein „G rund gesetz", sondern
lediglich um eine „Regel", ein „Prinzip", von einem
„heuristischen Prinzip" spricht Keibel. Wenn
494
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 35
Naef in der vorliegenden Studie die Haeckel-
sche Rekapitulationstheorie ebenfalls einer kritischen
Betrachtung unterwirft, so erscheint er dazu be-
sonders berufen, da sein Standpunkt das Ergebnis
langjähriger Untersuchungen vergleichend-entwick-
lungsgeschichtlicher Natur darstellt. Gerade das ist
der Fehler zahlreicherder bisherigen phylogenetisch-
ontogenetischen Untersuchungen, daß das durch-
gearbeitete Material umgekehrt proportional war
zu den phylogenetischen Spekulationen, die darauf
gegründet wurden; je lückenhafter das Material
war, desto lückenloser waren häufig die „Stamm-
bäume", die man aufstellte. Naef hat zu seinen
Untersuchungen die Mollusken, speziell die Cepha-
lopoden, gewählt, die infolge ihres großen Formen-
reichtums — sowohl in der Gegenwart wie auch
in früheren Erdperioden — sich als besonders
geeignet erweisen. Zahlreiche Gattungen wurden
z. T. in mehreren Arten eingehend und in ihrem
ganzen Entwicklungsverlaufe studiert, die übrigen
Familien und Gattungen wurden wenigstens teil-
weise untersucht und auch die nächst verwandten
Mollusken zum Vergleich herangezogen.
Von den allgemeinen Anschauungen, die sich
der Verfasser auf Grund seiner in einer Reihe von
Spezialarbeiten niedergelegten Resultate gebildet
hat, seien folgende hervorgehoben.
Nach Fritz Müller gibt es zwei Wege, auf
denen die Nachkommen zu einem neuen Ziele
gelangen können : Entweder sie irren früher oder
später von dem Wege der elterlichen Form ab,
oder sie durchlaufen denselben Weg, bleiben aber
nicht an dem Punkte stehen, wo die elterliche
Form geendet hat, sondern schreiten weiter.
Während die Annahme einer fortschreitenden
Entwicklung zur Basis des „biogenetischen Grund-
gesetzes" geworden ist, hat man den anderen Weg
der Entstehung neuer Formen bisher vernach-
lässigt. Jene Annahme ist aber nach Naef irrig,
nur die zweite der beiden Möglichkeiten ist ver-
wirklicht. Die zyklisch-rhythmische, un-
unterbrochene Umbildung ist die Urform
aller Entwicklung. Die Kontinuität des Lebens-
prozesses wird dadurch gewährleistet, daß sich in
ununterbrochener und endloser Folge die Keim-
bahnzyklen wiederholen. Von jedem Keimbahn-
zyklus ausgehend spielen sich blind endigende,
d. h. der Zerstörung verfallende Entwicklungs-
vorgänge ab, die insgesamt die „Ontogenese" des
Einzelindividuums ausmachen. Naef bezeichnet
diese terminalen Entwicklungsprozesse als „Mor-
phogenesen". „Die (Ontogenese der Vierzelligen
ist in der Hauptsache ein komplexer Spezialfall
terminaler Entwicklung und aus einer großen Zahl
einzelner Morphogenesen zusammengesetzt". Jede
Ontogenese rekapituliert im allgemeinen mit großer
Treue die vorhergehenden. Die Möglichkeit einer
Abänderung der einzelnen Morphogenesen muß
schon deshalb äußerst eingeschränkt sein, weil in
den meisten derartigen Fällen eine Störung des
Gesamtorganismus zu erwarten ist ; denn die Ab-
änderungen der Morphogenesen sind die Folge
von Abänderungen der Erbmasse, und diese sind
in ihrem ersten Auftreten rein zufällig, absolut
richtungslos, die Existenz einer Zielstrebigkeit im
Sinne direkter Anpassung lehnt Naef ab. Phylo-
genetisch müssen die einzelnen Erscheinungen der
Formbildung „um so konservativer sein, je mehr
das physiologische und ökologische Gleichgewicht
auf ihnen ruht". Das ist aber der Fall, je weiter
die Erscheinung von dem Ende der terminalen
Morphogenese entfernt ist. Die phylogenetische
Abänderung geht in so bestimmten Bahnen vor
sich, daß Naef glaubt, sie in einem Gesetz for-
mulieren zu können, dem „Gesetz der termi-
nalen Abänderung": „Die Stadien einer
Morphogenese sind um so konservativer in der
Rekapitulation der ursprünglichen Entwicklung, je
näher sie dem Beginn, um so progressiver, je
näher sie dem Ende derselben stehen." Dieser
Satz führt dann weiterhin zu dem Grundsatz, daß
ein ontogenetisch primäres Stadium innerhalb einer
Morphogenese auch als phylogenetisch primär auf-
zufassen und morphologisch höher zu werten ist
(„Prinzip des morphologischen Primats
voraufgehender Entwicklungszust ä nde").
Im allgemeinen wird die Erzeugung neuer, ange-
paßter Formen sehr langsam erfolgen. Die Mög-
lichkeit sprungweiser Veränderung ist nur dadurch
gegeben, daß die Ausbildung der Endzustände der
typischen Ontogenese unterbleiben kann (Pädo-
genesis und Neotenie), das Umgekehrte, ein Hin-
zufügen neuer Zustände zur typischen Onto-
genese, erfolgt niemals. Eine Wiederholung der
Endstadien von Ahnen, eine Palingenesis im
Sinne von F. Müller, E. Haeckel und
O. H e r t w i g, gibt es also nach Naef nicht, eben-
sowenig infolgedessen eine Cenogenesis.
Diese wenigen Sätze mögen genügen, um auf
die gedankenreiche Schrift, an die sich jedenfalls
noch manche Diskussion anschließen wird, hin-
zuweisen. Nachtsheim.
Felix M.Exner, Dynamische Meteorologie.
Leipzig und Berlin 1917. B. G. Teubner. 310 S.
Geh. 15 M.
Seit dem Erscheinen von S p r u n g ' s Lehrbuch
wird hier zum erstenmal wieder der Versuch
unternommen, den augenblicklichen Stand der zur-
zeit in der raschesten Entwicklung begriffenen
Erkenntnis von der Dynamik der Atmosphäre in
einer umfassenden Darstellung festzuhalten, die
nicht nur für den meteorologischen Forscher be-
stimmt ist, sondern für den weiteren Kreis der
für die Physik unserer Lufthülle Interessierten.
Der Versuch muß als in vorbildlicher Weise ge-
lungen bezeichnet werden. Der Verf. dachte bei
der Herausgabe des Werkes in erster Linie an
seinen Gebrauch durch Studierende. Es werden
deshalb die Grundlagen der mathematischen Physik
vorausgesetzt. Die elementaren Gesetze derselben
werden zunächst in die für die Behandlung meteoro-
logischer Probleme geeignete F'orm gebracht und
die für die Atmosphäre geltenden Grundgesetze dar-
N. F. XVI. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
495
aus entwickeh. Der Gipfelpunkt derselben ist die
von Margules aufgestellte Energiegleichung der
abgeschlossenen Luftmasse. Mit deren Hilfe lassen
sich die vertikalen Umlagerungen von Luftmassen
quantitativ berechnen. Im Anschluß daran werden
die Fälle behandelt, in denen die dabei zugrunde
gelegten Verhältnsse, d. h. nebeneinanderliegende
Luftmassen von ungleicher Temperatur auftreten.
So werden insbesondere die großen atmosphärischen
Zirkulationsbewegungen, sowie auch die Strömun-
gen in den wandernden Hoch- und Tiefdruck-
gebieten unserer Breiten dem Verständnis näher
gebracht. Es wirdüberall versucht, dieErscheinungen
für den stationären Zustand festzustellen, sowie die
in der Regel auftretenden Abweichungen von
diesen. Auch hierbei schließt sich die Darstellung
eng an die Arbeiten von Margules an.
Die Darstellung ist im ganzen Buch von großer
Anschaulichkeit. Diese wird noch erhöht durch
eine Reihe von Zahlenbeispielen, die die Anwen-
dungsmöglichkeit der abgeleiteten Gleichungen
zeigen, zugleich aber auch Gelegenheit bieten,
gegebenenfalls auf die Schwächen der Theorie
hinzuweisen, was mit großer Unparteilichkeit ge-
schieht. Schwierigere und umständliche mathema-
tische Ableitungen sind vermieden oder doch nur
kurz angedeutet. Das Buch wird jedem studieren-
den und lehrenden Physiker, der sich über die
wichtigsten Fragen der jungen Wissenschaft einen
genaueren Überblick verschaffen will, F"reude
machen. Aber auch der Fachmeteorologe wird
es mit Gewinn lesen, zumal ihm die zahlreichen
eingestreuten Literaturnachweise — bis Mitte 191 5
reichend — beim weiteren Forschen gute Dienste
leisten können. Scholich.
Anregungen und Antworten.
In der Naturw. Wochenschr. N. F. XV Nr. 52 vom vorigen
Jahre findet sich auf Seite 747 unter „Wie unsere Feinde
rechnen" eine Mitteilung über ein bei den Russen gebräuch-
Uches Verfahren zur schriftl. Auflösung größerer Multiplikationen.
„Es handle sich um die Vervielfältigung l2X'li so wird die
eine Zahl fortdauernd halbiert und (unter Vernachlässigung
der Bruchteile einer ganzen) die Quotienten nebeneinander ge-
schrieben. Die andere Zahl aber wird immer verdoppelt und
die Produkte, zu deren Erzeugung der arithmetische Verstand
jener Völkerschaften ausreicht, darunter geschrieben. Also im
vorliegenden Falle :
12 6 3 I
II 22 44 8S
Dann werden ausschließlich aus der unteren Reihe die Zahlen,
die unter einer ungeraden der oberen Reihe stehen, zusammen-
gezählt. 444-88^132 ist das gesuchte Produkt." Oder:
11 S 2 1
12 24 48 96
12 + 24 + 96 = 132.
Die allgemeine Richtigkeit des Verfahrens ergibt sich aus folgen-
der Betrachtung : Jede ganze Zahl Z läßt sich als Summe einer
Potenzreihe von 2 mit ganzen fallenden Exponenten darstellen : ')
') Der Beweis für beliebige ganze Z^2n+ 20 ' + 2n-- + . . .
+ 2' + 2- + 2' + 2" unter den angegebenen Bedingungen wird
sich so gestallten:
Jede ganze Zahl ist entweder = dem Produkt einer anderen
ganzen Zahl mit der Zahl 2 oder := einem solchen Produkt + I.
So ist die Zahl 7„ = 2.Zi +(| ± |), wo d.is obere Zeichen
für ein ungerades, das untere für ein gerades Z„ zu nehmen wäre.
Z[ läßt sich ebenso zerlegen ;
Z,=2.Z, + (1±^)
Z, = 2.Z3 + (.±1)
und so fort, bei der nten Zerlegung Zn— , = 2Zn+ Li + ' ), wo-
bei das positive Zeichen bei ungeraden, das negative bei ge-
raden Zi.Zj . . . Zn— , zu verwenden wäre.
Ist die nie Zerlegung die letzte, die eine ganze Zahl er-
gibt, so ist Zn^ I ; daraus folgt:
7.n-. = 2.I + (.±.)
Z_ = 2.Z„-, + (.±.) = 2.[2.:+(.±.)] + (.±.)
= 2^ + 2.(.±.) + 20(.±l)
Z„^,=2Z„_,+(.±.) = 2.[2^ + 2'(.±.) + 2^(.±.)] +
a±i)=2»+2^(^±^) + 2'(^±.)+20(.±.)
schließlich Z„ = 2n + 2n->(^±|) + 2n-' (^±^)+ . . .
+ 2'-(^±^) + 2«(.±^)
Je nachdem in den einzelnen Summanden (l + • ) oder
Z = 2n+2n-i+2n-2 + ... + 22+2' + 2<',
in der jedoch eine oder mehrere Potenzen von 2 ausfallen
können. Für unseren Zweck möge folgender Hinweis genügen :
1=2", 2 = 2', 3 = 2' + 2'',. .. 7 = 2' + 2' + 20...,
22 = 2* + 2^ + 2' . . ., 76 = 2'' + 2^+2'- USW.
Ob die Zahlen ungerade oder gerade sind, ersieht man aus dem
letzten Glied der Summe, das bei ungerader Zahl 2"=! ist.
Seien nun 2a, 2b, 2c, 2d, 2" die nicht ausfallenden Potenzen,
so wäre Z = 2a + 2b +2c + 2d +2", also ungerade.
Die erste Reihe der russ. Rechnungsart wird durch auf-
einanderfolgende Divisionen durch 2 unter Vernachlässigung
von Restbruchteilen gewonnen. Das Ergebnis ist nur dann
eine ungerade Zahl, wenn der letzte Summand der neuen, nach
der Division durch 2 erhaltenen Summe 2° ist. Das tritt in
unserem Falle nach der dten, ci<"n, bten und aten Division
ein. Wir bilden die I. Reihe unter Berücksichtigung nur der
ungeraden Ergebnisse:
Z
Z 2d
2a+2b+2c+2d+2»... 2a-d + 2b-d + 2C-d + 2« . . .
ungerade ungerade
Z Z Z
2C 2b 2a
2a— c + 2b-c 4- 2" . . . 2a-b + 2" ... 2»
ungerade ungerade ungerade.
Soll das Produkt Z.N. gebildet werden, so wird die
2. Reihe nach Art der Russen dadurch gewonnen, daß die
Zahl N oder N.2<' fortgesetzt verdoppelt wird, und lautet
demnach unter Berücksichtigung nur der Glieder die unter
ungerade Zahlen der I. Reihe zu stehen kommen.
N^" . . . N.2d . . . N-2C . . . N.2b . . . N.2a.
Die Addition dieser Glieder liefert das gesuchte Produkt :
N 2<' + N-2d + N.2C+N-2b+N.2a =
N.(2« + 2d.f 2C+2b + 2a) = N-Z.
Ist Z gerade, fehlt also in der Summe das Glied 2*, so lauten
die Reihen:
2 +2b + 2c+2d . . . 2»- d+ 2b-d + 2C— d+ 2« . . .
gerade ungerade
N-2'> N.2d
2a— c_j_2b-c + 2'' . . . 2a— b+2'' ... 2"
ungerade ungerade ungerade
N-2C N-2b N.2a
Jen di(
fX — t) zu nehmen ist, bleiben oder verschv
Summanden.
Zb ist demnach = der Summe einer Potenzreihe von 2
mit ganzen, fallenden Exponenten, in der aber einzelne oder
auch alle Summanden mit Ausnahme des ersten verschwinden
können. Dr. Schumann.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
F. N. XVI. Nr. 35
Die Addition der unter ungeraden Zahlen der I. Reilie stehen-
den Zahlen der 2. Reihe liefert;
N.2d4-N.2C-|-N.2b-|-N-2a=N-(2d-)-2c4-2b-|-2a) = N.Z.
Ein Zahlenbeispiel 105-23 möge zur Erläuterung dienen:
105 = 2« -[-2'' + 2» + 2».
1. Reihe: 2" ^- 2'^ -\- 2^ -\- 2" 2'^ -\- 2* -{- 2^ 2*4-2'' + 2'
ungerade
2. Reihe: 23-2<' 23-2' 23-2-
23
46
92
2^ + 2-^ + 2»
2^ + 2'
2' + 2"
2"
ungerade
ungerade
ungeradf
23.2»
23 2*
23-2'>
23-2"
1S4 368 736 1472
23 ■ 2'»+ 23-2ä+23 • 2-'+ 23 • 2'>^23 • (2»-^ 2'+2*4-2'')=23 -105.
Die Addition der Werte ergibt
23+184 + 736+1472 = 2415 = 23 105.
Prof. Heinzerling.
Über „Mehlerde" im Anhaltischen 1617. Anna Hopffe
brachte in NrT^l (vom 27. Mai 1917, S. 286 f.) dieser
„Wochenschrift" einige Notizen über die Infusorienerde,
das sog. Bergmehl, als Sätligungsmittel für Menschen und
Tiere. Es ist vielleicht angebracht, den Blick auf eine histo-
rische Miszelle zu lenken, die sich in Karl von Weber's
Werk ,,Aus vier Jahrhunderten" (Neue Folge, I. Bd., Leipzig
1861, S, 391 f.) findet.
Im Jahre 16 17, als der Kurfürst Johann Georg I. sich zu
Zabeltitz aufhielt, d
rang
Kunde
nderbar
Naturereignis zu seinen Ohren. „Es quelle", so hieß es, „zu
Klicken unter denen von Lattorf, im Fürstenthum Anhalt, Mehl
aus der Erde und daß man dasselbe zum Backen gebrauchen
solle". Sofort schickte der sächsische Fürst einen Boten an
den Hauptmann zu Wittenberg mit dem Befehl an jenen ab ;
„er solle eine beglaubte Person dahin abordnen, von dem
Mehl ein Mühlmaaß voll übersenden und da man auch Brot
und Kuchen davon backen solle, einen Kuchen und Brot mit
überschicken".
Der Bote kam zwar ohne Kuchen, aber mit einem Stück
Brot, einer gewissen Menge des Bergmehles und folgendem
Bericht des Hauptmanns Daniel von Koseritz vom 23. Mai
1617 aus Wittenberg zurück:
„Ew. Churf. Gn. gnädigstem Befehlich zu unterthänigster
gehorsamer P'olge, habe ich alsobald eine beglaubte Person,
so man sonsten allhier im Amte zu allerhand Verschickungen
gebraucht, an den Ort, da das vermeinte Mehl zu befinden, ab-
gefertigt und dessen etwan ein Mühlmaaß abholen lassen,
welches Ew. Churf. Gn. Zeiger überantworten wird. Verhalte
Ew. Churf. Gn. daneben unlerthänigst nicht, daß anfänglich
zwar ein groß Geschrei davon gewesen, das Volk
auch Haufenweise von vielen Orten dahingelaufen, und weil
der Ort, da es vorhanden, an einem hohen Sandberge, so an
einem stillen Wasser liegt und nur etzliche Adern dieses Mehls
hineingehn, haben sie denselben immer tiefer nachgefolgt, daß
endlich die vergangene Woche drei Mägde und ein I-Cnecht
in einem Loch durch die einschießende Erde erdrückt und
todt herausgebracht worden. Jetzo aber befinden diejenigen,
so etwas geholt, daß das Brot so davon gebacken
wird, zu essen gar untauglich, wenn sie es schon
mlich mit anderm guten Mehl vermengen, daß es also fast
hts mehr geachtet wird, inmaaßen ich dann kein ganz Brot,
von diesem Mehle gebacken, sondern nur etzliche Stücke,
dem Boten gleichfalls zugestellt, bekommen können".
Dresden. Rudolph Zaunick.
Goethes Zikade
Heuschrecken. Aus Goethes
„Italienischer Reise" ist zu ersehen, daß Goethe Zikaden
wenigstens der Stimme nach gekannt hat. Denn nichts anderes
als Singzikaden können die ,, Heuschrecken , die gleich bei
Sonnenuntergang zu schrillen anfangen", gewesen sein, deren
Töne Goethe am 10. September 1786 in Trieut mit folgenden
Worten beschreibt: ,,Das Glocken- und Schellengeläute der
Heuschrecken ist allerliebst, durchdringend und nicht unan-
genehm. Lustig klingt es, wenn mutwillige Buben mit einem
Feld solcher Sängerinnen um die Wette pfeifen, man bildet
sich ein, daß sie einander wirklich steigern." Goethe schreibt
hier also statt Zikade Heuschrecke, während er statt Heu-
schrecke Zikade setzt in den Worten, die Mephistopheles
spricht, um den Menschen zu charakterisieren:
,,Er scheint mir, mit Verlaub von Ew. Gnaden,
Wie eine der langbeinigen Zikaden,
Die immer fliegt und fliegend springt
Und gleich im Gras ihr altes Liedlein singt.
Und lag' er nur noch immer in dem Grase!
In jeden Quark vergräbt er seine Nase."
Mir scheint diese Namensverwecbselung eine Ungenauig-
keit, nicht gerade schlimmer, als wenn der Volksmund jeden
Nachtfalter Motte, jede Kerbtierlarve Wurm und jedes See-
schneckengehäuse Muschel nennt, und es fragt sich, ob man
das in einem dichterischen Werke einen Fehler nennen dürfte.
Bewundern muß man dagegen den Sinn für echte Wirk-
lichkeit und die Treffsicherheit, mit der Goethe in wenigen
Versen das vielseitige Gebahren der Heuschrecken einwandfrei
und genau zu schildern vermocht hat. Hierin übertrifft Goethe
weit Lafontaine und alle anderen mir bekannten Dichter,
die je das Heuschreckenleben besungen haben. Diese Be-
obachtungsgabe ist's, was Goethe zum Naturforscher unter
den Dichtern machte , und dies ist's offenbar auch, was ihn
alle menschlichen Verhältnisse so echt, so wahr sehen ließ,
daß darum seine Werke ewigen Wert haben. V. Franz.
Literatur.
Kraepelin, Prof. Dr. K., E.xkursionsflora für Nord-
und Mitteleuropa. 8. verbesserte Aufl Mit 625 Holzschnitten
und einem Bildnis des Verfassers. Leipzig und Berlin '17,
B. G. Teubner. — 4,80 M.
Neeff, Dr. Fr., Gesetz und Geschichte. Eine philo-
sophische Gabe aus dem Felde. Tübingen '17, C. J.B.Mohr. —
I M.
Hettner, Prof. Dr. A., Englands Weltherrschaft und
ihre Krisis. 3. umgearbeitete Aufl. des Werkes ,, Englands
Weltherrschaft und der Krieg". Leipzig und Berlin '17,
B. G. Teubner. — 4,80 M.
D ann enbe rg, P., Zimmer- und Balkonpflanzen. 3. Aufl.
Mit einem Titelbild und 38 Abbildungen. Leipzig '17,
Quelle & Meyer. — 1,80 M.
Inhalt! Johannes Theel, Über die Bedeutung der Größe für Organismen. (l Abb.) S. 4S1. Max Frank, Abschätzen
von größeren Entfernungen unter Berücksichtigung der Luftperspektive. S. 486. — Einzelberichte : Hans Stübler,
Der Spiegelfleck am Vogelköpfchen. S. 4S8. W. Schuster, Über das Gewicht lebender Vogeleier. S. 488. Freiherr
V. Berg, Abnehmen der Waldschnepfen. S. 488. Van Maanen, Spiralnebel. S. 489. — Photometrische Bestimmung
der Helligkeit. S. 489. W. Herr, Einfluß der Größe der Moleküle auf die Löslichkeit. S. 490. Glühkathoden-
Röntgenröhre. S. 490. Karl Pieiffenberge r, Schilddrüsenstörungen und Meereshöhe. S. 491. — Bücherbespre-
chungen: E. Werth, Das Eiszeitalter. S. 492. Fr. Machatschek, Gletscherkunde. S. 492. A. Hesse und
H. Großmann, Englands Handelskrieg und die chemische Industrie. V. Karl Löffl, Die chemische Industrie
Frankreichs. S. 493. Adolf Naef, Die individuelle Entwicklung organischer Formen als Urkunde ihrer Slammes-
geschichte. S. 493. Felix M. Exner, Dynamische Meteorologie. S. 494. — Anregungen und Antworten : Wie unsere
Feinde rechnen. S. 495. Über ,, Mehlerde" im Anhaltischen 1617. S. 496. Goethes Zikaden und Heuschrecken. S. 496.
— Literatur: Liste S. 496.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, 1
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Na
validenstraße 42, erbe
nburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge i6. Band ;
der ganzen Reihe 32. Band.
Sonntag, den 9. September 1917.
Nummer 36.
Über Vitamine, Ergänzungsstoffe, Amidosäuren, Eiweißkörper
und einige Stoffwechselkrankheiten.
[Nachdruck verboten,"
Dr. E. P. Häußler.
In einer früheren Abhandlung in der „Naturw.
Wochenschr." habe ich gezeigt, ') daß es zwischen
chemisch ziemlich verschiedenartigen Stoffen, wie
Aminen einerseits und Proteinen oder Eiweiß-
körpern andererseits,Beziehungen gibt und Zwischen-
glieder, deren wichtige Rolle in der Natur man
erst in den letzten Jahren erkannt hat, und die
sehr wahrscheinlich mit verschiedenen anderen
Gruppen chemischer Verbindungen verwandt sind,
die man in der physiologischen und toxikologischen
Chemie nachgewiesen und über deren chemische
Gattung noch ziemliche Unklarheit herrscht. Es
sind dies die Ptomaine, die Hormone und die Toxine.
Dasselbe gilt für die Vitamine, über die ich
nachfolgend berichten möchte. Ihnen aber bereits
ihren mutmaßlichen Plaz in der Reihe Amine-
Amidosäuren-Proteine anzuweisen, wäre einerseits
verfrüht, andererseits aus historischen Rücksichten
nicht zweckmäßig, weshalb zuerst die Umstände
und Beobachtungen mitgeteilt werden mögen, die
auf ihr Dasein hinwiesen. Daß ich hierbei eine
größere Anzahl von Tatsachen und Theorien der
reinen Chemie, der Medizin und der dazwischen-
liegenden Grenzgebiete heranziehen muß, ist nicht
zu vermeiden.
Justus V. Liebig und seine Schüler haben
bekanntlich festgesellt, daß neben Wasser und
Mineralstoffen Kohlehydrate, Fette und Eiweiß-
stoffe die notwendigen Bestandteile aller Nahrungs-
mittel sein müssen. Bisch off und Voit, Mole-
schott,Pettenkofer undRubner haben das
Gebiet der Ernährungsphysiologie und -chemie,
namentlich in bezug auf die Mindestmengen dieser
Stoffe, um weitere fundamentale Gesetze bereichert.
Der Münchner Physiologe C. v. Voit hat das
Eiweißminimum''*) zu lOO g pro Tag festgesetzt,
während ferner nachgewiesen wurde, daß in weit-
gehendem Maße Fette durch Kohlehydrate und
umgekehrt ersetzt werden können.
Nun enthalten die Mehle unserer Getreidekörner
neben Stärke und Mineralstoffen noch größere
oder kleinere Mengen von Proteinen, so daß sie,
als Mehl oder Brot, womöglich noch mit Zusatz
von Fett, verfüttert, zur Erhaltung des Lebens und
der Gesundheit genügen sollten. Eine Reihe von
diesbezüglichen Versuchen ergab aber, daß das
') „Über Amine, Amidosäuren und Eiweißkörper, Alkaloide,
Hormone, proteinogene Amine und Toxine" (Naturw. Wochen-
schr. 31 (N. F. 15) 1916, S. 560).
•') Von Chittenden, Professor inNewhaven (Amerika),
und Anderen ist bekanntlich das Minimum noch tiefer gesetzt
worden.
nicht immer der Fall war. Von Holst und
Fröhlich ausschließlich mit Hafer-, Roggen-,
Gerste- oder Weizenkörnern gefütterte Meer-
schweinchen starben nach 25 — 30 Tagen. Ein
von Magendie nur mit Schwarzbrot ernährter
Hund blieb gesund, während sein, ausschließlich
mit Weizenbrot gefütterter Leidensgenosse stark
abmagerte und nach 40 Tagen an Schwäche zu
Grunde ging. Ähnliche Beobachtungen an Mäusen
wurden in Hof meist er's Laboratorium gemacht.
Ernährung mit Weizen- oder Gerstenmehl hielt die
Tiere 2 — 4Wochen, mit Hafermehl 5—7 Wochen am
Leben, hingegen blieb bei Fütterung mit Roggenmehl
das Körpergewicht gegen 70 Tage auf gleicher Höhe
und nahm sogar zu bei Zusatz von Kleie auf den
Speisezettel. Ebenso ertrugen Tauben Weizenbrot
nicht, wohl aber Weizenbrot -f Kleie. Ähnliche
Versuche ließen sich noch mehr anführen. Nun
war aber in allen Fällen genügend Eiweiß in der
Nahrung, worauszu schließen ist, daß wohl chemisch-
analytisch Eiweiß gleich Eiweiß ist, ') nicht aber
bezüglich der Ernährung. Aber nicht nur auf einen,
nach den üblichen Methoden der Lebensmittel-
chemie nicht mehr feststellbaren Unterschied der
Eiweißkörper in den verschiedenen Nahrungsmitteln
mußte geschlossen werden, es schien auch, daß in
der Kleie der Cerealien sich Substanzen befinden,
die bei einseitiger Mehl- oder Brotnahrung zur
Erhaltung des Lebens und der Gesundheit not-
wendig sind. Und die dritte Beobachtung war
die, daß verschiedene der klinischen Erscheinungen,
die die erkrankten Tiere zeigten, Ähnlichkeit hatten
mit Krankheitssymptomen, wie sie beim Skorbut
der Menschen beobachtet wurden.
Der Skorbut (Scharbock) ist eine Allgemein-
krankheit, die sich hauptsächlich, teils durch Anämie
und fortschreitende Abmagerung, teils durch große
Neigung zu örtlichen Blutungen und hämorrhagi-
schen Entzündungen, besonders des Zahnfleisches,
auszeichnet und meist epidemisch oder endemisch
auftritt. Skorbutepidemien, zum Teil mit großen
Sterblichkeitsziffern, traten früher sowohl auf dem
Lande (unter kriegführenden Truppen, den Be-
satzungen belagerter Städte, den Insassen von
Gefängnissen,Gefangenenlagern,Findelhäusernusw.)
') Die Bestimmung des Eiweißgehaltes in Nahrungs- und
Futtermitteln wird fast immer durch Bestimmung des „Gesamt-
stickstoffes" oder, genauer, durch Bestimmung des Stickstoffes
in dem mit Kupferhydroxyd fällbaren Anteile = Proteinstick-
stoff" ausgeführt. Durch Multiplikation der so gefundenen
Prozente Stickstoff mit einem bestimmten Faktor, wie 6,05 ;
6,25; 6,37, je nachdem es sich um Gemüse, Fleisch oder Milch
handelt, erhält man den Eiweißgehalt in Prozenten.
498
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 36
als auch namentlich unter Schifisbesatzungen auf. ')
Daß er in erster Linie durch mangelhafte und
hauptsächlich einseitige Ernährung erworben wird,
geht daraus hervor, daß durch Änderung derselben,
Zufuhr von fehlenden und frischen Nahrungsmitteln,
namentlich Gemüse, Fleisch und Milch (Landung
des Schiffes, Aufhebung der Belagerung u. a. m.)
die Erkrankungen auffallend schnell abnahmen.
Er war namentlich noch lange eine gefürchtete
Schiffskrankheit, die aber mit dem Aufkommen
der Dampfschiffahrt und der damit verbundenen
Abkürzung der Reisedauer, wie auch durch rationelle
Ausrüstung und Verproviantierung der Schiffe
immer mehr verschwand.
Anschließend an den Skorbut und in Hinsicht
auf die nachfolgenden Ausführungen seien hier
noch zwei Krankheiten genannt, die ähnlichen Ur-
sachen ihre Entstehung verdanken. Die Pellagra
(Scorbutus alpinus, Raphania maisitica), die zum
ersten Male um die Mitte des 18. Jahrhunderts
beschrieben wird, tritt hauptsächlich in Gegenden
auf, wo die Bevölkerung nur auf Maisgenuß an-
gewiesen ist, wie im nördlichen Italien, einigen
Teilen Österreichs, Rußlands und der asiatischen
Türkei. Es ist eine chronische Krankheit, die im
Laufe des Sommers, wenn die Bauern nicht nur
auf Mais angewiesen sind, sondern auch Obst und
Gemüse genießen, wieder nachläßt. Neben Magen-
und Darmerscheinungen, sowie nervösen Störungen
sind ihre Hauptmerkmale besondere Rötung und
schmerzhafte Empfindsamkeit der von der Sonne
bestrahlten Hautstellen, Muskelschwäche und all-
mähliche Abmagerung, zum Teil mit tödlichem
Ausgang. Bis vor wenigen Jahren hielt man sie
für eine Intoxikation, nach einigen Forschern ver-
ursacht durch Pilze, die sich am Maiskorn entwickeln,
nach anderen (so nach Lombroso) durch Produkte
des Maiskornes, die an sich unschädlich sein sollen.
Als Therapie wurde und wird hauptsächlich aus-
reichende und wechselreiche nahrhafte Kost emp-
fohlen und Verwendung von gesundem Mais. So
wie der Mais eine wichtige Rolle spielt bei der
Pellagra steht der Reis in enger Beziehung zu
einer anderen Krankheit, dem Beri-Beri. ")
Dieser, die Kak ke der Japaner (Polyneuritis
endemica perniciosa) ist bedeutend weiter ver-
breitet, so an den Küsten von Vorder- und Hinter-
indien, auf den Inseln des indischen Archipels, den
Molukken, der Ostküste von China und im japa-
nischen Inselreich, aber auch auf den Antillen und
in Gebieten von Brasilien. Die auffallendsten und
gefährlichsten Erscheinungen zeigen sich am Nerven-
system und an den Zirkulationsorganen. Die Verhee-
rungen, welche die Krankheit unter den betroffenen
Völkern anrichtet, sollen bedeutend größer sein als
') Schwere Skorbutepidemien waren die im Kreuzzugs-
heere Ludwigs IX. vor Kairo, die unter der Schiffsmannschaft
Vasco de Gamas auf seiner Fahrt nach Ostindien und die in
Ruflland im Jahre 18-19. Dann wurden auch noch in neuerer
Zeit Polare-xpeditionen schwer von Skorbut befallen.
'') Das Wort erscheint in der Literatur bald mit männ-
lichem, bald mit weiblichem .Artikel.
bei der Pellagra. Auch hier sind zahlreiche
Hypothesen über ihre Ursachen mit viel Eifer und
großem Beobachtungsmaterial gegeneinander ver-
fochten worden. Man gab dem Klima die Haupt-
schuld, den hohen Graden von Luftfeuchtigkeit
und dem starken Temperaturwechsel, hauptsäch-
lich aber der mangelhaften Ernährung. Daß die
Ernährung mit Reis in engem Zusammenhang mit
dem Beri-Beri stehe, wurde ebenfalls festgestellt.
„Die dem endemischen Beri-Beri unterworfenen
Völker sind hauptsächlich solche, deren Haupt-
nahrung lediglich aus Reis in großen Portionen
besteht. — Ai-nos (die Ureinwohner von Yezo)
sollen überhaupt nur ausnahmsweise von Kak-ke
befallen werden, die Immunität von Amerikanern
und Pluropäern ist dort ebenso ausgesprochen wie
auf den übrigen japanischen Inseln." ') Durch
Änderung der Kost und besonders auch durch
Zusatz von Gerstenbrot ging sodann in HoUändisch-
Indien und auf den japanischen Inseln die Zahl
der Erkrankungen stark zurück; ohne daß man
sich eine sichere Erklärung für diese schädliche
Wirkung des Reises geben konnte.
Es war Eijkman, der 1889 auf Java eine
Reihe von äußerst wichtigen Beobachtungen
machte, die bestimmt waren, das Studium dieser
Krankheiten in neue Bahnen zu leiten und von
anderen Gesichtspunkten aus die Gesetze der Er-
nährungsphysiologie zu betrachten. Erfand: Hühner,
die ausschließlich mit Kochreis (dem weißglänzen-
den polierten Reis) gefüttert werden , er-
kranken unter PIrscheinungen, die auffallende
Ähnlichkeit mit Beri-Beri haben; — er nannte die
Krankheit Polyneuritis gallinarum, erfand
ferner, daß die Hühner gesund blieben, wenn die
ganzen Reiskörner verfüttert wurden, und
schließlich, daß Zusatz von Reis k 1 e i e zum polierten
Reis die Krankheit, so sie schon aufgetreten war,
zur Heilung brachte, bzw. vorher gesunde Tiere
auch ferner gesund erhielt.
Also nicht Bakterien, oder Schimmelpilze am
Reise, oder gewisse Substanzen in demselben,
deren Genuß in großer Menge giftig wirkte, waren
schuld an der Beri-Beri-Krankheit, sondern die
Vervollkommnung der Maschinen, die zum Polieren
des Reises dienten, die ihn seiner äußeren, wie
man meinte, wertlosen Hülle nahezu restlos be-
freiten. Damit erklärte es sich auch, weshalb die
Krankheit in früheren Zeiten, wo man eben über
diese maschinellen Einrichtungen noch nicht ver-
fügte, noch nicht auftrat und weshalb Völker, die
ihren Reis noch nach alter Väterweise mit Hand-
mühleji mahlten, gesund blieben.
Es mußten also in der Reiskleie Stoffe sein,
die — bei einseitiger Ernährung mit Reis — zur
Erhaltung der Gesundheit unbedingt erforderlich
waren und C. Funk versuchte diese Stoffe, die
er Vitamine^) nannte, zu isolieren. Er ging
') Zitiert nach Wernich in „Eulenburgs Realenzyklo-
pädie der gesamten Heilkunde". Wien und Leipzig 1894.
Bd. III, S. 230 u. ff.
^) = zum Leben erforderliche Amine.
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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dabei von riesigen Mengen von Reiskleie aus —
gegen 4 Doppelzentner — , befreite sie mit Äther
von Fetten und Lipoiden (Lecithinen usw.) und
extrahierte sodann mit Alkohol und erhielt aus
dem Extrakt durch eine Anzahl weiterer chemischer
Prozesse zurAbscheidung von Eiweißspaltprodukten
aus 380 kg Reiskleie 2,5 g einer kristallinischen
Substanz, die er weiter in 3 verschiedene chemische
Körper zerlegte, von denen einer als Nikotinsäure ')
anzusprechen war. Zu dieser Verbindung waren
u. a. auch japanische Forscher gelangt, die indessen
die Reiskleie auf andere Weise verarbeitet hatten
und ihr Endprodukt „Oryzanin" nannten, das schon
in Mengen von 0,005 — 0.0 1 g innerlich oder unter
die Haut gespritzt imstande war, eine Taube zu
heilen, die an den geschilderten Krankheitserschei-
nungen infolge einseitiger Fütterung mit poliertem
Reise litt. Bei Wiederholung seiner Versuche
zeigte dann Funk, daß der Nikotinsäure nur ge-
ringe heilende Wirkung zukommt, hingegen den
beiden anderen, mit ihr abgeschiedenen Stoffen.
Aus Hefe, die bei Beri-Beri verfüttert, gute thera-
peutische Wirkung zeigte, gewannen andere
Forscher einen ähnlich wirkenden Körper, eine
„antineuritische Base", das „Torulin".
Nun wiesen aber die Ergebnisse aller dieser
Untersuchungen viele unerklärliche Widersprüche
auf Einmal war die Menge der gewonnenen
Vitamine gegenüber dem Untersuchungsmaterial
verschwindend klein, sodann war der Gang ihrer
Abscheidung recht verschieden, bald wurde mit
Säuren gekocht (hydrolysiert), bald nicht, und
schließlich sollen nach Röhmann die so erhal-
tenen wirksamen Stoffe keine dauernde Heilung
hervorbringen, sondern lediglich gewisse Krank-
heitssymptome, wie namentlich die Lähmungs-
erscheinungen vorübergehend beheben, eine Eigen-
schaft, die auch verschiedenen anderen, chemisch
wohlbekannten Stoffen, wie Purinen, Pyrimidincn
u. a. -) zukommen. Es würde sich also nicht um Spezi-
fika handeln.wie man sich pharmakologisch ausdrückt.
Der ebengenannte Physiologe hat nun eine
neue Theorie zur Erklärung dieser Erscheinungen
aufgestellt, ^j die, da sie recht gut mit den neueren
und neuesten Tatsachen der Eiweißchemie über-
einstimmt, viel plausibler ist. Wohl veranlaßt
durch die vorher mitgeteilten Fütterungsversuche
von Tieren mit Mehlen mit und ohne Kleiezusatz,
hat Röhmann von der Chemie der Eiweißkörper
in unseren Getreidekörnern aus seine Betrachtungen
angesetzt. Das vom Keimling und der Kleie
(Schale + Aleuronschicht) befreite Getreidekorn,
der Mehlkern enthält neben Stärke (70 — 90 •'/,,)
und Spuren von Asche, Rohfaser und fettähnlichen
Substanzen ein Gemisch von Eiweißstoffen, den
Kleber, ca. 8— is",,.'] Dieser läßt sich durch
Behandeln mit 70^/0 'gern Alkohol wieder in
2 Eiweißarten trennen, in die im Trennungsmittel
unlöslichen Glutenine und in die darin löslichen
Gliadine. Beide'-) sind nun sogenannte „unvoll-
ständige" Eiweißstoffe, das heißt sie ent-
halten von den bis jetzt bekannten 17 Amido-
säuren, die bei der Spaltung (Hydrolyse mit Säuren
oder Enzymen) der bis jetzt untersuchten Eiweiß-
körper verschiedenster Herkunft gefunden wurden,
einige nicht und andere nur in sehr geringem Be-
trage gegenüber „vollständigen" Eiweißstoffen, wie
z. B. dem Myosin (aus Muskelfleisch), dem Ov-
albumin und Vitellin des Hühnereies und anderen
mehr. Das geht aus folgender Tabelle ') hervor.
Des ferneren sollen manche Gliadine arm sein
an Tryptophan, während sie, auf Kosten der andern
Amidosäuren, große Mengen von Glutaminsäure
enthalten. (Weizengliadin fast 50 "z^,.)
Also schon rein chemisch betrachtet, erweisen
sich die Eiweißstoffe der Getreidemehle als nicht
gleichwertig mit denen des F'leisches, der Eier
und anderer Nahrungsmittel. Aber auch die biolo-
gischen Versuche führten zu diesem Resultate,
und zwar nach der Richtung, daß die Cerealien-
mehlproteine gegenüber den anderen minderwertig
sind. Osborne und Mendel konnten junge
Ratten mit Milcheiweiß aufziehen, nicht aber mit
Gliadinen, gemischt mit Stärke, Zucker, Fett und
Salzen. Entweder magerten die Tiere allmählich
ab oder der Tod erfolgte nach plötzlichem Ge-
wichtssturz. Aber nicht nur bei Zusatz von Milch
zu der Gliadinnahrung, auch bei Zusatz von Lysin
100 Teile des betreffenden Eiweißes liefern bc
Gliadin
die Amidosäuren
aus Weizen
aus Roggen j aus Gerste
aus Mais
Hisüdin
1,71
1,90
1,76
0,61
0,39 1,28
0,43
Arginin
4.91
7,45
4.72
3.16
2,22 2,16
1,16
Lysin
3.76
4,81
1,92
+
0,00 0,00
0,00
und Ammoniak
1.34
1,25
4,02
5,11
5-'> ' 4,87
3,ö3
N'.
\
•) = Spallprodukt des Nikotins,
"^COGH
2) = Spaltprodukte von Nukleinen (ZellkerneiweiBstoffen).
*) „Die Chemie der Cerealien in Beziehung zur Physiologie
und Pathologie" von Prof. Dr. F. Röhmann. Stuttgart,
Verlag von Ferdinand Enko, 19 16.
') Die Zahlen beziehen sich auf Weizen- und Roggen-
mehl, wasserfrei, und variieren nach dem Grade der Aus-
mahlung.
^) Nach Röhmann nur die Gliadine, nach den Analysen
aber auch bis zu einem gewissen Grade die Glutenine.
ä) Röhmann, loc. cit. S. 471.
500
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 36
erholten sich die Tiere rasch wieder und nahmen
an Gewicht zu, und diese Amidosäure ist, wie
aus obiger Tabelle hervorgeht, in Gliadin nicht,
und in Glutenin nur in geringem Maße vorhanden.
Ähnliche Beobachtungen machten Osborne und
Mendel bei Verfütterung von Zein, der Eiweiß-
substanz des Maiskornes. Hier konnte durch Zu-
satz der Amidosäure Tryptophan die Gewichts-
abnahme aufgehalten, oder doch zum mindesten
stark verzögert und durch Zusatz von Lysin,
sowie von Lysin, Arginin und Histidin eine Ge-
wichtszunahme bewirkt werden.
Abderhalden und seine Mitarbeiter haben
in einer großen Zahl von Fütterungsversuchen
mit vollständig hydrolysierten Eiweißarten, — die
also nur noch aus den Bausteinen des Eiweißes,
den Amidosäuren — bestanden, Tiere — sogar
unter Gewichtszunahme — ernähren können.
Sie verabreichten, hauptsächlich Hunden, zum Teil
neben Fetten und Kohlehydraten, vollkommen
hydrolysiertes Pferdefleisch, ferner vollkommen
hydrolysiertes Kasein und erzielten Gewichts-
zunahme. ') Nun schieden sie aus dem zu ver-
fütternden Amidosäurengemisch eine Komponente,
das Tryptophan, vorherabund prompt trat negative
Stickstoffbilanz ^) ein, die durch Zusatz des fehlen-
den Tryptophans wieder positiv wurde. Eine
Anzahl solcher Versuche ergab immer die gleichen
Resultate und sie stehen vollkommen in Überein-
stimmung mit denen von Mendel und Osborne.
Erinnern wir uns kurz, daß die artfremden Ei-
weißstoffe der Nahrung im Magendarmkanal bis
in die einfachsten Teilstücke, die Amidosäuren
gespalten werden, diese in die Darmwand eintreten
und dort wieder zu, nun arteigenen, Eiweißstoffen
zusammengesetzt werden, so folgt aus obigen Ver-
suchen, daß der Körper zur Bildung seiner Eiweiß-
körper notwendig auch der Amidosäure Tryptophan
bedarf, und diese, wenn sie nicht in der ver-
fütterten Eiweißart vorkommt, nicht selbst zu
bilden vermag. Anders verhält es sich z. B. mit
der — chemisch — einfachsten Amidosäure, dem
Glykokoll, das der tierische Organismus wohl für
seine Eiweißsynthesen braucht, das er sich aber, wie
aus Versuchen von Abderhalden hervorgeht,
selbst herstellen kann.
Werfen wir noch einmal einen kurzen Blick
auf die beiden anderen wichtigen Bestandteile der
Nahrungsmittel, die Fette und die Kohlehydrate,
um die Wichtigkeit der soeben erörterten Be-
obachtungen richtig würdigen zu können. Die
Spaltprodukte der Kohlehydrate (Stärke, Glykogen,
Inulin, Gummiarten, Milchzucker, Malzzucker, Rohr-
zucker, Fruchtzucker usw.) sind Hexosen und Pen-
tosen, aus denen der Organismus wieder alle die
obengenannten Di- und Polysaccharide aufzubauen
vermag, oder die vollkommen verbrannt werden.
Die chemische Struktur dieser einfachen Zucker-
arten zeigt aber nur ganz geringe Unterschiede.
CH,,OH • CHOH • CHOH • CHOH • CHOH ■ CO • H
Traubenzucker, ebenfalls Galaktose
CH2OH . CHOH • CHOH • CHOH • CO ■ CH2OH
Fruchtzucker.
Das gleiche gilt für die Fette; sie enthalten
alle Glyzerin, verbunden (verestert) mit Fettsäuren,
die sich im allgemeinen nur durch verschiedene
Länge ihrer — CHj — ketten, und zum Teil einige
Doppelverbindungen unterscheiden
CH^OH-CHOH-CRjOH
Glyzerin.
CH3(CH2l6CH„— CH2- (CHjJe— COOH
= Palmitinsäure
CH3(CH2)j^CH2— CH.,-(CH.j),-COOH
= Stearinsäure
CH3(CH2),-CH = CH-(CH2),-COOH = Ölsäure.
Durch sukzessive Abspaltung und Oxydation
der langen — CHj — CHj reihen der Fettsäuren
entstehen niedere Oxysäuren mit wenig Kohlen-
stoffatomen, die sich auch bilden durch Spaltung
und Oxydation der Zucker. Ferner zeigt schon
ein Blick auf die Formeln des Glyzerins und des
Traubenzuckers, daß diese ihrer Struktur nach
viel Ähnlichkeit miteinander haben. Daß bei der
Ernährung Kohlehydrate durch Fette, und um-
gekehrt Fette und Öle durch Stärke und Zucker
ersetzt werden können, dürfte bekannt sein und
wurde eingangs schon erwähnt. Betrachten wir
uns hingegen die verschiedenen Formeln der Eiweiß-
bausteine, der Amidosäuren, so werden wir leicht
große Unterschiede unter den einzelnen Spalt-
stücken feststellen können.
1. Monoamidosäuren mit offener Kette (von C- Atomen)
(einbasisch)
z. B. Glykokoll CHjNH^-COOH
Alanin CHg— CH^NH,— COOH
Leucin CH3-CH— CH^— CH.^NH^-COOH
CH3
2. Monoamidosären mit offener Kette
(zweibasisch)
z.B. Asparaginsäure COOH— CH.j— CH-NH^— COOH
Glutaminsäure COOH— CH^-CHj-CHNHj— COOH.
1) „Synthese der Zellbausteine in Pflanze und Tier" von Prof.
Dr. E. A b d erhal d en. 1912. Berlin, Verlag von J. Springer.
'') Negative Stickstoftbilanz ist vorhanden, wenn mehr
Stickstoff (in Form von Harnstoff usw.) im Harn ansgeschieden
wird, als er in Form von Eiweiß in der Nahrung zugeführt
wurde, die Mehrausgabe erfolgt durch Zersetzung, „Einschmel-
zung" von Körpereiweiß und verursacht Abmagerung, positive
N-bilanz = Gewichtszunahme.
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
3. Diamidosäuren mit offener Kette.
wie Lysin CH^NHä-CH,— CH,— CH^-CH^NHa— COOH
und Arginin HN=C— NH-CHj-CH.,— CH^— CH^NH^— COOH
NU,
Eine offene Kette haben ferner Valin, Serin, das den Zuckern sehr nahestehende Glukosamin
und das schwefelhaltige Cystin.
= CH2NH3-CH2— S— S-CH2-CH2NH2
I I
COOH COOH
4. Vom Benzolkern leiten sich ab
yCH-CHx.
Phenylalanin CH<f >CH— CH^-CH.NH^— COOH
\CH=CH/
und Tyrosin HOcT ^-CH.j-CHij— NH^-COOH
5. vom Indolkern das Tryptophan CH
HC/^C CH— CH.-CHjjNHa-COOH
HC\ Jc\ JCH
C N
I
H
6. vom Pyrrolidinkern das Prolin CH.2 — CHj
I I
CH, CH-COOH
NH und das Oxyprolin
und 7. vom Imidazolkern das Histidin CH = C— CH.-CHgNHa— COOH
I I
NH N
CH
Es erscheint somit sehr wahrscheinlich, daß
nicht nur das Tryptophan, sondern noch ver-
schiedene andere dieser Verbindungen vom Orga-
nismus nicht selbst hergestellt werden können.
Da er sie aber zur Bildung verschiedenster Arten
seiner eigenen, arteigenen, Eiweißmoleküle not-
wendig braucht, so wird er sich wohl auf folgende
Weise helfen. Er wird zum Teil seine eigenen
Eiweißmoleküle wieder abbauen, und zwar zuerst
das Muskeleiweiß, dann wird er aber auch zahl-
reichen wichtigen Organen nicht mehr die nötigen
Beträge neuer Eiweißmoleküle zuführen können.
Die dadurch verursachten Störungen treten als
Krankheitssymptome zutage, verursacht letzten
Endes durch ungenügende Zufuhr der notwendigen,
volhveriigen Eiweißstoffe durch die Nahrung.
Nicht vollwertige oder „unvollständige" Ei-
weißstoffe sind nun u. a. eben die Gliadine, wie
aus den mitgeteilten physiologischen Versuchen
und chemischen Betrachtungen hervorgeht. „Wenn
unsere Vorstellungen vom Eiweißabbau im Magen-
darmkanal und anschließendem Aufbau in der Darm-
wand richtig sind, dann muß man a priori an-
nehmen, daß nicht jede Eiweißart für den tieri-
schen Organismus gleichwertig ist. Wir müßten
vielmehr erwarten, daß von solchen Proteinen, die
bei der vollständigen Spaltung ein Gemisch von
Aminosäuren liefern, das in seinen Mengenverhält-
nissen an einzelnen Bausteinen am besten dem
Aminosäuregemisch entspricht, das man bei der
Hydrolyse der Plasmaeiweißkörper erhält, die ge-
ringsten Mengen gebraucht werden. Es müßte
z. B. das Gliadm, daß außerordentlich viel Glutamin-
säure enthält, gegenüber einem Protein, das die
eben erwähnten Eigenschaften besitzt, entschieden
minderwertig sein." ')
Wie die Versuche von Osborne und Mendel
gezeigt haben, müssen bei Gliadinfütterung die
fehlenden Amidosäuren zugesetzt — „ergänzt" —
werden. „Damit also eine Nahrung eine aus-
reichende ist, muß sie „vollständige" Eiweißstoffe
enthalten, enthält sie unvollständige Eiweißstoffe,
so kann dieser Mangel ausgeglichen werden durch
Zufuhr der entsprechenden „Ergänzungs-
stoffe", ^j
') Abderhalden, p. Si.
^j Röhmann, p. 474. loc.
S02
Naturwissenschaftliche Wochenschri:
N. F. XVI. Nr. 36
Und diese Ergänzungsstoffe finden sich nun
eben nach R ö h m a n n , wenn es sich um Cerealien-
mehle handelt, in der Kleie, die die Waben- oder
Aleuronschicht der Getreidekörner ') mit ver-
hältnismäßig viel Eiweißstoffen enthält. Nicht
Vitamine oder Katalysatoren (Hopkins) sind es,
die die wertvollen Bestandteile der Reiskleie, der
Mais- und Weizenkleie bilden, sondern die er-
gänzenden Amidosäuren. Fehlen diese, so entsteht
bei einseitiger Ernährung mit Reis Beri-Beri, mit
Mais Pellagra (Zeismus), und Skorbut bei aus-
schließlichem Genuß von, von Kleie befreitem,
Schiffszwieback; wir haben es also weder mit
Intoxikations- noch Infektionskrankheiten zu tun,
sondern mit Stoffwechselstörungen. -)
R ö h m a n n gibt selbst zu , daß noch ver-
schiedene Beobachtungen bei Fütterungsversuchen
mit seiner Theorie nicht im Einklang stehen. So
z. B. daß manche Nahrungsmittel und Stoffe, die
mit Erfolg zur Verhütung bzw. Heilung von Beri-
Beri und Polyneuritis gallinarum gegeben werden
(wie Hefe, Leguminosen usw.), ihre günstige Wir-
kung bei längerem Erhitzen auf 120" und höher
verlieren sollen. Ferner konnte G. Hopkins
junge Ratten mit einem Gemisch aus Kasein (also
doch ein vollständiger Eiweißstoff), Fett, Stärke
und Salzen nicht dauernd ernähren, und erwähnt
hierbei auch den „Kinderskorbut", wie er von
Möller und Barlow zuerst beschrieben wurde,
der dann eintritt, wenn Säuglinge längere Zeit
nur mit stark sterilisierter Kuhmilch oder Nestle's
Kindermehl ernährt werden. Röhmann ver-
mutet, daß das feuchte Kasein (das außerdem die
Mol isch 'sehe Eiweißreaktion nicht gebe) beim
Isolieren und Trocknen derart verändert worden
sei, daß es nicht mehr als vollwertiger Eiweißstoff
gelten könne. Inwieweit diese Beobachtungen
und Vermutungen mit den Versuchen von Abder-
halden, der auch bei Fütterung mit vollstän-
dig abgebautem Kasein mitunter schwach
negative Stickstoffbilanzen erhielt, übereinstimmen,
ist noch durch weitere Experimente zu entscheiden.^)
Weiter gibt Röhmann zu, daß bis jetzt noch
nicht nachgewiesen sei, daß die Eiweißstoffe des
Reisendosperms unvollständig seien und die der
Reiskleie die Ergänzungsstoffe enthalten, wenn-
gleich infolge der botanischen Verwandtschaft des
Reises zum Mais und unseren Getreidearten dies
sehr wahrscheinlich sei.
Die Ursachen des günstigen Einflusses des
Vollkornbrotes, sowie des Zusatzes von Kleie zu
') Bedingung ist natürlich, daß die Kleie auch derartig
fein gemahlen wird, daß die von einer dichten Zellhaut um-
gebenen Aleuronzellen den Verdauungssäften zugänglich werden.
'') So wird z. B. Beri-Beri noch in neueren Werken als
Infektionskrankheit angegeben. Vgl. ,,Die experimentelle
Bakteriologie und die Infektionskrankheiten" von W. Kolle
und H. Hetsch. Bd. II., 8.915 (1911). Urban u. Schwarzen-
berg, Berlin u. Wien.
"} Auch die wiederholt aufgeworfene Frage, ob und in
welchem Maße bereits in den Nahrungsmitteln vorhandene
Fermente zur Ernährung notwendig sind, würde sich vielleicht
durch obige Befunde entscheiden.
den Futtermischungen hat man schon früher ver-
schiedentlich in ihrem hohen Asche- und nament-
lich Calciumgehalt sehen wollen. Um aber darauf-
hin eine Theorie aufzubauen, müßte man die
chemische Kontrolle bei Stoffwechselversuchen
anders gestalten, statt Bestimmung von Stickstoff
und Amidosäuren im Harn quantitative Ermitt-
lungen der Mineralsubstanzen und müßten wir
ferner bereits über eine ausreichende Zahl von
genauen Aschenanalysen (sowohl in qualitativer,
wie auch quantitativer Beziehung) unserer Nahrungs-
mittel verfügen. Dies ist nun leider nicht der
Fall, denn früher — und aus dieser Zeit stammen
unsere diesbezüglichen Untersuchungen, die immer
wieder zitiert werden — wurden die zu unter-
suchenden Lebensmittel zu diesem Zwecke ver-
brannt und in der Asche die anorganischen Be-
standteile bestimmt. Daß diese Methode sehr oft
unzuverlässige Werte liefert, durch Reduktion und
Verflüchtigung mancher Metalle und Metalloide,
hat Ragnar B er g i) nachgewiesen. Es ist hierzu
unbedingt notwendig, „naß" zu veraschen, d. h.
die organischen Bestandteile mit konzentrierten
Mineralsäuren zu zerstören und dann in dem so erhal-
tenen Gemisch organischer Salze die Anionen und
Kationen qualitativ und quantitativ zu ermitteln :
Brauchen wir einerseits noch sehr viele und
zuverlässige Aschenanalysen von Lebensmitteln,
um ganz sicher festzustellen, ob und wie weit der
Gehalt an anorganischen Bestandteilen für die ge-
schilderten Stoffwechselkrankheiten in PVage kommt,
so benötigen wir auch noch andererseits noch sehr
viele Ergebnisse von Hydrolysen der verschiedenen
Eiweißarten unserer zahlreichen Nahrungsmittel.
Sodann sind die Methoden zur quantitativen Tren-
nung und Isolierung der erhaltenen Amidosäuren
noch sehr verbesserungsbedüftig, erhält man doch
günstigenfalls nur 60 — 70 "/o an sicher charakteri-
sierten Spaltstücken (Amidosäuren) und bessere
Ausbeuten wurden nur erhalten auf Kosten der
Reinheit der isolierten Substanzen. -)
So, wie eine genaue und in ökonomischer
Hinsicht vorteilhafte Betriebskontrolle einer chemi-
schen Fabrik nur auf Grund einwandfreier Analysen-
methoden möglich ist, so ist auch die klare und
eindeutige wissenschaftliche Beantwortung dieser
Fragen, die die ganze Ernährung.'sphysiologie um-
fassen, und tief in die medizinischen Gebiete ein-
greifen, nur möglich mit Hilfe genauer chemisch-
analytischer Bestimmungsverfahren und einergroßen
Anzahl zu verlässigerdiesbezüglicher Gehaltstabellen,
und es gelten auch hier die Worte aus Faust:
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein,
Geduld will bei dem Werke sein."
') Chemiker-Zeitung XXXV, 191 1.
•-') ,, Allgemeine Chemie der Eiweißstoffe" von Dr. F,
N. Schulz. Stuttgart 191 7. S. 56, und schließlich sei noch
daraufhingewiesen, daß auch die Abderhalden' sehe Theorie
vom vollständigen Abbau der Eiweißsioffe vor der Resorption
von Siegfried in Frage gestellt wird; vgl. darüber „Über
partielle Einweißhydrolyse", von M. Siegfried, Berlin 1916 bei
Gebrüder Bornträger.
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
503
Über die Bedeutung der Größe für Organismen.
Von Prof. Johannes Theel.
[Nachdruck verboten.] Mit I Abbildung.
Die folgenden Erscheinungen haben ihren Grund Herabfallen
in dem Teil der Physik, welcher als Mechanik
fester Körper bezeichnet wird.
Wenn eine Masse m um eine Höhe h gehoben
werden soll, so ist dazu eine Arbeit A = mgh
nötig; g bedeutet die Gravitationskonstante und
ist von der Beschaffenheit des Körpers ganz un-
abhängig; nrig = p ist das Gewicht des Körpers.
Nehmen wir an, ein Tier vom spezifischen
Gewicht c ') wollte sich — kletternd, springend
oder fliegend — zu einer Höhe erheben, die gleich
dem n fachen seiner eigenen Körperlänge 1 ist.
Die dazu nötige Arbeit wäre A=cP-nl = cnl*.
Diese Arbeit ist also der vierten Potenz der Länge
proportional.
Ein größeres Tier, welches dieselbe Leistung
vollbringen und auch zum n- fachen seiner eigenen
Länge emporgelangen will, muß also eine Arbeit
leisten, die mit zunehmender Größe sehr rasch
wächst. Aber wachsen nicht auch die Körper-
kräfte in demselben Maße.? Nein. Wenn man
annimmt, das größere Tier wäre dem kleinen
geometrisch ähnlich und von gleichem inneren
Bau, so wären seine Kräfte nur im Verhältnis der
3. Potenz der Länge überlegen; denn die Muskel-
menge ■-) wächst mit dem Volumen also mit 1 ^
Das bedeutet nun: die Leistung wird durch L*
gemessen, die Leistungsfähigkeit durch L^. Daher
haben kleine Tiere den Kampf mit der Schwere
viel leichter als große und je kleiner sie sind,
desto leichter können sie Höhen erreichen, die
mit ihrer eigenen Größe verglichen bedeutend
sind.
Diese Folgerung wird durch die Beobachtung
der kleinen Lebewelt auf Schritt und Tritt be-
stätigt. Mit welcher beneidenswerten Leichtigkeit
klettern z. B. die Ameisen an den Bäumen empor;
man sieht gar nicht, daß sie langsamer liefen als
die von oben herabkommenden , und was für
Lasten schleppen sie manchmal mit sich! Was
für riesige Sätze macht ein Heuhüpfer und noch
kleinere Springer; die Sprünge eines Löwen oder
eines Riesenkänguruhs erscheinen dagegen ge-
ringfügig, wenn man jedesmal den eigenen Maß-
stab des Tieres anlegt. Für die physikalische Be-
wertung kommt es übrigens nur auf die Höhe
des Sprunges an. Auch beim Auffliegen sind die
Kleinen im Vorteil. Man achte nur darauf, wie
steil und rasch manche Fliegen aufsteigen, wenn
sie verscheucht werden.
Ebenso wie beim Emporsteigen ist auch beim
') Unter dem spezifischen Gewicht einer nicht homogenen
Masse wird das Verhältnis von Gewicht p zu Volumen V
verstanden. V ist proportional 1^; der Proportionalitätsfaktor
wird hier zur Vereinfachung gleich I gesetzt.
^) Der Muslielmenge wird hier der physikalische Charakter
einer potentiellen Energie beigelegt. Das ist natürlich nur
in erster Annäherung richtig.
(Schluß.)
der Vorteil auf selten der Kleinen.
Die kinetische Energie \ mv", mit der ein Körper
unten anlangt, nachdem er eine Strecke h durch-
fallen hat, ist nämlich gleich der Arbeit mgh, die
erforderlich war, ihn hinaufzuschaft'en. Also auch
die kinetische Energie ist proportional L*. Die
Wucht des Falles ist nun wohl in erster Linie
der kinetischen Energie des fallenden Körpers
entsprechend und somit steigt die Wucht des An-
pralls mit der 4. Potenz der Größe.
Hier kommt hinzu, daß die Fallgeschwindig-
keit bei einem kleinen Körper durch den Luft-
widerstand stärker vermindert wird als bei einem
großen. P'erner kann die Wirkung des Anpralls
in erster Annäherung der Oberfläche umgekehrt
proportional gesetzt werden; denn je größer
die auffallende Fläche ist, desto geringer wird der
Druck auf die F'lächeneinheit. Das heißt bei
einem kleinem Körper wird der Anprall mehr
verteilt. Schließlich ist hier das elastische Außen-
skelett, mit dem die große Schar der Insekten
bekleidet ist, von Nutzen. Wieso diese Panzerung
überhaupt eine für kleine Körper vorteilhafte
Konstruktion bedeutet, wird noch ausgeführt
werden.
Man kann also sagen, beim Fallen sind die
Kleinen ganz besonders bevorzugt und daraus er-
klärt sich auch, daß sie von der Ungefährlichkeit
des Falles so ausgiebig Gebrauch machen. Wer
Käfer fangen will, die an Zweigen sitzen, muß
einen Schirm unterhalten ; denn sobald die Tiere
Gefahr merken, lassen sie sich fallen und am
Boden sind sie dann verschwunden. Viele Käfer
kombinieren hierbei zwei verschiedene Tricks. Sie
ziehen die Beine ein und lassen sich dadurch
fallen ; in dieser Stellung, mit eingezogenen Beinen,
verharren sie dann, „sie stellen sich tot". Mecha-
nisch läßt sich beides ausgezeichnet vereinigen.
Die Möglichkeit, sich ohne Gefahr fallen zu lassen,
verschafft den Kleinen einen nicht unerheblichen
Vorteil.
Geringe Größenunterschiede können beim Fall
viel ausmachen. Man sagt, daß das Eichhörnchen,
vom Marder verfolgt, zunächst in die Höhe strebt
und wenn es auf einen Ast getrieben wird, von,
dem es nicht zu einem anderen hinüberspringen
kann, in die Tiefe hinabspringt und sich dadurch
rettet. Der Marder kann ihm diesen Sprung nicht
nachtun; denn da er ungefähr doppelt so lang
ist wie das Eichhörnchen und von ähnlicher Ge-
stalt, so ist er etwa 8 mal so schwer und würde
mit mindestens 8 facher Wucht aufschlaget!, denn
auch der Vorteil der Dämpfung ist für ihn ge-
ringer.
Ein augenfälliger Unterschied zwischen großen
und kleinen Tieren tritt in der Art des Laufens
hervor. Man vergegenwärtige sich z. B. die schönen
Kurven, die ein Pferd beschreibt, wenn es zu seiner
S04
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 36
Lust über die Weide läuft, oder das unruhige Hin-
und Herfahren eines Hundes, das Huschen einer
Maus und das unvermittelte, ruckweise Vorstoßen
der Laufspinnen. Wenn man recht viele Beispiele
von laufenden Tieren verschiedener Größe zu-
zusammenhält, so ergeben sich folgende Funda-
mentalunterschiede: I. Je kleiner die Tiere sind,
desto größer ist die Geschwindigkeit, die sie er-
reichen können, natürlich gemessen an ihrer eigenen
Körpergröße. Die Geschwindigkeit eines Renn-
pferdes z. B. kann bis zu 25 m in I Sek. betragen,
seine Länge ist ungefähr gleich 2,5 m, also hat
seine Geschwindigkeit, gemessen durch die Körper-
länge, den Wert 10. Beim Beobachten von Wolfs-
spinnen und anderen kleinen Insekten kann man
leicht viel größere Geschwindigkeit zu sehen be-
kommen. 2. Je kleiner die Tiere sind, desto
schneller erfolgt der Übergang aus der Ruhe in
die Bewegung (und desto schneller kann die Be-
wegung gestoppt werden).
Der Grund für diese Verschiedenartigkeit des
Laufens ist rein physikalisch. Die Leistung wird
hier gemessen durch die Bewegungsgröße oder
das Produkt mv. Nun ist die Masse m propor-
tional der 3. Potenz der Körperlänge 1 und die
Geschwindigkeit v ist proportional 1 selber; denn
da die Körperlänge als Einheit des Weges benutzt
werden soll, so ist v = — = 1 -. Die Bewegungs-
größe ist also proportional 1*, die verfügbare
Energie dagegen ist wieder proportional P. D. h.
die Körperkräfte der Tiere sind im Vergleich zur
Leistung des Anlaufens um so größer, je kleiner
die Tiere sind; daher können kleine Tiere sich
schneller in Bewegung setzen (und größere Ge-
schwindigkeit erreichen).
Das Drehungsmoment R einer Last p ist gleich
pd, wenn d den Abstand des Schwerpunkses vom
Drehpunkt bedeutet. Durch diesen Ausdruck wird
der Aufwand gemessen, der gemacht werden muß,
um die Last in ihrer Lage festzuhalten. Man sieht,
daß R proportional L'^ ist.
Alle Körperteile, die mehr oder weniger hori-
zontal vorstehen, haben ein Drehungsmoment und
müssen durch Stützen oder durch Muskelanspan-
nung in ihrer Lage gehalten werden. Als Bei-
spiel kann die Antenne irgendeines Arthropoden
dienen. Denkt man sich das Tier geometrisch
ähnlich vergrößert, so wächst das Drehungs-
moment proportional L^ die Muskulatur aber nur
proportional L". Die Antennenkonstruktion wird
also mit wachsender Größe immer unvorteilhafter.
Diese Folgerung soll später noch erweitert werden.
Das Drehungsmoment spielt auch beim Klettern
eine Rolle. Wenn ein Tier an einer senkrechten
Wand emporsteigt, so muß es nicht nur sein Ge-
wicht, sondern auch dessen Drehungsmoment
durch die Befestigung kompensieren. Daraus folgt,
daß es für alle Tiere vorteilhaft ist, sich beim
Klettern möglichst dicht anzuschmiegen, damit
d so klein wie möglich wird. Kleine Tiere
haben aber vor größeren jedenfalls den Vorteil,
daß ihr Drehungsmoment stärker reduziert ist als
ihre Größe, weil eben das Drehungsmoment pro-
portional L* ist. Zum Teil hieraus erklärt sich,
daß die Kunst, an Wänden emporzulaufen, auf
kleine Tiere beschränkt ist. Als technisch am
wenigsten vorteilhaftes Klettern erscheint das Ver-
fahren der Schnecke. Dem entspricht es, daß
diese Methode zuerst ihre praktische Grenze er-
reicht. — Mit diesen Andeutungen ist nur auf
einzelne Punkte aus der Theorie des Kletterns
hingewiesen.
Das Trägheitsmoment ist, wie schon in der
Einleitung festgestellt wurde, proportional L* und
daher gegen Größenunterschiede besonders emp-
findlich. Es spielt bei Rotationen und Pendel-
schwingungen dieselbe Rolle wie die Masse bei
geradliniger Bewegung. Masse und Trägheits-
moment sind beide das Maß dessen, was der Be-
schleunigung widerstrebt.
Ein Schwungrad zur Energiespeicherung, wie
es in der Einleitung als Beispiel benutzt wurde,
gibt es nun freilich im Tierreich nicht. Über-
haupt kommt das Rad als Maschinenelement im
Tierreich nicht vor, weil es mit seiner Maschine
nicht in ernährungsphysiologischen Zusammen-
hang gebracht werden kann. Das Rad ist eine
frühe Erfindung des menschlichen Geistes, für
welche die Natur kein Vorbild geliefert hat. Auch
Rotationen ganzer Organismen, sog. Kreisel-
bewegungen, sind selten. Aber auch für pendel-
artige Bewegungen irgendwelcher stabähnlichen
Gebilde gilt der Satz, daß sie einer Beschleunigung
um so mehr widerstreben je größer ihr Trägheits-
moment ist. Aus pendelartigen Bewegungen sind
nun alle die mannigfaltigen Bewegungen tierischer
Gliedmaßen zusammengesetzt.
Ins Organische übertragen: große Tiere können
keine langen Gliedmaßen haben. Solche Gestalten
wie der Weberknecht (Phalangium) und die Kohl-
schnake (Tipula) lassen sich nicht vergrößern.
Macht man in Gedanken den Versuch, so würde
dabei das Trägheitsmoment irgend eines Gliedes
mit L^ und die zu seiner Bewegung dienende
Muskulatur mit L'' wachsen. Die Kräfte würden
also mit wachsender Größe zur Bewegung der
Gliedmaßen immer weniger ausreichen.
Die Art, wie Trägheits- und Drehungsmoment
von L abhängen, hat also zur Folge, daß die
Natur bei größeren Gebilden weniger Spielraum
hat für ihre konstruktive Phantasie als bei kleinen.
In demselben Sinne beschränkend wirken auch
die beiden Tatsachen, die jetzt besprochen werden
sollen, und deren physikalische Begründung in
der Elastizitätslehre gegeben wird.
Es ist bekannt, wie mannigfachen Gebrauch
die Spinnen von ihren Fäden machen können.
Auch viele Raupen spinnen Fäden und benutzen
sie für ihre Puppenhülle oder um sich daran
herunterzulassen oder gelegentlich an einer Fenster-
scheibe emporzukriechen, indem sie mit den Fäden,
die von ihrem Munde ausgehen, eine Art Leiter
bauen, aul der sie emporklimmen.
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
505
Die Fähigkeit, selbsterzeugte Fäden zu mecha-
nischen Zwecken zu benutzen, ist auf kleine Wesen
beschränkt. Der Grund dafür ist rein physikalisch.
Nehmen wir den einfachen Fall, daß eine
Spinne einen Faden spinnt, um sich an ihm
herabzulassen und später mit seiner Hilfe zu
ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. In dem
Augenblick, wo das Tier am Faden hängt, denke
man sich das ganze System ähnlich vergrößert,
— dann muß bei einer gewissen Größe der
Faden reißen. Denn die Beanspruchung des
Fadens durch das Gewicht des Tieres wächst
proportional L^, seine Tragfähigkeit aber propor-
tional seinem Querschnitt also proportional L'^,
das Verhältnis Tragfähigkeit zu Beanspruchung,
die „relative Hahbarkeit", ist also proportional
L°:L'' = L^\ d. h. die relative Haltbarkeit wird
mit wachsender Größe geringer. Um es ganz
konkret zu sagen: Wenn das Tier eine 10 fache
Linearvergrößerung erfährt, so wird sein Gewicht
1000 mal so groß, der Faden aber wird 100 mal
so dick und kann also durch lOO der ursprüng-
lichen Fäden ersetzt werden. Jeder von den
Fäden hat dann 10 mal so viel zu tragen wie der
eine P'aden zu Anfang.
Ein größeres Tier kann die relative Haltbar-
barkeit seines Fadens auch nicht dadurch steigern,
daß es ihn verhältnismäßig dicker spinnt. Denn
dazu müßte der Vorrat an Spinnstoff und damit
wieder das Gewicht vergrößert werden. Bleibt
also noch der Ausweg, den Faden kürzer zu
machen, so daß er nicht mehr die Größe des
Tieres um ein Vielfaches übertrifft, dann kann er
aber nicht mehr den mannigfaltigen Zwecken
dienen, zu denen ihn Spinnen und Raupen be-
nutzen, und das technische Problem ist überhaupt
ein anderes.
In der Tat ist der Gebrauch von selbst-
erzeugten Fäden auf kleine Tiere beschränkt,
weil die relative Haltbarkeit eines Fladens eine
Funktion der Größe ist.
Von viel allgemeinerer Bedeutung als die
Kunst des Spinnens sind die Einrichtungen,
welche dem Organismus F"esligkeit verleihen. Sie
sind der Art und dem Grade nach überaus ver-
schieden, aber immer im Einklang mit den
Lebensbedingungen.
Unter Festigkeit versteht man im gewöhn-
lichen Sprachgebrauch den Widerstand, den ein
„fester Körper" einer Deformation entgegensetzt.
Man kann Zug-, Druck-, Schub-, Torsions- und
Biegungsfestigkeit unterscheiden. Hier soll nur
die Biegungsfestigkeit besprochen werden. PIs
genügt dabei, als Beispiel einen Balken zu be-
nutzen, denn die anderen Fälle verhalten sich
analog.
Ein Balken sei horizontal gelagert, so daß er
für die Strecke 1 freiliegt (s. Abb.). Sein recht-
eckiger Querschnitt habe die Höhe h und die
Breite b. In seiner Mitte werde er durch ein
Gewicht V belastet. Die Durchbiegung, der „Pfeil
1 PP
der Biegung", ist dann ^^^ 17-^3^; E bedeutet
den Elastizitätskoeffizienten des Materials. Denkt
man sich nun die beschriebene Anordnung ähn-
lich vergrößert, so wachsen alle linearen Ab-
messungen in gleichem Maße und man könnte
meinen, die Abbildung müßte immer ein richtiges
Bild geben. Das ist aber nicht der P'all, sondern
die Durchbiegung wird verhältnismäßig immer
größer, sie eilt den anderen Abmessungen voran.
Da nämlich P proportional der 3. Potenz der
Länge ist, so muß d proportional L" sein. Das
Verhältnis d : 1 soll hier als relative Durchbiegung
bezeichnet werden; dann kann man sagen, die
relative Durchbiegung eines Balkens nimmt zu
proportional seiner Länge, oder anschaulich: ein
Streichholz ist fester als ein Balken von gleicher
Gestalt und aus demselben Holze. ')
Die Vorteile, welche den Kleinen daraus er-
wachsen, daß alle ihre Skelettstücke allein wegen
ihrer Kleinheit große Biegungsfestigkeit haben,
sind recht bedeutend und mannigfaltig. Man
denke z. B. daran, welchen Widerstand manche
Insekten dem Zerdrücktwerden entgegensetzen,
oder wie hart manchmal ein Käfer, wenn er sich
fallen läßt, aufschlägt, ohne den geringsten Schaden
zu nehmen. Will man das Ergebnis der physi-
kalischen Betrachtung allgemein ausdrücken, so
kann man entweder den Aufwand oder die Leistung
in den Vordergrund rücken, und gelangt so zu
einem von den beiden Ausdrücken: je kleiner
ein Organismus, desto geringer ist der Material-
aufwand, der für die Festigkeit gemacht werden
"muß; oder je kleiner ein Organismus, desto größer
ist eo ipso seine Festigkeit, und desto leichter
also für ihn alle auf P'estigkeit beruhenden
Leistungen. Durch diese Tatsache ist der Größe
des Tierkörpers überhaupt eine Grenze gezogen.
Sie ist dann erreicht, wenn die zur Festigung
nötige Masse im Vergleich zu der anderen Lebens-
zwecken dienenden einen unwirtschaftlichen Be-
trag erreicht. Tiere, die in Wasser leben, brauchen
weniger Stützen und können daher bedeutendere
Größe erreichen als Landtiere.
Die Einrichtungen, welche im Tierreich der
P'estigung dienen, sind entweder im Innern des
Körpers geborgen, oder oberflächlich aufgelagert.
Man vergleiche z. B. einen Vierfüßler und einen
') Natürlich muiS d, da es eine Strecke bezeichnet, die
Dimension L haben. Das sagt auch die Formel aus, wenn
man berücksichtigt, daß die Konstante E nach ihrer Definition
von der Dimension M L ' T - ist. Da aber E nur vom
Material, und nicht von der Größe des Körpers abhängt, so
bleibt CS dabei, daß d der zweiten Potenz irgendeiner von
den linea
Abn
rgen propor
tional
So6
Naturwissenschafliche Wochenschrift.
F. N. XVI. Nr. 36
Käfer. Die Muskeln, welche die Glieder bewegen,
greifen beim Vierfüßler an den Knochen, beim
Käfer an der Innenfläche des Hautskeletts an.
Genügende Beweglichkeit der Teile kann so oder
so erreicht werden. Nun ist aber das Hautskelett
der Käfer gleichzeitig ihr Panzer; es erfüUt also
zwei Aufgaben zugleich und erscheint darum als
die vorteilhaftere Konstruktion. Trotzdem findet
man aber im Tierreich das äußere Skelett auf
kleinere Wesen beschränkt wie Gliederfüßler,
Stachelhäuter oder Weichtiere, während die Wirbel-
tiere, zu denen alle großen Tiere gehören, ein
inneres Skelett haben.
Es bleibt also noch die Frage zu beantworten :
hat die Beschränkung des so vorteilhaft erschei-
nenden Hautskeletts auf kleine Tiere einen physi-
kalischen Grund oder nicht?
Die Antwort liegt in folgender Betrachtung.
Konstruiert man in Gedanken zwei Tiere von
gleicher Größe und ähnlichem Körperbau jedoch
das eine mit innerem, das andere mit Hautskelett,
so wird bei dem letzteren die auf das Skelett zu
verwendende Masse einen größeren Bruchteil der
Gesamtmasse ausmachen als bei dem mit innerem
Skelett. Denkt man weiter beide Tiere in gleichem
Maße vergrößert, so daß jedes dem ursprünglichen
Entwurf ähnlich bleibt,- so wächst bei beiden der
zur Festigung dienende Massenaufwand zunächst
proportional L''. Nach der Vergrößerung haben
aber beide Skelette an relativer Haltbarkeit ver-
loren, sie müssen also verstärkt werden. Nimmt
man an, daß dazu für beide Konstruktionen der-
selbe Bruchteil der ursprünglich zur Festigung
bestimmten Masse nötig ist, so muß die Grenze
für die Wirtschaftlichkeit des Bauplanes von dem
Tier mit Hautskelett früher erreicht werden, weil
schon seine ursprüngliche Aufwendung größer war.
Wenn die Beanspruchung durch äußere Kräfte
sehr gering ist, so können auch Tiere mit Haut-
skelett abnorme Größe erreichen. Solche günstigen
Verhältnisse liegen vor auf den tiefsten Gründen
des Meeres, wo die eigentümlich gestaltete Tief-
seefauna lebt. Wellenschlag, Strömung, Strudel
dringen nicht bis da hinab. Und sehr schnelle
Bewegungen, bei denen große kinetische Energie
erzeugt wird, kann man sich aus verschiedenen
Gründen auch nicht recht vorstellen. Die Bean-
spruchung des Skeletts durch kinetische Energie
fällt also in diesen Tiefen weg. In der Tat er-
reichen nun hier die Arthropoden, die sonst nicht
vorkommen. „Von Gliedertieren ist die
Kämpfer 'sehe Seespinne die kolossalste Krabbe,
Bathynomoseine ganz riesenhafte .^ssel undColoss-
endeis die größte Gattung aller Pycnogoniden". ')
Daß nicht etwa Mangel an Baumaterial der Grund
zur Schwächung des Skeletts ist, geht aus der
Darstellung bei Keller hervor, der die ange-
führten Tatsachen entnommen sind.
Was wir als Ton empfinden, erscheint der
') Das Leben des Meeres von Cc
1895, S. 233.
physikalischen Betrachtung als periodische Schwin-
gung. Das Schwingende ist meist ein elastischer
fester Körper, z. B. eine Saite, eine Glocke, eine
Stimmgabel. Auch eine Luftsäule kann schwingen
und verhält sich dann wie ein elastischer fester
Körper; die Lippenpfeifen sind analog den Stäben,
welche in longitudinale Schwingungen versetzt
werden. Die Schwingungen werden gewöhnlich
auf die Luft übertragen und durch diese unserem
Ohr zugeleitet. Es ist aber auch möglich, die
Luft unmittelbar, d. h. ohne Hilfe eines elastischen
Körpers in Schwingungen zu versetzen und da-
durch Töne zu erzeugen; das geschieht bei der
sog. Sirene. Was wir als Tonhöhe empfinden,
erweist sich physikalisch als Anzahl der Schwin-
gungen in der Zeiteinheit.
Unsere Musikinstrumente benutzen die Schwin-
gungen von elastischen festen Körpern oder von
Luftsäulen. Die Tonhöhe dieser Instrumente hängt
in erster Linie ab von der Dimension des Schwin-
genden, und zwar kann ganz allgemein gesagt
werden : die Töne sind um so höher, je kleiner
das Schwingende ist.
Daraus folgt, daß kleine Lebewesen überhaupt
nur hohe Töne hervorbringen können, wenn sie
auf gewöhnliche Art, nämlich mit Hilfe elastischer
Schwingungen, zu musizieren versuchen. In der
Tat bewegt sich das vielstimmige Konzert der
Grillen und Cicaden und ihrer Verwandten in den
höchsten Tönen und man darf wohl annehmen,
daß es in vielen Fällen darüber hinausgeht. Es
ist ja bekannt, daß unsere Tonwahrnehmung über
eine gewisse Schwingungszahl (etwa 24000) nicht
hinausreicht und daß diese obere Grenze indivi-
duell verschieden ist. Das Insektenkonzert auf
einer Wiese wird also nicht allen Leuten dieselbe
Tonfülle bieten, sondern für manche müßten die
feinsten Stimmchen fehlen, andererseits darf man
doch wohl annehmen, daß auch viele von den
ganz kleinen Insekten, die für uns stumm sind,
auf ihre Art Töne hervorbringen, die von ihres-
gleichen gehört werden und nur für unser Ohr
nicht existieren, weil das Schwingende zu klein
und der Ton infolgedessen für uns zu hoch ist.
Anders ist es mit den Schwingungen, die
nicht durch elastische Kräfte, sondern durch
rhythmisches Bewegen irgendwelcher Körperteile
hervorgebracht werden, z. B. durch den Flügel-
schlag. Die so erzeugten Töne werden im allge-
meinen tief sein, denn es gehören schon etwa
16 Schwingungen in einer Sekunde dazu, um
überhaupt die Empfindung eines Tones zu er-
zeugen. Das tiefe Brummen, das manche In-
sekten beim Fliegen hören lassen, kommt offen-
bar durch den Rhythmus des Flügelschlages zu-
stande und ist nur ein Nebenprodukt des Fluges.
Die Sache steht also so, daß den Insekten
doch der ganze Tonbereich zugänglich ist. Die
hohen Töne bringen sie durch elastische Schwin-
gungen hervor, ebenso wie der Mensch mit
seinen mannigfachen natürlichen und künstlichen
Musikinstrumenten. ¥ür die tiefen Töne haben
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
507
sie die Möglichkeit, durch rhythmische Bewegung,
etwa der Flügel, die Luft periodisch zu erschüttern,
und dieser \Veg ist wieder größeren Wesen nicht
zugänglich, denn größere Massen lassen sich wegen
ihres viel größeren Trägheitsmomentes nicht so
schnell hin- und herbewegen, wie hierzu nötig
wäre.
Von hoher Bedeutung für das Leben kleiner
Tiere, im besondern der Insekten, ist ihr Ver-
hältnis zur Kohäsion des Wassers und anderer
Flüssigkeiten, die im Leben größerer Tiere gar
keine Wichtigkeit hat. Die Kohäsion einer Flüssig-
keit äußert sich als Oberflächenspannung und als
Viskosität. Beide Kräfte spielen im Leben kleiner
Wesen eine sehr bedeutende und meist verhängnis-
volle Rolle.
Die freie Oberfläche einer Flüssigkeit, etwa
die Mitte eines Wasserspiegels, verhält sich gegen
einen unbenetzbaren Körper wie eine dünne
elastische Haut, die vor dem eindringenden Körper
ausweicht und durch die aus der Deformation ent-
springende Spannung dem weiteren Eindringen
widerstrebt. Ist der äußere Druck gering, so
kann sich ein Gleichgewicht einstellen und der
Körper ruht dann auf der Oberfläche, wohlver-
standen keineswegs wie ein Schwimmer auf Grund
des Archimedes'schen Prinzips, sondern wie
etwa ein Mensch auf einer Sprungfedermatratze.
Eine Nähnadel z. B., die etwas eingefettet ist, da-
mit sie nicht benetzt wird, ruht auf einer Wasser-
fläche und geht nicht unter, solange starke Be-
wegung ferngehalten wird. Mit einer Stopfnadel,
die ihr doch in jeder Beziehung ähnlich sein kann,
gelingt das Experiment nicht mehr. Das liegt
natürlich daran, daß der äußere Druck dem Ge-
wicht, also L^ proportional ist, während der
elastische Widerstand proportional ist der Fläche,
längs welcher die Berührung stattfindet, also L'-.
Der Druck wächst demnach stärker als der Wider-
stand und daher durchdringt ein größerer Körper
die Oberfläche und sinkt zu Boden, — falls er
nicht etwa schwimmen kann, d. h. sein Gewicht
durch Wasserverdrängung ganz zu kompensieren
vermag.
Auf dem Wasser zu wandeln ist also nur
kleinen Wesen möglich; ob sie auch spezifisch
leicht sind, ist dabei von untergeordneter Be-
deutung. Soviel ich weiß, ist die Fähigkeit des
Wasserlaufens beschränkt auf eine kleine Gruppe
der Rhynchoten, deren größte einheimische Art
noch nicht 2 cm erreicht. Die langen Beine
dieser Wasserläufer bewirken, daß die Eindrücke
der Füße auf dem Wasserspiegel in gehöriger
Entfernung bleiben. Sobald die Vertiefungen ein-
ander nahe kommen, fließen sie nämlich zu-
sammen und nehmen die Lasten mit, so daß es
aussieht, als ob eine Anziehung stattfände. Die
gestreckte Körperform ist der Ausdruck geringen
absoluten Gewichtes. Langbeinigkeit und Körper-
form erscheinen also von physikalischem Stand-
punkt als wertvolle Hilfen bei der eigentümlichen
Lebensweise,
Anders steht es, wenn ein Körper mit einer
Flüssigkeit in Berührung kommt, die ihn benetzt.
An dem Berührungspunkte bleibt die Flüssigkeits-
oberfläche nicht eben, wie unter dem Einfluß der
Schwere und Kohäsion allein, sondern sie bildet
eine geneigte Fläche und steigt an dem Körper
empor. Die Steighöhe hängt ab von der Natur
der Substanzen und von den Dimensionen der
Kapillaren und Winkelräume.
Wenn nun ein kleiner Körper von beliebiger
Form mit einer Flüssigkeit in Berührung gebracht
wird, die ihn benetzt, so wird sie an ihm empor-
steigen und seine Vertiefungen mehr oder weniger
ausfüllen. Falls etwa die Abmessungen des Körpers
mit der Steighöhe der Flüssigkeit kommensurabel
sind, so kann die Flüssigkeit den Körper ganz ein-
hüllen. Dabei bildet die Flüssigkeit immer eine
Minimalfläche und man kann den Zustand be-
schreiben, indem man sagt: Der Körper befindet
sich unter einer elastischen Decke, welche durch
ihre Spannung bestrebt ist, ihn unter die ur-
sprüngliche Oberfläche zu drücken. Ist der Körper
spezifisch schwerer als die Flüssigkeit, so sinkt
er zu Boden, sobald er ganz benetzt ist. Wenn
der Körper dagegen spezifisch leichter ist, so
wird er zwar schwimmen, aber dabei tiefer ein-
sinken als seinem spezifischen Gewicht entspricht.
Ein kleiner Körper schwimmt also nicht auf Grund
des Archimedes'schen Prinzips, oder, genauer
gesagt, beim Schwimmen kleiner Körper (be-
netzbarer und auch unbenetzbarer) darf die Ober-
flächenspannung nicht vernachlässigt werden. Wenn
die Tiefe der Flüssigkeit zum Schwimmen nicht
ausreicht, so wird der Körper in eine elastische
Oberflächenhaut eingeschlossen.
Daraus erklärt sich, daß benetzbare Insekten,
die ins Wasser gefallen sind, tiefer einsinken
müssen, als ihrem spezifischen Gewicht entspricht.
Gelingt es ihnen, durch Kriechen dem Bade zu
entrinnen, so nehmen sie eine Flüssigkeitsmenge
mit, welche sich über die Unebenheiten ihres
Körpers so verteilt, daß eine Minimalfläche ent-
steht. Diese wirkt durch ihre Oberflächenspannung
wie eine elastische Hülle, die jede ihrer Be-
wegungen hindert. Man weiß ja, eine wie un-
glückliche Figur die behende Fliege macht, wenn
sie aus der Milchsatte kriecht. Die mitgeschleppte
Flüssigkeit können kleine Tiere nicht abschütteln
wie größere, weil ihre Körperkräfte kleiner sind
als die Spannung der Membran; sie müssen
warten, bis sie durch Verdunstung oder kapillare
Hilfe befreit werden.
Wenn nun die Flüssigkeit außerdem von
höherer Viskosität ist oder beim Verdunsten zähe
wird, so erschwert sie die Bewegungen der Tiere
innerhalb der Hülle und die Befreiung gelingt
dann nicht mehr. Dies ist der Hergang, wenn
kleine Tiere mit einer zähen Flüssigkeit auch
nur in Berührung kommen. Sie werden benetzt,
angeklebt, in eine Minimalfläche gehüllt (wozu
sie durch Zappeln noch mithelfen), erschöpfen
ihre Kraft im Kampf mit der inneren Reibung
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 36
und ersticken schließlich unter der Hülle. Dieser
Vorgang ist im Leben der Insekten sehr häufig.
Die Viskosität ist ja auch ein Schutzmittel der
Pflanzen gegen kleine tierische Feinde. Ein be-
kanntes Beispiel ist die Pechnelke. Auch Pflanzen,
die bei Verletzung ihrer Oberhaut reichlich Milch-
saft abscheiden, der an der Luft bald eintrocknet,
haben dadurch einen recht wirksamen Schutz
gegen die Zerstörung durch Ameisen.
Flüssigkeiten von sehr großer Viskosität können
auch größeren Tieren gefährlich werden. Jedoch
wird hier bald eine Grenze erreicht. Die Gefahr
wächst nämlich mit der Größe der benetzten
Oberfläche also proportional L-, die Möglichkeit
zu entrinnen dagegen wächst mit den Körper-
kräften, also in erster Annäherung proportional L''.
viskosen Flüssigkeiten zugrunde zu gehen, mit
wachsender Größe eo ipso geringer. Größere
Tiere kann man nicht an Leimruten fangen.
Diese Betrachtung ist nicht erschöpfend. Es
gibt noch mehr physikalische Erscheinungen,
welche für große und kleine Lebewesen von ver-
schiedener Bedeutung sind, und auch die Zahl
der Beispiele hätte sich erheblich vermehren lassen.
Das vorangehende wird aber genügen, um glaub-
haft zu machen, daß es rein physikalische Ab-
hängigkeiten sind, welche die organischen Formen
auf bestimmte Größen beschränken, und daß die
Mannigfaltigkeit der Gestalten auf die verschie-
denen Größenstufen nicht zufällig verteilt ist, wie
der Zoologe zunächst annehmen muß. Das Ver-
hältnis F : M, die mechanischen Begriffe, die Festig-
keit, die Oberflächenkräfte hängen derart von der
Größe ab, daß sie kleinen Wesen Vorteile bieten,
die größeren eben wegen ihrer Größe nicht zu-
gänglich sind. Das Modell irgendeines kleinen
Tieres läßt sich nicht vergrößern.
Daher kommt es auch, daß beim Durchmustern
aller organischen Formen, wenn man von kleinen
zu größeren fortschreitet, die Reichhaltigkeit ab-
nimmt und immer weniger Typen übrig bleiben.
Die größten Tiere sind entweder Vierfüßler oder
Vögel oder sie haben die Fisch- oder Schlangen-
form. Welche Fülle grundverschiedener Baupläne
dagegen bei den Kleinen und Kleinsten! Die
Überlegenheit ist noch viel größer als es auf den
ersten Blick erscheint, denn die Ausprägung der
Typen bei den großen Tieren ist uns vertraut
und die Gestalten der Vierfüßler erscheinen uns
eben deswegen recht verschieden. Die Formen
der Kleinen und Kleinsten unter den Tieren sind
aber vielen Leuten unbekannt und den anderen
doch nicht so gegenwärtig, daß sie die ganze
Fülle in der Vorstellung zusammenfassen könnten.
Einzelberichte.
Physiologie. Bei der großen Seltenheit des
Vorkommens von echtem Zwittertum (Herma-
phroditismus verus) bei Wirbeltieren, verdient
jeder einzelne derartige Fall eine besondere Er-
wähnung. Über echten Hermaphroditismns beim
Kammmolch berichtet Jaroslaw Krizenecky
(Ein Fall von Hermaphroditismus bei Triton cri-
status und einige Bemerkungen zur Frage der
sexuellen Differenzierung. Archiv für Entwickelungs-
mechanik der Organismen. 42. Bd. 4. Heft 1917).
Es handelte sich um die gleichzeitige Produktion
der Keimzellen beider Geschlechter also von Makro-
gameten (Eizellen) und von Mikrogameten (Samen-
zellen) in ein und demselben Individuum. Dieser
echte Hermaphroditismus, der wohl zu unter-
scheiden ist von dem Pseudohermaphroditismus,
bei welchem die somatischen Eigenschaften des
anderen Geschlechts an einem bezüglich der Keim-
drüsen nur eingeschlechtlichen Individuum auf-
treten, kann in verschiedenen Formen vorkommen.
1. Beiderlei Keimdrüsen können in ihrer ty-
pischen Ausbildung zugleich vorkommen, auf einer
Seite die weibliche, auf der anderen Seite die
männliche (Hermaphroditismus lateralis).
2. An jeder Seite ist je eine männliche und
eine weibliche Keimdrüse ausgebildet (Hermaphro-
ditismus bilateralis).
r In einer äußerlich vollkommen weiblich aus-
gebildeten Gonade finden sich Samenzellen und
andererseits in einem Hoden Eizellen. Quantitativ
kommen natürlich die verschiedensten Übergänge
vor. Während nun von Fröschen bereits zahl-
reiche Hermaphroditen beschrieben wurden, ist
bisher von den geschwänzten Amphibien (Tri-
tonen) nur ein einziger Fall bekannt geworden;
derselbe betrifft den im Jahre 1895 von George
de laValette beschriebenen seitlichen Zwitter;
es war ein äußerlich männlicher Wassermolch, in
dessen Hoden neben normaler Spermatogenese
eine ganz normale Ovogenese stattfand. Im
Herbst 1914 wurden nun von K. unter den im
Aquarium gezüchteten Tritonen (Triton cristatus
Laur.) einige Männchen angetroffen, welche bereits
das Brunstkleid trugen. Während äußerlich an
einem der untersuchten Tiere nichts besonderes
wahrzunehmen war, fand K. in Schnittprä-
paraten beider Hoden über 200 Eier. Die-
selben befanden sich, wie ihre geringe Größe an-
zeigte, auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe.
Aus dem mikroskopischen Befund schließt K.,
daß beiderlei Keimzellen aus dem Keimepithel
des Hodens entstanden waren, daß es sich also
nicht um eine Durcheinandermengung des Ovarial-
und des Hodenkeimepithels handelt.
Auch vom Menschen wäre ein solcher Fall
durch Babor (1898) bekannt geworden, der bei
einem normalen, (13 jährigen kräftigen Manne, der
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
509
an beginnender Prostatahypertrophie litt, in beiden
Hoden, außer hier und da normaler Spermato-
genesis mit reifen Spermien und verschiedenartiger
Degeneration des Samenkanälchenepithels, wie
solche bei sehr alten Männern regelmäßig
vorkommt, eine Wucherung und Neubildung des
indifferenten Keimepithels gefunden hat, die an
geeigneten Stellen Bilder lieferte, welche nicht an
die Histogenesis der Tubuli seminiferi, sondern
vielmehr an die Pflüger- Valenti'schen Schläuche
erinnerten, Zellstränge wie im fötalen Ovarium
aufwies und in der Tat auch hier und da mitunter
gruppenweise Primordialeier mit Primitivfollikeln
enthielt."
In allen diesen Fällen handelt es sich um die
gleiche Erscheinung wie beim Tritonhermaphro-
diten, nämlich um die Entstehung von Eizellen
aus dem Keimepithel des Hodens; bei den Lungen-
schnecken bildet es ja die Regel, daß beide Arten
von Keimzellen aus der zwitterigen Keimdrüse
hervorgehen. Was nun die Ursache der Eiproduk-
tion anbelangt, so könnte dieselbe auf einem
Zurückbleiben embryonalen Gonadengewebes im
Hoden beruhen. Eine derartige Ursache des
Hermaphroditismus lag beim Frosch vor (Kuscha-
kowitsch 1910). Jedoch nicht immer braucht es
sich um eine Erhaltung des primären Zustandes
der Keimzellen zu handeln. Die Eiproduktion im
Hoden kann vielmehr auch sekundär durch nach-
trägliche Metamorphose veranlaßt werden, wie
dies zweifellose Versuche von Meyus (1910 u.
191 2) ergaben. Derselbe fand nämlich in den
Transplantaten der männlichen Keimdrüse von
Rana fusca und Rana esculenta Eier, die
in den Tubuli der transplantierten Hodenstückchen
entstanden waren. Die Hodentransplantate pro-
duzierten also nicht mehr Spermatozoen, sondern
Eier, auch das Umgekehrte, nämlich, daß die
Transplantate von Ovarien Spermatozoen produ-
zieren, kann eintreten. So fand Braun (1904)
bei einem Weibchen des Wurmes Ophryotrocha
puerilis in den Keimdrüsen des regenerierten
Hinterendes statt der Eier, Spermatozoen. Eine
sexuelle Metamorphose treffen wir regelmäßig bei
vielen Nematoden, namentlich bei dem Genus
Rhabditis, bei welchem die Keimdrüsen zuerst als
Hoden funktionieren und Spermatozoen hervor-
bringen, um sich dann in eierproduzierende Go-
naden zu verwandeln. Es lägen drei Möglichkeiten
für ein Auftreten von Zwittern vor:
1. Die Entstehung andersgeschlechtlicher
Gameten aus indifferent gebliebenen Zellen, die
sich zwischen den in bestimmter Richtung ge-
schlechtlich differenzierten Keimzellen finden.
2. Das Keimepithel bleibt indifferent wie bei
den Lungenschnecken und
3. endlich das Keimepithel differenziert sich
zwar in einer bestimmten Richtung, behält aber
die Potenz, sich auch in der anderen Richtung zu
differenzieren. Während nun die erste Erklärung
abzuweisen ist, müssen die beiden letzten Er-
klärungsmöglichkeiten zugegeben werden, da das
Keimepithel jedenfalls auf einem embryonalen
Zustand stehen bleibt und sich nach beiden Rich-
tungen hin differenzieren kann. Der vorliegende
Fall bietet die auffallende Erscheinung, daß die
sekundären Geschlechtsmerkmale rein männlich
waren. Es dürfte dies darauf zurückzuführen sein,
daß die Zahl der Eier zu gering war, als daß sie
einen Einfluß in somalischer Beziehung äußern
konnten. Marshall fand dagegen die Hoden
eines Froschhermaphroditen auf der Oberfläche
schwarz pigmentiert entsprechend der dunkleren
Färbung der Eier; etwas ähnliches beobachteten
Goldschmidt und Poppelbaum (1914) an
den Eier enthaltenden Hoden ihrer experimentell
erzeugten „Weibchenmännchen" von Lymantria
dispar japonica = Bastarden ; in vielen Fällen waren
die Hoden nicht glatt wie normalerweise, sondern
„traubenartig" ausgestaltet, was man gut als
einen Anlauf zur Ovariengeslalt betrachten kann.
Es erscheint vielmehr der morphologische Cha-
rakter der Gonaden eine sekundäre Anpassung
an die Gameten selbst zu sein, wie ja auch die
Art der Ausführungsgänge sekundärer Natur war
und eine Anpassung an die Gonaden darstellte.
Auch das interstitielle Gewebe ist es nicht, welches
in letzter Linie die sekundären Geschlechtscharak-
tere bestimmt, da es ja selbst je nach der Art
der Gameten verschieden gestaltet ist. Wolle
man also zwischen sekundären und primären Ge-
schlechtsmerkmalen unterscheiden, so sind lediglich
die Gonaden selbst primär verschieden.
Auch die Gonadenhormone scheinen nicht
geschlechtlich differenziert zu sein, da nach Ver-
suchen von Meisenheimer (1911) beim männ-
lichen Kastraten des P'rosches die Daumenschwielen
nach Injektion von Ovarialsekret wieder zur
Anschwellung gebracht wurden. Es scheine sich
dabei eben um eine neutrale Anregung des Meta-
bolismus zu handeln. Nach Brown-Sequard
und M. Nußbaum (1909) bleibt ja auch beim
Hungernlassen normaler Männchen das Anschwellen
der Daumenschwielen aus. Daß aber bei den
Weibchen selbst, deren Ovarialhormone doch die
Daumenschwielen der Männchen anschwellen
läßt, die Daumenanschwellung fehlt, scheine auf
einer Verschiedenheit im Bau des Daumens beider
Geschlechter zu beruhen. Nur in dem Vermögen
der Daumenschwielen anzuschwellen, ist das se-
kundäre Geschlechtsmerkmal zu finden, aber nicht
in der Anschwellung selbst; es könne nämlich
auch ganz unabhängig von den Gonaden durch
erhöhten Stoffwechsel, etwa durch reichlichere
Fütterung bei einem Kastraten ausgelöst werden.
Einmal stellte sich auch aus unbekannter Ursache
eine Anschwellung der Daumenschwielen bei
einem Kastraten zur Brunstzeit ein. Es folge
daraus, daß das Auftreten sekundärer Geschlechts-
merkmale von den Gonaden selbst unabhängig
wäre, weil es auch durch heterologe Hormone
veranlaßt würde. Es hätte dann auch das wieder-
holt beobachtete Auftreten von Daumenschwielen
bei hermaphroditen Fröschen für die Erklärung
5IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 36
keine Schwierigkeit, ebensowenig wie das Vor-
kommen sekundärer heterologer Sexusmerkmale
bei Gliederfüßlern (nach Krohn bei der Spinne
Phalangium und nach Ishikawa bei der Krabbe
Gebia). So könne auch bei Tritonen eine völlige
Unabhängigkeit der sekundären Geschlechtsmerk-
male von den Gonaden nicht weiter auffallen.
Die Brunstmerkmale wären Folgen des gesteigerten
Stoffwechsels. Ähnlich dürfte es sich beim Men-
schen verhalten; so in dem oben angeführten
FallBabor's, wo sich im Hoden eines somatisch
männlichen Individuums Eier fanden. Fraenkel
(1914) beschrieb einen Fall von Pseudohermaphro-
ditismus femininus externus. Trotz eines Ovariums
auf der linken Seite lagen äußerlich vollständig
männliche Charaktere vor. Der Kehlkopf, die
Behaarung des Gesichts, die Entwicklung des
Skeletts u. a. neigte nach der männlichen Seite
hin. In Verbindung mit eingeschlechtlichen Keim-
zellen fanden sich also heterologe somatische Ge-
schlechtsmerkmale.
Bei der mikroskopischen Untersuchung des
Ovariums ergab sich das gänzliche Fehlen des
interstitiellen Gewebes. Da dieses die Entwick-
lung der heterologen Geschlechtsmerkmale hemmt,
konnte man auf sein Fehlen ihre Entfaltung im
vorliegenden Fall zurückführen. Dem widerspricht
aber der Befund bei Kastraten, bei welchen eine
Annäherung an das andere Geschlecht nur inso-
weit eintritt, als es das Zurückbleiben in der Aus-
bildung heterologer Geschlechtsmerkmale anbetrifft.
Nach K. ist der primäre Sexualdimorphismus
auf die Gonaden beschränkt; denn was den Ma-
krogameten als Eizelle erscheinen läßt, Größe,
Dotterreichtum usw. und andererseits den Mikro-
gameten als Samenzelle (Kleinheit, Fortbewegungs-
organe usw.) sei nur sekundärer Natur.
Kathariner.
Paläontologie. Über die ältesten Versteiner-
ungen Europas und Nordamerikas bietet August
Rothpletz in den Abhandlungen der Königlich
bayerischen Akademie der Wissenschaften (XXVIII.
Band, Abhdl. i und 2) seine Forschungen dar.
Rothpletz hat in den oberen Schichten der
Beltformation eine Fauna gesammelt, die man als
präkambrisch ansah. Im Staate Montane, bei der
Stadt Helena stehen die Schichten an. Zwischen
Helenakalkstein und Gipfeldolomit fanden sich in
dunklen Schiefern Versteinerungen an mehreren
Orten. Diese Schichten sind kambrischen Alters.
Darunter liegen erst die Beltschichten, von diesen
durch undeutliche Diskordanz getrennt. Peale,
dem der Name Beltformation zu danken ist, glaubt
an eine Senkung des archäischen Kontinents.
Darauf lagerten sich die Absätze der Beltformatien.
Das Senken wurde unterbrochen, die Ablagerung
kam ins Stocken und erst als sie von neuem ein-
setzte, begann der Absatz des Kambriums. Über-
all ist diese Diskordanz nicht nachweisbar. Aus
den Kapitolcreekschichten, das sind ungeschichtete
Schiefer, die den Eindruck gleichförmig gewesener
Tonmassen machen, stammen weiter unten an-
gefühlte Versteinerungen. Im Hangenden liegen
die Gipfeldolomite, im Liegenden der Helenakalk-
stein. Der .Schiefer ist kalkfrei. Die erhaltenen
Brachiopoden und Crustaceen finden sich immer
nur vereinzelt. Trilobiten und Spongien zeigen
sich fast nur in Bruchstücken. Sehr wahrscheinlich
war das Meer der Kapitolcreekschiefer-Periode ein
totes Meer, in das Strömungen abgestorbenes
Leben aus Meeren mit authigenen Faunen hinein-
führten. So kann man als Äquivalente diesen
Schiefer mit der eingewanderten oder verschleppten
I-'auna Kalke ansehen, die im Meere nieder-
geschlagen wurden.
Die früher ungeschichteten Tone sind jetzt
eng geschiefert und zerklüftet, gepreßt und ver-
zerrt. Darum sind auch die Versteinerungen von
anderer Form wie ursprünglich vor der Einlagerung.
Mit dem einschließenden Gestein zusammen wurden
die Versteinerungen durch in der Nähe hochge-
gangene Eruptivgesteine metamorph verändert.
An Spongien wies Rothpletz nach : Protospongia
cf fenestrata Salter; Lithistiden, an Brachiopoden :
Rustella Edsoni Walcott, var. pentagonalis; Lingu-
lella Helena Walcott, Obolella Billings, Obolella
crassa Hall, Obolella ailantica Walcott, Acrotreta
cf sagittalis Salt.; Kurtogina cf perrugata Walcott,
an Hyolithen: Hyolithes cf BiUingsi Walcott,
an Crustazeen: Fordilla (?) Walcotti n. sp., Trilo-
biten, Phyllocariden. Das sind alles Vertreter
des oberen Horizonts des unteren Kambriums,
nicht des Präkambriums, in das man die Reste
bis jetzt eingegliedert hat.
Die einzigen Versteinerungen des Präkambriums
wären die Cryptozoon. Von Saratoga Springs im
Staate New Yorks führt er an : Cryptozoon proli-
ferum Hall, aus dem Greenfielder Eisenbahnein-
schnitt: Cryptozoon Ruedemanni n. sp. Die aus
früheren Veröffentlichungen als sicher präkambrisch
beschriebenen Cryptozoon occidentale Dawson,
Cryptozoon frequenz Walcott sind auch fraglichen
Alters.
Eingehend hat sich Rothpletz mit Eozoon
canadense befaßt, diesem Problematikum, daß so
lange Zeit als das älteste versteinerte Lebewesen
angesehen wurde. Er besuchte die klassischen
Fundorte bei Pepineauville. An diesem dort ge-
sammelten Material konnte er feststellen, daß alle
die Strukturen, die das Gebilde als Petrefakt be-
schreiben ließen, einer zweifachen Metamorphose
ihrer Entstehung danken. Eine Frage bleibt noch
zu beantworten offen. Weil die Anordnung der
Kontaktmineralien nur auf eine Schicht in der
Strukturmanier zu finden ist und weil diese Mine-
ralien auch außerhalb der Eozoon-Schicht vor-
kommen und dort keine Strukturanordnung zeigen,
glaubt Rothpletz an eine Mitwirkung irgend-
welcher Organismen beim Aufbau der Eozoon-
schicht. Das Eozoon hat eine kegelförmige Gestalt,
in der Foraminiferen-, Spongien-, Hydrozoenaufbau
vereinigt ist. 2,5 — 15cm sind die Stücke groß;
N. F. XVI. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
511
wenn sie untereinander verwachsen waren, sogar
30 cm breit. Beim Verwittern des Kalkes kann
man solche kegelförmige Bruchstücke finden. Da-
gegen ist eine bestimmte, Eozoon führende Schicht
nicht nachweisbar und darum sind auch räumlich
getrennt vorkommende EozoonSchichten nicht
immer die gleichen. Der Kalk liegt in den Gren-
villeschichten, die sicher vorsilurisch sind, aber
überall zu Marmor metamorphlsiertes Cambrium,
ja wohl auch Präkambrium vorsteilen. IVletamor-
phosen hat auch Eozoon zweimal mitgemacht,
so daß nach Rothpletz das Eozoon nur ein
anorganisches Gebilde ist.
Aus den Steeprockschichten, die auf alten
laurentinischen Granit abgelagert sind am Steeprock-
See in Canada, führt er Atikokamia Lawsoni Wale,
Cryptozoon Walcotti u. sp. an. Die lithistide
Spongie Aiikokania erreicht eine Größe bis 7i ni
Durchmesser, bildete auf dem Meeresboden Rasen.
Die Stromatoporide Cryptozoon wuchs in senk-
rechten Kegeln, so dicht zusammen, daß man
annimmt, es seien Verwachsungen. Die Ver-
steinerungen haben ausgesprochenes kambrisches
Gepräge, während die herrschenden stratigraphi-
schen Anschauungen den Steeprockschichten eine
tiefpräkambrische (Huron) Stellung einräumen.
So sind nach diesen Untersuchungen Eozoon
canadense keine Versteinerung und die anderen
prä- und altkambrische Reste.
Rudolf Hundt, im Felde.
Chemie. Eine sehr interessante Studie über
die Abscheidung von Kohlenstoff in Form von
Diamant ist kürzlich von Otto Ruff veröffentlicht
worden (Zeitschrift f. anorgan. u. allgem. Chem.
Bd. 99, S. 73 — IC4, 1917) und möge im folgenden,
obwohl die Ergebnisse der Ruff'schen Arbeit im
wesentlichen negativer Natur sind, doch ihrer
grundsätzlichen Bedeutung wegen ganz kurz be-
sprochen werden.
Der leitende Gesichtspunkt für die Ruff'schen
Versuche war weniger die sonst in der Regel
gestellte Frage nach der Möglichkeit der Bildung
von Diamant überhaupt als vielmehr die Frage
nach der Möglichkeit seiner technischen Ge-
winnung, und dementsprechend wurde meist so
vorgegangen, daß versucht wurde, kleine Dia-
manten durch Ankristallisation von Kohlenstoff" zu
vergrößern, und nur wenn dies Verfahren nicht
anwendbar war, war die Abscheidung von Kohlen-
stoff als Diamant in Abwesenheit von Diamant-
keimen Ziel der Arbeit. So wurden kleine Dia-
manten bei verschiedenen Temperaturen und
Drucken mehr oder minder lange Zeit in kohlen-
stoffabscheidenden Gasen, Dämpfen oder Flüssig-
keiten gehalten und ihr Gewicht mittels einer
besonders empfindlichen Wage, die die Tausendstel
Milligramme noch zu schätzen gestattete, vor und
nach dem Versuch bestimmt. In keinem Falle
aber wurde auf diese Weise eine die Fehlergrenzen
der Versuche überschreitende Vergrößerung des
Diamantgewichtes beobachtet. Der Kohlenstoff
schied sich immer nur in Form von amorpher
Kohle oder von Graphit ab. Positive Ergebnisse*),
wurden von R u ff nur bei der Nachprüfung der
bekannten Verfahren von Marsden und Moissan
(Kristallisation von Kohlenstoff aus geschmolzenen
Metallen) erhalten, indem auch Ruff bei diesen
Versuchen winzige Kristallchen erhielt, die er
als Diamanten ansprechen zu müssen glaubt,
eine technische Bedeutung haben diese Versuche
indessen nicht. Das wichtigste Ergebnis seiner
Versuche sieht Ruff in der Feststellung, „daß
sich Diamant bei allen bisher versuchten Wegen
bis zu etwa 2000 Atmosphären, wenn überhaupt,
so doch nur dann gebildet haben dürfte, wenn
flüssiger bzw. gelöster oder dampfförmiger Kohlen-
stoff durch außerordentlich rasche Abkühlung in
feste Form übergeführt wurde. Aber selbst dies
Ergebnis, so wahrscheinlich es auch sein mag, ist
nicht ohne Vorbehalt als Erfolg zu buchen; denn
wir erhielten das als Diamant angesprochene
Material neben amorphem oder graphitischem
Kohlenstoff unter diesen Bedingungen stets nur
in so kleiner Menge und so fein zerteilt, daß eine
quantitative Analj-se in einwandfreier Form nicht
möglich war und wir uns meist mit nicht einmal
ganz einwandfreien qualitativen Belegen für das
Vorhandensein von Diamant begnügen mußten."
Die tiefste Temperatur, bei der Ruff noch
Diamant erhalten zu haben glaubt, ist 1600" C;
bei niedrigeren Temperaturen entstand immer nur
amorphe Kohle oder Graphit. Mg.
') Die von Kuff ausdrücklich als „aussichtsreich" be-
zeichneten V'ersuche von A. Ludwig (Schmelzen von Kohle
in einer Wasserstoflalmosphäre unter einem Druck von mehr
als 1 500 Atmosphären) sind bisher noch nicht nachgeprüft
worden.
Franz X. Schaffer, Grund zu ge der Allge-
meinen Geologie. Deuticke, Leipzig und
Wien 1916. — Geb. 17 M.
Neben den bereits bestehenden ein neues Lehr-
buch leichtfaßlicher Art herauszubringen, noch dazu
mitten im Weltbrande, zeugt von ungebrochenem
Unternehmungsgeiste des Verfassers wie des Ver-
legers. Ein dringendes Bedürfnis danach wäre kaum
zu erkennen. Indes gibt es ja auch Verkehrsmittel,
Bücherbesprechungen.
die sich den Verkehr erst schaffen müssen, dem
sie zu dienen bestimmt sind. Auch Bücher können
und dürfen ihres Glückes eigener Schmied sein.
Das vorliegende scheint durchaus dazu geeignet.
Hervorgegangen aus einem Sammlungsführer,
beschränkt das Werk sich ganz auf die allgemeine
Geologie, d. h. auf die Darstellung der in und auf
der Erde bestehenden Kräfte und ihrer Wirkungen.
Gerade Vulkanismus und PIrdbeben unter ihnen
512
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
. N. F. XVI. Nr. 36
pflegen auch sonst in unseren Lehrbüchern durch-
aus nicht zu kurz zu kommen, was wenigstens
die Erscheinungen anlangt. Durch die Darlegungen
über Gebirgsbildung werden sie aber hier ver-
dientermaßen und wirksam getrennt, und alle drei
finden in dem vorangegangenen Abschnitt über
„die Erde und ihre Kraftquellen" den natürlichsten
gemeinsamen Wurzelboden. Die Dichte, Wärme,
Zusammensetzung des Erdganzen, Magnetismus
und Radioaktivität nebst den astronomischen Ein-
wirkungen sind die Faktoren, aus denen jene
großartigen Phänomene der Oberfläche erklärt
werden müssen; sie sind dem Leser zuvor
kurz, vielleicht allzukurz vorgeführt und erläutert.
Schwerer verständlich ist die weite Trennung der
Kapitel II und IV, da in letzterem wiederum Ge-
birgsbildung, Erdbeben und Vulkanismus (in dieser
Reihenfolge jetzt), freilich mehr von der theoreti-
schen Seit-e aus behandelt werden. Völlig scharf
lassen sich Erscheinung und Erklärung doch nicht
scheiden. Die Kärtchen von der Verteilung der
Erdbeben und Vulkane und ihrer Abhängigkeit
von den allgemeinen großen zirkumterrestrischen
physikalischen Störungszonen gehören durchaus
zu den Erfahrungstatsachen.
Dagegen ist die Disposition wieder sehr klar
und gleichsam historisch begründet im Abschnitt III,
der von Verwitterung, Abtragung, Bildung der
Gesteine und dem Einschluß der Fossilien darin
als geeignetster Mhtel zur späteren Deutung handelt.
Vielleicht wird auf letzterem, mehr paläontologischen
Gebiete die engste Begrenzung des Themas ein
wenig überschritten, aber es wäre pedantisch, nicht
dafür dankbar zu sein.
Es kann nicht Aufgabe öffentlicher Besprechung
sein, kleinliche Ausstellungen zu machen oder
winzige Fehler (Fig. 434 steht auf dem Kopf; die
„tiefgründige Zersetzung des Tropenbodens" ist
ein Dogma, sofern sie auf das Klima statt auf das
Alter der betr. Landoberflächen zurückgeführt wird,
ist daher in den Dinosaurierschichten Ostafrikas
so wenig wie eine minderwertige Erhaltung der
dortigen Knochen [S. 453] festzustellen usw.) über
Gebühr hervorzuheben. Vielmehr kann und muß
betont werden, daß das Material gründlich ge-
sammelt, klar dargeboten und durch vielfach
ausgezeichnet wiedergegebene Abbildungen aus-
gezeichnet erläutert ist. Den weitesten Freundes-
kreisen der Geologie kann das gut ausgestattete
Buch zu Einführung und Übersicht angelegentlich
empfohlen werden. Edw. Hennig.
B. Bavink, Einführung in die allgemeine
Chemie. Aus Natur und Geisteswelt (Samm-
lung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Dar-
stellungen) Bd. 582. 108 S. kl. 8» mit 24 Ab-
bildungen im Text. Leipzig und Berlin 191 7.
Druck und Verlag von B. G. Teubner. — Preis:
geh. I M., geb. 1,25 M.
In kurzer und knapper, aber recht leicht ver-
ständlicher und ganz elementarer Darstellung be-
handelt der Verf des kleinen Büchleins, das als
Ergänzung zu den von demselben Autor in der-
selben Sammlung veröffentlichten Einführungen in
die organische und in die anorganische Chemie
gedacht ist, die wichtigsten Tatsachen und Theorien
der allgemeinen Chemie, wobei er auch die neueren
Erkenntnisse, wie z. B. die Untersuchungen über
den Aufbau der Kristalle und über die Struktur
der Atome erörtert.
Das Büchlein kann empfohlen werden.
Werner Mecklenburg.
Anregungen und Antworten.
Herrn F. B. in M. I. Von K. Fajans ist ein z u-
afassendes Werk über Radioelemente und periodisclics
System meines Wissens bisher nicht veröffentlicht worden-
Vielleicht gibt das — einer Rezension ') von Fajans zufolge
allerdings nicht immer ganz einwandfreie — Werk von
C. S c h m i d t ,,Das periodische System der chemischen Elemente"
(Leipzig 1917, Verlag von Joh. Ambr. Barth, Preis geh. 6,
geb. 7,50 M.) die verlangte Auskunft.
2. Ein recht gutes Referat über neuerdings erschienene
Arbeiten über Radioaktivität hat Prof. Dr. F. Henrich
unter dem Titel „Forschungen auf dem Gebiete der Radio-
aktivität in den Jahren 1915 und 1916" in der Zeitschr. f. angew.
Chemie Jahrg. 1917, Heft 19 (S. 57— 64I, Heft 21 (S. 65—70)
und Heft 23 (S. 78 — 80) erscheinen lassen. Vielleicht über-
') Zeitschr. f. Elektroch. 1917, Heft 9/10 (S. 159)-
läßt Ihnen Herr Prof. Henrich (Erlangen, Bismarckstr. 9)
einen Sonderabdruck.
3. \ orschriften über die Herstellung kolloidaler Lösungen
sind außer in der ziemlich zerstreuten Originalliteratur zu linden
in dem Buche von The Svedberg „Die Methode zur Her-
stellung kolloider Lösungen anorganischer Stoffe" (Dresden
1909, Verlag von Theodor Steinkopff, Preis geh. 16, geb. 18 M.).
4. Die „Naturw. Wochenschr." hat die neuere Entwick-
lung der Lehre von der Radioaktivität mehrfach behandelt.
Vgl. z. B. K. Schutt „Das periodische System und die Radio-
elemente" (Jahrg. 1916, S. 17 — 23), ferner die von den Unter-
zeichneten verfaßten Berichte über „Die Anschauungen über
den Zusammenhang zwischen den Atomgewichten und den
chemischen Eigenschaften der Elemente" (Jahrg. 1915, S. 107
bis III), „Über das Verhalten der Radioelemente bei Fällungs-
reaktionen" (Jahrg. 1915, S. 471 — 472), „Über den Element-
und Atombegriff in Chemie und Radiologie" (Jahrg. ig 16,
S. 505 — 506), „Zur Kenntnis der isotropon Elemente" (Jahrg.
1917, S. 68—69). Mg.
Inhalt I Häufller, Über Vitamine, Ergänzungsstofle, Amidosäuren, Eiweißkörper und einige Stoffwechselkrankheiten. S. 497.
Johannes Theel, Über die Bedeutung der Größe für Organismen, (i Abb.) (Schluß.) S. 503. — Einzelberichte:
Jaroslaw Krizenecky, Über echten Hermaphroditismus beim Kammmolch. S. 508. August Rothpletz, Über
die ältesten Versteinerungen Europas und Nordamerikas. S. 510. Otto Ru ff, Über die Abscheidung von Kohlenstoff
in Form von Diamant. S. 51 1. — Bücherbesprechungen: Franz X. Schaff er, Grundzüge der Allgemeinen Geologie.
S. 511. B. Bavink, Einführung in die allgemeine Chemie. S. 512. — Anregungen und Antworten: Radioelemente
und periodisches System. S. 512.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a
lidenstraße 42, erbeten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den i6. September 1917.
Nummer WS
Über den Kathodenstrahldurchgang durch Materie.
Von A. Becker.
[Nachdruck verboten.] Mit 3 Abbildungei
Seitdem wir in den Kathodenstrahlen die Ele-
mentarquanten der negativen Elektrizität erkannt
und diese zusammen mit noch nicht näher be-
kannten elementaren positiven Kraftzentren als die
Bausteine der Atome der Materie aufzufassen ge-
lernt haben, ist die quantitative Erforschung der
Gesetze des Kathodenstrahldurchgangs durch
die Materie für die Kenntnis der Atomkonstitution
und des im elektromagnetischen Felde des Atoms
vor sich gehenden Energieumsatzes von höchster
Bedeutung geworden.
Grundlegend in dieser Hinsicht sind die ersten
Untersuchungen Lenard's,^) welche insbesondere
die Erscheinungen der Absorption, der Diffusion,
der Sekundärstrahlbildung und der Auslösung
chemischer Prozesse im durchstrahlten Medium auf-
gedeckt und auch teilweise weitgehend quantitativ
festgelegt haben, während speziell die Probleme des
Energieumsatzes durch die Entdeckung Röntgen 's -j
über die Erregung unperiodischer Ätherstrahlung
und durch die von Lenard^) an sehr langsamen,
von Leithäuser*) an schnelleren Kathoden-
strahlen zuerst gemachte Beobachtung der Ge-
schwindigkeitsverringerung der Strahlung in Materie
eine wichtige Erweiterung erfuhren.
Den späteren Untersuchungen blieb hiernach
als Hauptaufgabe die weitere Vertiefung der
quantitativen Erkenntnis des Erscheinungs-
komplexes. Bedeutungsvoll war für sie insbesondere
noch die Entscheidung der Frage nach der Ab-
hängigkeit der Erscheinungen von der Strahlge-
schwindigkeit und der Natur der durchstrahlten Sub-
stanz. Wegen der genannten großen Mannigfaltig-
keit der Vorgänge beschränkte sich die Mehrzahl
der bisherigen Untersuchungen naturgemäß auf
die Ergründung der Einzelerscheinungen. Für die
Bewertung der Ergebnisse und die Orientierung
der weiteren Forschung ist aber die zusammen-
fassende Betrachtung unerläßlich auch dann,
wenn das durch sie gegebene Bild noch verbesse-
rungsbedürftig sein würde. Bei der Schwierigkeit,
welcher gegenwärtig noch der Versuch der rein
theoretischen Beschreibung der Vorgänge begegnet,
werden hierbei auch rein empirisch gewonnene
quantitative Beziehungen solange für den Überblick
von Bedeutung sein, als sie die direkte Erfahrung
mit der ihr selbst zukommenden Genauigkeit ein-
') P. Lenard, Wied. Ann. 51, 52, 1894; 56, 1895;
63, 1897; 64, 65, 1898; Ann. d. Phys. 12, 1903; 15, 1904.
2) W. C. Röntgen, Wied. Ann. 64, 1895.
•') P. Lenard, Ann. d. Phys. 12, p. 727, 1903.
*) G. E. Leithäuser, Sitzgsber. d. Akad. d. Wiss.
Berlin 1902; Diss. Berlin 1903; Ann. d. Phys. 15, 1904.
I und 3 Kurven.
wandfrei darstellen und noch nicht durch eine voll-
begründete theoretische Gleichung ersetzbar sind.
Es sollen in dieser Richtung im folgenden die
drei Erscheinungsgebiete der Geschwindigkeits-
verringerung, der Absorption und der Sekundär-
strahlerzeugung, soweit es die gegenwärtige Kennt-
nis ermöglicht, zusammenfassender Betrachtung
unterworfen werden.
I. Geschwindigkeitsverlust.
Von allenKathodenstrahluntersuchungen dürften
die direkten Geschwindigkeitsmessungen am
wenigsten durch schwer oder nicht eliminierbare
Begleiterscheinungen beeinflußt sein und daher am
ehesten ein ungetrübtes Bild des reinen Einzel-
vorgangs geben. Wir stützen uns im folgenden
deshalb vornehmlich auf die Ergebnisse derjenigen
Untersuchungen, welche den Geschwindigkeits-
verlust der Strahlen beim Durchgang durch Materie
direkten Geschwindigkeitsmessungen entnehmen.
Die Versuchsweise, die bisher überwiegend auf
den Strahldurchgang durch Metalle angewandt
worden ist, besteht darin, daß man den Geschwin-
digkeitsverlust aus der Änderung der magnetischen
Ablenkbarkeit des durch scharfe Blenden abge-
grenzten Strahls bestimmt. Es ist hierzu entweder
gleichzeitig oder nacheinander die Ablenkung eines
direkten und eines eine Metallfolie bekannter Dicke
durchsetzenden Strahlenbündels in einem konstant
bleibenden Magnetfeld zu fixieren. Ist z, die
Seitenablenkung auf einer Wegstrecke x = 1 im
Magnetfeld ^, v^ die ursprüngliche Strahlenge-
schwindigkeit und - - das Verhältnis von Ladung
und Masse der Strahlteilchen bei dieser Geschwin-
digkeit , gemessen im elektromagnetischen Maß,
so findet sich
1- /dx /|)d>
Zq m J t)
und die Änderung dieser Geschwindigkeit nach
Durchsetzen einer bestimmten Metalldicke wird,
sofern sie bei den Messungen sehr klein bleibt, durch
JVf, = ^-Vj gegeben, wenn Jz^ die beobach-
te
tete Änderung der Seitenablenkung ist.
Der Veranschaulichung mögen einige Repro-
duktionen photographischer Aufnahmen des Verfs.
dienen. Die Fig. i zeigt einen sich im kräftefreien
Raum geradlinig fortpflanzenden Kathodenstrahl,
dessen Geschwindigkeit etwa 1,2X10" cm/sec
war. Die Fig. 2 zeigt einen unbeeinflußten und
je einen in einem Magnetfeld verschiedener Rieh-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 37
tung abgelenkten Strahl. Die Fig. 3 schließlich
enthält zwei getrfnnte Darstellungen eines vertikal
zur Strahlrichtung aufgenommenen Bildes. In
beiden Fällen erfolgte die Ablenkung nach zwei
Seiten in zwei verschieden starken Magnetfeldern,
und gleichzeitig wurde auch die Projektion des
unabgelenkten Strahls festgehalten.^ Während aber
das obere Bild mit einem ursprünglichen Strahlen-
bündel erhalten wurde, bezieht sich das untere auf
denselben Strahl nach Durch-
setzen einer Aluminiumfolie
von 0,00089 cm Dicke. Aus
der gegenseitigen Verschie-
bungder Seitenstreifen beider
Bilder ist der Geschwindig-
keitsverlust ohne weiteres
ersichtlich.
Außer durch optische
Fixierung kann die Ablenk-
Abb. 3. barkeit der Strahlen auf elek-
trischem Wege ermittelt wer-
den. Letzteres ist insbesondere dann erforder- '
lieh, wenn die Intensität der verfügbaren Strahlung
oder ihre photographische Wirksamkeit aus anderen
Gründen gering ist.
Von besonderem Interesse ist der Gang des
Geschwindigkeitsverlustes mit der Dicke der durch-
strahlten Schicht und der Anfangsgeschwindig-
keit der eintretenden Strahlen. Direkte Messungen
hierüber liegen vor für das Geschwindigkeitsbereich
von etwa 0,4 bis 2,94X10'" cm'sec. Dieselben
ergeben übereinstimmend, daß der bei den größten
Strahlgeschwindigkeiten äußerst geringe Geschwin-
digkeitsverlust mit abnehmender Geschwindigkeit
wächst und bei kleineren Geschwindigkeiten sehr
hohe Wert annimmt. Es ist dies vornehmlich für
Aluminium als durchstrahlte Substanz untersucht
worden. Da die Beobachtungen an anderenMetallen
andeuten, daß die für den gleichen Geschwindig-
keitsveriust maßgebenden Schichtdicken bei ihnen
etwa im umgekehrten Verhältnis der Dichte stehen,
daß also Schichten gleicher Masse pro Flächen-
einheit nahe gleichen Geschwindigkeitsverlust ver-
ursachen, so kann der bei Aluminium beobachtete
Gang mit der Geschwindigkeit in erster Annäherung
als maßgebend für alle Stoffe angesehen werden.
Versucht man nun diesen Gang quantitativ zu
überblicken, so findet sich, wie ich kürzlich näher
gezeigt habe, ^) daß derselbe im ganzen beobach-
teten Geschwindigkeitsbereich durch die einfache
Beziehung
dv c — v
dx=-^^^
mit derselben Genauigkeit darstellbar ist, die der
Gesamterfahrung bisher zukommt. Danach ist
also der Geschwindigkeitsverlust pro Längeneinheit
direkt proportional dem Unterschied des Absolut-
werts der jeweiligen Geschwindigkeit gegen die-
jenige des Lichts (c=3Xio" cm/sec) und um-
gekehrt proportional dem Quadrat der jeweiligen
Geschwindigkeit. Die Größe a ist hierbei eine
Konstante, die für Aluminium etwa den Zahlen-
wert 7,5X10^" hat.
Nimmt man an, daß diese Beziehung, die ich
als „quadratische Formel" bezeichnet habe,
für das ganze Geschwindigkeitsbereich der Kathoden-
strahlung — von 3 X 10^" cm/sec bis zu kleinen
Werten — zutreffe, so würde nach ihr der Gang
des auf 0,01 mm Aluminium bezogenen Ge-
schwindigkeitsverlusts mit der Geschwindigkeit
der folgende sein:
Tabelle i.
cm
sec
dv cm / 0,01
dx sec/ mm
V 5^"
dv cm /o,oi
dx sec / mm
2,94X10'»
0,00052X10'°
1,50X10'°
0,0500X10'»
2,85
0,00138
1.35
0,0680
2,70
0,00308
1,20
0,0937
2,55
0,0051g
1,05
0,1326
2,40
0,00781
0,90
0,1944
2,10
0,0153
0,60
0,500
1,80
0,027s
0,45
0,94 1
1,65
0,0372
0,30
2,25
Tritt ein Kathodenstrahl bestimmter Anfangs-
geschwindigkeit in eine dickere Schicht ein, so
erfährt danach seine Geschwindigkeit eine be-
schleunigt zunehmende Verringerung. Ihr Gang
mit der Dicke würde für Aluminium der in bei-
stehender Fig. 4 wiedergegebene sein, wenn wir
als Anfangsgeschwindigkeit v„ das eine Mal
2X10*" cm/sec, das andere Mal 1,5X10'" cm/sec
wählten.
') A. Becker, Heidelb. Akad. d. Wiss. 7. Abh. 1917.
N. F. XVI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
515
Man erkennt, daß die am Anfang der Bahn
nur allmähliche Geschwindigkeitsabnahme mit zu-
nehmender Schichtdicke rasch anwächst, und daß
die Geschwindigkeit bei einer bestimmten, für
jede Anfangsgeschwindigkeit charakteristischen
Dicke auf Null herabsinkt. Diese stellt im be-
treffenden Medium die Grenze dar, bis zu welcher
ein Kathodenstrahl bestimmter Anfangsgeschwin-
digkeit höchstenfalls eindringen könnte, sie kann
daher als „Grenzdicke" bezeichnet werden. Ihr
020 mm. 025
Wert berechnet sich nach der quadratischen
Formel zu
wenn ß^ = " gesetzt ist. Ihr Gang mit der Aus-
gangsgeschwindigkeit Vq ist danach für Aluminium
der folgende:
Tabelle 2.
^0
cm
sec
.\„, mm
3X
lo'o
00
i.SXio'o
0,082
2,95
3,153
1,2
0,037
2,9
2,361
1,0
0,020
2.7
1,197
0,8
0,0095
2,5
0,733
0,6
0,0038
2,3
0,474
0,5
0,002 1
2,0
0,252
0,3
0,0004
1,8
0,1 Ö4
0,2
0,0001
Während die schnellsten Strahlen relativ große
Dicken zu durchlaufen vermögen, ist die Ge-
schwindigkeitsabnahme der langsameren Strahlen
so groß, daß ihre Grenzdicke außerordentlich
kleine Werte annimmt. Eine direkte experimen-
telle Ermittlung dieser Grenzdicke ist allerdings
ausgeschlossen, da die Kathodenstrahlung bei
ihrem Eindringen in Materie in viel höherem Maße
der Absorption als der Geschwindigkeitsverringe-
rung unterliegt, und da infolgedessen die Anzahl
derjenigen Elektronen, die ohne vorhergehende
Absorption die Grenzdicke zu durchlaufen ver-
möchten, praktisch verschwindend ist.
Es ist noch zu bemerken, daß die den vor-
stehenden Berechnungen zugrunde gelegten Ge-
schwindigkeitsverluste dem Fall entsprechen, daß
die .Strahlen in die betreffende Schicht normal
eintreten und aus ihr in gleicher Richtung aus-
treten und daß diese Schicht relativ dünn ist. Es
wird hierbei anzunehmen sein, daß die durch-
laufene \\'egstrecke in erster Annäherung trotz
der auftretenden Strahldiffusion der Dicke der
Schicht entspricht. Nimmt diese aber erheblichere
Werte an, so wird insbesondere bei langsameren
Strahlen mit dem überwiegenden Auftreten längerer
Wege und infolgendessen mit rascherer Geschwin-
digkeitsabnahme gerechnet werden müssen. Es
ist darnach anzunehmen, daß das Ergebnis der
Integration der quadratischen P~ormel über merk-
liche Schichtdicken namentlich bei den kleinen
Strahlgeschwindigkeiten wohl zu geringe Ge-
schwindigkeitsabnahme liefern wird.
Es bleibt jetzt noch die Frage, wie weit auch
der Differentialansatz etwa in seiner Gültigkeit be-
schränkt sein könnte. Hierzu kann nur vom
theoretischen Gesichtspunkt aus folgendes bemerkt
werden: Soweit der Geschwindigkeitsverlust der
Kathodenstrahlen und damit auch die Abnahme
ihrer Energie durch eine einheitliche Gesetzmäßig-
keit darstellbar ist, soweit werden auch die für
die Erscheinung maßgebenden Atomvorgänge
qualitativ gleicher Art sein müssen. Daß dies
tatsächlich für das ganze Gebiet von den schhnell-
sten bis zu den langsamen Geschwindigkeiten von
etwa 0,05 X 10'" cm sec zutreffe, ist nach bisheriger
Kenntnis anzunehmen. Unterhalb dieser Geschwin-
digkeit verliert das Elektron allmählich seine Fähig-
keit, das Atominnere zu durchdringen, und der
Vorgang des Energieaustauschs wird eine quali-
tative Änderung erfahren müssen, so daß die Aus-
sagen der quadratischen Formel für die kleinsten
Strahlgeschwindigkeiten nicht mehr bindend sein
werden. Wir kommen hierauf im letzten Ab-
schnitt nochmals zurück. Die Angaben über die
Grenzdicken werden hierdurch jedenfalls praktisch
nicht beeinflußt.
2. Absorption.
Durch die Untersuchungen Lenard's ist fest-
gestellt, daß die Absorption der Kathodenstrahlen
in Materie, die in einer Bindung eines Teils der
ein Atom durchsetzenden Elektronenzahl durch
das elektromagnetische Kraftfeld des Atoms be-
steht, einem Exponentialgesetz folgt, welches besagt,
daß in jeder elementaren Schicht immer der gleiche
Bruchteil der eintretenden Quantenmenge festge-
halten wird. Bezeichnen wir diese, die Strahlen-
516
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 37
intensität, mit i, die durchsetzte Schichtdicke mit x,
so ist also
di
-,--= — «.1,
dx
woraus durch Integration sofort das Exponential-
gesetz
i = i(,e-«^
folgt, welches diejenige Intensität angibt, die eine
X cm dicke Schicht des Mediums zu durchsetzen
vermag, wenn i^ die Anfangsintensität und a den
für die Substanz und die betreffende Strahl-
geschwindigkeit charakteristischen „Absorptions-
koeffizienten" bezeichnet.
Was die Abhängigkeit des Wertes a von der
Natur der Substanz betrifft, so fand Lenard das
wichtige Gesetz der Massenproportiona-
lität, nach dem der Absorptionskoeffizient aller
Stoffe in erster Annäherung — bei nicht zu ge-
ringen Strahlgeschwindigkeiten — der Masse der-
selben proportional ist. Sieht man von denjenigen
Stoffen ab, welche wesentliche Abweichungen von
diesem Gesetz zeigen und auf die hier nicht näher
eingegangen werden soll, so ist es für die Betrach-
tung der wichtigen Fragen nach der Abhängigkeit
der Absorption von der Strahlgeschwindigkeit von
Vorteil, die auf die Masseneinheit bezogenen Ab-
sorptionskoeffizienten der Untersuchung zu unter-
werfen. Es kommen hierfür in der Literatur vor-
zugsweise Beobachtungen an Luft und Aluminium
in Betracht. Da in der erwähnten Formel a als
Konstante betrachtet wird, da ihre Anwendung
also eine Strahlung konstanter Geschwindigkeit
voraussetzt, so sind, wenn der im vorhergehenden
Abschnitt betrachteten Geschwindigkeitsabnahme
nicht besonders Rechnung getragen wird, nur die-
jenigen Messungen unmittelbar verwertbar, welche
sich auf sehr geringe Schichtdicken beziehen. Daß
daneben eine Reihe weiterer Vorsichtsmaßregeln
zu beachten sind, möge nur erwähnt werden.
Nachdem schon im Jahre 1903 durch die
Lenard 'sehen Arbeiten ein erster Überblick über
den Gang der Kathodenstrahlabsorption mit der
Geschwindigkeit gegeben war, sind später zahl-
reiche weitere Versuche bekannt geworden, die
eine nähere quantitative Festlegung dieses Ganges
ermöglichten. Wie ich vor mehreren Jahren ge-
zeigt habe, ') findet sich, daß die Absorption
innerhalb des großen Gebietes von etwa
I X 10" cm/sec bis zu den größten ge-
messenen Geschwindigkeiten, die der-
jenigen des Lichts sehr nahe kommen, innerhalb
dessen die Absolutwerte der Absorption um nahe
das Tausendfache voneinander unterschieden sein
können, mit befriedigender Annäherung propor-
tional ist der 6. Potenz der reziproken
Geschwindigkeit. Beim Übergang zu kleineren
Strahlgeschwindigkeiten nimmt aber der Exponent
kontinuierlich ab derart, daß der Absorptionskoef-
fizient bis herab zu Geschwindigkeiten von etwa
0,05 X 10" cm/sec angenähert durch den Ausdruck
a^a„ — -1 für zß^- 1
dargestellt werden kann, wo /?=- und a ein
Zahlenwert ist, der im Geschwindigkeitsbereich
von 0,05 bis etwa 0,5 X 10^" cm/sec die konstante
Größe 0,30 besitzt, die dann im Bereich von 0,5
bis I X 10" cm/sec allmählich auf Null herabsinkt.
Setzt man für den auf die Masseneinheit be-
zogenen Absorptionskoeffizienten der Strahlen
v= 1,5X10^" cm/sec den von mir früher ge-
messenen Wert =r = 250 gr-'cm', so ergibt sich
nach obigem der folgende Gang mit der Ge-
schwindigkeit:
Tabelle 3.
cm
sec
ßgr-'cnr
V _
l gt-'cm'
2,7X'°'°
7,35
1,2X10'°
9,5 X«o^
2,4
14.9
0,9
48 X^o'
2,1
33
0,6
4,2X10'
1,8
84
0.3
9,0 X'o"
1.5
250
0,15
3,3 X'o"
Da mit zunehmender Schichtdicke die Kathoden-
strahlung, wie gezeigt, einen Geschwindigkeits-
verlust erfährt, so muß der Absorptionskoeffizient
mit wachsender Dicke ansteigen, und der Verlauf
der Gesamtabsorption wird nicht mehr dem
exponentiellen Gesetz folgen. Dies ist in der
Literatur vielfach unberücksichtigt geblieben, so daß
das Ergebnis mancher Beobachtungen fälschlicher-
weise in dem Sinne gedeutet wurde, daß das
Exponentialgesetz prinzipiell nicht zuträfe. In der
beistehenden Fig. 5 sind diese Verhältnisse für
die Anfangsgeschwindigkeit 1,5X10*" cm/sec
dargestellt.
Die Kurve i zeigt den Gang des Absorptions-
koeffizienten mit der durchlaufenen Schichtdicke
für eine Substanz mit der Dichte i. Derselbe
nimmt zunächst langsam, dann rascher zu und
erreicht in tieferen Schichten sehr beträchtliche
Werte. Die Strahlintensität *) nimmt infolgedessen
wesentlich stärker ab (Kurve 3) als im Falle konstant
angenommener Absorption, den die Kurve 2 dar-
stellt. Man erkennt auch, daß im gleichen Dicken-
bereich (0,05 mm), in dem die Geschwindigkeit
nur auf etwa 77 "/„ des Anfangswertes abnimmt,
die Strahlintensität bereits auf 6 % reduziert wird.
Es bleibt zu bemerken, daß auch bei der Ab-
sorption wegen der gleichzeitigen Strahldiffusion
») A. Becker, Heidclb. Akad, d. Wiss. 19. Abh, 19JO.
>) Der für die Strablintensität sich für diesen Fall aus
unseren Formeln ergebende theoretische Ausdruck ist nicht
ganz einfacher Art. Für die angenäherte Berechnung bei
kleineren und mittleren Geschwindigkeiten genügt der Ausdruck
i = j e , wo io die Anfangsintensität, «, der der
Anfangsgeschwindigkeit zukommende Absorptionskoeftizient,
N. F. XVI. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S17
im Durchschnitt mit einer vergrößerten Wege-
länge zn rechnen ist. Es geschieht dies im allge-
meinen durch Einführung eines „Wegfaktors",
dessen Größe durch die Höhe der Diffusion be-
stimmt wird und meist nicht allzu erheblich von i
sich unterscheidet.
.1200
1100
/
/
90
\
/
i
eo
70
60
.600| \-,^
/
/
500 1 \ ^-
/
1«
|30
.oof J<
\
-->2
S3
J-
r
.200
\v 1
10
-100
Schlchldlcke x mm.
\
(
001 0-02
003
004
00
Energieverlust der letzteren auf der Einheit des
Weges der Anzahl erzeugter Sekundärelektronen
auf dem gleichen Wege einfach proportional sein
müssen. Vergleichen wir in dieser Hinsicht die
Aussagen der quadratischen Formel mit den Er-
gebnissen der direkten Untersuchung des Gangs
der Leitfähigkeit der Luft mit der Strahlgeschwin-
digkeit, wie sie von Bloch') zusammengestellt
worden sind — wobei wir voraussetzen müssen,
daß der Geschwindigkeitsverlust in Luft und
Aluminium dieselbe Geschwindigkeitsfunktion ist
— so ergibt sich folgendes:
Ist E die Energie eines Primärelektrons, so
läßt sich diese darstellen durch die bekannte
Gleichung
E = m„c2{(i— /J'^)-'/'— I}.
Hieraus ergibt sich für die Energieänderung auf
der unendlich kleinen Längeneinheit in Luft
dE dE d/? T_«
■''■ 'ß '
Abb. 5.
3. Sekundärstrahlerzeugung.
Nach den Untersuchungen Lenard's aus
dem Jahre 1903 löst ein Kathodenstrahl aus
den von ihm durchquerten Atomen sekundäre
Elektronen aus, die sich von ihm vornehm-
lich durch eine wesentlich kleinere Geschwin-
digkeit unterscheiden. Dieselbe beträgt etwa
0,0065 X 10'" cm/sec (entsprechend einer Erzeu-
gungspannung von etwa 1 1 Volt) und scheint in
weitem Bereich von der Geschwindigkeit des
Primärstrahls unabhängig zu sein. Ihre Menge
dagegen zeigt einen sehr erheblichen Gang mit
der letzteren. Während unter II Volt Primär-
geschwindigkeit (für die meisten Stoffe) die Sekun-
därstrahlemission Null ist, steigt sie mit wachsender
Primärgeschwindigkeit rasch an, erreicht in der
Nähe von 200 Volt ein Maximum, um bei weiterer
Steigerung der Primärgeschwindigkeit allmählich
wieder abzunehmen und offenbar einem Grenzwert
zuzustreben. Die Untersuchung dieses Gangs er-
folgte hauptsächlich in Gasen, vornehmlich in Luft,
deren Leitfähigkeit als unmittelbare Folge der
Sekundärstrahlerregung ein direktes Maß der
letzteren darstellt.
Die Quelle der Sekundärstrahlenenergie wird
man in erster Linie im Geschwindigkeitsverlust
der Primärstrahlen zu suchen haben. Würde die
Annahme der Konstanz der Geschwindigkeit bzw.
der Geschwindigkeitsverteilung der Sekundär-
strahlung für das ganze Geschwindigkeitsgebiet
der Primärstrahlen zutreffen, so würde dann der
Xm die ihr entsprechende Grenzdicke und x die laufende
Dicke ist. Bei den größten Geschwindigkeiten gibt er die
Intensitälsabnahme etwas zu grofi an.
dß dx
wenn die Längen in cm gemessen werden.
Wir bezeichnen diesen Wert als „differen-
tiale Energieänderung" und untersuchen,
wie weit diese gleichzeitig als Maß für die „diffe-
rentiale Sekundärstrahlung" betrachtet
werden kann.
Sehen wir zunächst vom Absolutwert ab und
wählen den Zahlenfaktor derart, daß der Wert von
dE
dx
für die mittlere Strahlgeschwindigkeit von
1,5 X lo'" cm/sec der gebildeten Sekundärquanten-
zahl gleich wird, so ergibt sich das durch die
Fig. 6 dargestellte Bild. Die ausgezogenen Kur-
\
\
25 \
\
\
A
.
20 \
\
15 \
\
»
10 " \
^
.
0 \
\^^^^
55; oX
oAu
s ^ berechnet.
^^^
N
Primärstrahlgeschwindi'
keit V.
cm.^sec. 3-10
ven geben, in zwei verschiedenen Maßstäben, den
Gang der Sekundärquantenzahl, die pro Elementar-
■) S. Bloch, Diss. Heidelberg 19I1; Ann. d. Phys. 38,
5if
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 37
quant des Primärstrahls in Luft von Atmosphären-
druck auf I mm Weg nach den direkten Be-
obachtungen ausgelöst wird, während die Ringe den
durch den Geschwindigkeitsverlust nach der quadra-
tischen Formel angegebenen Gang bezeichnen.
Man sieht, daß im Bereich kleiner und mitt-
lerer Geschwindigkeiten ein nahe gleicher Gang
beider Wertgruppen vorhanden ist, während bei
dE
großen Geschwindigkeiten die Werte von .— an
Stelle weiteren Abfalls einen erheblichen Anstieg
zeigen. Derselbe würde vermieden, wenn wir
annehmen wollten, daß der Geschwindigkeits-
verlust in diesem Gebiet geringere Werte besäße
als die quadratische Formel sie angibt. Doch
entbehrt eine solche Annahme jeder anderweitig
gestützten Begründung, und sie verbietet sich
daher um so mehr, als die quadratische Formel
sich in diesem Gebiet den sorgfältigen Meßdaten
mit besonderer Exaktheit anschließt. Zur Be-
seitigung des Widerspruchs bliebe noch die wahr-
scheinlichere Annahme, das die Energie der Se-
kundärelektronen nicht im ganzen Bereich der
Primärstrahlgeschwindigkeiten unveränderlich son-
dern in geringem Maße noch Funktion dieser
Geschwindigkeit — und zwar mit dieser an-
wachsend — ist. Die bisherige Erfahrung ver-
mag hierüber noch nicht zu entscheiden.
Eine systematische Abweichung besteht auch
im Gebiet der allerlangsamsten Primärstrahlen
(etwa 0,04 cm/sec abwärts), in dem die Sekundär-
strahlung ein Maximum zeigt mit nachfolgendem
dE
raschem Abfall, während die Werte von -;— dau-
dx
ernd ansteigen. Daß in diesem Gebiet die Vor-
gänge des Energieaustauschs zwischen Primär-
elektron und Atom anderer Art sind, haben wir
bereits hervorgehoben. Das trifft insbesondere
bei Primärgeschwindigkeiten unterhalb 1 1 Volt
zu, bei denen Sekundärstrahlung überhaupt nicht
mehr auftritt. Dies schließt zweifellos auch die
Gültigkeit der quadratischen Formel für dieses
relativ kleine Gebiet aus.
Von Interesse ist nun noch die Betrachtung
des Absolutbetrags der Sekundärstrahlung.
Nimmt man an, daß die Anzahl der auf der
Längeneinheit des Strahlwegs von jedem einzelnen
Primärelektron erzeugten Sekundärquanten durch
den Quotienten aus der auf dem betreffenden
Weg verlorenen Energie des ersteren und der
Gesamtenergie des letzteren (11 Volt entsprechend
0,1745X10 — '" Erg) gegeben wird, so findet sich,
auf I mm Luftweg berechnet, der in Tabelle 4
angegebene Gang mit der Primärgeschwindigkeit.
Man erkennt, daß die Übereinstimmung zwischen
der aus dem Energieverlust des Primärquants be-
rechneten und der direkt beobachteten Sekundär-
strahlerzeugung in Luft im allgemeinen eine ziem-
lich befriedigende ist; bei den großen Primärge-
schwindigkeiten macht sich naturgemäß auch in
den Absolutwerten die bereits zuvor erkannte
Abweichung geltend. Es ist daraus zu entnehmen.
daß die Vorstellung von der Identität zwischen
verlorener Energie des Primärquants und der Ge-
samtenergie der durch dasselbe ausgelösten Se-
kundärquanten, d. h. die Vorstellung eines voll-
kommenen, verlustlosen Austauschs zwischen
Primär- und Sekundärenergie mit derjenigen An-
Tabelle 4.
Absolutwerte der differentialen Sekundärstrahlung.
ß
dE
d^
Sekundärquantenzahl
pro : mm Luft
pro I mm Luft
aus Energieverlust
beobachtet
0,2
i2,78Xio--Erg
73
90
0.3
8,10
46
40
0,4
5,8s
34
25
0,5
4.62
27
18
0,6
3,91
22
13
0,7
3,53
20
9
0,8
3,47
20
7
0,9
4,02
23
5
0,95
5,19
30
4,5
näherung zuzutreffen scheint, mit der wir zur
Zeit überhaupt das Gesamtphänomen quantitativ
zu beschreiben vermögen. Wenn in dieser Hin-
sicht neue Erkenntnis insbesondere von der künf-
tigen eingehenderen Untersuchung der Ge-
schwindigkeitsverteilung der Sekundärstrahlung
zu erwarten sein wird, so kann doch jetzt schon
geschlossen werden, daß kaum ein erheblicher
Teil der Energie der nicht absorbierten Primär-
elektronen auf andere Vorgänge verwandt wird.')
Eine andere Verwendung findet zweifellos die-
jenige kinetische Energie des Primärstrahls, die
bei dessen Absorption durch die betreffenden
Atome der Substanz als solche verloren geht.
Sie wird sich zum Teil in Wärme, zum Teil in
Energie neu auftretender Ätherstrahlung umsetzen,
die sowohl Licht- als Röntgenstrahlung sein kann.
Die eingehendere quantitative Ergründung dieser
Energietransformationen ist eine wichtige Aufgabe
der künftigen Kathodcnstrahlforschung.
Für die hier näher betrachtete P>age der Se-
kundärstrahlerzeugung hat die Ermittlung der
„totalen Sekundärstrahl u ng", d. h. der-
jenigen Sekundärquantenmenge oder auch der-
jenigen Anzahl von Trägerpaaren in Gasen, die
von einem Primärelektron im Durchschnitt auf
seinem ganzen Weg vor seiner Absorption aus-
gelöst wird, unmittelbar praktisches Interesse.
Sie gibt in Gasen ein Maß für die totale Leit-
fähigkeitserregung, d. h. für die Größe des durch
das Gas vermittelbaren Elektrizitätstransports
1) Daß ein gewisser kleiner Teil der Energie für Erregung
von Licht, charakteristischer Röntgenstrahlung oder chemischer
Prozesse verwandt werden könnte, ist nicht ausgeschlossen.
Es könnte dies namentlich bei sehr schnellen Primärstrahlen
in Betracht kommen, wodurch die hervorgehobene Abweichung
vun der beobachteten Sekundärstrahlung verständlich würde.
N. F. XVI. Nr. 3;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S19
beim Durchgang eines Primärelektrons. Nach
unserer Vorstellung wird sie im wesentlichen be-
stimmt durch diejenige Energieänderung, die ein
Elektron durchschnittlich erfährt, bevor es von
der Substanz, absorbiert wird. Sie ist also einer-
seits durch die Größe der differentialen Sekundär-
strahlung (die mit ff bezeichnet sei), andrerseits
durch den Absorptionskoeffizierten « der be-
treffenden Primärstrahlung festgelegt.
Wäre « auf dem ganzen Strahlweg konstant
und gleich «„, so ergäbe sich die totale Sekundär-
quantenzahl S einfach zu
dE
~ «0 ~ «0
Da aber a, wie früher gezeigt, infolge des Ge-
schwindigkeitsverlusts zunimmt, bleibt S tatsäch-
lich hinter dem so berechenbaren Wert zurück.
Der Unterschied ist allerdings im allgemeinen
nicht sehr erheblich, da die Intensitätsabnahme
des Primärstrahls auf seinem Wege infolge Ab-
sorption die (jeschwindigkeitsverringerung der
noch nicht absorbierten Primärquanten so stark
überwiegt, daß praktisch immer nur relativ geringe
Energieverluste für die Sekundärstrahlerregung
verfügbar sind, während der weit überwiegende
Teil der Primärenergie der Absorption und damit
der Transformation in die anderen oben genannten
Energieformen unterliegt. Es möge dies durch
die folgende Tabelle veranschaulicht werden. Die-
selbe enthält zunächst den Gang des Absorptions-
koeffizienten der Luft, auf i mm Strahlweg be-
zogen, mit der Primärstrahlgeschwindigkeit /^^ ;
die dritte Kolonne verzeichnet die jeweiligen
Geschwindigkeitsverluste, die überhaupt nur für
die Sekundärstrahlerregung praktisch in Betracht
kommen: die vierte Kolonne gibt die nach S = -
berechneten, die 5. Kolonne schließlich die tat-
sächlich zu erwartenden Werte der pro Primär-
elektron in Luft erregbaren totalen Sekundär-
quantenzahl.
Tabelle 5.
Absolutwerte der totalen Sekundärstrahlung.
^
«0 für Luft
mm—'.
./■Bereich
i
Totale
Sekundär-
quantenzahl
0
2
4,632
0,2 — 0,19
,s
'5
0
3
0,498
0,3-0,275
92
90
0
4
0,114
0,4 — 0,35
300
270
0
5
0,03
0,5 — 0,42
900
700
0
6
0,01
2200
0
66
0,66-0,50
2900
0
7
0,004
5000
0
8
0,00 iS
II 100
0
9
0,000 64
0,9—0,6
26 IOC
17300
Man erkennt, daß die Anzahl der Sekundärelek-
tronen, die ein primäres Elektron vor seiner Ab-
sorption aus der durchstrahlten Materie auslösen
kann, mit zunehmender Primärgeschwindigkeit sehr
stark wächst. Ein direkter Vergleich der Werte
mit der unmittelbaren Beobachtung ist zurzeit
noch nicht möglich. Es wird in Übereinstimmung
mit den früheren Bemerkungen bezüglich der
differentialen Sekundärstrahlung anzunehmen sein,
daß die vorstehend aus der Energiebetrachtung
hergeleiteten Werte auch der totalen Sekundär-
quantenzahl bei den großen Geschwindigkeiten
etwa 2 bis 3 mal zu groß sein dürften, wie dies
aus Fig. 6 ersichtlich wird.
Es möge noch bemerkt werden, daß die totale
Sekundärstrahlung offenbar von der Natur der
Substanz in erster Annäherung unabhängig ist,
da sowohl Geschwindigkeitsverlust als Absorption
in Annäherung dem Gesetz der Massenpropor-
tionalität folgen.
(Eingegangen am 29. Juni 191 7.)
Einzelberichte.
Blausäure im Kampf gegen die Mehlmotte.
In der Mehlmotte {Ephfsfia Kuc/iiiiclla Zell.),
einem Kleinschmetterling aus der Familie
der Zünsler {Pyralidoi) haben wir den ärgsten
Schädling der Mühlenindustrie zu er-
blicken. Abgesehen davon, daß die Larven der
Motte viel des in den Mühlen lagernden Mehles
wegfressen, vernichten sie auch dadurch noch große
Mengen, daß sie in alle Mehlvorräte eindringen,
sie mit ihren Gespinsten durchsetzen und mit ihrem
Kot verunreinigen. Dadurch gehen alljährlich ganz
beträchtliche Mengen an gemahlenem Brotgetreide
der menschlichen Ernährung verloren. Weiteren
Schaden richten die Larven noch dadurch an, daß
sie außer die Mehlvorräte auch alle technischen
der Mehlbeförderung dienenden Einrichtungen der
Mühlen besiedeln und so mit ihren Gespinsten alle
Mehltransportgänge verstopfen. Dank ihrer Tätigkeit
muß denn auch der Betrieb in derMühle mehrmals im
Jahre für ein paar Tage vollständig ruhen, um eine
gründliche Reinigung des ganzen Mühlengebäudes
vornehmen zu können. Aber die mechanische
Reinigung, die zumeist mit einer Ausräuche-
rung durch Schwefeldämpfe verbunden
wird, kann aus verschiedenen Gründen niemals
eine vollkommene Ausrottung der Schädlinge er-
wirken, schon allein deshalb nicht, weil es unmög-
lich ist, mit der Schwefelräucherung auch die Mehl-
vorräte zu behandeln: durch die Einwirkung der
schwefligen Säure tritt eine Zersetzung des Mehles
ein. Die deutsche Mühlenindustrie ist daher der
Mehlmottenplage bis heute rettungslos ausgeliefert
gewesen. Ein Mittel freilich hätte es gegeben,
womit der Schädling restlos hätte beseitigt werden
520
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 37
können, aber dieses Mittel, die Ausräucherung
mit Blausäuredämpfen, die in Amerika seit
langen Jahren allgemein in Anwendung steht,
wurde in Deutschland bisher aus verschiedenen
Bedenken, die mehr oder minder zu Unrecht er-
hoben wurden und im Grunde lediglich einer über-
großen Ängstlichkeit entsprangen, verschmäht. Erst
die harte Kriegszeit hat hierin Wandel geschaffen
und der Blausäure als wirksamem Insektizid auch
in Deutschland zur Geltung verholfen. Nachdem
sich die Blausäure zuerst im Kampf gegen die
Kleiderlaus ausgezeichnet bewährt hatte, ging die
Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt, die durch
ihre Beteiligung an den amerikanischen Räuche-
rungen eine große Erfahrung in der Anwendungs-
möglichkeit der Methode besitzt, daran, sie auch
in den Dienst der Mühlenindustrie zu stellen. Prof.
Dr. Richard Heymons, derdie Vorversu che
inderKgl. Versuchsanstalt für Getreide-
verarbeitung in Berlin vornahm,') erprobte
vor allem die Einwirkung der Blausäure-
dämpfe auf die gesamten Entwicklungs-
stadien der Motten (Eier, Larven, Puppen,
Imagines) und dann auch auf das Mehl und die
Gegenstände aus Metall oder Leder, wie
sie in den Mühlenbetrieben in Gebrauch stehen.
Das Ergebnis war überall ein sehr gün-
stiges: die Eier wie die Larven und die Puppen
und die Falter wurden vom Blaugas von i Volumen-
Prozent innerhalb wenigen Stunden prompt ab-
getötet; die chemische Untersuchung der ausge-
räucherten Mehlproben, die im Tierphysiolo-
gischen Institut der Kgl. Landwirt-
schaftlichen Hochschule in Berlin vor-
genommen wurde, ergab, daß das Mehl in keiner
Weise eine Veränderung erfahren hatte; die damit
angestellten Backversuche lieferten ein Gebäck,
das dem gewöhnlichen aus ungeräuchertem Mehl
Gefertigten in keiner Weise nachstand. Endlich
litten auch weder die Leder noch die Metall-
gegenstände irgendwie durch das Blaugas.
Nachdem diese Versuche so befriedigend ver-
laufen waren, ging die Deutsche Gold- und Silber-
Scheideanstalt daran, den ersten großen Versuch,
die Ausräucherung eines ganzen Mühlen-
gebäudes, zu wagen. Die Auswahl eines
geeigneten Mühlenobjektes für diesen ersten
Versuch mußte natürlich mit allem Vorbedacht
getroffen werden. Von meinem Chef Herrn
Professor K. Escherich damit beauftragt, eine
geeignete Mühle zu erkunden, riet ich, nachdem
ich zu diesem Zwecke einige Mühlen besichtigt
hatte, der Fabrik, bei der Schulz'schen Kunst-
mühle in Heidingsfeld (Unterfranken) den
Versuch zu machen. Mein Vorschlag wurde als-
bald von der Scheideanstalt angenommen, da die
Mühle so ziemlich in allen Punkten den Bedingungen
entsprach, welche wir uns gesetzt hatten. Vor allem
muß jede Mühle, die mit Blausäure geräuchert
werden soll, ein solides Gebäude sein, das gut
abzudichten ist. Das Blaugas ist so flüchtig, daß
es selbst durch die geringfügigsten Ritzen zu ent-
weichen vermag. Daher würde bei einem undichten
Gebäude ein übermäßiger Gasverlust eintreten.
Weiterhin soll die Mühle aus demselben Grunde
auch mit keinerlei bewohnten Räumen in irgend-
einer baulichen Verbindung stehen. Es steht sonst
zu befürchten, daß die auch für den Menschen
höchst giftigen Blaugase in diese Wohnräume ein-
dringen und die dort weilenden Personen ge-
fährden. Endlich soll die Mühle in ihrem Innern
möglichst geräumige Verbindungswege zwischen
den einzelnen Stockwerken (Treppenhaus, .Schächte
usw.) besitzen : je rascher und ungehinderter sich
die Gase über den ganzen Bau verbreiten können,
desto gesicherter ist ihre Wirkung. Diese 3 Be-
dingungen waren bei der Heidingsfelder Mühle im
großen und ganzen gegeben. Ihre Ausräucherung,
die erste in Deutschland, deren wissenschaftliche
Nachprüfung mich die Scheideanstalt zu über-
nehmen ersuchte,') fand Ende April dermaßen statt,
daß in den späten Nachmittagsstunden die Gas-
entwicklung erfolgte, die Mühle über Nacht unter
Gas gesetzt blieb und nach einer etwa 12 stündigen
Gaseinwirkung am anderen Morgen die Öffnung
erfolgte. Die Räucherung war ein ausge-
sprochener Erfolg: nicht nur daß die Larven
und Motten, die ich tags zuvor in der Mühle ge-
sammelt und in einem oberen Stockwerk der Mühle
der Gaseinwirkung ausgesetzt hatte, alle tot waren,
auch aus allen Mehltransportgängen, aus denen ich
Gespinstklumpen der Motten entnahm, fanden sich
nur tote Larven und Falter. Unter den sog.
„Sackstutzen", den runden Enden der Mehlrohre,
an welche die Säcke zum Zwecke der Einfüllung
des Mehles angeschlossen werden, fielen uns
Motten und Larven in Mengen tot entgegen.
Dieses glänzende Ergebnis der ersten deutschen
Mühlenräucherung mit Blausäure berechtigt uns
zu der Hoffnung, daß ihre Anwendung, die natür-
lich nur durch ein gut geschultes Personal ge-
schehen darf, nun auch bei uns durch nichts mehr
gehemmt wird, so daß ihre Segnungen in der
Jetztzeit, wo wir ihrer so dringend bedürfen, der
deutschen Volksernährung möglichst ausgiebig
zugute kommen können. (G.C)
H. W. Frickhinger.
') „Der Müller", Zeitschr. f. d. ges. Mühlenindustrie. ') „Zeitschr. für angewandte Entomologie".
39. Jahrg. 1917, Nr. 21. 1917, Heft I.
l: A. Becker, Über den Kathodenstrahldurchgang durch Materie. (3 Abb. u. 3 Kurven.) S. 513. — Einzelberichte:
Richard Heymons, Blausäure im Kampf gegen die Meblmotte. S. 519.
; und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstrafle 42
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 23. September 1917.
Nummer 38.
Kristallstruktur und Röntgenstrahlen.
[Nachdruck verboten.
Von Dr. K. Schutt, Hamburg.
Mit 13 Abbildungen im Text.
Nachdem Röntgen im Jahre 1895 die nach
ihm benannten Strahlen entdeckt und zugleich
alle wesentlichen Eigenschaften derselben gefunden
hatte, war es von großem Interesse festzustellen,
welches die Natur der Strahlen wäre. Die Tat-
sache, daß sich unter geeigneten Umständen eine
Polarisation und Spuren einer Beugung nach-
weisen ließen, machten es wahrscheinlich, daß die
Strahlen dem Licht wesensverwandt, also elektro-
magnetische Wellen wären ; doch wurde ein sicherer
Nachweis hierfür erst erbracht durch die 191 2 auf
Anregung Laue 's angestellten Beugurigsversuche
an Kristallen. Der Erfolg, den der Gedanke
Laue 's, das regelmäßige feine Gefüge eines
Kristalls als Gitter zu benutzen, nach den ver-
schiedensten Seiten gehabt hat, ist ganz außer-
ordentlich. Wir sind jetzt nicht nur über den
transversalen Wellencharakter der Röntgenstrahlen
genau orientiert; wir sind auch imstande, ihre
Wellenlänge (etwa 8 Oktaven mögen bekannt sein)
zu messen, ja die Röntgenstrahl- (Hochfrequenz- j
Spektren einer ganzen Reihe von Elementen, die
wir als Antikathode in einer Röntgenröhre an-
bringen, genau festzulegen ; mit anderen Worten,
es hat sich für die Röntgenstrahlen eine Spektro-
graphie und Spektrometrie, wie sie seit langer Zeit
schon für das sichtbare Licht besteht, entwickelt.
Ferner hat uns Laue in den Röntgenstrahlen ein hin-
reichend feines Mittel kennen gelehrt, um den Bau
der Kristalle zu erforschen, den Abstand der
Atome in ihnen genau auszumessen und ihre
gegenseitige Lage zu ermitteln. Im folgenden soll
auf die Erforschung des Feinbaues der Kristalle *)
und, soweit es erforderlich ist, auf die Spektro-
metrie der Strahlen näher eingegangen werden.
I. Läßt man auf ein Beugungsgitter Licht
fallen, dann sieht man auf einem dahinter stehen-
den Schirm zunächst das gerade hindurchgehende
Licht und zu beiden Seiten die Beugungsspektren
I., 2., 3. usw. Ordnung. Zur Erklärung der Er-
scheinung nimmt man mit Huyghens an, daß
von jedem Punkt der Gitteröffnungen Elementar-
wellen ausgehen und miteinander interferieren.
In ganz bestimmten Richtungen, in denen nämlich
der Gangunterschied eine Wellenlänge l oder ein
ganzes Vielfaches davon beträgt, verstärken sich
die Strahlen, während sie in allen übrigen sich
gegenseitig vernichten. Die Gitterkonstante a
(Abstand zweier benachbarter Gitteröffnungen)
muß in einem bestimmten Verhältnis mit /. stehen;
ist a groß gegen l, dann liegen die Beugungs-
*) S. auch N;aurw. Wochenschr. XlII (I9I4) S. 70.
Spektren so dicht neben dem gerade hindurch-
gehenden Licht, daß man überhaupt nichts von
der Beugung bemerkt; ist a gleich /., dann wird
schon das erste Beugungsspektrum um 90" ab-
gelenkt und man nimmt wieder nur das direkt
hindurchgehende Licht wahr. Nimmt man statt
eines Strichgitters ein Kreuzgitter z.B. feinen
Seidenstoff oder Müllergaze, dann treten die Beu-
gungsspektren nicht nur rechts und links, sondern
auch oben und unten und in den beiden diagonalen
Richtungen auf. Stellt man eine Reihe von Kreuz-
gittern in gleichen Zwischenräumen „ausgerichtet"
hintereinander und zieht noch ein drittes System von
Fäden senkrecht in den beiden ersten, dann er-
hält man ein Raumgitter. Auch hier tritt in
ganz bestimmten Richtungen eine Verstärkung
des Lichtes durch Interferenz ein. Da indessen
eine weitere einschränkende Bedingung durch die
räumliche Anordnung des Gitters hinzukommt,
so gibt es nicht mehr für jede Wellenlänge, son-
dern nur für einige ausgewählten solche Richtungen,
in denen Verstärkungen stattfinden. Das Raum-
gitter wählt sich aus der Gesamtheit
der auffallenden Wellenlängen einzelne
seinen Abmessungen entsprechende aus
und wirft sie in b estimmten Richtungen
in den Raum hinaus.
Schon Bravais hat 1850 die Vermutung aus-
gesprochen, daß die Atome eines Kristalls in einem
Raumgitter angeordnet wären; sie bilden die Gitter-
eckpunkte des eben geschilderten Gitters. Abb. lA
zeigt außerordentlich vergrößtert den Aufbau eines
Steinsalzkristalls, wie er unter Benutzung der
Röntgenstrahlen erforscht ist (siehe unter 4) und
als sichergestellt angesehen werden kann. Die
schwarzen und weißen Kreise geben die Lage der
Na- und Cl-Atome in den Ecken der kleinen
Elementarwürfel an, deren Kante von der Größen-
ordnung 3 • io~* cm ist. Fällt ein Bündel Röntgen-
strahlen (Wellenlänge io~'* bis lo~9 cm) senkrecht
zur Vorderfläche auf, so werden die von den
Strahlen getroffenen Atome des Raumgitters zu
Schwingungszentren und die von ihnen ausgehenden
Wellen interferieren miteinander und liefern auf
einer senkreckt zum Primärstrahl aufgestellten
photographischen Platte das Röntgenogramm
(s. Abb. 10 u. 11). Die von Laue') stammende
mathematische Behandlung dieser Beugungsvor-
gänge ist nicht ganz einfach. Anschaulicher und
leichter verständlich ist die Bragg'sche Auf-
') Jahrb. d. Radioaktivität u. Klektronilt XI, 30S (1914):
. Laue, Die Interferenzerscheinungen an Röntgenstrahlen.
522
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
fassung.-) Diese soll daher in den folgenden Aus-
führungen zugrunde gelegt werden. Doch sei
ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Laue der
erste war, der das Problem erfolgreich behandelte,
und daß seine Auffassung diejenige ist, die am
tiefsten in das Wesen des Vorganges eindringt.
2. Nach den Braggs (Vater und Sohn) kommt
man zu ganz denselben Ergebnissen wie Laue,
wenn man annimmt, daß die Strahlen an ganz
bestimmten, im Innern des Kristalls
liegenden Ebenen, den Netzebenen,
reflektiert werden. Eine solche Netzebene ist
z. B. in unserer Abbildung i AEFB, hfbd, oder
EHDA und die dieser parallelen Ebenen, od. ABCD
und die dazu gehörigen. Die Lage der kristallo-
9 enthalten; ihre Netzdichte ist also geringer.
Dasselbe gilt für eine Ebene Eda vom Symbol (112)
im Vergleich mit (m). Es ist klar, daß eine
Unzahl von Netzebenen in dem Kristall vorhanden
sind, die die verschiedenste Netzdichte aufweisen.
Die dichtesten unter ihnen sind (lOO), (lio) und
(iii), also diejenigen, die auch als äußere Be-
grenzungsflächen bevorzugt sind.
Zum Verständnis der Vorgänge, die bei der
Reflexion der Strahlen an den Netzebenen statt-
finden, diene Abb. 2. Die horizontalen Geraden
stellen eine Schar von Netzebenen mit dem Ab-
stände d dar. Ein paralleles Bündel Röntgen-
strahlen von der Wellenlänge A falle unter dem
Glanzwinkel a auf. Jede Ebene reflektiert einen
".^—S,
4-V
TN
— r
:^ — M=
(100)
B
Oj
II
II
dm) = a
NaCl NjCI NäQ NiCl
Abb. lA u. B.
graphischen Achsen in unserem Kristall stimmt
mit AB, AD und AE überein; eine der genannten
Ebenen hat also das Symbol (100); d. h. sie
schneidet die eine Achse in der Entfernung i,
die beiden anderen überhaupt nicht, da sie ihnen
parallel ist. Eine weitere Reihe von Netzebenen
sind die, welche einer Kante unseres Würfels
parallel sind z. B. EDCF, nhfm und andere
mehr; ihr Symbol ist (iio), in sofern als sie zwei
Achsen in gleichem Abstand von A schneiden
und der dritten parallel sind. Als dritte Reihe
sind solche mit dem Symbol (in) also Oktaeder-
flächen zu nennen ; zu ihnen gehört z. B. EDB,
Ida u. a. m. Die drei angeführten Netzebenen
sind insofern wichtig, als sie sich als äußere
Begrenzungsflächen der Kristalle des regulären
Systems häufig finden. Betrachten wir die Netz-
ebene EdbF" (1,2,0), so sieht man ohne weiteres,
daß sie weniger dicht mit Atomen belegt ist , sie
enthält nur 4, während die Ebene (lOO) und (iio)
^) W. H. u. VV. L. Bragg, X-rays a. crystal slructure.
2. Aufl. London 1916; ferner Jahrb. d. Radioaktivität und
Elektronik XI, 346 (1914). W. L. Bragg, Die Reflexion
der Röntgcnstralilen.
Teil nach dem Spiegelgesetz : Einfallswinkel gleich
Reflexionswinkel. Wir betrachten die Strahlen,
die in Richtung S.j zurückgeworfen werden; sie
haben einen Gangunterschied, da die Weg-
längen von a bis Sj verschieden sind. Er ist für
die Strahlen i und 2, da nw senkrecht auf vr
steht und vn = vr ist, gleich wr = 2d sin «; der-
selbe Gangunterschied besteht zwischen 2 und 3,
3 und 4 usw. Ist nun wr gleich der Wellenlänge
und einem ganzen Vielfachen derselben, dann sind
alle von der Netzebenenschar reflektierten Wellen
in gleicher Phase, ihre Amplituden addieren sich.
Unterscheidet sich wr ein wenig von der Wellen-
länge X, etwa um ein Tausendstel, dann haben
die vielen tausend in Richtung S.^ reflektierten
Strahlen alle möglichen Phasen, und die resultierende
Amplitude ist praktisch O. Wenn also monochroma-
tisches Röntgenlicht unter verschiedenem Winkel auf
einen Kristall fällt, dann findet nur für ganz be-
stimmte Glanzwinkel eine Reflexion statt ; nämlich
wenn ist 1= 2d sin «j
2I = 2d sin ß.2
3A = 2d sin «3
nl = 2d sin a, wo n eine ganze Zahl
ist. Sie werden die Reflexionen ister, 2ter, 3ter
Ordnung genannt. Fällt weißes Licht, also solches,
das eine große Anzahl von Wellenlängen enthält,
unter einem bestimmten Winkel « auf, dann
werden in Richtung S.^ nur Strahlen von der
Wellenlänge l reflektiert, alle übrigen Wellen-
längen werden ausgelöscht. Der Kristall „erzeugt"
also unter diesen Umständen Röntgenlicht ganz
bestimmter Wellenlänge (Farbe). Zu betonen ist,
daß die Reflexion keine solche an der natürlichen
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
523
Oberfläche, sondern eine Volumreflexion^jan
den inneren Netzebenen des Kristalls ist. Eine
einem Kristall künstlich angeschliffene Fläche, die
nicht Netzebene ist, spiegelt ebensowenig wie die
eben geschliffenen Begrenzungen amorpher Körper.
Auch hat es auf die Reflexion keinen Einfluß,
wenn die natürliche Grenzfläche des Kristalls glatt
oder aufgerauht ist. Lediglich das innere Gefüge
der Netzebenen ist für die Reflexion maßgebend.
Die Röntgeiispektrometrie der Braggs.
3. Wie die Laue 'sehen Röntgenogramme mit
Hilfe der Reflexionstheorie zu deuten sind, darüber
weiter unten (8).> Zunächst soll ein Verfahren
geschildert werden, das zur Erforschung des Fein-
baues der Kristalle von den beiden Braggs'-)
angewendet wurde; es kann als Röntgenspek-
trometrie bezeichnet werden. Der Bragg'sche
Apparat ähnelt einem Spektrometer. Aus den von
der Antikathode ausgehenden Strahlen wird durch
mehrere Bleiblenden ein schmales Büschel ausge-
sondert, dieses fällt unter kleinem Glanzwinkel auf
den Kristall, der auf dem Tischchen des Spektro-
meters steht, so daß seine jeweilige Lage und
damit der Glanzwinkel gemessen werden kann.
An die Stelle des Fernrohrs ist zur Messung der
Intensität der gespiegelten Strahlen eine lonisie-
rungskammer angebracht, ein Messingzylinder von
15 cm Länge zu 5 cm Durchmesser. Die Strahlen
dringen durch ein dünnes Aluminiumfenster in
Richtung der Achse in die mit Schwefeldioxyd
oder Methylbromid (diese Gase absorbieren besser
als Luft und werden daher stärker ionisiert) ge-
füllte Kammer. Eine außerhalb des Strahlenganges
in der Kammer angebrachte Elektrode ist mit
einem Elektroskop verbunden. Die Messung er-
folgt in der Weise, daß man für einige Sekunden
die Röntgenröhre einschaltet und nun den Aus-
schlag des Elektroskops mißt, während die (von
der Elektrode isolierte) Kammer auf 200 Volt
geladen ist. Der Ausschlag ist ein Maß für die
Stärke des reflektierten Büschels. Nun ändert man
durch Drehen des Tischchens den Glanzwinkel,
stellt die Ionisationskammer richtig ein und mißt
von neuem. Auf diese Weise kann man die
Intensität des reflektierten Strahles für allmählich
wachsende Glanzwinkel messen. Das Ergebnis
der Messung zeigt Abb. 3.*) Die Antikathode
der Röntgenröhre bestand aus Rhodium, die
Reflexion fand an einer Würfelebene (100) des
Steinsalzes statt; die Glanzwinkel sind als Abszissen,
die Intensitäten als Ordinaten eingetragen. Bei
') Ein ähnlicher Vorgang für sichtbares Licht findet .lich in
einer Lip pmann 'sehen farbigen Photographie. Bei der Be-
lichtung entstehen in der photographischen Platte durch
stehende Lichtwellen parallele Silberschichten. Bei der Be-
trachtung im reflektierten Licht findet eine „auswählende
Reflexion" statt, so dal3 die Platte verschiedene Farben zeigt
nach Maßgabe des Winkels, unter dem man sie betrachtet.
') Vgl. auch Naturw. Wochenschr. XIII (1914I S. 439:
Das Spektrum einer Platinanlikathode.
etwa 3" beginnt die Kurve; nach der Gleichung
1= 2d sin « haben die unter diesem Winkel reflek-
tierten Strahlen sehr kurze Wellenlänge. Die
Intensität steigt mit zunehmender Wellenlänge,
erreicht bei rj ein niedriges, bei Rj ein hohes
Maximum, fällt wieder ab und hinter 10 dieselben
beiden Spitzen (niedriger) noch einmal zu zeigen.
Die Kurve sagt uns, daß die auffallenden Strahlen
sich aus Licht der verschiedensten Wellenlängen
zusammensetzen; die Röntgenröhre liefert neben
„weißem" Licht (kontinuierliches Spektrum) zwei
Farben (r^ Rj, Linienspektrum) in besonderer Inten-
ff.
Lintn/'/'/SH'inh e/
Abb. 3.
sität. Das erstere ist die sogenannte „Brems-
strahlung", sie entsteht, wenn die auf die Anti-
kathode aufprallenden Elektronen gebremst werden.
Durch den Stoß der Elektronen entstehen ferner
Schwingungen innerhalb der Atome des Anti-
kathodenmetalls, diese geben Veranlassung zur
Entstehung der Eigenstrahlung, ^) die für das
betreffende Metall charakteristisch ist, wie optisch
das Linienspektrum für ein leuchtendes Gas.
Akustisch entspricht dem ersten ein Knall, dem
zweiten ein (oder mehrere) Töne. Rhodium- und
Palladiumstrahlen zeichnen sich dadurch aus, daß
die weiße Strahlung verhältnismäßig schwach ist.
Antikathoden aus diesem Metall strahlen im wesent-
lichen monochromatisches Licht (R,) aus, und des-
halb werden sie von B r a g g zu Kristall-
untersuchungen verwendet. Die Wellenlänge der
intensiven Linie beträgt für Rhodium 0,607- lO~*cm,
für Palladium 0,576- lO"^* cm.
4. Die Bragg'sche spektrometrische Unter-
suchung verläuft folgendermaßen: Annähernd
monochromatisches Licht fällt auf
kristallographisch wichtige Flächen des
Kristalls, es wird an den Netzebenen
reflektiert. Mittels der Ionisations-
kammer wird der Reflexionswinkel «
in der isten,2ten und 3ten Ordnung und
die Intensität gemessen. Mittels der
Gleichung nA=2d sin « läßt sich aus «
undÄ der Abstand d messen; dadurch
ist die Lage der Netzebenen bestimmt.
Wie dieselben mit Atomen besetzt sind,
ergibt sich aus der Verteilung der
") Daß die Eigenstrahlung für das Metall der Antikathode
charakteristisch ist, wird dadurch gezeigt, daß man das Licht
einer Rhodium-Antikathode durch Reflexion an den Flächen
verschiedener Kristalle untersucht; man findet dann stets die
beiden Maxima. Der Abstand derselben (Winkel «) ist ver-
schieden, da er ja durch den Abstand d der Netzebene des
jeweilig verwendeten Kristalls bestimmt wird.
524
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 38
Intensität auf die verschiedenen Ord-
nungen der reflektierten Farbe. An
einem Beispiel möge das erläutert werden. Abb. 4
zeigt die Ergebnisse der Untersuchung an Stein-
salz. Auf der horizontalen Achse ist der Winkel,
den die Ionisationskammer mit den einfallenden
Strahlen bildet, also 2a abgetragen, senkrecht dazu
die an den Flächen (lOO), (lio) und (iii) reflek-
tierte Rhodiumlinie der isten, 2ten und 3ten Ord-
nung; die weiße Strahlung ist fortgelassen. Die
Abstände der reflektierenden Netzebenen seien
'^loo' '^Jio ^^'^ "^iii- dann gelten die Gleichungen
:2d,
A = 2d.
„•sm
Daraus folgt :
sin 5,850:sin8,50:sin5,i»=-^:--!-:-i-.
Aus Abb. I, die das Raumgitter des Koch-
salzes zeigt, ergibt sich, daß d,„(, = Ad, d,„o als
von Cl- zu Q-Ebene; beide sind gleich djo(,-3-| 3
im d. Der zugehörige Reflexionswinkel ist durch die
Gleichung A = 2d,j,-sin« gegeben. Aber auf der
Mitte zwischen den Ebenen mit Na-Belegung findet
sich immer eine mit Cl-Belegung. Diese reflektieren
Wellen, die für die erste Ordnung in entgegen-
gesetzter Phase mit den von den Na- Ebenen reflek-
tierten sind. Die beiden Wellenzüge schwächen sich
daher und zwar gilt das nicht nur für die erste,
sondern für jede Reflexion ungerader Ordnung.
Die Reflexionen gerader Ordnung werden da-
gegen verstärkt. Nunistdie reflektierende
Kraft eines Atoms proportional seinem
Atomgewicht. Da dieses für Natrium 23 und
für Chlor 35,4 ist, haben die beiden interferierenden
Wellenzüge keine gleiche Amplitude. Die Folge
ist, daß die Reflexionen ungerader Ordnung (i 1 1)
nicht vollständig fehlen, sondern mit stark ge-
schwächter Intensität vorhanden sind, wie
Abb. 4 zeigt. Die Reflexion 2ter Ordnung ist
dagegen verglichen mit der gleichen Ordnung an
(110) und (100) besonders intensiv.
5. Es fragt sich nun, wie man die wahre Größe
der verschiedenen Netzebenen-Abstände d bestim-
.
IWOJ
K
fl
A
imi
K
-^
m
V
V
'
■>' 1
0' 1
i' z
c
S° j
0'
5' i
d" i
5° SO
Höhe im gleichschenkligen rechtwinkligen Drei-
eck Adl gleich d,oo-i]2 und dj,i als Höhe der
Pyramide ALPQ mit der Spitze A gleich dmof-yS
ist. Setzen wir diese Werte auf der rechten Seite
der Gleichung ein, dann ergibt sich
— 1/7
• sin S,85":sin 8,5'':sin5,i*'=i :y2 : ^.
I : 1,44 : 0,88 = 1:1,41:0,87.
Es läßt sich nun zeigen, daß für kein anderes
Raumgitter die obige Bedingung erfüllt, mithin
stellt Abb. 1 A dasjenige des Steinsalzes dar. Fig. B
in Abb. i zeigt wie die Ebenen mit Atomen be-
legt sind. Besonders einfach ist die Belegung der
Ebenen (100) und (i 10), in ihnen liegen abwechselnd
Na- und ClAtome (dargestellt durch schwarze
bzw. weiße Kreise) nebeneinander. Verwickelter
ist die Struktur des Kristalls parallel zur Fläche ( 1 1 1 ) ;
hier enthalten die Ebenen abwechselnd nur Na-
Atome (EDB) und Cl- Atome (hec). Wenn die
Strahlen von (11 i)-Ebenen reflektiert werden, dann
ist der wahre Abstand d derjenige zweier gleich-
wertiger Ebenen, also von Na- zu Na-Ebene oder
men kann. Unsere Gleichung liefert den Wert
Wir kennen also lediglich das Verhältnis .
und müssen eine der beiden Größen bestimmen,
um zu einem absoluten Wert der anderen zu kom-
men. Folgende Überlegung führt zum Ziel. Be-
trachtet man in Abb. i den Würfel EeRhePcL,
also den achten Teil des großen Würfels, so stellt
er den kleinsten Teil des Steinsalzkristalls dar, an
dem das Raumgitter zu erkennen ist. Aus zahl-
losen solcher kleinen Würfel baut sich ein Stein-
salzkristall auf; er wird daher Elementarkörper
genannt. Jedes Atom des Elementarwürfels, der
4 Na- und 4 Cl-Atome also 4 NaCl Moleküle ent-
hält, ist, wenn es im Innern des Kristalls sitzt,
an dem Aufbau von acht Nachbarwürfeln be-
teiligt; mithin enthält der Elementarwürfel im
Mittel ein halbes Molekül NaCl vom Molekular-
gewicht M. Dieses wiegt i-(23-f35,5)-m, wo
m = i,64-io~^t g das Gewicht eines Wasser-
N. F. XVI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
52s
Stoffatoms ist. Andererseits ist der Inhalt des
Elementarwürfels djof," und die Dichte des Stein-
salzes (1 = 2,17, also ein Gewicht dip„^-p. Wir
erhalten mithin die Gleichung
^M.m = e.di„o^
.Aus dieser ergibt sich d, g„ = ]/' ~ — = 2,80 • i O^' cm,
und daraus mit Hilfe der Gleichung A= 0,576- lO'^'cm.
Führt man dieselbe Rechnung an einem anderen
Kristall derselben Bauart (KCl, KBr) durch, dann
findet man für l denselben Wert.
Untersucht man Sylvin (KCl), so sind die
Spektren dem des Steinsalzes ganz ähnlich. Die
Reflexionswinkel der Maxima sind rund um 10%
(JKCl
kleiner. Daraus folgt -; =1,10. Für das Ver-
dNaCI
hältnis der Molekularvolumina ergibt sich
Mol. Vol. KC^_ 74,5. 58,5^
Mol. VoLNaCl^ 1,99 ' 2,17"' ''^^'
Die Kante des Elementarwürfels muß danach für
KCl y 1,39=1,11 mal so groß sein als für NaCl,
was gut mit der obigen aus der Lage der Re-
flexionsnjaxima berechneten Zahl übereinstimmt.
Das erste von der Fläche (m) kommende Spek-
trum, das beim NaCl schwach vorhanden ist, fehlt
beim KCl vollständig. Das erklärt sich daraus,
daß das Reflexionsvermögen der in der Mitte
zwischen den K-Ebenen liegenden Cl-Ebenen
wegen des fast übereinstimmenden Atomgewichts
von K und Cl gleich ist und daß sich daher die
Reflexionen ungerader Ordnung auslöschen.
6. Durch ähnliche Betrachtungen, bei denen
sowohl die Lage als auch die Intensität der
Reflexionsmaxima in
Betracht zu ziehen
ist, hat man für eine
Reihe von Kristallen
den architektonischen
Charakter zu bestim-
menvermocht. Abb. 5
zeigt das Schema des
Zinkblendekristalls.
Die durchKreise ange-
deuteten Zinkatome
bilden einen flächen-
zentrierten Würfel.
Von den acht Ele-
mentarwürfeln sind nur vier abwechselnd in ihrer
Mitte mit einem Schwefelatom besetzt. Man
kann sich dieses Schema aus dem von NaCI
(Abb. i) dadurch entstanden denken, daß man
das Gitter der Na-Atome als Ganzes derart ver-
schiebt, daß dieselben die Raumdiagonale des
großen Würfels vierteln und nun an die Stelle von
Cl und Na Zn- bzw. S-Atome bringt. Das Gitter
von NaCl und ZnS besteht aus zwei auf ver-
schiedene Weise ineinandergestellten
flächenzentrierten Würfeln. Durchlaufen
wir die Raumdiagonale von links oben hinten
nach rechts unten vorn, dann treffen wir eine
^^
^^
.\bb.
verschiedene Anordnung der Zn- und S-Atome
auf ihr an, je nachdem wir in der einen Richtung
oder in der anderen gehen. Das eine Mal folgt
S auf Zn in kurzen, das andere Mal in weiten
Abständen. Die beiden Seiten dieser Achse sind
also physikalisch nicht gleichwertig, die Achse ist
polar. Dieses macht sich am Kristall dadurch
bemerkbar, daß unter dem Einfluß von Druck
oder Erwärmung ungleichnamige Elektrizitäten an
den Enden dieser Achse auftreten. Zinkblende
zeigt also die Erscheinungen der P\to- und
Piezoelektrizität.
Ersetzt man sämtliche Zn- und S-Atome durch
C, dann erhalten wir das Schema als Diamanten.
Interessant und beachtenswert ist es, daß jedes
C-Atom im Mittelpunkt eines Tetraeders sitzt,
das aus den 4 Atomen in den Ecken eines Ele-
mentarwürfels gebildet wird. Unser Raumgitter
führt uns also auf dieselben Anschauungen, die
sich die Chemie von der Verteilung der chemischen
Kräfte (Valenzen) auf der Oberfläche eines Kohlen-
stoftatoms macht. Die Erscheinung der Piezo-
und P_\roelektrizität muß beim Diamanten fehlen,
was die Erfahrung bestätigt. Sind die Mitten aller
8 Elementarwürfel in Abb. 5 mit Fluoratomen
besetzt und bedeuten die Kreise Ca-Atome, dann
haben wir einen Fluorkalzium-Kristall vor uns;
fehlen dagegen die Atome im Innern der Ele
mentarwürfeln, einen Kupferkristall. Auch die
Bauart der Kalkspats CaCO^j läßt sich aus Abb. I
ableiten, wie Abb. 6 zeigt. Hier bedeuten die
Kreise Ca-, die Punkte C-Atome. Die Gruppierung
O
.\bb. 6a. .Abb. 6b.
der O3, die in Fig. a fortgelassen sind, um ein C-
Atom zeigt Abb. 6 b. Wenn es auch noch nicht
gelungen ist, den Feinbau sämtlicher Kristalle zu
ermitteln, so steht es doch für eine Reihe ganz
fest (Bragg führt in seinem oben erwähnten Buche
18 an); von einer weiteren Gruppe (9) kennt man
ziemlich gut die Gruppierung der Atome. Doch
ist auf jeden Fall die Möglichkeit vorhanden, die
innere Architektur zu erforschen, wenn auch die
Überlegungen, die zum Ziel führen, für viele Kri-
stalle recht komplizierter Natur sind.
7. Einige Fragen, die vielleicht Bedenken er-
regen könnten, mögen noch erledigt werden.
526
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 38
Wenn man durch einen Kristall irgendeine
beliebige Ebene legt, dann wird sie sicher eine
Anzahl von Atomen enthalten. Finden an ihr
Reflexionen statt oder nicht? Das Reflexions-
vermögen einer Netzebene hängt von ihrer Netz-
dichte ab und zwar ist es, wie Laue^) gezeigt
hat, proportional dem Quadrat ihrer Belegungs-
dichte. Nun wird die Dichte auf einer beliebig
orientierten Ebene im allgemeinen gering sein,
so daß eine merkliche Reflexion an ihr nicht
stattfinden wird. Denkt man sich z. B. in Abb. i
die Ebenen (iio), (120), (140) usw. hineingelegt,
so sieht man, daß ihre Belegungsdichte (d. i. An-
zahl der Atome auf der Flächeneinheit) schnell
abnimmt.
Eine weitere wichtige Frage ist die nach der
Raumeinheit der Stoffe.*) Bei den Gasen
sind als solche die Molekeln anzusehen, die durch
große Zwischenräume voneinander getrennt „no-
madisierend" sich bewegen. Bei den Flüssigkeiten
schlingen sie sich von einer Molekel zu den benach-
barten Kraftlinien, ohne daß dadurch die freie
Beweglichkeit stark beeinträchtigt wird. Bei der
kristallinen Materie hat es, wie unsere Raumgitter-
bilder zeigen, keinen Sinn von Molekeln zu sprechen,
da es ja vollkommen willkürlich wäre, z. B. im
Raumgitter des Steinsalzes zwei benachbarte Atome
zu einem Molekül zusammenzufassen. Man hat
gesagt, der ganze Kristall wäre ein einziges rie-
siges Molekül. Doch trift't man damit nicht in
allen Fällen den wirklichen Sachverhalt. Wie z. B.
das Gebäude des Kalkspats (Abb. 6) zeigt, heben
sich gelegentlich elementare Baugruppen (CO^)
charakteristisch heraus. Rinne kommt zu folgen-
dem geometrischen Bild: „Ein Kristall kann aus
gleichförmig periodisch geordneten Atomgruppen
bestehen; in anderen Fällen heben sich aus ihnen
periodisch Knäuel heraus; schließlich kann es zu
einer Aufteilung der ganzen Kristallmasse in solche
chemisch molekelartige kristallographische Atom-
komplexe kommen" (z. B. bei Al,,Og).
Stellt man sich den oben geschilderten Fluß-
spatwürfel (seine Kantenlänge ist 5,44- io~8 cm)
vor, so findet man leicht, daß er 14 Ca- und nur
8 F-Atome enthält, während die chemische
Formel CaFj auf 14 Ca 28 F, also das Ver-
hältnis 1 : 2 fordert. In einem Würfel von der
Kante 5,44- iO-7cm ist dieses Verhältnis 36,51 : 63,49;
bei weiterer Vergrößerung des Kristalls nähert
es sich mehr und mehr dem idealen Verhältnis
1:2. Diese Abhängigkeit der Zusammensetzung
von Größe erklärt sich nach Rinne durch die
Annahme, daß die Grenzfläche des Kristalls
in atomistischen Dimensionen den Raum-
gitterforderungen nicht genügt. Von
außen nach innen fortschreitend gelangt man in
kontinuierlichem Übergang von ungeordneten zu
mehr und mehr geordneten Schichten. Diese
') Neues Jahrb. f. Mineralogie II, S. 47 {1916): F. Rinne,
Beiträge zur Kenntnis des Feinbaues der Kristalle.
") Naturwissenschaften V, S. 49 (1917): F. Rinne, Zur
Leptonenkunde als Feinbaulehre des Stoffes.
Eigenart der Oberfläche ist zugleich die Trieb-
feder für das Wachstum der Kristalle.
An ihr ragt ein Teil der Valenzen frei in den
Raum hinein, und durch Ablagerung neuer Sub-
stanz auf der alten erneuert sich die Oberflächen-
schicht in ihrer Besonderheit stets wieder. —
Das Raumgitterprinzip wird erst dann wirksam,
wenn die Molekelabstände die Größenordnungen
der Atomdistanzen erreichen, so daß sich Kraft-
linien von Molekel zu Molekel herüberschlingen
können, dadurch verliert die Molekel als solche
mehr oder weniger ihre Bedeutung als Raumein-
heit. Das findet statt im festen kristallinen Zu-
stande der Materie; doch ist in den flüssigen
Kristallen ein stetiger Übergang vom flüssigen
zum kristallinen Zustand gegeben.
Die Laue'sche Röiitgeuogrammetrie.
8. Läßt man ein durch Blenden ausgesondertes
Büschel S,Sj weißen Röntgenlichts (Abb. 7) senk-
recht auf den Kristall K fallen, dann bildet sich
auf der photographischen Platte PP das Laue-
Diagramm ab (siehe Abb. 9). Eine geeignete
Apparatur für solche Aufnahmen ist von Rinne')
angegeben. Als Strahlenquelle wird eine Lilien-
feld-Röhre benutzt, die den Vorzug hat, daß
Härte und Intensität der Strahlung durch wenige
Handgriffe unabhängig voneinander reguliert
werden können. Ihre Antikathode steht oben, die
Lichtkegelachse ist vertikal nach unten gerichtet.
Durch Bleiblenden wird ein schräg nach unten
verlaufendes Strahlenbündel isoliert, dieses durch-
setzt den Kristall und trifft dann die photogra-
phische Platte. Da auf derselben ein Gehler-
Verstärkungsschirm liegt, genügt eine Belichtung
von 25 — 30 Minuten. Um die Röhre herum sind
im ganzen drei Aufnahmestellen angebracht. Ein
amorpher Körper liefert auf der Platte um den
Einstich des primären Strahles herum diffuse
Lichtverteilung, ein Kristall zeigt außerdem die
Einstiche bestimmter Sekundärstrahlen.
Zur Erklärung der Entstehung der Diagramme
verwendet man zweckmäßig nicht die oben (unter i )
angedeutete Laue'sche Aufi'assung (Beugung),
') Berichte der sächsisch. Ges. d. Wissenschaften LXVII,
S. 303(1915). F. Rinne: Beiträge zur Kenntnis der Kristall-
Röntgcnogramme,
N. F. XVI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
527
sondern einfacher die Bragg'sche der Reflexion.
In Abb. 8 stellt S^Sj den Primärstrahl dar, der
den Kristall K durchsetzt. Kz stellt eine zur
Zeichenebene senkrechte Netzebene dar, sie reflek-
tiert den Primärstrahl unter dem Winkel u in Rich-
tung S.,, so daß er die Platte PP in Sj trifft. Gibt
man nun der betrachteten Netzebene dadurch
andere Lagen, daß man sie um Zz als Zonen-
achse dreht, dann beschreibt der reflektierte
Strahl den Mantel eines Kegels vom halben
Öffnungswinkel a. PP schneidet ihn in der durch
SjS., gehenden Ellipse (Zonenlinie). Läßt man «
größer werden, betrachtet man also eine Netzebene,
die gegen den einfallenden Strahl stärker geneigt
ist, dann liegt s., weiter nach rechts und auf PP
entsteht eine größere, aber ebenfalls durch s,
ist das natürlich so zu verstehen, daß diese
Reflexion nicht an einer Ebene, sondern an einer
Schar paralleler Ebenen erfolgt und daß die
reflektierten Strahlen, wie es unter 2 auseinander-
gesetzt ist, miteinander interferieren. In den
meisten Fällen vernichten sich die verschiedenen
Wellenzüge, sie verstärken sich, wenn n • Z = 2d • sin «
ist. Wenn also dieReflexionsebene bei ihrer Drehung
um die Zonenachse Kz eine bestimmte Lage hat,
dann findet die Reflexion an der zu ihr parallelen
Schar von Netzebenen statt. Die Folge ist, daß
aus der Fülle der Wellenlängen des weißen Röntgen-
Abb. 8.
gehende Ellipse; bei kleinerem u liegt die Ellipse
innerhalb der in der Abbildung gezeichneten. Wird
a = 45", dann steht S., senkrecht zum Primärstrahl
SjSj und verläuft (als Seitenlinie des Kegels)
parallel zu PP. Die Ellipse öffnet sich mithin
zur Parabel. Ist u größer als 45", dann sind die
Schnittfiguren Hyperbeln und werden für «=90"
zur Geraden. Je weiter von Sj entfernt also eine
Zonenachse auf PP einsticht, um so weiter greift
die entsprechende Zonenlinie aus, doch gehen sie
alle durch Sj. Die Zonenlinie ist der geometrische
Ort der Einstiche aller Strahlen, die bei der
Drehung der Netzebenen um die Zonenachse
reflektiert werden. Dabei ist zu beachten, daß
bei der Drehung der Ebene um Kz die Netzdichte
nicht immer so groß ist, daß eine Reflexion von
merklicher Stärke stattfindet; vielmehr wird das
nur für besondere Lagen der Fall sein. Es wird
demnach auf der Zonenlinie nicht Einstich un-
mittelbar neben Einstich liegen, sondern es werden
sich den dichtbelegten Ebenen entsprechende,
diskrete, ihrer Intensität nach verschiedene Ein-
stichpunkte auf ihr finden, wie das Diagramm des
Anhydrits in Abb. 9 zeigt. (Die verschiedene
Intensität der Einstiche ist hier allerdings nicht
gekennzeichnet.) Sämtliche Zonenlinien, die als
Ellipsen, Parabel, Hyperbeln und gerade Linien
deutlich in dem Röntgenogramm zu erkennen
sind, gehen durch den Einstichpunkt des Primär-
strahles in der Mitte. Wenn oben gesagt ist, daß
eine Reflexion an den Netzebenen stattfindet, dann
Abb. 9.
lichtes eine einzige, nämlich die, deren X der Glei-
chung A = 2d-sina (d^ Abstand der Netzebenen)
genügt, reflektiert („erzeugt") wird, während alle
anderen sich durch Interferenz auslöschen. Denkt
man die Reflexionsebene weiter um Kz gedreht,
dann ändert sich der Abstand d, mithin wird in
der neuen Lage eine andere Wellenlänge aus dem
weißen Licht ausgesondert, reflektiert und erzeugt
den benachbarten Einstich, dessen Intensität von
der Belegungsdichte der ihn erzeugenden Struktur-
fläche abhängt. Jeder Einstich entsteht demnach als
Wirkung von Wellen von verschiedenerWellenlänge;
d und /. ändert sich von Fleck zu Fleck. Daraus
wird man entnehmen, daß es schwieriger sein wird,
aus dem Laue- Diagramm den Feinbau des
Kristalls zu ergründen, als aus dem Spektrum
Bragg's, der mit monochromatischem Licht jede
Ebene für sich untersucht. Einige Gesetzmäßig-
keiten lassen sich indessen ohne weiteres aus dem
Diagramme ablesen. So drückt sich der kristallo-
graphische Rhythmus in einfacher Weise in den
Symmetrieverhältnissen des Röntgenogramms aus.
Abb. 10 zeigt das Beugungsbild eines Zink-
blendekristalls'^ (reguläres System). Es ist eines
der ersten, die auf Veranlassung Laue's
von Friedrich und Knipping hergestellt
wurden (Expositionszeit 12 Stunden). In Abb. 10
528
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 38
tritt der Primärstrahl seiikreckt zur einen VVürfel-
fläche (100), also in Richtung einer vierzähligen Achse
ein. Man findet in dem Diagramm ohne weiteres die
Symmetrieverhältnisse wieder. Eine sehr große
Anzahl von Flächen sind an der Entstehung eines
Diagramms beteiligt, im Diagramm des Anhydrits
(Abb. 9) sind es nicht weniger als 424. Aber
ihre Zahl ist immerhin beschränkt, nicht jede durch
den Kristall gelegte wirkt reflektierend, da nur bei
einer beschränkten Anzahl die Netzdichte hin-
reichend groß ist. Außerdem liegen punktarme
Ebenen dicht zusammen; nach unserer Grund-
gleichung darf aber d unter ein gewisses Maß
nicht heruntergehen.
9. Wie man aus der Lage der Einstiche die
Indices der reflektierenden Strukturebenen und
damit den Aufbau des Kristalls ermittelt, soll nur
angedeutet werden. In Abb. 1 1 stellt K den
dar. Es zeigt sich nun, daß bei Anwendung dieser
Projektion die Projektionspunkte eines Zonenver-
bandes auf einer Geraden liegen, so daß jeder
Zoneiikurve der Reflexprojektion eine Gerade der
Normalprojektion entspricht. Die den Kurven zu-
geordneten Geraden lassen sich konstruieren, ebenso
die konjugierten Projektionspunkte. Nun kann
man nach Annahme einer (11 1) Fläche die Indices
aller durch den Laue- Effekt symbolisierten
Flächen direkt ablesen. — Auf diese Weise ge-
lingt es, die Struktur der einfachsten Kristalle
abzuleiten.
10. Eine Frage von Interesse ist, welchen Ein-
fluß die Temperatur auf die Diagramme
haben. Die Theorie ist von P. Debye^) ent-
wickelt worden. Er kommt unter anderem zu dem
Ergebnis, daß die Wärmebewegung nicht die Lage
und Schärfe, wohl aber die Intensität der Inter-
ferenzpunkte beeinflußt. Dieses Resultat, das durch
den Versuch bestätigt wird, ist ohne weiteres
plausibel, wenn man bedenkt, daß durch die
Schwingungen, die die Atome im heißen Kristall
ausführen, die (momentane) Belegungsdichte der
Strukturebenen vermindert wird.
Die Röntgeiispektrogramiiietrie von Debje
und Scherrer.
II. Die zu untersuchende Substanz wird in
Pulverform zu einem kleinen Stäbchen KP
(Abb. 12) von 10 mm Länge und 2 mm Durch-
messer geformt. Dieses wird in die Mitte einer zylin-
drischen Metallkamera gebracht, in welche senkrecht
zur Achse das monochromatische Röntgen-
strahlenbündel SjSj eindringt. Alle Teilchen und
ihre Netzebenen liegen in dem Pulver wirr durch-
einander. Eine Netzebene wird nur reflektieren,
wenn sie so orientiert ist, daß der Winkel zwischen
ihr und S,Si den Wert « (A = 2d-sinß) hat. Da
es auf die absolute Orientierung im Räume nicht
Kristall, SjS, den Primärstrahl und PP die Pro-
jektionsebene (photographische Platte) dar. Das
Laue-Diagramm stellt eine neue Projektionsart
dar, die Reflexprojektion: jede Fläche Kz
wird durch den Einstich s., ihres Reflexstrahls S.,
auf PP dargestellt ; eine Drehung der reflektierenden
Ebene um die Zonenachse Zz liefert einen Kegel-
schnitt auf PP. Die in der Kristallographie übliche
gnomonische Normalprojektion stellt die Fläche Kz
durch den Einstich g ihrer Normalen n auf PP
ankommt, liegt die Gesamtheit dieser Ebene auf
einem Kreiskegel vom Offnungswinkel 2« und dem
Primärstrahl als Achse. Die von ihnen reflektierten
Strahlen liegen auf Kreiskegeln, deren Spitze im
Stäbchen liegt, mit den Öffnungswinkeln 4«, siehe
Abb. 12. Auf einer senkrecht zu S^s., gestellten
Platte würden sich konzentrische Kreise abbilden.
") Verhandl.
(1913)-
d. Deutsch. Physika!. Ges. 15, 67S u. 738
N. F. XVI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
529
Debye und Sc herrer") legen statt dessen
in die Kamera einen zylindrisch gebogenen
Film, auf diesem bilden sich als Durchschnitts-
linien der Kegel mit dem Zylinder die in
Abb. 13a u. h wiedergegebenen Diagramme ab,
die mittels fein gepulvertem Lithiumfluorid und
einer Kupferantikathode erhalten wurden. Bei
Verwendung einer Platinantikathodc sieht ent-
sprechend der anderen Wellenlängen der Platin-
strahlung das Diagramm wesentlich anders aus.
Durch Ausmessung der Einzellinien lassen sich die
Öffnungswinkel der verschiedenen Kegel bestim-
men; hieraus und aus dem Fehlen gewisser Linien
kann man in einer der Bragg 'sehen analogen
Schlußweise auf die Lage der Strukturfläche und
') Physikal. Zeitschr. XVII S. 277 (1916): P. Debyc und
P. Scherrer, Interferenzen an regellos orientierten Teilchen
im Röntgenliclit.
damit auf das dem Kristall zugrunde liegende
Gitter schließen. Wegen der Einzelheiten sei auf
die Originalarbeit verwiesen.
Es wurde auf diese Weise festgestellt, daß LiF
dasselbe Gitter wie NaCl und KCl, sogenanntes
amorphes Silicium dasselbe wie der Diamant hat.
Die Länge der Kante des Elementarwürfels für
Si ist 5,46-10-8 cm, der kürzeste Abstand zweier
Si- Atome 2,33-10-'* cm. Graphit kristallisiert
trigonal, 12 Kohlenstoffatome liegen in seinem
rhomboedrischen Elementarbereich, dessen Kante
4,69- IQ-* cm lang ist.
Das Verfahren liefert ein einfaches Mittel, das
mit absoluter Sicherheit zu entscheiden gestattet,
ob der Zustand einer Substanz mikrokristallinisch
oder amorph ist, da nur im ersteren Fall die Kegel
maximaler Intensität auftreten. Mit einer einzigen
Photograpiiie gelingt es, die gegenseitige Lage
und die Abstände der Atome im Kristall zu be-
stimmen. Man hat zu dem Zweck nicht einmal
einen ganzen Kristall nötig; es gelingt vielmehr
besser mit seinem Pulver. Hat man die Atom-
anordnung für irgendeine Substanz ermitteh, dann
kann man diese umgekehrt als Gitter zur Anal)'se
der auffallenden Strahlung und zur Messung der
Wellenlängen, die sie enthält, benutzen. Wir
haben ein Röntgenspektroskop denkbar ein-
fachster Art.
Weiterer Literaturhinweis :
Naturwissenschaften IV S. 13 u. 25 (1916) A. Sommer-
feld: Neues zur Physik der Röntgenstrahlen.
Mineralogische Beobachtungen während einer
FerienTeise ins Wallis im Juli 1917. Nicht ganz
neun Tage war mein Aufenthalt in diesem herr-
lichen, von hohen Bergen, tiefen Tälern und wild
daher brausenden Gebirgswassern durchzogenen
Kanton der Schweiz bemessen. In einer solch
kurzen Spanne Zeit kann man natürlich die natur-
historischen Verhältnisse eines Gebietes nicht
völlig ergründen, das haben schon andere von
berufenerer Feder vor mir besorgt und mag daher
von neuem überflüssig erscheinen. Aber immer-
hin werden die Beobachtungen des einzelnen, der
wenn auch nur im Fluge sich über die minera-
logischen Verhältnisse zu orientieren vermochte,
für denjenigen, welcher später dieselben Gegenden
bereisen sollte, von Interesse sein und sie mögen
daher an dieser Stelle aufgezeichnet werden.
Der Mineralreichtum des Wallis, welcher
vielleicht nur von demjenigen des St. Gotthard-
Gebietes übertroffen wird, ist schon seit altersher
bekannt, sogar der alte Scheuchzer gedenkt des-
selben. In engster Beziehung stehen damit die
mineralhaltigen und daher heilkräftigen Quellen,
ich erinnere nur an diejenige des Bades Leuk.
Die Bahn nach diesem weltberühmten Orte führt
Kleinere Mitteilungen.
von dem östlichen Ende des Genfer Sees, Ville-
neuve aus, an dem salzreichen Bex vorbei über
Martigny, dem alten römischen Octodorum, an
der Dranse gelegen und von der Ruine „la Bathia"
gekrönt.
Unfern von Martigny befindet sich das Val de
Bagnes. Wie in alten Zeiten wird noch heutigen
Tages hier der Topfstein, ein dem Speckstein ver-
wandtes Magnesium-Silikat gebrochen. Es ist
dies der „Giltstein" der Deutschen, der „pierre
ollaire" der PVanzosen, ein dunkelgrünes, von
gelben Adern durchzogenes Gestein, welches fettig
anzufühlen ist, ferner seiner großen Weichheit
halber sich leicht schneiden und schleifen läßt.
Namentlich wird es zu Ofenplatten verarbeitet
und es mutet einen heimlich an, in den Bauern-
häusern des WalHs teils jahrhundertalte, aus diesem
schönen Materiale verfertigte Öfen, welche von
vergangenen Geschlechtern und Zeiten erzählen,
vielfach anzutreffen !
Von Martigny gelangt man über Sitten nach
Visp. Von letzteren Orte führt eine Zweigbahn
durch das Saas-Tal nach dem 1620 Meter über
Meer gelegenen Zermatt. Das größte Dorf, welches
man auf dieser Bahnstrecke berührt, ist St. Nicolas,
530
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 38
bemerkenswert durch die dort vorkommenden
Bergkristalle. Einige derselben zeichnen sich durch
beträchtliche Größe aus, andere kleinere wiederum
bilden unregelmäßig gestellte Gruppen, welche in
ihrem Aussehen an die französischen Vorkommnisse
von Bourg d'Oisans in der Dauphine erinnern.
Die Gebirgsformationen der näheren und
weiteren Umgebung von Zermatt bestehen im
wesentlichen aus altkristallinen Gesteinen, nament-
lich Gneißen und Glimmerschiefern begegnet man
auf Schritt und Tritt. Für den Paläontologen
ist daher hier auch nichts zu suchen, der Minera-
loge wird aber sicherlich auf seine Rechnung
kommen.
Es finden sich bei Zermatt Mineralien vor,
welche geradezu für die Gegend charakteristisch
sind. Wenn man nicht Gelegenheit findet, die-
selben auf teils gefährlichen Gebirgsstellen selbst
aufzusuchen, so kann man solche bei den so-
genannten „Strahlern", welche nebenbei meist dem
Berufe als Bergführer obliegen, zu sehr billigem
Preise kaufen. Von den gewöhnlicheren Arten
will ich nur anführen:
1. Serpentin, am Gorner-Grate anstehend.
2. Diopsid, vom Theodulpaß, in stenglichen
Aggregaten.
3. Asbest, vom Rympfischwängi, teils in
zartfaseriger Ausbildung, teils in die dichtere Va-
rietät, das sogenannte „Bergleder" übergehend.
4. Schweizerit, vom Rympfischwängi, nur
als eine helle, sehr splitterige Serpentin-Varietät
anzusehen.
5. L a z u 1 i t h oder B 1 a u s p a t , vom Stockhorn,
dort meist als tJberzug auf Quarz anzutreffen.
Im allgemeinen ein ziemlich seltenes Mineral.
6. Pennin, vom Rympfischgrat, eine dunkel-
grüne Chlorit-Varietät, rhomboedrisch kristalli-
sierend und in schönen Säulen auftretend.
7. Grossular, vom Rympfischhorn, ein grüner
Kalkton-Granat, als kleine Rhombendodekaeder
in Bergleder eingewachsen.
8. RoterGranat, sogenannter „Kaneelstein",
vom Breithorn, mit Diopsid zusammen, identisch
mit dem Vorkommen der Mussa-Alp, Piemont.
9. Vesuvian, vom Findelengletscher, selten
in größeren, gut ausgebildeten Kristallen, welche
an diejenigen des Vesuv erinnern, vorkommend.
10. Pyrit, vom Theodulpaß.
11. Fuchsit, vom Matterhorn, ein durch
Chrom-Oxyd gefärbter grüner Kali-Glimmer, schöne
Überzüge auf Ouarz bildend.
Von dem altertümlichen Brieg aus führt die
Furka-Bahn nach Lax. Dort steigt man aus
und nimmt den Weg über Aernes teils auf beträcht-
licher Steigung nach Binn. liier sind wir zu
einem wahren Eldorado der Mineraliensammler
angelangt, denn das freundliche, meist aus Holz-
hütten bestehende Pfarrdorf wird alljährlich von
solchen aufgesucht. In unmittelbarer Nähe des-
selben, besonders bei dem benachbarten Imfeid
findet sich am Lengenbach der von dem be-
rühmten Schweizer Geologen Bernhard Studer
beschriebene „zuckerartige Dolomit" vor. In
der Tat verdient er diese Bezeichnung, er tritt
nämlich als weiße, kristallinisch -körnige Gesteins-
art auf, welcher zahlreiche, zum Teil sehr seltene
und oft nur mittels der Analyse bestimmbare
Mineralarten birgt. In gleicher Beschaffenheit
tritt er zu Campo-Longo im Tessin auf. Von
den gewöhnlichen Dolomit-Mineralien des Binn-
Tales seien hier nur Korund, Turmalin, Pyrit,
Arsenkies, Realgar, Auripigment und Zinkblende
als die vorzüglichsten genannt, welche meist in
ausgezeichneten Kristallen vorkommen und von
den zahlreichen Strahlern in Binn für weniges
Geld zu erwerben sind. Wer sich für die weiteren
Mineralvorkommnisse im Binner Dolomit inter-
essiert, vergleiche die Dissertation von Theodor
Engelmann „Über den Dolomit des Binnentales",
welche 1877 zu Bern erschien.
Aber auch andere Mineralien kommen in ty-
pischer Ausbildung bei Binn, meist in kristal-
linischen Schiefern vor. Da sind vor allem zu er-
wähnen die herrlichen Magnetit- Oktaeder des Ritter-
passes; der dunkelgrüne, monokline Diopsid von
Cherbadung; ausnehmend große tetragonale Kristalle
von Anatas und Rutil, letztere Modifikation des
Titan-Oxydes besonders schön von Schmidtsbach
bei Binn, woselbst auch prachtvolle gelbe Calcite
in hexagonalen Säulen mit rhomboedrischen End-
flächen auftreten. Besondere Erwähnung verdienen
aber die grünen monoklinen Titanit-Kristalle der
Kriegsalp bei Binn, in einer derartigen Größe
und prächtigen Erhaltung dürften dieselben kaum
nirgends sonst in der Welt anzutreften sein. Berg-
kristalle und Rauchquarze treten mannigfach aus-
gebildet und teils von bedeutender Größe eben-
falls im Binntal auf. —
Noch sei des schönen oktaedrischen Fluorites
des Gieblisbaches bei Viesch gedacht und mit der
Erwerbung dieses Minerales War mein interessanter,
wenn auch nur kurzer mineralogischer Streifzug
durch das Wallis beendet.
Leopold H. Epstein.
Nesselfasergewinnung. Im „Tropenpflanzer",
Zeitschrift für tropische Landwirtschaft 1917,
Heft 1—3 finden sich einige Mitteilungen über
unsere neuzeitliche Nesselfasergewinnung. Die
Nesselernte in Deutschland war 1916 schon ver-
hältnismäßig befriedigend. Der erst im Juli gegrün-
deten Nesselfaserverwertungsgesellschaft m. b. H.,
Berlin, wurden nämlich 1650 Tonnen trockener
Nesselstengel angeliefert, außerdem befanden sich
noch größere Mengen in Händen von Vertrauens-
männern. Die Gemeinde Zehlendorf bei Berlin hatte
eine 9V2 Morgen große Nesselpflanzung angelegt;
die Ernte betrug zwei Waggonladungen trockener
Stengel, die 800 Mark brachten. Der gute Erfolg
ist auf den dortigen stickstoffreichen Bagger-
schlamm zurückzuführen, wie überhaupt die allein
in Frage kommende Nessel, Urtica urens, außer
N. F. XVI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
531
Feuchtigkeit und Schatten hohen Nitratgehalt des
Bodens verlangt.
Der Wiener Pflanzenphysiologe Richter hat
vielversprechende Ergebnisse seiner Kulturversuche
an zahlreichen Uferstrecken der Donau gewonnen.
Das Gelände ist sehr geeignet, künstliche Düngung
nicht erforderlich; es stehen nach Marchet
4 Millionen Hektar solchen, nur alle 30 Jahre zum
Schlagen von Brennholz verwendeten Bodens zur
Verfügung, eine Fläche, von der die Hälfte bereits
genügen würde, um Ersatz für die gesamte
Baumwolleinfuhr Deutschlands und Österreich-
Ungarns zu liefern. Die Technik der Faserver-
arbeitung ist in vielfacher Hinsicht verbessert
worden. Mancherlei Verwendung können auch
die verschiedenen Nebenprodukte finden.
Nach diesen Anzeichen scheint es, als ob, wenn
der Krieg noch lange dauert, die Nesselfaser für
uns eine hohe Bedeutung erlangen kann und, im
Grunde genommen, sehr leicht die nur irgend
erforderlichen Mengen zu beschaffen sein werden.
Es ist ja bekannt, daß zu diesem Zwecke auch
wildwachsende Nesseln im vorigen Herbst schon
vielfach von Dorfbewohnern sowie im Felde von
Soldaten geerntet wurden. Ob auch nach dem
Kriege das Nesselsammeln der ärmeren Land-
bevölkerung einen Nebenverdienst abwerfen wird,
hängt ganz von der Preisgestaltung ab, die man
noch nicht übersehen kann. Jedenfalls werden
wir auch für den Fall eines schweren Wirtschafts-
krieges in dieser Hinsicht, wie in jeder anderen,
gerüstet sein. V. Franz.
Samenverschleppung durch die Feuerwanze
(Pyrrhocoris apterus L.). Obwohl die F"euerwanze
in unseren Gegenden ein so überaus häufiges
Tier vorstellt, ist die Biologie desselben noch
keineswegs erschöpfend behandelt worden. Auf
die Tatsache, daß Pyrrhocoris Samen verschleppt,
ist bisher nicht geachtet worden, wenigstens finden
sich über diese Tätigkeit in der Literatur kaum
Angaben. Sehr häufig kann man auf Wegen
Exemplare beobachten, welche sich an den Früch-
ten der Linden, die in hiesiger Gegend Judennüsse
genannt werden, zu schaffen machen. Bei ge-
nauerem Zusehen erkennt man, daß die Tiere die
Stechborsten ihres Saugrüssels tief in die Früchte
eingebohrt haben, so daß es ihnen oftmals nur
schwer gelingt, sie wieder herauszuziehen, um
sich in Sicherheit zu bringen. Häufig sind mehrere
Stücke mit einer Nuß beschäftigt. Reiber-
Puton bemerken (Cat. Hem. Alsace-Lorraine
1876), daß sie einmal 5 Exemplare an einer
solchen P'rucht haben saugen sehen. Diese Be-
obachtung kann man überall machen. Die Tiere
zerren die Früchte hin und her und verschleppen
sie oft auf große Entfernungen. In Höhlungen
der Lindenbäume kann man gelegentlich diese
Samen zu hunderten angesammelt finden. In
ähnlicher Weise verschleppt Pyrr/iocoris auch' die
Samen von Robiiiia pscitdacacia. Beachtung ver-
dient die Tatsache, daß es ihnen gelingt, ihre
Stechborsten selbst in steinharte Samen dieses
Baumes einzuführen. Da die Wanzen nur flüssige
Nahrung aufnehmen können, so bleibt nur die
Möglichkeit, daß die Nahrungsaufnahme durch
ein lösendes Enzym im Speichel vermittelt wird.
In Wildpark bei Potsdam bemerkte ich kürzlich
12 Larven von Pyrrhocoris an einem Rohinia-
Samen. Wiederholt habe ich auch das Transpor-
tieren und Verschleppen von Samen bei Malva
iicgkc/a bemerkt und in Rüdersdorf das gleiche
bei den Früchten von Poteriinii saiigiiisorba (S.
minor'). Der Samentransport durch Ameisen ist
ja eine bekannte Erscheinung(Myrmecochorie Ser-
n a n d e rs). Daß aber auch die Feuerwanze Samen
verschleppt, dürfte immerhin beachtenswert sein.
Ohne F"rage spielt Pyrrhocoris bei der Pflanzen-
verbreitung eine gewisse Rolle, doch wird bei
längerem Saugen die Keimfähigkeit der Samen
herabgesetzt oder ganz unterdrückt, im Gegensatz
zu den Ameisen, die an den Früchten von Viola
oder Üuiidoiiimii einen fleischigen Anhang vor-
finden, den sie abfressen, ohne daß dadurch die
Keimfähigkeit beeinträchtigt wird.
F. Schumacher, Charlottenburg.
Wandernde Libellen. Das Wandern von Libeilen
ingroßenSchwärmen,sowieauchin kleinen Gruppen
ist eine schon lange bekannte Erscheinung. Beide
Arten des Wanderns konnten vom 30. Juni bis
3. Juli im Saaletale vielfach beobachtet werden.
Als nach ^^ wöchiger Trockenheit am 30. Juni nach
4 Uhr nachmittags Gewitter aufzogen, traten große
Schwärme von O. nach W. ziehend im Saaletale
bei Halle auf und wurden vielfach bemerkt. Meist
dachten die Leute beim Anblick der Insektenmengen
an Wanderheuschrecken. Auch an anderen Orten
des Saaletales wurden zur selben Zeit Libellen-
schwärme beobachtet, so war z. B. die Stadt
Merseburg vor dem Aufkommen des Gewitters
erfüllt von Libellen, die sich vielfach auf die Drähte
der elektrischen Leitungen setzten. Ob die Libellen
durch den Gewittersturm an den geschützten Stellen
(Tal der Saale, Stadt Merseburg) erst zusammen-
getrieben wurden oder schon in großen Schwärmen
ankamen, läßt sich nicht mehr einwandfrei fest-
stellen. Ich vermute das letztere ; denn noch während
der nächsten Tage war ein fast ununterbrochener,
auf breiter Front verlaufender Zug von Libellen
in der Richtung von O. nach W. zu beobachten.
So stellte ich am Dienstag, den 2. Juli, nach-
mittags gegen 5 Uhr vom Dachgarten aus fest,
daß auf einem etwa 10 m breiten Beobachtungs-
stücke in 25 Minuten etwas mehr als 250 Libellen
vorüberflogen. Wie auf der Schnur gezogen kamen
die Tiere alle aus genau derselben Richtung und
flogen kaum haushoch und niedriger. Nach einer
Stunde war der Zug noch ebenso lebhaft wie vor-
her. Die Tiere kamen einzeln hintereinander und
in kleinen Gruppen bis 5 Stück auf einmal. Wie
weit verbreitet und langandauernd der Zug gewesen
532
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 38
sein muß, geht aus Zeitungsnachrichten hervor, nach
denen kleinere Libellenschwärme noch am 3. Juli
zwischen Weißenfels und Zeitz beobachtet worden
sind. Nach alledem muß es sich dieses Mal um
ganz außerordentlich große Mengen von Libellen
gehandelt haben, die an der Wanderung beteiligt
waren.
Die Frage nach den die Wanderungen verur-
sachenden Gründen ist noch ungelöst. Nahrungs-
mangel — wie bei den pflanzenfressenden Heu-
schrecken — kann wohl kaum in Betracht kommen.
Für unseren eben geschilderten Zug liegt die Ur-
sache vielleicht in den anormalen Witterungs-
verhältnissen dieses Jahres. Seit Mai lag ein
Hochdruckgebiet im Osten, das mit seinen Aus-
läufern bis über die Saale nach Westen sich erstreckt.
Infolge der langen Trockenheit mögen im Osten
viele Wassertümpel, in denen in erster Linie die
Larvenentwicklung der Libellen erfolgt, ausgetrock-
net sein. Möglich und wahrscheinlich wäre nun,
daß die Libellen den trockenen Osten massenhaft
verließen und nach dem in diesem Jahre so auf-
fällig durch Niederschläge im Juni bevorzugten
Westen zogen. Dafür spricht die auf der ganzen
Front im Saaletal beobachtete Zugrichtung.
Prof. Dr. Rabes.
Einzelberichte.
Geographie. Der Landzuwachs an den Küsten
Schleswig-Holsteins. Unserdeutsches Vaterland ver-
ändert seine Grenzen auch mitten im tiefsten Frieden.
Ohne Schwertstreich und ohne diplomatische
Künste verlieren wir und gewinnen wir Land
nicht im Kampf gegen Menschen, sondern gegen
die Natur. Sehen wir gänzlich von den Ver-
änderungen unserer Küsten in der Zeitperiode
des Diluviums ab, die der gegenwärtigen Ge-
schichtsepoche vorausging und halten wir uns
lediglich an die letztere allein, so ist doch ihr
Umfang weit größer als man im allgemeinen denkt.
Soweit sie sich auf die ehemaligen Eibherzogtümer
Schleswig und Holstein beziehen, sind sie jüngst
in einer ausgezeichneten Doktordissertation von
John Breckwoldt^), einem in Göttingen durch
H. Wagner trefflich geschulten Sohne seiner
meerumschlungenen Heimat zusammengestellt
worden, deren Ergebnis wir in dieser Zusammen-
stellung vorwiegend folgen.
Was zunächst die Veränderungen der Nord-
seeküste in Holstein angeht, so kann man im
allgemeinen annehmen, daß die Bewohner der
Marschlande im Laufe des ersten Jahrtausends
unserer Zeitrechnung durch Anlage von Deichen
das schon vorhandene Schwemmland, das anfangs
ausschließlich als Weideland benutzt werden mußte,
gegen die Übergriffe des Meeres notdürftig sichern
und damit auch als Ackerland benutzen konnten.
Etwa um das Jahr 1200 mögen die vorhandenen
Deiche in Dithmarschen ein Marschgebiet
einschließlich der Wasserflächen von etwa 290 qkm
umschlossen haben, wovon auf Süderdithmarschen
175, auf Norderdithmarschen 115 qkm entfallen.
In den nächsten Jahrhunderten erlitt der Nord-
teil dieser Küste fortwährend Verluste, deren
Größe auf mindestens 13 qkm geschätzt werden,
dafür heimste aber die Küste südlich der Insel
Büsum bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nach
und nach mindestens 16 qkm ein.
') Breckwoldt. Die hydrographischen Veränderungen
in Schleswig-Holstein. .Abgedruckt in den Schriften des Natur-
wissenschaftlichen Vereins für Schleswig-Holstein. Bd. XVI.
Heft I. Kiel 1914.
Über die Größe des Vorlandes in Süderdith-
marschen und die dort allmählich fortschreitende
Neulandsbildung sind wir besonders genau unter-
richtet, weil der Staat Besitzer des Vorlandes ist
und durch das Kgl. Rentamt in Marne über die
Landgewinnungsarbeiten genau buchführt, die in
ihrer Großzügigkeit und Zielbewußtheit ein Kuhur-
teil ersten Ranges darstellen. Im ganzen sind
von 1847 bis 1901 in Süderdithmarschen 12,3 qkm,
in Norderdithmarschen 6 qkm neu gewonnen
worden.
Allein von 187S — 191 1 sind in Süderdith-
marschen 1127 ha Neuland gewonnen, im Durch-
schnitt also jährlich 37 ha, in den letzten 5 Jahren
allein gerechnet jährlich 53 ha. In derselben Zeit
betrug der Landzuwachs in Norderdithmarschen
nur 176 ha, weil es in den einzelnen Gemeinden,
die die Besitzer des Vorlandes sind, zumeist an
Mitteln und an sachkundiger Leitung fehlt.
Im 15. Jahrh. wurde in Süderdithmarschen
2 Köge mit 379 ha, im 16. Jahrh. wieder
2 Köge mit 2839 ha, im 17. Jahrh. wieder 2 Köge
mit 894 ha, im 18. Jahrh. 3 Köge mit 3715 ha,
im 19. Jahrh. 4 Köge mit 4556 ha, im ganzen
seit etwa 400 Jahren 13 Köge mit rund 124 qkm.
In Süderdithmarschen in der gleichen Zeit 15
Köge mit nur 83 qkm gewonnen.
Der Gesamtgewinn an der Holsteinschen Nord-
seeküste beträgt mithin 207 qkm, dem ein
nachweisbarer Verlust von nur 24 qkm gegen-
übersteht. Der faktische Landgewinn beträgt
demnach 183 qkm, demnach 24 qkm mehr als das
Fürstentum Lichtenstein einnimmt.
Die Veränderungen der Schleswigschen Nordsee-
küste sind im allgemeinen größer gewesen ; der Gang
der Entwicklung läßt sich weniger gut verfolgen, weil
bei den großen Landverlusten, welche noch in
historischer Zeit dies Gebiet betroffen haben, de
ahen Deiche, die sonst gute Anhaltspunkte ge-
währen könnten, zerstört worden sind. Die Haupt-
verluste scheinen um die Mitte des 14. Jahr-
hunderts gefallen zu sein und einen Umfang von
etwa 660 qkm umfaßt zu haben. Diesem Verluste
standen bis Anfang der 70er Jahre in der Halb-
insel Eiderstedt und auf dem Festland zwischen
N. F. XVI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
533
Husum und Hoyer 85 Neubedeichungen mit
einem Areal von 544 i|km gegenüber, wozu noch
auf den ehemaligen Inseln Wiedingharde, Dage-
büll, Fahreloft und Ockholm ein Landgewinn von
20 qkm kam, so daß seit dem 13. Jahrhundert
564 qkm gewonnen wurden. Bis zum Ende des
vorigen Jahrhunderts sind aber noch 108 qkm
hinzugekommen, so daß der nachweisbare Ge-
winn den wahrscheinlichen Verlust noch um
12 ([km übersteigt. Seit Beginn des 20. Jahr-
hunderts hat man damit begonnen, die Inseln Föhr
und Sylt zu Halbinseln zu machen, ein Plan,
welcher für Sylt bereits zur Vollendung gediehen
ist, wodurch wieder große Landstrecken eingedeicht
werden können bzw. sollen, die nach dem Urteil
von Kennern an Güte den besten Kogsländereien
an die Seite gestellt werden können. Lassen wir
diese noch in der Entstehung begriffenen Land-
massen einstweilen beiseite, so verteilt sich der
Gewinn in Schleswig auf die einzelnen Kreise
Eiderstedt, Husum und Tondern mit je 128, 223
und 321 Quadratkilometern. In den einzelnen
Jahrhunderten, in denen diese Landvermehrung
erfolgte, gebührt der Löwenanteil dem 16. mit
203 qkm, dem sich das 15. mit 180 (jkm Land-
gewimn anschließt, während im 14. Jahrhundert
nachweisbar nur 12 qkm neu gewonnen wurden.
Für die ganze schleswig-holsteinsche Nordsee-
küste ergibt sich in geschichtlicher Zeit ein nach-
weisbarer Landverlust von 684 qkm, das ist etwas
mehr als das Gebiet der freien Städte Bremen
und Hamburg zusammengenommen; 24 (]km ent-
fallen dann auf Holstein, 660 auf Schleswig. Diesem
Verlust steht aber ein Landgewinn von rund
880 qkm, das ist mehr als das Fürstentum
Schwarzburg- Sondershausen (862), weniger als das
Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt (940), gegen-
über ').
Sehr viel geringer sind die Veränderungen
an der schleswig-holsteinschen Ostseeküste,; ein-
schließlich des Fürstentums Lübeck waren bis
1879 etwa 162 qkm im ganzen durch Verlandung
entstanden. In der Gegenwart und in den letzten
Jahrhunderten haben sich natürliche Anlandung
und Abbruch so ziemlich die Wage gehalten,
während in früheren Zeiten wahrscheinlich der
Landverlust überwogen hat. Im ganzen schließt
Breckwoldt, daß seit der Litorinazeit die Ostseeküste,
was das Areal anlangt, weder eine Verringerung
noch eine Bereicherung erfahren hat, nur sei zu
beachten, daß das verlorene Land meist sehr
fruchtbar war, während das neu entstandene Un-
land oder Weiden niedrigster Güte sei.
Wirkliche Gewinne können an der Ostseeküste
') Bei Breckwoldt befindet sich ein Rechenfehler, in-
sofern für Schleswig nur 564 qkm gerechnet werden. Die
Zusammeniechnung aber in der chronologischen Übersicht
S. 92 ft" ergibt für Schleswig 672 qkm. Übrigens hatte sich
nach Wege mann „Die Veränderung der Größe Schleßwig-
Holsteins seit 1230" (Zeilschr. Ges. Schlesw.-Holst. Gesch. 1915)
die Fläche der Eibherzogtümer seit diesen Zeitpunkt bis 1905
um 604 qkm vergrößert. Das wäre erheblich mehr als Breck-
woldt errechnet hat I
nach der Meinung des Verfassers nur dann erzielt
werden, wenn, wie an der Schleswigschen Nordsee-
küste und in Norderdithmarschen der Staat hilf-
reich eingreift und seine weitaus größeren Mittel
zur Verfügung stellt, da die Gemeinden bei der
Kostspieligkeit der Schutzbauten, wenn sie wirk-
lich von Erfolg sein sollen, kein Interesse daran
hätten, Neuland zu erhalten, sondern sich damit
begnügten, das jetzige Ufer nach Möglichkeit zu
halten.
Bei dem heutigen Stand der Dinge ist aber
nicht daran zu denken, daß der Staat auf absehbare
Zeit die Mittel zur Vergrößerung der schleswig-
holsteinischen Ostseeküste hergeben kann und
man darf vollkommen mit der friedlichen Ver-
größerung des deutschen Vaterlandes an der Nord-
seeküste zufrieden sein.
Prof. W. Halbfaß-Jena.
Botanik. Über das Treiben von Wurzeln. Die
vielen erfolgreichen Versuche, die man in neuerer
Zeit ausgeführt hat, um Pflanzen zu vorzeitigem
Austreiben zu veranlassen, haben sich ausschließ-
lich auf das Treiben der Blatt- und Blütenknospen
bezogen, während die Wurzeln dabei noch nicht
in Betracht gezogen wurden. H. Molisch weist
darauf hin, daß die Periodizität der Wurzelbildung
noch wenig erforscht sei; namentlich wissen wir
nicht, obdie Wurzeln wie die ruhenden Knospen der
Bäume eine durch innere Ursachen bedingte (frei-
willige) Ruhe durchmachen, oder ob sie im Winter
nur deshalb nicht wachsen, weil sie dann ungün-
stigen Wachstumsbedingungen ausgesetzt sind.
Würde sich z. B. herausstellen, daß Zweige, die
leicht Adventivwurzeln bilden, im Herbst oder
Winter diese Neigung trotz günstiger Wachstums-
bedingungen nicht bekunden, wohl aber, wenn sie
dem Warmbad oder dem Rauch (vgl. Naturw.
Wochenschr. 191 6, S. 507) ausgesetzt worden sind,
so würde dies entschieden für eine freiwillige Ruhe
sprechen. Solche Versuche hat nun Molisch
im Herbst und Winter 1916/17 mit verschiedenen
Pflanzen (Weiden und Pappeln, Philadelphus coro-
narius, Viburnum opulus, P'orsythia suspensa)
durchgeführt. Zum Treiben wurde teils warmes
Wasser, teils Rauch von Papier oder Tabak ver-
wendet. Die Behandlung mit Rauch dauerte
meist 24 Stunden, das Warmbad 12 Stunden.
Nachher wurden die Zweige in Wasser gestellt
und im Warmhause weiter kultiviert. An so be-
handelten Zweigen entstanden in der Tat die
Adventivwurzeln bedeutend früher als an unbe-
handelten Kontrollzweigen. Vielfach konnte etwa
14 Tage nach dem Beginn des Versuchs reichliche
Wurzelbildung beobachtet werden; während die
Kontrollzweige damit noch weit im Rückstande
waren. Bei manchen Holzgewächsen, wie bei den
Weiden, sind die Wurzelanlagen vor dem Aus-
treiben in der Rinde deutlich ausgebildet, in anderen
(Viburnum) konnte Moli seh sie nicht auffinden;
wahrscheinlich bestehen sie nur aus einigen wenigen
534
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Zellen. Jedenfalls ist anzunehmen, daß die Treib-
stoffe auf die Wurzelanlagen, ob deutlich oder un-
deutlich ausgebildet, in ähnlicher Weise wirken
wie auf ruhenden Knospen. Wie bei diesen ist
nach dem Ergebnis der besprochenen Versuche die
Ruhe wenigstens in vielen Fällen eine freiwillige.
(Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissen-
schaften in Wien. Math.naturw. Kl. Abt. I, Bd. 126,
1917, S. 12.) F. Moewes.
Die Pilzsymbiose der Bärlapp-Vorkeime. „Das
saprophytische Prothallium von LycopodiumSelago
nimmt nach den bekannten Untersuchungen
Bruchmann's zuerst eine birnförmige Gestalt
an und ist radiär gebaut, ringsum mit Rhizoiden
versehen. Bei seinem weiteren Wachstum wird
es dorsiventral, indem auf der einen Seite die
Geschlechtsorgane, auf der anderen die Rhizoiden
auftreten. Wie bei den übrigen Lycopodium-Arten
hängt die Entwicklung des Prothalliums von einem
Fadenpilze ab, der schon frühzeitig in dieses ein-
wandert und in einer Anzahl von Zellen filzige
Mycelmassen bildet, während er in anderen zahl-
reicheren Zellen jene bläschenförmigen Anschwel-
lungen hervorbringt, die als „Sporangiolen" oder
„Vesikel" bezeichnet werden. Eine Verdauung
des Pilzes, wie bei den Orchideen, findet nicht
statt, so daß die ernährungsphysiologische Be-
deutung des Pilzes für das Prothallium noch un-
gewiß ist. Da aber zahlreiche Hyphen wieder
auswandern und die Rhizoiden umspinnen, so dürfte
er wohl die Absorptionsfunktion dieser wesentlich
unterstützen. Jedenfalls ist der Pilz für das Wachs-
tum und das Gedeihen des Prothalliums unent-
behrlich, da dieses, wie Bruch mann gezeigt hat,
ohne den Pilzsymbionten über das Fünfzellen-
stadium nicht hinauskommt."
Mit dieser orientierenden Darstellung leitet
G. Haberlandt einen Bericht über bemerkens-
werte Beobachtungen ein, die er an Bruch man n-
schen Präparaten ausgeführt hat. (Beiträge zur
Allgemeinen Botanik I, 1917, S. 293— 300.) Dieser
Forscher hatte bereits gezeigt, daß die Auswande-
rung des Pilzes nur an bestimmten Zellen, nämlich
den Fußzellen der Rhizoiden vor sich geht. Die
Fußzelle ist die Schwesterzelle der zum Rhizoid aus-
wachsenden Zelle; die Mutterzelle beider teilt sich
durch eine schräge Wand derartig, daß die dem
Scheuel des Prothalliums zugekehrte Tochterzelle
zum Rhizoid, die der Prothalliumbasis zugekehrte zur
Fußzelle oder (wie Haberlandt sie der erwähnten
Aufgabe wegen nennt) zur „Pilzdurchlaßzelle" wird.
Die Außenwand der Pilzdurchlaßzelle verdickt sich
um so stärker, je mehr sie sich dem Rhizoid nähert,
und bildet in dessen unmittelbarer Nähe ein un-
gefähr halbkugelig vorspringendes Membranpolster,
durch das später die Pilzhyphen austreten. Eine
eigentliche Kutikula ist nicht vorhanden; nur die
oberste Lamelle der Außenwand zeigt durch schwach
gelbliche Färbung mit Chlorzinkjod eine geringe
Kutinisierung an, am schwächsten über dem halb-
kugeligen Membranpolster. Sehr merkwürdig ist
ferner, daß auch der protoplasmatische Wandbelag
der Zelle an dem Punkte, wo später die Pilzhyphen
in die Membran eintreten, eine ihrer Natur und
Aufgabe nach noch rätselhafte linsenförmige, stark
lichtbrechende Verdickung aufweist. Die Pilzhyphen
durchbohren von einer subepidermalen Zelle aus
die Innenwand der Durchlaßzelle und dringen in
die den Zellenraum durchsetzenden Plasmafäden
ein; sie sind stets von einer Plasmascheide um-
geben, wie dies auch bei verschiedenen Schmarotzer-
pilzen beobachtet worden ist. Die Pilyhyphen ver-
zweigen sich und bilden ein den Zellkern umspin-
nendes oder in seiner Nähe gelegenes Flechtwerk,
von dem aus sich einzelne Hyphen gegen die
verdickte Außenwand der Zelle erstrecken. Sie
durchbohren sie nicht unmittelbar unter der dicksten
Stelle, dem halbkugeligen Membranpolster, sondern
seitwärts davon und dringen in schrägem Verlauf
innerhalb der Wandung gegen das Membranpolster
vor. In diesem geht nun, offenbar durch den Pilz
angeregt, ein Erweichungs- oder Verschleimungs-
prozeß vor sich, die zarte kutikulare Grenzlamelle
wird aufgelöst, und es entsteht ein trichterförmiger
Hohlraum, in den die Pilzhyphen hineinwachsen
und von dem aus sie ins Freie gelangen. Nach
Bruchmann verzweigen sich die ausgetretenen
Pilzhyphen vielfach filzig und umspinnen das junge
Rhizoid. Es ist möglich, daß der Pilz dann ähn-
lich wie bei den ektotrophen Mykorrhizen für die
Nahrungsaufnahme der Rhizoiden von Bedeutung
ist. Vielleicht aber „wandert der Pilz nur zu Ver-
breitungs- und Fortpflanzungszwecken aus, oder weil
er sonst ein bestimmtes Entwicklungsstadium im
Erdreich durchmachen muß. Daß das Prothallium,
ohne selbst einen ernährungsphysiologischen Vor-
teil davon zu haben, eigene Durchlaßzellen mit prä-
formierten Austrittsstellen bildet, würde nicht ohne
Analogon dastehen." Haberlandt verweist hierfür
auf die birnförmig angeschwollenen Epidermiszellen
von Erodium cicutarium, die die Dauersporangien
des Schmarotzerpiizes Synchytrium papillatum
führen und mit dünnwandigen Papillen besetzt sind,
aus denen vermutlich die Zoosporen ausschwärmen;
diese Epidermiszellen haben außerdem am Grunde
eine dünnwandige Zone, so daß sie leicht abbrechen
und zu Boden fallen, was für die Verbreitung des
Pilzes von Bedeutung ist, da Erodium cicutarium
die Blätter nicht abwirft.
Unter den symbiontischen Anpassungserschei-
nungen ist jedenfalls der Bau der Pilzdurchlaß-
zellen des Prothalliums von Lycopodium Selago
eine der merkwürdigsten. F. Moewes.
Zoologie. Spermatozoendimorphismus. (Mit
I Textfigur.) Seit H e n k i n g bei der Feuerwanze die
Bildung zweier Sorten von Spermatiden entdeckte
(i 891), die sich durch die Zahl ihrer Chromosomen
unterscheiden — die eine Sorte besitzt ein Chromo-
som weniger als die andere — , haben sich unsere
Kenntnisse über die sogenannten Geschlechts-
N. F. XVI. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
535
Chromosomen beträchtlich erweitert. Nicht nur
bei zahlreichen Insekten, sondern auch bei Würmern,
Schnecken, Krebsen, Tausendfüßlern, Spinnen,
Vögeln, Säugetieren und anderen hat man Chro-
mosomen gefunden, die sich von den übrigen,
den Autosomen, abweichend verhalten und zu
der Geschlechtsbestimmung in irgendeiner Be-
ziehung stehen. Im Laufe der Untersuchungen
hat man eine Reihe von Typen von Geschlechts-
chromosomen — sie werden auch als Hetero-
oder X-Chromosomen bezeichnet — festgestellt,
und zwar ist den meisten Typen gemeinsam,
daß das männliche Geschlecht ein Minus an
Chromatinsubstanz gegenüber dem weiblichen
aufweist. Während beim Weibchen in der Regel
zwei Geschlechtschromosomen vorhanden sind,
die keine morphologischen Unterschiede erkennen
lassen, finden wir beim Männchen häufig nur
ein Geschlechtschromosom, es fehlt diesem der
Partner, oder aber es sind zwar zwei vorhanden,
das eine ist indessen kleiner als das andere.
Dieser ungleiche Chromosomenbestand hat zur
Folge, daß bei der Samenreifung, wenn die homo-
logen Chromosomen getrennt werden, zwei
Sorten von Geschlechtszellen entstehen, Sperma-
tozoen mit dem - Geschlechtschromosom und
solche ohne dieses, oder, falls das Männchen ein
ungleiches Paar besitzt, Spermatozoen mit einem
großen und solche mit einem kleinen Ge-
schlechtschromosom. Die Weibchen bilden nur
eine Sorte von Geschlechtszellen, alle Eier er-
halten ein Geschlechtschromosom. Wird ein Ei
von einem Spermium mit Geschlechtschromosom
befruchtet, so erhalten wir wieder die für das
weibliche Geschlecht charakteristische Chromo-
somengarnitur, es entsteht ein Weibchen ; dringt
ein Samenfaden ohne Geschlechtschromosom
oder mit einem kleinen in das Ei ein, so re-
sultiert die männliche Garnitur, es entsteht ein
Männchen, und da beide Sorten von Spermatozoen
in gleicher Zahl vorhanden sind, so werden im
allgemeinen Weibchen und Männchen in gleicher
Zahl aus den Eiern hervorgehen.
Die Existenz zweier Sorten von Spermatozoen
stellt man in der Regel durch Untersuchung der
Samenreifung fest. Sobald die beiden Reifungs-
teilungen abgelaufen sind, ballen sich die Chro-
mosomen zusammen, und als stark verdichtete
Masse geht das gesamte Chromatin in den Kopf
des funktionsfähigen Samenfadens über. Nur in
ganz wenigen Fällen läßt sich auch im reifen
Samenfaden die Chromosomenzahl noch fest-
stellen, so bei dem in der Forelle lebenden Ne-
matoden Ancyracanthus cystidicola, der wohl das
schönste Objekt der Heterochromosomenforschung
darstellt, da man bei ihm die ganze Chromosomen-
geschichte vollständig einwandfrei und ohne allzu
große Schwierigkeiten verfolgen kann.
Zeleny, Faust und Senay^) haben nun
geprüft, ob sich nicht auch bei den Formen mit
normalen, d. h. fadenförmigen Spermien ein
Dimorphismus nachweisen läßt. Bei den Samen-
fäden, die ein Minus an Chromatinsubstanz ent-
halten, ist, so durfte man von vornherein an-
nehmen, der Kopf wahrscheinlich kleiner als bei
den anderen. Da aber der Ouantitätsunterschied
häufig minimal ist, so stehen, wie ebenfalls vor-
auszusehen war, dem mikroskopischen Nachweis
des Dimorphismus große Schwierigkeiten ent-
gegen, zumal da bei derartigen mikroskopischen
Messungen noch zahlreiche Fehlerquellen zu be-
rücksichtigen sind. Bei möglichster Vermeidung
dieser Fehlerquellen gelang es indessen den Ge-
nannten doch, zu positiven Resultaten zu kommen.
Sie untersuchten die Spermien von 22 Spezies,
hauptsächlich Insekten, außerdem aber auch von
mehreren Wirbeltieren, insgesamt wurden nahezu
22000 Samenfäden gemessen. Zur Untersuchung
wurden fast ausschließlich Formen gewählt, deren
Samenreifung bereits bekannt ist. Formen, bei
denen man aus der Samenreifung die Existenz
Weibchen- und männchenbestimmender Sperma-
tozoen erschlossen hat. Gemessen wurde die
Länge des Kopfes der Samenfäden. Bei fast allen
untersuchten Spezies ließen sich auf diese Weise
zwei Gruppen von Spermien feststellen. Zwar
wird offenbar die Länge des Kopfes nicht aus-
schließlich durch das in ihm lokalisierte Chromatin-
quantum bestimmt — irgendwelche äußere Fak-
toren beeinflussen die Länge ebenfalls in geringem
Maße — , aber daß tatsächlich zwei Sorten von
Spermatozoen vorhanden sind, von denen jede
eine gewisse Variationsbreite zeigt, dafür ist das
Bild der Variationskurve ein genügender Beweis:
in der Mehrzahl der Fälle ist die Variationskurve
deutlich zweigipfelig, gibt also eine Population
wieder, die sich aus zwei Genotypen zusammen-
setzt. Eine Variationskurve, die sich durch be-
sondere Regelmäßigkeit auszeichnet, ist neben-
') Zeleny, Ch. and Faust, E. C, Size dimorphism
in the spermatozoa from Single lestes. Journ. of exper. Zoöl.,
Vol. 18, 1915.
Zeleny, Ch. and Senay, C. T., Variation in head
Icngth of spermatozoa in seven additional species of insects.
Journ. of exper. Zoöl, Vol. 19, 1915.
Stehend abgebildet. Sie wurde gewonnen durch
Messung von 500 Spermatozoenköpfen von Corizus
lateralus, einer Wanze, die nach den Untersuchungen
Montgomery's Spermatiden mit 7 und Sperma-
tiden mit 6 Chromosomen bildet. Die Länge der
Spermatozoenköpfe variiert bei dieser Art zwischen
23,0 und 32,6 ((, jedoch sind zwei Maxima nach-
weisbar, eines bei 27,1 ,(/, das zweite bei 29,5 /(.
Beide Maxima sind ungefähr gleich stark; dem
536
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr; 38
einen gehören 54, dem anderen 45 Samenfäden
an. Die dem ersten Maximum zugehörigen
Spermien besitzen aller Wahrscheinlichkeit nach 6,
die dem zweiten zugehörigen 7 Chromosomen.
Da die Variationskurven der beiden Sorten sich
schneiden, so läßt sich für die Spermatozoen
mittlerer Größe nicht entscheiden, welcher Gruppe
sie angehören; die kleinsten Samenfäden der
chromatinreicheren Sorte können ebenso groß
sein wie die größten Samenfäden der chromatin-
ärmeren Sorte. Immerhin eröffnet die Feststellung
des Spermatozoendimorphismus die Möglichkeit,
bei besonders günstigen Objekten eine Selektion
der extremsten Varianten vorzunehmen, vielleicht
auch, eine der beiden Sorten in bestimmter Weise
zu beeinflussen, um das Geschlecht der Nach-
kommen nach Belieben zu bestimmen.
Das Experimentum crucis zu diesen Unter-
suchungen ließe sich leicht dadurch machen, daß
man die Spermatozoen bei einer .Spezies unter-
sucht, von der wir wissen, daß sie nicht zwei
Sorten von Samenfäden, sondern zwei Sorten von
tiern bildet. Dieser Modus der Geschlcchtsbc-
stimmung scheint zwar relativ selten vorzukommen,
jedoch sind uns bereits mehrere Beispiele dafür
bekannt (z. B. die Schmetterlinge). Ist die aus
den oben besprochenen Ergebnissen gezogene
h'olgerung richtig, so muß bei einer Art mit zwei
Sorten von Eiern die Variationskurve der Sperma-
tozoenköpfe eingipfelig sein. Nachtsheim.
Variationskurve der Kopflängen von 500 Spermatozoen
von Corizus lateralus.
(Nacli Zeleny und Senay.)
Längein/» 23,0 23,3 23,7 24,0 24,4 24,7 25,0
Häufigkeit 4 6 7 7 5 7 II
Länge in /( 25,4 25,7 26,1 26,4 2f),7 27,1 27,4
Häufigkeit II 11 13 20 27 54 32
Längein// 27,8 28,1 28,4 28,8 29,1 29,5 29,8
Häufigkeit 20 21 17 19 28 45 30
Längein».. ..30,1 30, ■; 30,9 31,2 31,6 31,9 32,3
Häufigkeit .... 15 12 10 7 S 4 5
Länge in " .... 32,0
Häufigkeit 5
Anregungen und Antworten.
Herrn Dr. R. : Gibt es ein Werk — wenn möglich mit
Abbildungen — um die Blattminierer .in der Hand der Figuren
der Fraßgänge zu bestimmen?
Es gibt 2 brauchbare Bestimmungsbüchcr über Blatt-
minierer, soweit diese bisher aus den Minen gezüchtet
worden sind :
1. C. G. A. Brischke, Die Blattminierer in Danzigs
Umgebung. In: Schriften der Naturforschenden Gesellschaft
in Danzig. Neue Folge. V. Bd. 1./2. H. l88l. (ohne Abb.).
2. Linnaniemi, Zur Kenntnis der Blattminierer Finn-
lands. In; Acta Societatis Fauna et Flora Fennica. Bd. 37
Nr. 4. Helsingfors 1913.
Außerdem finden sich noch einige gute .\bbildungen über
Blattminierer in: Arnold Spuler, Die Schmetterlinge
Europas. I. Bd. Stuttgart 1908. H. W. Frickhinger.
Herrn J. K. in Lemberg. Zwergwuchs bei Pflanzen kann
zweierlei grundsätzlich verschiedene Ursachen haben. Man
kann nämlich einmal erblichen Zwergwuchs unterscheiden, der
auf inneren, durch äußere Einwirkungen nicht weiter zu ver-
ändernden Ursachen beruht. Solche Zwergsippen, wie sie
bei vielen Ptlanzenarten beobachtet werden, entstehen nicht
infolge ungünstiger Wachstumsbedingungen, können demgemäß
auch nicht durch eine bestimmte Zuchtmethode hervorgerufen
werden, ebensowenig wie es gelingt, sie etwa durch besonders
günstige Kultur zu höherem Wüchse zu veranlassen. Sie
bleiben klein, ebenso wie auch ein menschlicher Zwerg klein
bleibt trotz bester Pflege. Auf ganz andere Art entstehen die
Kümmerformen, wie man diese Art von Zwergen nennen
könnte. Sie bleiben klein und kümmerlich infolge ungünstiger
Wachstumsbedingungen, also infolge mangelnder Feuchtigkeit,
unzureichender Nahrung, sclilcchter Behandlung wie meinet-
wegen dauernd wiederholten Wildverbisses oder Erfrierens,
würden aber in gute W^achstumsverhältnisse zurückversetzt,
bald zu normalem Gedeihen zurückkehren. Auch würden
ihre Samen, wenn sie bei sorgsamer Pflege zur Entwicklung
gebracht werden, wieder Pflanzen ganz normaler (iröße geben.
Zu dieser letzteren Art von Zwergen gehören nun auch
nach den Nachrichten, die wir darüber besitzen, die merk-
würdigen Zwergkoniferen, die die Japaner züchten. In kleinen
Blumentöpfen ziehen sie Kirsch-, .\horn-, Pflaumenbäume und
namentlich Koniferen, die trotz geringer, meist kaum einen
Meter erreichender Höhe uralt sind. Ganze Generationen von
Gärtnern sind tälig gewesen, etwa um die 100 — 300 Jahre
alten Koniferenbäumchen heranzuziehen, die wir hier und da
auch bei uns bewundern können. Sie wählen möglichst kleine
Samen aus, pflanzen diese in möglichst kleine Töpfe mit ma-
gerer* festgestampfter Erde, begießen sie so selten wie möglich,
kurz halten die Pflanzen gerade auf der Grenze zwischen
Leben und Sterben. Außerdem werden die Zweige häufig
zurückgeschnitlen, auch wohl gewaltsam gebogen, gedreht,
geringelt, die Hauptachse wird entfernt, so daß sich nur
Seitenzweige entwiclseln können : auch die Hauptwurzel wird
abgeschnitten, oder es wird das Wurzelsystem von Erde ent-
blößt und so gewissermaßen zu einem Teil des Stammes ge-
macht. Ganz grotesk werden vollends solche Zwerge, wenn
sie noch durch künstliches Verbiegen der Zweige in ganz be-
stimmte Formen gepreßt werden. So sah Molisch, in dessen
Buche ,,Pflanztnphysiologie als Theorie der Gärtnerei" (Jena,
G. Fischer, Preis 10 M.) Sie manche weitere Belehrung finden,
in Yokohama Pflanzen, die die Gestalt eines Storches, einer
Ente, eines Hasen, einer Schildkröte, ja eines Radfahrers hatten.
Falls Sie selber sich auf die Zucht von Zwergkoniferen legen
wollen, müssen Sie mit der entsagungsvollen Aussicht rechnen,
die Früchte ihrer Züchtertätigkeit selber nicht mehr zu erleben.
Miehe.
Inhaltl K. Schutt, Kiistallstruktur und Röntgenstrahlen. (13 Abb.) S. 521. — Kleinere Mitteilungen: II. Epstein,
Mineralogische Beobachtungen während einer Ferienreise ins Wallis im Juli 1917- S. 529. Franz, Nesselfasergewin-
nung. S. 530. Schumacher, Samenverschleppung durch die Feuerwanze (Pyrrhocoris apterus L.). S. 531. Rabes,
Wandernde Libellen. S. 531. — Einzelberichte: W. Halbfaß, Der Landzuwachs an den Küsten-Schleswig-Holsteins.
S. 532. Molisch, Über'das Treiben von Wurzeln. S. 533. Haberland t. Die Pilzsymbiose der Bärlapp-Vorkeime.
S. 534. Zeleny, Faust und Senay, Spermatozoendimorphismus. (1 Abb.) S. 534. — Anregungen und Antworten:
Blattminierer. S. 53Ö. Zwergwuchs bei Pflanzen. S. 536.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 30. September 1917.
Nummer 39.
Untersuchungen mit der Wünschelrute.
[Nachdruck verboten.]
Prof. Dr. E. Hennig.
Mit I Abbildung.
Die segensreiche Wirkung dieses Volkskrieges,
alle Bevölkerungsschichichten und Berufsklassen
miteinander in Berührung gebracht zu haben,
wird vielleicht erst in der Zukunft voll zu-
tage treten. Auch das Wünschelrutenproblem
darf eine Förderung dadurch erwarten. Es ist ja
erstaunlich; Seit Jahrhunderten ist das geheimnis-
volle Werkzeug in Gebrauch ; seit Jahrzehnten
schwillt — zeitweise fast bedrohlich — die Flut
der Literatur über diese Frage; Zeitschriften und
Vereine sind ihr allein gewidmet. Wer aber jetzt
Gelegenheit hatte, zu beobachten, hat feststellen
können, daß ein ganz verschwindend kleiner TeiJ
der Bevölkerung aus eigener Anschauung seine
Vorstellungen von der Wünschelrute bisher ge-
bildet hatte.
Daß aber, wenn wir das wundersame Geheim-
nis lüften wollen, einzig Beobachtungstatsachen
vorerst uns nottun, legte ich in Nr. 19 laufenden
Jahrgangs dieser Zeitschrift ') bereits dar und
kündigte dort auch meinen bescheidenen Beitrag
zu dieser Materialsammlung an. Ich darf sagen,
daß ich mit genügender Skepsis nicht nur an das
Problem herangegangen bin, sondern ihm noch
jetzt gegenüberstehe. Manches aber, was ich für
Skepsis hielt, habe ich ehrlicherweise als Vor-
urteil erkennen und fallen lassen müssen. Mir
scheint, als sei neuerdings auch anderwärts manch
trennende Schranke gefallen, die der Wissenschaft
den Zutritt zu einer Erkenntnis verwehrte. Das
Problem ist da! Es heißt sich mit ihm auseinander-
setzen. Meine hier zur Kenntnis des weitesten
Interessenkreises gestellten Untersuchungen habe
ich zum allergrößten Teile angestellt mit dem be-
rufsmäßigen Rutengänger und „Quellensucher"
Herrn Matthias Leisen aus Dasburg, Kreis
Prüm. Vorweg zur Ausschaltung einiger noch
bestehender irreführender Mißverständnisse:
I. „Die Wünschelrute", worunter meist ein
Gabelzweig der Weide, Erle oder Haselnuß ver-
standen wird, zeigt nicht Wasser, Kohle, Petroleum,
Erze usw. an, also lauter Stoffe, deren einzige
gemeinsame Eigenschaft in ihrem zufälligem Werte
für den Menschen besteht. Das wäre physikalisch
von vornherein in allerhöchstem Maße verdächtig
und würde ihr selbst, wie Salomon'') wirklich
meinte, jeden Wert nehmen, da man ja nie mit
Sicherheit wüßte, welcher Stoff im Einzelfalle nun
die Ursache des Ausschlags wäre. Vielmehr kennt
') E. Hennig, „Zum Problem der Wünschelrute" S. 251.
'^) VV. S a 1 o m o n , „Über einige im Kriege wichtige Wasser-
verhällnisse des Bodens und der Gesteine". Oldenbourg,
München-Berlin 1916, S. ^8.
der berufsmäßige Rutengänger seit längerer Zeit
sehr verschiedenartige „Ruten" oder „Gabeln" aus
allerhand Metallen und mit mancherlei unterein-
ander deutlichst abweichenden Reaktionen. Die
verschiedenen Stoffe und Vorkomm-
nisse ergaben also auch wirklich ver-
schiedene Wirkungen.
2. Der menschliche Körper ist bei
dem üblichem Vorgang lediglich das
Medium, das die Übertragung dieser
Wirkungen auf das Werkzeug vermit-
telt; will sagen: er erzeugt nicht bewußt oder
unbewußt, willkürlich oder unwillkürlich mittels
der Muskeln') eine Eigenwirkung, er übersetzt
nicht eine fremde Einwirkung in eine neue eigene,
sondern leitet nur.
3. Der Ausschlag der Wünschelrute
ist nicht ein einfaches Sich-Senken,
sondern besteht in einer Drehung, die
abwärts oder aufwärts in äußerst verschiedenem
Maße, bis zu mehreren Kreisbewegungen, vor sich
gehen und von bedeutender Heftigkeit sein kann.
4. Es ist nicht einfach das Grund-
wasser als solches, das einen Ausschlag
bedingt, sondern offenbar Strömungen
innerhalb desselben. Solche — mehr vom
geologischen Gesichtspunkte interessanten als
brunnenbautechnisch wichtigen — Strömungs-
linien sind unter den „Wasseradern" der
Wünschelrutengänger zu verstehen in Gebieten,
wo ausgedehnte Grundwasserspiegel nach Maß-
gabe der geologischen Verhältnisse allein in Frage
kommen.
Mit letzterer Feststellung hatte ich in einem
„Nachtrag" in meinem oben erwähnten ersten Hin-
weise in dieser Zeitschrift geschlossen. Ich knüpfe
dort wieder an.
Schon V. Linstow hatte an dieser Stelle-)
in einem früheren Jahrgange einen darauf hin-
deutenden Beitrag geliefert: In diluvialem Boden
waren von verschiedenen Rutengängern unabhängig
voneinander gleiche Linien angegeben worden,
an die allein das Grundwasser selbstverständlich
nicht geknüpft sein konnte, die aber doch irgend-
eine physikalische Bedeutung haben mußten. Ich
'jSalomon I.e. S. 36/37 und Generalarzt Dr. Meisner:
„Zur Krage der Wünschelrute" in „Der Tag" vom 11. Mai 1907.
■^) V. Linstow; Ergebnisse von Grundwasserfestslellungen
mittels der Wünschelrute. Diese Zeitschr. 1916, S. 161 — 164.
Dieser Beitrag ist in wenig schöner Weise von einem Ver-
fechter der Wünschelrute durch einseitig entstellende Wieder-
gabe, Beiblatt „Die Wünschelrute" der Zeitschr. „Das Wasser"
1916, ausgenutzt worden. Es ist kein Wunder, wenn solche
„Freunde" der Sache nur schaden, der sie zu dienen meinen.
§38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
stellte nun an weitentfernten Orten im nord-
europäischen Diluvium folgendes fest : In oberem
Geschiebemergel hatte man innerhalb eines Ge-
bäudes, um Wasser zu erschließen, einen Schacht
etwa 17 m tief getrieben. Das war unzweckmäßig,
einmal weil der Lehmboden natürlich kein Wasser
hergab, sondern weil unter ihm artesisch gespanntes
Wasser lag, das beim Anschneiden die in der 1 iefe
Arbeitenden hätte gefährden können. Ein Wünschel-
rutengänger bezeichnete die Stelle als nahezu aus-
sichtslos, weil die Gabel dort keinen Ausschlag
gab. Wohl aber zog eine jener im Diluvium durch-
aus häufigen sog. „Adern" in etwa 6 m Entfernung
durch das gleiche Gebäude. Unter normalen
Verhältnissen hätte man dort einen Brunnen nieder-
stoßen lassen können. Die Überzeugung, es mit
einem ganzen Grundwasserhorizont zutun zuhaben,
der auch an anderer Stelle anzutreffen sein mußte,
hätte natürlich keinen stichhaltigen Gegengrund
abgegeben. Hier aber war Zeit und Arbeit zu
sparen, wenn am Grunde des schon fertigen Schachts
weiter gebohrt würde. Tatsächlich wurde dann
hier auch der Wasserbedarf nach wenigen Metern
völlig gedeckt. Nunmehr setzte ich den Ruten-
gänger ein zweites IVIal an. Wie sich durch deut-
lichste Ausschläge einwandfrei herausstellte, hatte
die vorher einigermaßen gradlinige „Ader" jetzt
eine scharfwinklige Ablenkung zu dem Brunnen
hin erfahren und ging von dort weiter unterhalb
wieder in ihren alten Lauf zurück. Durch die
Wasserentnahme und Spiegelsenkung
war eine durch and ere Verhält nisse be-
dingte Strömungslinie innerhalb des
Grundwassers abgelenkt worden. So
stehen alle Brunnen, wenn man sie daraufhin
untersucht, auf „Wasseradern"; fast regelmäßig
aber haben sie sie selbst nicht geschaffen oder
wenigstens an sich gezogen. Für den praktischen
Wert der Wünschelrute ist daraus also gewiß zu-
nächst noch wenig zu entnehmen. Die vermeint-
lichen „.'\dern" bestehen in lockeren Erdarten
nicht, wenigstens nicht so, wie man sie sich in
geologisch nicht geschulten Kreisen vorzustellen
pflegt. Andererseits besteht natürlich kein Be-
denken, einen Brunnen gerade innerhalb der mittels
Rute aufgesuchten Strömungslinie zu errichten;
unter Umständen wird dort das Wasser sogar
etwas reichlicher und von besserer Qualität sein.
Ich stelle dieses Beispiel voran, um zu zeigen,
in welcher Weise Geologie und Wünschelrute
einander in friedlichem Zusammenarbeiten ergänzen
können, statt einander in fruchtloser Fehde gegen-
überzustehen. Ausführungen, wie sie O. Edler
von Graeve noch in allerjüngster Zeit ') wieder
beliebt, können durch ihren unerquicklichem Ton
die Sache nicht fördern. Die törichten IMethoden
und das widerlich feuchte Niveau innerpolitischer
Partei-Diskussionen oder Zeitungsartikel mögen
») ü. Edler von Graev e -Gernrode (Ostharz): „Wün
schelrute und Geologie". Beiblatt „Die Wünschelrute-' vor
5. Mai 1917, Nr. 13 in „Das Wasser" Leipzig.
einem Phänomen erspart bleiben, das uns tief in
die Wunder der Natur hineinzuführen geeignet ist
und streng wissenschaftlichen Eifer in höchstem
Maße verdient. Gefehlt worden ist gewiß auf beiden
Seiten. Mir liegt in Ergänzung des vorigen Bei-
trags daher auch zunächst der Nachweis ob, daß
das Phänomen überhaupt außerhalb der Einbildung
oder des Aberglaubens besteht, daß es nicht mehr
einfach abzuleugnen oder leichthin als unbedeutend
zu bezeichnen ist. Beobachten wir den genannten
Leisen bei einer Untersuchung:
Wird in einem angegebenen Stück Erde
Wasser gewünscht, so überschreitet er es in
verschiedenen Richtungen mehrmals bedächtig,
die Naturgabel, wie im vorigen Bericht beschrieben,
wagerecht vor sich in Händen haltend. Hier und
dort ergeben sich mehr oder minder heftige Aus-
schläge nach unten. Es sind die Stellen, an denen
jene Linien überschritten werden. Welch Punkte
zu ein und derselben Linie gehören, läßt sich bald
durch Abschreiten feststellen. Denn jedes Ab-
weichen von der Linie macht sich durch Be-
ruhigung der Gabel schnell kenntlich. Zugleich
ist dabei die Strömungsrichtung zu erkennen:
gegen den Strom ist die Wirkung ein gut Teil
stärker als abwärts. Schon das kann für den
Geologen gelegentlich neu und von Bedeutung
sein. Leisen, der die geologischen Gesichts-
punkte nach Möglichkeit nicht außer Acht läßt,
verfolgt die Strömung nach ihrer Herkunft, um
auf diese Weise sicher zu gehen, daß das Wasser
nicht oberhalb durch Aborte, Jauchengruben u. dgl.
verunreinigt ist, ehe er einen Brunnen empfiehlt.
Nunmehr greift er — es kann auch unmittel-
bar damit begonnen werden — zu einer magne-
tisierten Stahlgabel (diese künstlichen „Gabeln"
haben etwa Lyra-Form). Je nachdem er die beiden
Enden auf die linke und rechte Hand verteilt,
zeigt diese auf Wasser nach unten, auf Metalle
nach oben bzw. umgekehrt. Bei anderen Medien,
die ich sah, hatte dasselbe Instrument nicht das
gleiche Unterscheidungsvermögen. Eine Messing-
gabel reagiert bei Leisen meist auf Metall, nicht
auf Wasser und zwar durch Ausschlag nach oben.
Sie kann vermöge ihrer dieser Eigenschaften dazu
benutzt werden, um stärkere Eisenhaltigkeit des
Wassers anzugeben. Bei den Metallgabeln ist
übrigens die Wirkung wesentlich gesteigert und
äußert sich durch mehrmalige Kreisbewegungen,
falls kein Widerstand seitens des Trägers erfolgt.
Da aber für den Körper des Trägers offenbar
unangenehme Empfindungen damit verbunden sind,
die mit dauernder Übung sich vermutlich wie auch
die canze Leitfähigkeit steigern, ist Leisen unter
lebhaft er Erregungdes ganzen Körpers') fortwährend
bestrebt, die Gabel in die ursprüngliche Bewegung
zurück zu zwingen. Längere Versuche erschöpfen
') Anfangs glaubt der Zuschauer wohl an absichtlich
übertriebenes Spiel, doch kann ich nach Vergleich verschiedener
Medien und Aussagen auch der kritischsten und selbst noch
zweifelnden nur bestätigen, daß diese sichtbare Wirkung durch-
aus ungewollt ist.
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S39
dann auch den Betreffenden ganz zweifellos und
erregen die Nerven in hohem Maße.
Zur Ermittelung der Tiefe bedient er sich einer
Kupfergabel. Sie hat das seltsame Vermögen,
schon wesentlich früher zwei deutliche Ausschläge
zugeben. Diese entsprechen der unteren und oberen
Grenze der Wasserschicht, deren Mächtigkeit damit
zugleich ermittelt wird. Das Verfahren ist nicht neu:
b — c sei die Breite der Wasserströmung, a ihr
Mittelpunkt. So schlägt die Gabel in dieser ganzen
Strecke aus, über a aber im Maximum. Nähert
sich nun der ganze Träger der Kupfergabel von
ferne, so zeigt sie im Gegensatz zu anderen be-
reits eine starke Einwirkung bei d bzw. d' und e
bzw. e'. Nach allgemeiner Angabe wäre nun
da = ^ga und ea = J-fa, wobei f die obere, g die
untere Grenze des Wasserhorizontes darstellt, also
zugleich auch de gleich der halben Mächtigkeit
des Grundwassers. Man sieht, daß hier bereits
wieder neue Kräfte die Hand im Spiel hahen.
Ich enthalte mich aber auch dabei zunächst aller
unbewiesenen Annahmen über Oberflächenspan-
nung und was dergleichen mehr sein mag. Um
so wichtiger scheint mir die Tatsache, daß die
Ausschläge bei d und e bzw. d' und e' ausschließ-
lich erfolgen, wenn der Rutengänger senkrecht
auf die Stromrichtung zugeht! Dreht er
sich auf diesen Stellen im Kreise, so verschwindet
die Einwirkung augenblicklich. Damit ist ihnen
auch die Zugehörigkeit der jeweiligen „Ader" ge-
geben, die bei dichterem Lager derselben fraglich
bliebe. Ich will nicht verschweigen, daß ich be-
züglich der Tiefenangaben noch keine hinreichen-
den Nachprüfungen habe anstellen können und
zunächst höchstens an Annäherungswerte glauben
möchte, die ja unter Umständen aber schon ge-
nügen dürften und wichtig sein könnten. In einem
Falle, wo nach geologischer Beurteilung Wasser
in 2— 4 m Tiefe zu erwarten war, wurden 8 — 14 m
durch die Rute ermittelt. Eine Grenze der Tiefen-
ermittlung mittels Wünschelrute ist mir bisher
nicht bekannt geworden.
Das alles sind dem Wünschelrutengängern
längst geläufige Tatsachen und Methoden (s. d.
Abweichung in der Tiefenermittelung in meinem
vorigen Bericht). Durch Ableugnen schafft sie
niemand aus der Welt. Ich bin oft genug Zeuge
gewesen, um mit einem vorhandenen, im höchsten
Maße fesselnden Phänomen zu rechnen, daß seiner
Erklärung noch vollständig harrt. Das die Mus-
kulatur nicht im Spiele ist, haben Arzte dabei
festgestellt; es ergibt sich aber mit aller Sicherheit
vor allem daraus, daß die Holzgabel sich zwischen
den Händen vollständig durchdrehen und dabei
neben der festhaltenden Hand brechen kann. Eine
bloße Senkung der Spitze nach unten oder ein
leichtes Aufrichten kann natürlich durch einen
leichten Druck oder durch bloßes Ermüden der
Hand ebenfalls bewirkt werden. Es ist klar, daß
auf Ausschaltung solcher Fehlerquellen volle Auf-
merksamkeit gerichtet wurde. Seltsam bleibt, daß
die Einwirkung auf die Gabel im allgemeinen
nur in senkrechter Richtung über dem Gegenstand
erfolgt. Wenn sie bis zu 20, 30 und mehr m
möglich ist, sollte man sie allgemein auf der
Oberfläche über einem derartigen Strom auch in
etwas größerer Entfernung erwarten. Tatsächlich
kann die Reaktion auch allmählich während der
Annäherung erfolgen. Dennoch wird der Ruten-
gänger über die eigentliche Breite des Haupt-
wirkungsfeldes und damit der Strömung kaum in
Zweifel geraten. Individuell sind die Erscheinungen
und demgemäß das Ermittlungsverfahren recht
verschieden.
Das trifft nun vor allem beim Aufsuchen anderer
Körper als Wasser zu. Mit aller wünschenswerten
und bei den ersten Versuchen geradezu verblüffen-
den Sicherheit fand Leisen unter Holz, in Koffern
und Taschen, in der Gartenerde versteckte und
vergrabene schwerere Metallteile, z. B.
auch Blindgänger. Bekanntlich ist nämlich
gerade die letztere Fähigkeit von Rutengängern
seitens des Militärs praktisch verwendet worden.
Leisen erhielt indessen einen entsprechenden
Ausschlag auch bei Findlingsblöcken, die nur Spuren
oder überhaupt keine metallischen Beimischungen
enthielten. Der Verdacht, daß sich schon Dichtig-
keitsunterschiede bemerkbar machen könnten,
scheint in den auch von Salomon zitierten
B e h re nd 'sehen Versuchen seine Bestätigung zu
finden. Demgemäß wäre auch hierbei eine prak-
tische Anwendung beim Muten auf Erze vorder-
hand wohl nur im Beisein des Geologen möglich,
der seinerseits wieder eine wirksame Unterstützung
erführe.
Nur bezüglich eines Edelmetalls habe ich
Experimenten bislang beiwohnen können : zunächst
scheinen sie wieder ans Fabelhafte zu grenzen.
Es wohnt ihnen aber, will mir scheinen, eine nicht
unbeträchtliche praktische Bedeutung bei. Die
Wünschelrute vermag nämlich den größeren oder
geringeren Goldgehalt von Schmuck-
stücken,Ringen usw.durch entsprechend starken
oder geringen Ausschlag festzustellen ! Ich habe
mehrfach dem Vorgange beigewohnt: Leisen
dreht sich vorsichtig, das Ende seiner Kupfergabel
dicht aber ohne Berührung über dem zu unter-
suchenden Gegenstande haltend, um demselben
540
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
herum, nachdem vorher festgestellt ist, daß nicht
irgendwelche andere Einwirkungen an dem Orte
haften. Sobald die Gabel dabei in die N-S-Rich-
tung kommt, erfolgt je nach der Menge des Gold-
gehalts der Ausschlag nach unten, und zwar von
N her merklich stärker als von Sl Auch hier
also wie bei Ermittlung der Wassertiefe (und an-
geblich auch beim Aufsuchen von Petroleum)
Gebundensein der Wirkung an eine bestimmte
Richtung, die in diesem Falle aber konstant ist
und ofienbar mit der magnetischen Polarität des
Erdkörpers in Verbindung zu stehen scheint.
Wieder aber enthalte ich mich alier Zusätze. Die
wundersame Erscheinung sei anderwärts erst nach-
geprüft und wird hoffentlich ihre Deutung im Zu-
sammenhang des Ganzen dereinst erfahren können.
Bezüglich Kohlen, Petroleum, Kali usw.
enthalte ich mich jeder Meinungsäußerung, solange
mir nicht eigene Beobachtungen zur Verfügung
stehen. Daß aber nach den Berichten weiteren
Möglichkeiten Tür und Tor geöffnet sind, wird
nicht von der Hand zu weisen sein.
Dagegen habe ich ncch eins zu erwähnen.
Die Wünschelrute gibt uns da vielleicht die härteste
Nuß zu knacken. Ich würde verstehen, wenn
Leser, die den Vorgang noch nicht gesehen haben,
sich ungläubig von meinem Bericht abwenden
würden. Die Wünschelrute gibt in Leise n's
Hand und vermutlich auch bei anderen Medien
mit staunenswertem Maße von Genauigkeit selbst
am menschlichen Körper Stellen von
anormaler Beschaffenheit an. Rheumatische
oder gichtische Schmerzherde, Brüche, Gewebe-
störungen, Herz- Lungenfehler u. dgl., Verwun-
dungen usw. (auch dann, wenn kein Geschoßteil
im Körper steckt) errät sie durch die volle
Kleidung, Gipsverband, Decken u. dgl. hindurch.
Sie vermag so genau zu lokalisieren, daß ich mir
von diesem Zweige ihrer noch geheimnisvollen
Fähigkeiten vielleicht den meisten Nutzen ver-
sprechen möchte und die Ärztewelt bereits auf-
merksam gemacht habe. In gewissen engen
Grenzen könnte sie die Röntgenphotographie zu
ersetzen imstande sein. Die Diagnose hat selbst-
verständlich die Aufgabe des Arztes zu bleiben,
damit sich hier nicht ein Kurpfuschertum ent-
wickelt und Nutzbringendes zum Verderben ge-
staltet. Ich habe so zahlreiche Fälle gesehen, daß
auch hier für mich nur die Erklärung, nicht das
Bestehen des Phänomens noch eine offene Frage
ist, freilich eine solche von allerhöchstem Inter-
esse. Indem das Gabelende in geringer Entfernung
über den menschlichen Körper hingeführt wird,
erfolgt senkrecht über der schadhaften Stelle ein
Ausschlag von zuweilen außerordentlicher Stärke.
Der Rutengänger wird davon nicht weniger an-
gegriffen als vom Aufsuchen des Wassers oder
Erzes. Mir will sogar scheinen, als ob das Instru-
ment hierfür allzu feinfühlig wäre. Jahrelang
zurückliegende Störungen und sehr unwesentliche
Dinge geben zuweilen starke Ausschläge.
Die Rute ist in allen P'ällen nicht unbedingt
erforderlich, sondern übersetzt lediglich. die
Einwirkung ins Sichtbare (wie gesagt, nicht
etwa auf dem Umwege über die IVIuskulaturI).
Soweit das Wasser in Frage kommt, ist eine
Empfindung dafür empfänglicher Personen be-
sonders an P'üßen und Händen bereits oft erwähnt. ')
Mir erzählte ein Hauptmann, er habe sich ein
Häuschen gebaut, konnte keinen Schlaf finden,
stellte mittels der Rute eine Wasserader unter
dem Hause fest, verlegte es danach seitlich und
schlief seitdem wieder normal! Am menschlichen
Körper habe ich den Erfolg wieder selbst be-
obachtenkönnen: Leisen fährt mit ausgestrecktem
Arm und Fingern ebenfalls in geringer Entfernung
an seinem Gegenüber hin und gibt nach einem
gewissen Gefühl in den Fingerspitzen richtig die
Stellen, an, in denen sich Schädigungen finden.
Aber auch der , .Patient" selber kann unter Um-
Umständen im gleichen Augenblick eine ihn über-
raschende Empfindung verspüren. Autosuggestion
kann das nicht allein erklären, wie ich an folgendem
Fall ersah; Leisen stand hinter einem Herrn
und fuhr in angegebener Weise längs dessen
Rücken hin. Der Betreffende, der nichts von den
Bewegungen sehen konnte, zuckte zusammen, als
Leisen immer in der Entfernung einiger Zenti-
meter an die rechte Schulter kam, in der der
Herr eine Verwundung hatte.
Wieder enthalte ich mich jeder Erklärung.
Die Frage ist dafür noch nicht reif. Mit Phrasen
wie Nervenfluidum, Strahlung, tierischer Magnetis-
mus, und dergleichen ist das Rätsel höchstens
mehr oder minder zweckmäßig getauft, ohne seiner
Auflösung ein Deut näher gerückt zu sein. Ob
Elektrizität oder Magnetismus in der uns be-
kannten Form eine Rolle spielen, lasse ich dahin-
gestellt, obwohl ich von zwei Medien an je einer
Hand gefaßt und die Gabel haltend einen feinen
elektrischen Strom durch die Hand zu verspüren
glaubte. Die Kreisbewegung der Rute fällt m.
E. völlig aus dem Rahmen dessen heraus, was
wir unter den Wirkungen jener beiden Kräfte
kennen. Ob eine oder mehrere noch unbekannte
Kräfte mit jenem verwandt oder nicht im Spiele
sind, das sind Fragen an künftige Forschungen.
Eine gewisse magnetische Veranlagung der Medien
scheint bereits durch verschiedenes Verhalten rechts
und links festgestellt zu sein. Was ich von Leisen's
magnetischer Gabel berichtete, gehört wohl auch
dahin. Doch ermangle ich in dieser Frage wieder
ausreichenden Beobachtungsmaterials.
Nur erinnert sei in diesem Zusammenhange
nochmal an die eigenartige Rolle der N-S Richtung
bei den Untersuchungen auf Goldgehalt.
') Vgl. hierzu die mir zurzeit noch Dicht bekannte
Studie von Joh. Schreiber: „Altes und neues von der
Wünschelrute". Körner'sche Buchhandlung, Erfurt. 30 Pf.
Gänzlich' verkehrt ist die Bezeichnung dieser Fähigkeit
als „Hellsehen", so z. B. in „Die Wünschelrute" Nr. 10, 5. IV. 17
und anscheinend in dem dort besprochenen mir nicht zugäng-
lichen Buche „Das Empfindungsvermögen der Materie" von
K. Huter (Arminius-Verlag, Leipzig 1909J.
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
541
Die mediumistische Leitfähigkeit für alle die
ottensichtlich wirkenden, wenn auch selbst vorerst
noch verborgen bleibenden Kräfte ist nach meinen
Beobachtungen recht selten. Die übliche Angabe
von io"/(| der Menschen will mir reichlich hoch
erscheinen. Der Grad ist natürlich schwankend.
Höchst selten dürfte die Veranlagung derartig
ausgeprägt sein wie bei Leisen. Zu rechnen
ist wohl damit, daß die Empfindlichkeit sich mit
der Zeit steigert. Nicht nur bei mir selbst, auch
bei zahlreichen andern Personen war völliger
Mangel eigener Leitfähigkeit festzustellen. Um
so verblüffender wirkte dann jedesmal der kräftige,
mit Muskelgewalt nicht zu bändigende Ausschlag,
wenn unsereiner die eine Hand lockerte und
Leisen nur lose mit zwei Fingern das frei-
werdende Gabelende berührte. Auch da war jede
unwillkürliche oder gar geheim-bewußte Drehung
mittels der Muskeln völlig ausgeschlossen. Das
Abbrechen der Holzgabel oder das Verbiegen einer
metallenen neben der Hand des Rutengängers,
wovon schon die Rede war, beweist das ja am
schlagendsten.
Es sind noch zuviel Unbekannte in der Glei-
chung, um jetzt durch planloses Überlegen schon
die Lösung herbeiführen zu wollen. Am sichersten
dürften wir dem Ziele näherkommen durch Ver-
gleich der oft außerordentlich verschiedengearteten
Erscheinungen und Methoden mehrerer guter
Medien. Nur so, glaube ich, werden sich die
Unbekannten ausschalten lassen, nur so der Kreis
der Erklärungsmöglichkeiten sich so weit ver-
ringern, daß der Kern des Problems zu erfassen
wäre. Die Phänomene sind von fesselndstem In-
teresse für Jeden, der unvoreingenommen den
Wundern der Natur nachspürt, und ihre Deutung
erscheint des Schweißes der Edelsten wert. Zu
intensiver Materialsammlung und methodischer
Beobachtung sei hiermit ein Scherflein beigetragen.
Es gilt dem Problem in seinem ganzen Umfange
zugleich zu Leibe zu rücken. Eine Diskussion
mit „prinzipiellen" Gegnern ohne eigene anschau-
liche Erfahrung müßte ich ablehnen, wogegen
jeder Nachweis von Fehlerquellen selbstverständlich
dankbarst begrüßt würde.
Die deutschen Seideiibaubestrebiiugeii und
(Nachdruck T.rboten] Von Dr. Hans Walter
Die mancherlei Schwierigkeiten, welche der
Zucht des Maulbeerbaumes in unserem deutschen
Klima entgegenstehen, sollten bekanntlich dadurch
ein für allemal behoben werden, daß die im
Sommer 1915 unter dem Ehrenvorsitz von Prof.
Udo Dammer gegründete ,, Deutsche Seiden-
baugesell schaff empfahl, an Stelle des Maul-
beerlaubes bei den deutschen Seidenzuchten eine
Ersatz futterpflanze, die Schwarzwurzel
[Scorconrra Iiispauica L.) zu verwenden.
Die Schwarzwurzel gilt schon lange als brauch-
bare Seidenraupenfutterpflanze. Prof Dr. C. O.
Harz, Professor an der kgl. Tierarzneischule
inMünchen, hatte in den Jahren 1884 85 mit einer
Reihe von Pflanzen Versuche darüber angestellt, ob
sie an die Seidenraupen verfüttert werden könnten.
Die meisten dieser Pflanzen, wie der Huflattich
{T/issilagu Far/ara], die Ulme {L'luiiis cavipcstris),
die Brennessel ( Urtica dioicd), der Hopfen [Humiilus
Liipnlits), der Sauerampfer [Rii»iex\ die Wegwarte
{Cichorium infybiis), der Rotklee [Tri/olinin pra-
tense) u. v. a. wurden von den Seidenraupen durch-
aus verschmäht, nur wenige Versuchspflanzen, wie
der Löwenzahn (Taraxacum officinalc), sowie
einige Arten der (ji'kn?.^^\s,Xz\{Sonchusoleraceus,
S. asper und S. arvciisis) von ihnen angenommen.
Die besten Erfolge hatte Prof. Harz mit der
Schwarzwurzel erzielt. In den ersten Gene-
rationen zwar war es nicht möglich, die Seiden-
raupen bis zu ihrer Einspinnung mit Schwarzwurzel-
blättern zu ernähren, es mußte in der letzten Zeit
noch mit Maulbeerlaub nachgeholfen werden, um
das Eingehen der Raupen zu vermeiden. Aber
schon die zweite Generation im Jahre 1885 zeigte
das rroblem der Schwarzwurzelfutterung.
Frickhinger, München.
nach den Aussagen des Forschers eine bestimmte
Anpassung an das Schwarzwurzelfutter, so daß
dieses während der ganzen Zeit ausschließlich ver-
füttert werden konnte. Die Ausbeute an Kokons
war anfänglich eine äußerst geringe, sie betrug
im Jahre 1886 nur i,i "/o. erhob sich aber schon
in dem darauffolgenden Jahre auf 7,5 */o ; für das
Jahr 1888 gibt sie Prof Harz in seinen Tabellen
bereits mit 29,6% und im Jahre 1889 mit 34,38 "/o
an. Die Qualität der Seide dieser letzten Kokons-
ausbeuten war keine schlechte, der Seidenfaden
erreichte eine Länge von fast 300 m, der Quer-
durchmesser stimmte mit dem des Mailänder
Originalfadens vollkommen überein, dem auch der
Glanz der Seidenfaser und ihre Bruchfestigkeit in
nichts nachgab. Die biologischen F"ähigkeiten der
Raupen dagegen schienen merklich herabgesetzt,
die Raupen waren vornehmlich viel kleiner von
Gestalt, das Raupenstadium war mit seiner Dauer
von 50 — 64 Tagen fast um das doppelte ver-
längert gegenüber den 29 — 33 Tagen, welche die
mit Maulbeerlaub aufgezogenen Raupen für ihre Nah-
rungsaufnahme bis zu ihrer Einspinnung gewöhn-
lich gebrauchen. Bei der im Jahre 1890 geführten
5. Schwarzwurzelzucht waren diese Nachteile etwas
geringer geworden: das Raupenstadium hatte sich
auf 57 — 58 Tage verkürzt, die Größe und das
Gewicht der Raupen hatte sich erhöht.
Die Ergebnisse seiner Zuchten wurden von
Prof Harz sehr hoffnungsfreudig beurteilt: an das
Ansteigen der Kokonsernte knüpfte er die Erwar-
tung, „daß schon in den nächstfolgenden Zucht-
jahren 80 - 90 "/o Kokons und darüber als Ernte
resultieren werden". Und auch die schlechten
542
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
biologischen Fähigkeiten der Raupen, ihre lange
Entwicklungsdauer, ihr körperliches Zurückbleiben
hinter ihren mit Maulbeerlaub aufgezogenen Art-
genossen, hofifte er in absehbarer Zeit verbessern
zu können ; denn auch der Maulbeerspinner habe
in Zentraleuropa, wie aus zahlreichen alten Ur-
kunden und Akten hervorgeht, noch im 1 8. Jahr-
hundert 40 — 50 Tage lang im Raupenstadium zu-
gebracht und sich erst allmählich eine schnellere
Entwicklung gleichsam „erworben". „In derselben
Weise wird auch die Raupendauer des Schwarz-
wurzelspinners mit der Zeit sich bedeutend ab-
kürzen und schließlich sich auf 30—33 Tage
reduzieren."
Prof Harz trug sich also mit dem Gedanken,
im Laufe der Jahre eine Seidenraupenrasse
heranzuziehen, die sich ganz an das
neue Futter gewöhnt habe. Aber schon
bald wurden die Befunde des Forschers bezweifelt
und bei genauerer Nachprüfung, bzw. bei Erprobung
in der Praxis, erwiesen sie sich auch als stark
optimistisch gefärbt. So berichtet Hofrat Joh.
Bolle, der langjährige Direktor der k. k.
Seidenbauversuchsstation in Görz, von
Versuchen eines seiner Schüler, A. Mullon, auf
den Gütern eines Herrn Ladigenski in Zavivalovka
(Gouvernement Pensa in Westrußland) Schwarz-
wurzelzuchten durchzuführen. Trotzdem die
Schwarzwurzelanlagen prächtig gediehen, wollte
die Aufzucht der Seidenraupen nicht recht vor-
wärts und die Gelbsucht oder Polyederkrankheit
stellte sich bald ein und wütete im Verlaufe der
Aufzucht derartig, daß keine Ernte erzielt werden
konnte. Ein zweiter Versuch im darauffolgenden
Jahre endete mit einem ebenso kläglichen Resultat,
worauf Herr Ladigenski von weiteren Versuchen
Abstand nahm.
Günstiger beurteilte die Aussichtsmöglichkeiten
der Schwarzwurzelzuchten Prof. Dr. Udo Damm er,
Kustos am kgl. Botanischen Garten zu Berlin-
Dahlem, der schon in den 90er Jahren des vorigen
Jahrhunderts bei Werderewski in St. Petersburg
die Aufzucht der Seidenraupen mit Schwarzwurzel-
blättern studiert und sich dann selbst „durch im
großen durchgeführte Versuche in der Weber-
schule in Nowawes überzeugte, daß auf dieser
Grundlage der Seidenbau bei uns sehr gut durch-
führbar ist". Prof. Dammer gibt in seiner Ab-
handlung, aus der ich die obigen Worte entnahm,
dann eine Reihe von Anweisungen und praktischen
Winken, durch welche er es für möglich hält, daß
die Schwarzwurzelzuchten erfolgreich bei uns durch-
geführt werden können. Daß sich die Schwarz-
wurzelfütterung bis heute bei uns nicht einbürgern
konnte, führt Prof. Dammer darauf zurück, daß
man die Seidenraupenzuchten immer in zu kühlen
Räumen vorgenommen hat. Gerade die Schwarz-
wurzelzuchten erfordern aber eine höhere Tem-
peratur; darüber gibt Prof Damm er folgende
Vorschriften: „vom I.— 5. Tage aller Aufzuchten
ist die Temperatur auf 20 " R zu halten, nach der
I, bis zur 2. Häutung, also vom 6. bis zum 10. Tage
sollte der Zuchtraum auf 19" R erwärmt werden,
vom II. bis einschließlich zum 30. Tage genügen
18" R, vom 31. Tage bis zur Verpuppung der
letzten Raupe muß die Zimmertemperatur wieder
auf 20" R erhöht werden. Auch die F"utterzu-
bereitung ist mit aller Peinlichkeit vorzunehmen.
Die Schwarzwurzelblätter werden regelmäßig des
Abends geschnitten und erst am nächsten Tage
verfüttert. Dies geschieht deshalb, weil sie wäh-
rend der Nacht im Zuchtraum die Temperatur
desselben annehmen müssen und weil die Raupen
leicht krank werden, wenn das P^utter kälter ist
als der Zuchtraum. Tritt Regenwetter ein, so
deckt man über so viele Pflanzen, wie man zum
Füttern braucht, leichte mit geöltem Papier be-
spannte Rahmen, damit die Blätter dieser Pflanzen
trocken bleiben; denn nasse Blätter führen stets
zu schweren Erkrankungen der Raupen. Man
schneidet die Blätter 6 — 7 cm über dem Boden
ab, damit die Herzblätter womöglich unversehrt
bleiben. . . . Die abgeschnittenen Blätter werden
gleich auf ein Stück Zeug, nicht auf die Erde,
gelegt, damit sie nicht schmutzig werden. Hat
man die nötigen Blätter abgeschnitten, so bringt
man sie in die Wohnung, wo sie sofort mit einem
reinen Lappen einzeln, Blatt für Blatt, auf beiden
Seiten vorsichtig abgewischt werden. Es darf
durchaus keine Erde, kein Staub, aber auch kein
Wasser an denselben sitzen bleiben. Sind alle
Blätter gesäubert, so schlägt man sie lose in ein
leinenes Tuch ein und bringt das Bündel in den
Zuchtraum, wo man sie bis zum nächsten Morgen
liegen läßt. Ist die Witterung im Freien kühl und
naß, so mache man mehrere "kleine Bündel, damit
dieselben während der Nacht besser durchwärmen".
Werden diese genauen Vorschriften bei der Futter-
bereitung und bei der Temperaturhaltung befolgt,
so ist nach der Ansicht Prof Da mm er 's der
Erfolg der Schwarzwurzelzuchten gewährleistet.
Der letzte Forscher, der sich mit dem Problem
der Schwarzwurzelfütterung beschäftigte, war der
Münchener Zoologe Prof Dr. Otto Maas. Als
Prof. Maas im Jahre 1910 die Harz'schen Ver-
suche wieder aufnahm, gelang es ihm nirgends,
noch aus den alten Harz'schen Zuchten stam-
mende Seidenraupen, die an Scur::onera gewöhnt
waren, aufzutreiben. Er sah sich also vor die Not-
wendigkeit gestellt, die Fütterungsversuche von
Grund aus neu zu beginnen. Er wählte als Ver-
suchsmaterial dreierlei Rassen der Seidenraupe:
Er züchtete einmal Japaner, dann Japaner mit
Einschlag der wilden Form (Thcopliila maiidariiia
Johns.) und schließlich Kreuzungen zwischen
italienischen und tessinischen Rassen. Prof Maas
kam es vor allem darauf an, eigene Erfahrungen
darüber zu erlangen, ob es überhaupt möglich sei,
Seidenraupen bis zu ihrer Einspinnung mit Schwarz-
wurzelblättern durchzufüttern. War dies möglich,
so hatte sich der Forscher das weitere Ziel ge-
steckt, in mehreren in aufeinanderfolgenden Jahren
durchzuführenden Zuchten darüber Klarheit zu
erstreben, ob auf diese Weise eine Seidenraupen-
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
543
rasse herangezüchtet werden könnte, weiche sich
volll<ommen an dieSchwarzwurzelfütteruno; gewöhnt
habe. Seine Fütterungsversuche stellte Prof. Maas
so an, daß er gewisse Abstufungen einhielt: Neben
reiner Schwarzwurzelkost (S) wurde anderen Zuch-
ten gemischte Kost (S bis zur 4. Häutung, dann
Maulbeerblätter) geboten und weitere Zuchten mit
reiner A/on/skost (M) — zum Vergleiche — durch-
geführt. Um ja persönliche Fehlschlüsse des ein-
zelnen Züchters zu vermeiden, wurden die gleichen
Versuche mit ähnlichen Raupenmaterial an ver-
schiedenen Orten ausgeführt. Die Schlußfolge-
rungen richteten sich nach den Eintragungen in
die Statistiken, welche über alle Zuchten „über
die Zahl der ausschlüpfenden, fortkommenden und
sich einspinnenden Raupen, ferner über die ver-
schiedenen Zeiten, zu denen die Häutung und das
Einspinnen erfolgte, dann über die Güte und F"aden-
stärke des Kokons und endlich darüber geführt
wurden, wann die Falter ihre Kopulationsfähigkeit
erlangten, ob die Gelege ausgiebig waren und wie
viele der Eier von der gesammten Eizahl sich als
entwicklungsfähig erwiesen."
Die Maas'schen Versuche wurden
also, das geht aus den wenigen hier zitierten
Worten zur Genüge hervor, auf sehr breiter
Basis unternommen und hatten sehr
weit gesteckte Ziele. Wollen wir nun die
Ergebnisse der einzelnen Zuchtkampagnes nach
den Angaben des Verfassers verfolgen :
Die Zuchtsaison 1912, die erste, über die Prof.
Maas berichtet, ergab, daßdie Seh warz würz el-
blätter bei sorgfältiger Auswahl und
Zurichtung gut vertragen wurden. Vor
allem traten Krankheiten, die auf den
Kostwechsel hätten zurückgeführt wer-
den müssen, nicht auf, nur war die Ent-
wicklungshemmung der mit S gefütter-
ten Raupen unverkennbar, statt der normalen
Dauer von 5 — 6 Wochen mußten die Zuchten
7 und 8 Wochen lang durchgeführt werden, da
die Raupen erst nach Verlauf dieser Zeit ihren
Kokon spannen. Die Kokons waren fast gleich
gut wie die normalen. Die besten Resultate er-
zielte der Forscher mit Zuchten, welche nur bis
zur „Fresse" mit S, dann aber mit M gefüttert
wurden. Die P'ähigkeiten dieser Generation unter-
schieden sich nicht oder nur kaum von durchwegs
mit M gefütterten Zuchten. Im Gegensatz dazu
lieferte eine Kreuzung wilder Japaner mit ///o/-/'
die schönsten Ergebnisse. Die biologischen
Fähigkeiten der reinen S-F'resser waren
durchwegs schlechter als die der M-
Fresser oder der mit gemischter
Kost Aufgezogenen: die S Raupen waren
weniger kopulationslustig, S- gefütterte Weibchen
zeigten viel kleinere Gelege und auch die Zahl der
angehenden und schlüpfenden Eier war propor-
tional eine viel geringere.
Im Jahre 1913 kamen folgende Kreuzungs-
varietäten von mit S und M gefütterten Eltern-
tieren zur Prüfung: S u. S, S u. ^2 SM; S X M;
V2 SM X V2 SM; V2 SM X M; M X M. Bei
den Kreuzungen war es gleichgültig, ob Vater-
oder Muttertier Sbelastet war, eine Verschieden-
heit bei den Züchtungsergebnissen war daraufhin
nicht zn bemerken. „Zwischen den 6 erwähnten
Stufen, sagt Prof. Maas, bestand eine proportionale
Verschiedenheit im Durchhalten auch außer der
schon erwähnten geringeren Ergiebigkeit der S-
Eltern. Am schlechtesten ließen sichdie
SXS-Zuchten mit S weiter füttern, am
besten die MXM-Ko pul at i o nen. Die da-
zwischen liegenden Abstufungen entsprachen ziem-
lich genau der S-Belastung." .'auffällig war bei
diesen Resultaten, daß in den Kreuzungen SXM
oder MXS ein Teil der .A.ufzucht sich besonders
günstig verhielt, sogar noch günstiger wie der
Durchschnitt der in der Stufenreihe folgenden
V'.2 S X M-Zucht. Ob dieser Teil zahlenmäßig auf
die M e n d e r sehen Regeln zurückgeführt werden
kann, hält Prof. Maas, wenn auch noch nicht
für gänzlich sicher, so doch für recht wahrscheinlich.
Auch die Kokons erwiesen sich nach Stärke und
Anzahl in ähnlicher Stufenreihe der elterlichen
S-Belastung entsprechend, ebenso wie sich auch
die Kopulationslust und die Befruchtungsfähigkeit
der P'alter diesem System einordnen ließ.
Bei den Kopulationen des Zuchtabschlusses 191 3
wurde der Versuch gemacht, die S-Belastung bei
der Kreuzung möglichst zu variieren. DerVariaiions-
möglichkeiten ergaben sich da natürlich eine ganze
Menge. Infolgedessen war die Sichtung der
Zuchten 1914 eine beträchtlich schwierigere; hieß
es doch eine große Anzahl neuer Komplikations-
erscheinungen zu berücksichtigen. Auch diesesmal
ergab sich eine ähnliche Abstufung wie im vorigen
Jahre; diese Abstufung war eine sehr deutliche,
sie folgte sogar den feineren Unterschieden in der
ganzen elterlichen Belastung. Auch in dieser
Zuchtkampagne zeigte sich wieder, daß die S- und
M-Kreuzungen in einem Teil der Zucht auffällig
bessere Ergebnisse nach jeder Richtung hin liefern.
Weiterhin ist unverkennbar, daß die Zuchten
mit S- und M-Großeltern auf der einen
und S- und M-Großeltern auf der anderen
Seite merkwürdig besser sind als die,
bei welchen auf der einen Seite beide
Großeltern SXS-, auf der andern Seite
beide Großeltern MXM-Fresser waren.
Darausgeht hervor, daß die Kreuzung offen-
bar die Gewöhnung vorbereitet.
Ob eine Änderung der Fütterungs-
instinkte stattfand, war schwer festzustellen.
Auch im zweiten Jahre gingen die Raupen aus
Eiern von SXS- oder SXM Eltern nur sehr
ungern auf die dargebotenen S-Blätter, wenn auch
die Zahlenverhältnisse immer etwas günstiger waren,
als bei Zuchten aus MXM-Eltern. Es war
eigentlich auch von vorneherein nicht damit zu
rechnen, daß in der kurzen Spanne Zeit von 2 bis
3 Generationen in dieser Beziehung irgendwelche
tiefergehenden Abänderungen sich zeigen konnten.
Jedenfalls erscheinen die Angaben des Forschers
544
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
bemerkenswert , daß bei der Futterdarreichung
nach der 4. Häutung in der sog. „Fresse" ein ge-
wisser quantitativer deutlicher Unterschied zu
konstatieren war, je nachdem die Zuchten aus
S-Eltern und S- bzw. SX SM Großeltern oder aus
M-Eltern und M-Großeltern bestanden. Wurde
in beiden Fällen bis zur 4. Häutung S gefüttert
und erst von da ab außer S noch M gegeben, so
wurde bei den ersteren Kategorien beides anstands-
los und vollständig aufgezehrt, während bei den
letzteren Sorten, also den Zuchten mit reinen M-
Vorfahren, das bisher angenommene S gänzlich
verschmäht und nur mehr M angenommen wurde.
Die Ergebnisse, welche Prof. Maas im
Laufe dieser seiner 3 ersten Zuchtperioden erzielen
konnte, waren also sicher keine hoffnungs-
losen. Trotzdem aber hielt der Forscher die
Frage des Ersatzes der Maulbeerfütterung durch
die Schwarzwurzelfütterung für heute durchaus
noch nicht spruchreif Als er deshalb von der
„Deutschen Gesellschaft für angewandte
Entomologie" aufgefordert wurde, seine Ansicht
über das deutsche Seidenbauproblem niederzulegen,
zog er aus seinen zu streng wissenschaftlicher Er-
kundung angestellten Versuchsreihen die Nutzan-
wendung für die Praxis und kam dabei zu dem
Schlüsse, daß es uns bisher vollkommen
an Seidenraupenrassen fehle, welche
an die Seh warzwurzelfütteru ng gewöhnt
seien und daß daher dieSchwarzwurzel-
fütterung der Maulbeerblatt fütteru ng
gegenüber heute noch durchaus un-
gleichwertig sei: „bei keiner Rasse, auch
nicht bei der anspruchlosesten, ist trotz aller
Sorgfalt, trotz Heizung, trotz ausgelesener und
gereinigter und getrockneter Blätter auch nur ein
annähernd gleiches Ergebnis zu erzielen wie mit
Maulbeerlaub; wenn manchmal die Kokons geraten,
so ist stets doch der Zeitaufwand merklich größer
und die Anzahl der durchgekommenen Raupen
wesentlich geringer. Aber auch die Harz 'sehe
Ansicht von der verbessernden Wirkung der Zucht-
wahl im Laufe der Generationen erweist sich als
unzutreffend; im Gegenteil sind gewöhnlich die
Nachkommen der von beiden elterlichen Seiten mit
Schwarzwurzel Gefütterten bedeutend schwieriger
aufzuziehen, als diejenigen, welche nur von einer
Seite Schwarzwurzelahnen haben, und diese in
manchen Punkten schwieriger, als solche, die
überhaupt nicht in der nächsten Vorfahrenschaft
„schwarzwurzelbelastet" sind. Dies zeigte sich
nicht nur im Fressen, Durchhalten und Spinnen,
sondern besonders in der Kopulation, F"ruchtbar-
keit und der Ergiebigkeit der neuen Gelege."
Die oben schon eingehender dargelegte Ab-
stufung in der Ergebnisreihe der Versuchszuchten
lassen einige Rückschlüsse über Aufzucht- und
Kreuzungsmöglichkeiten zu, die vielleicht für die
Praxis bedeutsam werden können. „Bei Kreuzungen
von S-Gefütterten mit M Gefütterten bestimmter
Rassen erwies sich ein Bruchteil bei der Wieder-
fütterung der Nachzucht mit S, auffallend günstig.
Wurde nun die aus solcher großelterlichen Kreu-
zung gewonnene Zucht des 2. Jahres wieder ge-
kreuzt mit einer ebenso ausgelesenen und behan-
delten Zucht, so war im 3. Jahre eine merkliche
Besserung in einem viel größeren Bruchteil zu
ersehen und zwar in allen biologischen Eigen-
schaften, vom Angehen des neuen Futters bis zum
Kopulieren, wenn auch bei letzterem nicht so
günstig wie bei ersterem." Das würde mit anderen
Worten heißen, daß eine Kreuzung, die
schon in der großelterlichen Genera-
tion durchgeführt ist, bei gleicher Be-
lastung günstiger ist als eine solche,
die erst in der elterlichen Generation
geschieht, wenn auch in beiden Fällen die
elterliche und die großelterliche Belastung der
Summe nach gleich ist. Es fragt sich nur, „ob
der Vorteil durch die bereits großelterliche Kreuzung
ein dauernder ist, oder ob eine solche 2 jährige
Vorbereitung seitens wissenschaftlicher Züchter
immer wieder neu zu erfolgen hat, um dem Prak-
tiker ein brauchbares Material an die Hand zu
geben. . . . Ferner, ob der in zwei Generationen
erreichte Vorteil größer ist als der durch Neu-
kreuzung mit vollkommen unbelastetem Material".
Diese Frage glaubt der Forscher bejahen zu
dürfen, da die jungen Räupchen der Zuchtsorte
nach seinen Erfahrungen mit viel größerer Leich-
tigkeit das Schwarzwurzelfutter angehen, ein Vor-
teil, der für die Praxis ausschlaggebend werden
kann. Eine Erschwerung der Schwarzwurzel-
zuchten wäre damit behoben, die Verbringung
der jungen Räupchen auf die fremde, ihnen un-
gewohnte Nahrung.
Der Schwierigkeiten, welche heute noch die
ScoirsoNirdiülterung bietet, gibt es deshalb, wie
Prof. Maas ausführt, immer noch eine große Reihe;
das liegt zum großen Teile in der Natur der
Futterpflanze selbst. Bei Regen werden die Blätter
in den Schwarzwurzelpflanzungen nicht nur feucht,
sondern auch leicht schmutzig und wir haben oben
bei der Schilderung der Zuchtanweisungen von
Prof Dammer gesehen, wie gefährlich dies für
die Raupen werden kann. Deshalb müssen die
Blätter nach Regenfälien erst getrocknet und ge-
reinigt werden, ein Umstand, der die Arbeit be-
trächtlich erhöht. Weiterhin sind die Zuchten,
auch dies ging aus dem oben Gesagten schon
hervor, „entschieden empfindlicher gegen Tempe-
raturwechsel und Feuchtigkeit als gewöhnliche".
Endlich erfordert die Behandlung der Hürden bei
der Häutung eine viel größere Sorgfalt: „Die S-
Blätter werden nie so ausgenützt, wie die Maul-
beerblätter und bilden darum eine Unterlage, die
zwar bei einigem Geschick und bei Trockenheit
ein gutes Bett für die Raupen abgibt aber auch,
namentlich bei Nässe und bei nicht kundigen Züch-
tern zu einerGefahr wegen Krankheit werden kann."
Deshalb kommt Prof. Maas zu dem Schluß,
daß „ungeübte Züchter in der Schwarz-
wurzelfütterung nur schlecht zurecht
kommen werden". Prof. Maas gründet diese
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
545
seine Ansicht auch noch auf die Erfahrungen, die
er mit seinen einzelnen Mitarbeitern machte: ver-
teilte er das gleiche Material an in der Zucht
kundige Lehrer, an Gärtner und an neu anzu-
lernende Private, so ging bei den Anfängern unter
den Züchtern das an die Schwarzwurzelfütterung
ungewöhnte Raupenmaterial meist bald ein, wäh-
rend das gewöhnte beträchtlich länger aushielt,
ohne daß allerdings auch hierbei nennenswerte
Kokonserträge erzielt werden konnten. Den ge-
übten Züchtern gelang es meistens, mit gewöhntem
Material bis zur Einspinnung zu kommen. Aber
hierbei ergaben sich noch zahlreiche Schwierig-
keiten, die weil sie biologisch begründet sind, nur
schwer überwunden werden können. So brauchen
die Raupen „offenbar einen Auslauf, wie ihn die
Stenglein und Zweiglein des Maulbeerbaumes
bieten; das bietet ihnen das einfach hingelegte
Sa>rM//i7-trh\3.tt nicht und dieser Auslauf ist be-
sonders vor Häutungen und vor dem Einspinnen
wichtig". Auch rein praktisch ergeben sich Hinder-
nisse, die oft von Anfang an nicht nach Würdig-
keit eingeschätzt werden. So ist der Blätterertrag
bei Scurzoiicra nur in der Fläche ausnützbar,
während der Blätterertrag des Maulbeerstrauches
oder -Baumes im Räume vor sich geht. Deshalb
bedarf es, um sich eine genügende Schwarzwurzel-
menge zu sichern, einer größeren Anbaufläche, als
der Züchter oft anfänglich glauben möchte. End-
lich ist die Frage nach der vorteilhaftesten Art
der Düngung der Schwarzwurzelanlage für das
Gedeihen der Seidenraupe durchaus nicht gleich-
gültig.
Aus allen diesen Angaben, die sich aus den
Erfahrungen von Prof Maas noch beliebig ergänzen
ließen, erhellt deutlich, daß das Problem der
„neuen" Fütterung mit Schwarzwurzel-
blättern heute noch nicht so einfach
zustimmend oder ablehnend beant-
wortet werden kann. Bevor sich Klarheit
über die Tauglichkeit der Schwarzwurzelfütterung
wird gewinnen lassen, wird es nötig sein, daß die
Maas 'sehen Versuche in ihrer ganzen wissen-
schaftlichen Gründlichkeit fortgeführt werden. Der
Forscher selbst wird diese Aufgabe, der heute so
große praktische Bedeutung zukäme, leider nicht
mehr erfüllen können; denn ihn entriß der Tod
im Frühjahr 19 16 jäh aus seinem Schaffen. Aber
seine Arbeit wird nicht umsonst geschehen sein;
denn seine Untersuchungen werden, wie ich höre,
unter Leitungvon Prof. Dr. Ad. Seitz im Insekten-
hause des Frankfurter Zoologischen Gartens, fort-
geführt werden. Man wird mit Spannung ihren
Ergebnissen entgegensehen dürfen, ob es ihnen
gelingen wird, was Prof Maas vergebens anstrebte,
eine Seidenraupenrasse heranzuzuchten, welche
sich an die Schwarzwurzelkost vollkommen gewöhnt
hat, so daß ihre biologischen F"ähigkeiten sowohl
wie die Güte ihrer Kokons in nichts dem Maulbeer-
spinner nachgeben. Heute sind wir freilich von
diesem Ziele noch weit entfernt 1
Literatur- Verzeichnis.
1. Johann Bolle, k k. Hofrat, Wien, Die Bedingungen
für das Gedeihen der Seidenzucht und deren volkswirtschaft-
liche Bedeutung. Mit 33 Textabbildungen. Paul Parey, Berlin.
4 Flugschrift der „Deutschen Gesellschaft für angewandte
Entomologie". igi6.
2. Udo Dammer, Prof. Dr., Berlin-Dahlem, Über die
Aufzucht der Raupe des Seidenspinners mit den Blättern der
Schwarzwurzel. Ein Beitrag zur Lösung der Seidenbaufrage in
Mittel- und Nordeuropa. 2. Aufl. 1915. Trowitzsch u. Sohn,
Frankfurt a. O.
3. C. O. Harz, Prof. Dr., Eine neue Züchtungsmethode des
Maulbeerspinners Bombyx mori L. mit einer krautartigen
Pflanze. Ferdinand Enke, Stuttgart. 1890.
4. Derselbe, Über die Zucht des Schwarzwurzel-Seiden-
spinners im Jahre 1890. In: Zeitschrift des Landwirtschaft-
lichen Vereins in Bayern. Aprilheft 1891.
5. H. W. Frickhinger, Dr., München, Zum Kapitel
Seidenbau in Deutschland {Über die Organisation der Seiden-
baubewegung). In: Zeitschrift für angewandte Entomologie.
3. Bd. 1916, Heft 2, p. 300 — 302.
6. Derselbe, Über den gegenwärtigen Stand der Seidenbau-
bewegung in Deutschland. Sammelreferat. In: Die Natur-
wissenschaften. 4. Jahrg. 1916, Heft 51 S. 832—35 und
Heft 52 S. 841—44.
7". Derselbe, Die Seidenraupe und ihre Zucht. Mit 18 Abb.
In : Monatshefte für den naturwissenschaftlichen Unterricht aller
Schulgattungen. 191 7. 10. Bd. Heft 2 S. 49— 59 und Heft 3/4
8. Otto Maas, Prof. Dr., München, Versuche über Um-
gewöhnung und Vererbung beim Seidenspinner. In: Archivfür
Entwicklungsmechanik. 41. Bd. 191 5. 4. Heft S. 672—727.
9. Derselbe, Bemerkungen zur Einführung der Seidenzucht
in Deutschland nach eigenen Erfahrungen über die Biologie
des Seidenspinners. In: Zeitschrift für angewandte Entomologie.
3. Bd. Heft I S. 180—194-
10. Adalbert Seitz, Prof. Dr., Darmstadt, DerSeiden-
bau und die Maas'scben Versuche. In; Entomologische Rund-
schau. 33. Jahrg. Nr. 8 S. 39—40.
Einzelberichte.
Geologie. Über die geologischen Ursachen der
Zerstörung von Talsperren berichtet H. Stremme
in der Zeitschrift f. praktische Geologie 191 7, H. 2.
Zerstörungen von Talsperren sind nicht selten,
allerdings hat auch der Bau derselben in den
letzten Jahrzehnten stark zugenommen. \'on großer
Bedeutung für die Verhütung der Unfälle ist die
Beschaffenheit des Untergrundes, da dieser die
Last der Mauer oder des Dammes ohne nennens-
werte Veränderungen oder Verschiebungen seiner
Teile dauernd tragen muß. Nur so wird der un-
veränderte Bestand der Talsperre gewährleistet.
Bei der Auswahl des Baugrundes lautet das erste
Prinzip: Der Baugrund muß Ruhe haben. Bei
allen Talsperreneinstürzen war der wagrechte
Schub und die mangelhafte Widerstandsfähigkeit
der Gründungsfläche oft erst nach Jahren und
Jahrzehnten die einleitende Ursache der Zer-
störungen, welche sich in einem schwachen Punkte
der Sperrmauer fortsetzten. Die Vorprüfungen des
Baugrundes haben auch den späteren hohen Mauer-
546
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
und Wasserdruck zu berücksichtigen. Nach Leppia
sind die meisten Gesteine auch im nassen Zu-
stande diesem gewachsen, soweit es sich nicht
um lockere unverkittete Sande, Kiese, Tone und
Mergel handelt. Nasse Schiefertone und Mergel-
schiefer können unter Umständen eine gewisse
Nachgiebigkeit zeigen. Man wird sie deshalb von
der Belastung durch eine starke Mauer ausschließen,
indessen als Unterlage eines Erddammes hinreichend
fest finden dürfen. Es ist selbst für den begut-
achtenden Geologen schwer, immer die nötigen
Garantien für die Stabilität des Untergrundes zu
übernehmen. Das dauernd unter hohem Druck
aufgestaute Wasser kann selbst einen guten Bau-
grund veränderlich machen, indem manche Be-
standteile der Gesteine zermürbt, aufgeweicht oder
sogar aufgelöst werden. Ja es können gewisse
Substanzen zum Schmiermittel bei einem Einsturz
werden.
Eine Zusammenstellung der Einstürze gab
P. Ziegler in der Zeitschrift für Bauwesen 1916,
wobei er die Zerstörungen in 3 nicht scharf ge-
trennte Gruppen sondert:
1. Der Staudruck drückt den allmählich auf-
geweichten Untergrund unter der Mauer hindurch.
2. Der Staudruck schiebt die ganze infolge
wagrechter und senkrechter Durchbiegung in
Stücke zerbrochene Mauer vor sich her.
3. Der Staudruck veranlaßt nur eine geringe
wagrechte Bewegung oder Ausbuchtung, die zur
Zerstörung führt. (OC.) V. Hohenstein.
Beiträge zur Geologie der Kolonie Neupommern
liefert Johanna Offermann in einer Disser-
tation. Die Insel Neupommern erstreckt sich von
Westen nach Osten in einem nach Nordwesten
geöffneten Bogen. Erforscht ist nur die im Norden
liegende Gazella-Halbinsel. Eine Landenge ver-
bindet sie mit der Insel. Im Südosten liegen die
Bainingberge mit 1500 m Höhe. Die Vorberge
bestehen aus Kalk, während die steilen Höhen
aus Eruptiven sich zusammensetzen. Im Norden
der Gazella-Halbinsel liegen die Inseln Uwewa und
Watom, ein 300 m hoher Vulkan, von denen
150 m Korallenkalk, die Spitze Andesitlava sind.
Im Nordosten der Halbinsel liegt die kleine Krater-
halbinsel mit nördlichstem Vulkan „Nordtochter"
(545 m und erloschen), die „Mutter" (erloschen
630 m), dann folgt ein eingestürzter Doppelkrater
und die „Südtochter" (536 m und erloschen).
Westlich davon ragt der einzige noch tätige Vulkan
hoch, dessen letzter Ausbruch 1878 erfolgte, bei
dem die Baluanlnsel entstand, der ,,Ghaia". Süd-
lich davon liegt ein weiterer eingestürzter Doppel-
krater. Andesite und BimsteingeröU sind die Ge-
steine der Mutter und der Ghaia. An der Ost-
küste liegt die Blanche-Bucht, deren Wände zur
Bucht hin steil, zur Halbinsel hin sanft abfallen,
so daß geschlossen worden ist. daß in der Bucht
ein alter Krater enthalten ist. Die Schwefelquellen
bei Schwefelhuk und die heißen Quellen am Ghaia
weisen ebenfalls darauf hin. Im Innern der Gazella-
Halbinsel treffen wir ein großes Bimsteinplateau
an, an dessen Rande der Varzin aus l.ava erbaut ist.
Aus dem Vulkangebiet der Mutter im Süd-
osten des Baininggebirges stammen Diorit und
Gabbro, wahrscheinlich auch ein Dioritporphyrit
und neue diabasische Porphyrite, ein Augitandesit.
An Ergußgesteinen wurden an der Mutter und am
Ghaia und der Vulkaninsel in der Blanchebucht
nachgewiesen: Ouarzporphyr, Liparit, Andesit,
Trachyandesit, Bimstein und Obsidian, Diabas-
mandelstein von der Mutter und andesitische Tuffe
aus dem Baining Gebirge sind ebenfalls erwiesen.
R. Hundt, im Felde.
Anthropologie. Die Kreolen. Die Bevölkerung
der mittel- und südamerikanischen Staaten und
Kolonien ist aus Angehörigen verschiedener Rassen
und deren Mischlingen zusammengesetzt. Die ab-
gelegenen und von der europäischen Kultur wenig
berührten Gebiete sind fast ausschließlich von
reinrassigen Indianern bewohnt, die küstennahen
und die an den Verkehrswegen liegenden Gebiete
dagegen von Mischlingsbevölkerungen,
die aus der Kreuzung von eingeborenen
Indianern mit Europäern und Negern hervorgingen.
Negermischlinge sind namentlich in Nord- und
Mittelbrasilien sowie in Guyana stark vertreten,
in den Staaten an der Küste des Stillen Ozeans
aber selten. Sozial gehören sie überall zu den
untersten Klassen. Die europäisch - indianische
Mischlingsbevölkerung ist überall, mit Ausnahme
gewisser Teile Brasiliens, zahlreicher als die Neger-
mischlinge, doch ist ihr Anteil an der Gesamt-
bevölkerung regional sehr ungleich. Reinrassige
Europäer bilden lediglich in Südbrasilien, Uruguay
und Argentinien einen erheblichen Teil aller
Einwohner. Wie sich das Verhältnis der ver-
schiedenen Bevölkerungselemente in den einzelnen
Staaten zahlenmäßig gestaltet, ist nicht be-
kannt, da diesbezügliche Statistiken nicht existieren
und die Schätzungen meist auf unsicheren Grund-
lagen beruhen. Die Zahl der Weißen einwandfrei
festzustellen ist deshalb besonders schwer, weil
alle in Amerika geborenen Nachkommen spanischer
und portugiesischer Ansiedler, bei denen nicht In-
dianer- oder Negerblut überwiegt, gerne als Weiße
gelten wollen und nur ungern farbige Ahnenschaft
zugeben. Sie bilden die soziale Oberschicht der
Bevölkerung und sind als Kreolen bekannt.
Doch wäre es falsch, diese Kreolen, wie es oft
geschieht, in ihrer Gesamtheit als „Weiße" auf-
zufassen. In Wirklichkeit ist nur eine Minderheit
von ihnen reinrassig.
Die Körperbeschaffenheit der Kreolen läßt
ohne weiteres erkennen, daß sie nicht „Weiße"
sind; denn ihre Hautfarbe spielt mehr oder weniger
ins Gelbhche, die Lippen sind dicker als beim
Europäer und häufig aufgeworfen, die Gestalt ist
klein, der Gesichtsschnitt stumpfer als beim Euro-
päer; das Haar ist zwar (mindestens bei vielen
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
547
Personen) lockig, aber es fühlt sich rauher an als
beim Europäer. Der Bartwuchs ist gewöhnlich
spärlich. Überdies sprechen auch geschichtliche
Gründe gegen die Annahme einer rein europäischen
Abkunft der Kreolen.
Diesbezüglich sagt ein guter Kenner Süd-
amerikas, Dr. O. Greulich 1), es steht fest, daß
die spanischen und portugiesischen Eroberer, wie
die meisten Neusiedler, zunächst ohne Familien
übers Meer gelangten. Die IVIitnahme von Weib
und Kind verboten die gefährdete Lage der Ko-
lonisten und ihre unstete Lebensweise, die ja
hauptsächlich in Streifzügen nach Gold und
Sklaven bestand. Inzwischen behalfen sie sich
mit Indianermädchen, am häufigsten in wilder
Ehe; doch gab es auch von Anfang an legitime
Heiraten. Den Nachkommen vornehmer Eltern
konnte man trotz ihrem Halbblut gesellschaftlichen
Rang nicht versagen, und sobald hiermit die
Schranke gebrochen war, ließ sich eine strenge
Grenzlinie gegen die „Mestizos" (Kinder von
Weissen und Indianerinnen) im allgemeinen kaum
noch aufrechterhalten. Sobald Ruhe und Ord-
nung im neuen Kolonialreich hinreichend ent-
wickelt waren, folgte wohl manche Spanierin
einem Gatten oder Bruder in seinen fernen Wir-
kungskreis; aber groß kann ihre Zahl auch in
der Folge nicht gewesen sein, denn die Geschichts-
schreiber verfehlen nie, den Wagemut dieser Damen
gebührend hervorzuheben; ferner ist zu beachten,
daß auch heute noch die europäische PVau unter
der Ungunst des Klimas und der abweichenden
Ernährung in weit höherem Maße leidet als der
Mann, was eine weibliche Zuwanderung großen
Stils abschrecken mußte.
Die anthropologische Abgrenzung der Kreolen
gegen die Indianer wird dadurch erschwert, daß
auch die in den kultivierten Landstrichen hausenden
„Indianer" in Wirklichkeit keine solchen, sondern
ebenfalls Mischlinge sind, wenn auch mit stärkerem
Zusatz indianischen Blutes. Nur eine genaue Unter-
suchung möglichst vieler Einzelstammbäume könnte
völlige Klarheit in das Problem der Herkunft der
Kreolen bringen. Man hat sich auch in dieser
Hinsicht bemüht, und es wurden amtliche Er-
fahrungen über die Rassenzugehörigkeit vorge-
nommen. Aber nach welchen Grundsätzen wird
dabei vorgegangen, z. B. bei den Schülerlisten?
Der Sohn eines Advokaten, Arztes oder Groß-
grundbesitzers bekommt ohne weiteres das Prä-
dikat „Blanco"; der Sprößling eines kleinen Be-
amten, Krämers oder Kleinbauern figuriert als
„Mestizo", und der arme Taglöhnersbub wird er-
barmungslos zum „Indio" gestempelt.
Hieraus ergibt sich, daß der Rassenunterschied
zwischen den Kreolen und ihren „roten" Unter-
tanen nicht wesentlich, sondern nur relativ ist,
indem sich jene bloß einer näheren Verwandt-
schaft zur weißen Rasse rühmen dürfen, und daß
') Greulich, Dr, Kreole. Eine ethnographische Studie.
Neue Zur. Zeitung 1917, Nr. 709.
die kreolische „Aristokratie" vor allem sozialen
Charakter trägt. Daß gleichwohl eine so auf-
fallende Kluft zwischen der obern und der untern
Schicht der südamerikanischen Bevölkerung be-
steht, ist wohl hauptsächlich der Selbstsucht und
der Eitelkeit der Emporkömmlinge zuzuschreiben.
Denn wenn auch eine stete Auffrischung des
Herrenstandes durch empordringende tüchtige In-
dividuen der unteren Klasse stattfindet, so fühlen
sich die also Begünstigten keineswegs als Binde-
glied, sondern scheinen vielmehr bestrebt, ihre
niedere Herkunft in Vergessenheit zu bringen.
Im Kreolen tritt uns ein durchaus eigenartiger
Typus entgegen, an dessen Entstehung jahrhundert-
lang die verschiedensten Faktoren gearbeitet haben :
außer der fortgesetzten Kreuzung beider Rassen
in allen erdenklichen Schattierungen auch klima-
tologische, geographische und geschichtliche Ein-
flüsse — ein eigenartiger Typus, der sich nicht
bloß vom Europäer, sondern namentlich auch
vom Nordamerikaner aufs schärfste unterscheidet.
H. Fehlinger.
Medizin. In der Münch. med. Wochenschrift
(64. Jahrg. Nr. 17, 19 17) machten Regimentsarzt
Franz Bardach zi und Oberarzt Dr. Zoltan
Barabas Mitteilungen über das auffallend häufige
Vorkommen der Fadenwürmer (Nematoden) als
Darmschmarotzer des Menschen im Osten, besonders
in Woihynien. i5ie Zahl der sie beherbergenden
Leute war größer als die der wurmfreien. Wie
man bei Sektionen erkannte, waren die Krank-
heitserscheinungen vielfach durch die Würmer
verursacht worden. Die Verff. hielten es für an-
gezeigt, Kotproben von jedem Patienten auf ihren
Reichtum an Wurmeiern zu untersuchen. Die
Soldaten gehörten den verschiedensten Nationali-
täten an und befanden sich teilweise nur zur
Quarantäne im Lager; außerdem wurden 123 Zivil-
personen untersucht, und zwar beruhen die An-
gaben auf einer nur einmaligen Stuhluntersuchung,
welche nach dem Verfahren' von Tele man vor-
genommen wurde. Dabei wurde eine erbsengroße
Stuhlprobe mit Salzsäure und Äther zu gleichen
Teilen bis zum Verfall geschüttelt und durch ein
Organtinsieb passiert. Das durch Zentrifugieren
gewonnene Sediment wurde mikroskopisch unter-
sucht. Die Zahlen für die Spulwurmeier waren
nicht nur bei den Feldsoldaten, sondern auch bei
der Zivilbevölkerung außerordentlich hoch. Be-
sonders häufig waren der gewöhnliche Spulwurm
(Ascaris lumbricoides) und der Peitschenwurm
(Trichocephalus dispar), welche in über 60% der
Patienten gefunden wurden. Die Verff. erblicken
den Grund für das häufige Vorkommen in dem
hygienischen und kulturellen Tiefstand der Bevöl-
kerung im Südosten Europas. Wiederholt traten
auch schwere Darmstenosen auf, offenbar verur-
sacht durch ein bis hühnereigroßes Knäuel von
Spulwürmern. Die dadurch hervorgerufenen Er-
scheinungen, welche in erster Linie auf eine Ver-
548
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
stopfung des Darmkimens zurückzuführen waren,
verschwanden sofort, wenn durch Abführungs- und
Wurmmittel (Santonin) die Ascaridenkonvolute
beseitigt worden waren. Sehr verbreitet war eine
durch den ständigen Blutverlust verursachte
Anämie. Kathariner.
Physik. Um das Hochfrequenzspektrum eines
Metalls zu ermitteln, untersucht man mittels eines
Röntgenstrahlenspektrographen die Strahlung, die
von einer Röhre ausgeht, in der das betreffende
Metall die Antikathode bildet. Beim Aufprall der
von der Kathode ausgehenden Elektronen geht
von der Antikathode eine doppelte Strahlung aus,
die „Bremsstrahlung", die bei Verzögerung der
Elektronen entsteht und die aus allen möglichen
Wellenlängen besteht, und die „Eigenstrahlung",
die dadurch zustandekommt, daß die Elektronen,
die im Atom des Antikathodenmaterials enthalten
sind, mit der ihnen charakteristischen Frequenz
zu schwingen anfangen. Die auf diese Weise ent-
stehende Eigenstrahlung nennt man das Hoch-
frequenzspektrum im Gegensatz zu dem sichtbaren
Spektrum, das der Dampf des Metalls unter ge-
eigneten Bedingungen aussendet und dessen
Schwingungen erheblich langsamer erfolgen.
Eine Röntgenröhre, die auf verhältnismäßig ein-
fache Weise gestattet nacheinander die Röntgen-
spektren verschiedener Metalle zu untersuchen,
beschreibt H.Rausch v. Traubenbergin der
Physikal. Zeitschr. XVIII S. 24 (1917). Sie setzt
sich zusammen aus einem kugelförmigen Glas-
gefäß, das die Kathode enthält. Dasselbe hat
oben eine Öffnung, auf diese wird mittels Siegel-
lack ein Messingrohr aufgekittet. Mittels Schliff
wird in dieses die Antikathode eingesetzt und mit
Pizein verkittet. Damit die Kittungen bei der Er-
wärmung, die bei der Entladung namentlich an
der Antikathode auftreten, nicht schmelzen und
undicht werden, werden sie und die Antikathode
selber durch strömendes Wasser gekühlt. Von
der im Mittelpunkt des kugelförmigen Glasgefäßes
angebrachten Kathode dringen die Elektronen
radial in das aufgekittete Rohr. Die Antikathode,
an deren Oberfläche verschiedene Metalle an-
gebracht und ausgewechselt werden können, liegt
schräg zur Richtung der Achse, so daß die Elek-
tronen sie unter einem Winkel von 45" treffen.
Die entstehenden Röntgenstrahlen verlassen die
Röhre aus einem seitlich angebrachten Fenster,
das mit dünner Aluminiumfolie verschlossen ist.
Das Evakuieren geschieht mittels Gaede-Pumpe.
Seh.
Astronomie. Den sehr seltenen Vorübergang
des Saturnringes vor einem Stern hat Ainslie
beobachtet und (Monthly Not. März 191 7) be-
schrieben. Der Stern, 7 Gr. und von goldgelber
F'arbe, erschien durch den Ring gesehen stark ge-
schwächt, auf etwa '1^ seiner Helligkeit und von
etwas verwaschenem Aussehen. Durch die Cassini-
sche Teilung gesehen erschien er wesentlich
heller, um dann hinter den äußeren Ring zu
wandern. Dieser Ring ist durchsichtiger als der
zweite, auch gleichmäßiger im Gefüge, da die
Helligkeit des Sternes hier nicht schwankte. Erst
kurz vor dem äußeren Rande trat eine Verände-
rung der Helligkeit für ein paar Sekunden ein,
beim Austritt selber ließ sich durch etwa 10 — 15
Sekunden eine langsame Zunahme der Helligkeit
bis zum früheren Glänze des Sternes beobachten.
Aus diesen Beobachtungen läßt sich entnehmen,
daß die allgemein gültige Annahme, die Ringe
seien nichts anderes als geschlossen um den Saturn
kreisende kosmische Wolken, Meteormassen, richtig
ist. Zwischen den einzelnen Körperchen kann
immer noch etwas Licht hindurch, ferner müssen
die Körperchen nicht sehr nahe aneinander sein,
da diese Durchlässigkeit trotz der Dicke des Ringes
von ein paar lOO km möglich ist. Der äußere
Ring ist weniger dicht wie der zweite, und die
dazwischen liegende Trennung, die Cassini'sche
Teilung, ist nicht ganz leer, sondern nur sehr dünn
mit Meteoren belegt. Es paßt dies auch gut zu-
sammen mit der aus den Messungen sich ergeben-
den Tatsache, daß die Teilungen nicht immer an
derselben Stelle stehen, sondern ihren Ort ändern,
wohl infolge der störenden Einflüsse der großen
Monde auf die Meteorschwärme, ähnlich wie sich
im System der kleinen Planeten Lücken zeigen,
die der Wirkung des Jupiter entsprechen.
Riem.
Ein neues Ergebnis über den Bau des Universums
hat S. Oppenheim (in den astronom. Nach-
richten Nr. 4896) abgeleitet, das in mancher Hin-
sicht bemerkenswert ist. Nachdem er schon früher
die Eigenbewegungen der Sterne mit den auf einen
bestimmten Moment bezogenen Eigenbewegungen
der kleinen Planeten verglichen hatte, und gezeigt
hatte, daß man rein rechnerisch aus diesen die Lage
der Ekliptik erhalten kann, und ebenso die Rich-
tung Erde— Sonne für denselben Zeitpunkt, ermit-
telte er aus den Eigenbewegungen der Sterne eines
bestimmten Typus in Länge und Radius die Rich-
tung des idealen Zentralpunktes des Sternsystems
und den Apex der Sonnenbewegung. Die weiteren
Arbeiten ergeben nun, daß es unter den Sternen
mehrere Schwärme gibt, deren Ebenen alle parallel
der Milchstraße verlaufen, und deren zentrale
Hauptebene mit der Milchstraße ungefähr zusam-
menfällt und den Sonnenort enthält. Es gibt da-
her nicht, wie bei den Planeten, ein einziges Zentrum,
der Sonne vergleichbar, sondern nur eine Zentral-
achse, die die Zentra der einzelnen Schwärme
enthält, und die auf der Ebene der Milchstraße
senkrecht steht. Offenbar ist damit die Annahme
sehr nahegelegt, daß wir hier eine allgemeine
Rotation des gesamten Himmels um diese Achse
angedeutet sehen. Damit wäre also ein neuer
Beweis für die Einheitlichkeit des Universums er-
bracht. Ob freilich dies in der Tat sich so ver-
hält oder ob nicht vielleicht das Universum ein
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
549
mechanisches System von Körpern ist, das durch
gewisse innere Kräfte zusammengehalten wird, das
ist nach Oppenheim eine zurzeit nicht ent-
schiedene Frage, zu deren Beantwortung auch
andere Methoden herangezogen werden müssen.
Riem.
Hygiene. Professor Dr. K. Escherich
Professor der angewandten Zoologie in München
hatte auf seiner Studienreise durch die Vereinigten
Staaten (191 1) erfahren, daß man dort mit bestem
Erfolg zur Vertilgung der schädlichen Insekten
Blausäuredämpfe als wirksames Bekämpfungsmittel
anwendet. Es war naheliegend, aus den guten Er-
fahrungen, die man bei der Vertilgung der Schäd-
linge in Amerika macht, auch bei der Bekämpfung
der Läuseplage im gegenwärtigen Weltkrieg
Nutzen zugehen. Der Obengenannte widmet
der F"rage eine Abhandlung: „Blausäure als Ent-
lausungsmittel" in der von ihm herausgegebenen
Zeitschrift für angewandte PLntomologie (Bd. III,
Heft 3, 1916) und empfiehlt das Verfahren für
die Reinigung geschlossener Räumlichkeiten, etwa
von Lazarettzügen; das Verfahren sei äußerst
einfach auszuführen, billig und sehr wirksam. Ein
besonderer Vorzug liege darin, daß keine nicht
gewollten Nebenwirkungen, wie etwa die Oxyda-
tion von Metallteilen an Instrumenten, Waffen etc.
zu befürchten seien. In Deutschland befasse sich
mit dem Verfahren erfolgreich die Gold- und
Silberscheideanstalt in Frankfurt a. Main. Man
verfahre folgendermaßen : Zunächst wird der
Wagen gründlich abgedichtet, eventuell indem
man die Türspalten mit Papierstreifen überklebt.
„In eine auf den Boden des Wagens gestellte,
nicht zu flache Porzellanschale oder in einen Ton-
krug wird zuerst das Wasser eingegossen und
hierauf Schwefelsäure langsam zugegeben. Ein
zu schnelles Einschütten hätte zu starke Erwärmung
zur Folge und könnte das Zerspringen des Gefäßes
verursachen. Ist auf diese Weise eine verdünnte
Säure hergestellt, so wird möglichst rasch, solange
die Lösung noch heiß ist, Cyannatrium eingetragen,
worauf die Blausäureentwicklung beginnt. Es ist
deswegen nach Zugabe des Salzes der Wagen
sofort zu verlassen. Die Reihenfolge, in welcher
die Chemikalien unbedingt gemischt werden
müssen, ist also; Wasser, Schwefelsäure, Cyan-
natrium. Nach einer Räucherungsdauer von " ^
bis I Stunde werden die Türen der Wagen wieder
geöffnet. Das darin befindliche Gas verflüchtigt
sich so schnell, daß schon nach einer halben
Stunde der Wagen betreten und wieder in Ge-
brauch genommen werden kann. Die Rückstände
in den Schalen und Tonkrügen sind ebenfalls giftig
und werden am besten in einer Grube mit Erde
bedeckt." Wenn man die Anwendung der Me-
thode wegen der großen Giftigkeit der Blausäure
scheue, so weise er darauf hin, daß in Nordamerika
trotz des großen Umfanges der Anwendung von
Blausäureräucherungen im Laufe von mehreren
Dezennien kein einziges Menschenleben an dadurch
verursachter Blausäure Vergiftung verloren ging;
allerdings würde das Verfahren dort von völlig
damit vertrauten Leuten ausgeführt. Die Kosten
sind verhältnismäßig gering. Der Preis für 100 kg
Cyannatrium stellt sich auf 220 M. (bei größerer
Menge noch billiger); und für einen Kubikmeter
Rauminhalt werden nur 10 g benötigt (außer
15 ccm Schwefelsäure und 20 ccm Wasser).
Kathariner.
Paläontologie. Die Lichadiden des Eifler
Devons. Unter den 4 Lichasarten'j, die aus dem
Eüler Devon durch die schönen Untersuchungen
von Rud. und E. Richter bekannt geworden
sind (Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie
und Paläontologie 1917, i. Bd. 2. Heft), verdient
LichasarmatusGoldf, jener seltsame Trilobit
mit seiner abenteuerlichen Gestalt, unser ganz
besonderes Inteiesse. Die Art wurde von Goldfuß
auf Grund von spärlichen Bruchstücken rekon-
struiert und später durch Beyrich und Barrande
etwas berichtigt. Die erste gute Abbildung gab
Broili in Zittel, Grundzüge der Paläontologie 1915
F. 1359 S. 622, indessen sind die charakteristischen
Leuchtturmaugen, welche nach Ansicht der Ver-
fasser in dieser Figur den Eindruck von ge-
bogenen Panzerhörnern machen und darum auf
Augenlosigkeit schließen lassen, auf Grund der
neueren Untersuchungen von Richter nicht
richtig wiedergegeben. Heute liegen durch die
meisterhaften und sehr geschickten Präparations-
und Gewinnungsmethoden der Herren Dohm
und Drehling in Gerolstein wahre Prachtpanzer,
ja die vollkommensten Trllobitenpräparate der
Welt vor. Sie entstammen den GeeserTrilobiten-
feldern , wo ungemein günstige Ablagerungsbe-
dingungen selbst die empfindlichsten Zierate unver-
sehrt erhalten haben. Das Sediment ist von
außerordentlicher I'^einheit und ruhig abgesetzt
worden, so daß die Trilobitenpanzer häufig
in ungestörtem Zusammenhange sich finden. Ein
ganzer Lichas armatus mit all seinen sperrigen
Hörnern ist anderswo überhaupt noch nicht be-
kannt geworden.
Was die Deutung der überreichen Hörner-
bildung auf dem Kopf- und .Schwanzschild an-
belangt, so kann die biologische Wirkung dieser
langen von der Panzeroberseite nach allen Rich-
tungen des Raumes ausstrahlenden Stacheln ent-
weder in einer Verteidigungsbewaffnung oder in
einer Bewegungserleichterung oder in beidem zu-
sammen gesucht werden. Im Verteidigungszustande
konnten die Schwebestachehi durch Vermehrung
des Sinkwiderstandes die Ruderarbeit der Beine
beim Schwimmen entlasten.
Lichas armatus kommt im Eifler Mitteldevon
>) Die Galtung Lichas enlhält nach B ro ili-Zittel, Grund-
züge der Paläontologie S. 622 in Lichas Kibeiroi Delg. aus
dem unteren Silur von Portugal und Frankreich den größten
bekannten Trilobiten.
S50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
von der Cultrijugatusstufe bis in das Hangende
der Calceolastufe, außerdem noch in Belgien vor.
V. Hohenstein.
Forstwirtschaft. Wildschaden durch Fasanen.
Nicht nur das jagdbare Haarwild verursacht in
WaldundFeldmancherleiSchaden,')auchdasVVirken
des jagdbaren Federwildes ist häufig be-
sonders auf den dem Walde benachbarten Feldern
zum Nachteil des Landwirtes zu verspüren. Hier
sind es vor allem die Fasanen, welche durch
das Abpicken der Blattspitzen vom jungen Getreide,
vom Klee oder Kohl oder durch das Aufscharren
des eben besäten Ackerbodens Grund zu Klagen
bieten. Kein einsichtsvoller Jagdbesitzer wird be-
streiten, daß dadurch von den Fasanen manches
Unheil gestiftet wird. Aber in vieler Beziehung
sind die Fasanen doch besser als ihr Ruf. Wenn näm-
lich behauptet wird, daß sie sich im Sommer
größtenteils durch das Abäsen von Körnerfrüchten
nähren, so schießt diese Anklage weit über das
Ziel hinaus. Um einen einwandfreien Nachweis
über die Nahrung der F"asanen zu erbringen, wurden
auf Veranlassung eines höheren Forstbeamten in
einem bayrischen Revier, in dem einer Gemeinde-
verwaltung auf ihre Beschwerde wegen schwerer
Schädigungen durch Fasanen der Abschuß von
lOO Vögeln genehmigt worden war, von dem k.
Förster Ennerst in .A. in der Zeit vom i. August
bis 12. September des vergangenen Jahres 93 Fasanen
auf ihren Kropfinhalt untersucht (Deutscher
Jäger, 39. Jahrg. 1917, Nr. 18). Die Unter-
suchungen ergaben, daß von den 93 Fasanen, die
alle in der unmittelbaren Umgebung der angeblich
so schwer beschädigten Feldfluren erlegt worden
waren, nur 43 Stück — das sind 46 "/o — über-
haupt Getreidekörner im Kropf hatten; bei der
Mehrzahl davon waren nur einige wenige Körner
zu entdecken, im höchsten Falle betrug die Ge-
treidekörnermenge 73 des gesamten Kropfinhaltes.
Dabei ist weiterhin zu bedenken, daß es sich bei
dieser geringen Körnermenge voraussichtlich
nur um Getreidekörner handelt, die bei der
Nahrungssuche mit vom Boden aufgepickt
wurden, also um ausgefallenes Getreide, das für
den Landwirt sowieso verloren gewesen wäre.
Diese Annahme gewinnt dadurch an Wahrschein-
lichkeit, daß die im Kropf der Fasanen festgestellten
Getreidekörner hauptsächlich solchen Getreidearten
angehörten, welche an der Fundstelle schon abgemäht
waren. Auf den Stoppelfeldern hatten dann die
Fasanen Nachlese gehalten. Neben diesen geringen
Körnermengen fanden sich als überwiegender Kropf-
inhalt viel Unkrautsamen — die Carexarten, Hirse-
gräser, Knöterich und Wachtelweizenarten gelten
als beliebte Nahrungspflanzen der Fasanen — ver-
schiedene Insekten (besonders viele Heu-
schrecken), Schnecken, denen die Fasanen ja
') Vgl. hierzu meinen Bericlit „Verhinderung von Wild-
schäden im Walde" in Naturw. Wochenschr. N. F. 15. Bd.
S. 704.
bekanntlich eifrig nachstellen, und verschiedene
Wild- vor allem Himbeeren. Die Vertilgung
vieler Schadinsekten und Schnecken mildert gewiß
in mancher Hinsicht den Schaden, den die Fasanen
zugestandenermaßen verschulden. Immerhin wäre
es wünschenswert, wenn derartige Kropfunter-
suchungen künftig immer und immer wieder
angestellt würden, damit es allmählich gelänge,
die Legende von der übermäßigen Schädlichkeit
der Fasanen der Übertreibung zu überführen.
H. W. Frickhinger.
Die Schädlichkeit der Amsel. Noch vor wenigen
Jahrzehnten war die Amsel ein reiner Waldvogel,
der sich nur ungern in die Nähe menschlicher
Behausungen wagte. \) Erst durch die allmählich
immer gründlicher werdende Durchforstung unserer
Wälder, die das den Amseln vornehmlich als
Brutgelegenheit dienende Gesträuch nicht mehr
dulden wölke, wurde die Amsel stetig mehr in
die Nähe städtischer Parks und Anlagen gedrängt.
Gerade dort fand sie ja, was ihr im Walde immer
mehr zu fehlen begann, dichte Hecken und
Sträuchergruppen, in denen sie nisten konnte.
Daß vielleicht auch für manche Gegenden, wie
es Liebe (Ornithologische Schriften S. 314/15)
für Thüringen angibt, die immer weitere Ver-
breitung der Anpflanzung von wildem Wein und
Schneebeerensträuchern, deren Früchte die Amsel
sehr bevorzugt, mitgewirkt haben mag, die Amsel
in der Nähe der Menschen festzuhalten, mag wohl
zutreffen, verallgemeinern werden sich diese Be-
obachtungen aber sicher nicht lassen. So weist
sie W. Hennemann (Ornithologische Monats-
schrift 42. Jahrg. 1917 Nr. 6) für das Sauerland
ausdrücklich zurück. Wie dem aber auch sei, die
Tatsache jedenfalls steht fest, daß die Amsel stetig
mehr aus dem Walde ab und in die Nähe der
menschlichen Wohnorte zieht. Je mehr nun
diese Wandlung sich vollzog, desto lauter ertönten
die Klagen über den Schaden, den die Vögel in
den Obstgärten einmal durch die Vertilgung von
Beeren- und feinerem, saftigem Baumobst und von
Gemüse und dann auch durch die Vernichtung
kleinerer nützlicher Singvögel, wie Rotkehlchen,
Rotschwänzchen und Grasmücken verursachen.
Diese Klagen zahlreicher Obstgartenbesitzer sind
von anderen, allerdings zumeist unbeteiligten Be-
obachtern nicht unwidersprochen geblieben, so
daß es sich lohnt von einem Überblick Kenntnis
zu nehmen, den Prof Dr. L. Reh im „Praktischen
Ratgeber für Obst- und Gartenbau" (32. Jahrg.
1917 Nr. 8) über die „Amselfrage" gibt: im Walde
ist die Amsel ohne Frage ein nützlicher Vogel;
nährt sie sich doch zumeist von Insekten, von
Schnecken und Würmern. Die Wildbeeren, die sie
daneben noch verzehrt, fallen ihrer animalischen
Nahrung gegenüber kaum ins Gewicht. Auch die
Amsel, die sich öffentliche Anlagen und Ziergärten
') Vgl. dazu meinen Bericht „Krammelsvogelfang im
Dohnenstieg" im heurigen Jahrg. dieser Zeitschrift (S. 318).
N. F. XVI. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
551
zu ihrem ständigen Aufenthalt erkoren hat, stiftet
primär, d. h. so lange an ihrer ursprünglichen
Nahrung kein Mangel besteht, keinen merkbaren
Schaden. Erst wenn die Zahl der Vögel sich
stark erhöht und ihre Nahrungsquellen dadurch
knapper werden, können die Amseln zu ausge-
sprochenen Schädlingen werden; sie spüren dann'
den Nestern kleinerer Singvögel nach, aus denen
sie die Eier sowohl wie die Jungen rauben. Die
Amsel endlich, die in den Nuizgärtnn mit Edel-
obst oder gar in Weinbergen sich einnistet, wird
in den allermeisten Fällen ziemlich bald durch
ihre verheerende Tätigkeit in den Obstkulturen
(Erdbeeren, Johannis- und Stachelbeeren, Kirschen,
Pflaumen, Birnen usw.) und an den Rebenpflanzen
auffallen und sich immer mehr zu einer lästigen
Plage entwickeln. Dabei ist allerdings darauf hin-
zuweisen, daß dieser Schaden durch den Nutzen,
den die Amseln durch die Vernichtung zahlreicher
Schadinsekten (Schnaken- und HaarmückenJarven,
Drahtwürmer usw.) stiftet, wieder einigermaßen
verringert wird. Immerhin, die Tatsache ist nicht
zu leugnen: in Nutzgärten undWeinbergen
kann dieAmsel zu einem großenSchäd-
ling werden, deren Beseitigung — im Winter
durch Abschuß, im Sommer durch Vernichtung
der Brut — für den Obstgartenbesitzer geradezu zu
einer Notwendigkeit werden kann, wenn er seine
Kulturen vor der Vernichtung bewahren will. Mir
haben Münchener Nutzgartenbesitzer geklagt, daß
sie in ihren Gärten bestimmte Kulturen, vor allem
Erdbeerpflanzungen, einfach aufgeben mußten, weil
es ihnen nicht gelang, der Amsel Herr zu werden.
Da es nun eben ein wirksames Mittel, die Amsel
an der Vernichtung gewisser Edelobslkulturen zu
verhindern, nicht gibt, wird man es den von ihr
heimgesuchten Gartenbesitzern nicht verübeln
dürfen, wenn sie diesen vom Standpunkt des
Naturfreundes aus ja sehr reizvollen Vogel im
Bereich ihres Besitzes unter keinen Umständen zu
dulden gewillt sind. H. W. Frickhinger.
Anregungen und Antworten.
„Kant und Herder als Vorläufer Weismann s."
Zu den unter obigem Titel in Nr. 16 der Naturw. Wochenschr.
abgedruckten Ausführungen W. May 's gestatte ich mir darauf
hinzuweisen, daß lange vor den Tagen Kan t 's und H er d er 's
schon ein Naturforscher, und zwar kein geringerer als
Aristoteles, die Weism an n 'sehen Forschungsergebnisse
intuitiv vorausgeahnt hat. Auf der im Juli 1916 zu Christiania
abgehaltenen Naturforschcrversammlung zeigte einer der be-
deutendsten nordischen Gelehrten, Prof. W. Johannsen aus
Kopenhagen , zum ersten Male diese Tatsache der Über-
einstimmung zwischen den Ideen Aristoteles' und Weis-
mann's in bezug auf die Vererbungslehre auf, indem er
darauf aufmerksam machte, daß bereits Aristoteles die
Anschauung vertreten habe, der menschliche Körper baue
sich aus Samenzellen auf, lasse aber bei dieser Arbeit stets
einen Teil unverbraucht (ind somit zur Vererbung für die
nächste Generation frei.
Bei Aristoteles, dem ebenso scharfen Naturbeobachter
wie Denker, stehen zu Anfang noch mehrere Auffassungen
der Vererbung nebeneinander. Auf drei Punkte stützte er
sich bei Aufstellung seiner Vererbungstheorie: einerseits wies
er auf den unüberwindlichen Unterschied zwischen den ein-
zelnen Menschen hin, andererseits hatte er beobachtet, daß
„dennoch die Erziehung es vermag, die Natur zu ändern",
und drittens, daß man vermittels Kreuzung die verschiedenen
Eigenschaften modifizieren kann.
Die ältere griechische Auffassung ging dahin, daß der
Vater der einzige Erblasser im biologischen Sinne sei;
Hippokratcs v/ar es , der die Theorie aufgestellt hatte., die
Vererbung beruhe darauf, daß von allen Teilen des männ-
lichen Körpers der Same sich die Eigenschaften sozusagen
zusammenhole, so daß kleine Abbilder der Körperteile in
ihm vertreten seien. Der Anteil der Mutter bestehe lediglich
darin, die Frucht in sich aufzunehmen und ihr zum Wachstum
zu verhelfen. Aristoteles hingegen verfocht die Ansicht,
die in unseren Tagen Weismann mit Hilfe des modernen
wissenschaftlichen Rüstzeugs ausgebaut hat, und die in dem
geflügelten Wort von der Unsterblichkeit der Einzeller und
dem ewigen Leben der Keimzellen — sowohl der Samen-
körperchen wie der Eier — ihren Ausdruck gefunden hat.
Die Keimzellen sterben, nach Weis mann, nicht, sondern
vermehren sich durch Spaltung, und aus ihrer ewig sich er-
neuernden Kette schießen die Menschen auf wie rasch ver-
welkende Schößlinge aus einem immer lebenden Wurzelstock.
Die Anschauung, daß nicht nur der Vater, sondern auch die
Mutler Anteil habe an der Zusammensetzung des werdenden
Wesens, vertritt auch schon Aristoteles. Wenn er auch
nach wie vor den Anteil des Mannes für den eigentlich
schöpferischen, lebengebenden hielt, während er das Weib
mehr als diejenige ansah, die in ziemlich passiver Weise
Material für das Wachsen der Frucht abzugeben hat, so
finden wir hier doch den ersten, lange vor Entdeckung der
Samenkörper im Mikroskop gemachten Anlauf zu der modernen
Auffassung.
Von dieser Vorstellung ausgehend, kommt Aristoteles
zu einer Kritik der Hippokratischen Auffassung und erörtert
mit großem Scharfsinn die Frage, inwieweit die Erblichkeits-
einheiten, wie wir sie nennen würden, aus den verschiedenen
Teilen des Körpers in den Samen zusammenströmen, und in
einer späteren Schrilt nimmt er ausgesprochen Stellung für
eine vollständige Kontinuität der Keimzellen. Hier treffen
seine Anschauungen wiederum mit denen Weismann' s zu-
sammen, der ja bekanntlich in dieser Kontinuität einen der
wichtigsten Faktoren der modernen Vererbungslehre aufgestellt
hat. Nach Weismann 's Theorie bilden nur die in den
Geschlechtsdrüsen zurückgebliebenen .Anlagen den Ausgangs-
punkt und Bestand für die Eigenschaften des nächsten Ab-
kömmlings. Diejenigen Anlagen hingegen, die sich von den
Keimzellen abspalten und in den (Jrganismus übergehen,
verschwinden mit dem Individuum; die Eigenschaften, die das
Individuum während seiner Entwicklung erwirbt, können
ebensowenig vererbt werden. — Prof. Johannsen hat, wie
erwähnt, die Übereinstimmung zwischen den Lehren des
Aristoteles und Weismann's zum ersten Male aufge-
deckt. Wohl waren im Verlauf des vorigen Jahrhunderts die
gleichen Ideen noch einmal aufgetaucht — bei Golds on — ,
von einer Beeinflussung beider Forscher durch Aristoteles'
Hypothesen ist jedoch nichts bekannt geworden. M. K.
Zwei Erdbebenursachen von anscheinend noch unbeach-
teter Möglichkeit. Gelegentlich einer Mitteilung über elek-
trische Erscheinungen bei Erdbeben (S. 736 d. vor. Jahrg. d.
Ztschr.) wies ich auf die Möglichkeit hin, daß in der Erd-
kruste eingeschlossene umfangreichere Luftmengen, in sogenann-
ten Hohlräumen, Gewitterbildung zulassen so oft sich hin-
reichende elektrische Potentiale angesammelt haben, wozu dort
keine ungünstigeren Bedingungen, als in Luflmeere außerhalb
der Erdkruste, gegeben sein mögen, — im Gegenteil, manch-
mal sogar günstigere, die entsprechend heftigere Gewitter
auslösen, verbunden mitErschütterungen der umliegenden festeren
Erdkrustenteile, bis zur äußeren Erdoberfläche, wo sie sodann
als Erdbeben empfunden werden.
Das Vorkommen von Massendefekten in der Erdkruste
552
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 39
gestattet nun aber noch
eine weitere Möglichkeit,
auf die hier meines
Wissens ebenfalls zum
ersten Male, als versuchs-
weise denkbare Ursache
von Krdbeben, hinge-
wiesen sei : Wir kennen
Gegenden der Erdober-
fläche , wo vulkanische
Ausbrüche, einst nichts
Seltenes, seit vielen Jahr-
tausenden nicht mehr zu-
tage traten, die aber heute
Erdbebenzentren sind.
Gemeldete Beobachtun-
gen aus solchen Gegen-
den scheinen mir nun die
Frage zu gestatten , ob
dort immerhin auch heute
noch vulkanische Wir-
kungen fortdauern, deren
Ausbrüche nur nicht nach
außen, sondern nach
innen, in die Massen-
defekte der Erde hinein,
gerichtet sind, so, bei-
spielsweise, in lufi- oder
wassergefüllte Kavernen,
unter, neben oder über
dem Vulkanherd, ein-
dringend. Namentlich die
reichliche Wasserüber-
deckung der Ausbruchs-
stelle in der Kaverne
könnte, will mir scheinen,
sehr wohl in Betracht
kommen als wirksame
Vorbedingung für eine
merkliche Erschütterung
der Erdkruste, bis zur
äußeren Erdoberfläche,
wo sodann auch der
endovulkanische Aus-
bruch sich als Erdbeben
bemerkbar macht.
Ganz besonders
könnte dabei gefragt
werden, ob nicht in sol-
chen Kavernen die sehr
bedeutende Masse der
überlagernden Schichten
den Abfall des Gravita-
tionspotentials weniger
steil macht, als er bloß
unter Atmosphärendecke
ist, so daß in den Ka-
vernen größere Massen
durch geringere Kräfte
bewegt werden, als an
unserer Erdoberfläche,
— wo demgemäß bei-
spielsweise die Gezeiten-
erscheinung sich auf-
fassen ließe, als ermög-
licht durch vorüber-
gehende partielle Paraly-
sirung der irdischen
Schwerkraft seitens der
Lunargravitation und da-
raufhin verursacht
durch eine intermittirend
frei werdende Kompo-
nente der ,, Schleuder-
kraft" in den plastischen
Schichten des rotirenden
Erdkörpers.
J. J. Taudin Chabot.
Sie
mm
is^etftnttiiditt itw^
dmudunXanM
Literatur.
Dem oll, Prof. Dr.
R., Die Sinnesorgane der
Arthropoden, ihr Bau und
ihre P'unktion. Braun-
schweig '17, Fr. Vieweg
& Sohn. — 10 M.
Schuster, PastorW.,
Die Tierwelt im Welt-
kriege. Heilbronn, A.O.
Müller. — 1,25 M.
Inhalt: E. Hennig,
Untersuchungen mit der
Wünschelrute.! I Abb.)
S.537. — H.W.Frick-
hinger. Die deut-
schen Seidenbaubestre-
bungen und das Pro-
blem der Schwarzwur-
zelfütterung. S. 541.
— Einzelberichte :
Stremmc, Über die
geologischen Ursachen
der Zerstörung von Tal-
sperren. S. 545. J.
O f fe r mann, Beiträge
zur Geologie der Ko-
lonie Neupommern.
S.546. O.Greulich,
Die Kreolen. S. 546.
Bardachzi u. Zol-
ta n , Mitteilungen über
das auffallend häufige
V'orkommen der Faden-
würmer (Nematoden)
als Darmschmarotzer
des Menschen im Osten,
besonders in Wol-
hynicn. S. 547. H.
Rausch V. Trau-
be nberg, Röntgen-
röhre, die auf ver-
hältnismäßig einfache
Weise gestattet nach-
einander die Röntgen-
spektren verschiedener
Metalle zu untersuchen.
S.548. A ins He, Vor-
übergang des Saturn-
ringes. S. 548. S.
Oppenheim, Bau
des Universums. S. 548.
K. Escherich, Be-
kämpfung der Läuse-
plage. S. 549. R. u.
E. Richter, Die
Lichadiden des Eifler
Devons. S. 549. En-
nerst, Wildschaden
durch Fasanen. S. 550.
L.Reh, Die Schädlich-
keit der Amseln. S. 550.
— Anregungen und
Antworten: Kant und
Herder als Vorläufer
Weismann's. S. 55 1.
ZweiErdbebenursachen
von anscheinend noch
unbeachteter Möglich-
keit. S. 551.
IWAni.sk-, pie und Zu-
schriften werden an Prof.
Dr. H. Mi ehe, Berlin
N 4, Invalidenstraße 42,
erbeten.
Verlag von
Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen
Buchdr. Lippert & Co.
G. ra. b. H.,
Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 16. B
:r ganzen Reihe 32
Sonntag, den 7. Oktober 1917.
Nummer 40.
Gehört die Psychologie zu den Naturwissenschaften
Von Dr. Aloys Müller.
Die Frage, ob die Psychologie zu den Natur-
wissenschaften gehört, hat man vielfach von einem
prinzipiellen Standpunkte aus zu beantworten
gesucht. Im allgemeinen sind dabei zwei gegen-
sätzliche Auffassungen hervorgetreten. Die eine
betrachtet die Psychologie von vorneherein als
philosophische Disziplin. Anstatt den Tatbestand
der Erfahrung unbefangen hinzunehmen und zu
durchforschen, läßt sie sich von populären Ge-
danken oder von erkenntnistheoretischen Sonder-
interessen zu einer Konstruktion der Psychologie
verleiten, die mit Metaphysik anfängt und endigt.
Sie legt natürlich Sternenweite Unterschiede zwi-
schen Psychologie und Naturwissenschaft. Die
zweite Auffassung erklärt alles Psychische physio-
logisch. Psychisch ist ihr nur ein Wort, ein Name,
den man im populären Sprachgebrauch dulden
kann. Sie ; muß ebenso selbstverständlich die
Psychologie zur Naturwissenschaft schlagen.
Beide Standpunkte sind heute in der wissen-
schaftlichen Psychologie durchschnittlich über-
wunden. Heute will man wissen, wie das psychische
Leben in Wirklichkeit aussieht, und hat jedenfalls
soviel erkannt, daß es, rein phänomenologisch be-
trachtet, ein Geschehen sui generis und mit dem
physischen Geschehen unvergleichbar ist. Die
heutige psychologische Wissenschaft hat den prin-
zipiellen, konstruierenden Standpunkt verlassen.
Es fragt sich nun, ob in ihren Augen die Psycho-
liogie zur Naturwissenschaft zu rechnen ist oder
nicht. Die folgenden Ausführungen wollen die
Antwort geben.
I.
Die Geschichte zeigt einen bestimmenden
Einfluß der Naturwissenschaft auf die heutige
Psychologie.
Es ist vielleicht ein Irrtum, die Entstehung der
Psychologie ganz auf die Einwirkung der Natur-
wissenschaft zurückzuführen. Bei der Geburt einer
Wissenschaft wirken so viele Motive, oft dem
äußeren Blick verborgen, zusammen, daß man
selten eines allein verantwortlich machen kann.
So mag die Voraussetzung für die Möglichkeit
einer wissenschafdichen psychologischen Arbeit in
dem langsamen Wandel und der Konzentration
des Denkens gelegen sein, die sich, u. a. von
Kant und dem deutschen Idealismus genährt, im
Anfange des 19. Jahrhunderts vollzogen. Ein
eigenartiges Spiel von Motiven begann damals.
Indem die genannten Einflüsse, vor allem durch
die gründliche (wenn auch einseitige) Überwindung
der Lehre vom inneren und äußeren Sinn und
durch die Heraushebung des Subjektiven in der
Erfahrung, den Sinn vom Äußeren aufs Innerliche,
Geistige wandten, riefen sie das Interesse an der
P.sychologie wach und schufen auch die Voraus-
setzung für ein besseres Verständnis des Charakters
des Psychischen. Dieselbe Philosophie aber, aus
der ein Teil dieser Wirkungen hervorging, weckte
als Gegensatz zu ihrer willkürlichen Phantasie-
konstruktion der Wirklichkeit den naturwissen-
schaftlichen Tatsacheninstinkt, der die Natur-
wissenschaft gegen Ende der ersten Hälftes des
genannten Jahrhunderts zu einer gewaltigen Höhe
zu erheben begann. Sobald aber dieser Tatsachen-
sinn wieder zum Bewußtsein erwacht und erstarkt
war und sich auszuwachsen begann, wirkte er
seinerseits bestimmend auf das gerade aus dem
Schlummer sich erhebende Interesse für psycho-
logische Dinge ein, das teilweise von denselben
Motiven positiv ausgelöst worden war, die ihn
selber negativ ausgelöst hatten.
In dreifacher Hinsicht ist der Einfluß der
Naturwissenschaft erwähnenswert. Einmal wurde
der Geist jetzt entschieden auf die Tatsachen, auf
Erfassung der Wirklichkeit, auf Empirie gerichtet.
Die Wirklichkeil ist da und muß erforscht werden ;
sie wird nicht a priori konstruiert. F'ürs zweite
wurden die Forschungsmethoden und ihre Hilfs-
mittel aufs Feinste ausgebildet. Fürs dritte end-
lich hat einer der größten naturwissenschaftlichen
Gedanken, der damals bewußt formuliert wurde,
tief eingewirkt: ich meine das Energieprinzip.
Und zwar mittelbar und unmittelbar: mittelbar,
indem es die biologischen und physiologischen
F"orschungen förderte, unmittelbar, indem es eine
umfassende gesetzmäßige Natureinheit zu verbürgen
schien. Man wird heute das letztere vielleicht
nicht ganz verstehen, wie es ja überhaupt schwer
ist, bei veränderten Lagen die Wirksamkeit histo-
rischer Motive zu würdigen. Aber man braucht
nur den V.Abschnitt in F"echn er's „Elementen
der Psychophysik", einem der ersten wissenschaft-
lichen Werke der I^sychologie, einzusehen, um den
gewaltigen Einfluß zu fühlen, den das Energie-
prinzip auf die Konzeption der Psychophysik aus-
geübt hat. Gewiß spielen auch hier wieder Ge-
danken allgemeinerer, philosophischer Art hinein.
Aber es ist bei der Entwicklung der Naturwissen-
schaft nicht anders gegangen.
Von ganz besonderem Einfluß war unter den
Naturwissenschaften die Physiologie, und deshalb
muß ihr ein eigenes Wort gewidmet sein. Sie
machte auf die umfassende Bedingtheit des Psy-
chischen durch das Physiologische aufmerksam.
Durch sie wurde eine Menge von neuen Tatsachen
und Zusammenhängen entdeckt und von bekannten
S54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
verständUch. Ihre Methoden wurden direkte Vor-
bilder für die psychologische Forschung. Der
Name von Helmholtz allein mag an die Be-
deutsamkeit der Berührung von Physiologie und
Psychologie erinnern. Helmholtz war dabei
außerordentlich behutsam. Er sagte sogar einmal,
er wolle die Erscheinungen des Sehens lieber auf
die tatsächlich vorhandenen, wenn auch noch un-
erklärten einfachen psychischen Tätigkeiten auf-
bauen als auf Hypothesen über die Einrichtung
des Nervensystems und die Eigenschaften der
Nervensubstanz. So dachte man nicht immer. Der
Einfluß der Physiologie war so mächtig, daß das
berechtigte Suchen nach der Gebundenheit der
Seele an das Gehirn, wie in den einleitenden
Worten schon angedeutet, in den prinzipiellen
Standpunkt einer dogmatischen physiologischen
Metaphysik umschlug, die zwar heute im
wesentlichen überwunden ist, deren Nachwir-
kung aber auf einzelnen Gebieten immer noch
verspürt werden kann. Erst die letzten Jahre
haben die Einführung psychologischer Gesichts-
punkte in Forschungsbezirke gebracht, wo bis
dahin unbestritten die Physiologie die Herrschaft
hatte; so haben wir noch nicht lange erst eine
Psychologie der Raumwahrnehmung des Auges,
den Versuch einer psychologischen Gedächtnis-
hypothese u. a.
Schließlich ist noch ein naturwissenschaftlicher
Gedanke von großer Bedeutung für das Wachs-
tum der Psychologie geworden, nämlich der erst
von Darwin im vollsten Umfang in die Wissen-
schaft eingeführte Entwicklungsgedanke. Unter
seinem Einfluß entstanden Kinder- und Tierpsy-
chologie, und zur Entwicklung der Völkerpsychologie
hat er Großes beigetragen.
II.
Unter diesem Einfluß mußte die Psychologie
werden, was sie geworden ist, eine Tatsachen -
wissenschaft. Damit nahm sie auch dieselbe
Stellung zur Erkenntnistheorie ein, die die Natur-
wissenschaft sich errungen hatte: sie wurde er-
kenntnistheoretisch neutral.
Es ist richtig, daß die Philosophie an der Ent-
stehung und Entwicklung von Naturwissenschaft
und Psychologie beteiligt gewesen ist. Es ist
richtig, daß gewisse philosophische Anschauungen
für ein naives Denken in Naturwissenschaft und
Psychologie naheliegen und auch oft als nahezu
selbstverständlich betrachtet wurden. Es ist richtig,
daß wohl schwerlich ein Naturwissenschaftler und
Psycholog ohne eine bestimmte philosophische
Auffassung der Dinge der Welt gelebt hat. Aber
ebenso richtig ist es, daß die Wissenschaft
der Natur und des Psychischen von allen philo-
sophischen Weltanschauungen unabhängig ist.
Phänomenologisch ist uns Psychisches und Physi-
sches, jedes in seiner Eigenart, gegeben. Die
Erlebniswirklichkeit zeigt uns physische Dinge
und Vorgänge und psychisches Geschehen. Aller-
dings faßt sie der naive, nicht kritische Mensch
gewöhnlich realistisch. Aber von solchen Deutungen
des Gegebenen müssen wir hier absehen. Der
Erlebniswirklichkeit unterliegt jeder Erkenntnis-
theoretiker seine Auffassung. Sie ist also mit
keinem dieser hunderterlei Standpunkte in der
Weise notwendig verbunden, daß von ihr ein
Weg zu einem von ihnen hinführte. Sie ist Aus-
gangspunkt und Endpunkt für alle Formen des
kritischen Denkens.
Ein Beispiel mag meine Meinung über diese
Dinge ganz deutlich machen. Als einst Galilei
den Kampf um das kopernikanische System kämpfte,
wurde von seinen Gegnern immer wieder der Auf-
und Untergang der Sonne als ein Moment für
Ptolemäus ins Feld geführt. Galilei erwiderte
darauf im Saggiatore mit der folgenden klugen,
aber von seinen Gegnern nie verstandenen Über-
legung: Wenn Kop er n i ku s Recht hat, wie muß
dann der scheinbare Sonnenlauf aussehen? — Ge-
nau so, wie er in Wirklichkeit aussieht. Wenn
Ptolemäus Recht hat, wie muß er sich dann
darstellen? — Gleichfalls genau so, wie er sich
in Wirklichkeit uns darstellt. Also muß zwar
jedes Weltsystem die Wirklichkeit, die wir sehen,
ableiten können, aber diese Wirklichkeit spricht
weder für noch gegen Kopernikus oder
Ptolomäus.
Genau so ist es in unserem Falle. Die Er-
lebniswirklichkeit beweist nichts für irgendeine
Erkenntnistheorie. Sie ist das Rohmaterial, bei
dem alles Forschen einsetzt. Sie genügt auch
der Naturwissenschaft und der Psychologie. Die
erkenntnistheoretische Neutralität dieser Wissen-
schaften ist ein strenger und scharfer Ausdruck
für ihren Erfahrungscharakter oder, wenn man
will, seine notwendige Grundlage. Diese Wissen-
schaften fragen sich nicht, was das „Wesen" des
Physischen und Psychischen sei, ob es „im tiefsten
Grunde" wirklich Verschiedenes oder doch Eines
sei und in welchem Sinne Eines; das metaphysische
„Wesen" eines Dinges ist nichts, das zur Kenntnis
seiner Wirksamkeit innerhalb des Gegebenen auch
nur ein Jota beitragen könnte. Diese Auffassung
hat in der Naturwissenschaft weit mehr ihre Heimat
gefunden als in der Psychologie. Wenn ein Lehr-
buch der Physik es versuchen würde, den Idealis-
mus zu verteidigen, oder zu zeigen, daß der Stoff
aus materia prima und forma substantialis bestehe
oder im Grunde etwas Psychisches sei, so würde
der gesunde Instinkt der Physiker sich dagegen
auflehnen, auch wenn sie die wissenschaftstheore-
tische Unterlagen für ihre richtige Empfindung
nicht geben konnten. Seltsamerweise läßt man
so etwas in der Psychologie noch immer durch-
gehen; es gibt wenige Lehrbücher, die sich davon
frei halten. Aber für uns kommt es ja auch nicht
darauf an, wie die einzelnen Gelehrten darüber
denken, die sich meistens nicht einmal Rechen-
schaft über solche Dinge geben. Sondern wir
suchen das Ideal einer Wissenschaft zu zeichnen,
wie es sich dem heutigen kritischen Denken dar-
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
555
stellt. Und die Wissenschaft ist ja mehr als die
Summe der Gedanken ihrer Vertreter.
Eine Grundlage der Naturwissenschaft und
Psychologie, die der vorstehenden auf den ersten
Blick ähnelt, ist von Mach und neuerdings von
Ziehen (Die Grundlagen der Psychologie. 2 Bde.
191 5) zu geben versucht worden. In Wahrheit
ist sie wesentlich von der unseren verschieden.
Ziehen geht vom Gegebenen aus und versteht
darunter alles, was wir erleben, und so, wie wir
es erleben. Das ist scheinbar unser Ausgangs-
punkt. Dadurch, daß Ziehen aber das Gegebene
in die zwei Klassen der Empfindungen und Vor-
stellungen einteilt, zeigt er, wie wesentlich anders
er es auffaßt. IVIir scheint seine Auffassung schon
eine Deutung des Gegebenen einzuschließen. Denn
niemand erlebt in seiner Wirklichkeit nur Kom-
plexe von Empfindungen und Vorstellungen; das
sagt ihm erst die kritische wissenschaftliche Analyse.
Von dieser Deutung schreitet nun aber Ziehen,
ähnlich wie IVlach, sofort zur Metaphysik. Denn
er behauptet (I, 7), es folge aus dem Begriffe des
Gegebenen, daß die Bildung einer Vorstellung von
etwas, das von dem Gegebenen absolut wesens-
verschieden wäre, unmöglich sei. Das heißt mit
anderen Worten, daß das Gegebene — Empfin-
dungen und Vorstellungen — die Wesensbestand-
teile der Welt darstellt, — und das ist, man mag
es drehen und wenden wie man will, Metaphysik.
Als Beispiel, wie man es nicht machen soll, mag
dieser Ansatz Ziehen 's hier stehen bleiben.
Man darf nun zweierlei an unserer Auffassung
nicht mißverstehen. Erstens ist durch sie die
Theorie der in Betracht stehenden Gebiete gar nicht
ausgeschlossen. Der Physiker entwirft Weltbildermit
Molekeln, Atomen, Ionen, Elektronen, Magnetonen
usw., ohne aufzuhören, erkenntnistheoretisch neu-
tral zu sein. Es war ein Irrtum Mach 's und
ein Zeugnis für seine heimliche Metaphysik, wenn
er zufolge seines „nichtmetaphysischen" Stand-
punktes die Atome usw. verwerfen zu müssen
glaubte; man darf sie natürlich ablehnen, aber die
Ablehnung kann niemals in dem nichtmetaphysisciien
Charakter der Stellungnahme ihren Grund finden.
Der Psycholog kann sich beliebige Bilder von den
psychischen Elementen, ihrem Charakter, ihrer
Zahl, ihren Verbindungen und ihrer Entwicklung
machen, ohne die erkenntnistheoretische Neutralität
seiner Wissenschaft zu verletzen. Ja er braucht
sie sogar nicht zu verletzen, wenn er sich des
psychologischen Parallelismus und der Wechsel-
wirkungstheorie als psychologischer Deutungs-
prinzipien bedient. Sobald ein Forscher einen
metaphysischen Standpunkt einnehmen will, formen
sich seine phänomenologischen Theorien nach
diesem Standpunkte um.
Zweitens leugnet unsere Auffassung nicht, daß
Naturwissenschaft und Psychologie zu philosophi-
schen Problemen führen können und sogar führen
müssen. Man hat in leicht verständlichem Miß-
trauen auf der naturwissenschaftlichen Seite die
Philosophie lange Zeit schief angesehen ; der Nach-
geschmack der S c h e 1 1 i n g ' sehen Naturphilosophie
war noch zu stark. Erst in den letzten Jahrzehnten
hat sich die Anschauung gewandelt. Heute haben,
ohne daß es irgendwie auffällt, Werke, wie die
„Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften",
die „Kultur der Gegenwart" in dem Teil, der die
Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin um-
faßt, die Behandlung philosophischer Fragen vor-
gesehen und zum Teil schon durchgeführt. Ähn-
lich sehen auch zahlreiche Psychologen die Philo-
sophie als ein Gebiet an, wo die docta ignorantia
Herrscherin ist. Auch das ist nach Lage der Dinge
unschwer verständlich, geht aber theoretisch ent-
schieden zu weit, wie man auch heute einzusehen
beginnt. Payot, ein Ribot -Schüler, bemerkt
einmal treffend: die heutige Auffassung schließt
nicht die Psychologie von der Metaphysik, sondern
die Metaphysik von der Psychologie aus.
III.
Eine Folge des empirischen Charakters der
Psychologie ist das Eindringen psycholo-
gischer Betrachtungen in dieTier- und
Pflanzenkunde.
Tierpsychologie ist zwar seit dem Altertum
betrieben worden, bestand aber größtenteils in
oberflächlicher Anlehnung an die menschliche
Psychologie oder in metaphysischen Konstruk-
tionen. Die Tierkunde hatte Recht, wenn sie sich
gegen solche unwissenschaftlichen Versuche wehrte.
Sie hatte allerdings Unrecht, wenn sie in den ent-
gegengesetzten Fehler verfiel und kein Psychisches
anerkennen wollte. Das alles ist in neuerer Zeit
anders geworden. Die Tierpsychologie hat sich,
wie die Psychologie des Menschen, zu einer Er-
fahrungswissenschaft entwickelt, und nun verschließt
sich die Naturwissenschaft ihr auch nicht länger.
In naturwissenschaftlichen Jahrbüchern pflegen Be-
richte über tierpsychologische Arbeiten wieder-
zukehren, naturwissenschaftliche Sammelwerke
scheuen sich nicht, solche aufzunehmen, und in
Lehrbüchfern der Biologie der Tiere findet man
häufig genug psychologische Ausführungen. Man
hat das richtige Bewußtsein, daß zu den Lebens-
äußerungen der Tiere auch die psychischen gehören.
Nicht so günstig steht die Sache in der
Pflanzenkunde. Seit Lamarck hat man immer
wieder psychische Faktoren hinter Äußerungen
des pflanzlichen Lebens finden wollen; nicht immer
mit der nötigen Vorsicht. Erst in der neuesten
Zeit haben diese Versuche einen wirklich wissen-
schaftlichen Charakter angenommen. Trotzdem
die Entwicklungslehre, wie es scheint, zur Aner-
kennung wenigstens des Daseins solcher Faktoren
zwingt, haben sie bei den Botanikern noch lange
nicht dieselbe Liebe gefunden wie bei den Zoologen.
Jedenfalls stellen die besprochenen Verhältnisse
den Anfang eines Ineinanderdringens zweier Wissen-
schaften dar, die bisher weit geschieden waren.
Sie beruhen auf dem Gefühl eines gewissen Zu-
sammengehörens, einer Art von Verwandtschaft,
556
Maturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
sind aber noch nicht der Ausdruck einer klaren
methodischen Einsicht.
IV.
Hat die tatsächliche Entwicklung der Psycho-
logie ihren Charakter als Erfahrungswissenschaft
ganz außer Zweifel gestellt, so ist dieser Charakter
wissenschaftstheoretisch aber erst dadurch
begründet worden, daß man die Struktur der
Psychologie hauptsächlich im Gegensatz zur Logik
— im allgemeinen zu jeder Wissenschaft, die sich
mit Werten beschäftigt — erfassen gelernt hat.
Weil dieser Punkt grundlegend, aber auch schwierig
ist, müssen wir bei ihm etwas länger verweilen.
Eingesetzt hat diese Aufklärung nicht bei der
Psychologie, sondern bei der Logik. Befaßt die
Logik sich mit dem „Denken", so gehört sie eigent-
lich zur Psychologie; denn das Denken geht doch
in unserer Seele vor sich. Andererseits sind die
Verschiedenheiten der beiden Gebiete so augen-
fällig, daß man das eine nicht als einen Teil des
anderen ansehen kann ; um sie zu scheiden, waren
deshalb gezwungene Konstruktionen nötig. Wenn
man Heidegger (Die Kategorien- und Bedeu-
tungslehre des Duns Scotus. 1916) glauben darf,
dann hat Scotus — und vielleicht auch ein
großer Teil der Scholastik — den Sinn der Logik
schon klar erfaßt. Jedenfalls ist aber diese Er-
rungenschaft, wenn sie bestand, vollständig ver-
loren gegangen ; die Überreste der Scholastik, die
sich in die heutige Zeit hinübergerettet haben,
weisen keine Spur eines solchen Verständnisses mehr
auf. Die wissenschaftstheoretische Grundlage der
Logik hat erst das vorige Jahrhundert geschaffen.
Mit Bolzano (Wissenschaftslehre 1834 ff.) und
mit Lotze (Logik 1874) traten die Ansätze zur
richtigen Bestimmung des Gegenstandes der Logik
auf, der dann von Husserl, besonders aber von
Rickert in seiner ganzen Klarheit erfaßt wurde.
Auf der psychologischer^Seite ging die Scheidung
der psychologischen und der logischen Frage-
stellung erst im Beginn dieses Jahrhunderts haupt-
sächlich von K ü 1 p e und seinen Schülern aus.
Heute ist durch dieses Ineinanderarbeilen von zwei
Seiten die allgemeine Frage nach dem Charakter
des „Denkens" völlig geklärt, wenn auch die nähere
Erforschung beiderseits erst in den Anfängen steckt.
Das „Denken" kann etwas Psychisches und
etwas Logisches bedeuten. Um das aufzuzeigen,
gehen wir von dem Element alles Denkens, dem
Urteil, aus. Wenn ich bei Betrachtung von Natur-
schauspielen oder Kunstwerken oder beim Lesen
von Büchern in einer Auseinandersetzung über
ästhetische Dinge oder in der plötzlichen Erregung
des Erlebnisses das Urteil spreche : „Das ist schön",
so ist in all diesen Fällen das, was psychisch in
mir verläuft, denkbar verschieden. Aber „in" dieser
Verschiedenheit, „in" dem ständigen Wechsel und
Ablauf finden wir etwas Identisches, Beharrendes:
den „Sinn" des Urteils. Er ist in allen Fällen
derselbe; er ist also nichts Psychisches. Er besitzt
eine eigene Wirklichkeitsform, für die Lotze den
treffenden Ausdruck eingeführt hat: er „ist"
nicht zeitlich wie das Physische und Psychische,
sondern er „gilt". Dieses Gelten ist zeitlos; was
einmal gilt, gilt ewig, und wäre es auch nur der
Sinn eines so gleichgültigen Urteils wie dieses:
Augenblicklich regnet es. Mit diesem Sinn der
Urteile befaßt sich die Logik; er ist ihr eigent-
licher Gegenstand, und da wir alles, was gilt,
einen Wert nennen, so ist die Logik eine Wert-
wissenschaft. Für uns ist nun aber wichtiger, daß
wir jetzt imstande sind, den Begriff des Psychischen
zwar nicht zu definieren — denn solche elemen-
taren Erlebnisgegenstände lassensichnicht definieren
— , aber eindeutig zu umschreiben: Psychisch
nennen wir alles, was neben dem Phy-
sischen und Physiologischen in
lebenden Wesen zeitlich abläuft. Als
Charakteristikum des Psychischen gibt man oft
auch die Bewußtseinswirklichkeit an. Das paßt
vielfach, aber nicht immer, vielleicht nicht einmal
meistens. Will man Physisches und Psychisches
im Gegensatz zum Logischen, überhaupt zu jedem
Geltungsbehafteten charakterisieren, so muß man
als die Wirklichkeitsform beider Gegenstände das
zeitliche Sein hinstellen.
Da für jeden, der sie zum erstenmal kennen
lernt, diese Aufklärung nicht leicht verständlich
ist, so sei sie noch an zwei Analogien verdeutlicht.
Das erste Bild werden nur physikalisch gut Gebil-
dete ganz verstehen. Logischer Sinn und psychi-
scher Vorgang verhalten sich in manchen Punkten
ähnlich wie Entropie und Energie. Energie und
Entropie sind zwei völlig verschiedene Gegen-
stände: Energie ist eine physikalische Größe,
Entropie eine mathematische Funktion. Das
Psychische ist ein zeitliches Geschehen, das Logi-
sche ein zeitloses Gelten. Die Entropie ist eine
Funktion eines Teiles der Energie eines Systems;
das Logische ist eine Funktion eines Teiles der
psychischen Vorgänge eines Individuums. Entropie
ist Energie, aber gemessen in einem besonderen
Maße, dem Wertmaße; Logisches ist Psychisches,
aber gemessen mit dem Wertmaßstab. In einem
geschlossenen System ist die Energie konstant,
ändert sich aber die Entropie; nach dem von
Planck modifizierten N ernst 'sehen Theorem
hat die Entropie, falls das System ein chemisch-
homogener Körper ist, beim absoluten Nullpunkt
den Wert Null. Ahnlich kann beim kleinen Kinde
(und beim Tiere) das Psychische in nuce identisch
sein mit dem Psychischen des Erwachsenen, das
Logische ist nicht vorhanden; wandeln sich dann
im Laufe der (ontogenetischen oder phylogene-
tischen) Entwicklung psychische Elemente um in
andere oder treten neue Beziehungen zwischen
ihnen auf, so beginnt bei einer gewissen Stufe des
Werdens das Logische zu wachsen. Man sieht :
Logisches und Psychisches sind aufs engste mit-
einander verbunden. Sie sind nicht zwei Arten
des Geschehens, die einander parallel laufen, auch
nicht zwei Teile eines Geschehens; das ist beides
schon durch den Charakter des Logischen ausge-
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
557
schlössen. Man kann sie nicht einmal als zwei
Seiten eines Geschehensansehen. Sie sind viel-
mehr derselbe Gegenstand, von zwei verschiedenen
Standpunkten aus betrachtet, die aber toto coelo
auseinanderliegen und die man etwa als den
Ouantitäts- und den Wertstandpunkt bezeichnen
könnte. — Das zweite Bild ist dem praktischen
Leben entnommen: Der Hundertmarkschein. Das
Papier des Scheins mit seinen physikalisch-chemi-
schen Eigenschaften entspricht dem Psychischen,
sein Wert innerhalb des sozialen Lebens dem
Logischen. Auch hier zeigt sich, wie das eine
(das Papier) identisch dasselbe bleiben kann,
während sein Wert (z. B. durch Ungültigkeits-
erklärung) gleich Null wird.
Ich möchte noch bemerken, daß hauptsächlich
nur der Unterschied der Gegenstände der Logik
und der Psychologie durch diese beiden Bilder
veranschaulicht, nicht aber die Frage nach dem Ver-
hältnis des Logischen und Psychischen gelöst werden
soll. Dieses letztere Pro.blemgehörtzudenschvvierig-
sten der Forschung, vor allem insofern wir wissen,
daß das Logische auf das Psychische wirken muß,
ohne daß wir uns bis heute wegen der Verschieden-
heit dieser Gegenstände auch nur durch ein Bild
verständlich machen können, wie das möglich ist. —
Von hier aus nun wird der Vergleich der
Psychologie mit den Naturwissenschaften ganz klar.
Früher zählte man die Psychologie zu den Geistes-
wissenschaften, die sich mit allem beschäftigen
sollen, das irgendwie psychische Eigenschaften und
Vorgänge voraussetzt, während alles, was ohne
Rücksicht auf solche Vorgänge untersucht werden
kann, den Naturwissenschaften zufiel. Wir haben
aber gesehen, daß der Schnitt anders gemacht
werden muß. Die Gegenstände der Naturwissen-
schaften und der Psychologie sind durch die gleiche
Wirklichkeitsform des zeitlichen Seins charakteri-
siert. Ferner läßt sich, was wir hier nicht näher
ausführen können, die Beziehung zum Wert, den
wir auf einem bestimmten Gebiet als Gegen-
stand der Logik festsetzten, bei allen Geistes-
wissenschaften mit Ausnahme der Psychologie
in irgendeiner Form wiederzufinden. Die Psy-
chologie teilt also mit den Naturwissenschaften
dieselbe Stellung zum Werte und ist dadurch von
allen anderen Wissenschaften aufs schärfste ge-
schieden. Die wissenschaftslheoretische Grundlage
der Naturwissenschaften und der Psychologie ist
die nämliche.
Gegen diese Zusammenfassung von Psychologie
und Naturwissenschaft sind manche Einwen-
dungen erhoben worden. Ich lasse die älteren
(z. B. von Münsterberg, Natorp) unberück-
sichtigt, weil sie sich nicht auf die Erfassung der
logischen Struktur aus dem Eigenleben der Wissen-
schaften gründen, sondern aus allgemeinen philo-
sophischen Ansichten fließen. Nur die zwei
neuesten bespreche ich, von denen die eine manche
kritiklose Zustimmung erfahren hat, während die
andere die Notwendigkeit des Eingehens auf einen
gewissen Punkt vor Augen stellen kann, der uns
später beschäftigen wird.
I. F. Krüger (Über Entwicklungspsychologie
1915) meint, die heutige Psychologie sei von dem
Gedanken einer atomistischen Mechanik ergriffen,
sie wolle allgemeine Gesetze finden, woraus das
psychische Leben ableitbar sei, wie in der Physik
die tatsächlichen Bewegungserscheinungen aus den
allgemeinen Prinzipien der Mechanik. Das sei
unmöglich. Die Psychologie verkenne, daß es sich
um psychisches Leben handele, das sich ent-
wickele, und zwar nicht nur im einzelnen
Individuum, sondern vor allem auch in großen
kulturellen, überhaupt sozialen Verbänden. Die
Psychologie gehöre deshalb nicht zu den Natur-
wissenschaften, sondern den speziellen Geistes-
wissenschaften.
In diesen Gedanken Krüger 's treffen wir
zum erstenmal auf eine irrige Verallgemeinerung
die uns noch mehrmals begegnen wird: Weil die
Psychologie nicht ist wie die Physik, gehört sie
nicht zu den Naturwissenschaften. Die Physik
wird also als Repräsentant, als Typus der Natur-
wissenschaft angesehen. Nun wird aber kein ver-
nünftiger Psycholog seine Wissenschaft nach Ana-
logie der Physik oder sogar der Mechanik auf-
fassen, soweit die Ableitbarkeit des tatsächlichen
Geschehens in Frage steht. Aber wenn sie selbst
in betreff dieser Dinge vom Typus der anorgani-
schen Naturwissenschaften wäre, so würden Ent-
wicklungsfragen zu ihr in demselben Verhältnis
stehen, wie sie zu diesen stehen: so wenig Chemie,
Physik, Geophysik, Astronomie usw. dadurch, daß
es eine Entwicklungsgeschichte der Elemente, der
Erde, des Weltalls gibt, aus der Reihe der Natur-
wissenschaften gestrichen werden müssen, so wenig
gehört die Psychologie infolge der Tatsache, daß
das Individuum und die Gattung ihre Entwicklung
haben, zu den Geisteswissenschaften. Wir werden
aber noch sehen, daß die Psychologie im allge-
meinen dem Typus der biologischen Wissenschaften
näher kommt, in denen der Entwicklungsgedanke
noch viel mehr bedeutet, ohne daß sie dadurch
aufhörten, Naturwissenschaften zu sein. Das einzige,
was an den mitgeteilten Gedanken Krüge r's
richtig erscheint, ist dieses, daß die Entwicklungs-
geschichte unter Umständen eine Wertbeziehung
einschließen kann und daß sie, insofern sie das
tut, wissenschaftstheoretisch ein Zwischengebiet
zwischen den beiden von uns unterschiedenen
großen Wissenschaftsgruppen einnimmt.
Aber Krüger will die Verbindung zwischen
Psychologie und Entwicklungsgedanken weit inniger
machen, als wir sie bei dieser Kritik vorausgesetzt
haben und als die Naturwissenschaft sie auf ihrem
Gebiete kennt; er behauptet, das psychische Leben
sei ohne Entwicklungstheorie schlechterdings un-
verständlich. Darin steckt indes eine große Über-
558
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
treibung, die allein schon durch die Tatsachen der
psychologischen Forschung als solche gekenn-
zeichnet ist. Die Analogie mit den Naturwissen-
schaften läßt sich nicht wegleugnen. Je kom-
plexer oder je vereinzelter eine Erscheinung ist,
desto mehr nimmt im allgemeinen ihre kausale
Erklärung den Charakter einer entwicklungs-
geschichtlichen an; je elementarer und verbreiteter
eine Erscheinung ist, desto mehr ist ihre Erklärung
einfach kausal. Diese Regel ist in ihrem Grunde
unschwer begreiflich. Zwischen kausaler und ent-
wicklungsgeschicklicher Erklärung besteht kein
scharfer Schnitt; die letztere ist ebenfalls kausal,
nur daß sie sich auf ein Geschehen bezieht, das
einen längeren Zeitraum umfaßt und in dem ge-
wöhnlich eine Reihe von Ursachen zusammen-
wirkt. Infolgedessen gibt es Erklärungen, bei
denen man im Zweifel ist, wie man sie bezeichnen
soll; würde man zum Beispiel die Erklärung, der
Ton entstehe dadurch, daß die Feldspäte ihre
alkalischen Bestandteile bei der Verwitterung ver-
lieren,entwicklungsgeschichtlich oder kausal nennen?
Es bestehen notwendig Übergänge zwischen den
beiden im Wesen gleichen Erklärungsarten. Nie-
mals kann deshalb eine von ihnen ein Kriterium
für die prinzipielle Scheidung von Wissen-
schaften darstellen. Im übrigen verteilen sich die
beiden Erklärungsarten auf die Psychologie nicht
wesentlich anders als auf die Naturwissenschaften.
Genau so wie in der Chemie die Verbindungs-
gesetze der Elemente, in der Biologie das Leben
der Zelle ohne entwicklungsgeschichtliche Betrach-
tung erforschbar und verständlich sind, so in der
Psychologie der Verlauf der psychischen Vorgänge,
der bei allen Menschen wesentlich derselbe ist.
Sobald es sich aber um die Bildung von Gebirgen,
um Anpassungserscheinungen, um Sprache, Kunst,
Mythus handelt, muß die Erklärung entwicklungs-
theoretisch werden. Nicht als ob die Entwick-
lungsgeschichte nicht auch schon elementare Vor-
gänge beleuchten könnte; es kommt hier darauf
an, daß der tatsächliche und gesetzmäßige Bestand
erst festgestellt sein muß, ehe er als Unter-
lage für entwicklungstheoretische Überlegungen
dienen kann, tihe man erforschen kann, wie etwas
geworden ist, muß man wissen, wie es ist. Eine
Wissenschaft wird also um so mehr Anknüpfungs-
punkte für solche Darlegungen bieten, je weiter
sie fortschreitet. Man muß aber beachten, daß
das im allgemeinen nur dann gilt, wenn man den
Werdegang nicht unmittelbar sich vollziehen sieht,
ihn also nicht direkt erforschen kann; es paßt z. B.
nicht mehr ganz auf die ontogenetische Entwick-
lung des Menschen. — Das Beigebrachte wird
genügen, um zu zeigen, wie wenig Krüger be-
rechtigt ist, einen prinzipiellen Unterschied der
Psychologie von den Naturwissenschaften auf den
Entwicklungsgedanken zu bauen.
2. Für W. Strich (Prinzipien der psycholo-
gischen Erkenntnis 1914) ist die Zusammen-
gehörigkeit von Psychologie und Geisteswissen sogar
„selbstverständlich" (S. V). Die Psychologie sei
von der Naturwissenschaft grundsätzlich verschieden.
Denn die Zeit habe für die Naturwissenschaft keine
Bedeutung. Die Naturwissenschaft beschäftige sich
mit den historischen Tatsachen als zeitlosen, der
Sinn ihrer Gesetze sei die Zeitlosigkeit, d. h.
die (endgültigen, absoluten) Gesetze gelten zeitlos.
Dagegen habe die Zeit für die Psychologie grund-
legende Bedeutung. Die Psychologie beschreibe
historisches Geschehen. Sie kenne keine Gesetze
und keine Erklärungen (als Fallen eines einzelnen
unter ein Gesetz), sie sei eine Sammlung von
Wahrnehmungsurteilen. Sie sei Geschichte, und
Geschichte sei psychologische Erkenntnis.
In dieser Auffassung stecken seltsame Mißver-
ständnisse. Wir wollen nicht annehmen, daß das
zeitlose Gelten des Sinnes der Gesetze als Urteile
mit dem ewigen Bestehen der Gesetze verwechselt
ist, trotzdem die Verkennung des Wertbegriffes
darauf hinzuweisen scheint. Die Naturwissenschaft
ist nun durchaus nicht gezwungen, alle Gesetze als
ewig bestehend anzusehen. So ist es beispiels-
weise möglich, daß das Gesetz des Wachstums
der Entropie im geschlossenen System nur für
die heutige Weltperiode gilt. Das ist lediglich
eine Tatsachenfrage, die sich aus dem Begriff des
Gesetzes heraus nicht entscheiden läßt. Selbst
wenn aber Strich das Ideal des naturwissen-
schaftlichen Gesetzes richtig zeichnet, dann folgt
daraus nicht, daß die Zeit für die Naturwissenschaft
keine Bedeutung habe. Die Naturwissenschaft hat
nicht nur Gesetze aufzustellen, sondern diese Ge-
setze sind ihr ein Mittel zum Zweck, nämlich zum
Bestimmen der Veränderungen in der Zeit. Man
muß eine hundertfache Binde vor Augen haben,
um nicht zusehen, wie sich die Relativitätsüber-
legungen der heutigen Physik um die Bestimmung
des Zeitbegriffes drehen. Von den vielen unbe-
greiflichen Charakterisierungen der Naturwissen-
schaft, denen man begegnet, ist dies sicherlich
eine der unbegreiflichsten, daß ihr die Zeit gleich-
gültig sei. Nehmen wir aber selbst diese Charak-
terisierung als richtig an, so würde sie die Psycho-
logie nur dann in eine andere Wissenschaftsgruppe
verweisen, wenn die Psychologie keine Gesetze
kennte; denn kennte sie welche, dann wären sie
notwendig „zeitlos" wie die naturwissenschaftlichen.
Diese Voraussetzung hat Strich aber durchaus
nicht bewiesen, ja nicht einmal zu beweisen ver-
sucht, sondern immer nur behauptet. Wir werden
uns mit ihr noch genauer in dem übernächsten
Abschnitt zu beschäftigen haben. Hier sei nur
dies betont. Das Geschehen, mit dem sich die
Naturwissenschaft befaßt, verläuft genau so zeit-
lich, wie das Geschehen, das Gegenstand der
Psychologie ist. Beschreibt also die Psychologie
historisches Geschehen, dann die Naturwissenschaft
gleichfalls. Kennt die Naturwissenschaft Gesetze,
dann kann die Psychologie an und für sich auch
welche kennen. Ist die Psychologie in demselben
Sinne eine Tatsachenwissenschaft, wie die Natur-
wissenschaft — und wir hörten, daß das der Fall
ist — , dann muß sie sogar welche haben.
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
559
VI.
Wo wir jetzt stehen, bedarf es nur noch einer
passenden Bestimmung des Begriffes „Natur",
um die Psychologie auch formell unter die Natur-
wissenschaften aufzunehmen.
Man pflegt „Natur" und „Geist" als Gegensätze
hinzustellen und darauf, wie schon erwähnt, den
einen Hauptunterschied der Wissenschaften zu
gründen. Aber in dem Worte „Geist" liegt wieder
die Zweideutigkeit, die wir im vorletzten Abschnitt
klar zu machen versucht haben. Gemeint sind da-
mit die Bereiche der logischen, ästhetischen, reli-
giösen usw. Werte. Nicht hinein fallen aber die
psychischen Vorgänge. Hier haben wir also eine
Handhabe für die rechte Scheidung. Die Gegen-
stände der Naturwissenschaften und der Psychologie
besitzen dieselbe Wirklichkeitsform des zeitlichen
Seins. Es gibt keine Gegenstände einer anderen
Wissenschaft, die ausschließlich diese Wirklichkeits-
formhaben. Verstehen wiralsounter Natur alles
zeitliche Geschehen, soweit es wert-
fremd ist, so gehört die Psychologie zu den
Naturwissenschaften.
Innerhalb der Naturwissenschaften, zu denen
die Psychologie wegen der allgemeinsten Charak-
terisierung ihres Gegenstandes zählt, kann sie
natürlich alle gebührende Rücksicht auf die spezi-
fische Natur dieses Gegenstandes verlangen. Hier
muß und kann die Scheidung zwischen den
physischen und psychischen Vorgängen in ihrer
vollen Schärfe beibehalten werden. Vor allem
werden die psychischen Vorgänge dabei das Merk-
mal der Bewußtseinswirklichkeit zur Geltung
bringen. Nimmt man überhaupt einmal unbe-
wußte psychische Prozesse an, dann ist es zwar
durchaus nicht ausgeschlossen, daß der größere
Teil unbewußt verläuft. Aber man könnte (viel-
leicht) immerhin jenes Charakteristikum dahin er-
weitern, daß es keinen, von den bekannten psy-
chischen Vorgängen der Art nach verschiedenen
unbewußten gebe. Die sonstigen Unterscheidungs-
merkmale des Psychischen vom Physischen auf-
zustellen, ist eine Angelegenheit, die die Psycho-
logie besorgen muß und in der Hauptsache besorgt
hat, die uns also hier nicht weiter zu beschäftigen
braucht.
VII.
Es bleibt uns noch übrig, zwei Begriffe der
Psychologie mit den entsprechenden der Natur-
wissenscliaft zu vergleichen, weil beide in dem
Streit um die Stellung der Psychologie die ver-
schiedensten Rollen gespielt haben. Es handelt
sich um die Begriffe „E x p e r i m e n t" und „G e s e t z".
Sie sind bald für, bald gegen den naturwissen-
schaftlichen Charakter der Psychologie ins Feld
geführt worden. Unsere Aufgabe ist also, zu
zeigen, daß die psychologischen Experimente und
Gesetze die Psychologie nicht außerhalb der
Naturwissensschaften stellen.
I. Die Experimente der Psychologie zer-
fallen in 2 Klassen, in solche ohne quantitative
Bestimmungen und in Messungen. Die ersteren
hat man wohl überhaupt nicht als Experimente
einer Erfahrungswissenschaft gelten lassen wollen;
bei den zweiten bezweifelte man die prinzipielle
Möglichkeit.
a) Vielfach ist die Meinung verbreitet, zum
Experiment gehöre notwendig die quantitative
Bestimmung. Darin liegt aber eine unberechtigte
Verallgemeinerung des Begriffes des physikalischen
Experimentes. Daß andere als qualitative
Experimente auch in einer Naturwissenschaft
mitunter ohne Sinn sind, kann die Biologie zeigen.
Ich erinnere an die Transplantationsversuche, an
die Experimente über Anpassungserscheinungen,
an ökologische Versuche. Die einzige quantitative
Angabe bei derartigen Versuchen bezieht sich oft
nur auf die Zeit. Die Zeit ist aber im allgemeinen
auch bei allen psychologischen Versuchen meßbar;
ihre Messung allein macht übrigens auch eine Be-
obachtung nicht zum Experiment. Das Wesen
des Experimentes besteht in dem vom Zwecke
der Analyse bestimmten willkürlichen Eingreifen
in das Geschehen. Dieser Definition genügen die
qualitati\'en psj'chologischen Experimente. Der
Umstand, daß bei ihnen kein Apparat gebraucht
wird oder gebraucht werden muß (Chronometer
können immer benutzt werden, machen aber allein
dasExperiment nicht zu einem quantitativen), nimmt
ihnen den Charakter als Experiment nicht. Denn
während das willkürliche Eingreifen in das physi-
sche Geschehen im allgemeinen nur durch Instru-
mente möglich ist, kann die Psychologie willkür-
liche Änderungen im psychischen Verlauf durch
Worte erreichen; die VVorte ersetzen hier das
Instrument.
b) Messen setzt Größen voraus. Größe im
gewöhnlichen Sinne schreiben wir allem zu, das
wir uns aus gleichartigen Teilen zusammengesetzt
oder in solche zerlegt denken können.
Psychische Größen dieser Art gibt es nicht.
Man denke z. B. an die Knallempfindung beim
Abschuß eines Gewehres. Man kann von dieser
Empfindung nicht einen Teil wegnehmen oder
weggenommen denken, der eine kleinere Knall-
empfindung für sich wäre. Die psychischen Größen
sind unteilbare Qualitäten.
.Aber die obige Definition paßt auch nicht auf
alle pysikalischen Größen, z. B. nicht auf die
Temperatur, die Dichte. Auch diese Größen haben
insofern keinen Quantitätscharakter, als sie nicht
aus gleichartigen Teilen zusammengesetzt oder
zusammensetzbar sind. Sie haben Qualitätscharakter.
Da sie aber ohne jeden Zweifel auch Größen sind,
muß unsere Definition erweitert werden. Wir be-
zeichnen deshalb als Größe das, was auf irgend-
eine Weise Grade oder Abstufungen zeigt. Jetzt
lassen sich psychische Größen finden, die darunter
fallen, z. B. die Intensität, der Qualitätsgrad.
In der Naturwissenschaft unterscheidet man
zunächst zwei Arten des Messens, das direkte und
das indirekte. Direkt können nur Raum- und
560
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
F. N. XVI. Nr. 40
Zeitgrößen gemessen werden. Beim indirekten
Messen werden für die zu messende Größe Raum-
größen vermöge ihres funktionalen Zusammen-
hanges substituiert, z. B. der Winkelausschlag des
Zeigers beim Voltmeter für die Spannung. Man
hat nun vielfach das Messen psychischer Größen
als ein solches indirektes Messen angesehen. Darin
liegt ein großer Irrtum. Das direkte und indirekte
Messen der Naturwissenschaft setzt Größen im
Sinne unserer ersten Definition voraus, die es aber
im Bereiche des Psychischen nicht gibt.
Nun kennen wir aber in der Naturwissenschaft
noch einen Typus des Messens, der sich gerade
auf die Größen bezieht, die uns zur Erweiterung
der Definition gezwungen haben, also auf die
Qualitätsgrößen, wenn man sie so nennen darf.
Die Messung geht hier so vor sich, daß man will-
kürlich gewisse fixe Fundamentalpunkte festlegt und
mit ihrer Hilfe Unterschiede einer solchen Größe
mißt. Diese Differenzen, die durch Zahlen charak-
terisiert werden, find dann physikalische Größen
im ersteren Sinne, die also durch gleichartige
Differenzen vermehrt oder vermindert und vermöge
ihres funktionalen Zusammenhanges mit Raum-
größen indirekt gemessen werden können. Dieser
dritte Typus des Messens kann nun auch bei den
psychischen Größen Anwendung finden. Von zwei
psychischen Größen, z. B. den Intensitäten zweier
Lichtempfindungen, läßt sich zwar sagen, daß die
eine größer oder kleiner ist als die andere (das kann
man auch z. B. bei der Temperatur sagen). Aber
weil eine Intensität eine unteilbare Größe darstellt,
kann man nicht eine Intensität als Maßstab für
eine andere brauchen, kann auch nicht das Ver-
hältnis zweier Intensitäten durch eine Zahl aus-
drücken. Nur Intervalle psj-chischer Größen sind
als Maßeinheiten brauchbar. Die vorhin ausge-
sprochene Folgerung für die physikalischen Größen
vom dritten Messungstypus, daß ihre Intervalle
indirekt durch Raumgrößen gemessen werden
können, trifft aber für die psychischen Größen im
allgemeinen nicht zu; denn die Reize, die die
psychischen Vorgänge hervorrufen und mit ihnen
funktional zusammenhängen, sind wegen der großen
Verschiedenheit physichischer und psyscher Größen
als substituierte Maßstäbe unbrauchbar.
Daß übrigens den physikalischen Größen vom
dritten Typus und den psychischen Größen streng-
genommen keine Maßzahlen, sondern nur Ordnungs-
zahlen zukommen, folgt aus ihrer Charakterisierung.
Die kleineren Unterschiede, die die psychischen
Messungen noch von den physikalischen zeigen
und die auf der Eigenart des Psychischen beruhen,
brauchen hier nicht weiter erwähnt zu werden.
Es genügt uns, gezeigt zu haben, daß die psychi-
sche Messung in der Grundlage mit dem dritten
Typus der physikalischen Messung übereinstimmt.
2. Man hat der Psychologie vorgeworfen, sie
kenne keine eigentlichen Gesetze; denn sie
könne nichts Zukünftiges voraussagen. Das i.st
sogar zu der Charakteristik erweitert worden, sie
sei überhaupt keine Gesetzeswissenschaft. Diese
Auffassung will ihr nicht den Charakter einer
Tatsachenwissenschaft rauben, sondern behauptet
bloß, sie käme über das Beschreiben nicht hinaus.
Wir setzen also voraus und glauben es auch
genügend begründet zu haben, daß die Psychologie
als Tatsachenwissenschaft gefaßt wird. Dann wäre
aber zunächst zu fragen, was denn die Erforschung
von tatsächlichem Geschehen für einen Sinn hat,
wenn sie nur beschreiben will. Sie könnte nur
darin bestehen, festzusetzen: Zur Zeit tj geschah
dieses, zur Zeit t^ jenes usw. Daneben dürfte sie
noch klassifizieren. Sobald sie aber sagen würde :
So oft dieses geschieht, tritt auch jenes ein, —
ginge sie über das Beschreiben hinaus. Solche
Zusammenhänge zu finden, ist aber gerade der
Sinn einer Tatsachenforschung. Will also die
Psychologie überhaupt Wissenschaft sein, dann
muß sie gesetzmäßige Zusammenhänge im psy-
chischen Geschehen voraussetzen.
Daß man nun derertige Befunde der Psycho-
logie nicht als Gesetze ansieht, liegt wiederum an
der einseitigen Beurteilung vom physikalischen
Standpunkte aus. Wir wollen, um ganz klar zu
sehen, von dem Vergleich der psychologischen
Resultate mit den physikalischen Gesetzen ausgehen.
Bezeichnen wir mit f eine bekannte, mit ip
eine unbekannte Funktion, so lassen sich die Ge-
setze der Physik in zwei Klassen scheiden, die
wir durch die Formeln a^f(b) und a = f/' (b)
symbolisieren können. Die erstere kann man
quantitative, die letztere qualitative Gesetze nennen.
Qualitative Gesetze der Physik haben stets das
Bestreben, in quantitative überzugehen. In der
Psychologie gibt es nun sehr wenige quantitative
Gesetze. Das Web er 'sehe Gesetz ist das be-
kannteste dieser Klasse. Innerhalb der ersten Klasse
kann man in der Physik verschiedene Typen von
Gesetzen auseinander halten : a) endgültige Gesetze,
b) ideale Gesetze, die nur für ideale Körper gelten,
c) Gesetze, die nur innerhalb eines bestimmten
Bereiches Geltung haben, oberhalb und unterhalb
dieses Bereiches nicht mehr. Die quantitativen
Gesetze der Psychologie nähern sich wohl alle
dem dritten Typus. Ob allerdings ihr logischer
Charakter derselbe ist, wie beim physikalischen
Typus, ist fraglich. In der Physik handelt es sich
nämlich dabei nur um vorläufige Ausdrücke für
Zusammenhänge; in der Psychologie können die
formell gleichen Verhältnisse zu noch zu besprechen-
den Umständen in Beziehung stehen.
Die weitaus meisten Gesetze der Psychologie
sind qualitativ. Auch ihr logischer Charakter ist
verschieden von dem der qualitativen Gesetze
der Physik. Alle Gesetze quantitativ zu fassen,
ist der Physik letzthin möglich, weil sich sämt-
liche physikalische Parameter quantitativ ausdrücken
lassen. Dagegen sind die qualitativen Gesetze der
Psychologie im Durchschnitt endgültige Gesetze,
die niemals cjuantitativ werden können. Der Grund
liegt fürs erste darin, daß die Größenmessung der
Psychologie nur einige Seiten der Bewußtseins-
inhalte fassen kann, eben die, die einer Abstufung
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S6i
zugänglich sind, während Gegenstände der Physik
nur meßbare Größen sind. Den zweiten Grund
muß man in der Eigenart der ungeheuer kom-
plizierten Struktur des Psychischen sehen. Die
Bedingungen eines psychischen Vorganges sämt-
lich zu finden, sie willkürlich zu variieren und zu
isolieren, um jede in ihrer Wirksamkeit kennen zu
lernen, unter Umständen von ihnen zu abstrahieren
— alles Dinge, die wir in der Physik regelmäßig
ausführen können — , ist in der psychologischen
Forschung einfach unmöglich. Wir kennen die
Bedingungen meist nur zum kleinsten Teil und
auch diese nicht bestimmt genug. Daher kommt
es auch, daß die qualitativen Gesetze der Psycho-
logie oft an großer Unbestimmtheit leiden.
Beachten wir endlich noch, daß die Psychologie
erst am Anfang der Forschung steht. Wir können
das ganze Gebiet des zu Erforschenden nicht
übersehen; wir können sicher sagen, daß wir noch
nicht einmal alle Erscheinungen kennen. Zweifel-
los werden sich deshalb im Laufe der Zeit noch
viele qualitative und quantitative Gesetze der
Psychologie ergeben, andere werden bestimmter
werden. Aber über die Schranken, die in den
vorstehenden Ausführungen kurz gezeichnet sind,
werden wir wohl im wesentlichen nicht hinaus-
kommen; denn sie liegen in der Eigennatur des
Psychischen begründet.
Man sieht, daß selbst am Maßstab der Physik
gemessen, die Psychologie als Gesetzeswissenschaft
bestehen kann. Sicherlich aber erträgt sie den
Vergleich mit den biologischen Wissenschaften,
wo die Verhältnisse ganz ähnlich Hegen. Auch
hier muß man sich vielfach, wie z. B. die Ökologie
zeigt, mit der Festsetzung qualitativer Gesetzmäßig-
keit begnügen, und zwar aus entsprechend den-
selben Gründen, die vorhin bei der Psychologie
angeführt wurden. Gewiß ergeben sich in den
biologischen Wissenschaften mehr quantitative
Gesetze als in der Psychologie; das liegt zum Teil
an ihrer engen Beziehung zu Physik und Chemie.
Aber sie können doch zeigen, daß ein weiter Be-
reich qualitativer Gesetzmäßigkeit einer Wissen-
schaft nicht den Charakter einer Naturwissenschaft
zu nehmen imstande ist.
VIII.
So, wie sie im Vorstehenden entwickelt wurde,
hat die Wissenschaftstheorie der Psychologie noch
nicht aligemein Anerkennung gewonnen. Wohl
liegen die Motive und Mittel, die zu ihr führen,
im heutigen wissenschaftlichen Denken bereit. Ich
habe versucht, sie zu einem Bilde zusammen-
zufassen. Wir können deshalb jetzt so formulieren :
Die Psychologie ist augenblicklich in
dem Prozeß derLoslösungvon der Philo-
sophie begriffen, den die Naturwissen-
schaften mit Galilei begonnen und in
der Mitte des vergangenen Jahrhunderts
beendet haben. Daß ihr Prozeß schneller ver-
laufen wird, verbürgt der ausgebildete erkenntnis-
kritische Sinn der Gegenwart. Faßt man
„Natur" als zeitliches Geschehen, so-
weit es wertfremd ist, dann kann die
Psychologie einen Platz innerhalb der
Naturwissenschaften beanspruchen,
ohne daß sie das Geringste von dem
Sondercharakter ihres Gegenstandes
preiszugeben braucht.
Einzelberichte.
Physiologie. Über Immunisierungsversuche
gegen das Bienengift berichtet H. Dold.') Die
Wirkung des Bienengiftes auf Imker ist eine sehr
verschiedene. Nach Langer (in Faust, Die tier-
ischen Gifte, Braunschweig 1906) waren von 153
anfänglich giftempfiiidlichen Imkern nach mehr-
jähriger Praxis 126 weniger empfindlich geworden,
14 sogar giftfest; unter 164 Imkern gaben 11 an,
über eine naturgegebene Immunität zu verfügen,
und 27, keine Verminderung ihrer Giftempfindlich-
keit konstatieren zu können. P'erner lauten die
Angaben der Bienenzüchter vielfach dahin, daß die
Reaktion im Frühjahr jeden Jahres auf die ersten
Stiche eine größere sei und daß diese im Laufe
des Jahres abnehme. Von einer möglichen „ab-
soluten" Immunität gegen Bienengift kann dem-
nach keine Rede sein.-
Die frisch entleerten, infolge Anwesenheit von
Ameisensäure deutlich sauer reagierenden und
charakteristisch aromatisch riechenden Gifttröpf-
') Zeitschr. f. Immunitätsforsch, u. cxper. Therapie Bd. 26,
Heft 3, 1917.
chen der Honigbiene wiegen 0,2—0,3 mg ""d
haben ein spezifisches Gewicht von 1,1313. Beim
Eintrocknen bei Zimmertemperatur verbleibt ein
Rückstand von nahezu 30''/o, der sich leicht in
Wasser, nicht aber in 96 "/o Alkohol löst. Die
wirksame Substanz ist nicht eiweißartiger Natur,
sondern, da .'\lkaloidreagentien Fällungen geben,
eine organische Base (Langer), die sehr hitze-
beständig ist. Sie verträgt ein 2 stündiges Erhitzen
von 100".
Dold drückte frisch entnommene Giftdrüsen
auf Filterpapier aus, das er sich in Quadrate ein-
geteilt hatte. Eingetrocknet und im Dunkeln auf-
bewahrt, ließ sich die Substanz monatelang un-
versehrt erhalten und zur gegebenen Zeit mittels
physiologischer Kochsalzlösung einfach extrahieren.
Als Versuchsobjekte dienten Kaninchen, da
Langer bei ihnen eine starke und charakteri-
stische Empfindlichkeit der Schleimhäute von Nase
und Augen festgestellt hatte; 0,04 mg nativen
Giftes auf die Konjunktiva übertragen, erzeugten
Hyperämie, Chemosis und eitrige bis kupröse
Konjunktivitis. In Zwischenräumen von je 5—6
562
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
Tagen injizierte Dold je 2 Tropfen 9 mal nach-
einander in das linke Auge. Das Ergebnis war:
Es zeigte sich keine Änderung der Giftwirkung
im Laufe der Behandlung, und nach Abbrechung
der Versuche reagierten die Konjunktiven beider
Augen auf die Giftmengen gleichstark. Dold
konstatierte nur eine im allgemeinen geringere Gif-
tigkeit der „chinesischen Biene" — er hatte mit
0,2 — 0,3 mg einen geringeren Effekt als Langer
mit 0,04 mg — weshalb er dieselbe für giftärmer
und „gutmütiger" hält.
Das Blutserum der vorbehandelten Kaninchen
bildet auch kein Antitoxin auf das Bienengift.
Native Giftlösung mit normalem Serum oder mit
Serum behandelter Tiere gemischt, reizt die Kon-
junktiva in gleicher Art und Weise.
Von Interesse ist die Beobachtung von Dold
inbezug auf das schwächere reaktive Verhalten
von schwarzen (pigmentreichen) und weißen (pig-
mentarmen, albinotischen) Kaninchen. Weitere
Untersuchungen stützten diese Merkwürdigkeit. Da
die Giftwirkung am Kaninchenauge eine Gefäß-
reaktion darstellt, erklärt Dold die Erscheinung
mit der größeren Resorptionsfähigkeit der für Al-
binos charakteristischen zarten Haut oder Schleim-
haut für das Bienengift oder einer damit verbun-
denen größeren vasomotorischen Empfindlichkeit.
Dold regt auf Grund seiner Beobachtung eine
erneute Umfrage unter den Imkern an in der
Hoffnung, daß sich für pigmentärmere Personen
eine größere Empfindlichkeit feststellen und über-
haupt die eingangs erwähnten verschiedenartigen
Wirkungsweisen unter diesem einheitlichen neuen
Gesichtspunkt vereinigen und erklären läßt.
In theoretisch serologischer Hinsicht sind die
Ergebnisse von Dold auch deshalb von Interesse,
als durch sie ein weiterer Beweis für die Ansicht
erbracht wurde, daß auf gewöhnliche chemische
Gifte im Tierkörper keine Gegenkörper gebildet
werden können, daß also die Immunisierung und
insbesondere die Antikörper- oder -toxinbildung
nur an Eiweiße oder eiweißartige Substanzen ge-
bunden erscheint. Thiem.
Botanik. Neue teratologische Beobachtungen.
Auf dem Gebiete der Pflanzenpathologie und Tera-
tologie sind wir noch weit von abgeschlossenen
Kenntnissen entfernt, und immer wieder gelingt
es sorgfältiger Betrachtung, bisher nicht bekannte
Anomalien nachzuweisen. Zahlreiche neue Beobach-
tungen auf diesem Gebiete verdanken wir L i n g e 1 s -
heim. In den Berichten der Deutschen Botanischen
Gesellschaft (Band 34, Heft 6, 1916) beschreibt er
einige höchst merkwürdige Ascidienbildun-
gen der Blätter von Magnolia. Wenn auch
vorher bereits solche Tutenbildungen an einigen
Arten vereinzelt beobachtet werden konnten, traten
sie doch nie in so reicher Entwicklung auf, wie
es Lingelsheim bei Magnolia acuminata
L. an einem etwa 3 m hohen Baumstrauch des
Botanischen Gartens in Breslau beobachten konnte.
Er ist geneigt, in diesem Falle geradezu von
„Ascidicnsucht" zu sprechen, deren innere Ur-
sachen allerdings noch völlig dunkel sind, wie sie
aber schon vor ihm Lenecek für eine ähnhch
deformierte Linde und Ulme vermutet. Zwei an
völlig ausgewachsenen normalen Blättern aus dem
Mittelnerv dorsal entspringende Ascidien werden
genauer beschrieben. Es handelt sich um trichter-
förmige, mehrere Zentimeter große Schlauchblätter,
die im Bau den normalen Blättern entsprechen
und als sekundäre Anhang>gebilde des sie tragen-
den Mutterblattes, morphologisch als Doppel-
spreiten zu deuten sind. Da auch andere Arten
der Gattung ähnliche Bildungen zeigten, schließt
Lingelsheim auf eine relative Häufigkeit
der Fälle bei Magnolia, wofür er die eingerollte
Knospenlage und späte Entfaltung der Laubblätter
verantwortlich macht. Zum Schluß weist er auf
den ganz besonders merkwürdigen Fall einer
Doppelascidie bei Magnolia conspicua Salisb.
hin, wo an dem Hauptnerven der Rückenseite einer
Ascidie wiederum eine kleinere entspringt.
Zum ersten Male beobachtete Lingelsheim
Verwachsungserscheinungen der Blatt-
ränder bei Arten der Gattu n g Sy r inga
(Beihefte zum botanischen Zentralblatt, 33, Abt.
I. 1916). Sie traten im vorigen Frühjahr massen-
haft fast an allen Sträuchern von Syringa vul-
garis L. des Breslauer botanischen Gartens auf,
bei anderen Arten waren sie seltener, einer An-
zahl fehlten sie auch ganz. Meist in der Mitte
des Randes zweier benachbarter Blätter desselben,
seltener übereinanderstehender Quirle befindet sich
die wenige Millimeter große Verwachsungsstelle,
an der die Blätter oft förmlich ineinander einge-
falzt erscheinen. Die beiden Spreiten sind in der
Weise aneinander befestigt, daß die Unterseite des
einen Blattes mit der Oberseite des anderen in
gleicher Ebene liegt. Das Mesophyll beider
Blätter bildet ohne jede Spur einer trennenden
Epidermis ein einheitliches Gewebe, wobei die
verschmolzenen Blattpartien ihre Elemente in um-
gekehrter Lagerung darbieten. Die Ursache dieser
noch niemals beobachteten Erscheinung, die ge-
rade 1916 massenhaft, auch außerhalb Breslaus,
an zahlreichen Fliederbüschen auftrat, sieht
Lingelsheim in Witterungseinflüssen. Nach
einer sehr warmen Periode einsetzende, lang
herrschende kalte Nordwestwinde wirkten aus-
trocknend auch auf die Fliederknospen, wobei die
jungen Triebe durch die Reste abgestorbener
älterer Blätter an der Entfaltung gehindert wurden.
Der Druck dieser Umhüllung steigerte die Be-
rührung der Blattränder bis zur Verwachsung.
Daher kommt er zu dem Schluß, daß es auch
durch künstliche Hemmung der Knospenentfaltung
gelingen dürfte, ähnliche Verwachsungen experi-
mentell hervorzurufen. Nach mündlicher Mit-
teilung hat Lingelsheim die auffallende Bil-
dung auch in diesem Sommer beobachten können,
wenn auch bei weitem seltener als im Vorjahre.
Es ist daher die Vermutung gerechtfertigt, daß
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S63
neben den genannten Witterungseinflüssen auch
andere Faktoren als Ursache der eigenartigen Ver-
wachsung angesehen werden müssen.
Eine sehr schöne, typische Doppelspreiten-
anlage fand Lingelsheim an einer Staude
von Aruncus Silvester L. (Zentralblatt für
Bakteriologie usw. 45, 2. Abt. Nr. 6/12. 1916).
Die jungen, anormal gekrausten Blätter der
Pflanze trugen fadenförmige, bis 2 mm lange
Emergenzen von keulen- oder hornförmiger Ge-
stalt, die aus einem vielzelligen Gewebe bestanden.
Ähnliche, nur größere Gewebewucherungen fanden
sich auf der Unterseite älterer Spreiten. Zwischen
den Seitennerven ziehen diese Mißbildungen von
der Mittelrippe bis zum Blattrande, von einer ab-
norm starken Behaarung namentlich der Nerven
begleitet. Schon mit freiem Auge bemerkt man
an diesen Wucherungen Zähnelung und feine
Nervatur. Dies sowie die deutliche Scheidung in
eine dunklere Oberseite und eine bleichgrüne
Unterseite charakterisiert sie als Spreitenbildungen.
Noch klarer trat dies bei mikroskopischer Be-
trachtung zutage. Gleich dem Mutterblatte sind
sie bifazial gebaut und stimmen im anatomischen
Bau ganz mit ihm überein, so daß hier die Be-
zeichnung „Doppelspreitenbildung" wohl am Platze
ist. Das Auftreten dieser nach Küster ziemlich
seltenen Krankheitsform bei Aruncus Sil-
vester ist in diesem Falle von besonderem In-
teresse, weil zum ersten Male auch ihre
Ursache erkennbar ist. Wahrscheinlich han-
delt es sich um eine Milbengalle, wie denn auch
Lingelsheim auf zahlreichen Proben lebende
winzige Milben in großer Zahl nachweisen konnte.
Schließlich sei noch auf eine eigenartige Pilz-
form hingewiesen, die er in den Beiheften zum
botanischen Zentralblatt beschreibt (Band 34
Abt. II 1916). In einem Keller entwickelten sich
gänzlich abnorme Fruchtkörper von Len-
tinus squamosus (Schaeff.) Schrot. (Aga-
ricus lepideus I*"r.), eines Hutpilzes. Schon
früher beobachtete Lingelsheim eigenartige
Formen dieses Pilzes. Sie waren in einem Wein-
keller gewachsen und bei normalem morpholo-
gischem Aufbau von ganz abnormer Längenent-
wicklung. Der Stiel war über 75 cm lang, der
Hut, dem die charakteristische Zeichnung des
normalen wilden Pilzes gänzlich fehlte, etwa
10 cm breit und von gelblich weißer, glatter Ober-
fläche. Noch eigenartiger waren die Wachstums-
verhältnisse im zweiten Falle. Auch hier stammen
die Pilze aus einem Keller. Aus einer Gruppe
von elf auffallend kleinen, im Höchstfalle 10 cm
hohen Fruchtkörpern, die oben bräunlich gefärbte
bis zu I cm Durchmesser besitzende Hüte von
sehr fester Beschaffenheit tragen, entspringen zwei
Riesenexemplare von über 30cm Höhe, deren
weiße, faserige, mehrere Zentimeter im Umfang
messende Stiele an zwei Stellen miteinander ver-
wachsen sind und apophysenartig in den über
15 cm breiten Hut übergehen. Dieser ist weiß-
lich gefärbt. Die Unterseite trägt die übHchen
Lamellen, während oben an Stelle der für den Pilz
normalerweise typischen zentralen Vertiefung ein
etwa 2 cm hoher, 5 cm breiter Buckel erscheint.
Er ist mit einer großen Anzahl warzenähnlicher
Körper bedeckt, in die fast stets eine Öffnung zu
einer inneren Höhlung hineinführt. Da sich in
ihnen deutliche Faltenanlagen vorfinden, müssen
sie als winzige unentwickelte Hüte angesehen
werden. Die Anordnung dieser kleinen Bildungen
wurde offenbar durch äußere Einflüsse wie Licht
oder Schwerkraftreize bedingt, deren Richtung
allerdings nicht mehr erkennbar ist. Am Grunde
wird diese Protuberanz von einem Ringe kleiner,
nicht über i cm breiter Hüte umgeben. Sie sind
teils isoliert, teils miteinander verschmolzen, nach
außen offen und sitzen dem Mutterindividuum
breit auf, im Bau entsprechen sie ganz den ge-
nannten zwerghaften Exemplaren. Man war bis-
her der Ansicht, daß derartige teralologische Bil-
dungen nur bei einem Zusammenhang mit dem
alten Hymenium möglich seien, wovon in diesem
Falle aber sicher nicht die Rede sein kann.
Lingelsheim hält daher eine Revision dieser
Meinung für geboten. Kr.
Geologie. R. A. Daly's Theorie der Korallen-
inseln. ') Felsige Korallenbauten begleiten viele
Küsten und krönen viele Inseln der tropischen Meere.
Als Saumriffe sind sie unmittelbar den Küsten ange-
schmiegt; als Wall- oder Barriereriffe folgen sie
den Küstenlinien in Abständen bis zu lookm;
und als Lagunenriffe oder Atolls ragen sie in Ge-
stalt ringförmiger Inseln oder Inselgruppen über
die Meeresoberfläche. Die Erklärung dieser sonder-
baren Ringgestalten ist innig verknüpft mit geolo-
gischen Fragen von allgemeiner Bedeutung. Vielen
Forschern gelten sie als sichere Anzeichen einer
andauernden gleichmäßigen Senkung großer
Flächen des Meeresgrundes im Ausmaße von hun-
dertcn oder tauscnden Metern, als Belege für
dessen „säkulare Senkungen" nach dem älteren
Ausdrucke ; für „e p e i r o g e n e t i s c h e Bewegung"
ausgedehnter Krustenteile der Erde nach neuerer
Auffassung. Mit diesem zuerst von Gilbert ver-
wendeten Ausdrucke werden heute breite Auf-
wölbungen oder Absenkungen großer Gebiete
unterschieden von den auf schmälere Zonen be-
schränkten orogenetischen Bewegungen, durch
welche die Faltengebirge emporgestaut werden.
Die rififbildenden Korallen gedeihen nur im
bewegten Wasser von hoher Temperatur (über
20 "C) und sind deshalb nur in geringen Meeres-
tiefen, bis 50 Meter lebensfähig. Auf diese
Eigenheit gründet sich die noch heute ziemlich
allgemein anerkannte Erklärung der Atolle von
Darwin und Dana. Eine Korallenansiedlung
') R. A. Daly, Pleistocene Glaciation and the Coral
Reef Problem. Amer. Journ. of Science. New Haven.
4. ser. Vol. 30. 1910. p. 297—308.
— Problems of the pacific Islands. Das. Vol. 41. 1916.
p. 153—168
564
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
wird über einer sinkenden Unterlage durch stetes
Wachstum nach oben die Nähe der Meeresober-
fläche festzuhalten suchen. Indem sie dem Nah-
rung spendenden bewegten Wasser zustrebt,
wandert sie nach außen, gegen das offene Meer
und rückt immer mehr ab von der Küste. So
wird bei steigendem Meeresspiegel das Saumriff
zum Wallriff; über einer einzeln stehenden .'\uf-
ragung im Meere aber wachsen kronenförmige
Kappen von Korallenkalk empor, ihr äußerer
lebender Saum wird zum ringförmigen Atoll.
Die Ergebnisse zweier Bohrungen (187879 und
1904) auf Funafuti, einem Korallenatoll, der Ellice-
gruppe, welches 5400 m hoch und steil vom
Grunde des Stillen Ozeans emporsteigt, gelten
heute als die wichtigste Stütze der Theorie von
Darwin und Dana. Dort war noch in einer Tiefe
von mehr als 400 m Korallenkalk mit denselben
Arten angetroffen worden, welche gegenwärtig an
der Oberfläche leben. Die wesentlichste Voraus-
setzung der Theorie von Darwin und Dana, daß
der Unterbau der Koralleninseln bis in Tiefen weit
unter der Lebenszone der Korallentiere aus
Korallenkalk aufgebaut sind, schien durch diese
Bohrergebnisse erwiesen. Die Senkung muß lang-
sam und gleichmäßig, nicht sprungweise erfolgt
sein; denn eine Loslösung des langsam nach-
wachsenden Korallenstockes von der Meeresober-
fläche hätte ihn zum Absterben gebracht.
Der Amerikaner R. Daly, dem wir schon
so manche geistreiche und anregende Hypothese
aus dem Gebiete des Vulkanismus der Tiefen und
der Oberfläche, über die Sedimentbildung u. a.
verdanken, hat auch diese Frage in ein neues
Licht gerückt. So wie nach der Theorie von
Darwin, wird auch von Daly die Gestalt der Bar-
riereriffe und Atolle durch eine Verschiebung des
Wasserspiegels erklärt. Nach seiner Auffassung
wurde aber nicht der Meeresboden gesenkt, sondern
der Wasserspiegel gehoben. Ein allgemeines und
gleichmäßiges Ansteigen der Meere in junger Zeit
bedingt ihre heutige Gestalt. Die Verschiebung
erreichte aber nicht die von den Anhängern der
Darwin'schen Theorie angenommenen Ausmaße.
Sie steht mit dem Schwinden der Eiszeit in Zu-
sammenhang und wird als die Rückkehr der
durch das Aufschmelzen der kontinentalen Eis-
decken frei gewordenen Wassermassen zum Ozean
gedeutet.
Folgende Gedankengänge enthalten die wesent-
lichste Begründung der Hypothese:
Die Bildung der Atollringe von größerem
Durchmesser setzt nach Darwin's Theorie Sen-
kungen bis zu mehreren lausenden Fuß voraus.
Zur Auffüllung der seichten Lagunen wären
enorme Schuttmengen erforderlich, und es wäre
zu erwarten, daß die Auffüllung nicht überall gleich
weit vorgeschritten sei, daß die inneren Lagunen
verschiedenen Atolls in ungleiche Tiefe hinab-
reichen. Man gewahrt aber, daß die Lagunen nur
ausnahmsweise tiefer sind als 300'. Fast immer
bleibt ihre Tiefe innerhalb 150—250'. In ihrer Ge-
samtgestalt erweisen sich die Barriereriffe und
Atolls als recht schmale, mauerartige Bauten von
200—300' Höhe, aufgesetzt auf seichten unter-
meerischen Ebenen, deren Breite von einigen
wenigen bis zu mehreren hundert Meilen wechseln
kann.
In der vielbesprochenen Bohrung auf Funafuti
endigte das autochthone Riff in 150' Tiefe; dar-
unter wurde Trümmerwerk und Riffschutt mit
Conchylienschalen durchfahren, nicht mehr an-
anstehendes Riff. Daly erklärt die Lagerungs-
verhältnisse durch folgende Überlegung: In dem
Maße als die lebende Riffkrone emporwuchs und
im Übergange vom Saumriff zum Atoll nach
außen geschoben wurde, hat sich auch in der Tiefe
der Schuttkegel über den geneigten Abhängen
immer weiter nach außen vorgebaut. Der Fuß
des Schuttkegels rückte dabei auf dem steilen
untermeerischen Gehänge immer mehr in die
Tiefe, weit hinab unter die Zone des bewegten
Wassers und des lebensfähigen Riffes. In der
Nähe der Oberfläche aber hat sich das lebende
Riff über den Schuttmantel gesimseartig vorge-
schoben. Die Bohrung von Funafuti stand am
äußeren Atollrande und hat den tief hinabreichen-
den Schuttmantel unter dem übergreifenden Rande
der lebenden Riffkrone angetroffen. Sie kann
nicht als Beleg gelten für ein Emporrücken des
gesamten Riffbaues aus Tiefen von mehr als
300'. Nur Bohrungen im Inneren des Atollringes,
näher seiner Mitte, wären im Stande Beweisgründe
für oder wider die Theorie Darwin's zu liefern.
Die Korallenzonen der Sandwichinseln Oahu
und Hawaii sind, wie Daly wahrnahm, auffallend
schmal. Hier kann die Besiedelung erst vor
kurzer Zeit stattgefunden haben. Einen Hinweis
auf die Ursache dieser Jugend findet Daly in der
Entdeckung von Gletscherspuren an den Gehängen
des Mauna Kea, die bis 1200' hinabreichen und
an Frische und Deutlichkeit nicht hinter euro-
päischen und amerikanischen Eiszeitmarken zurück-
stehen. Es ist zu schließen, daß hier, noch vor weni-
gen Jahrlausenden, die Wassertemperatur zu gering
war für das Korallenwachstum. Erst in postgla-
zialer Zeit konnten die Korallenansiedelungen in
genügender Kraft gedeihen, um den Kampf mit
der Brandung zu bestehen; denn die heutige Mini-
mumtemperatur dieser Küstenwässer beträgt
23" C und übersteigt nur um 3" die für das
Fortkommen der Korallen erforderliche Minimum-
temperatur.
Nur wenige Forscher bezweifeln heute noch,
daß sich die eiszeitliche Abkühlung über die ganze
Erde erstreckt hat. Der Charakter der Floren
und andere Anhaltspunkte wurden verschiedenen
Schälzungen der eiszeitlichen Temperatur zu-
grunde gelegt. Die einstige Verminderung der
Temperatur gegenüber dem heutigen Klima be-
trug nach solchen Schätzungen 5 — 10" C, oder
noch mehr. Eine Abkühlung der Ozeane um
einen solchen Betrag bedingt, wenn auch nicht
eine gänzliche Vernichtung, so doch eine Ein-
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
56s
schränkung der lebenden Korallenwelt auf spärliche
Reste in den allerheißesten Zonen.
Ein weitere Reihe von Schlußfolgerungen führt
zu der Annahme, daß zur Eiszeit der Spiegel der
tropischen Meere tiefer gelegen war als heute,
und zwar wurde eine allgemein^ Senkung des
Meeres bewirkt durch den Entzug der Wassermassen,
die in den polaren Eiskalotten angesammelt waren.
In den tropischen Meeren wurde der Retrag der
Senkung noch dadurch vermehrt, daß ein Teil des
Meerwassers durch die Attraktion der mächtigen
Eiskappen nach den polaren Meeren abgezogen
wurde. Verschiedene Autoren schätzen den Be-
trag der Spiegelsenkung in den Tropen auf ca.
180' (nach Penck 70 m).
Gewiß zählt die Dauer der gesamten Glazial-
epoche mit ihren Interglazialzeiten nach Hundert-
tausenden von Jahren. Eine wohl begründete
Schätzung von Chamberlin und Salisbury gibt ihr
eine Million Jahre. Während dieses langen Zeit-
raumes waren die tropischen Küsten des Schutzes
durch die Korallenrift'e beraubt.
Die nagende Brandungswelle vermag in weichen
Gesteinen alljährlich 3 — 30 Fuß landeinwärts vor-
zudringen. Die Gesamtdauer der wiederholten
Eiszeiten hat gewiß hingereicht zur Schaffung
mariner Abrasionsebenen bis zu 20 Meilen Breite.
Manche kleinere Inseln wurden vollkommen ab-
gestumpft und ausgeglättet. An härteren Ge-
steinen, wie an vielen jungvulkanischen Inseln
konnte im gleichen Zeitraum entsprechend ge-
ringere Wirkung erzielt werden.
Die Wirkung der Brandungswellen reicht nach
allgemeiner Erfahrung bis 30—90 Fuß Tiefe unter
den mittleren Wasserstand. So tief unter dem
glazialen Meeresspiegel dürfte die neugebildcte
Abrasionsfläche gelegen sein. Wenn der er-
wähnten Annahme gemäß derWasserspiegel mit dem
Schwinden des Eises um 180' gestiegen ist, so
entspricht der heutige Schelf, welcher in 200 — 300'
Tiefe unter dem Spiegel der tropischen Meere
als gleichmäßige Abstufung die Kontinente um-
gibt, der glazialen Abrasionsfläche.
Auf dieser jüngstgeschafTenen Plattform haben
sich die Korallen bei Wiederkehr der höheren
Temperatur riffbauend angesiedelt; sie sind jünger
als der Schelf und in Form und Anlage von ihm
abhängig. In dem Zeitraum von 20000 bis 25 000
Jahren, der seit der Eiszeit vergangen sein mag,
konnten die Korallenbauten eine gewisse Aus-
dehnung erreichen; sie ist aber gering im Ver-
gleich zur Breite der Lagunen.
Die Plattform des Schelfes ist die unabhängig
vorgebildete Unterlage der Korallenbauten. Ihre
allgemeine Tiefe entspricht der Tiefe der Atoll-
lagunen. Unverändert setzt sie sich weithin fort
außerhalb des Gebietes der Korallenriffe. Dies
zeigt ein Blick auf die Admiralitätskarte. So hat
das große australische Wallriff, wenn auch 2000
Meilen lang, nur den wärmeren Teil des austra-
lischen Kontinentalschelfes, nördlich vom 24.", als
schmalen Überzug besiedelt (Andrews). Auch die
Ringformen der Keyinseln bei Horida sind deut-
lich einer ebenen und seichten Plattform aufgesetzt.'
Es sind keine Inselkronen.
Auf der Annahme, daß der Kontinentalschelf
durch die Wellen des gesenkten Ouatärmeeres
ausgenagt worden sei, beruht vor allem Daly's
sinnreich erdachte Hypothese. Wenn es gelingt,
diese Annahme beweiskräftig zu belegen, so kann
die Gestaltung der dem Schelf aufgesetzten Ko-
rallenbauten durch den Einfluß der postglazialen
Hebung des Meeresspiegels sehr gut verstanden
werden.
Die Entstehung des Schelfes durch marine
Abrasion ist bereits früher wiederholt angenommen
worden. Hier mag nur auf eine Studie von
Ziemendorf) hingewiesen werden, welche zeigte,
daß die Schelffläche des Nordatlantischen Ozeans
den verschiedenartigen Gebirgsstrukturen an den
europäischen und amerikanischen Küsten als ein-
heitliches Gebilde vorgelagert ist. Ihr felsiger
Aufbau ist an mehreren Stellen erwiesen.
Nicht durch Anhäufung von Sedimenten, sondern
nur durch marine Abrasion könnt sie entstanden
sein. Da die heutigen Meereswogen nicht bis in
Tiefen von 200—300 m wirken können, folgerte
schon Ziemendorf eine allgemeine Senkung des
Meeresspiegels bei gleichbleibendem Stand der
Kontinente. Auf ungleiches Ansteigen des Meeres
deuten Abstufungen des Schelfes, die besonders
deutlich sind an den Küsten Schottlands und
Nordamerikas. Die wechselnde Breite des Schelfes
an verschiedenen Küslenstrecken wird durch ver-
schiedene Gesteinbeschaffenheit, verschiedeneVVind-
wirkung und sonstige meteorologische Verhält-
nisse erklärt.
Auch Anzeichen jungen Meeresanstieges sind
auf der Erde sehr verbreitet. Genaue zeitliche
Feststellung solcher Bewegungen wird für die vor-
liegenden Fragen von höchster Wichtigkeit sein.
Um ein Beispiel anzuführen, mag hier daran
erinnert sein, daß A. Grund eine quartäre Sen-
kung des Spiegels der Adria um ca. 90 m aus der
Gestaltung der Narentamündung und anderer Fluß-
täler Dalmatiens, und ferner aus vielen Bohr-
ergebnissen an der istrischen und der venetia-
nischen Küste erwiesen hat. Die Knochenreste
auf dalmatinischen Riftcn, Zeugen einer quartären
Landverbindung, sind nicht durch jungen Ein-
bruch, sondern durch quartäre Trockenlegung des
Meeresbodens zu erklären. '•^j Grund erwog wohl
die Möglichkeit einer Oszillation des Meeresspiegels
durch wechselnde polare Eisanhäufung, hielt sie
aber nicht für wahrscheinlich, da der Tiefstand
anscheinend mit einer Interglazialzeit, dem Gschnitz-
Dauninterstadiale zusammenfiel. Er betrachtete
die versenkten Täler der adriatischen Ostküste als
„ein Glied in einem Kreise versenkter Flußtäler,
1) G. Ziemen dorf, Das Kontinentalschelf des Nord-
atlantischen Ozeans. Beiträge z. Geophysik. Leipzig. Bd. X.
1910. S. 268.
'') A.Grund, Entstehung und Geschichte des adriatischen
Meeres. Geograph. Jahresber. aus Österreich VI.
566
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
der von der Riasküste Galiziens, über die Fluß-
täler der Gascogne und der Riviera zu den
Limanen Südrußlands, das Gebiet der postglazialen
Hebung im Zentrum der Vereisung umgibt. Ähn-
lich entspricht an der Ostküste Nordamerikas den
postglazialen Hebungen am St. Lorenzo im Süden
das Gebiet der ertrunkenen Flußtäler. Die
eigentliche Ausbildung der Täler des dinarischen
Gebirges fällt jedoch, wie Grund ausdrücklich be-
tont, ins Pliozän. (Dies war nach vielen An-
zeichen eine Zeit des Tiefstandes großer Teile,
vielleicht der gesamten Wasserbedeckung der
Erde.)
Mit der Bestätigung von Daly's Theorie ent-
fallen alle aus den Korallenbauten abgeleiteten
Schlüsse auf ausgedehnte epeirogenetische Sen-
kungen des Ozeanuntergrundes. Schon jetzt kann
man sagen: daß, nachdem die Deutung der Boh-
rung auf Funafuti unsicher bleibt, ein leichtes
Anschwellen der Meere in postglazialer Zeit viel
wahrscheinlicher ist, als so weitgehende gleich-
mäßige Senkung ausgedehnter Ozeangebiete, wie
sie von den Anliängern der Darwinschen Theorie
im älteren Sinne angenommen wird, die aber in
der Tektonik der betroffenen Gebiete in keiner
Weise begründet ist.
Unabhängig von dem Aufbau unter dem Ein-
flüsse der allgemeinen positiven Bewegungen des
Postglazial, können natürlich auch Korallenbauten
durch junge orogenetische Bewegungen gehoben
oder gesenkt worden sein. Der Meeresanstieg
beeinflußt das Bild im großen; örtliche Senkungen
werden durch ihn verschleiert sein. Örtliche
Zonen mit gehobenen Riffen treten dafür um so
auffallender hervor. Nur in wenigen Fällen sind
sie genauer studiert. Manche von ihnen sind
sicher, andere, wahrscheinlich tertiären Alters.
Andere, namentlich solche denen der Schelf fehlt,
wurden erst postglazial gehoben; oft haben sie
dabei ein leichte Neigung erfahren. Christmas
Island und Rodriguez im Indischen Ozean, Vavau
in der Tongagruppe, Uvea in der Loyaltygruppe
werden als Beispiele geneigter Riffe angeführt und
die Lagerungsverhältnisse der Korallenbänke auf
Timor sind nach Wanner und Welter derselben
Art. In solchen flachen Aufwölbungen und Schollen-
verschiebungen äußern sich in der Nähe der Ober-
fläche dieselben orogenetischen Vorgänge, welche
in der Tiefe zur P'altung führen. Auch sie bieten
keinen Hinweis auf epeirogenetische Bewegungen
von kontinentaler Ausdehnung. F. E. Suess.
') Nach seiner bekannteu deduktiven Methode behandelte
neuerdings auch W. M. Davis das Problem der Korallen-
riffe (Home Study of Coral Reefs. Bull. Americ. Geograph.
See. New York. 1914- Nr. 9 und .\meric. Journ. of Sc. 4. ter.
Vol. 40. 1915. p. 223^271). Biologische Beziehungen
zwischen benachbarten Koralleninseln und die Gestaltung der
Küstenlinien scheinen ihm nur durch Hinabtauchen größerer
Inselgruppen im Sinne der Dar wiu ' sehen Theorie erklärbar.
Daly's Theorie anerkennt er als mögliche, aber unwesent-
liche Ergänzung der D arwin' sehen Theorie. Auf seine Ein-
wendungen, die dem Referenten nicht stichhaltig erscheinen,
kann hier nicht näher eingegangen werden.
Bücherbesprechungen.
O. Abel, Allgemeine Paläontologie. SIg.
Göschen (Nr. 95). Berlin-Leipzig 1917.
Vom Verf schon mehrfach an anderen Stellen
(so z. B. „Aus Natur und Geisteswelt" 1914) be-
handelte allgemeinere Themata der paläontolo-
gischen Forschung, ihres Materials und ihrer
Methoden werden unter obigem Titel zusammen-
hängend zur Darstellung gebracht. Das Gebiet
einer Allgemeinen Paläontologie ist damit aber
wohl noch nicht erschöpft. Dem Verf ist es darum
zu tun, die fossilen Dokumente der Erdgeschichte
in ihrem rein paläozoologischen Werte für ent-
wicklungsgeschichtliche, vergleichend anatomische
und biologische Probleme zu beleuchten und streng
methodisch- wissenschaftliche Behandlung dieser
Schätze in Bergung, Rekonstruktion, Beurteilung
und Auswertung zu fordern gegenüber manchen
allzu oberflächlichen Popularisierungsversuchen. ^)
In dem Bestreben die Grenze gegen die Geologie
streng zu ziehen, der Paläozoologie ihre Selb-
ständigkeit zu wahren, neigt m. E. Verf zu etwas
') Eine fast unglaublich leichtfertige Irreführung solcher
Art aus jüngster Zeit wird auf S. 89 auch bildlich vorgeführt.
Sie betrifft Rhamphorhynchus. Das dem Verf. nicht bekannte
Modell dürfte meiner Erinnerung nach eine sehr schlechte
zeichnerische Darstellung von Kritsch sein, was mir im
Augenblick (im Felde) nachzuprüfen leider versagt ist.
allzu radikaler Scheidung beider Disziplinen und
Unterschätzung der vermittelnden Stratigraphie.
Auch gebietet die Gerechtigkeit, ihm gegenüber
immer wieder zu betonen, daß auch vor Darwin
und Kowalewsky schon durchaus zoologisch-osteo-
logisch orientierte eifrige Gelehrtenarbeit an fossilen
Wirbeltierresten geleistet worden ist. Der in der
Paläobotanik übliche Fehler der stratigraphisch
arbeitenden Geologen, einen Wissenszweig völlig
an eine Nachbardisziplin abzutreten, braucht in
der Paläozoologie nicht wiederholt zu werden.
Deshalb kann die nämliche Grenzführung ruhig
bestehen bleiben und weiter ausgebaut werden.
Mit einer kurzgefaßten Darlegung wichtigerer
Aufgaben und Ziele der Paläontologie schließt das
Bändchen ab. Edw. Hennig.
H. Wolf. Karte und Kroki. Math.Phys. Bi-
bliothek Bd. 27. Leipzig und Berlin 1917.
B. G. Teubner.
In kurzen knappen Sätzen führt das vorliegende
Bändchen in die Grundlagen und die Entstehung
unserer wichtigsten Kartenwerke ein. Der Begriff
Karte und Maßstab wird zunächst an einfachen
Bei.spielen erläutert. Es folgt dann eine etwas
eingehendere Darstellung der Triangulation, wobei
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S67
mannigfache historische Hinweise und Beschrei-
bungen der Instrumente die Darstellung wertvoll
ergänzen. Die der Triangulation folgende topo-
graphische Arbeit wird auch ziemlich eingehend,
aber für diese vielseitige Tätigkeit immer noch
zu kurz, erläutert, so daß wesentliche Arbeit an
manchen Stellen kaum gestreift wird. Eine Dar-
stellung der kartographischen Arbeit und des
Krokierens schließt das Bändchen.
Vom Standpunkt des wissenschaftlich interessier-
ten Laien, für den die Bändchen doch in erster
Linie bestimmt sind, gibt es vor allen Dingen wohl
ein Bedenken. Die Darstellung ist an manchen
Stellen wirklich zu knapp. Was wird wohl der
genannte Leser, um nur ein Beispiel anzuführen,
mit einem Satz anfangen, wie folgt: (S. 9) „wird
der Kreis um 180"/ Anzahl der Sätze verstellt".
Auch im topographischen Teil findet sich manches
derartige Beispiel. Trotzdem ist dem Bändchen
weiteste Verbreitung zu wünschen, denn es wird
mit dazu beitragen, das Verständnis für Vermes-
sungsarbeit und Karte zu wecken und zu fördern.
Und das ist notwendig; denn, wie man nament-
lich als Vermessungsbeamter im Felde immer
wieder erfahren muß, ist dieses Verständnis meist
recht gering. Maisch.
W. Soergel, Das Problem der Permanenz,
derOzeane undKontinente (Habilitations-
vortrag, durch Zusätze und Anmerkungen er-
erweitert). SchweizerbartStuttgart 1917.
Die bekannte alte Atlantis-Sage, in so geist-
voller Weise später zu einer ernsthaften wissen-
schaftlichen Hypothese erhoben, ist nur der Vor-
läufer der Konstruktionen von Brückenkontinenten,
zu denen Paläontologie, Geologie, Tier- und Pflan-
zengeographie des öfteren gegriffen haben, um
auffällige und schwer verständliche Beobachtungs-
tatsachen auf verhältnismäßig einfache Weise zu
erklären. Kein Ozean ist schließlich davon frei
geblieben. Überall glaubte man für vergangene
Zeiten versunkene Kontinente an Stelle der Meeres-
becken im heutigen Erdoberflächenbilde einsetzen
zu müssen. Soergel behandelt nun diese wich-
tige Frage als Gesamtheit.
Indem er alle Indizien für und gegen eine
derartige einstige Besiedelung der heutigen Ozeane
durch große verbindende Festländer (bzw. auch
eine Verschiebung der Kontinentalblöcke an andere
Stellen nach Maßgabe der äußerst kühnenWegener-
sehen Hypothese) sorgfältig zusammenstellt, ent-
scheidet er sich, wohl im Gegensatz zur augen-
blicklich vorherrschenden Lehrmeinung gegen jene
Voraussetzungen und für eine Permanenz
der Kontinente. Ref möchte ihm darin voll
beistimmen. ') Die Unterscheidung der Begriffe
Kontinent (einschl. der untermeerischen Kontinental-
sockel) und Festland (also der bei flachen Teil-
überflutungen des Kontinentes trocken bleibenden
Teile in jeder noch so veränderlichen Form) ist
dabei wohl im Auge zu behalten.
Nicht überzeugt erklären kann ich mich dagegen
von den Behauptungen, einmal: im Verlaufe der
Erdentwicklung hätte trotz der Permanenz im
großen das Meer dauernd auf Kosten der P"est-
länder an räumlicher Ausdehnung gewonnen; so-
dann: zwischen der randlichen Kontinentalüber-
flutung und dem eigentlichen Tiefmeer müßten
in früherer Zeit in weit größerem Umfange all-
mählich überleitende Meeresteile bestanden und
einen regeren Faunenaustausch als heutzutage
ermöglicht haben. Doch sei die Diskussionsfähig-
keit und der ernsthafte Begründungsversuch dieser
Thesen voll und ganz anerkannt. Einzelne der
erläuternden Schlußbemerkungen gehen noch ein-
gehender auf die hiermit zusammenhängenden
Fragen, wie z. B. den Grad der Lückenhaftigkeit
des fossilen Inverlebratenmaterials ein. Auch die
Tetraedertheorie wird hier mehrfach gestreift. Der
Verf. steht ihr sichtlich sympathisch gegenüber.
Edw. Hennig.
Literatur.
Siemens, H. Vf., Die biologischen Grundlagen der
Rassenhygiene und der Bevölkerungspolitik. Für Gebildete
aller Berufe. Mit S Abbildungen. München '17, J. F. Leh-
mann. — 2 M.
Siebert. Dr. Fr., Der völkische Gehalt der Rassen-
hygienc. Ebenda. — 3 M.
Schmidt, Dr. E. W., Bau und Funktion der Siebröhre
der Angiospermen. Mit I färb. Tafel und 42 Texlabbildungen.
Jena '17, G. Fischer. — 5,60 M.
Büsgen, Prof. Dr. M., Bau und Leben unserer Wald-
bäume. Mit 129 Textabbildungen. Jena '17. G. Fischer. —
9 M.
Pirquet, Prof. Dr. Freiherr v., System der Ernährung.
I. Teil. Mit 3 Tafeln und 17 Abbildungen. Berlin '17
J. Springer. — 8 M.
Lange, Dr. W., Über funktionelle Anpassung, ihre
Grenzen, ihre Geseue in ihrer Bedeutung für die Heilkunde.
Berlin '17, J. Springer.
Roth, Prof. Dr. M., Bodenschätze als biologische und
politische Fakioren. Berlin '17, J. Springer. — I M.
Junge, Prof. Dr. G., Unsere Ernährung. Nahrungsmittel-
lehre für die Kriegszeit. Berlin '17, O. Salle. — 1,50 M.
Bauer, H., Physik der Röntgenologie. Berlin '17, H.
Meußer. — 3 M.
R e V e s z , Dr. B e 1 a , Geschichte des Seelenbegriffes und
der Seelenlokalisation. Stuttgart '17, F. Enke. — 8 M.
') Fürdas afrikanische Festland habeich in Petermann's
Mitteilungen 1917 (März-April)eine recht weitgehende Beständig-
keit erneut nachzuweisen versucht.
Inhaltl Aloys Müller, Gehört die Psychologie zu den Naturwissenschaften? S. 553. — Einzelberichte: H. Dold, Über
Immunisierungsversuche gegen das Bienengift. S. 561. Lingelsheim, Neue teratologische Beobachtungen. S. 562.
R.A.Daly, Theorie der Koralleninseln. S. 563. — Bücherbesprechungen: O.Abel, Allgemeine Paläontologie. S. 566.
H. Wolf, Karte und Kroki. S. 566. W. Soergel, Das Problem der Permanenz derOzeane und Kontinente. S. 567.
— Literatur: Liste. S. 567.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. ra. b. H., Naumburg a. d. S.
568
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 14. Oktober 1917.
Nummer 41.
Keimdrüsen und Kastration der männlichen Vögel.
[Nachdruck verboten.!
Von Privatdozent Dr. Ludwig Freund (Prag).
Mit I Abbildung.
Die Testikel der Vögel finden sich in der
Hauchhöhle beiderseits der Aorta bauchwärts den
vorderen Nierenlappen angelagert, aufgehängt an
einem kurzen Gekröse, Alesorchium, das sich
zwischen Aorta und Niere an der Körperwand an-
setzt. Sie überragen kopfwärts den vorderen
Nierenpol, seitlich unter Umständen den Seitenrand
des Ileums, dort wo dieses von dem letzten oder
den beiden letzten Rippenpaaren gedeckt
wird. Die Form ist bohnenförmig bis rundlich,
ihre Farbe gelblich bis weiß.
Die beiden Hoden sind untereinander nicht
gleichgroß. Häufig ist der linke größer als der
rechte, entsprechend den Verhältnissen im weib-
lichen Geschlecht, wo der linke Eierstock allein
zur Entwicklung gelangt. Gelegentlich ist nur
ein Hoden entwickelt, Monorchie, wie dies bei
dem indischen Spornkuckuck, Centropus, konstant
vorkommt, freilich merkwürdigerweise auf der
rechten Seite (Marshall). Einmal (191 2) be-
obachtete ich bei einem jungen Haushahn eine
Teilung des rechten Hodens in zwei kleinere
bohnenförmige Körper, so daß drei Hoden vor-
handen waren. Nach Marshall steht auch die
Hodengröße in keinem direkten Verhältnis zur
Körpergröße, eher zur Menge der Nachkommenschaft.
Am bedeutendsten sind aber die Schwankungen
nach der Jahreszeit, die Größenzunahme zur Zeit
der Geschlechtstätigkeit. Es ist dies seit langem
bekannt und wir wissen, daß im Winter die Vogel-
hoden am kleinsten sind, um dann gegen das
I'Vühjahr kolossal an Umfang zuzunehmen. Diese
allgemeine Angabe findet sich seit Aristoteles in
allen Lehrbüchern, genauere Daten aber sind auf-
fallend spärlich. Am bekanntesten ist das Beispiel,
das Owen bringt. Es betrifft den Haussperlings-
hoden, von dem er eine Reihe abbildet, Steck-
nadelkopf- bis kirschkerngroß vom Januar bis
April. Leuckart wies für dieselbe Zeit und
denselben Hoden eine Vervielfachung des Gewichtes
auf das I92fache nach. Sonst finden wir noch
bei Martin die besondere Angabe, daß der Vogel-
hoden auf das öfache , bei F" r a n c k - M a r t i n ,
daß er auf das Doppelte und darüber anwachsen
könne. Während Gadow in Bronn bloß Owens
Spezialangabe zitieren kann, hat um dieselbe Zeit
Etzold die Hodenentwicklung von Fringilla
domestica eingehend untersucht mit dem Ergebnis,
daß das Gewicht des funktionierenden Hodens das
des ruhenden zirka 300 mal übertrifft. Was die
Größe anlangt, konstatierte er als Durchmesser
des ruhenden Hodenso,/— 0,8 mm, die Dimensionen
des funktionierenden sind: 10:8:7 mm. Dissel-
horst verdanken wir dann eine ganz genaue Fest-
stellung für den Enterichhoden, dessen Dimensionen
betragen : 8 cm Länge, 4,5 cm Breite, 4 cm Dicke,
damit die erste Angabe für unser Hausgeflügel
liefernd. Freilich hätte man schon aus einer aus-
gezeichneten Abbildung bei Tannenberg (die
von M a r s h a 1 1 dankenswert wiedergebracht wurde)
die wahre Größe eines funktionierenden Haushahn-
hodens ersehen können. Außerdem sagt Hoff-
mann, daß er je nach Größe und Alter des
Hähnchens bohnen- bis taubeneigroß sein kann.
Immerhin ist es leider Mencl passiert, daß er
beim Enterich einen funktionierenden Hoden für
einen Fall von hochgradiger Hyperplasie gedeutet
hat, da er rechts 87:58:39 mm, links 86:55:47 mm
aufwies. Disselhorst hat ihn dann unter Be-
rufung auf seinen eigenen normalen, fast identischen
Befund aufgeklärt. Kroutil lieferte uns Maße
von der Schnepfe. Am 26. März betrug die Länge
16 mm. Breite 4 mm, am 7. April 26 mm Länge,
4 mm Breite, von da an über 24 mm Länge.
Ich habe dann die Maße von einem geschlechts-
reifen, ziemlich jungen Haushahn bringen können.
Es betrug rechts die Länge 47 mm. Breite 27,
Dicke 25 mm; links: 48:25:22 mm, bei einer
Rumpflänge von 25,5 cm zur Breite von 8,5 cm.
Neuestens konnte ich Maße von der Lachmöwe,
Larus ridibundus, aus dem Monat Juni 1917 (ver-
spätete Brutzeit I) gewinnen. Sie sind folgend zu-
sammengestellt: I. Körpergewicht: 265 g, links:
(Länge: Breite: Dicke) 11:5:3 mm; rechts: 6:3:2;
2. 245 g; links: 13,5:10:8; rechts: 15:10:6;
3. 230g; links: 14:6:4; rechts: 11:5:5; 4. 300g;
links: 10:5:4; rechts etwas kleiner. Weiter prä-
parierte ich am 6. Juni einen Perlhahn von 40 cm
(Kopf — Steiß) Gesamtlänge. Hoden links : 25 : 1 5 : 14;
rechts; 22:12:11. Am 11. Juni fand ich bei einem
Kanarienvogel: Hoden links: 7,5:6,5:3,5 mm,
rechts: 6:5,5:3 mm. Am selben Tag bei einem
Gimpel: Hoden links: 6:5:3, rechts: 5:5:3mm.
Wie man sieht, ist das Zahlenmaterial, das uns auf
diesem Gebiete zur Verfügung steht, noch sehr
bescheiden und bedarf der Vervollständigung, da-
mit wir wenigstens von unseren Haus- und ein-
heimischen Vögeln wissen, wie groß ihre Hoden
werden können.
Auch beim Vogel (in Betracht kommen fast
nur Haushähne, sehr selten Enteriche oder Gänse-
riche) führt die Entfernung der Keimdrüsen, die
Kastration, hier das Kapaunen genannt (da der
kastrierte Hahn Kapaun oder Kapphahn heißt),
eine Verbesserung der Fleischqualitäten zu Genuß-
zwecken herbei und wird daher schon seit jeher
570
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 41
an jungen Hähnen ausgefülirt. Nach der Beschrei-
bung Hoffmann's erfolgt die Operation derart,
daß die Rauchwand etwas links der Mittellinie
zwischen Brustbein und After auf 2 cm Länge
eröffnet, der Bauchinhalt beiseite geschoben wird,
worauf mit dem eingeführten Finger die beiden
Hoden abgedrückt werden. Man kann sie heraus-
nehmen oder in der Bauchhöhle lassen, wo sie
resorbiert werden. Die Bauchwand wird dann
les Haushah a.
Nach einem in situ mit Formol gehärteten Präparat.
'/•, nat. Gr. Gez. L. Freund.
geschlossen. Merkwürdigerweise ist man erst in
neuester Zeit darauf gekommen, diese Methode
durch eine bessere zu ersetzen, wenngleich dies,
wie unsere Figur erkennen läßt, durch die Lage
der Hoden von vornherein nahe liegen mußte.
Pilling empfiehlt die Entfernung von der Hanke
her unter Verwendung eines feinen Ekraseurs
zur Abschnürung der Hoden. Wisinger und
Schantyr heben die Vorzüge dieser Art gegen-
über der trüberen besonders hervor, weil die Sterb-
lichkeit viel geringer ist und daher für größere
Vögel, wie Truthühner, Enten, Gänse aus peku-
niären Gründen zu empfehlen sei. Freilich hat
G i 1 1 e t bald feststellen können, daß diese angeb-
lich neue Methode schon lange von den Chinesen
ausgeübt wird, er selbst konnte sie auf dem Ge-
flügelmarkte einer chinesischen Stadt mit dem pri-
mitiven chinesischen Instrumentar von den äußerst
geschickten Händen eines Geflügelhändlers aus-
geführt sehen.
Von Bedeutung ist die Frage, in welchem
Alter die Hähne zu kastrieren sind. Deffke
verweist darauf, daß man gewöhnlich das Alter
von 4 Monaten wähle, es ist aber die Spät- oder
F"rühreife der betreffenden Rasse in Betracht zu
ziehen, da der Hoden eine gewisse Größe erreicht
haben muß. Ein wertvolles Kennzeichen hierfür
bietet jedoch die Größe und die Höhe des Kammes,
die mit der des Hodens übereinstimmen. Man
nimmt nämlich zum Kapaunen nur Hähne mit
einfachen Kämmen, da sich Hähne mit „Rosen-
kämmen" angeblich überhaupt nicht zum Kapaunen
eignen. Ist nun der Kamm 3 — 4 cm hoch, so
sind die Hoden 2 — 2,5 cm lang. Noch besser ist
es, wenn der Kamm 4 — 5 cm hoch ist. Bei einem
Alter von '/o — i Jahr ist er noch höher, doch ist
dann die Kastration weniger ratsam, da die Tiere
den Eingriff schlechter vertragen und die Blutung
auch stärker ist. Er hat da wohl die alte rohe
Kastrationstechnik im Auge. Ebenso ist auch
seine Warnung zu verstehen, sicher den ganzen
Hoden zu entfernen, da sonst vom übrig gebliebenen
Rest bei der hohen Regeneralionsfähigkeit des
Hahnhodens bald Ersatzwucherung erfolgt und der
Hahn seine Geschlechtsfunktion und sein normales
Gebaren behält. So waren nach Deffke kaum
erbsengroße Reste nach -'/^ — i Jahr zu gut hasel-
nußgroßen Testikeln regeneriert. Kehllappen und
Kämme, welche handelsüblich bei der Kastration
abgeschnitten werden und einen besonderen
Handelsartikel bilden (manchmal werden sie be-
trügerisch ohne Hodenentfernung abgeschnitten I)
wuchern ebenfalls und werden dicke hochrote
Wülste. Der falsche Kapaun heißt dann im Volks-
munde „Spießhahn".
Bemerkenswert ist auch die bei der Kastration
übliche Transplantation des oder der am Unter-
ende des Tarsus sitzenden Sporen an die Stelle des
abgeschnittenen Kammes. Deffke schildert ge-
nau die Methoden, welche die Einheilung sicher
gewährleisten, sei es daß man sie flach oder keil-
förmig zugeschärft auf oder zwischen die Kamm-
reste chirurgisch befestigt. Wenn man beide
Sporen einsetzt, so richtet man den einen nach
vorn, den andern nach rückwärts, damit die „gleich-
sam aus einem Stamm hervorsprießenden Hörner" (I)
symmetrisch auseinandergehen.
Über die körperlichen Veränderungen des
Kapauners machte dann Seilheim besondere
Angaben auf Grund experimenteller Studien an
Haushähnen. Während Kämme, Bartlappen und
Ohrenscheiben schrumpfen („Blaßgesichter"), wird
das Federkleid lebhaft, die Sporen, wenn erhalten,
bleiben gleich, so daß also die sekundären Ge-
schlechtscharaktere regressiv aber auch progressiv
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
571
beeinflußt werden. Auch in den übrigen Organ-
systemen zeigen sich Veränderungen, so im Skelett,
dem Kehlkopf und Larynx inferior. Besonders
auffallend ist die Fettentwicklung (Kapaunerfett),
welches subkutan, subserös, im Mesenterium, Netz,
Ilerz einen großen Umfang annimmt. Herz und
Gehirn sind kleiner. Herz vom Hahn: 3,45 g,
Kastrat 3, 3g; GehirnHahn: 18,7 g, Kastrat 16,65 g.
In neuerer Zeit hat aber das Kapaunen sehr
nachgelassen. Man nimmt lieber später geschlechts-
reif werdende, schwere Fleischrassen, mästet sie
in kurzer Zeit und erreicht so vor der Geschlechts-
reife das gewünschte Schlachtgewicht, was sich
besser lohnt als das wirkliche Kapaunen, wenn
auch die gemästeten Hähne oft unter diesen Namen
in den Handel kommen.
Anhangsweise sei erwähnt, daß auch beim
Strauß, wie diesElley beschreibt, die Kastration
üblich ist. Sie erfolgt von der rechten Flanke,
in Chloroformnarkose, unter aseptischen Kautelen,
nach Niederlegung des Tieres auf die linke Seite.
Die Operation hat den Zweck, das Federgewicht
zu vermehren und diese sauber zu erhalten, was
bei nichtkastrierten wegen der Geschlechtsfunk-
tionen nicht möglich ist. Außerdem sollen sich
die Tiere in Jahren knapper Fütterung besser
halten und auch das Fleisch schmackhafter sein.
Literatur.
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und Gewichtsunterschiede der Geschlechtsorgane. Arch. wiss.
Tierhkde. 24. 1S98. — Ders., Gewichts- und Volumszunahme
der männlichen Keimdrüsen bei Vögeln und Säugetieren in der
Paarungszeit; Unabhängigkeit des Wachstums. Anat. Anz. 32
1908, p. 113— 117. — Etzold, Die Entwicklung der Testikei
von Fringilla domestica von der Winterruhe bis zum Eintritt
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Hope. — Gillet, L., Note sur la chaponnage et la castra-
tion des truites au Tonkin. Rev. gen. med. vet. 18. 191 1,
p. 271 — 273. — Günther, R., Das Kapaunen der Hähne.
Berl. Tierärztl. Wchschr. ö. 1890, Nr. i3/l4(Sep. Monogr.). —
Holterbach, Das Kapaunen. D. landw. Tierz. 16. 1912,
p. 197. — Hoffmann, L., Über die Kastration der Haus-
tiere. Tiermed. Vortr. Schneidemühl, 2. 1892, H. I2, p. 38
bis 39. — Schantyr, J., Zur Frage der Kastration der Hähne.
Vet. Arzt, 1911, Nr. 2, p. 19 — 22 (russ.). — Seeney, H.,
Caponing. Vet. Journ. 59. 1912, p. 559. — Wisinger, R.,
Über die Castration der Hähne. AUatorvosi Lapok, 1909,
Kleinere Mitteilungen.
Druckstöcke ans Hefe Auf dem Gebiet der
Hefeverwertung ist wiederum ein bedeutender
Fortschritt zu verzeichnen, der auf der vor etwa
Jahresfrist von H. Blücher und R. Krause
gemachten Entdeckung beruht, daß sich aus Hefe
als Hörn- und Hartgummiersatz benutzbare plas-
tische .Massen herstellen lassen. Eine der kenn-
zeichnendsten Eigenschaften dieser als Ernolith
bezeichneten Massen besteht darin, daß sie, in be-
liebige Formen eingepreßt, deren feinste Einzel-
heiten nach dem Erkalten und Erhärten haarscharf
wiedergeben. Diese Beobachtung ist von den
Erfindern weiter ausgebaut worden und hat dabei
u. a. zu einem Verfahren zur Herstellung von
Druckstöcken aus Ernolith geführt, dem in der
gegenwärtigen Zeit mit ihrer großen Knappheit
an den von den graphischen Gewerben benötigten
Metallen (Kupfer, Zink und Blei) besondere VVich-
tigkeit zukommt.
Im Rohzustand stellt das Ernolith ein staub-
feines, trockenes Pulver dar, das durch Heißver-
pressung weiter verarbeitet wird. I'^ührt man
diese Heißverpressung über einer metallischen
Matrize aus, wie sie zur Herstellung von Klischees
oder Druckstöcken dient, so erhält man ein stein-
hartes Ernolithklischee, das die betreftende Fläche
mit höchster Schärfe und in feinster Relifierung
wiedergibt. Man kann aber, wie H. Blücher
in der „Chemiker-Ztg." ') mitteilt, auch die Matrize
selbst aus Ernolith herstellen und dann darin
Ernolithpositive pressen. Dieses Verfahren, das
ebenso wie das erste unter Patentschutz steht, ist
das für die Praxis aussichtsreichste, weil es sich
nicht auf graphische Zwecke beschränkt, sondern
allgemeiner Anwendung fähig ist.
Die Vorteile des Verfahrens bestehen einesteils
in der Metallersparnis, die nicht nur für die Gegen-
wart, sondern auch für die Zukunft wichtig ist, —
im Hinblick auf den steigenden Metallbedarf der
Industrie und die steigenden Metallpreise ist es
eine volkswirtschaftliche Pflicht , Metalle nur da
zu verwenden, wo sie ganz unentbehrlich sind, im
übrigen aber die Ersatzstoft'wirtschaft beizubehalten
und auszubauen — , andernteils darin, daß die
Herstellung der Druckstöcke sehr vereinfacht wird,
so daß sie weniger Zeit erfordert und weit ge-
ringere Kosten verursacht.
Zur Erläuterung dieses Punktes ein paar Worte
über die Anfertigung der heute gebräuchlichen
Metalldruckstöcke. Wir wählen dazu aus der Viel-
heit der Illustrationsverfahren die Autotypie oder
Rasterätzung, mit der die Mehrzahl der unsere Zeit-
') 1917, H. 71/72, S. 489.
572
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 41
Schriften und Bücher schmückenden Bilder wieder-
gegeben werden. Ausgangspunkt ist entweder eine
getönte Zeichnung oder eine Photographie. DieAuf-
gabe ist, die Vorlage so auf eine Metallschicht zu über-
tragen, daß man von der Reproduktion drucken
kann. Dazu muß die glatte ( )berfläche des Bildes
in Erhöhungen und Vertiefungen zerlegt werden,
so daß man ein ähnliches Gebilde erhält, wie es
der aus Typen zusammengesetzte Drucksatz selbst
darstellt. Diese Aufgabe wird auf photomecha-
nischem Wege gelöst. Man photographiert das
betr. Bild durch einen sog. Raster, zwei mit ein-
gravierten schwarzen parallelen Linien versehene
Spiegelscheiben, die so zusammengekittet sind, daß
die Linien der einen Platte die der anderen recht-
winklig kreuzen. Dadurch entstehen lauter kleine
durchsichtige Quadrate, deren Größe von der
Feinheit des Rasters abhängt, d. h. davon, wie
dicht die schwarzen Linien beieinanderstehen. ')
Dieses Rasternetz haben die Lichtstrahlen bei der
Aufnahme zuerst zu durchdringen, ehe sie die
Platte belichten können. Infolgedessen zeigt das
Negativ nach dem Entwickeln keine geschlossene
Fläche, sondern ein in unzählige schwarze Punkte
mit weißen Zwischenräumen zerlegtes Bild. Das
Rasternegativ wird weiter auf eine blank polierte,
mit einer lichtempfindlichen Schicht versehene
Metallplatte kopiert, die die Stelle des sonst ver-
wendeten Kopierpapiers vertritt. Entwickelt man
die belichtete Platte in geeigneter Weise, so lösen
sich alle Stellen der lichtempfindlichen Schicht,
die unter den schwarzen Punkten gelegen haben
und daher nicht belichtet worden sind, auf, und
nur die belichteten Teile bleiben stehen. Um das
so erhaltene Positiv druckfähig zu machen, müssen
die nicht belichteten Stellen vertieft werden. Dazu
wird die Platte mit einer säurefesten Schutzschicht
bedeckt, die aber nur die belichteten Stellen über-
zieht. Bringt man die Platte dann in ein geeignetes
Säurebad, so werden an den nichtbelichteten und
ungeschützten Stellen die Metallteilchen weg-
gefressen, so daß die belichteten Stellen in Form
kleiner Stäbchen und größerer oder kleinerer zu-
sammenhängender F"lächen reliefartig aus dem ver-
tieften Untergrund herausstehen. Damit ist der
Druckstock fertig. Wird er zum Druck eingefärbt,
so bedecken sich nur die erhabenen Stellen mit
Farbe, während die vertieften farblos bleiben. Dem-
entsprechend können auch nur die erhabenen
Stellen drucken, und es entsteht ein schwarzweißes
Bild, das in seiner Zusammensetzung die Tonwerte
des Originals getreu wiedergibt.
Diese Beschreibung zeigt, daß sich der Werde-
gang der Halbtonätzung zum größten Teil mecha-
nisch vollzieht; die Handarbeit ist fast vollkom-
') Für Autotypien, die mit Rotationsmascliinen auf Zeitungs-
papier gedruckt werden sollen, benutzt man Raster mit 20 — 30
Linien auf i cm Breite, während für auf satiniertem oder Kunst-
druckpapier wiederzugebende Autotypien Raster mit 45 — 60
Linien auf I cm Breite zur Verwendung kommen. Für Sonder-
zwecke werden noch feinere Raster benutzt, bis 80 Linien auf
den Zentimeter und mehr.
men ausgeschaltet. In der Praxis kompliziert sich
die Sache indessen dadurch, daß nur in seltenen
Fällen unmittelbar von den so entstandenen Druck-
stöcken gedruckt werden kann. Um eine große
Auflage rasch herzustellen, ist es vielfach nötig,
die betr. Druckschrift in mehreren Maschinen
gleichzeitig zu drucken. Das bedingt das Vorhanden-
sein mehrerer Exemplare jedes Druckstocks. Weiter
nutzen sich die Druckstöcke beim Drucken sehr
schnell ab und wenn man das Original benutzen
würde, so wäre es nach der Abnutzung oder auch
bei einer Verletzung nicht möglich, dasselbe Bild
weiterzudrucken. Deshalb wird heute der Original-
druckstock fast durchweg zunächst vervielfältigt;
es werden Abklasche oder Klischees davon her-
gestellt, Dazu bedient man sich allgemein der
Galvanoplastik und zwar verfährt man entweder
so, daß man von dem Original ein Negativ in
Guttapercha oder Wachs erzeugt oder das Original
in Weichblei abpreßt. Die Wachs- oder Gutta-
perchanegative werden mit Graphit leitend gemacht,
in ein galvanisches Kupferbad eingehängt und hier
so lange hängen gelassen, bis sie sich mit einer
genügend starken Kupferhaut bedeckt haben (dauert
6 — 24 Stunden). Diese Kupferhaut, das „Galvano",
wird dann von dem Negativ getrennt, gerade ge-
richtet, zur Verstärkung mit Blei hintergossen,
nochmals gerichtet und auf einer Holzunterlage
befestigt (aufgeklotzt). Alle diese Arbeiten voll-
ziehen sich von Hand und erfordern geübte Kräfte.
Das Arbeiten mit Weichbleinegativen hat den Vor-
teil, daß man das Graphitieren sparen kann, da
die Bleimatritze selbst leitend ist. Im übrigen voll-
zieht sich die Herstellung der Galvanos in gleicher
Weise, doch erfordert die Trennung der nieder-
geschlagenen Kupferhaut von der Bleiform noch
größere Sorgfalt als die Ablösung von einer
Wachs- oder Guttaperchamatrize. Beschädigungen
des Galvanos sind in beiden Fällen leicht möglich
und kommen ziemlich oft vor. Der so entstandene
„Ausschuß" ist natürlich unbrauchbar und muß
wieder eingeschmolzen werden.
Das Ernolithverfahren ist bedeutend ein-
facher und schaltet jede Fehlerquelle aus. Zunächst
kann man von Bleimatrizen ausgehen, die man
mit Ernolithpulver überschichtet, um dann das
Pulver durch Heißverpressung zu einem zusam-
menhängenden Druckstock zu verdichten. Zweck-
mäßiger aber benutzt man das zweite Verfahren
der Pressung in Ernolithformen, da dadurch nicht
nur weiteres Metall erspart, sondern auch die Schärfe
der Klischees erhöht wird. So weich nämlich die
Bleimatrizen auch sind und so vorzügliche Er-
gebnisse besonders spezielle Verfahren wie die
von Dr. Albert und Fischer liefern, so ent-
steht doch beim Abpressen immer eine gewisse,
wenn auch vielfach sehr geringfügige Abschwächung
im Schärfegrad gegenüber dem Original, die ihre
Ursache darin hat, daß die Bleiplatte einen zu-
sammenhängenden Körper darstellt, der sich nur
widerstrebend in das Relief der Form zwingen läßt.
Es liegt auf der Hand, daß diese Schwierigkeit in
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
573
Wegfall kommt, wenn wie beim Ernolithverfahren
staubfeines Pulver unter langsam zunehmendem
Druck in das Original hineingepreßt wird, wobei
die Tiefen vollständig ausgefüllt und dann durch
das ausfüllende, zu einer festen Masse verdichtete
Pulver in allen Einzelheiten erhalten werden. In
dieser P^orm sintert beim Eintreten der P'ertig-
rcaktion die verdichtete Masse zu einer einheitlichen
Platte, dem Negativ, zusammen, von dem in genau
derselben Weise hernach das eigentliche Klischee
aus Ernolithpulver gepreßt wird. ^)
Die unvergleichlich scharfe Wiedergabe aller
Feinheiten, durch die sich nach Blücher's An-
gabe die Ernolithdruckstöcke auszeichnen, ist
von besonderer Bedeutung tür die Wiedergabe von
Halbtonbildern (Autotypien). Die Punktsysteme
kommen selbst bei den feinsten Rasternummern
in voller Schärfe zum Ausdruck, so daß Unter-
schiede zwischen dem Originaldruckstock und dem
zum Druck benutzten Klischee auch bei kritischster
Betrachtung nicht aufgefunden werden können.
Wie schon gesagt, bedarf man zur Herstellung
von Kupfergalvanos geübter Arbeitskräfte, da
einerseits das Ablösen der Kupferschicht, anderer-
seits das Ausrichten, das Hintergießen mit Blei
und das Aufklotzen Arbeiten sind, die sehr sorg-
sam ausgeführt werden müssen, wenn man brauch-
bare Druckstöcke erzielen will. Im Gegensatz
dazu vollzieht sich die Erzeugung von Ernolith-
klischees fast ganz mechanisch, so daß es geübter
Arbeitskräfte nicht bedarf. Gleichzeitig ist damit
eine bedeutende Verkürzung der Herstellungsdauer
verbunden, die sich, wenn es sich darum handelt,
eine größere Anzahl von Ernolithklischees gleich-
') DaU sich Ernolithobjekte in Ernolithformen verpressen
lassen, ist eine vom teciinischen Standpunkt aus äußerst inter-
essante Tatsache. Blücher teilt mit, dafl die Erreichung
dieses Zieles große Mühe gemacht habe. Das Zusammen-
backen von Matrize und Positiv, bzw. von Form und Inhalt,
und überhaupt das Wiedererweichen der Form wird dadurch
verhindert, daß die Temperatur- oder Druckverhältnisse bei
der 2. Pressung gegenüber der 1. etwas verringert werden,
oder daß man für die 2. Pressung ein etwas anders zusammen-
gesetztes Pulver benutzt.
zeitig herzustellen, durch geeignete hydraulische
Pressen noch weiter herabmindern läßt. Bezüglich
der Härte der gesinterten Ernolithmasse gibt
unsere Quelle an, daß sie außerordentlich groß
ist, so groß, daß die mechanische Nachbearbeitung
der Klischeeränder und das Aufklotzen eigentlich
die einzigen Schwierigkeiten bieten, weil die
Werkzeuge schnell abstumpfen, wenn andere als
die durch Versuche als zweckmäßig gefundenen
L'mdrehungszahlen zur Anwendung gelangen.
Das bei solcher Härte der Druckflächen beim
Druck nur eine sehr geringe Abnutzung auftritt,
ist selbstversändlich; auch darin liegt ein wesent-
licher Vorzug dieser Klischees.
Zur Zeit sind die Erfinder damit beschäftigt,
die Ernolithklischees einerseits für den Rotations-
druck, andererseits für den Tiefdruck verwendbar
zu machen. In bezug auf den Rotationsdruck
soll ein voller Erfolg in naher Aussicht stehen.
Erwähnt sei zum Schluß, daß die Blücher'sche
Arbeit, auf die sich unsere Angaben stützen, zu-
gleich die Mitteilung bringt, daß es gelungen ist,
außer der Hefe noch einen anderen Abfallstoff
der Brauindustrie, den sogenannten Kühlschiffirub,
zur Ernolitherzeugung nutzbar zu machen. Als
Trüb oder Kühlgeläger bezeichnet man die in
der Würze schwimmenden Hefe- und Eiweißteil-
chen, die sich im Kühlschiff abscheiden und sich
zusammen mit den beim Abkühlen der Würze
ausfallenden Eiweißstofifen in einer dicken Schicht
am Boden des Kühlschiffs ablagern. Verwendet
wurde der Trüb b sher nur in geringfügigem
Maße und zwar entweder als P"uttermittel oder
zur Spiritusfabrikation. Zu einem großen Teile
mußte er weggeworfen werden. Pls ist mehrfach
versucht worden, eine bessere Verwertung zu
erreichen, doch haben diese Bestrebungen bisher
keinen Erfolg gehabt. Durch die Verwendung
zur Herstellung von Ernolith eröffnet sich jetzt
ein neues aussichtsreiches Absatzgebiet, ein Um-
stand, der um so wervoller ist, als die Hefe selbst
in steigendem Maße auf Nähr- und Futtermittel
verarbeitet wird. (G.C.) H. G.
Einzelberichte.
Zoologie. Über Krieg und Vogelzug berichtet
Prof Dr. J. T h i e n e m a n n ^) in Rossitten und
erwähnt, daß beim Frühjahrs- und Herbstzug
191 5 folgende Abweichungen festgestellt wurden:
1. Im Herbst 1915 sind bedeutend weniger
Krähen von Norden nach Süden gewandert wie
sonst.
2. Bei den Kleinvögeln (Finken, Schwalben u. a.)
bot sich im Herbst 191 5 oft die auffallende Er-
scheinung, daß sie nach Norden zurückzogen,
anstatt nach Süden abzuwandern.
') Schriften der Physik. -Ökonom. Gesellschaft zu Königs-
berg i. Pr. LVII. Jahrg. 1916.
3. Im Oktober 191 5 waren fast gar keine
Drosseln in der Luft ziehend zu beobachten.
4. Das Fehlen von nordischen Wintergästen
(z. B. Seidenschwänzen) im Oktober 1915.
5. Unter den Raubvögelzügen im Herbst 191 5
auffallend viel Hühnerhabichte.
Als durch den Krieg veranlaßt betrachtet der
Verfasser nur die unter Ziffer i erwähnte Er-
scheinung, indem die Krähen im östlichen Kampf-
gebiet reichlich Nahrung fanden und sich daher
nicht auf den Zug begaben.
Der Verfasser glaubt nicht, daß die Kämpfe
auf die ziehenden Vögel von Einwirkung sein
können. Die Schlachtfronten haben höchstens
574
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 41
20 km Tiefe, eine Entfernung, welche durch die
Vögel in kürzester Zeit überflogen werden kann.
Eine gemachte Umfrage hatte zum Ergebnis,
daß beim weißen Storch keine auffällige Ab-
weichung von seinen Zugszeiten usw. wahrzunehmen
gewesen sei. Dagegen wurden zwei Feststellungen
gemacht :
1. Daß diese Vogelart eine bemerkenswerte
große Anhänglichkeit an die gewohnten Nistorte
zeigt. Sie siedelte sich in den zerstörten Gebieten
Ostpreußens auf stellengebliebenen Schornsteinen,
Giebelmauern oder benachbarten Bäumen an,
wenn die Gebäude nicht mehr bestanden.
2. Daß in den neu gebauten Nestern, die die
Störche gezwungenermaßen anlegen mußten, es
sehr oft nicht zur vollständigen Zeitigung der
Brut gekommen ist.
Der Verfasser folgert aus dieser Erscheinung,
daß es den Anschein habe, als ob viele alten
Störche, die in jedem Jahre ihren alten Horst
wieder vorfanden , sich den Neubaus entwöhnt
haben und durch die ungewohnte Arbeit der
Neuanlage des Nestes abgehalten wurden, das
Brutgeschäft bis zu Ende durchzuführen. Infolge-
dessen war die Vermehrung der Störche eine
geringere und im Herbst 191 5 sind aus Ostpreußen
ihrer wenigere nach dem Süden abgewandert.
Alb. Heß.
Die Höhe des Vogelzuges.') Trotz der Arbeit
der Vogelwarten gibt uns der Vogelzug noch manche
Rätsel auf, die der Lösung harren. Wie finden
die Vögel ihren Weg? Bei denen, die in Scharen
wandern, könnte man annehmen, daß die Alten,
die den Weg schon zurückgelegt haben, die Führer-
rolle übernehmen, trotzdem es hierauch vorkommt,
daß die Jungen vorausgeschickt werden. Wie steht
es aber mit denen, die einzeln ziehen, wie Kuckuck,
Wiedehopf, Nachtigall und vielen Raubvögeln?
Wer sagt ihnen ferner, daß und wann sie ziehen
sollen? Sie haben doch vielfach noch keinen
Winter erlebt, kennen also auch seine Gefahren
noch nicht, wissen auch nicht, daß im Süden der
Tisch für sie gedeckt ist. Daß die Ursache des
Wanderzuges nicht in der Erfahrung zu suchen
ist, zeigt das Verhalten der Stubenvögel, die zu
Beginn der Wanderung unruhig werden, gegen
die Käfigwände flattern usw. Sie müßten doch
wissen, daß sie es im Käfig besser haben als auf
der beschwerlichen Reise. Oft fällt der Anfang
der Reise in die Zeit der Nahrungsfülle und des
schönsten Wetters, so daß man also ihre Ursache
in einem rein reflektorischen Triebe wird suchen
müssen. Wie weit etwa äußere Einflüsse den
Beginn oder die Richtung der Reise beeinflussen,
hat sich bisher nicht mit Sicherheit feststellen
lassen. Regen, Nebel und starker Wind haben
Unterbrechung des Zuges zur Folge. Auch die
Annahme, der Vogel fliege auf seiner Wanderung
') F-
in den ,, Naturwissenschaften"
der Wärme entgegen, läßt sich nicht rechtfertigen,
da die Wärmeverhältnisse unterwegs sehr ver-
schieden sind. Lucanus sieht in dem Wander-
triebe wie im Finden derRichtung eine ,,angeborene,
rein mechanische Seelenfunktion, die zwar durch
äußere Reize vorübergehend beeinflußt werden kann,
im wesentlichen sich aber gesetzmäßig vollzieht.
Eine andere viel umstrittene Frage ist die nach
der Höhe des Vogelzuges. Nach Gätke vollzieht
er sich in solchen Höhen, daß die Vögel dem
menschlichen Auge oft nicht mehr wahrnehmbar
sind. Er spricht von 5000 — 12000 m. Zu diesen
Zahlen gelangte er durch Schätzung der Höhen,
in denen die Vögel eben noch als Punkte erkennbar
sind. So nennt er für den Bussard 3000 — 4000 m,
den Kranich 5— 6000 m, für Krähen 3 — 5000 m.
Zur Nachprüfung dieser Zahlen wandte sich L u -
canus an eine Reihe von Lufischiffern. Das Er-
gebnis dieser Umfrage war ein für Gätke un-
günstiges. Danach kann als äußerste Höhe etwa
400 m angenommen werden. Darüber hinaus sind
nur selten Vögel angetroffen worden, die aber
nicht auf dem Zuge waren. Dabei ist nicht etwa
anzunehmen, daß die Vögel den F"ahrzeugen aus-
weichen und deshalb nicht zu beobachten sind.
Sie lassen sich vielmehr weder durch das Erscheinen
des Flugzeuges, noch durch das Geräusch der Pro-
peller auf ihrem Zuge stören. Nach diesen Beobach-
tungen fliegen die Vögel immer so, daß sie die Erde
in Sicht behalten. Über den Wolken sind selten
welche angetrofi'en worden. Bei Nebel findet die Reise
in geringer Höhe (gegen 100 m) statt oder wird,
falls er zu dicht wird, ganz unterbrochen.
Gegen die Zahlen von Gätke spricht auch die
Temperatur in den von ihm genannten 1 löhen.
Bei 5000 m herrschen etwa — 20" C, bei 7000 m
— 33" C. Bei 12000 m I [öhe müßte also das Leben
wohl sofort erstarren. Zudem beträgt der Luft-
druck in 5000 m Höhe nur 298 mm. Gegen Schwan-
kungen des Luftdrucks sind aber die Vögel be-
sonders empfindlich.
Als Beweis für die Richtigkeit der großen
Flughöhe werden Beobachtungen von Astronomen
angeführt, die im Fernrohr Vögel vorüberziehen
sahen, deren Entfernung sie auf viele Tausende
von Metern schätzten. Dem ist entgegenzuhalten,
daß sich in den wenigen Augenblicken, die die
Vögel im Fernrohr sichtbar sind, ihre scheinbare
Größe sowie ihre Art (zur Bestimmung der wirk-
lichen Größe) nur schwer feststellen lassen; beides
ist aber zur Berechnung der Entfernungen not-
wendig.
Beobachtungen auf der Vogelwarte Rositten
haben ergeben, daß der Zug der meisten Vögel
in etwa 80—100 m Höhe stattfindet. Nur an sehr
klaren windstillen Tagen erhebt er sich höher,
doch bleiben größere Vögel dem unbewaffneten
Auge immer noch zu erkennen. Unsere Singvögel,
wie Rotkehlchen, Ammern, Finken und Meisen
ziehen in 30 - 80 m Höhe, oft sogar noch niedriger.
L u c a n u s selbst hat die Zahlen G ä t k e s prak-
tisch nachgeprüft, indem er ausgestopfte Vögel in
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
575
fliegender Stelking mit einem Fesselballon aufsteigen
ließ und nun die Höhe feststellte, in der sie eben noch
als Punkte zu erkennen waren bzw. dem Auge ent-
schwanden. Es ergaben sich : für den Sperber
eine Sichtbarkeitsgrenze von 850 m (nach Gätke
3000 m), die Saatkrähe 1000 m (n. G. 3 — 5000),
den Bussard 1500 m (3000 m). Der Bartgeier würde
nach der Berechnung von Lucanus in 2000m
Höhe dem Auge entschwinden, während Gätke
den etwa gleich großen Kranich noch bei 6000 m
erkennen wollte. Zu diesen Zahlen bemerkt Lu-
canus ausdrücklich, daß seine Sehschärfe eine
doppelte ist; um die Vögel in der von Gätke
angegebenen 1 lohe erkennen zu können, würde
eine sechsfache Sehschärfe nötig sein.
Als Ergebnis seiner Untersuchungen hebt Lu-
canus hervor, daß der Vogel ebenso wie jedes
andere Lebewesen an den Erdboden gebunden
ist. Je nach der Windstärke, Windrichtung und
Bewölkung ändert sich die Flughöhe, doch hält
er sich immer so, daß ihm die Erde sichtbar
bleibt. Heycke.
Urdarmhöhle und Cölom. Der Wunsch, die
verschiedenen Bildungsweisen des Mesoderms auf
einen Typus zurückzuführen, hat zur Aufstellung
von mancherlei vergleichend-anatomischen Theorien
geführt, unter denen die Cölomtheorie der Ge-
brüder Hertwig aus dem Jahre 1882 die älteste
und heute noch diejenige ist, die die meiste An-
erkennung in der F~orschung und Lehre findet.
Ihr Schulbeispiel ist die Entwicklung der Pfeil-
würmer oder Chätognathen ; an der Larve von
Sagitta sieht man, wie derUrdarm, die Einstülpung,
durch die das rein hohlkugelige Blastulastadium
zum Gastrulastadium wurde, zwei sekundäre
Einstülpungen bildet, und diese zwei „Ur-
darmdivertikel" schnüren sich hernach vom
Urdarm ab und werden dadurch zur Wandung
der von ihnen umschlossenen paarigen sekundären
Leibeshöhle, des Cöloms. Ähnliche Urdarmdiver-
tikel treten bei vielen anderen Tieren in der Ent-
wicklung auf, weshalb diese ßildungsweise des
Mesoderms die allgemeinste und ursprüng-
lichste erscheint und seine in anderen F'ällen
zu beobachtende Entstehung als ursprünglich
kompakte IVIasse am Entodcrm oder Urdarm, in der
erst später die Cölomhöhle auftritt, als die weniger
ursprüngliche Art und Weise betrachtet wird.
H. E. Ziegler') hat im Laufe der Zeit eher
die gegenteilige Auffassung über diesen Punkt
gewonnen. Die Vergleichung der Urdarmdivertikel
mit den Magentaschen von Cölenteraten — da
diese Tiere dauernd kein eigentliches Mesoderm
und keine Leibeshöhle besitzen, höchstens ein
massives, zellenreiches „Mesenchym" — habe keinen
stammesgeschichtiichen Wert. Bei den Ringel-
würmern und Mollusken entstehe das Cölom nicht
1) H. E. Ziegler, Über die Enterocöllheorie. Zool.
Anzeiger. Bd. XLIV, Nr. 3, 1914, S. 136 — 141.
aus Darmdivertikeln. Bei den Chätognathen
seien zwar die Urdarmdivertikel festgestellt, aber
nur bei den noch durchsichtigen peiagischen Larven.
Von diesen Stadien bis zum Bau des fertigen Tieres
klaffe eine große Lücke in unseren Kenntnissen,
und es ist, meint Ziegler, nicht erwiesen, daß
aus den Urdarmdivertikeln ein Cölom hervorgeht,
ja das Bestehen eines Cöloms am fertigen Tier
könne überhaupt bezweifelt werden, wie ein solches
ja vielen Würmern und allen Plattwürmern fehlt.
Wolle man dennoch bei den Chätognathen die
Mesodermbildung in der gewöhnlich für diese
Würmer dargestellten Weise annehmen und da-
mit die Pfeilwürmer als nächstverwandte der Ringel-
würmer betrachten, so könne man als den ursprüng-
licheren Zustand mit Korscheit und Heider
nur den der Ringehvürmer betrachten. Es ist ferner
bei Brachiopoden die Cölombildung aus Urdarm-
diverkeln festgestellt. Die Brachiopoden aber seien
ein einseitig ausgebildeter Zweig des Würmer-
stammes, gerade bei ihnen könne man nicht einen
ursprünglichen Entwicklungsgang erwarten. Bei
Echinodermen und Enteropneusten ist sowohl
Divertikelbildung am Urdarm als auch — bei anderen
Arten — die Herauswucherung des Mesoderms
aus solider Anlage am Urdarm beobachtet; also
auch hier lasse sich nicht entscheiden, welche
Bildungsweise die ursprünglichere wäre. Sucht
man den Anschluß dieser Tiere bei den Ringel-
würmern, so wirke die .'\uffassung von der Leibes-
höhle der Ringelwürmer auch auf die von der jener
übrigen ein. Die Wirbeltiere endlich lassen durch-
gehends keine Urdarmdivertikel erkennen, außer
bei Amphioxus und bei .Amphibien. Diesen Fällen
sei keine so hohe phylogenetische Bedeutung bei-
zumessen, denn was bei Amphioxus beobachtet,
kehre schon bei Tunikaten und Selachiern nicht
wieder, was bei .Amphibien, nicht bei den Fischen.
Nun kann man allerdings vielleicht dazu sagen,
gerade bei Amphioxus und bei Amphibien könne
man die verhältnismäßig ursprünglichsten Entwick-
lungsgänge unter allen VVirbeltieren erwarten.
Aber selbst dann würde im Sinne Z i e g I e r ' s frag-
lich bleiben, ob wir damit den ursprünglichen
Modus für die Tiere überhaupt gefaßt hätten.
Denn Ziegler macht geltend, das Cölom der
Wirbeltiere sei dem der Anneliden (Ringelwürmer)
wohl nicht homolog, sondern nur konvergent,
wie auch die Segmentierung der Wirbeltiere von
der bei Würmern anzutreffenden wesentlich ver-
schieden sei: bei jenen entstehe sie aus der Musku-
latur, bei diesen gehe sie von den Gonaden oder
den Exkretionsorganen aus. Sonach möchte
Ziegler auch bei den Wirbeltieren die Leibes-
höhle nicht als Derivat der Urdarmhöhle auffassen,
wenigstens wäre sie nicht ursprünglich ein solches
gewesen. Man könne sich vielmehr vorstellen, daß
die Bildung des Hohlraums durch Ausstülpung
an der Urdarmhöhle eine sekundär eingetretene
Vereinfachung oder Erleichterung sei, die den sich
rasch entwickelnden Larvenformen zu gute kam.
V. Franz.
576
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 41
Geologie. Die Bedeutung der Solifluktion für
die Erklärung deutscher Landschafts- und Boden-
formen. Die bedeutsamen Untersuchungen von
B. Högbom über die geologische Bedeutung des
Frostes (Bull. Geol. Inst. Upsala XII, 1914) veran-
laßten W. Salomon zu einer kritischen Durch-
arbeitung ähnlicher Erscheinungen in Deutschland
(Geologische Rundschau, Band VII, H. 1/2, 1916).
Schon lange war von einzelnen Forschern ver-
mutet worden, daß bestimmte Bodenformen wie
die Felsenmeere der deutschen Mittelgebirge nicht
unter den heutigen klimatischen Verhältnissen ent-
standen sein können. Im großen und ganzen war
aber doch die Meinung vorherrschend geblieben,
daß die Blockmeere durch Akkumulation kleiner
Vorgänge der Gegenwart langsam entstanden seien
und noch weiter sich bilden würden. Vielfach hat
man angenommen,daß widerstandsfähige Schichten,
aus denen die Blöcke der Felsenmeere z. B. des
Odenwaldes, Pfälzerwaldes, Schwarzwaldes usw.
bestehen, eine Zeitlang überhängende oder vor-
springende Gesimse gebildet hätten und dann durch
Frostwirkung oder bloßes Abbrechen zn den heu-
tigen Felsenmeeren zusammengerollt seien. Nach
Götzinger sind auch in unserem Klima die
lockeren Schuttmassen in einer dauernden lang-
samen Bewegung nach unten begriffen, die je nach
der Steilheit der Gehänge und dem Grade der
Durchfeuchtung manchmal 3 — 5 cm im Jahre be-
tragen kann ; Götzinger hat diese Erscheinungen
„Gekrieche" genannt. Eine sehr genaue Unter-
suchung der starken Fließbewegungen des Bodens
in den polaren und subpolaren Gebieten gab
J. G. Andersson in einer Arbeit über Soli-
fluktion(-Boden fließen) und Blockströme.
Die Blockströme der Falklandsinseln, des Ural, von
England, Gibraltar und Schweden werden auf
fossile Solifluktionserscheinungen zurückgeführt.
Ähnlich erklärt Passarge die Ströme von
eckigen Felsblöcken im Riesengebirge, am Zobten
und in anderen deutschen Mittelgebirgen. Ebenso
betrachtet W. von Lozinski die h'elsenmeere
der zentral- und osteuropäischen Mittelgebirge als
eine fossile Bildung der Diluvialperiode und unter-
scheidet eine „periglaziale Facies der
mechanischen Verwitterun g". Im Gegen-
satz zu Andersson's subglazialer Ver-
witterungsfacies mit oft erheblichem Trans-
port des zerfrorenen Materials nimmt \V. von
Lozinski eine weitgehende mechanische Gesteins-
zertrümmerung in situ durch Spaltenfrost an. Eine
weitere Förderung erhielt das Problem durch die
Spitzbergenreise des Stockholmer Internationalen
Geologenkongresses und ganz besonders durch die
mehrmaligen Reisen B. Högbom's nach Spitz-
bergen. B. Högbom macht vor allem auf die
„T j ä 1 e", den Eisboden oder gefrorenen Untergrund
aufmerksam, welcher für alle Bodenbewegungen
in den sehr kalten Regionen der Erde von außer-
ordentlicher Bedeutung ist. Der häufige Wechsel
von Auftauen und Gefrieren über der Tjäle führt
zu einem leichteren Fließen des Bodens als in
unserem Klima, da der Zusammenhang zwischen
der beweglichen Oberhaut des Bodens und dem
unbeweglich liegen bleibenden Untergrund in den
Tjälegebieten viel geringer sein dürfte. Eine Reihe
von eigentümlichen Bodenformen kommt so zu-
stande, die bei uns fehlen oder doch nur als
Seltenheiten in unseren Hochgebirgen vorkommen.
Natürlich spielte der Spaltenfrost beim Zerfrieren
freistehender Felsoberflächen sowohl in der Gegen-
wart wie in der Vergangenheit eine wichtige Rolle.
Högbom erklärt die heutigen Bodenformen als
Folgen fossiler Frostwirkungen der Diluvialzeit; er
schließt sich dabei nicht von Lozinski, sondern
J. G. Andersson an, wobei er dessen Ansichten
ganz erheblich erweitert. Rezente Solifluk-
tionserscheinungen kommen vor in; Spitz-
bergen, König KarlsLand, Bären-Insel, Island, Grön-
land, Arktisches Nordamerika, Nordsibirien, Novaja
Semlja, Kola-Halbinsel, nördliches Finland, Graham-
land, Südgeorgien, Crozet-Inseln, Kerguelen, Skan-
dinavien, Alpen, Zentralasien, F'elsengebirge Nord-
amerikas, Patagonische Anden , P'alklands-Inseln,
Neuseeland; fossile Wirkungen der Soli-
fluktion dagegen aus P^ngland, von Gibraltar,
aus dem Odenwald (Felsberg), Taunus, Harz,
bayrischen Wald, Riesengebirge, dem Ural, aus
Canada, den P'alklands-Inseln und Neuseeland.
Im Odenwald wurden typische Blockströme
auf den Hängen des Felsberges beobachtet, die
sich weit von ihren vermutlichen Ursprungspunkten
entfernen und sich über ganz flache Stellen der
von ihnen eingenommenen Rinnen hinwegziehen.
Nach Salomon sind sie in der geologischen Ver-
gangenheit entstanden und zwar während des
kälteren Klimas im Diluvium, das ein Bodenfließen
über der Tjäle ermöglichte.
Was für den Odenwald gezeigt wurde, gilt
auch für viele der deutschen Mittelgebirge. Das
Klima der diluvialen Vereisung hat einen starken
Einfluß auf die F"ormen und die Lagerung der
obersten Bodenmassen gehabt. Die heute nur
noch aus den polaren und subpolaren Gebieten
bekannten Erscheinungen des Bodenfließens über
einer Tjäle waren auch bei uns wirksam. Die
Felsen- und Blockmeere sind überwiegend auf
das diluviale Bodenfließen zurückzuführen, während
dem rezenten Gekrieche eine geringere Bedeutung
zukommt. Eine dankbare Aufgabe zur Unter-
scheidung von Gekrieche und Solifluktion dürfte
es sein, wenn bei Vorhandensein von guten Auf-
schlüssen z. B. bei Wegebauten möglichst viele
gründliche Beobachtungen und Messungen über
das Gekrieche angestellt werden würden.
V. Hohenstein.
Botanik. Über die Fluoreszenz wässriger
Rindenauszüge von Eschen in ihrer Beziehung zur
Verwandtschaft der Arten macht Lin g elsheim,
der Monograph der Gattung Fraxinus, in Heft 9
der Berichte der deutschen botanischen Gesellschaft,
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
577
(Band 34, 1916) bemerkenswerte Mitteilungen.
Schon Harms hatte sich mit der Frage beschäftigt,
ob die Erscheinung der Fluoreszenz in wässrigen
Aufgüssen der Rinde bei bestimmten Arten
Rückschlüsse auf ihre systematische Stellung
ermögliche. In einer früheren Nummer der
Xaturw. Wochenschr. (X. F. XIV., 191 5, S. 361)
berichtete M o e w e s über die Untersuchungen
von Harms, die sich auf das Lignum
nephriticum bezogen. Später teilte Harms
die Ergebnisse weiterer über die Fluores-
zenzerscheinung bei Pflanzen angestellter Unter-
suchungen mit. Danach ist sie verhältnismäßig
häufig. Übergießt man die Samen von Sper-
gula arvensis L., einem gemeinen Ackerun-
kraut, mit Alkohol, so steigen in der Flüssigkeit
bald tiefblaue Wolken auf, die sie schließlich voll-
ständig färben. Der die Färbung bedingende Stoff,
das Spergulin, ist nach Harz eine schwache
Säure. Rhamnus frangulaL., die Blätter der
ßlutbuche und zahlreiche Bakterienarten (Pseu-
domonas) werden erwähnt. Auch manche der
als Gelb holz (Alter Fustik) im Handel befind-
lichen Hölzer zeigten die Erscheinung, so die
Moracee Chlorophora tinctoria (L.) Gaud.
in mit Alaun versetztem Alkohol. Der gleiche
gelbe Farbstoft", das Morin, der bei den Moraceen
verbreitet sein dürfte, findet sich auch im Holze
des indo-malayischen Jackbaumes (Artocarpus
integrifolia L.) sowie des amerikanischen „Bow-
wood" (Maclura aurantiaca Xutt.), die beide
schöne Fluoreszenz aufweisen. Am interessantesten
ist aber das Verhalten wässriger Rindenauszüge
von P'raxinus und Aesculus.
Daß manche .^rten der Roßkastanie blau fluo-
reszieren, ist schon von iVIoeller angegeben worden
(Ber. deutsche Pharmaz. Ges. 33. S. 54. 191 5).
Harms kommt nun aber zu dem Ergebnis, daß
sich die .Arten der Gattung, je nachdem sie keine,
starke und himmelblaue, oder schwächliche und
grünlichblaue P'luoreszenz zeigen, in drei Gruppen
ordnen lassen, die mit den .Sektionen der Gattung
im ganzen gut übereinstimmen. Es ist danach
anzunehmen, daß wir in dem .•\uftreten des
Pluoreszenzphänomens ein Mittel besitzen, die
natürliche Verwandtschaft der .Arten zu erkennen.
Auch unter den Eschenarten konnte Harms
zwei Gruppen unterscheiden, deren wässriger
Rindenauszug blau, bzw. grünblau fluoresziert,
wiihrend eine Anzahl Arten negative Ergebnisse
lieferte. Pir vermutet, daß sich auch bei F r a x i n u s
die Fluoreszenz in zweifelhaften P'ällen zur Be-
stimmung der Arten verwenden läßt, konnte
jedoch nicht erkennen, in welcher Weise sich die
Erscheinung auf die nach morphologischen Merk-
malen unterschiedenen Gruppen verteilt (Verh.
bot. Ver. Prov. Brandenburg 57. 191 5.).
Wie nun Lingelsheim zeigen konnte, lag
dies daran, daß Harms zum Teiffalsch bestimmte
Pflanzen vorlagen. .An der Hand des ihm zur
Verfügung stehenden reichen Materials kommt er
zu dem wichtigen Ergebnis, daß ganz unzweifel-
haft eine solche Beziehung besteht. Er untersuchte
alle .Arten der Gattung mit einer Ausnahme. Für
den Versuch, bei dem nur ganz geringe Mengen
der abgeschabten Rinde — es genügt schon V,o
mg! — oberflächlich in ein mit Wasser gefülltes
Reagenzglas gebracht werden, ist es gleichgültig,
ob frisches oder getrocknetes Material vorliegt.
Selbst 100 Jahre alte Stücke reagieren ebenso
kräftig wie frische. Ist fluoreszierende Substanz
überhaupt vorhanden, so ergeben sich blau und
blaugrün fluoreszierende Wolken, die beim Schütteln
die gesamte Wassersäule färben. Auf Grund mor-
phologischer Merkmale heben sich aus den Gattun-
gen zwei Sektionen, Ornus und Fraxinaster,
scharf heraus, von denen die erste als phylo-
genetisch ältere sich durch mancherlei primitive
Merkmale auszeichnet. Ihnen stehen bei Fraxi-
naster durch .Arbeitsteilung bedingte Fortschritte
deutlich erkennbar gegenüber, womit eine all-
mähliche Reduktion der Blütenhülle verbunden
ist. Diese ist es gerade, die eine weitere Teilung
in scharf umrissene Untergruppen ermöglicht. Der
Versuch ergab nun, daß die Glieder der Sektion
Ornus bis auf wenige Arten Fluoreszenz zeigen,
ebenso drei der zu Fraxinaster gehörenden
Subsektionen. Den übrigen zweien fehlte sie mit
einer .Ausnahme, der zur Subsektion M e 1 i o i d e s
gestellten I^" r a X i n u s anomolaTorr. Mit dieser
einen Ausnahme schien die .Annahme einer .Ab-
hängigkeit zwischen .Stammesverwandtschaft und
der Anwesenheit fluoreszierender Stoft'e gut be-
gründet. Das Verhalten der letztgenannten Art
war allerdings höchst auffallend, würde sie doch
als einzige der zahlreichen Melioidessippen ein
positives Resultat ergeben. Da gelang Lingels-
heim aber durch Untersuchung eines Frucht-
exemplars der überraschende Nachweis, daß die
Art Blumenblätter besitzt und somit aus der kelch-
blütigen (apetalen) Gruppe der Melioides aus-
zuschalten ist. Auch andere morphologische und
pflanzengeographische Gründe stellen sie zu den
Dipetalae. So erweist sich in diesem P'alle in
der Tat das Vorhandensein der Fluoreszenz als
eine ganz einwandfreie Probe auf die Zugehörig-
keit einer Art zu einem bestimmten Verwandt-
schaftskreise. Weiterhin zeigt Lingelsheim,
daß auch bei den Sippen der Sektion Ornus
das Auftreten, bzw. P"ehlen der Fluoreszenz ein
gesetzmäßiges Verhalten darstellt, das auf den
Stammbaum der Gruppe ein ganz neues Licht
wirft. Dagegen kann die Farbe der Fluoreszenz
nur in geringem Grade als Verwandtschaftskri-
terium dienen. Diese Versuche bestätigen voll-
auf die von Harms geäußerte Erwartung, die
Fluoreszenzerscheinungen würden für die Syste-
matik der Gattung wertvoll sein, deren Arten
ja, besonders, wenn Früchte nicht vorliegen, zum
Teil recht schwierig zu unterscheiden sind. Das
Auftreten der Fluoreszenz zeichnet
ganz bestimmte Verwandtschaftskreise
aus, ebenso ist ihr Fehlen ein eindeu-
tiges Merkmal besonderer Gruppen. Zum
578
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Schlüsse betont Lingelsheim die Möglichkeit
ähnlicher Beziehungen bei anderen Gattungen, die
er besonders bei Aesculus für wahrscheinlich
hält. Kr.
Botanik. Geschlechtlichkeit bei den Laminarien.
Bei einer vergleichenden Betrachtung der Fort-
pflanzungsverhältnisse im Pflanzenreich erschien
es immer unverständlich, daß die größten Tange,
die Laminariaceen, die an Größe und Organisation
schon den Blütenpflanzen vergleichbar sind, sich
nur einfach ungeschechtlich durch Schwärmsporen
fortpflanzen sollten, während die ihnen ähnlichen,
aber morphologisch nicht einmal so hoch organi-
sierten l*\icaceen deutliche Eibefruchtung bei höchst
verschieden gebildeten männlichen und weiblichen
Geschlechtsorganen zeigen. Zwar wollte vor kurzem
ein Beobachter gesehen haben, daß die Schwärm-
sporen kopulieren, daß also der Keimung der
Sporen eine Befruchtung vorausgehe, doch es
erwies sich, daß die als männliche Reproduktions-
zellen gedeuteten Gebilde Monaden gewesen sind.
Nun aber hat der bekannte französische Algologe
Sauvageau eine Entdeckung gemacht, die eine
höchst merkwürdige Entwicklung der Laminarien
kennen lehrt und die wohl als das wichtigste Er-
gebnis auf dem Gebiete der Algenkunde in letzter
Zeit zu betrachten ist. Er fand nämlich bei einigen
Arten dieser Gruppe einen Generationswechsel
und zwar in der Form, daß aus den Schwärm-
sporen eine winzige, bisher übersehene Geschlechts-
generation, ein Prothallium, hervorgeht und daß
sich erst das befruchtete Ei des weiblichen Pro-
thalliums zur eigentlichen Pflanze entwickelt. Die
Arten, bei denen er dieses Verhältnis konstatieren
konnte, sind Saccorhiza bulbosa, Laminaria flexi-
caulis u. L. saccharina. Die winzigen Schwärm-
sporen bilden nachdem sie zur Ruhe gekommen
sind, einen Keimschlauch, der sich zu kleinen
verzweigten Fäden entwickelt, ähnlich einem Moos-
protonema. Doch kann auch ein solches Ge-
schlechtspflänzchen nur aus ein paar Zellen be-
stehen. Die einen bilden Antheridien, sind also
männliche Prothallien, die anderen, die weiblichen
Prothallien , bilden ( )ogonien. Das aus der
letzten oder vorletzten Fadenzelle entstehende
Antheridium liefert ein Antherozoid, das dem der
Fucaceen ähnlich ist, also eine schlanke, durch
zwei seilliche Zilien bewegliche, nackte Schwärm-
zelle. Der Inhalt des (logoniums tritt als nackte
Eizelle aus, bleibt an der Mündung der Mutter-
zelle sitzen und wird hier offenbar befruchtet,
doch teilt Sauvageau über diesen Vorgang
^) C. Sauvageau, Sur la se.\ualite heterogamique d'une
Laminaire (Saccorhiza bulbosa) (Comples rendus de l'Acad.
des sc. de Paris. T. i6l. p. 796).
Idem eodem T. 162. p. 601 : Sur les gamctophytcs de
deux Laminaires (L. flexicaulis et L. saccharina).
Da die genannten Bände während des Krieges erschienen
sind, werden sie in vielen Bibliotheken nicht zu haben sein.
Deshalb sind auch diese sowie die vorhergehenden, dort
zitierten .Aufsätze Sauvageau's wohl rielen deutschen
Botanikern unbekannt geblieben.
noch nichts mit. Das Ei entwickelt sich ohne
Ruhepause zum Embryo, der zunächst aus einem
kurzen Zellenfaden besteht. Dessen unterste Zelle
liefert das erste Rhizoid, sein oberer Teil verbreitert
sich durch entsprechende Zellteilungen und wächst
zur eigentlichen Pflanze heran, die wir dann als
Sporophyten zu bezeichnen hätten. Die Reduktion
der Chromosomen wird also jedenfalls erfolgen,
wenn sich der Inhalt des Sporangiums in die Zoo-
sporen teilt. Diese Sporangien stehen in großer
Menge mit sterilen Haaren gemischt auf der Ober-
fläche des Laubes und bilden Flecken von mehr
oder minder scharf begrenzter F"orm, die man
Sori nennt. Vermutlich werden die echten La-
minariaceen alle einen Generationswechsel besitzen
entsprechend den von Sauvageau zuerst ge-
machten und von Kylin und Kuckuck bereits
bestätigten Angaben. Wie sich andere Braun-
algen, die bisher für ganz geschlechtslos angesehen
wurden, in dieser Beziehung verhalten, muß die
Zukunft lehren. Möbius.
Physik. In seinem berühmten Vortrage über
Licht und Elektrizität auf der Naturforscherver-
sammlung in Heidelberg (1889) verglich Hein-
rich Hertz die elektromagnetische Lichttheorie
mit einem Gewölbe, das eine Kluft unbekannter
Dinge überspannt. „Alles was man lange Zeit
zur Kräftigung dieses Gewölbes tun' konnte, be-
stand darin, daß man seine beiden Widerlager
verstärkte. Wenn es dadurch auch in den Stand
gesetzt wurde, sich selber dauernd zu tragen, so
hatte es doch eine zu große Spannweite, als daß
man es hätte wagen dürfen, auf ihm als sicherer
Grundlage weiter in die Höhe zu bauen. Hierzu
waren besondere Hauptpfeiler nötig, welche vom
festen Boden aus aufgemauert, die Mitte des Ge-
wölbes faßten. Einem solchen Pfeiler wäre der
Nachweis zu vergleichen gewesen, daß wir aus
dem Licht unmittelbar elektrische oder magnetische
Wirkungen erhalten könnten, einem anderen Pfeiler
der Nachweis, daß es Wellen elektrischer und mag-
netischer Kraft gibt, die sich nach Art der Licht-
wellen ausbreiten. Eine harmonische Vollendung
des Gebäudes wird den Aufbau beider Pfeiler er-
fordern". Während die Grundsteinlegung und ein
guter Teil des Ausbaus des zweiten Pfeilers von
Heinr. Hertz selbst vollbracht und von anderen
Forschern so weit gefordert ist, daß er eine mäch-
tige Stütze des ganzen Baues darstellt, ist der erste
Pfeiler auch heute noch nicht vollständig errichtet
worden. Wir kennen zwar eine ganze Reihe von
Wechselwirkungen zwischen Licht einerseits und
elektrischen und magnetischen Kräften andererseits
(elektromagnetische Drehungder Polarisationsebene,
lichtelektrische Erscheinungen, ZeemanefTekt und
die unlängst von J. Stark entdeckte Aufspaltung
von Spektrallinien unter dem Einfluß starker
elektrischer Felder), aber dieses Tatsachenmaterial,
so rückhaltig es auch zu sein scheint, ist dennoch
zu geringfügig, um bei der großen Zahl der not-
wendigen Hilfshypothesen die volle Sicherheit der
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
579
Schlüsse zu gewährleisten. Es ist daher von Be-
deutung, daß der Bau des von der optischen Seite
errichteten Stützpfeilers auf einem ganz anderen
Wege hat gefördert werden können, nämlich durch
die Erforschung des ultraroten Spektrums.
Über die Bedeutung des ultraroten
Spektrums für die Bestätigung der
elektromagnetischen Lichttheorie hat
Rubens in der Sitzung der Preußischen Akademie
der Wissenschaften, in der öffentlichen Sitzung am
25. Januar 1917 den Festvortrag gehalten.^)
Die Schwierigkeiten, Messungen um Ultraroten
(Wellenlänge größer als 0,8 a = o,ooo8 mm) aus-
zuführen, sind einesteils darin begründet, daß das
Auge auf diese langwelligen Strahlen nicht an-
spricht, man muß also erst ein Mittel schaffen,
sie nachzuweisen : (Thermosäule, Bolometer). Ferner
werden die Strahlen von einem Glasprisma zum
allergrößten Teil absorbiert. Durch Verwendung
von Prismen aus Steinsalz und Sylvin ist es ge-
lungen, Wellenlängenmessungen bis zu 23 /( d. i.
das 40 fache der Wellenlänge des Natriumlichtes
auszuzuführen. Eine weitere Ausdehnung der
Messung ist wegen der Absorption der Prismen-
substanz nicht möglich. Auf einem anderen von
Rubens angegebenen Wege gelingt es weiterzu-
kommen: Nach unseren Vorstellungen vom Aufbau
der Materie ist es vorauszusehen, daß jeder Körper
ganz bestimmte Ätherwellen absorbiert nämlich
diejenigen, deren Schwingungszahl mit der Eigen-
frequenz jener schwingungsfähigen Gebilde über-
einstimmt, aus denen sich der Körper aufbaut.
Bei den regulären Kristallen mit einatomigem
Raumgitter hat man berechnen können, daß nur
eine solche Resonanzstelle (Absorptionsbande)
vorhanden ist, die im Gebiete der äußerst lang-
welligen ultraroten Strahlen liegt. In unmittel-
barer Nähe dieser Absorptionsstreifen nimmt das
Reflexionsvermögen außerordentlich hohe Werte
an, wie wir's bei der metallischen Reflexion etwa
an einem Silberspiegel für Lichtstrahlen beobachten.
Das kann man nun benutzen, um einzelne lang-
wellige Strahlenkomplexe auszusondern. Läßt man
z. B. Sirahlen aller Wellenlängen auf eine Stein-
salzfläche fallen, so werden diejenigen, deren
Wellenlänge um 52 /( herum liegt, besonders stark
reflektiert, während alle übrigen in den Kristall
eindringen. Läßt man das reflektierte Strahlen-
bündel noch mehrere Mal an einem Spiegel aus
dem gleichen Kristall reflektieren, so enthält er
schließlich nur Strahlen von der angegebenen
Wellenlänge ; sie werden Reststrahlen genannt.
Sie sind in der folgenden Tabelle für verschiedene
Substanzen zusammengestellt.
Flußspat
Steinsalz
ttlere Wellenlänge
24,0 u. 31,6 /(
52,0 ((
Reststrahlen von
Mittlere Wellenlänge
Sylvin
63.4
Chlorsilber
81,5
Bromkalium
82,6
Thalliumchlorür
91,6
Jodkalium
94,1
Bromsilber
112,7
Thalliumbromür
117,0
Tiialliumjodür
151,8
') Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wi
IV S. 47-
Man sieht, wie außerordentlich unsere Kennt-
nis des ultraroten Spektrums durch die Methode
der Reststrahlen erweitert ist. Sie umfassen einen
Wellenlängenbereich vom 40 fachen bis zum
250 fachen des Natriumlichtes. Daß man mit dieser
Methode noch größere Wellenlängen isoliert, ist
nicht wahrscheinlich, da es nicht viele für optische
Zwecke verwendbare Substanzen gibt, deren Raum-
gitterschwingungen noch langsamer erfolgen als
bei dem Thalliumjodür. Außerdem werden die
Messungen durch die sehr geringen Strahlungs-
intensitäten sehr erschwert; so beträgt bei den
Reststrahlen des Thalliumjodürs ihre Intensität
kaum mehr als ein Millionstel der Gesamtstrahlung
des als Strahlungsquelle benutzten schwarzen
Körpers von looo " C.
Auf einem anderen Wege kann man noch weiter
in das Gebiet des Ultraroten eindringen, es ist
die Quarzlinsenmethode; auch sie ist von
Rubens angegeben. Quarz ist für ultraviolettes
und sichtbares Licht sehr durchlässig, für ultra-
rote Strahlen bis zu 21 /( etwa nimmt seine
Durchlässigkeit ab, um für größere Wellenlängen
wieder zuzunehmen. Sein Brechungsexponent für
diese langwelligen Strahlen ist sehr groß; ein
Quarzprisma lenkt sie doppelt so stark ab wie die
Licht- und Wärmestrahlen, so daß eine Trennung
dieses langwelligen Teils von dem kurzwelligen
leicht möglich ist. F"ür eine Linse aus Quarz liegt
ihr Brennpunkt jenes langwelligen Strahlengebietes
viel dichter an der Linse als für den kurzwelligen
Teil. Sie entwirft mithin von einer Lichtquelle
zwei Bilder hinter der Linse, von dem das eine
die gewöhnlichen Licht- und Wärmestrahlen ent-
hält, während das andere, viel näher an der Linse
liegende die gesuchte langwellige Strahlung ver-
einigt. Man stellt die Lichtquelle nun so zur Linse
auf, daß das erste Bild virtuell wird, während das
zweite reell bleibt. An die Stelle, wo das „lang-
wellige" (natürlich unsichtbare) Bild entsteht, bringt
man eine Blende, die gerade jenes Bild aufnimmt.
Dann dringen die langwelligen Strahlen durch die
Blendenöffnung hindurch, während von den
divergenten Strahlen, die vom virtuellen sichtbaren
Bild ausgehen, kein merkbarer Bruchteil hinter
den Blendenschirm gelangt. Durch Wiederholung
des Isolierverfahrens mittels einer zweiten Quarz-
linse enthält man den langwelligen Strahlungsanteil
in vollkommener Reinheit. Die LIntersuchung einer
Reihe von Strahlungsquellen nach diesem Verfahren
lieferte eine inhomogene Strahlung mit einem
Maximum bei etwa lOO ,«. Die Quarzqueck-
58o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 41
silberlampe enthält Strahlen von noch größerer
Wellenlänge; die nach dem geschilderten Verfahren
isolierte Strahlung besteht aus zwei Teilen, von
denen der eine von dem heißen Quarzrohr stammt
und keine Besonderheiten zeigt. Der zweite Teil
geht von dem leuchtenden Quecksilberdampf aus
und seine Untersuchung zeigt, daß er aus zwei
Emissionsbanden besteht, deren Maxima bei 218
und 34:"2 /< gelegen sind; die Wellenlänge ist dem-
nach größer als '/s mm-
Während sich das sichtbare Spektrum von
Violett 0,4 /( bis Rot 0,8 ß erstreckt, also in der
Ausdrucksweise der Akustik eine Oktave umfaßt,
enthält das ultrarote Spektrum, soweit es durch
rein optische Methoden untersucht ist, 8 — 9 Okta-
ven; es übertrifft danach an Umfang der Schwin-
gungszahlen die Tonskala eines modernen Konzert-
flügels. Interessant ist ein Vergleich mit dem
bisher erforschten ultravioletten Teil des Spek-
trums; es umfaßt nicht ganz drei Oktaven, von
0,4 (.1 bis 0,06 ;(. Dann folgt ein Gebiet von nahezu
sechs Oktaven, das uns noch vollständig unbekannt
ist. Daran schließen sich die Röntgenstrahlen
mit 6'/,, Oktaven. Mithin beträgt der Umfang
des uns bekannten optischen Spektrums heute
etwa 19 Oktaven, von denen aber nur eine einzige
durch unser Auge wahrgenommen wird.
Es fragt sich nun, wie die Erforschung
des ultraroten Spektrums zur Prüfung
der elektromagnetischen Lichttheorie
dienen kann. Die Max well'schen Gleichungen
gelten nur für ein kontinuierliches Medium d. h.
für strukturlose Medien, in denen weder selektive
Absorption noch Farbenzerstreuung vorkommen
kann. Wir nehmen aber einen diskontinuierlichen
Bau der Materie an, indem wir sie aus einzelnen
Atomen aufgebaut denken. Nun ist allerdings
eine Beeinflussung der elektromagnetischen Wellen
durch die Eigenschwingungen der Atome so lange
nicht zu erwarten, als die Schwingungszahl der
Wellen sehr viel kleiner ist als die Eigenfrequenz
der schwingungsfähigen Gebilde, aus denen der
Körper besteht, weil dann Resonanzerscheinungen
ausgeschlossen sind, d. h. langen Wellen gegen-
über weicht das Verhalten der Körper nicht
wesentlich von dem des in der Theorie voraus-
gesetzten Kontinuums ab. In den kurzwelligen
Teilen des Spektrums dagegen, in denen die
Schwingungszahlen von derselben Größenordnung
wie die molekularen Eigenfrequenzen sind, wird
die Theorie versagen. Je weiter wir im Spek-
trum nach den langen Wellen fortschreiten und
uns damit von dem Gebiet der molekularen
Eigenschwingungen entfernen, um so mehr müssen
wir erwarten, daß die von Maxwell entwickelten
Beziehungen zwischen optischen und elektrischen
Eigenschaften der Körper sich als richtig erweisen.
Hier tritt also die Bedeutung des langwelligen
ultraroten Spektrums deutlich zutage.
Als erste solcher Beziehung kommt eine Ab-
hängigkeit zwischen dem elektrischen Leitver-
mögen, der Extinktion für eine gegebene Strahlenart
und der Wellenlänge dieser Strahlen in Betracht.
Die Formel sagt aus, daß die besten elektrischen
Leiter für eine gegebene Wellenlänge die höchsten
Extinktionskoeffizienten besitzen, mithin die un-
durchsichtigsten Substanzen sind. Qualitativ wird
dieser Satz durch die Erfahrung ohne weiteres be-
stätigt, indem die besten Leiter, die Metalle, die
undurchsichtigsten Substanzen sind. Bei einer
quantitativen Prüfung versagt indessen die Formel
vollständig. Die aus dem Leitvermögen er-
rechnete Durchlässigkeit ist bei den Metallen um
ein Vielfaches geringer als die optisch beobachtete.
Diese Unstimmigkeiten schwanden, als Rubens
und seine Mitarbeiter nicht die Durchlässigkeit
für sichtbares Licht, sondern für ultrarote Strahlen
bestimmten. Je weiter man nach der langwelligen
Seite fortschreitet, um so besser wird die Über-
einstimmung. Für die Reststrahlen des Fluß-
spates ist sie vollkommen zwischen der beobach-
teten Absorption und den aus dem elektrischen
Leitvermögen berechneten Werten. Es wurden
12 reine Metalle und 21 Legierungen untersucht
und eine erhebliche Abweichung nur bei dem
Wismut gefunden, das sich ja auch in anderer
Hinsicht abnorm verhält. (Daß aus praktischen
Gründen statt der Extinktion die Emission der
Metalle bestimmt wurde, ist ohne Bedeutung, da
es für diese eine entsprechende Beziehung gibt wie
für jene.) Man ist also mh Hilfe der Maxwell-
schen Formel imstande, das elektrische Leit-
vermögen eines Metalls aus optischen
Strahlungsmessungen zu bestimmen
und umgekehrt.
Der zweite aus der Max well' sehen Theorie
abgeleitete Satz besagt, daß das Quadrat des
Brechungsexponenten gleich der Dielektrizitäts-
konstanten der betreffenden (nichtleitenden) Sub-
stanz sein muß. Bei den Gasen und einigen
wenigen festen und flüssigen Stoffen wird diese
Beziehung durch die Erfahrung bestätigt, wenn
man den Brechungsexponenten für sichtbares Licht
einsetzt. Bei der Mehrzahl der Stoffe ergibt sich
wegen der Störung durch die molekujaren Eigen-
schwingungen keine befriedigende Übereinstim-
mung, ja vielfach starke Abweichungen von der
von der Theorie geforderten Gesetzmäßigkeit.
Mit Hilfe der langwelligen Quecksilberdampf-
strahlung sind von Rubens und seinen Mit-
arbeitern 35 feste Körper (20 Kristalle und 15 amor-
phe Substanzen) untersucht und ihre Brechungs-
exponenten und Dielektrizitätskonstanten gemessen
worden. In allen Fällen ist die Maxwell'sche
Beziehung mit hinreichender Genauigkeit erfüllt.
Bei den Flüssigkeiten lassen sich zwei Gruppen
unterscheiden; in der ersten, zu der u. a. Benzol,
Xylol und Schwefelkohlenstoff gehören, ist schon
für relativ kleine Wellenlängen des ultraroten
Spektrums die Gleichung gültig, bei der zweiten
dagegen — ihr gehören Wasser, Glycerin und
die Alkohole an — ist auch für die langwelligsten
bekannten Strahlen die Annäherung der Brechungs-
exponenten an die Wurzel aus der Dielektrizitäts-
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S81
konstanten noch lange nicht vollendet. Bei diesen
Substanzen muß daher bei noch viel längeren
Wellen (etwa im Bereich der Hertz' sehen Wellen )
nochmals starke Absorption und anomale Dispersion
auftreten, was in den meisten Fällen auch tat-
sächlich beobachtet worden ist. Diese Absorption
beruht indessen nicht auf molekularen Eigen-
schwingungen, sondern nach Debye auf dem
richtenden Einfluß, welche das elektrische Wechsel-
feldder Schwingungen auf die elektrisch polarisierten
Flüssigkeitsmoleküle ausübt.
Die Kenntnis des ultraroten Spektrums hat
also auf zwei wichtigen Gebieten zu einer quan-
titativen Bestätigung der elektromagnetischen Licht-
theorie geführt. Wir sind imstande, das elektrische
Leitvermögen eines Metalls und die Dielektrizitäts-
konstante eines festen Isolators aus rein optischen
Messungen zu ermitteln. K. Seh.
Bücherbesprechungen.
Karl Sapper ; GeologscherBau und Land-
schaftsbild. Die Wissenschaft. Band 61 mit
16 Abbildungen. Friedrich Vieweg und Sohn,
Braunschweig 191 7.
Ein Buch liegt uns hier vor, das aus dem
reichen Schatz eigener Forschungen uns Anschau-
ungen in überaus lebendiger Darstellung und der
Erde verschiedene Landschaftstypen in ihrer Ab-
hängigkeit vom geologischen Bau und als Produkt
geomorphologischer Vorgänge darstellt. Wie man
das Landschaftsbild subjektiv begreift, welche Ver-
änderung es erleben kann durch Beleuchtung in
den Jahreszeiten, Tageszeiten, welche Elemente die
Landschaft bilden (biologische, anorganische) er-
fährt man in den einleitenden Abschnitten. Rein
geologische Studien zum Verständnis des Land-
schaftsbildes bietet der Verf erst im 4. Abschnitt
dar (Die Grundformen oder primären Struktur-
formen), im 5. Abschnitt (Abtragung und Auf-
schüttung). Den Schluß des allgemeinen Teiles
bildet die Behandlung der hydrologischen Deck-
gebilde und des Hüllgebildes der Erde (Atmo-
sphäre) als geologische Faktoren, die Einfluß auf
den geologischen Aufbau des Landschaftsbildes
gewinnen. — Im besonderen Teil schildert der
Verf. einzelne Typen der Erdenlandschaften. Und
darin liegt der höhere Wert des Buches, weil er
darin vieles gibt, was er mit eigenen Augen ge-
sehen hat, was seine eigenen Forschungen sind.
Er gibt uns den Typus der „regenfeuchten Tropen-
landschaft, der offenen Tropenlandschaft, der tro-
pischen und subtropischen Wüsten- und Halb-
wüstenlandschaft, der feuchten Landschaft der ge-
mäßigten Zone, der Steppen und Wüsten der ge-
mäßigten Zone, der Hochgebirge der mittleren
und niederen Breiten, der subpolaren und polaren
Landschaft, der Meeres- und Küstenlandschaften."
Hundt, im Felde.
Anregungen und Antworten.
über das Familienleben der Störche konnte ich in diesem
Jahre eine eigenartige Beobachtung machen. In Hudemühlen
a. d. Aller befindet sich auf einem Hause ein Storchnest, das
wie alljährlich so auch in diesem Jahre von einem Storch-
paare bezogen wurde. Als ich die Störche in diesem Jahre
zum ersten Male sah, waren sie gerade beim Brüten. Einige
Zeit später, als die Jungen eben ausgeschlüpft waren, sah ich
bei ihnen nur einen alten Storch. Auf Befragen erfuhr ich, daß
der andere alte Storch im Fluge gegen die Hochspannungs-
drähte gestoßen und durch den elektrischen Strom getötet war.
Die Kinder der Nachbarschaft hatten ihn bestattet, leider konnte
ich nicht feststellen, ob das männliche oder das weibliche
Tier verunglückt war. Ganz überrascht war ich, beim dritten
Besuche des Ortes wieder zwei alte Störche auf dem Neste zu
sehen. Wie ich erfuhr, hatte sich etwa acht Tage nach dem
Tode des einen Storches ein neuer Storch eingestellt, der dem
übriggebliebenen getreulich bei der Pflege und Aufzucht der
Jungen half. Durch nichts war festzustellen, daß es sich hier
um einen Stiefvater oder eine Stiefmutter handelte, das Ver-
halten der beiden alten Störche entspricht durchaus dem
üblichen Verhalten.
In der mir zugänglichen Literatur finde ich keinen ähn-
lichen Fall verzeichnet. In Brehm's Tierleben heißt es; „Aus
allen Beobachtungen darf man folgern, daß die Ehe eines
Storchpaares für die Lebenszeit geschlossen wurde und beide
Gatten sich in Treue zugetan sind." Und im Anschluß daran
erzählt B r e h m eine von E. v. Horaeyer verbürgte Geschichte
von einem weiblichen Storch, der nach dem Tode des Gatten
über 1 1 Jahre allein blieb, trotzdem er viel umworben wurde.
In diesem Falle scheint der alte Storch sich schneller über den
Verlust des Gatten getröstet zu haben. Vielleicht aber war
es auch die Sorge um die Jungen, die ihn veranlaßte, von der
sonstigen Regel abzuweichen. Jedenfalls gibt ein derartiger
Fall dem Naturbeobachter und Tierpsychologen eine Reihe
von Fragen auf, deren Beantwortung sehr erwünscht wäre,
aber wohl kaum im Bereich der Möglichkeit liegt. Immerhin
könnte durch Mitteilung ähnlicher verbürgter Fälle in gewissem
Sinne Klarheit geschaffen werden. E. Zieprecht.
Zum Artikel in der Naturw. Wochenschr. Bd. 32 S. 201.
Sind die Maskarenen und die zentralpazifischen Inseln ozeanisch .'
erlaube ich mir eine Mitteilung zu machen, die vielleicht von
Interesse ist.
Prähistorische Steinfiguren wie auf der Osterinsel sind
auch auf Necker Island, nordwestlich von Hawaii unter dem
Wendekreise gelegen, gefunden.
Ende Mai 1SQ4 annektierte die damalige provisorische
Regierung von Hawaii jene Insel um den Engländern zuvor-
zukommen, die man in Verdacht hatte Necker Island als
Station für ihr transpazifisches Kabel besetzen zu wollen.
Die Flaggenhissungsexpedition fand dort Monolithe wie
auf der Osterinsel. Der schwierigen Landung und der schweren
See wegen konnte der .Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein.
Ich hielt mich in den Jahren 1S91 — 1S97 auf Hawaii auf
und meine Nachricht stammt aus dem Bericht über genannte
Expedition in der Hawaiian Gazette zu der Zeit veröffentlicht.
Her
Brons.
Der Sonnentau als Insektenvertilger. In einem Moore der
Hehlenteiche beim DorfeVVinkel (Kreis Gifhorn) ist in diesem
Jahre, begünstigt durch die anormalen Witterungsverhältnisse,
auf einer großen Fläche der Sonnentau (Drosera intermedia)
S82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
recht üppig gediehen. Das weithin leuchtende Rot der Wimper-
härchen, mit denen die Blätter berandet und auf deren lebhaft
grüner Oberseite besetzt sind und an deren Spitze ein Tau-
tröpfchen im Sonnenschein glitzert, sind Anreiz genug, die
Insekten herbeizulocken. Eine Unmenge hiervon, besonders
Schmetterlinge, ließen sich nun auf dieser Sonnentaukolonie
nieder. Von den Schmetterlingen waren es vorzugsweise Weiß-
linge (Pieris brassicae, rapae und napi), die der verführerischen
Einladung zu einem Besuclie der Sonnentaupflanzeu nicht
widerstehen konnten. Zunächst waren es nur einige, die sich
dort einfanden, an den klebrigen Tautröpfchen hängen blieben
und sogleich von den Tentakeln am Kopfe umklammert wurden,
wobei sich das betreffende Blatt bald über den Kopf des
Insekts krümmte, um das Opfer desto sicherer festzuhalten und
es mit Hilfe eines pepsinhaltigen Saftes aufzulösen und zu
verdauen.
Die Anwesenheit einiger Weißlinge reizte vielleicht andere
Artgenossen an dem vermeintlich leckeren Mahle teilzunehmen.
Auch sie ereilte das gleiche Schicksal. So war denn schließ-
lich (zu Beginn des Juli) die ganze weite Sonnentaufläche von
Weißlingen wie übersäet — ein eigenartiges Bild lür den Be-
schauer! Was die Raupen den Feld- und Gartenfrüehten der
dortigen Gegend an Schaden zugefügt hatten, rächten diese
kleinen Pflanzen au den Schmetterlingen und deren Nach-
kommenschaft. Julius Reißner-Braunschweig.
Luftvvellen als Schlieren sichtbar. (Mit I Abb. im Te.xt.)
Die MitleiluDgen der Herren Franz und Mi ehe in Nr. 32
der Xaturw. Wochenschr., über Beobachtung von Luftschlieren
unmittelbar mit den Augen oder durch ein Fernglas, bringen
Beobachtungsmöglichkeiten in Erinnerung, die in wissen-
schaftlichen Kreisen seit mehr als einem Vierteljahrhundert
bekannt, seitdem aber auch wieder in Vergessenheit geraten
waren.
Besonders darf ich in dieser Hinsicht eine Veröffentlichung
des Geh. Reg.-Rats Herrn Dr. F. Neesen anführen über
„die Photographie in ihrer Verwendung bei Untersuchung der
Bewegung und Wirkung von Geschossen", die in einem Ab-
schnitt das Verhalten der Luft beim Geschoßdurchgang aus-
führlich behandelt. Sie ist im Aprilheft 1917 der Artilleristi-
auf S. 1048—1049. Sie geht von der Entdeckung dieser Be-
obachtungsweise durch den französischen Hauptmann Journee
aus, dessen Darstellung Mach nur insofern berichtigt, als er
die von Journee vertretene Ansicht des belgischen Physikers
Melsens, eine Masse oder Hülle dichter Luft würde vom
Geschosse mitgenommen, durch seine erwähnte Auffassung eines
Schwingungsvorgangs ersetzt wissen will. Die Anmerkung hat
im wesentlichen folgenden Wortlaut:
,,Herr Journee hat, hinter dem Gewehr stehend, mit
einem Fernrohr in der Schußrichtung visierend, die fliegenden
Projektile samt ihrer Lufthülle (Wellengrenze) beobachtet, was
bei der perspektivisch stark verkleinerten Geschwindigkeit und
der merklichen Lichtreflexion an der bedeutend verdichteten
Luft ganz wohl verständlich ist. An Schärfe und Reinheit
müssen natürlich die Bilder, welche sich Herrn Journee
zeigten, hinter den unsrigen weit zurückstehn. da die ersteren
keine Momentbilder sind, sondern aus der Überdeckung von
Bildern entstehen, welche verschiedenen Zeiten angehören.
Abgesehen davon, daß sie eine ungünstige perspektivische An-
sicht bieten. Das von Herrn Journee angewandte Prinzip
der perspektivischen Verkleinerung der Geschwindigkeit wird
vielleicht noch mehrfach nützlich werden. Ich möchte hier
bemerken, daß man nach diesem Prinzip große Geschosse auch
ohne P'ernrohr verfolgen kann. Stellt sich der Beobachter B
nahe an das Geschütz so, daß er etwa unter 45" gegen die
Schußlinien auf die Geschützmündung M hinsieht, so beschreibt
ein Geschoß von 500 Sem Geschwindigkeit den Gesichts-
winkel MBS|, von etwas unter 45" in einer Sekunde. Seine
scheinbare Größe sinkt aber, wenn es '/j m Durchmesser hat,
nur auf etwa 4' (Gradminuten). Es bleibt also dann noch
etwa 7 s (Zeitsekunden) sichtbar, bis es, bei der scheinbaren
Größe von '/,,', verschwindet. Ein Geschoß von 2 Zentimeter
Durchmesser erscheint unter denselben Umständen schon
nach '/öS in der Größe von '/s't verschwindet also. Ich glaube,
daß sich der Journee'sche Versuch, bei einigen zweck-
mäßigen Anordnungen, mit großen Projektilen besonders schön
ausführen ließe."
Soweit Herr E. Mach. Den beschriebenen Versuch
scheinen weder er noch seine Mitarbeiter wirklich ausgeführt
zu haben. Jedenfalls findet sich in den Sitzungsberichten der
Wiener Akademie, in denen er sonst über die neuen Versuche
s^
Fernro hr be obach tung größerer Geschosse im Fluge
nach dem J o urne e ' sehen Prinzip der perspektivischen Verkleinerung der
Geschwindigkeit.
Zeichnung von Wilhelm Krebs nach einem Entwurf E. Mach 's.
sehen Monatshefte erschienen, jener Abschnitt auf S. 155 u. ff.
Er bedarf notwendig einer Ergänzung. Sie soll deshalb be-
sonders rasch geboten werden, weil ohne sie wertvolle Be-
obachtungen für die, zumal in dieser Kriegszeit, alltäglich sich
die Möglichkeit bietet, unterbleiben könnten.
Herr Neesen warf auf S. 155 die Frage auf, wie die
Luftverdichtung vor einem, schneller als der Schall dahin-
fliegenden Geschosse zu erkennen sei. Er beantwortet sie
damit, daß ,, unser Auge nicht empfindlich genug" sei, daß
dagegen die von E. Mach nach Töpler auf die Luft ange-
wandte Schlierenphotographie jenen Vorgang, den man nach
Mach selbst übrigens nicht als Luftschicht, sondern als
Wellenverdichtung aufzufassen hat, sichtbar mache.
Demgegenüber ist zu bemerken, daß die Augen-, bzw.
Fernrohrbeobachtung dieser sog. Mach 'sehen Kopf- oder
Scheitelwelle durchaus möglich und von Mach selbst für die
Verfolgung größerer, also besonders artilleristischer Geschosse
empfohlen ist. Das ist in einer Anmerkung zu seinem Berichte
über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des durch scharfe
Schüsse erregten Schalles geschehen, den er der Wiener
Akademie am II. Oktober 1888 erstattete. Sie findet sich
zu berichten pflegte, nichts darüber. Übrigens hat auch
Journee in dem Pariser Sitzungsberichte, der von MacTi
alsjournee's Veröft'entlichung allein angegeben ist, über
seine Entdeckung selbst Nichts verlauten lassen. Um so tat-
kräftiger sollte nunmehr der Beobachtungsvorschlag E. Mach 's,
besonders an großen Geschossen, ins Werk gesetzt werden.
Daß solche Beobachtungen auch für die militärische Praxis
nicht ohne Wert sind, wird durch die Bemerkung des Herrn
Prof Dr. Miehe belegt, „daß sich auch dann, wenn der
Gcschoßeinschlag nicht oder nicht scharf sichtbar war, ziem-
lich gut das Ergebnis des Schusses angeben ließ".
Bei Artilleriegeschossen von '/„ m Länge kann die
Verfolgung, nach den oben wiedergegebenen Darlegungen,
bis fast auf 2'/.., bei großen Granaten von I m Länge
sogar über 4'/2 Kilometer Entfernung stattfinden.
Dazu tritt die rein wissenschaftliche Bedeutung dieser Be-
obachtungen, die sogar bis in die Arbeitsgebiete der Astronomie
reicht. Das gilt für eine häufige Nebenbeobachtung bei
Sonnenfinsternissen, besonders bei totalen. Es sind die soge-
nannten „F'liegenden Schatten", Schattenstreifen, die sich un-
mittelbar vor Beginn und unmittelbar nach Schluß der stärksten,
N. F. XVI. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S83
bzw. totalen Verfinsterung einstellen und ungefähr senkrecht
zu ihrer eigenen,- parallelen Erstreckung vorüberlaufen.
Nach früheren Ansichten auf die Totalitätszone beschränkt,
wurden sie zuerst am 30. August 1905, auf der von mir be-
dienten nordatlantischen Station, dem Postdampfer ,, Patricia"
der Hamburg- Amerika- Linie, auch im Parlialgebiete der da-
maligen Sonnenfinsternis festgestellt. In Nr. 4074 der Astro-
nomischen Nachrichten, in der darüber berichtet ist, ist auch
meine Erklärung dieser Erscheinung -wiedergegeben. Sie kam
auf den Schattenwurf eines besonders kräftigen Wellenzuges
an einer der Grenzflächen der windgeschichteten Erdatmosphäre
hinaus. In der Sache kommt diese Sichlbarwerdung überein
mit, derjenigen atmosphärischer Schlieren. Nur handelt es sich
um ein Projektionsbild, nicht um unmittelbares Sehn, wie in
dem Miehe 'sehen Falle.
Dieses Projektionsbild der Fliegenden Schatten wurde an
jenem 30. August 1905 von Schififsoffizieren, Passagieren des
Dampfers und von mir selbst auf der Oberfläche des Atlantik
vorübereilend gesehn. Vielfältig beobachtet ist es auf dem
festen Erdboden und sonst auf irdischen Gegenständen, bei
der Sonnenfinsternis des 17. .\pril 1912 auch auf Schul- und
Fensterbänken (A. N. 4597, S. 219— 220).
In diesem, gleicherweise von mir untersuchten und ver-
öffentlichten Falle, -wie in dem des 30. August 1905, konnte
die beobachtete Richtung des Wellenzuges in Übereinstimmung
gefunden werden mit einer aus meteorologischen Gründen
erschlossenen Hochströmung der Atmosphäre, die solchen
Wellenschlag auf ihrer Grenzfläche erzeugen mußten.
Streifungserscheinungen beim Auf- und Untergang der
Sonne, also bei ihrem horizontnahen Stande, die ich bereits
in der ersten Veröffentlichung vom November 1905 (A. N. 4074,
S. 283) zur Bekräftigung meiner Theorie heranzog, sind in-
zwischen von anderen Beobachtern noch umfassender bestätigt.
So steht nichts im Wege, die Franz 'sehe Beobachtung
aus einem ähnlichen Wellenschlag in der Atmosphäre zu er-
klären- Denn ebenso gut wie auf einer Wasserfläche und wie
auf den Oberflächen fester irdischer Gegenstände, wird ein
solcher Wellenschlag auch auf einer Wolkenfläche von hin-
reichender Nähe sichtbar entworfen werden können. Für
Schallschwingungen, auf die Franz selbst vermutet, erscheint
der berichtete Wellenabstand zu groß : 300 Meter, denn die
längsten Schallwellen können nur eine Länge von etwa •- ,
also von 22 Metern erreichen. Immerhin könnte auch auf
Luftschwingungen vermutet werden, die als Schall noch nicht
wahrzunehmen waren, die aber, wie dieser, durch die Laduugs-
explosionen veranlaßt wurden.
Bei der Miehe 'sehen Beobachtung dagegen handelte es
sich um die Sichtbarkeit einer echten Schallwelle. Es ist die
sogenannte Mach 'sehe Scheitel- oder Kopfwelle. Genauer
ausgedrückt, handelt es sich dabei um die erste, mechanische
Luftverdichtung, die ihren ursächlichen Anfang bildet. Diese
Vefdichtung war schon vor nunmehr 50 Jaliren, um 1S67 von
dem Brüsseler Physiker Melsens nachgewiesen worden. Doch
war sie von ihm als mitgeschleppte „enveloppe" aufgefaßt
worden. Mach, der sie zuerst 1SS5 durch Schlierenphotographie
sicherstellte, legte besonderen Wert auf ihre Erklärung als
Anfangsverdichtung einer Schallwelle. (G.C.)
Die Nr. 30 der Naturw. Wochenschr. enthält einen Auf-
sati Killermann's : Die Entdeckung der Paradiesvögel. Der
Verf. bespricht unter anderem die lange Zeit für wahr gehaltene
Beinlosigkeit der Paradiesvögel. Es dürfte vielleicht inter-
essant sein zu hören, daß. Aldro vand i in seiner Ornithologia
ein weiteres Beispiel eines fußlosen Vogels aufführt. Es handelt
sich um die fußlose indianische Drossel. (Omithologiae
über .\Vi cap. XVII. p. 2S3 u. 284)
Das Bild dieses Vogels ist Aldrovandi von dem Vor-
steher des pisan. Gartens Malocchius zugeschickt worden.
Letzterer verbürgt sich für die Wahrheit des Vorkommens. Auf
welche Tatsachen sich seine Mitteilungen an Aldrovandi
stützen, gibt dieser nicht an. Aldrovandi steht der ge-
nannten Zuschrift sehr skeptisch gegenüber. Er meint, ent-
weder sind die Beine entfernt worden, oder der Vogel muß
so abweichend gebaut sein, daß auch in der übrigen Organi-
sation auffällige Unterschiede hervortreten. Das Bild aber
zeigt, abgesehen von der Beinlosigkeit, einen vollkommen
normalen Vogel (Ornith. Hb. XVI lab. 11, Nr. 16).
Eigenartig ist, daß A 1 d r o va n d i an dieser Stelle der
.'\nnahme der Beinlosigkeit widerstrebt, während ihm doch der
Mangel der Füße bei den Paradiesvögeln durchaus einleuchtend
erscheint. (Omnibus (sc. Manucodiatis) tamen illud peculiare
est, ut pedibus Careant . . . Ornith. lib. XII. cap. .KXI.
p. 399.) Dr. Kaspar.
Literatur.
Solch, Prof. Dr. Joh., Beiträge zur eiszeitlichen Tal-
geschichte des Steirischen Randgebirges und seiner Nachbar-
schaft. Stuttgart '17, J. Engelhorns Nachfolger. — 10,60 M.
Handbuch det Regionalen Geologie. 20. Heft. Bd. 111 I.
The British Isles und 21. Heft. Bd. IV, 2a. Grönland. Heidel-
berg '17, K. Winter.
Offe, Dr. H., Politische Weltkunde. Ein Beitrag zur
Volksbildung. Mit einem Vorwort von Dr. Paul Rohr-
bach. Leipzig '17, Chr. H. Tauchnitz. — 2,50 M.
Haecker, Prof. Dr. Val., Die Erblichkeit im Mannes-
stamm und der vaterrechtliche Familienbegriff. Jena '17,
G. Fischer. — I M.
Westrußland in seiner Bedeutung für die Entwicklung
Mitteleuropas. Mit einer Einleitung von M. Sering. Leipzig
und Berlin '17, B. G. Teubner. — 4,80 M.
Arzneip flanzen- Merkblätter des Kaiserl. Gesund-
heitsamts bearbeitet in Gemeinschaft mit dem Arzneipflanzen-
Ausschuß der deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft Berlin-
Dahlem. Berlin '17, S. Springer. — 1,80 M.
Maurer, Prof. Dr. F'r., Die Beurteilung des biologischen
Naturgeschehens und die Bedeutung der vergleichenden Mor-
phologie. Rede, gebalten zur Feier der akademischen Preis-
verteilung in Jena am 16. Juni 1917. Jena '17, G. Fischer.
— 1,80 M.
Verworn, M., Biologische Richtlinien der staatlichen
Organisation. Naturwissenschaftliche Anregungen für die poli-
tische Neuorientierung Deutschlands. Jena '17, G. Fischer.
— I M.
Berichtigung. In dem Artikel ,,Nesselfaserge -
w Innung" (Nr. 38 der Naturw. Wochenschr. S. 530) ist ein
Irrtum untergelaufen. Es muß selbstverständlich statt Urtica
urens heißen Urtica dioica.
Inhalt: Ludwig Freund, Keimdrüsen und Kastration der männlichen Vögel. (I Abb.) S. 569. — Kleinere Mitteilungen:
H. Blücher und R. Krause, Druckstöcke aus Hefe. S. 571. — Einzelberichte: J. Thienemann, Krieg und
Vogelzug. S. 573. Luc an US, Die Höhe des Vogelzuges. S. 574. H. E. Ziegler, Urdarmhöhle und Cölom. S. 575.
W. Salomon, Die Bedeutung der Solifluktion für die Erklärung deutscher Landschafts- und Bodenformen. S. 576.
L i n g e 1 s h e i m , Über die Fluoreszenz wässriger Rindenauszüge von Eschen in ihrer Beziehung zur Verwandtschaft der Arten.
S. sytp. C. Sauvageau, Geschlechtlichkeit bei den Laminarien. S. 578. Rubens, Licht und Elektrizität. S. 57?.
— Bücherbesprechungen: Karl Sapper, Geologischer Bau und Landschaftsbild. S. 5S1. — Anregungen und
Antworten: Über das Familienleben der Störche. S. 581. Sind die Maskarenen und die zentralpazifischen Inseln ozeanisch?
S. 581. Der Sonnentau als Insektenvertilger. S. 5S1. Luftwellen als Schlieren sichtbar. (l Abb.) S. 5S2. Die Ent-
deckung der Paradiesvögel. S. 583. — Literatur: Liste. S. 5S3. — Berichtigung.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Bei
Verlag von Gustav Fischer in Je
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m.
in N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
b. H., Naumburg a. d. S.
584
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
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werden 5ie öesöaliigen ^rgi^bniffe der ^ieöd-^n(eif)en
ebenfo in die Ißagfcftaie falten, i»ie unfere durd)
da« 6d[}töprt errungenen troffen Erfolge ---
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 21. Oktober 1917.
Nummer 43.
Das „Wiederholungsgefühl" als Quelle des Seelenwanderungs-Glaubens.
[Nachdruck verboten.) Von Dr. R,
In der psychologischen Literatur kennt man
seit langem eine eigentümliche seelische Erscheinung,
für die sich seit dem Erscheinen einer umfassenden
Ikonographie von Bernard -Leroy^) auch im
Deutschen in steigender Häufigkeit der Name
„fausse reconnaissance" eingebürgert hat.
Eine in der Literatur allgemein eingeführte deut-
sche Bezeichnung dafür gibt es nicht. Der von
R. Baerwald gemachte Vorschlag, „Pseudo-
B e k a n n t h e i t s g e f ü h 1" zu sagen, trifft zwar das
Wesen der Sache verhältnismäßig noch am besten,
ist jedoch bisher noch nicht durchgedrungen, so daß
der Ausdruck, um überhaupt verstanden zu werden,
erst einer eigenen Erläuterung bedarf. Andere
Vorschläge für eine deutsche Kennzeichnung des
Wesens der Sache (Feuchtersleben's „Phan-
tasma des Gedächtnisses", Huppert's, „Doppel-
wahrnehmungen", K r a e p e 1 i n ' s „identifizierende
Erinnerungsfälschungen") sind wenig glücklich ge-
wählt, so daß der knappe französische Ausdruck,
der auch zuweilen durch den noch kürzeren „dejä
ou" ersetzt wird, bisher noch zumeist Bürgerrecht
in der Literatur erlangt hat.
Das Wesen der „fausse reconnaissance" besteht
darin, daß ein Mensch in einer bestimmten Lebens-
lage ganz unmittelbar, fast schreckhaft plötzlich
die Empfindung verspürt, er habe genau das-
selbe Erlebnis unter genau denselben
äußeren Umständen bis in alle Einzel-
heiten hinein schon einmal gehabt.
Wenn auch Statistiken über die Häufigkeit dieser
Empfindung nicht beizubringen sind, so unterliegt
es dennoch keinem Zweifel, daß eine ungemein
große Anzahl von Menschen mindestens vereinzelt,
meist aber mehrfach in ihrem Leben diese Empfin-
dung, für die ich der Kürze wegen den Ausdruck
„ W iederholungsgefühl" anwenden möchte, ge-
habt haben. Oft sind es ganz gleichgültige Vorgänge,
durch die das sonderbare Gefühl ausgelöst wird,
zuweilen aber auch höchst verwickelte und einzig-
artige Erlebnisse, bei denen von vornherein jeg-
liche Möglichkeit ausscheidet, daß sie sich im
gleichen Menschenleben zweimal unter denselben
äußeren Umständen abspielen können.
Der älteste Fall eines Wiederholungsgefühls, der
in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben ist,
kann zurzeit genau auf ein Alter von 100 Jahren
zurückblicken, wenn er auch erst um 27 Jahre
später von sachkundiger Seite veröffentlicht und
analysiert worden ist. In einem Werke des Eng-
') Ev
;ussance"
ene Bcrnar
Paris 1S98.
Hennig..
länders Wigan'j findet sich nämlich folgender
Bericht einer Person über ihre Teilnahme an den
Trauerfeierlichkeiten für die i. J. 18 17 verstorbene
Prinzessin Charlotte :
„Ich war in einem Zustand dumpfer Träumerei
verfallen, als ich durch den Ausbruch eines heftigen
Schmerzes des hinterbliebenen Gatten, der in dem
Augenblick erfolgte, da der Sarg in der Gruft ver-
sank, zum Bewußtsein zurückkehrte ... In diesem
Augenblick empfand ich nicht nur den Eindruck,
sondern geradezu die Überzeugung, daß ich
dieser ganzen Scene bei einer früheren Gelegen-
heit schon einmal beigewohnt hatte, ja, ich glaubte
sogar schon genau dieselben Worte ver-
nommen zu haben, die jetzt Sir George Naylor
an mich richtete."
Man sollte von vornherein meinen, daß im Leben
eines Individums, welches von Zeit zu Zeit das
Wiederholungsgefühl verspürt, mit dem zunehmen-
den Alter die Empfindung immer häufiger auftritt,
da ja die größere Summe der gesammelten Er-
fahrungen die irrige Vorstellung begünstigen muß.
Doch trifft diese Voraussetzung nicht zu. Im
Gegenteil, es hat durchaus den Anschein, als ob
die Pubertätszeit im weiteren Sinne des Wortes
den fruchtbarsten Boden für das Auftreten der Er-
scheinung abgibt und als ob mit dem höheren
Lebensalter ein Seltcnerwerden, bei vielen Personen
sogar ein völliges Schwinden dieser Empfindung
eintritt. Selbst das Kindesalter mit seinem erst
bescheidenen Schatz an erlebten Eindrücken ist
nicht frei von der eigenartigen Selbsttäuschung.
Bis zum Alter von 6 Jahren hinunter scheint deren
Vorkommen sichergestellt zu sein. In der gründ-
lichen Umfrage, über deren Ergebnis Bernard-
Leroy in seinem genannten Werk Bericht er-
stattet, findet sich z. B. unter Nr. 63 die Aussage
eines 17jährigen Gymnasiasten: „Das Phänomen
seit dem Alter von 6 Jahren bis heute beobachtet."
Wiederholt finden sich bei Bernard-Leroy An-
gaben der befragten Personen, daß mit beendeter
Pubertätstzeit die Disposition zu der fraglichen
Empfindung abgenommen habe. Nr. 86 sagte
z. B. aus: „Ihre Häufigkeit wuchs bis zu meinem
20. Lebensjahr; dann nahm sie ab." Verf. hat
auch aus seiner eigenen Erfahrung an anderer
Stelle '-) bestätigt , daß er als Gymnasiast die
„fausse reconnaissance" in übrigens wenig charak-
teristischer Weise einige Male, vielleicht insgesamt
'} Wigan, „The duality of Ihe minH'-, Kapitel 9, S. 85
bis S7. London 1844.
- 1 R. H e n n i g , ,,Zur Theorie der fausse reconnaissance" in
der „Zeilschr. f. Psychotherapie und medizinischen Psychologie",
Bd. V, Heft 5, S. 257.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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viermal, an sich beobachtet hat, daß jedoch in der
nachfolgenden Zeit, während eines Zeitraums von
mehr als einem Vierteljahrhundert, ein Fall dieser
Art nicht mehr zu verzeichnen war.
In vielen Fällen ist die Empfindung, man habe
eine Lebenslage, wie man sie gerade durchmacht,
schon einmal erlebt, sehr unbesümmter Natur und
dabei so rasch vorübergehend, daß man sich über
die Einzelheiten und über die Gründe der Vor-
stellung keine Rechenschaft zu geben vermag. Es
ist ein etwas unbehagliches Gefühl, das blitzschnell
auftaucht und ebenso blitzschnell wieder schwindet.
In anderen, selteneren Fällen aber ist sie von einer
peinlich genauen Bestimmtheit und erstreckt sich
selbst auf unwesentliche Einzelheiten eines jeweilig
durchlebten Vorgangs. Eine gewisse Berühmtheit
innerhalb der Fachwissenschaft hat z. B. ein von
Du gas mitgeteilter Fall erlangt*): ein Kandidat
der ein Geschichtsexamen bestanden hat, behaup-
tete hinterher,
„er habe genau dieselben Fragen durch den
selben Professor in demselben Saale und mit der-
selben Stimme schon einmal vorgelegt erhalten
Auch seine eigenen Antworten schienen ihm schon
einmal gegeben worden zu sein; er hörte sich
selbst zum zweiten Male".
Die irrige Empfindung des Bekanntschaftsgefühls
macht dabei auch vor den unwahrscheinlichsten
Vermengungen gleichzeitiger Begebenheiten nicht
Halt. Dromard-Albes bringt z. B. folgende
Selbstschilderung ^) :
„Ich lese in meinem Zimmer bei offenem
Fenster; vor mir liegt der Roman „Quo vadis ?"
Während ich lese, denke ich an Petronius und be-
fasse mich mit der Analyse seines Charakters. Ich
denke daran und lese weiter, und die Begeben-
heiten der Erzählung ziehen an meinem Auge
vorbei, während all mein Denken dem antiken
arbiter elegantiarum gilt. Da sagt mein Nachbar,
der die Zeitung liest, mit lauter Stimme dazwischen :
„Sieh an, Barnum ist in Paris!" Im selben Augen-
blick habe ich die ganz bestimmte Empfindung,
denselben Komplex von Eindrücken schon einmal
auf genau dieselbe Weise empfangen zu haben.
In einer Vergangenheit, die ich nicht näher be-
schreiben kann, war ich — so kommt es mir vor
— bereits hier in demselben Zimmer, im selben
Anzug, dasselbe Buch lesend, das in mir dieselben
Betrachtungen hervorrief Derselbe Freund saß auf
demselben Stuhl, las in derselben Zeitung und ließ
mit lauter Stimme dieselbe Bemerkung fallen."
Vereinzelt geht die Täuschung so weit, daß der
Gewährsmann behauptet, er habe vorhergewußt, was
sich nun ereignen werde, da eben das ganze Erlebnis
nur die Wiederholung eines früheren gewesen sei.
Einen F"all dieser Art schildert Zschokke in seiner
Novelle : „Julius oder die Bibliothek des Oheims" : ^)
') D u g a s , „Observalions sur la fausse
„Revue Philosophique", Bd. 37, S. 34. Paris 1894.
'■*) „Journal psychologique''. 1905, Teil II, S. 217.
ä) Zschokke, „Gesammelte Schriften", Bd. XIV, S. 226,
1851.
„„Ach, Fräulein, wenn man immer fände, was
man suchte 1" . . . seufzte ich, und während ich diese
Worte sprach, ward mir, als wäre das schon ein-
mal dagewesen wie jetzt, und ich dachte mir ihre
Antwort im voraus: „Oft findet man auch Besseres,
als man sucht". Doch dacht' ich dies nur flüchtig
und unklar. Aber sie entgegnete, was ich gedacht
hatte: „Oft findet man Besseres, als man sucht".
Damit ging sie zur Tür . . ." "
Die belletristische Literatur hat sich übrigens
gar nicht selten mit der Erscheinung des Wieder-
holungsgefühls abgegeben. Wie im vorstehenden
Fall der Schweizer Zschokke eine durchauszu-
treffende Schilderung des an sich ja ziemlich oft
vorkommenden psychischen Vorgangs gibt, so ist
dieser u. a. auch von dem Engländer Dickens
(in „David Copperfield"), von dem Russen Tolstoi
(in „Krieg und Frieden") von den Deutschen
Spielhagen und Frenssen (in „Hammer und
Amboß" und „Peter Moors Fahrt nach Südwest")
beschrieben worden — ein deutliches Zeichen für
die an keine Nationalität gebundene Verbreitung
der sonderbaren Empfindung! Zwei der genannten
Literaturstellen, eine mit düsterem, die andere mit
gemütvollplauderhaftem Hintergrund, seien nach-
stehend wiedergegeben.
In „Peter Moors Fahrt" heißt es bei der Schil-
derung des endlosen, Leib und Seele zermürbenden
Trekkens der deutschen Truppen durch das süd-
westafrikanische Wüstengebiet an einer Stelle : ')
„Das langsame, schwerfällige Trekken durch
das menschenleere, weite, eintönige Land, dies
Liegen und Rauchen in den Ruhestunden, im
Schatten der Wagen, und das gemütliche, gemäch-
liche, langsame Reden, Necken und ein wenig
Prahlen, dies dürftige Essen und spärliche Trinken,
ein Schuß im Busch auf eine Schar Perlhühner, und
wenn das Glück wollte, auf eine Antilope, vier
Stunden Schlaf am verglimmenden Feuer, den
Sattel unterm Kopf: das alles erlebte ich nun wieder.
Und es war mir, da ich nun zum zweitenmal so
unterwegs war, als wenn ich dies Land nun schon
lange, lange kannte, als wenn ich schon vor langer,
langer Zeit, die weit vor meiner Geburt lag, so
neben einem Wagen durch solch wildes Land ge-
zogen war, und im Wagenschutz geruht und ge-
schlafen hatte. Das sind ja wohl die Erlebnisse
der Vorväter, die in den Geschlechtern einen langen
Schlaf tun und in dem Kinde, das wieder alte
Wege und Stege geführt wird, aufträumend das
graue Haupt erheben."
Diesem ersten Gemälde sei eine ProbeD i ckens-
scher Behaglichkeit zur Seite gestellt. Im schon
genannten Roman „David Copperfield" findet sich
folgende Stelle:
„„Lieber Copperfield, wenn Sie uns nicht an
jenem angenehmen Nachmittag, den wir bei Ihnen
zuzubringen das Vergnügen hatten, versichert hätten,
daß D Ihr Lieblingsbuchstabe sei", sagte Mr.
Micawber, „so würde ich jedenfalls glauben, es müßte
>) Kap. XII, S. 121/22. Berlin 1906.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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A sein"". — Wir alle kennen ein Gefiihl, das uns
manchmal überkommt, als ob das, was wir sagen
und tun, schon früher vor langer Zeit gesagt und
getan worden wäre, als ob wir vor uralter Zeit
dieselben Gesichter, Gegenstände und Verhältnisse
um uns gesehen — als ob wir vollkommen voraus
wüßten, was jetzt gesagt werden wird, als ob wir
uns dessen plötzlich erinnerten 1 Diese geheimnis-
volle Empfindung war in mir nie stärker als jetzt,
da Mr. Micawber diese Worte sprach."
Beachtenswert an dieser Dickens' sehen Äuße-
rung ist vor allem der Ausdruck: „Wir alle
kennen . . ." Er läßt einen Rückschluß darauf zu,
wie sehr der Dichter die „fausse reconnaissance"
glaubte als Allgemeingefühl bei seinen Lesern
voraussetzen zu dürfen.
Die wissenschaftliche Erklärung der merk-
würdigen Empfindung kann wohl nur in dem Sinne
gegeben werden, daß in einem Komplex von
neuen Eindrücken ein einzelner oder auch mehrere
bekannt anmuten und daß sich hieraus der irrige
Schluß ergibt, das ganze Erlebnis habe sich
schon einmal in genau gleicher Weise abgespielt.
In interessanter Weise deuten gerade die zwei
mitgeteiltenLiteraturstellen darauf hin, wiezutreffend
diese Vermutung sein dürfte: im „Peter Moor"
betont der Held der Erzählung, das Wiederholungs-
gefühl habe sich bei ihm eingestellt, als er nach
längerer Unterbrechung zum zweiten Mal das
Trekkleben kennen lernte, und in den Worten des
Mr. Micawber, die im Copperfield die fausse recon-
naissance auslösen, ist ausdrücklich Bezug genom-
men auf eine Unterhaltung an einem früheren
Nachmittag, die den gleichen Gegenstand betraf.
Bei scharfer Nachprüfung dürfte man ähnliche
Tatsachenkerne, an die das irrende Wiederholungs-
gefühl anknüpft, nicht selten auffinden können.
Ein unbedeutendes Etwas, ein Nichts in dem ge-
samten Tatsachenkomplex, kann genügen um der
Fehlempfindung einen Kristallisationskern darzu-
bieten. Schon die Versuchspersonen Bernard-
Leroy's nahmen richtig wahr, daß eine neben-
sächliche Einzelheit, die vertraut anmutet, genügt,
um das Wiederholungsgefühl auszulösen. Die eine
von ihnen gibt z. B. an *) :
„Ich befinde mich z. B. in einem Salon mit
mehreren anderen, teils stehenden, teils sitzenden
Personen, die sich unterhalten. Plötzlich, in dem
Augenblicke, wo jemand irgend ein Wort aus-
spricht, fahre ich zusammen, und es kommt mir
vor, als hätte ich genau dieselben äußeren Um-
stände schon einmal erlebt."
Eine andere Person erklärte^):
„Im allgemeinen stellte sich die Empfindung
ein beim Hören irgend einer Redensart oder
beim Gedanken daran,"
und eine dritte meinte"):
') a.
a. 0
S.
29.
■') Nr
ÖS
der
Umfrage,
a.
a.
U
s
217.
^')Nr
74
der
Umfrage,
a.
a.
ü.
ö.
229.
„Das Phänomen, daß ich ziemlich oft beobachtet
habe, hatte entweder ein Wort, oder einen
einfachen Gesichtseindruck als Ausgangs-
punkt. Die Begleitumstände waren stets banal."
Von einem gewissen pikanten politischen Bei-
geschmack ist ein weiterer Fall der Bernard-
L e r o y ' sehen Umfrage, denn er zeigt, daß gewisse
Phrasen, wie sie ein unentbehrliches Requisit des
Diplomaten und Politikers, ganz besonders des
französischen, bilden, ebenfalls unter gewissen Um-
ständen nicht unbekannt anmuten und demgemäß
Anlaß zu einem „Wiederholungsgefühl" geben
können. Ein Gewährsmann, dessen Äußerungen
Bernard-Leroy wiedergibt, berichtete nämlich
folgendermaßen über die Empfindungen, die er bei
der Lektüre der Zeitung „Echo de Paris" und einer
darin wiedergegebenen, am 16. März 1898 ge-
haltenen Rede des französischen Außenministers
über die Kretafrage hatte ^) :
„„Gewiß können die Dinge auch ohne Sie
geregelt werden. Aber sie würden sich dann sicher
gegen Ihren Willen regeln. Ich frage mich, ob
hierfür eine Majorität vorhanden ist, angesichts
einer Schwierigkeit von verhältnismäßig unter-
geordneter Bedeutung, zumal da alle Groß-
mächte einig sind und da wir unsere
Haltung nach ihrer einmütigen Über-
einstimmung richten..."" Beim Lesen dieser
letzten Phrase hatte ich plötzlich den Eindruck,
sie schon einmal vernommen zu haben, in einem
unbestimmten Zeitpunkt, genau mit derselben
Fassung (und mit demselben Tonfall), dieselbe
Zeitung vor Augen . . . Die folgenden 10 Zeilen
werden sehr rasch und ohne Störung gelesen, aber
die fausse reconnaissance begann abermals bei der
folgenden Stelle der Rede: „In einer sehr korrekten
Sprache, ohne große rednerische Wirkungen er-
zielen zu wollen, ist aber geschickt der Versuch
gemacht worden, daß wir im europäischen
Konzert verbleiben können" . . . Dann hörte die
fausse reconnaissance plötzlich auf. Ich war der
Täuschung nur wenige Sekunden lang verfallen."
Sollte dieser Gewährsmann noch den großen
Weltkrieg erlebt haben und die Reden französischer
Minister noch immer mit Aufmerksamkeit verfolgen,
so ist es leicht möglich, daß für ihn die „fausse
reconnaissance" nunmehr ein alltägliches Erlebnis
geworden ist. —
Die vorstehenden Ausführungen machen es
von vornherein wahrscheinlich, daß gewisse Ereig-
nisse, diejederMensch in ungleichmäßigenZwischen-
räumen von Zeit zu Zeit nicht gar zu häufig er-
lebt, das Zustandekommen des Wiederholungs-
gefühls begünstigen werden, so insbesondere z. B.
Hochzeiten, Taufen, Trauerfeiern usw., zumal da die
bei solchen Gelegenheiten üblichen Reden nicht
selten die Eigentümlichkeit besitzen, daß einzelne
Worte oder Sätze darin ganz von selbst ein „Be-
kanntheitsgefühl" auslösen, eine „vraie reconnais-
sance", die dann leicht eine „fausse reconnaissance,
1) a. a. O. S. 163/64.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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nach sich zieht. In diesem Lichte betrachtet er-
häk der oben wiedergegebene äkeste fachwissen-
schafthche Bericht von VVigan über ein durch
eine Trauerfeierlicbkeit i. J. 1817 ausgelöstes
„VViederholungsgefühl" auf Kosten des darin er-
wähnten Sir George Naylor einen ganz eigentüm-
lichen ironischen Nebengeschmack, der zweifellos
dem ursprünglich ganz harmlos gemeinten Bericht
ganz fremd war.
Was für eine Intensität von beinahe schon
krankhafter Stärke die Empfindung das Wieder-
holungsgefühl bei derartigen Festlichkeiten erreichen
kann, zeigt eine Mitteilung von Arnaud über
einen seiner Patienten: ')
„Bei der Hochzeit seines Bruders erklärte er
plötzlich, er sei ganz sicher, daß er derselben
Feier unter denselben Umständen im vorigen Jahr
schon einmal beigewohnt habe, daß er alle Einzel-
heiten wiedererkenne und nicht wisse, warum man
das alles noch einmal wiederhole."
In diese Kategorie von Fällen gehört auch ein
von Sander wiedergegebener Bericht eines
25 jährigen Mannes über seine Empfindung beim
Empfang einer unerwarteten Trauerbotschaft:")
„Ich war zu Bett gegangen, als man mir mel-
dete: „K. Müller ist gestorben." „Müller ist ge-
storben! Herr Gott! Aber er kann doch nicht zum
zweitenmal gestorben sein." Es schien ihm in der
Tat, daß er dieselbe Situation schon einmal durch-
lebt habe, daß dieselbe Person ihm dieselbe Nach-
richt unter denselben Umständen gemeldet habe."
Verhältnismäßig oft scheinen ferner die wech-
selnden Eindrücke, wie sie der Mensch auf Wan-
derungen und Spaziergängen empfindet, das Zu-
standekommen des Wiederholungsgefühls auszu-
lösen. Es liegt hierüber eine Reihe von Zeugnissen
vor, unter denen einige besonders bemerkenswerte
hervorgehoben seien. Kraepelin, der das Ge-
fühl aus eigner Erfahrung kannte, knüpft seine
wissenschaftliche Erläuterung des Begriffs geradezu
an die Empfindungen von Wanderern in freier
Natur an, wenn er schreibt : •')
„Unsere eigene Person steht mitten drin in der
Täuschung, es überfällt uns gegen unser besseres
Wissen plötzlich das unentrinnbare und gebiete-
rische Gefühl, daß wir von dieser Person schon
einmal gehört, mit denselben Personen (unter
gleichen Umständen) auf dem gleichen Berggipfel
gestanden haben."
Bei Du gas findet sich in seinem schon er-
wähnten Aufsatz eine ebenfalls hierher gehörige
Bemerkung:
„Eines Tages begegnete es mir, daß ich bei
einem Spaziergang im Freien erschrocken innehielt,
indem ich feststellte, daß ich den soeben ver-
') Arnaud, „Un cas d'illusion de „dejä ou" ou „fausse
memoire"' in „Annales de la medecine psychologique", Mai-
Juni-Heft 1896, S. 445.
-) W. Sander, „Über Erinnerungstäuschungen" im
,, Archiv für l'sychiatrie und Nervenkrankheiten", 1874, S. 244.
■') „Archiv für Psychologie", 1S87, S. 425.
flossenen Augenblick genau ebenso schon einmal
erlebt hatte."
Noch charakteristischer aber ist ein Ausspruch
von Anjel, weil er erkennen läßt, daß bei manchen
Menschen die fausse reconnaissance zu einer ganz
gewohnten Erscheinung werden kann:')
„Auf mehrstündigen Spaziergängen hatte ich
beim Anblick eines Denkmals, eines Platzes, einer
Schloßfassade oft das Gefühl, schon einmal gelebt
und denselben Gegenstand unter gleichen Um-
ständen gesehen zu haben."
In der letzten Äußerung treffen wir unter den
bisher mitgeteilten Fällen zum erstenmal auf
einen Versuch des Gewährsmanns, sich eine Er-
klärung für seine unbegreifliche Empfindung zurecht-
zulegen. Angedeutet war ein solcher \'ersuch
übrigens schon in dem oben angeführten Zitat
aus „Peter Moors Fahrt". Hier wurden in etwas
mystisch-unklarer Weise die „Erlebnisse der \^or-
väter" zu Hilfe gerufen, an die sich der Sohn
unserer Zeit gelegentlich unbestimmt zurück-
erinnern sollte; im .^njel'schen Fall glaubt der
Berichtende dagegen, selber schon einmal gelebt
und bei dieser Gelegenheit denselben Eindruck
schon einmal gehabt zu haben. Diese Schluß-
folgerung ist, wie man zugeben wird, mehr als
kühn ; aber sie steht dennoch keineswegs vereinzelt
da, wie wir noch sehen werden. In der Mehrzahl
der Pralle werden freilich die Personen, die sich
von ihrem unbehaglichen und unverständlichen
Gefühl Rechenschaft abzulegen bemüht sind, auf
einfachere und wahrscheinlichere Deutungsversuche
zurückgreifen.
Besonders beliebt ist bei Vorkommnissen, wo
jede Möglichkeit, daß sie wirklich schon einmal
erlebt wurden, ausgeschlossen ist, die Annahme,
daß das Ereignis, das ein Wiederholungsgefühl
auslöst, früher schon einmal geträumt worden
ist. Als Typus sei eine Schilderung des eng-
lischen Dichters Shelley angeführt, die gleich-
zeitig klar erkennen läßt, inwieweit ein sensitiver
Mensch durch eine fausse reconnaisance überrascht,
erschreckt und beunruhigt werden kann. Shelley
machte an einem Spätherbst-Nachmittag bei be-
ginnender Dämmerung einen Spaziergang in der
Nähe von Oxford. Beim Anblick einer Mühle
überkam ihm plötzlich das (befühl, genau dasselbe
Erlebnis schon einmal gehabt zu haben:
„Ich erinnerte mich, i m T r a u m vor sehr
langer Zeit genau dieselbe Situation schon einmal
erlebt zu haben. Ein Schauer faßte mich, eine
Art von Schreck bemächtigte sich meiner . . .
Ich mußte den Platz sofort verlassen."
Hier gesellt sich also zu dem ersten Irrtum des
Wiederholungsgefühls ein zweiter, nämlich die durch
Überlegung hervorgerufene Autosuggestion, man
habe dieselbe Szene bereits im Traume sich ab-
spielen sehen. Daß es sich hierbei um eine Er-
') Anjel, „Beitrag zum Kapitel der Erinncrungsläuschun-
gen" im „Archiv für Psychiatrie", Bd. VIII, S. qy. Berlin 1S78.
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innerungstäuschung handelt, handeln muß, ergibt
schon der einfache Hinweis darauf, daß die Er-
innerung an Traumbilder, falls diese nicht von
vornherein unsere Aufmerksamkeit aus irgends
einem Grunde besonders fesseln, sehr kurzlebig
zu sein pflegt und meist schon nach wenigen
Stunden völlig verweht ist. Nach „sehr langer
Zeit" noch bestimmte Einzelheiten von Träumen
zu wissen, die ursprünglich gar nichts Bemerkens-
wertes an sich tragen, darf schlechterdings als eine
Unmöglichkeit bezeichnet werden. Die ganze
Zurückführung des Wiederholungsgefühls auf die
Eindrücke eines Traumes ist aber unzweifelhaft
nur eine Verlegenheitsannahme, da der Mensch
sich sein unbegreifliches Gefühl auf andere Weise
überhaupt nicht zu erklären weiß. Ob der angeb-
liche prophetische Traum dann in die jüngste
Vergangenheit oder um mehrere Jahrzehnte zurück-
datiert wird, ist alsdann kaum mehr als bloße
Geschmackssache. Im einen wie im anderen Fall
muß auf das bestimmteste bezweifelt werden, daß
er überhaupt stattgefunden hat. Daß im einzelnen
stark individuelle Abweichungen in der Zeitangabe
für den vorgeblichen Traum zu verzeichnen sind,
zeige eine Gegenüberstellung folgender zwei Fälle.
Im Werke Bernard-Leroy's findet sich
folgende Schilderung:
„A. R. kommt eines Abends mit Freunden in
einen Bäckerladen. „ „Kaum eingetreten", berichtet
er, „habe ich den sehr lebhaften, ja geradezu un-
widerstehlichen Eindruck, dieselbe Szene schon
einmal erlebt zu haben, und zwar muß dies in der
letzten Nacht oder in einer anderen im Traum
geschehen sein.""
Demgegenüber wird ein von Perty berichteter
Fall eines Wiederholungsgefühls seitens eines nach
Mehringen versetzten Pfarrers Happach auf einen
vor 30 Jahren (!) gehabten Traum zurück-
geführt. Die betreffende Schilderung Happach 's
bezieht sich auf seine Ankunft im Mehringer Pfarr-
haus und lautet : *)
„Ich war vormals nie hier gewesen und be-
suchte jetzt, ehe ich noch anzog, vorher die Witwe
(des Vorgängers). Sie empfing mich in der Haus-
türe, und ehe sie mich noch in ihre Wohnstube
führte, machte sie mir die andere Stubentüre auf,
und ich war schon darin gewesen; ich fand
die drei übereinander gemauerten Sitze, wie ich
sie im Traume gesehen, ich wunderte mich dar-
über und hörte, daß es die Decke eines Keller-
halses war."
Happach und mit ihm der höchst unkritisch
veranlagte und besinnungslos jedemWunderglauben
huldigende Perty sind der Meinung, daß ein ge-
heimnisvoller, die Zukunft enthüllender Wahrtraum
dem Mehringer Pfarrer die Stätte seiner künftigen
Tätigkeit 30 Jahre vorher gezeigt habe — rich-
tiger wird man anzunehmen haben, daß der an-
gebliche Traum eine willkürliche Voraussetzung
') Perty, „Die mystischen Erscheinungen de
liehen Natur".
ist, um eine annehmbare Erklärung für das sonst
unbegreifliche Wiederholungsgefühl zu finden.
Perty führt den Fall als besonders beweiskräftig
für das Vorkommen weissagender Träume an.
Man darf daraus folgern, daß Okkultismus und
Wunderglauben in Fällen vorkommender „fausse
reconnaissance", die der jeweilige Gewährsmann
willkürlich durch einen früher gehabten Traum
sich zu deuten versuchte, nichts weniger als ver-
einzelt prophetische Wahrträume konstruiert haben,
die den unkritischen Leser höchst geheimnisvoll
und erstaunlich anmuten, die aber einer scharfen
Prüfung in keiner Weise standhalten können.
Bei dieser Gelegenheit darf darauf hingewiesen
werden, daß das poetisch -ansprechende Motiv,
irgendein uns lebhaft beschäftigendes und er-
regendes Erlebnis hätten wir schon einmal in
Gestalt eines Wahrtraumes vorausgeahnt, mehreren
großen Dichtern dankbaren Stoff gegeben hat,
insbesondere dann, wenn es sich um eine roman-
tische Verherrlichung der „Liebe auf den ersten
Blick" handelt. Wiel an d 's „Oberen" liefert hier-
für ein Beispiel:
In Kl ei st 's „Käthchen von Heilbronh" be-
gegnen wir demselben Grundgedanken gleich an
mehreren Stellen des Dramas. Die wichtigste unter
ihnen ist die Szene, in der das im -Schlaf sprechende
Käthchen dem Ritter Wetter vom Strahl sein
Innenleben enthüllt:')
„Als ich zu Bett ging, da das Blei gegossen.
In der Silvesternacht, bat ich zu Gott,
Wenn's wahr war', was mir die Marianne sagte,
Möcht' er den Ritter mir im Traume zeigen.
Und da erschienst du ja um Mitternacht
Leibhaftig, wie ich jetzt dich vor mir sehe."
Ganz besonders gern aber hat sich Richard
Wagner des poetischen Motivs beschäftigt. In
nicht weniger als 4 seiner Musikdramen begegnen
wir, mit kleinen Abweichungen im einzelnen, dem-
selben Grundgedanken, daß ein liebendes Weib
vermeint, den Geliebten, als sie ihn zum ersten
Male erblickt, schon früher einmal geschaut zu
haben. Im „Fliegenden Holländer" handelt es sich
noch um die ins Wunderbare gewandelte Variante,
daß nicht ein Traum, sondern ein wirkliches Bild
den Anlaß gibt zum Schauen der geliebten, nie
zuvor leibhaftig gesehenen Person. Aber im
„Lohengrin" ist das Wiederholungsgefühl selbst
und seine Beziehung auf einen angeblich gehabten
Traum zum deutlichen Ausdruck gebracht, wenn
Elsa in der Liebesszene des 3. Aktes dem Gatten
bekennt:
„Doch ich zuvor schon hatte dich gesehen.
In sel'gem Traume warst du mir genaht."
In den „Meistersingern" begegnet uns derselbe
Gedanke :
Eva: Gut' Lene, laß mich den Ritter gewinnen!
Magdalene: Sahst ihn doch gestern zum ersten
Mal?
') Akt IV, Szene 2.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
F. N. XVI. Nr. 42
Eva: Das eben schuf mir so schnelle Qual,
Das ich schon längst ihn im Bilde sah.
Schließlich klingt dasselbe Motiv auch in der
„Walküre" an, freilich mit der neuen Variante, daß
das geschwisterliche Liebespaar hier ein Recht
hat zu behaupten:
Sieglinde: Ein Wunder will mich gemahnen:
Den heut zuerst ich erschau,
mein Auge sah dich schon!
Siegmund: Ein Minnetraum gemahnt auch mich:
in heißem Sehnen sah ich dich schon!
Man wende nicht ein, daß es sich in allen
diesen Fällen um dichterische Freiheiten der Dar-
stellung handle, für die in der Welt der Wirklich-
keit kein Platz sei. Genau in derselben Weise,
wie Wieland und Kleist und Wagner die
„Liebe auf den ersten Blick" poetisch auszugestalten
bestrebt waren, empfindet der liebende Mensch
auch in der wirklichen Welt zuweilen. Folgende
Äußerung, die wieder dem Werke Bernard-
Leroy's entstammt, \) möge dies beweisen:
„Ich habe an sie den ganzen Tag mit einem
sehr schmerzlichen Gefühl gedacht, das sich
während eines Monats mehrfach erneuerte. Wenn
ich mich daran erinnere, so meine ich, daß ich
sie im Traume gesehen habe, denn ich bin voll-
kommen sicher, daß ich ihr an jenem Tage zum
ersten Male begegnete."
Die Zurückführung auf einen früheren Traum
ist nun aber nur eine der Verlegenheitshypothesen,
die einzelne Menschen sich selbst zurechtlegen,
um sich das unheimliche Wiederholungsgefühl
logisch begreiflich zu machen. Nicht ganz selten
besteht eben auch, wie wir schon weiter oben
hörten, die Neigung, Erinnerungen aus einer früheren,
vergessenen Existenz als Erklärung für die rätsel-
hafte Empfindung heranzuziehen. Ein 20-jähriger
Student, dessen Aussage Bernard-Leroy wieder-
gibt, weilte zum ersten Male in seinem Leben in
Paris und sah den Boulevard Haußmann zwischen
der Avenue Friedland und dem Place Shakespeare : '^)
„es erschien mir, daß ich diesen Ort mehrere
Jahrhunderte früher schon einmal besucht hatte".
Derselbe Student hatte ein Jahr später an der-
selben Stelle dasselbe Gefühl, wenn auch in ab-
geschwächtem Maße. Lalande hat einen ähn-
lichen Fall mitgeteilt : ''j eine Person hatte wieder-
holt in ihrem Leben das Gefühl, bestimmte Er-
eignisse ihres Lebens in einem früheren irdischen
Dasein schon einmal erlebt zu haben, und zwar
mit so großer Gewißheit, daß sie rundweg be-
hauptete, die in den früheren Existenzen erworbenen
Erfahrungen erleichterten ihr ihre zutreftenden
Entscheidungen.
Wo die Weltanschauung eines Menschen von
vornherein dem Mystizismus und vielleicht gar der
Lehre von der Seelenwanderung zuneigt, da wird
') a. a. O.
«) a. a. O. S. 175, Fall 47.
') A. Lalande, „Sux les paramnesies" in „Revue
philosophique", Bd. 36 (1893), S. 488.
die Neigung, allerhand Eindrücke „wiederzuerken-
nen", vielleicht gar schon von einem früheren
irdischen Dasein her, infolge von Autosuggestionen
ganz beträchtlich anwachsen. Das Wiederholungs-
gefühl, das für die weitaus meisten Menschen etwas
Erschreckendes und Beängstigendes an sich hat,
ist solchen Personen angenehm, weil sie darin nur
eine Bestätigung für die ihnen liebgewordene
Weltanschauung oder ihre vorgeblichen eigenen
übernatürlichen Fähigkeiten erblicken. Einen Fall
dieser Art von ziemlich komischem Beigeschmack
habe ich selbst einmal mitgeteilt:')
„Eine stark phantasiebegabte Frau stellte sich
mir eines Tages als Hellseherin vor und behauptete
neben mancherlei anderen hellseherischen Fähig-
keiten, die bei näherer Betrachtung übrigens in
nichts zerflossen, auch die zu besitzen, daß sie
nachts oder morgens alle die Personen halluzina-
torisch im Bilde erblicke, mit denen sie im Laufe
des Tages erstmalig in Berührung kommen solle.
Wiederholt erklärte sie mir gegenüber, irgendeine
Persönlichkeit, der ich sie zum erstenmal gegen-
überstellte, sei ihr schon in der Nacht zuvor er-
schienen. Verschiedene Versuche, diese Behaup-
tung durch exakte Experimente zu rektifizieren,
scheiterten dann freilich in geradezu kläglicher
Weise. In die Enge getrieben, berief sich diese
sonderbare Seherin schließlich auf das Zeugnis
ihres Mannes und gab an, daß dieser wiederholt
Personen, mit denen das Ehepaar tagsüber uner-
wartet zu tun bekam, auf Grund der Beschreibung
ihrer nächtlichen Gesichte wiedererkannt habe.
Ich benutzte alsbald die erste sich bietende Ge-
legenheit, um den Ehemann zu befragen, ob diese
Aussage zutreffend sei, und er erwiderte mir
ebenso verständig wie naiv: „Nein, ich erkenne
die Personen nicht, aber meine Frau erkennt sie
wieder."
Ein anderes noch wesentlich wertvolleres und
charakteristischeres Beispiel für eine durch Auto-
suggestion gewissermaßen künstlich gezüchtete
fausse reconnaissance lieferte das ausgezeichnete
Trance-Medium F'lournoy's, über das dieser aus-
gezeichnete Genfer Psychologe ein wahrhaft klassi-
sches Werk veröftentlicht hat. -) H e 1 e n e S m i t h ,
wie das Pseudonym dieses Mediums lautete, neigte,
wie es übrigens bei der Mehrzahl der Trance-
Medien der Fall, stark zum Seelenwanderungs-
glauben und behauptete, berehs eine ganze Reihe
von irdischen Existenzen durchlebt zu haben, zu-
letzt als Königin Marie-Antoinette. In einem wich-
tigen Nachtrag zu seinem Hauptwerk ^) berichtet
') „Zeitschrift f. Psychotherapie und medizinische Psycho-
logie", Bd. V, Heft 5, S. 213.
'') Theodore Flournoy, „Des Indes u la planete
Mars". Genf und Paris 1900. — Eingehender Bericht hier-
über in der „Naturw. Wochenschr." vom 13., 20., 27. Oktober
1901.
') Theodore Flournoy, „Nouvelles observations sur
un cas de somnambulisme avec glossolalie" im „Archive de
Psychologie", Dezember 1901. — Vgl. „Naturw. Wochenschr."
vom 20. Juli 1902.
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S9I
nun F 1 o u r n e y , wie Helene Smith im Novbr.
1900 zum ersten Male in ihrem Leben von Genf
nacii Paris kam, also nach der Stadt, wo sie vor
rund 110 Jahren als Königin gelebt zu haben be-
hauptete. Somit waren alle Vorbedingungen für
ein gewissermaßen künstlich erzeugtes Wieder-
holungsgefühl in seltener Vollkommenheit bei-
sammen. In der Tat hören wir denn auch in
F 1 o u r n o y ' s Nachtrag : *)
„In den an ihre Mutter gerichteten Briefen
sprach Helene davon, daß sie in Paris nichts über-
rasche und daß sie die Empfindung habe, dort
schon lange gelebt zu haben Ich überschritt
einen großen Platz und empfand während der
ganzen Zeit des Hinübergehens ein Zittern in den
Armen, in den Händen und im Kopf; eine schreck-
liche Angst schnürte mir das Herz zusammen, und
ich beeilte mich, wieder fortzukommen . . . Ich
wurde mir darüber klar, daß ich den Platz Lud-
wigs XV. -) überschritten hatte."
Berücksichtigt man, daß die Place de la Concorde
von 1900 schwerlich noch die geringste Ähnlich-
keit mit dem von 1793 hatte, so daß ein „Wieder-
erkennen" auch rein äußerlich ein Ding der Un-
möglichkeit hätte sein müssen, so wird man die
interessante Autosuggestion einer voreingenomme-
nen Denkweise erst in ganzem Umfange zu würdigen
imstande sein. Natürlich wird Helene Smith
in der von ihr empfundenen Angst den unwider-
leglichen Beweis erblickt haben, daß sie wirklich
dereinst auf Erden als Marie- Antoinette gewandelt
sei.
Im Hinblick auf die anscheinend ziemlich häufig
vorkommenden Fälle, in denen ein Mensch zu der
Vorstellung neigt, sein Wiederholungsgefühl sei
durch Eindrücke während einer früheren irdischen
Existenz zu erklären, hat bereits Rhys Davids
die Vermutung ausgesprochen, daß die „fausse
reconnaissance" eine Hauptwurzel für die buddhis-
tische Lehre der Seelenwanderung gewesen sei.
Neuerdings hat Ottokar Fischer sich dieser
Auffassung in einer schönen, gedankenreichen Ab-
handlung angeschlossen. ^) Auch ich selbst habe
die hohe Wahrscheinlichkeit eines solchen Zu-
sammenhanges bereits betont. *)
Und nicht nur die Lehre von der Seelenwan-
derung wird in dem Wiederholungsgefühl eine
ihrer Hauptquellen zu erblicken haben, sondern
auch verschiedene philosophische Spekulationen
ältester wie neuester Zeit, die bald in dieser bald
in jener Form lehren, daß in langen Zeiträumen
alles auf Erden sich wiederhole, dürften darauf
fußen. Das „große Weltjahr" und die „Phönix-
periode" sind möglichenfalls Geisteskinder des Zu-
1) a. a. O. S. 216/17.
2) Auf diesem Platz, heut Place de la Concorde genannt,
wurde Marie-Antoinette am 16. Oktober 1793 hingerichtet.
') Ottokar Fischer, „Eine psychologische Grundlage
des Wiederkunftsgedankens" in der „Zeitschrift für angewandte
Psychologie und Sammelforschung" Bd. V, Heft 5/6, S. 4S7.
*) „Türmer", 1912, S. 8S1: „Eine Quelle des Seelen-
wanderungs-Glaubens".
Standes der fausse reconnaissance, und dasselbe
kann man mit erhöhterZu versieht in dem modernsten
Ausläufer dieser wunderlich resignierten Weltan-
schauung behaupten, von Friedrich Nietzsche 's
trübseliger Lehre von der „ewigen Wiederkunft"
von der „Wiederkehr des Gleichen", die im „Zara-
thustra" anklingt und im „Dionysos" zum System
entwickelt wurde. Die enge Verwandtschaft dieser
philosophischen Irrlehre mit den Wunderlichkeiten
des Wiederholungsgeiühls wird uns durch den
kompetentesten Zeugen bestätigt, durch Nietzsche
selbst; an zwei Stellen seiner Schriften gewährt
er uns einen Einblick in die Gedankenwerkstatt,
der die Lehre von der ewigen Wiederkunft ent-
sprang. Im „Zarathustra" findet sich eine geradezu
klassische Schilderung einer ,. fausse reconnaissance",
die durch einen einzelnen Zug eines schauerlichen
Gesamteindrucks, durch ein Hundegeheul und da-
durch hervorgerufene, stark erregende Kindheits-
erinnerungen bedingt wird. Nietzsche schreibt
nämlich, unzweifelhaft durch ein eigenes Erlebnis
veranlaßt: ')
„„Und diese langsame Spinne, die im Mond-
scheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und
ich und du im Torwege, zusammen flüsternd, von
ewigen Dingen flüsternd — müssen wir nicht
schon alle dagewesen sein und wiederkom-
men und in jener anderen Gasse laufen, hinaus,
vor uns, in dieser langen, schaurigen Gasse —
müssen wir nicht ewig wiederkommen?""
Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete
mich vor meinen eigenen Gedanken und Hinter-
gedanken. Da, plötzlich hörte ich einen Hund
nahe heulen. Hörte ich jemals einen Hund so
heulen? Mein Gedanke lief zurück. Ja! Als ich
Kind war, in fernster Kindheit: — da hörte ich
einen Hund so heulen. Und sah ihn auch, ge-
sträubt, den Kopf nach oben, zitternd, in stillster
Mitternacht, wo auch Hunde an Gespenster glauben:
— also daß es mich erbarmte. Eben nämlich ging
der volle Mond, totschweigsam, über das Haus,
eben stand er still, eine runde Glut . . ."
Sind in dieser Darstellung bereits die engen
Verflechtungen zwischen Wiederholungsgefühl und
der Lehre von der ewigen Wiederkunft unverkenn-
bar, so hören wir an anderer Stelle, bei welcher
Gelegenheit der Grundgedanke der Wiederkehr
des Gleichen in Nietzsche lebendig wurde :^)
„Die Grundkonzeption des Werkes, der Ewige-
Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der
Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann —
gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf
ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift 6000
Fuß jenseits von Mensch und Zeit. Ich ging an
jenem Tage am See von Silvaplana durch die
Wälder; bei einem mächtigen, pyramidal aufge-
türmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da
kam mir dieser Gedanke."
In dieser Äußerung finden wir zwar nicht be-
') „Zarathustra", 6, S.
2) Brief an Peter Ga
„Vom Gesicht und Rätsel"
1 3. September 1883.
592
Naturwissenschaftliche Wochenschriit.
N. F. XVI. Nr. 42
tont, wie im „Zarathustra", daß sich ein Gefühl
einstellte, alle diese Erlebnisse müßten schon ein-
mal dagewesen sein, aber wenn der offenbar häufiger
vom Wiederholungsgefühl befallene Philosoph auf
einem Spaziergang, der, wie wir hörten, das Zu-
standekommen der fausse reconnaissance, vielleicht
infolge gesteigerter körperlicher Anregung, beson-
ders zu begünstigen scheint, plötzlich den Ged^nken
von der Wiederkehr des Gleichen inspiratorisch
erfaßt, so muß ein unmittelbarer äußerer Anlaß
dazu vorhanden gewesen sein, und ich weiß nicht
recht, wie man um die Annahme herumkommen
will, daß dies eben ein Wiederholungsgefühl von
besonders großer Intensität gewesen sein muß, wie
es in irgendeinem Zusammenhang der Anblick
des genannten, mächtigen Blockes bei Suclei aus-
gelöst haben mag. Ottokar P'isch er sträubtsich
gegen eine solche Schlußfolgerung und meint : \)
„Ich würde als läppisch jene Behauptung zurück-
weisen, welche etwa formulieren würde; „Anfang
August 1881 wurde Nietzsche am See von
Silvaplana beim Anblick eines pyramidal aufge-
türmten Blocks von dem Zustande der „fausse
reconnaissance" befallen und erhielt dermaßen den
Anstoß zu seiner Wiederkunftstheorie."
Ich kann mir nicht helfen: ich vermag in
einer solchen Annahme durchaus nichts „Läp-
pisches" zu erblicken, sondern beinahe etwas
Unvermeidliches und Selbstverständliches. Daß
N i e t s c h e durch zweifellose Fälle des
Wiederholungsgefühls sozusagen prädestiniert war
für den Gedanken der ewigen Wiederkunft, zeigt
die obige „Zarathustra"-Stelle einwandfrei. Eine
besonders lebhafte, erneute „fausse reconnaissance"
mußte dann aber einen scharfen Denker, wie er
es war, eines Tages zwingen, sich philosophisch
mit dem unbegreifhchen Gefühl abzufinden. Ob
die bei ihm anscheinend besonders lebhafte Neigung
zur fausse reconnaissance im Zusammenhang stand
mit seiner psychopathischen Veranlagung, "bleibe
dahingestellt. Im allgemeinen liegt kein Anhalte-
punkt dafür vor, in einem häufiger auftretenden
Wiederholungsgefühl Anzeichen einer geistigen
Störung zu erblicken. Andererseits gibt es Be-
richte über eine derartige Intensität des Wieder-
holungsgefühls, daß ein stark pathologischer Zug
darin unverkennbar ist.
Die schon erwähnte Arbeit von Arnaud
liefert hierfür den deutlichen Beweis. Eine seiner
Patientinnen behauptete i.J. 1894, schon im nächsten
Jahre 1895 zu leben, weil alle Ereignisse, alle
Zeitungsnachrichten usw. ihn derart bekannt an-
muteten, daß er bestimmt wisse, sie „ein Jahr
zuvor" schon einmal erlebt zu haben. Sie war in
eine Heilanstalt gebracht worden und erklärte nun
dem Arzt gegenüber:
„Tag für Tag habe ich meinen vorigen Aufent-
halt in dieser Anstalt nochmals durchlebt . . .
Sie haben mir dieselben falschen Nachrichten schon
damals zugehen lassen, den Tod des Fräuleins X,
die Hochzeit des Fräuleins Z. Ich kann daher an
Frau X nicht schreiben, weil ich nicht weiß, ob
die Mitteilung wahr oder falsch ist. Ich glaube
aber, sie ist falsch, denn ich weiß genau, daß ich
dieselbe Sache schon im vorigen Jahr gelesen
habe ... Ich werde also an Frau X nicht schreiben,
trotz der guten Gelegenheit, die mir der angeb-
liche Tod ihrer Tochter gibt. Ich werde genau
ebenso handeln wie beim ersten Mal, und ich bin
sicher, daß ich ihr im vorigen Jahre auch nicht
geschrieben habe ... In den 6 Monaten, während
deren ich jetzt hier weile, gibt es nicht 2 Minuten,
die sich von meinem ersten Aufenthalt unter-
scheiden."
Hier haben wir das Wiederholungsgefühl in
seiner höchstmöglichen Entwicklung vor uns: statt
der sonst üblichen akuten Form, die nur Augen-
blicke oder Bruchteile eines Augenblicks währt,
ein „chronisches Wiederholungsgefühl",
das unverkennbare Anzeichen einer ernsten geistigen
Erkrankung an sich trägt. Hätte die betreffende
Person, die alle Ereignisse während 6 Monaten
schon einmal erlebt haben wollte, den Zeitpunkt,
zu dem ihr alles schon einmal begegnet war, nicht
willkürlich nur um ein Jahr zurückdatiert, sondern
unbestimmter von einer ferneren Vergangenheit
gesprochen, vielleicht gar von einer früheren
Existenz auf Erden, so wäre sie auch ohne alle
Philosophie wohl zum überzeugten Anhänger der
Idee von der „ewigen Wiederkunft" geworden,
gleichviel ob sie von Friedrich Nietzsche
jemals etwas gehört hätte oder nicht. In diesem
Lichte gesehen, tritt der krankhafte Zug, den
Nietzsche's Wiederkunftslehre unverkennbar an
sich trägt, um so deutlicher in die Erscheinung.
Im übrigen dürfte der Hinweis nicht unange-
bracht sein, daß sowohl der Wiederkunftsgedanke
wie die Seelenwanderungslehre in vielen Fällen
gewissermaßen das Allerweltsrezept abzugeben
scheinen für die „Erklärung" irgendwelcher un-
begreiflichen, den Menschen lebhaft beschäftigenden
und erregenden Erlebnisse. Daß selbst die höchst-
intelligenten Menschen gelegentlich nach diesem
Rettungsanker der Deutung greifen, wenn alles
andere logische Verstehen versagt, bezeugt eine
Äußerung Goethe's aus der Zeit seiner Schwär-
merei für Frau von Stein:
„Ich kann mir die Bedeutsamkeit, die Macht,
die diese Frau über mich hat, anders nicht er-
klären, als durch die Seelenwanderung. — Ja, wir
waren einst Mann und Weib!"
Die Hypothese von der Seelenwanderung konnte
sicherlich auch ohne fausse reconnaissance sich
entwickeln, aber ihre mächtigste Stütze dürfte sie
in dem weitverbreiteten Wiederholungsgefühl ge-
funden haben, das überdies stark dazu beigetragen
haben dürfte, jener Lehre auch außerhalb des
Buddhismus eine verhältnismäßig nicht geringe
Beliebtheit und eine beachtenswerte Anhänger-
schaft zu erwerben.
N. F. XVI. Nr. 4:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
593
Kleinere Mitteilungen.
Hufeisendünen aus Schnee. IVIit i Abbildung
im Text. So viel ich weiß kennt man in Europa
nur die zur Windrichtung quer verlaufenden Sand-
dünen der Meeresküsten. Mitte Februar dieses
Jahres (1917) war aber der gefrorene Untersee
(unterster Teil des Bodensees) mit einer Un-
menge von Schneewällen bedeckt, die genau dem
entsprachen, was die Bücher über die Bogen-,
Sichel- oderilufeisendünen („B a r c h a n e" )
der zentralasiatischen Wüsten berichten.
Bei strenger Kälte war anfangs des Monats
auf die feste Eisdecke trockener, staubförmiger
Schnee gefallen. Zwei Tage darauf erhob sich
ein heftiger Ostwind, der in die etwa zentimeter-
dicke Schneedecke mehr oder weniger regelmäßig
verteilte Gassen fegte und schließlich nur noch
zahllose in der Windrichtung bis lO m lange, quer
dazu bis 2 m breite und bis 30 cm hohe Schnee-
seite ein Zuwachs statt. In einer halben Stunde
maß ich 30 cm Verlängerung in der Windrichtung
— unter Beibehaltung der alten Form. Die Wälle
wurden also größer, d. h. länger und dement-
sprechend auch etwas breiter. Das Material zum
Zuwachs brauchte dabei nicht von weit her zu
stammen. Es waren im Osten — selbst in meh-
reren Kilometern Entfernung — nicht etwa
weniger und kleinere, im Westen mehr und grö-
ßere Wälle zu beobachten. Vielmehr hatte es den
Anschein, als ob der Zuwachs von zertrümmerten,
zu Beginn des Treibens in viel größerer Zahl vor-
handenen kleinen und kleinsten Wällen entstammte.
Diese zeigten nämlich zwar die gleiche hin und
her schreitenden Bewegungen wie die größeren
Wälle. Wurde aber ihre Spitze einmal zu weit
abgenagt, so war es um sie geschehen; sie wurden
ganz weggeblasen und kein ähnliches Gebilde
Abb. Hufeisendüne aus Schnee auf dem gefrorenen Untersee.
Der Apparat schaute nach Norden gegen das badische Dörflein Hemnienhofen.
(Der schwarze Strich im Hintergrunde auf dem Eise ist eine Leiter, die man mit
anderem Werkzeug zur Rettung Eingebrochener aufzustellen pflegt.)
wälle liegen ließ. Wo diese nicht durch Sprünge
im Eis, durch Schlittschuhläufer oder Vermar-
kungen der Trüschenfischer und der deutschen
Grenzwachen gestört waren, schlössen sie alle
deutlich hufeisenförmig ab. Die dem Winde
zugekehrte Seite dagegen lief spitz zu. Der vor-
dere Teil der Längsseiten war oft von Ansätzen
zu neuen kleinen Bogendünen begleitet. Die
höchste Höhe erreichten die Wälle dicht vor der
Konkavseite des Hufeisens. Sie fielen also nach
hinten steil ab. Die größte Breite war ebenfalls
nahe dem hinteren Ende.
Ein eigentliches Wandern der Dünen konnte
ich nicht beobachten. Ließ der Wind etwas nach,
so wuchs im Handumdrehen von der bisherigen
Spitze aus ein langer flacher Keil von angetriebenem
Schnee dem Wind entgegen. Setzte dieser aber
wieder stärker ein, so wurde die Neubildung vom
anprallenden Schneepulver weggeschabt, und sogar
gelegentlich die alte Spitze um einige Zentimeter
rückwärts verlegt. Dagegen fand an der Hufeisen-
entstand an ihrer Stelle. Die Gassen gestalteten
sich daher immer wegsamer.
Auch über die Ursache der Hufeisen-
bildung ließ sich ein Urteil gewinnen. Wohin
man schaute rutschte das vom Winde getriebene
Schneepulver auf der Eisfläche dahin. Nicht ganz
gleichmäßig ausgebreitet, sondern, gerade auch
der Wälle wegen, zu Faden, Schlieren, Bächen
und Strömen verdichtet. Anders am hintern
Ende der Wälle. Dort rutschte der Schnee-
staub nicht, sondern flog. Von dem Kamm des
Hufeisens sausten die Kristalle geradlinig in die
Luft hinaus. Ein Teil freilich wälzte sich auch
die steile Halde hinunter. Was immer aber in
den „Hof" des Hufeisens fiel, wurde sogleich
wieder erfaßt, gegen den Wind ansteigend in die
Luft gehoben und dann auf der Höhe des Walles,
dem Windschatten entrückt, weit weg geschnellt.
Also infolge einer Saugwirkung, die natürlich
hinter dem höchsten Teile der Dünen am stärk-
sten war, wurde der „Hof" des Hufeisens immer
594
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 42
rein gefegt. Im Gegensatz dazu fehlte an den
beiden Seiten des fiofes die Saugwirkung. Es
kam dort nur der Windschatten zur Geltung.
Infolgedessen blieb an den Seiten des Hintereiides
der von oben oder von außen angetriebene Schnee-
staub in zwei langen Fortsätzen liegen. Aus
diesem Ansetzen an der Seite und dem Reinfegen
in der Mitte entstanden aus den einfachen Wällen
zu Beginn des Sturmes die hufeisenförmigen der
nächsten Tage.
Am dritten Sturmtage waren die Erscheinungen
schon viel verwickelter. Offenbar spielte jetzt das
Wirken der Sonne hinein, das allerorts harte,
schwer angreifbare und oft unterhöhlte Schnee-
flächen schuf. Unser Bild stammt von diesem
dritten Tage. Es zeigt eine noch fast unveränderte
„Hufeisendüne".
Über die Windstärke kann ich keine an-
deren Angaben machen als die, daß man auf den
Schlittschuhen bei ausgespannten Rockschössen
ohne jede eigene Anstrengung (also bei bloßem
Sichhinstellen) im Mittel in der Stunde um
15 — 20 km „versetzt" wurde. (Übrigens ein Hoch-
genuß!) Max Oettli.
Literaturhinweise zu Killermanns Aufsatz über
„Die Entdeckung der Paradiesvögel". Es liegt im
Interesse unserer jungen zoologiehistorischen
Disziplin, daß ich auf den in Heft 30 (vom 29. Juli
191 7) dieser „Wochenschrift" abgedruckten Auf-
satz S. Killermanns über „Die Entdeckung
der Paradiesvögel" zurückkomme, denn sonst
könnte die falsche Meinung entstehen, wir hätten
uns noch gar nicht mit dieser P>age befaßt.
Im Februar 1914 hat bereits Erwin Strese-
mann in Band XXI (S. 13—24) der „Noviiates
Zoologicae" einen Beitrag zur Geschichte der Or-
nithologie unter dem Titel „Was wußten die
Schriftsteller des XVI. Jahrhunderts von den
Paradiesvögeln?" veröffentlicht, der diese ganze
Frage in eleganter Methode beantwortet. Leider
ist Killermann diese Studie unbekannt ge-
blieben. Und ich halte es nun für meine Pflicht,
ergänzend darauf hinzuweisen und einiges daraus
hier mitzuteilen, da die „Novitates Zoologicae" wohl
nicht allen Lesern gleich zur Hand sind. Viel-
leicht würde ja auch Stresemann selbst die
Feder ergreifen. Doch er sei dieser immerhin
peinlichen Mühe überhoben. Mag ihm, der jetzt
im Felde steht, das Folgende zeigen, daß die
Zoologiehistorik seine Arbeit von 1914 wohl zu
schätzen weiß.
Eines freilich konnte Stresemann damals
nicht wissen: daß nämlich um 1460 Pier-
candido in seinem handschriftlichen Tierbuch
von den „Aves paradisi" schrieb: „Color illis fuscus
atque subrutilus; monedulae forma minores sunt.
Ceterum nihil a me ex illustribus auctoribus de
his aut earum natura perspectum est" (Zoologische
Annalen VI 2/3, 1914, S. 171 Anm. i), da dieser
Cod. Vatic. Urb. lat. 276 erst 1914 durch Killer-
manns eigene Veröffentlichung in den „Zoolo-
gischen Annalen" uns bekannt wurde. Dafür brachte
aber Stresemann eine auf die Paradiesvögel be-
zügliche ältere Stelle aus dem Reisebericht des
venetianischen Kaufmanns Nicolo de Conti,
den der päpstliche Sekretär Gian Francesco
Poggio Bracciolini 1440 oder 1441 nieder-
schrieb und der unter dem Titel „India recog-
nita" zuerst 1492 in Mailand im Druck erstand.
Das was Killermann aus dem Berichte des
Maximilian US Transsylvan US mitteilt, findet
man bei Stresemann in gründlicher Darstellung.
Dieser hat aus dem römischen Druck von 1523
der „Epistola .... de . . novissima Hispanorum
in Orientem navigatione, quae variae regiones in-
ventae sunt, cum ipsis etiam Moluccis insulis bea-
tissimis, optimo Aromatum genere refertis" zitiert,
während Killermann nur von einer „Editio
princeps, Co In 1523, Januar" — ohne Titel-
angabe — schreibt und wahrscheinlich aus dem
Regensburger Originalmanuskript schöpft, wobei
ihm jedoch einige falsche Lesungen untergeschlüpft
sein dürften.
Auch die deutsche Übersetzung von Marco
Antonio Pigafetta's „Beschreibung der von
Magellan unternommenen ersten Reise um die
Welt" in der Gothaer Ausgabe von 1801 durfte
von Killermann nicht herangezogen werden,
wo doch bereits zwischen 1524 und 1534 der von
Pigafetta wahrscheinlich schon 1522 verfaßte
Bericht in französischer Übersetzung („Le Voyage
et navigation faict par les Espagnolz es Isles de
Mollucques cfc") erschien und außerdem in der
Ambrosiana das Original von Pigafetta's Hand
liegt, nach dem sich S treseman n gerichtet hat.
Die bei Killermann stehende Übersetzung ist
jedenfalls sehr anfechtbar. Z. B. ist durchaus nicht
zu übersetzen: „Dieser Vogel hat die Größe einer
Drossel", da im Cod. Ambros. furtola — also
„Turteltaube" — steht. Außerdem muß es statt
„Bolon dinata" sprachlich richtig heißen : („man
nennt ihn) Bolon dinata", da nach S t rese man n,
der meines Wissens auch ein guter Kenner der
Archipelsprachen ist, im Javanischen iiiaiiuk cicvata
und im Malayischen biiniiig devafa „göttlicher
Vogel" bedeutet. Dieses fatale // mag deswegen
ruhig in dem in „Pigafetta Raccolta" (V. 3, 99)
abgedruckten Eigenbericht des Reisenden stehen,
der freilich S treseman n unbekannt blieb.')
Weiterhin schreibt K i 1 1 e r m a n n , daß seines
Wissens Conrad Gesner „in den ersten Auf-
lagen seines Werkes den Paradiesvogel noch nicht
abgebildet" habe, sondern daß zum ersten Male
in der von Heußlin besorgten deutschen Aus-
gabe, im „Vogelbuch" 1600, eine Abbildung auf-
') Stresemann, der den Cod. Ambros. benutzte, hat
jedenfalls i^o/dH diiui/a. Ich kann nur die der Gothaer Aus-
gabe als Übersetzungsvorlage dienende Schrift „Premier voyage
autour du monde, par le Chevr. Pigafetta, sur l'escadre de
Magellan, pendant les annees 1519, 20, 21 et 22; . . . ."
(Paris, l'an IX) einsehen, wo allerdings auf S. 197 auch
lioloiuiinata zu lesen ist.
N. F. XVI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
595
tauche. Doch ist bei Gesner in der lateinischen
Erstausgabe seines „Historiae animalium liber III.
qui est de Auium natura", die bekanntlich 1555
zu Zürich aus der Presse kam, auf .S. 612 eine
Abbildung von Paradisaea apoda (?) zu finden,
wie auch Stresemann die ausführlichen Mit-
teilungen Gesners (1. c. p. 611 — 614) über die
Paradiesvögel wörtlich abdruckte. Hat doch auch
bereits Pierre Belon in seinen 1557 zu Paris
erschienenen „l'ortraits d'oyseaux" den Gesn er-
sehen Holzschnitt reproduziert, wenn er das Tier
auch als Phönix bezeichnet und folgende senti-
mentalischen Verse dazu geschmiedet hat (.S. 23 b):
„Tant hault en l'air ie me pas de rosee
Qu'impossible est me pouuoir vif auoir,
Ny mesment qu'apres ma mort me voir.
Voila comment ma vie est composee."
Es würde zu weit führen, wollte ich nach
Stresemann noch die wichtigen Betrachtungen
über die Paradiesvögel wiedergeben, und zwar
von: Girolamo Cardano (De subtilitate libri
XXI, Paris 1551, p. 202),') Pierre Belon (Les
observations de plusieurs singularitez et choses
memorables, trouuces en Grece, Asie, ludee, Egypte,
Arabie, et autres pays estranges, Paris 1553,
p. 1891''; L'histoire de la nature des oyseaux,
Paris 1555, p. 329—331), Francisco Lopez
de Gomara (La istoria de las Indas, Saragossa
1552, p. 546), Julius Caesar Scaliger (Exo-
tericarum exercitationum liber quintus decimus,
de subtilitate , ad Hieronymum Cardanum , Paris
15S7. P- 3001^1 — 302f'l). Ulisse Aldrovandi
(Ornithologiae libri XII, Bologna 1599,
p. 806 — 816), Luca Contile (Ragionamento
sopra la proprietä delle imprese, Pavia 157.4,
p. JJ^""^ — 78''0> Simon Maiolus (Dies canicu-
lares seu colloquia tres, et viginti, Rom 1597,
p. 280) usw. usw.
Nur auf eins darf vielleicht noch hingewiesen
werden. Stresemann hat seiner Studie die
Reproduktionen zweier italienischer Aquarelle aus
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beige-
geben, die Paradiesvögel darstellen. Sie befinden
sich jetzt mit 133 anderen Vogelaquarellen in der
Bibliothek des Tring-Museums, haben aber einst,
wie Stresemann evident nachzuweisen vermag,
Aldrovandi als direkte Vorlage für die Holz-
schnitte seiner Ornithologia vom Jahre 1599 ge-
dient.
Da wir nun einmal auf Stresemann s grund-
legende Abhandlung zurückgekommen sind, mache
ich zugleich auf eine neuere Bemerkung B e r t h o 1 d
Lau fers aufmerksam, der vor zwei Jahren in
seiner Arbeit „Vidai'iga and Cubebs" (in: T'oung
PaoXVI, 1915,5.282—288 [Fußnote i auf S. 284])
über die erste Einführung der Paradies-
vögel in China sich in bekannter Gelehrsam-
keit kurz ausgelassen hat. Stresemann (a. a. O
') In dem von mir stets benutzten älteren Druck: Nürn-
berg 1550, bei Job. Petrejus, auf S. 239. — Ich habe im
folgenden Stresemanns Literaturangaben nachgeprüft und
stillschweigend einige Verbesserungen angebracht.
S. 18 Fußnote -f) vermutete, daß die im Jahre
813 vonjavanesen dem Kaiser von China als eine
Art Tribut dargebrachten „Pinka-Vögel'' Paradisaea-
Arten gewesen wären. Lauf er erscheint dies
indessen zweifelhaft, da die Javaner selbst erst in
der Miite des 14. Jahrhunderts die Molukken er-
reichten, wo ein am westlichsten lebender Paradies-
vogel vorkommt. Er macht außerdem Strese-
mann auf eine von diesem übersehene Miszelle
von F. W.K. Müller im „T'oung Pao" IV (1893),
S. 82 — 83 und auf Henry Yule's und A. C.
Burnell's „Hobson-Jobson" (1886, p. 95 [New
ed. by W. Crooke, 1903]) aufmerksam. Ihm sind
auch die von F. Hirt h (in: T'oung Pao V, 1894,
S. 390 f) und W. E. Groeneveldt (ebendas.
VII, 1896, S. 114) gegen Müllers Ansicht über
die Einführung von Paradiesvögeln in China vor-
gebrachten Gründe nicht zwingender Natur.
Leider hat Stresemann noch nicht die
Muße gefunden, auf einen Hinweis meinerseits
(in: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und
der Naturwissenschaften XVI, 1917, S. 69) dem
Problem weiter nachzuspüren. Man sieht jeden-
falls, daß die Geschichte der Paradiesvögel durch-
aus nicht so einfacher Natur ist, daß aber St rese-
manns auf gründlichster Literaturkenntnis auf-
gebaute Arbeit in den „Naturae Novitates" die
Geschichte von der ersten Kenntnis dieser farben-
prächtigen Vögel in Europa bereits geklärt hat.
Höchstens, daß zufällige, glückliche Funde in
Handschriften den Kreis der Belege noch schärfer
schließen oder auch zeitlich erweitern können.
Rudolph Zaunick (Dresden).
Biologische Beobachtungen am Blindmoll {Spa-
lax hiingaricus Nhrg.). Die genannte, etwa 20 cm
lange Blindmaus, deren anliegendes, mausgraues
Haar am Rücken und an den Seiten erdbraune
Spitzen zeigt, kommt am unteren Sereth nicht
gerade selten vor. Im Mündungsgebiete des
Buzens in den Sereth gelang es mir innerhalb
eines Monats, vier Stück zu erhalten, und fünf
oder sechs weitere wurden in dem etwa 2 km
breiten Streifen meines Abschnittes von der Mann-
schaft erschlagen.
Meinen magyarischen Kameraden ist der
Blindmoll übrigens unter dem Namen „földi-kutya"
(= Erdhund) bekannt, nicht unter der in Brehms
Tierleben ') angegebenen Bezeichnung „Földi-
kölök" (r. kölyök = junger Hund).
An einem lebend und unverletzt in meine
Hände gelangten Blindmoll konnte ich einige
Lebensäußerungen genau beobachten, deren Mit-
teilung vielleicht eine nicht unwillkommene Er-
gänzung zu der in Brehms Tierleben von L. Heck
gegebenen Lebensbeschreibung bieten dürfte.
Der Blindmoll lebt unter der Erde, in selbst-
gegrabenen, im Querschnitt kreisförmigen, ungefähr
7 cm weiten Gängen, die vollständig unregelmäßig
verlaufen, jedoch nie eine stärkere Steigung auf-
') IV. Aufl., Säugetiere — 2. Band, S. 244.
596
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 42
weisen. Das Eingraben von der Erdoberfläche
aus vollzieht sich folgendermaßen: Mit vorge-
strecktem Kopfe wühlt der Blindmoll sich zu-
nächst durch die obere, lockere Erdschicht, bis er
auf den stärkeren Widerstand des gewachsenen
Bodens trift't; hierauf scharrt er darin — gleich
einem grabenden Hunde — eine kleine Vertiefung
aus, die mittels des Kopfes vergrößert wird. Dabei
spielen neben dem rüsselförmigen Fortsatz der
Oberlippe auch die kräftigen Nagezähne (bes. die
unteren, gegeneinander beweglichen) eine wichtige
Rolle. In 3 Minuten ist eine 4 cm tiefe und
ebenso breite Höhlung hergestellt, in der Kopf
und Vorderfüße schon vollständig verschwinden.
Die Arbeit wird mit solchem Eifer und so großer
Kraftanwendung verrichtet , daß zeitweilig der
Hinterkörper 1 V., cm und mehr über den Erd-
boden gehoben wird: dies geschieht immer dann,
wenn eine schwer erreichbare Stelle mit den
Zähnen ausgenagt wird. Von Zeit zu Zeit wirft
sich das Tier mit einem plötzlichen Ruck herum
und schiebt — oder besser: stößt — die ausge-
grabene Erde mit dem Kopfe zurück, so daß als-
bald ein halbkreisförmiger Wall von 12—15 cm
Halbmesser um die gegrabene Höhlung entsteht.
Nach 10 Min. war die Höhlung schon so groß,
daß das ganze Tier darin Platz hatte und nach
12 Min. konnte der Blindmoll sich darin um-
drehen und die Erde mit dem Kopfe hinaus-
schieben. Ehe das Tier aber die Höhle weiter
vertiefen konnte, wobei aus dem anfänglichen
Erdwall ein dem des Maulwurfs ähnlicher Haufen
entstanden wäre, holte ich es mittels eines Hölz-
chens wieder heraus; wütend biß es mit seinen
furchtbaren Schneidezähnen hinein, wie stets, wenn
man es bei der Arbeit störte. Sehr gereizt läßt
es auch ein hohes, mausähnliches Quieken („i")
hören oder ein Pfauchen (wie „ch''), wobei das
Maul weit offen und die Spitzen der beiden unteren
Nagezähne 4 mm voneinander entfernt stehen.
Die eigentliche Grabarbeit verrichten stets,
wie ich mich mehrmals überzeugte, ausschließlich
die Nagezähne; die Vorderfüße dienen lediglich
als Stütze und zum Zurückscharren der losgenagten
Erde, während der Hinterkörper beim Ein-
graben wie eine Wetterfahne hin- und her-
schwankt. Beim Verlängern des Ganges da-
gegen bildet der Hinterkörper einen guten Halt,
indem er an die Wände gepreßt wird und die
nötige Stütze für die hebelartige Wirkung des
Kopfes mit seiner mächtigen Nackenmuskulatur
abgibt.
Sehr ergötzlich ist es, den Blindmoll beim
Fressen zu beobachten. Ein vorsichtig in seine
Nähe geschobener saftiger Wurzelstock wurde
nach mehreren vergeblichen Versuchen angenom-
men, mit den beiden Vorderfüßen festgehalten —
ähnlich wie es die Eichhörnchen zu tun pflegen
— und mit großer Geschwindigkeit verzehrt, wo-
bei die Arbeit der Zähne deutlich zu hören war.
Während der Mahlzeit legte das Tierchen sich
zuweilen halb auf die eine Seite. — Auf Nahrungs-
suche scheint der Blindmoll meist gegen Abend
auszugehen, denn alle Stücke wurden abends in
den Laufgräben gefunden; diese durchschneiden
natürlich kreuz und quer die Gänge der Blind-
mäuse und da ihre Sohle (180 cm unter der Erd-
oberfläche) mindestens 80 cm tiefer liegt als jene,
so fallen die Tiere auf ihren abendlichen, unter-
irdischen Wanderungen in unsere Gräben.
Regelmäßige Nester — wie der Maulwurf sie
baut — scheint der Blindmoll nicht anzulegen;
ich fand in den vielen der Länge nach durch-
schnittenen Gängen, die ich untersuchen konnte,
nur unregelmäßige Erweiterungen, mit Grashalmen
und -wurzeln ausgepolstert, die ich für Schlaf- und
Bruträume halte.
Von den Sinnen ist beim Blindmoll das
Gehör ausgezeichnet entwickelt. Beim geringsten
Geräusch — nahende Schritte u. dgl. — drückt
er sich unbeweglich in seine Höhlung und nimmt
die Arbeit erst wieder auf, wenn einige Zeit nach
der Störung verstrichen ist.
Auch eine gewisse Licht empfin dl ichkeit
muß der Blindmoll besitzen, obgleich die rudi-
mentären Augen vollständig unter dem Fell ver-
borgen sind; ich schließe dies aus folgenden beiden
Beobachtungen: i. sucht der Blindmoll, an die
Oberfläche gebracht, sich stets den dunkelsten
Winkel, um sich daselbst einzugraben oder, wenn
er — im Unterstand z. B. — das nicht kann, hin-
zukauern; 2. wird er merklich unruhig, wenn man
ihn dort mit einer elektrischen Taschenlampe oder
mit durch einen Spiegel zurückgeworfenem Sonnen-
licht grell beleuchtet. Bei längerer Belichtung
verläßt er sogar seinen Platz. Bei dem Verhalten
gegen reflektiertes Sonnenlicht könnte man allen-
falls an einen sehr feinen Temperatursinn denken
aber bei Verwendung einer elektrischen Taschen-
lampe in einem Abstände von annähernd V2 m
ist diese Erklärung wohl nicht zulässig.
Von den übrigen Sinnen ist der Tastsinn
sehr gut ausgebildet. Bei Berührungsversuchen
reagierte der Blindmoll durch ruckweise Rückwärts-
bewegungen, schon bevor ich an seinen Kopf
bzw. an eines seiner Tasthaare mit einem Hölz-
chen ankam.
Leider war die Freude, einen lebenden Blind-
moll zu besitzen, nicht von langer Dauer; schließ-
lich ist der Schützengraben der ersten Linie gerade
nicht der geeignete Ort zum Halten und Beobachten
lebender Tiere. Obwohl ich dem Tierchen ver-
schiedene Pflanzenwurzeln in seine mit Erde ge-
füllte Kiste gab, war es nach einiger Zeit schon
etwas matt und am Ende des zweiten Tages tot.
Zum Schlüsse noch ein Beispiel von der ge-
waltigen Kraft, die der Blindmoll in seinen Nage-
zähnen besitzt. Am ersten Abend nach Ein-
bringung des Tieres untersuchte ich um ^,2 9 Uhr
die Kiste und fand sie unbeschädigt; um i Uhr
nachts sah ich wieder nach und konnte den Blind-
moll gerade noch einfangen : er hatte in höchstens
4' ., Stunden in ein '^|^ cm dickes Brett ein 5 cm
breites Loch genagt, obgleich er schon bedeutend
N. F. XVI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
597
weniger Lebenskraft zeigte als zur Zeit seiner
(.lefangennahme.
Prof. Dr. Wilhelm Hoffer (z. Zt. im Felde).
Brasilianische Säugetiere und Vögel im natur-
historischen Museum zu Bern. Anfang Juli dieses
Jahres starb zu Bern Professor Emil August
Goeldi, ein Schweizer von Geburt, welcher
durch seine biologischen Forschungen in weiteren
zoologischen Kreisen bekannt wurde; seinem An-
denken mögen die folgenden Zeilen gewidmet sein!
Durch langjährigen Aufenthalt in Brasilien und
namentlicli als Direktor des Museums in Para,
welches er über ein Jahrzehnt leitete und zu hoher
Blüte brachte, war es Goeldi vergönnt sich in
ausgedehntem Maße mit der F"auna Brasiliens zu
beschäftigen. Namenilich waren es die Staaten
Rio de Janeiro, Minas Geraes, Sao Paulo, Kspirito
Santo, Bahia und Para dieses an Naturmerkwürdig-
keiten so reichen Landes, welche er eingehend auf
ihre Tierwelt hin untersuchte.
Keine fremdländische P'auna ist vielleicht ver-
hältnismäßig so gut erforscht worden, wie die
südamerikanische. Diejenige von Chile wurde
zuerst von dem Jesuitenpater Molina in seinem
„Saggio sulla storia naturale del Chili" schon im
Jahre 1782 genauer beschrieben, diejenige Para-
guay's von Azara und namentlich von Rengger
durch meisterhafte Biographien, welche teilweise
in Brehm's Tierleben übergegangen sind, in dem
1830 zu Basel erschienenen Werke „Die Säuge-
tiere von Paraguay" in unübertroffener Weise ge-
schildert.
Brasilien und Paraguay, da beide aneinander
grenzend, haben daher eine vielfach überein-
stimmende Fauna. So finden sich z. B. der Jaguar,
der Tapir, der große Ameisenfresser, bekannte
Insassen unserer Tiergärten, verschiedene Vögel,
Reptilien usw. in beiden Provinzen gemeinschaft-
lich vor.
Doch nirgends mag eine reichere und üppigere
Tierwelt anzutreft'en sein als im Gebiete des Ama-
zonen-Stromes, dieses größten Flusses Südamerikas.
Dieselbe wurde von dem Engländer Bates in
seinem Buche „Der Naturforscher am Amazonen-
Strom", welches mehrere Auflagen erlebte und
auch im Jahre 1S66 in deutscher Übersetzung zu
Leipzig erschien, den weitesten Kreisen bekannt
gemacht und Goeldi darf gewissermaßen als der
Nachfolger dieses bedeutenden Mannes in der
naturwissenschaftlichen Erforschung Brasiliens an-
gesehen werden.
Die Zahl der von Goeldi neu entdeckten,
fast allen Klassen angehörenden Tierarten ist Le-
gion, zählt er doch selbst in einem als Manu-
skript gedruckten und zur Verteilung an seine
l""reunde bestimmten Verzeichnis deren über 200
auf, zu einem großen Teile von ihm selbst be-
schrieben !
Die wissenschaftliche Ausbeute Goeldi 's ist
wohl zum größeren Teile im naturhistorischen
Museum von Parä, zum kleineren in demjenigen
von Bern, woselbst der P"orscher die letzten Jahre
seines Lebens zubrachte, deponiert. In letzterem
sind namentlich die Säugetiere und Vögel Brasi-
liens in \'orzüglich ausgestopften Bälgen zu sehen,
es ist mir unmöglich sie alle an dieser Stelle an-
zuführen und es mag daher nur eine ikurze Über-
sicht über die selteneren Arten folgen, um so mehr
als dieselben in den übrigen Museen des euro-
päischen Kontinents wohl nur zum geringsten Teile
vertreten sein mögen.
A. Säugetiere.
1. J//(/(7S grisc'orerh'x Goeldi. Dem M. rufi-
nentcr Gray in der Färbung sehr nahekommend,
aber sich durch den weißgrauen Scheitel davon
unterscheidend. Von Rio Purüs im Amazonas-
Gebiet. — Gehört zur Gruppe der Krallenaffen,
welche wesentlich durch die Gattung Ilapnle re-
präsentiert wird und von Midas durch die längeren
Eckzähne des Unterkiefers, welche die Schneide-
zähne um ein Beträchtliches überragen, unter-
schieden.
2. Callifl/rix ciiprais Spix. Rio Pui üs. Nament-
lich durch die kupferrote I;ärbung der Wangen, der
Vorderarme und Schenkel ausgezeichnet und zu
den Springaffen gehörig.
3. W a 1 d h u n d {Jcficyon venaiicus Lund).
Amazonas-Gebiet. Ein von der typischen Hunde-
familie ganz abweichendes Mitglied. Durch seine
untersetzte Gestalt, w'elche namentlich durch die
kurzen Beine hervorgerufen wird, besitzt er ein
ausgesprochen mar derartiges Gepräge!
4. Diiioinys Branickii Peters — Rio Purüs —
Dieses durch die Färbnng an das Para (Coclogenys
Para Rengg.) erinnernde, aber in der Bildung des
Schädels dem größten Nager Südamerikas, dem
Wasserschwein (Hydrochoerus capibara Erxl.) nahe-
stehende Nagetiere wurde 1873 zuerst von Pro-
fessor Peters in Berlin beschrieben. Lange Jahre
war nur ein einziges Exemplar bekannt, in der
letzten Zeit fängt das Tier aber an in den Samm-
lungen häufiger zu werden. So besitzt das Mu-
seum in Frankfurt am Main ein, dasjenige in Bern
sogar zwei ausgestopfte Tiere, außerdem zwei in
Spiritus conservierte Foetus.
Der mit dem Museum in Para verbundene
zoologische Garten erhielt im Jahre 1905 zwei
lebende Exemplare dieser Tierart, von welchen
nach Goeldi das eine bald einging, das andere
sich aber recht gut gehalten haben soll. In euro-
päische Gefangenschaft dürfte das Tier seiner re-
lativen Seltenheit halber wohl noch nicht gelangt
sein.
5. Caiiis {Ccrdocyoii) inicrvtis ^clater. Para
und Amazonas Gebiet. Wurde s. Z. im Tiergarten
zu Londen gefangen gehalten und daselbst von
Sclater als eigene i\rt entdeckt und beschrieben.
Zeichnet sich namentlich durch schlanken Körper-
bau und kurze Ohren aus. Nahe verwandt ist ihm
598
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 42
der ebenfalls im Berner Museum befindliche, im
gleichen Gebiete vorkommende Canis vetulus Lund.
6. Von selteneren mäuseartigen Nagern ver-
dienen Erwähnung;
Kaiuiabatconiys avibonyx Wagn., Nectomys
squaniipcs Brant., beide von Sao Paolo,
ferner Oryzoiiiys longicaudatus (Lund.) vom
Orgelgebirge und Mcsomys ecaudatiis Wagn.
vom Amazonas-Gebiet.
Von dem die Hufpfötler repräsentierenden
Meerschweinchen (Cavia porcellus L.) ist
die wilde, aber kleinere Stammform aus dem
Orgelgebirge von Interesse.
Das seltene Wiesel Piitoriiis paracnsis von Parä,
1877 von Goeldi in Spengel's „Zoologischen
Jahrbüchern" beschrieben und dem Entdecker nur
in drei Exemplaren bekannt, fehlt dem Berner
Museum und wahrscheinlich auch sonstigen euro-
päischen Sammlungen.
B. Vögel.
Auch die ornithologische Sammlung des Berner
naturhistorischen Museums verdankt Goeldi
manche wertvolle Exemplare, doch sind daselbst
im allgemeinen nur die gewöhnlicheren Arten aus
Brasilien vertreten. Erwähnung verdienen schon
der geographischen Verbreitung halber die fol-
genden :
1. Cymindis uncinatus Cuv. Falkenartiger
Raubvogel vom Orgelgebirge.
2. Weißschwanz-Bussard [Biäco albicau-
datiis Viell.) Ebendaher.
3. Schopfhuhn {OpistJwcoDius hoaztn Müll.)
Parä. Eine ganze Gruppe ist von diesen inter-
essanten Scharrvögeln ausgestellt, welche dadurch
ausgezeichnet sind, daß die Jungen derselben an
Daumen und Mittelfinger Krallen aufweisen, welche
ihnen eine hohe Kletterfähigkeit ermöglichen.
Die genannten Eigenschaften gehen den alten
Vögeln ab.
Von weiteren Scharrvögeln seien ferner Or-
falis araciian Spix von Park und Odonfophorus
capiicira Spix vom Orgelgebirge erwähnt. End-
lich sind folgende seltenere Vogelarten bemerkens-
wert.
4. von Schnepien: Gallma£-o/renafal\\. Orgel-
gebirge.
5. von Rallen: Porp/iyrwla parva (Bodd.) Parä,
ein Sultanshuhn im kleinen.
6. von Ibissen: Weißhals-Ibis [TJieristicus
candatiis (Bodd.). Marajo, Amazonas.
7. von Singvögeln: Saltator siDiilis Lafr. ; Ca-
luspiza thoracica Gab. ; Cissopis major Gab. ; Bra-
chyspiza pilcafa (Bodd.); Troglodylcs musculus
Licht.; sämtliche Arten vom Orgelgebirge.
8. von Schreivögeln : Grallaria inipcrator Lafr.
zu den Formicariidae oder Ameisenvögeln im en-
geren Sinne gehörig. Orgelgebirge.
9. von Kolibris; Lamponiis vioUcaiida (Bodd.)
Bahia.
Zum Schlüsse mag noch der Jabirn oder ameri-
kanischer Riesenstorch {Mycteria avicricaiia L.),
welcher jetzt sehr selten in europäische Gefangen-
schaft gelangt, aber längere Jahre im Basler Tier-
garten lebte, von der ungemein reichhaltigen Aus-
beute Goeldi's angeführt sein. Epstein.
Bücherbesprechungen.
und Geschichte. J. C. orientierter Formbegriff.
Fritz Neeff, Geset
B. Mohr 191 7. 45 S. — I Mk.
Eine von Rudolf Eucken mit einem emp-
fehlenden Vorwort versehene philosophische Erst-
lingsschrift. Sie ist im Felde konzipiert, daher
noch mehr Bekenntnis- als Erkenntnisschrift, voll
warmen F'ühlens und reinen Wollens, ohne der
kühlen Sachlichkeit zu entbehren. Da, wie Neeff
gegen den Schluß hin sagt, alle Wirklichkeit aus
dem Zusammentreffen von ursächlichem Sein und
ursprünglichem Geschehen sich forme, besteht also
„alle Erkenntnis in wechselseitiger Gültigkeit des
zeitlos Allgemeinen für das Besondere (Gesetz)
und des zeitlich Besonderen für das Allgemeine
(in der Geschichte). Beide Erkenntnisweisen aber
vollenden die Erkenntnis der Wirklichkeit". Es
sucht also die Naturwissenschaft überwiegend
Gleichartiges unter allgemeine Gesetze zu bringen,
die Geschichte Besonderes aus dem bedeutungs-
losen Geschehen gestaltend herauszuheben. —
Was wird dabei unter Geschichte verstanden, was
unter dem von ihr bedeutsam Gestalteten? Als
das Gestaltete in seiner einzigartigen Besonderheit
gilt Neeff schlechtweg das „Neue", — ein aus-
schließlich am Vorhandenen oder Vergangenen
Wie man etwa in der
Folge geologischer Schichtungen eine jüngere von
der älteren durch bestimmte äußerliche Eigen-
schaften unterscheidet. Dies soll auch für die
Geschichte der kultivierten Menschheit gelten. Es
wird daher nicht scharf genug getrennt zwischen
ihr und der Geschichte der Naturformen. Ins-
besondere wird der Gegensatz des Menschen als
sittlichverantwortlich handelnden, vernunftbegabten
Wesens im kausal gebundenen Geschehen des
Naturganzen (soweit es ihm nicht als Naturprodukt
selbst angehört) gänzlich übergangen. Daher bleibt
auch Unklarheit in der Stellung Neeff's zum
„werthaften Erkennen der Kulturwissenschaft", das
er mit einer gewissen Verlegenheit nur streift.
Menscheitsgeschichte in ihren jüngeren, kulturge-
sättigten Formen geht ihm unter in allgemeiner,
kosmischer Geschichtsvorstellung, wo die Wert-
bestimmung keinen Platz haben kann. Diese liegt
aber, gewollt oder nicht, jeder die menschlichen
Kulturperioden behandelnden Geschichtsschreibung
zugrunde. Es erscheint zwar das Ergebnis des
Peloponnesischen Krieges, von der Seite der Lake-
dämonier aus betrachtet, als Erfüllung eines
Naturgesetzes: Die bessere Organisation überwin-
N. F. XVI. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift-
599
det die schlechtere. Der Zusammenbruch Athens
aber fordert als Werturteil: Untergang der selb-
ständigen, von sittlichem Pflichtgefühl nicht mehr
hinreichend getragenen kulturellen Schöpferkraft.
Solche ethische Erkenntnis erscheint daher in der
Geschichtsbetrachtung menschlicher Zustände und
Personen als das ihr Eigentümliche, als das wert-
vollere und wertbestimmende. Dem wird nicht
gerecht, wer, mit Neff, geneigt ist, die spezifische
Eigenart der Geschichte kultivierter Menschheit
im Zusammenhange der Gesamtgeschichte irdi-
schen Lebens zu unterschätzen.
K. Steinacker.
L. Graetz, Das Licht und die Farben (Ein-
führung in die Optik). Sechs Vorlesungen ge-
halten im Volkshochschulverein München.
17. Bändchen von „Aus Natur und Geisteswelt".
4. Aufl. 130 Seiten mit lOO Abbildungen im
Text. Leipzig und Berlin 191 6, B. G. Teubner.
— Preis geb. 1,25 M.
Daß die Vorträge des Verfs. nach kurzer Zeit
bereits in vierter Auflage erscheinen, zeugt von
der hohen Wertschätzung, deren sich diese kurze,
aber abgerundete, nach Form und Inhalt muster-
gültige Darstellung der gesamten Optik in weite-
sten Kreisen erfreut. Wer einen klaren, von jeder
Schwierigkeit freien und doch weitgehenden Ein-
blick in die Gesetze der geometrischen und phy-
sikalischen Optik zu gewinnen sucht, wird das
Bändchen jedenfalls mit Erfolg zu Rate ziehen.
Aber auch dem Kundigen, insbesondere dem
Lehrer, wird die vortreffliche Verknüpfung von
theoretischer Folgerung und dem Ergebnis der
direkten Erfahrung bzw. des Experiments nament-
lich in didaktischer Hinsicht manche Anregung
geben können. Gegenüber den früheren Auflagen
weist die gegenwärtige nur kleinere Änderungen
auf. A. Becker.
Otto Hauser, Der Mensch vor looooo Jahren.
Mit 96 Abbildungen und 3 Karten. Leipzig
191 7. F. A. Brockhaus. — 3 M.
Otto Hauser, dessen Lebenswerk durch
den Weltkrieg in geradezu tragischer Weise unter-
brochen, wenn nicht gar abgebrochen wurde, schil-
dert in diesem hübsch ausgestatteten Büchlein
die Geschichte seiner Entdeckungen, die ihn weit
über den Rahmen seiner Fachdisziplin hinaus
bekannt gemacht haben, und rundet darüber hin-
aus seine Darstellung zu einem Bilde des vor-
geschichtlichen Menschen, seiner Lebensweise und
seiner Umgebung ab. Der Hauptreiz des Hauser-
schen Buches liegt aber in dem ersten Teil, in
welchem er seine Forschungen und Erlebnisse im
Tale der Vezere in der Dordogne erzählt, mit
einer Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit, die einen
Abglanz des Forscherfiebers und der Entdecker-
spannung und -freude auch im Leser hervorrufen.
Fabelhaft ist auch, wie sich der Verfasser in die
vorgeschichtliche Welt und die Seele der alten
Menschen hineinfühlt; und wenn auch naturgemäß
die rein konstruktive Phantasie daran einen großen
Anteil hat, so überläßt man sich doch willig dem
Reiz dieser urzeitlichen Erzählungen und der
Suggestion eines Erzählers, dessen Spürsinn so
viele greifbare Erfolge erzielte. Miehe.
Alfred Hettner, EnglandsWeltherrschaft
und ihreKrisis. Leipzig und Berlin 1917.
B. G. Teubner. — 4,80 M.
Daß dieses Buch, das in der ersten Auflage
den Titel: „Englands Weltherrschaft und der
Krieg" führte, nunmehr bereits in der dritten Auf-
lage vorliegt, spricht für das große Interesse, das
es gefunden hat. Das ist durchaus verständlich,
ist doch der Stoff sowohl als die ausgezeichnete
Darstellung geeignet, die größte Anteilnahme bei
jedem zu erwecken, der diese ungeheure Zeit
bewußt mitlebt. Dies Interesse wird womöglich
gerade in der gegenwärtigen Phase des Krieges,
von der wir hoffen, daß es die entscheidende ist,
noch gesteigert, da es allmählich auch den po-
litisch harmlosesten Menschen klar geworden ist,
daß England unser erbittertster und unversöhnlich-
ster Gegner ist — und sein muß. Denn der Verfasser
zeigt uns, wie die englische Weltherrschaft all-
mählich geworden ist und wieso sie sich jetzt vor
einer Krise befindet, die mit Notwendigkeit zu einer
gewaltsamen Lösung drängte. Die Darstellung
des gelehrten Geographen ist trotz ihrer fes-
selnden Form in ganz wissenschaftlichem Geiste
gehalten und auf zuverlässiger breiter geogra-
phischer, geologischer, geschichtlicher und welt-
wirtschaftlicher Grundlage aufgebaut, bietet also
im Gegensatz zu zahlreichen Tagesleistungen eine
Quelle zuverlässiger Belehrung, von der möglichst
viele in dieser wichtigsten Epoche unserer Ge-
schichte zur Vertiefung ihres politischen Urteils
schöpfen sollten. Miehe.
I R. Hennig, Das „Wiederholungsgefühl" als Quelle des Seelenwanderungs-Glaubens. S. 585. — Kleinere Mit-
teilungen: Max Oettli, Hufeisendünen aus Schnee. (1 Abb.) S. 593. Rudolph Zaunick, Literaturhinweise zu
Killermanns Aufsalz über „Die Entdeckung der Paradiesvögel". S. 594. Wilhelm Hoffer, Biologische Beobach-
tungen am Blindmoll (Spa/ax huiigarii-iis Nhrg.). S. 595. Epstein, Brasilianische Säugetiere und Vögel im natur-
historischen Museum zu Bern. S. 597. — Bücherbesprechungen: Fritz Nee ff, Gesetz und Geschichte. S. 598.
L. Graetz, Das Licht und die Farben. S. 599. Otto Hauser, Der Mensch vor 100 c»o Jahren. S. 599. Alfred
Hettner, Englands Weltherrschaft und ihre Krisis. S. 599.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
6oo
N'aturwissenschafiliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 42
&0
fet^r€rfol0
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge i6. Band;
der ganzen Reihe 32. Band.
Sonntag, den 28. Oktober 1917.
Nummer 43.
Goethes Farbenlehre und die Naturwissenschatt.
[Nachdruck verboten
E. Raehlmann
Seit einem vollen Jahrhundert, man kann wohl
sagen, seit ihrer Entstehung ist die Goethische
Farbenlehre ein Streitobjekt der Naturwissenschaft
gewesen. Der Streit ist zu verschiedenen Zeiten
besonders lebhaft geworden, wenn die führenden
Geister auf dem Gebiete der Physik, der Physio-
logie und der Philosophie sich für oder gegen
dieselbe aussprachen. Mitte des vorigenJahrhunderts
war Arthur Schopenhauer, trotz einiger ab-
weichender eigener Anschauungen, warm für die-
selbe eingetreten. Gegen Ende des Jahrhunderts
war sie von Helmholtz, du Bois-Reymond,
von Bezold und anderen grundsätzlich abgelehnt,
später aber durch die Arbeiten von StiUing,
Kalischer, König, Magnus und anderen
wieder rehabilitiert worden.
Neuerdings ist sie wieder von Sommerfeld*)
abgewiesen worden. Wenn Sommerfeld
Goethes Physik ablehnt, so hat er vollkommen
recht, aber damit auch Goethes Farbenlehre ab-
lehnen, hieße das Kind mit dem Bade ausschütten.
Denn Goethes Farbenlehre enthält, abgesehen
von der unglücklichen Polemik mit Newton, die
auf rein physikalischem Gebiete liegt, eine solche
Fülle von Wahrheit über die Entstehung von Farbe
und P'ärbung in der Natur, daß keine Farben-
untersuchung, die über den Bereich des Experi-
mentes in der Dunkelkammer hinausgeht und
allgemein naturwissenschaftliche Farbenerschei-
nungen erklären will, an ihr vorbeigehen kann.
Wenn das trotzdem in vielen modernen Ab-
handlungen geschieht, so darf nicht übersehen
werden, daß sich diese Abhandlungen auf physio-
logische und philosophische Vorarbeiten stützen,
deren Grundlagen der Goethe'schen Farbenlehre
entnommen sind.
Das ist auch nicht unrichtig, so lange es sich
um P^orscherarbeilen handelt, die für orientierte
Fachkreise bestimmt sind. Sommer feld's Auf-
fassung aber wendet sich an Laien, an die Ge-
bildeten aller Berufe und Stände. Darum möge
es gestattet sein, dem Sommerfeld' sehen Artikel
eine aufklärende Ergänzung hinzuzufügen.
A. Subjektive Naturfarben.
Wenn man von Farben und Farbenlehre spricht,
meint man nicht allein das Resultat der rein
») A. Sommerfeld, Prof. der theoretischen Physik an
der Universität München, „Goethes Farbenlehre im Urteile der
Zeit." Deutsche Revue (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart)
Juliheft 191 7.
„Und so lasset auch die Farben
mich nach meiner Art verkünden."
(Nachträge zur Farbenlehre. Vorwort.)
physikalischen Untersuchung über die optische
Beschaffenheit des weißen und farbigen Lichtes,
sondern auch die Ergebnisse der Beobachtung, wie
weißes und farbiges Licht auf unser Auge wirkt,
wenn es in der freien Natur unter den verschie-
densten Bedingungen der Beleuchtung auf uns
einwirkt.
Je nachdem farblose und farbige (Reflex-)
Lichter nebeneinander in verschiedenen Intensitäts-
verhältnissen auf unser Auge einwirken, kommen
Farben zustande, die durchaus nicht immer den
physikalischen Gesetzen der Lichtmischung folgen ;
sondern es entstehen in den farbigen Schatten
und bei unzähligen anderen Beleuchtungsbedin-
gungen zahllose und teilweise ganz neue Farben,
die mit den rein physikalischen Gesetzen der Licht-
bewegung nicht übereinstimmen und mit ihnen
auch gar nichts zu tun haben. Solche Farben
erscheinen uns namentlich in den farbigen Kontrasten.
Mit dem Namen Kontrast bezeichnen wir be-
kanntlich die Gesetzmäßigkeit, mit welcher sich
mehrere P'arben, die man auf der F'läche des
Gesichtsfeldes gleichzeitig übersehen kann, gegen-
seitig beeinflussen.
Die moderne physiologische Optik verdankt
den wesentlichenTeil ihrer fundamentalenKenntnisse
über die Kontrastfarben den Vorarbeiten Goethes.
Diese Farben sind es im wesentlichen, die
Goethe mit soviel Eifer gegen den schulmäßigen
Standpunkt der damaligen Physik, welche diese
Farben nicht kannte und auch nicht für möglich
hielt, verteidigte. Daß Goethe dabei, weil er bei
seinen Gegnern kein Verständnis fand, die funda-
mentalen Grundgesetze des Lichtes und der Farben
ablehnte und bekämpfte, war ein Irrtum, welcher
in dem damaligen Standpunkte der Wissenschaft
seine Erklärung findet.
Vor hundert Jahren konnte, bei dem Stande
der damaligen Kenntnisse, weder Goethe den
Newton'schen Standpunkt, noch der Physiker den
Standpunkt Goethes begreifen und würdigen.
Daher der Streit Goethes mit der Physik seiner
Zeit. Beide verfolgten eigene Pfade der Forschung,
die für unsere heutige Wissenschaft fundamentale
Grundlagen geworden sind. — Aber gegenseitig
konnten sie sich damals nicht verstehen. Sie
arbeiteten (um einen trivialen Ausdruck zu ge-
brauchen), aneinander vorbei. Heute wissen wir,
daß beide Lehren, die von Goethe und die von
Newton zusammengehören und vereint uns den
602
Naturwissenschaftliche Woohenschrift.
N. F. XVI. Nr. 43
Begriff von der Harmonie der Naturfarben ver-
ständlich machen.
Unsere jetzigen Kenntnisse auf diesem Gebiete
sind begründet in der wissenschaftlichen Erfahrung
der Jahrzehnte nach Goethe.
Die Fortschritte eines ganzen Jahrhunderts
haben dazu gehört, um das eigentliche Wesen und
die Bedeutung der Goethe'schen F"arben zu erkennen
und von der Newton'schen Farbe zu trennen.
Niemand, der die Naturwissenschaft kennt, kann
heutzutage an der Richtigkeit der Newton'schen
Lehre zweifeln. Sie ist die Grundlage der größten
Entdeckungen auf dem Gebiete des Mikroskops,
der Spektralanalyse und der Astronomie geworden.
Wie verhält sich also zu ihr die Goethe'sche
Farbenlehre? Sie ist nichts weniger als der
physiologische Schlußstein zu Newton's Farbe.
Sie ist die subjektive physiologische Ergänzung
zu jeder physikalischen Farbe, die in freier Natur
auf das menschliche Auge einwirkt.
Es ist etwas anderes, wie der äußere
Reiz desLichtes und derFarben optisch
beschaffen ist (Newton), und etwas
anderes, wie das Auge auf diesen Reiz
antwortet und wie es ihn verändert
(Goethe).
B. Eigen färbe und Lokal färbe.
Wenn wir von der Farbe schlechthin sprechen,
wie sie unser Auge an den Gegenständen, die uns
in der freien Natur umgeben, wahrnimmt, so müssen
wir dabei einen objektiven und einen subjektiven
Anteil unterscheiden.
Die objektive oder physikalische Farbe (die
Farbe Newtons) ist diejenige, welche dem Gegen-
stande infolge seiner materiellen physikalischen
Beschaffenheit zukommt, wenn er von farblosem
Lichte einheitlich beleuchtet wird.
Diese objektive ,, Eigenfarbe" eines Körpers
kann also nur festgestellt werden, wenn jede zweite
Lichtquelle ausgeschlossen ist. Zuverlässige Fest-
stellungen sind demnach nur im Dunkelzimmer
möglich , wenn in dasselbe nur farbloses Licht
(Sonnenlicht) eintritt.
Sobald aber ein Gegenstand nicht allein vom
Weißen (Sonnen-), sondern auch von sogenanntem
diffusen, meist farbigen (Reflex-)Lichte der um-
gebenden Gegenstände beleuchtet wird, kommen
Mischungen von farbigen und farblosen Lichtern
zustande, welche die I'^arbe der so beleuchteten
Gegenstände gänzlich verändern können. Wir
nennen diese neue Farbe, die der Gegenstand
seiner farbigen Umgebung verdankt, die „Lokal-
farbe" desselben.
Diese Lokalfarbe hängt nicht allein von dem
physikalischen Lichte ab, welches den Gegenstand
erhellt, sondern auch von einer besonderen Tätig-
keit des Auges, welche der objektiven
Farbe eine subjektive hinzufügt.
Sie ist es, mit welcher sich Goethe auf allen
Wegen in freier Natur beschäftigte. Er nannte
sie die physiologische Farbe. Sie hat er zum
Ausgangspunkt und zum Leitmotiv seiner ganzen
P'arbenlehre gemacht. Sie bildet den wesentlichen
Inhalt derselben.
Heute nennon wir einen Teil solcher, unter
verschiedenen Bedingungen der Beleuchtung auf-
tretender, von Goethe besonders studierter Farben
Kontrastfarben und wissen, daß sie, wie Goethe
immer betont hat, vom Auge hervorgebracht
werden.
C. Verbreitung von Goethe's F'arben
in der Natur.
Überall, wo farbige Lichter in der Natur mit
gedämpften farblosen weißen Lichtern in Kon-
kurrenz treten, entstehen völlig neue Farben, die
unser Auge selbsttätig hervorbringt.
Wird eine farblose Fläche gleichzeitig von zwei
Lichtquellen, einer farbigen und einer farblosen
weißen , in einem bestimmten Verhältnis der
Helligkeit beleuchtet, so erscheint dort, wo die
farbige Beleuchtung nicht hingelangt, oder wo
Schatten des farbigen Lichtes vorhanden sind,
die weiße Beleuchtung farbig und zwar
komplementär zu ihr gefärbt.
Wer kennt nicht die subjektiven Kontrastfarben
auf Schneelandschaften bei der gelben Beleuchtung
der tief stehenden Sonne am Abend? Dann ist
namentlich bei bewölktem Himmel eine Doppel-
beleuchtung gegeben, welche zu den schönsten
subjektiven Kontrastfarben Anlaß bietet.
Wir sehen dann die von der Sonne beleuchtete
Fläche stark gelb. Die Schattenstellen aber in
Furchen, Gruben, auf Sturzäckern, hinter Hügeln,
wo die Sonnenstrahlen nicht hinlangen, erscheinen
deutlich blau.
Kurz vor oder bei Sonnenuntergang und dunsti-
gem Horizont ist die Beleuchtung der Landschaft
tötlich und dann sind die Schatten in derselben
Landschaft grün.
In beiden Fällen ist die Schneefläche doppelt
beleuchtet, erstens direkt durch die untergehende
Sonne und im ersten Falle gelb, im anderen rot,
zweitens direkt durch den Reflex der Wolken, die
farbloses, weißes Licht reflektieren und dieses der
direkten (gefärbten !) Sonnenbeleuchtung zumischen.
Wo aber die direkte Sonnenbeleuchtung nicht
hingelangen kann, d. h., dort, wo die erwähnten
Unebenheiten des Bodens das Sonnenlicht abhalten,
da werden diese Schattenstellen nur allein von
weißem Reflexlicht der Wolken erhellt und dieses
weiße Reflexlicht erscheint unserem Auge blau
(bzw. bei rötlicher Abendbeleuchtung grün).
Ebenso bekannt, aber in ihrem Ursprung viel-
leicht noch weniger beachtet, sind die Kontrast-
farben, die wir in Gebüschen und im Walde auf-
treten sehen, wenn das durch Zweige und Blätter
der Bäume auftretende Sonnenlicht mit dem grünen
Reflexlicht der Vegetation eine Doppelbeleuchtung
liefert, bei der in den Schattenstellen die schönsten
subjektiven Farben, meist in rötlichen und violetten
Tönen zur Wirkung gelangen.
Man kann sich leicht davon überzeugen, daß
N. F. XVI. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
603
an den Stellen, wo diese roten und violetten Farben
erscheinen, in Wirklichkeit gar kein farbiges Licht
vorhanden ist. Wir brauchen nur durch eine enge
Röhre, etwa durch einen zusammengerollten Papier-
bogen zu schauen, sie erscheinen dann, wenn die
Farben der Umgebung ausgeschaltet werden, ein-
fach grau.
Unter ähnlichen Bedingungen der Beleuchtung
entstehen die prachtvollen F"arben der Gebirgsseen,
die von felsigen Gebirgen (die stark reflektieren)
eingeschlossen sind, sowie die Farben der Gletscher-
landschaftcn bei tiefstehender Sonne und die Farben
der Meereswogen. (Goethe, zur Farbenl. didakt.
Teil Kap. 57).
Es entstehen in all diesen Fällen jene Ab-
schwächungen der farblosen (weißen) Tagesbeleuch-
tung, welche im Kontrast mit dem Reflexlicht der
Umgebung die Kontrastfarben hervorrufen.
Es könnten noch zahlreiche, jedermann be-
kannte, farbige Erscheinungen in der Natur ange-
führt werden, welche den Charakter der subjektiven
physiologischen Farben tragen. Doch die ange-
führten Beispiele mögen genügen. Es lag mir
daran, darzulegen, wie verbreitet sie in der Natur
sind. Wir müssen dabei die unbestreitbare Tat-
sache festhalten, daß bei all diesen Erscheinungen
weißes Licht farbig gesehen wird. Es
handelt sich dabei nicht um Zufälligkeiten oder
um gelegentliche Ausnahmen der I'^ärbung, sondern
um Naturerscheinungen, welche eine wesentliche,
unter Umständen die wesentlichste Ursache der
P'arben sind, die überhaupt in der Landschaft auf-
treten. Bei bestimmten Beleuchtungsverhältnissen
(bedingt durch Sonnenstand, Wolkenbildung und
Reflexion) ist die ganze Natur von ihnen angefüllt.
Es muß ausdrücklich hervorgehoben werden,
daß diese Farben, solange die Beleuchtungsver-
hältnisse dauern, von objektiven Farben nicht zu
unterscheiden sind. Die rein physikalischen Gesetze
Newtons haben für sie keine Gültigkeit. Es sind
alles Goethe'sche Farben. — Sie sind subjektiv,
aber sie sind für den Naturforscher wesentlich
und gehören darum als wesentlicher Bestandteil
einer jeden Naturfarbe in die Farbenlehre, wenn
sie auch mit der Physik nur indirekt zu tun haben.
Zum Zustandekommen dieser Kon-
trastfarben gehört also eine Doppel-
beleuchtung, eine farbige und eine
weiße, welche in einem bestimmtenVer-
hältnis ihrer Stärke zusammen wirken.
Man kann durch eine Menge von Experimenten
diese Herkunft der Goethe'schen subjektiven Farben
erläutern und ihre Abhängigkeit von der definierten
Doppelbeleuchtung klar beweisen. (Wer sich dafür
interessiert, vergleiche die Abhandlung des Ver-
fassers „Goethe's Farbenlehre" im 3. Bde. des Jahr-
buches der Goethe Gesellschaft 1916).
Ein sehr belehrendes Experiment läßt sich in-
deß ohne jede Vorbereitung ausführen, wenn eine
Leineneinbanddecke von Engelkorns allgem. Roman-
bibliothek (Stuttgart) zur Hand ist. Diese Einband-
decke besteht aus feuerroter Leinwand, die mit
rein schwarzer Schrift und einem ebenfalls schwarzen
Rankenornament bedruckt ist.
Die schwarzen Ornamente und die Schrift-
zeichen stehen also tief schwarz auf rotem Grunde,
sie reflektieren kein Licht, darum erscheinen sie
schwarz; aber ihre Oberfläche ist glatt und daher
zur Spiegelung geeignet.
Hält man die Einbanddecke schief gegen das
Licht, so daß die Oberfläche spiegelt, so wird
durch den Reflex der ganzen Fläche (dem Rot
des Grundes und dem Schwarz der Ornamente)
weißes Licht hinzugefügt.
Die rote Fläche der Einbanddecke reflektiert
außer dem Licht ihrer Eigenfarbe rot jetzt auch
noch von der spiegelnden Oberfläche reflektiertes
weißes Licht, welches die Eigenfarbe ins Gelbrole
steigert. — Aber auch die glänzende Obenfläche
der Ornamente spiegeln dieses weiße Licht und
dieses wird nun in dem gelbroten Felde als tief
grün empfunden. Man kann die subjektive grüne
Farbe der Ornamente selbstverständlich auch her-
vorrufen, wenn man bei jeder beliebigen Lage
und Stellung der Einbanddecke mit einem Spiegel
diffuses Licht so auf die Decke wirft, daß das
gespiegelte Licht in unser beobachtendes Auge
fällt.
Dieses Grün ist subjektiv, vom Auge hervor-
gebracht. Es ist die Farbe Goethe's. Das weiße,
von der glatten Oberfläche der Ornamente ge-
spiegelte Licht wird grün, also farbig gesehen, was.
mit der New ton' sehen Lehre nicht vereinbar ist
Das Experiment beruht auf einem technischen
Zufall in der Wahl der Materialien. Es ist aber
darum nicht minder beweiskräftig. Goethe,
der solche Farben überall in der Natur beobach-
tete, F"arben, von denen die Physiker seiner Zeit
nichts wissen wollten, glaubte damit einen un-
widerleglichen Beweis für die Unrichtigkeit der
Newton 'sehen Lehre gefunden zu haben.
Das war vor hundert Jahren auch ein berech-
tigter Standpunkt. Gegenwärtig aber kann man
die daraus abgeleiteten Argumente nicht mehr
gegen Newton's Lehre ins F"eld führen.
Aber die Tatsache selbst, daß weißes Licht
unter bestimmten Beleuchtungsverhähnissen farbig
gesehen wird, ist unstreitig auch von großer
Wichtigkeit für die Physik.
Das physikalische Weiß ist zusammengesetzt,
es enthält alle farbigen Lichtstrahlen. Das sub-
jektive Weiß, das Weiß unserer Empfindung ist
aber, wie Goethe immer behauptet hat, eine
einheitliche, unteilbare, also nicht zusammengesetzte
Empfindung.') — Aber trotzdem wird es, wie
oben gezeigt wurde, in der Natur vielfach farbig
empfunden.
Goethe hat die dadurch entstehenden Farben
überall beobachtet. Sie haben ihn überall gefesselt!
Jede Stelle im Freien, im Weimarer Park, wie im
Garten, wo er sie beobachtete, zog ihn an! Selbst
') Zu diesem Schluß kommt auch O. Wiener: Vortrag
gehalten auf der Naturforscherversammlung zu Cöln a. Rhein
6o4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 43
im Waftenlärm der Campagne in Frankreich ')
konnte ihn ein Wassertümpel mit seinen Farben
vollständig vom Kriegsgetümmel abziehen. Solche
Farbenstudien nach Goethes Vorbild sind auch
im gegenwärtigen Kriege vielfach im Schützen-
graben in Ost und West von Physikern und Phy-
siologen mit viel Erfolg angestellt worden. Davon
legen mehrere an mich gelangte Zuschriften ein
erfreuliches Zeugnis ab.
Die Farbe geht in der Natur weiter, als die
theoretische Physik sie begrenzt.
Die letztere lehrt auf Grund vollkommen
exakter Versuche in (fbereinstimmung mit mathe-
matischen Berechnungen, daß einer Licht-
bewegung von bestimmter Wellenlänge
eine bestimmte Farbe entspreche.
Diese an sich vollkommen richtige Lehre, die
im Dunkelzimmer gewonnen war, wurde unmittel-
bar auf jedes F"arkensehen in der Natur über-
tragen. Es wurde angenommen, daß der Lehrsatz
auch umgekehrt Geltung habe, d. h. daß über-
all da, wo eine bestimmte Farbe auf-
trete, dazu auch das Licht bestimmter
Wellenlängen gehöre.
Das ist ein Irrtum, der noch gegenwärtig (auch
bei Vertretern der Physik!) vorhanden ist, der
aber vor hundert Jahren allgemein war.
Goethe hat diesen Irrtum seinerzeit erkannt
und diese Erkenntnis wurde die Ursache der be-
klagenswerten Polemik gegen die Physiker, die
Nachfolger Newton's. Diese hielten Goethe's
Farben für Phantasmen, für krankhafte Erschei-
nungen, für „optische Täuschungen" usw. — Auf
Naturbeobachtungen ließen sie sich nicht ein. Und
Goethe, der seinerzeit die mathematische Beweis-
führung seiner Gegner nicht verstand, wollte von
dem „Gespenst in der Dunkelkammer" nichts
D. Ihre Stellung zur Physik.
Die Ursache der ganzen Polemik war also im
Grunde genommen ein Mißverständnis auf beiden
Seiten.
Auf der einen (Goethe's) Seite, die Erkennt-
nis des gesetzmäßigen Ursprunges einer großen
IVIenge von Naturfarben, die den physikalischen
Gesetzen über Lichtbewegung nicht unterworfen
waren, die aber von Goethe mit Hart-
näckigkeit der Physik zugeordnet wur-
den, und auf der anderen Seite die rein physi-
kalische Definition von Lichtqualitäten, welche für
alle Farben ohne Ausnahme, also auch für alle
Naturfarben, gültig sein sollte.
Gegenwärtig wissen wir, daß diese physikali-
schen Definitionen für Naturfarben nur bedingte
Gültigkeit haben Sie sind demnach auch nicht
das einzig Bestimmende für Farbenstudien und
Farbenlehre, sondern es kommt noch ein zweites,
unter Umständen noch mehr Bestimmendes hinzu,
d. h. die subjektive physiologische Re-
') Vergl.: Aufzeichnnng vom 30. .Angust.
aktion auf jeden physikalischen Farben-
reiz, d. h. die Farbe Goethe's.
Im Grunde genommen läßt sich die reine phy-
sikalische Optik gar nicht auf Naturfarben an-
wenden, auch nicht unbedingt auf Pigmente 1
Ebenso wenig aber läßt sich die Goethe-
sche physiologische Farbe auf die reine physika-
lische Optik übertragen.
Goethes Farbendefinition gehört also nicht in
die Physik, sondern in die Naturwissenschaft und
zwar in die der Farbenlehre schlechthin.
Das Mißverständnis, welches ich in Vorstehen-
dem, angeregt durch den erwähnten Aufsatz von
Sommerfeld, welcher in dieser Frage auf rein
physikalischem Boden steht, zu erklären versuchte,
ist ein Jahrhundert alt.
Es ist die Hauptursache gewesen, daß Goethe's
Lehre in naturwissenschaftlichen Kreisen zuerst
ganz abgelehnt und auch später nicht so aner-
kannt wurde, als sie verdient.
Goethe selbst hat aber dieses Mißverständnis
bereits geahnt. Es ist ebenso interessant als für
unsere Frage wichtig, was er im Rückblick auf
sein Lebenswerk in den „Nachträgen zur Farben-
lehre" 1820 im Kapitel 16 mit der Überschrift
„Wohl zu erwägen" ahnungsvoll darüber schreibt.
Goethe kommt dort zu der Überzeugung, daß der
Widerwille gegen seine P'arbenlehre daher komme,
daß er seine ersten kleinen Hefte „Beiträge zur
Optik" genannt habe, und daß die Sache ein ganz
anderes Ansehen gewonnen hätte, wenn er „Bei-
träge zur Farbenlehre" angekündigt und in die
allgemeine Naturwissenschaft gespielt hätte.
Die Goethe'sche physiologische Farbe wird
auch gegenwärtig noch vielfach unterschätzt.
Selbst in Arbeiten namhafter Physiker begegnet
man noch der Auffassung, als ob es sich nur um
innere Farben des Auges, um sogenannte Phosphene,
wie sie auch bei Druck, Stoß usw. auf das Auge
bemerkt werden, oder um die Wirkung von Nach-
bildern handle. Selbst die Kontrastfarben werden
noch für Zufälligkeiten gehalten.
Demgegenüber kann nicht genug betont werden,
daß die Goethe'schen Farben überall in der Natur
vorhanden sind und alle Farbeneindrücke, die wir
überhaupt im Freien haben können, mehr oder
weniger stark beeinflussen.
Das Wichtigste dabei ist aber, daß P^arben
entstehen, die physikalisch nicht erklärbar sind,
indem, wie mehrfach erwähnt, weißes Licht farbig
gesehen wird.
Die Bedingungen der Beleuchtung, unter
welchen das geschieht, sind aber physikalisch
genau zu bestimmen. Es kann das Verhält-
nis der Doppelbeleuchtung, d. h. der
Anteil des farbigen und des weißen
Lichtes, welcher zumAuftreten dersub-
jektiven Farben die Veranlassung bietet,
genau gemessen werden. Insofern ist die
P^klärung dieser subjektiven Farben auch Auf-
gabe der Physik.
Man hat die Goethe'sche Farbenlehre vielfach
N. F. XVI. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
605
als Phänomenologie aufgefaßt, nach Goethes Be-
zeichnung einzelner Erscheinungen, der Urphäno-
mene und nach dem Vorbilde Mach's, aber man
darf darunter nicht, wie es leider meistens ge-
schieht, Zufälligkeiten und Ausnahmen in der
Naturfärbung verstehen wollen, sondern man muß
dabei festhalten, daß es sich um gesetzmäßig
auftretende Farben handelt, welche
unter bestimmten physikalischen Be-
dingungen regelmäßig entstehen und
von objektiven Farben gar nicht zu
unterscheiden sind.
Also nicht die Polemik mit Newton und die
mißverständliche Auffassung von dessen Physik
der objektiven PVbe bildet den eigentlichen
Inhalt von Goethes Farbenlehre, sondern die sub-
jektive Farbe ist es, welche die ganze Farbenlehre
trägt. „Sie ist des Pudels Kern."
Diese F"arbe ist von enormer Wichtigkeit für
unser Farbensehen überhaupt, da das Auge ihr in
der Natur überall und immer begegnet. Sie ist
auch die Ursache des farbigen Kontrastes und durch
ihn der Regulator aller farbigen Gegensätze, die sich
dem Auge im Gesichtsfelde gleichzeitig darbieten.
Wir schließen mit der Behauptung, daß Goethe's
P^arbenlehre, befreit von den physikalischen Irr-
tümern, für die Beurteilung der Natur- und Pig-
mentfarben, für Gewerbe, für Kunst und Industrie
ungleich viel wichtiger ist, als die Lehre der reinen
physikalischen Optik und jedermann, der in der
Natur den Spuren Goethe's nachgeht, wird uns
beipflichten.
Einzelberichte.
Vererbungslehre. Die Erblichkeit im Mannes-
stamme. V. Haecker') untersucht die inter-
essante Frage, ob das besonders enge Verhältnis
zwischen Vater und Sohn, namentlich dem erst-
geborenen (im Gegensatz zu dem Verhältnis Vater-
Tochter), wie es sich in der Namensübertragung,
der Primogeniturordnung und anderen patriarcha-
lischen und vaterrechtlichen Einrichtungen aus-
drückt, naturwissenschaftlich zu rechtfertigen ist.
Die P>age hat insofern ein erhöhtes Interesse, als
in diesem Kriege viele Familien den Veriust von
Söhnen, ja von sämtlichen Söhnen zu beklagen
haben und nicht wenige im Mannesstamme vor
dem Eriöschen stehen oder bereits erloschen sind.
Die Grundlage muß die moderne Vererbungslehre
geben, deren Anwendungsfähigkeit auf den Menschen
der Verf. zunächst einer kurzen vorläufigen Erörte-
rung unterzieht. Die prinzipielle Gültigkeit der
Mendel' sehen Regel ist unbestreitbar, wenn auch
besonders schwierige Umstände es bewirken, daß
die Erhebungen beim Menschen nicht so eindeutig
und klar sind, wie bei vielen anderen einfacheren
tierischen oder gar pflanzlichen Vererbungsver-
suchen. Bei dem komplexverursachten Charakter
der meisten menschlichen Merkmale, treten allerlei
Unregelmäßigkeiten im Vererbungsveriauf auf, die
sich entweder nur durch Zusatzhypothesen in das
Mendel' sehe Schema einfügen lassen, oder aber
durch eine vom Verf seinerzeit vorgeschlagene
Modifikation der Mendel' sehen Regel, der soge-
nannten „entwicklungsgeschichtlichen Vererbungs-
regel" erklärt werden müssen. Da bei dieser
Sachlage immerhin eine gewisse Unsicherheit be-
steht, schlägt der Verf einen anderen vorläufigen
Weg ein, um den Einfluß einer etwa vorhandenen
Präponderanz des männlichen Keimgutes bei der
sexuellen Verkoppelung der Anlagen festzustellen.
') Die Erblichkeit im Manncsstamm und der vaterrecht-
liche Familienbegriff. Jena 1917. G. Fischer. I M. In bezug
auf Einzelheiten sei ausdrücklich auf den inhaltsreichen und
fesselnden Aufsatz aufmerksam gemacht.
Er sucht in den Generationen einzelner Familien
den Einfluß der Frauen auf die Umwandlung der
geistigen und körperiichen Eigenschaften der männ-
lichen Nachkommen zu ermitteln. Dazu eignen
sich Fürstenfamilien wegen ihrer langen, durch
mancherlei Dokumente, namentlich Bildnisse wohl
belegten Tradition besonders gut, noch besser,
wenn auch einen weniger langen Zeitraum um-
fassend, würde sich aber auch eine möglichst ein-
gehende, wissenschaftlich genaue Untersuchung
bürgerlicher F"amilien eignen, besonders von Ärzten
und Naturforschern, die die unerlässige Kritik und
geschulte Beobachtungsgabe mitbringen.
In fürstlichen Familien gibt es nun in der Tat
zahlreiche deutliche Hinweise darauf, daß auch
die Frauen einen starken, den P'amilientypus
verändernden und zeitweilig bestimmenden Ein-
fluß ausüben. Die hier wiedergegebenen, dem
Buche Haecker's entnommenen Bilder der
Sophie von Brandenburg, der Gemahhn Christians I.
von Dänemark, und ihres Sohnes Christians IL,
lassen z. B. eine ganz ausgeprägte Ähnlichkeit er-
kennen. Dadurch ändert sich, wie man oft sehr
gut verfolgen kann, der F'amilientypus periodisch,
undzwaretwaalle 2-4 Generationen. Eine Ausnahme
scheint nur z. B. die Familie Habsburg zu machen,
deren starke Unterlippe verbunden mit starker
Entwicklung des Kinns sich durch 5 Jahrhunderte
verfolgen läßt. Wie geht das zu ' Die Erklärung
liegt darin, daß gerade in dieser Familie Verbin-
gungen mit verwandten oder seit längerer oder
kürzerer Zeit verschwägerten Familien besonders
häufig waren, so daß die Frauen immer wieder die
nämlichen Anlagen in den Mannesstamm einführten.
In ähnlicher Weise soll sich auch in der Familie
der Weifen, in der ebenfalls Verwandtenehen häufig
waren, die militärische Begabung traditionell er-
halten haben. Friedrich der Große soll sogar sein
Feldherrngenie seiner Mutter, Sophie Dorothee
von Hannover, verdanken. Die Schopenhauer-
sche Ansicht, daß der Intellekt von der Mutter,
Wille und Charakter dagegen vom Vater über-
6o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 43
liefert werden, wird durch Tatsachen nicht gestützt.
Oft genug ist das Gegenteil der Fall, wie z. B.
bei der Vererbung des mathematischen Genies,
das besonders häufig vom Vater auf den Sohn
übergeht. Weshalb die Übertragung auf die Tochter
selten ist, liegt daran, daß die mathematische Be-
gabung nach der Art männlicher sekundärer
Geschlechtscharaktere nur im männlichenGeschlecht
entfaltet wird, im weiblichen dagegen latent bleibt.
Die auffällige Weiterführung der musikalischen
Begabung in manchen Familien und zwar in
direkter männlicher Linie kann auf zunftmäßiger
Inzucht, Gattenwahl auf Grund gemeinsamer
musikalischer Neigungen, bei der h^amilie Bach
vielleicht noch dazu auf der weiten Verbreitung
der musikalischen Begabung im sächsischthürin-
gischen Volksstamm beruhen, die bei schon vor-
tische Abschwächung vielleicht auch mit der Zeit
zu einer Reduktion und einem schließlichen Schwund
der Anlage selber führen könne.
Als allgemeines Ergebnis läßt sich feststellen,
daß kein Merkmal im direkten Mannesstamme mit
größerer Sicherheit und Zähigkeit fortschreitet als
in irgendeiner anderen Linie eines menschlichen
Stammbaums. Selbst ausgeprägt männliche Eigen-
schaften werden ebenso gut in weiblichen Zweig-
linien wie im direkten Mannesstamm fortgeerbt.
Daraus folgt, daß der bei uns auf Grund des Vater-
rechts übliche Famiiienbegriff, nach welchem nur
die den Namen des Vaters fülirenden Personen
zur Familie im eigentlichen Smne gerechnet werden,
biologisch nicht zu rechtfertigen ist. Wenn also
jemand heule Müller heißt wie seine männlichen
Vorfahren väterlicherseits, so ist das eine reine
II. von Dänemark.
handener starker Tradition natürlich leicht zur
beruflichen Betätigung führt. Daß auch patholo-
gische Anlagen, wie geistige Störungen ebensogut
vom Vater weitergegeben wie von der Mutter in
die Familie neu hineingetragen werden können,
ist vielfältig belegt. Eine scheinbare Ausnahme
von dem Satze von der gleichen Vererbungskraft
des väterlichen und des mütterlichen Keimplasmas
machen die Bluterkrankheit und die Rot-Grün-
Farbenblindheit, die im ganzen an das männliche
Geschlecht gebunden sind. Die Anlagen zu diesen
pathologischen Abweichungen können aber sowohl
von der Mutter wie von dem Vater Übermacht
werden, ihre Entfaltung zu dem sichtbaren Merk-
mal ist aber wieder geschlechtsbegrenzt, indem
sie nur im männlichen Körper erfolgt. Auch sei
noch einmal an den Prognatismus inferior der Habs-
burger erinnert, der ebenfalls in reiner Ausprägung
vorwiegend nur den männlichen Gliedern zukommt,
bei den Frauen dagegen gemildert ist. Verf. legt
die Möglichkeit nahe, daß diese individuelle soma-
juristische Konvention, naturwissenschaftlich ist er
mit dem Namen Müller nicht enger verknüpft als
mit irgendeinem der von seinem weiblichen Vor-
fahren getragenen. Aus der gleichen Vererbungs-
potenz beider Geschlechter folgt aber nicht die
völlige Gleichwertigkeit der Geschlechter selber,
wie vielleicht P'rauenrechtlerinnen geneigt wären
anzunehmen. Zwischen Anlage und ihrem Sicht-
barwerden im dazugehörigen Merkmal besteht
ein Unterschied, es gibt zweifellos manche Anlagen,
die nur im männlichen Substrat zur vollen Ent-
faltung kommen.
Stirbt also in einer Familie der letzte Träger
des Namens, so stirbt genealogisch zwar die
P'amilie im Mannesstamme aus, biologisch aber
nicht, falls Töchter vorhanden sind, die gleich
erbkräftig wie die Söhne ihre vom letzten Träger
des Namens überkommenen Anlagen an etwa vor-
handene Enkel und Enkelinnen weitergeben. Die
Vorstellung von der gleichen Vererbungskraft
beider Geschlechter, wie sie sich aus allen unseren
N. F. XVI. Nr. 4:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
607
modernen Vorstellungen und Tatsachen über Ver-
erbung als sehr wahrscheinlich, ja fast als selbst-
verständlich ergibt, ist von dem übermächtigen
Vaterrecht im mstinktiven Bewußtsein nie völlig
unterdrückt worden. So gab es schon im alten
Indien die Bestimmung, daß die Tochter die
Familie ihres Vaters dann fortsetzen soll, wenn
keine Söhne vorhanden sind, und um ein anderes
Beispiel zu nennen, wurde bekanntlich durch die
]:>ragmatische Sanktion Karls VI. von 1724 fest-
gelegt, daß die Erbfolge bei dem Mangel männ-
licher Erben auf die weiblichen übergehen sollte.
.So kam Maria Theresia auf den Thron. Der Verf
schließt mit folgenden zeitgemäßen Worten in
Hinblick auf die Verluste, die manche F"amilie mit
alten Traditionen in diesem Kriege erlitten hat:
„Ein kleiner Trost, aber doch immerhin ein Trost
und ein Halt mag es manchen sein, daß die
körperlichen und geistigen Tugenden, auf welche
die Familie stolz ist und durch welche ihre Glieder
nach innen und außen verbunden erscheinen, nicht
jäh aufhören, sondern auch in den Kindern der
Töchter weiterleben und nach uralten, schon von
den Weisen des altes Testaments geahnten Regeln
fortwirken können, bis ins dritte und vierte Glied."
Miehe.
Geologie. Die Goldlagerstätten Arabiens.
Arabien gehört noch zu den unbekannten Ge-
bieten der Erde, trotzdem es an einer Haupt-
handelsstraße der Welt liegt. Große Flächen
Arabiens sind Wüste, die schwer zu durchqueren
ist und in denen der Reisende den Überfällen
kriegerischer Beduinen nur durch Aufwand hoher
Lösegelder entgehen kann. Vielleicht bringt der
Krieg auch hier einen Umschwung, denn er hat
bewiesen, daß wir im Automobil und dem Flug-
zeug Verkehrsmittel besitzen, die auch in der
Wüste selbst da zu gebrauchen sind, wo die seit
altersher das einzige Verkehrsmittel darstellenden
Kameelkarawane versagt.
Arabien gilt zwar heute als ein armes Land,
was die Mineralproduktion anbelangt; aber das
ist nicht immer so gewesen. Wir besitzen aus
alten Schriften Nachrichten über einen lebhaften
Bergbau und namentlich die Gewinnung des
Goldes wird häufig erwähnt; bei neuen F"or-
schungsreisen wird man sich gewiß auch mit der
Untersuchung von Erzlagerstätten und besonders
den Goldvorkommen, die in einem kulturlosen Land
am ehesten auszubeuten sind, beschäftigen.
Die Golddistrikte, von denen wir sichere
Kunde besitzen, finden sich nach Moritz^) nur
im westlichen Teil des Landes, in dem großen
Randgebirge, das die Scheidewand zwischen der
schmalen Küstenebene und dem innerarabischen
Tafelland bildet. Geologisch besteht dieses aus
Granit, das von Porphyrstöcken durchbrochen und
von Sandstein und ganz jungen Lavamassen, die
') Der Bergbau Arabien
s. 36—39.
Orient, Heft
in ihrer großen Ausdehnung eine Eigentümlichkeit
Arabiens bilden, bedeckt wird. In der Mitte des
Landes scheint sich der Granit weiter nach Osten
zu erstrecken und teilweise auch den Boden des
Hochlandes zu bilden. Ihr südliches Ende erreicht
die Graniiformation im Norden von Jemen, etwa
bei 15" n. Br. Der Südwesten Arabiens gehört
anderen Bildungen an.
Die Landschaften, in denen in dem genannten
Gebiet über Goldvorkommen berichtet wird, sind
im Nordwesten das alte Land Midian, daran an-
schließend nach Süden der Hedschas, östlich hier-
von das Land Nedjd, weiter südöstlich der Jemen
und schließlich im Süden das Land Asir.
Die Lagerstätten des alten Landes Midian
bringt man mit den Nachrichten der Bibel in
Zusammenhang und glaubt, daß sich die Stelle
des Buches Hiob (Kap. 28, i — 11) auf sie be-
ziehen könnte; vielleicht ließen sich die Verse 5
und 1 1 als erste Kunde eines Seifenbergbaues
deuten „Man findet Saphir an etlichen Orten und
Erdenklöße, da Gold ist" und „Man wehret dem
Strom und bringet , das verborgen darin ist, an
das Licht". Das eigentliche Goldland der Phö-
nizier und Hebräer soll allerdings nicht Midian,
sondern das Land Asir gewesen sein ; hierhin ver-
legt Moritz das im Buch der Könige genannte
Ophir, während andere F"orscher wie Dr. Peters
es in Portugiesisch-Samesia und dem Matabeleland
gesucht haben, wo die Ruinenstadt Simbabewe
dem einstigen Bergbau ihre Entstehung verdanken
soll. Hier im Süden findet sich auch nach ara-
bischen Quellen die reichste Goldlagcrstätte, wo
es nach den Worten des Propheten Gold regnete;
sie hieß „madin Suad" (madin bedeutet „Berg-
werk" wie Almaden an die arabische Herrschaft
in Spanien erinnert) und lag am Ostabhange des
Randgebirges, 180 km nördlich von Nedjran im
oberen Akik.
In neuerer Zeit ist nur das Land Midian ein
einziges Mal auf Erzlagerstätten untersucht wor-
den ; es geschah auf Veratilassung des stets geld-
bedürftigen Khedive von Ägypten in den Jahren
1877/78. Man fand Reste alten Bergbaues und
auch Halden aus Quarz, der sich als goldhaltig
erwies, ein Zeichen, daß in früherer Zeit nicht
nur eine Gewinnung des Goldes aus Seifen, son-
dern auch auf primärer Lagerstätte stattgefunden
hat. Von weiteren Erfolgen der Expedition, die
die Untersuchungen ausführte, hat man nichts
gehört.
Nach allen arabischen Quellen muß man an-
nehmen, daß der Bergbau nirgends von langer
Dauer gewesen und bereits im frühen Mittelalter
erloschen ist. Moritz sucht die Gründe hierfür
in Verschiebungen der Bevölkerung, die mit der
Ausbreitung der Türkenherrschaft in Kleinasien
zusammenhängen sollen, wohin die bergmännische
Bevölkerung Arabiens den Fahnen des Propheten
gefolgt sei.
Es gibt aber noch andere Umstände, die für
das Erliegen des Goldbergbaus herangezogen wer-
6o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 43
den können und die nicht von außen herange-
kommen, sondern in der Natur der arabischen
Goldlagerstätten selbst gelegen haben mögen.
Wir finden nämlich nicht nur hier, sondern in
der ganzen Weh, daß dem alten Goldbergbau
meistens nur ein kurzes, wenn auch glanzvolles
Dasein beschieden gewesen ist, während der Berg-
bau auf andere Metalle oft von vorgeschichtlicher
Zeit an bis heutigen Tages sich eines ununter-
brochenen Betriebes auf der gleichen Lagerstätte
erfreut. Beim Seifenbergbau ist dies ja leicht er-
klärlich, denn Goldseifen gehen nicht in die Tiefe,
sotidern haben nur eine beschränkte Ausdehnung
in horizontaler Erstreckung. Aber auch dort, wo
der Bergbau auf Gängen umging, die in große
Tiefe niedersetzen, finden wir nach kurzer Blüte-
zeit meistens einen schnellen Verfall. Die neue
Lagerstättenforschung hat hierfür eine ausreichende
Erklärung erbracht. Durch vergleichende Unter-
suchungen an einer großen Zahl von Lagerstätten,
die in neuerer Zeit betrieben wurden und daher
der Forschung zugänglich waren, hat sich gezeigt,
daß das Gold auf seinen primären Lagerstätten
weder gleichmäßig noch willkürlich verteilt ist.
sondern daß es hierin einem ganz bestimmten
Gesetz folgt. Am Ausgehenden der Lagerstätte
wird der Edelmetallgehalt ausgelaugt, sinkt nieder
bis zum Grundwasserspiegel, wo die reichen Lö-
sungen auf unzersetzte Erze stoßen, die aus ihnen
den Goldgehalt wieder ausfällen. Hier reichert
sich daher der Goldgehalt an; es entsteht eine
„Zementationszone", deren Goldgehalt um vieles
reicher ist, wie der übrige Teil der Lagerstätte
und auf diese allein war der alte Bergbau ge-
richtet, während der GoldgehaU der unzersetzten
Erze in früher Zeit nur selten lohnend gewesen
sein mag und es in vielen Fällen selbst bei den
heutigen Mitteln der Technik noch nicht ist.
Übergroße Hofi^nungen darf man daher auf die
Wiederaufnahme eines alten Goldbergbaues wie
den Arabiens nicht setzen , solange nicht gründ-
liche Untersuchungen über das Verhalten der
Lagerstätten unter der wahrscheinlich in früherer Zeit
allein abgebauten Zementationszone vorliegen, so
fabelhaft auch die Schätze gewesen sein mögen,
von denen arabische Schriftsteller erzählen.
(G.C) Zöller.
Anregungen und Antworten.
Herrn Dr. Luger. Das beste Mittel zur Bekämpfung des
Hausschwammes ist, dem wachsenden Pilze die Wasserzufuhr
abzuschneiden. Unter dem Namen ,, Hausschwamm*' werden
eine ganze Reihe holzzerstörender Pilze zusammengefaßt;
Merulius lacrymans, der echte Hausschwamm, Cnniophora
cerebella, der Kellerschwamm, Polyporus vaporarius, der Poren-
hausschwamm, Lenzites Blälterschwammfäule und andere (sel-
tener vorkommende) mehr. Diese Pilze sind in bezug auf ihren
Wasserbedarf und ihre Lebenszähigkeit verschieden zu bemessen.
Während Coniophora c. die Wasserentziehung nur kurze
Zeit aushallen kann, vermag Merulius 1. längere Zeit sich in
lufttrockeem Holze lebend zu erhalten. Die Pilze der Lenzites-
gruppe sind sogar imstande, eine jahrelang anhaltende Aus-
trocbnung auszuhalten, um wieder ihr Wachstum von neuem
fortzusetzen, wenn ihnen wieder Feuchtigkeit geboten wird.
Eine große Anzahl Mittel sind empfohlen worden, um die
Pilze selbst abzutöten und zur Vorbeugung und zur Verhütung
von Pilzverfall zu dienen. Es findet sich in: Metz, Der
Hausschwamm, Dresden 1908. Verlag: R. Linke. S. 238 ff.
eine Zusammenstellung dieser Substanzen mit Angabe ihrer
Wirkungsweise.
In Heft 4 der „Hausschwammforschungen", im amtlichen
Auftrage herausgegeben von Prof. Dr. A. Möller, Jena 191 1.
Verlag: G. Fischer, sind die bisher bekannten Mittel zur Ver-
hütung von Pilzschäden an Bauhölzern in ausführlicher Be-
sprechung behandelt.
In Heft 7 ebenda werden als Schutzanstriche empfohlen:
Lösungen von Dinitrophenol-natrium und -kalium, sowie von
Dinitrokresol-natrium und -kalium. Dort, wo ihre Färbung
und Giftigkeit diese Substanzen ausschließt, ist eine 5 — 100/0
Lösung von Kieselfluormagnesium zu verwenden. Duysen.
Eine Beobachtung über Variieren der Tonhö
ulatus dürfte vielleicht einiges Interesse biegte
bei Culex
Es zeigte
sich, das Tiere, deren Hinterleib durch bedeutende Eiermengen
aufgetrieben war, einen tieferen Ton von sich geben , als
solche mit nicht gefülltem Uterus. In gleicher Weise den
Ton erniedrigend wirkte das Vollsaugen mit Blut, beide Ur-
sachen aber selbständig nebeneinander, wie sich leicht an aus-
gehungerten Exemplaren feststellen ließ. Diese Erscheinung
würde die Respirationstheorie Landois's entschieden bekräftigen,
denn ein abnormal gestalteter Hinterleib vermag doch nur dann
eine Änderung der Tonhöhe hervorzurufen, wenn der Ton-
erreger mit ihm in direktem Zusammenhang steht. Aus dem
trägeren Flug der dickleibigen Exemplare auf geringere An-
zahl von Flügelschwingen zu schließen und daraus den tieferen
Ton zu erklären, scheint mir verfehlt, da doch die größere
Körpermasse mindestens der gleichen Arbeit zur Fortbewegung
bedarf wie vordem; auch daß sie freiwillig langsamer fliegen
sollten, läßt sich als unbegründet nicht annehmen. Ferner
kann die Ansicht, der Körper wirke nur als Resonanzboden
unmöglich das Richtige treften, da ein Resonanzboden niemals
die Tonhöhe des Schallerregers zu beeinflussen vermag.
Fetscher, stud. med., Lt d. R.
Notiz.
In dem Artikel „Kristallstruktur und Röntgenstrahlen"
von Dr. K. Schutt (Naturw. Wochenschr. 1917 Nr. 38) sind
die Abbildungen 5 — 13 zwei Aufsätzen von Herrn Geheimrat
Rinne entnommen, die in der Zeitschrift ,,Die Naturwissen-
schaften" (Verlag J. Springer Berlin) Bd. IV (1916) S. 211 u.
233 und Bd. V (X917) S. 49 veröffentlicht sind. Leider ist
durch ein Versehen ein Hinweis auf den ersten der angeführten
Artikel unterblieben. K. Seh.
Inhalt: E. Raehlma
Erblichkeit im Ma
Antworten ; Mitie
— Notiz. S. 608.
Goethes Farbenlehre und die Naturwissenschaft. S. 601. — Einzelberichte: V. Haccker, Die
itamme. (2 Abb) S. 605. Moritz, Die Goldlagerstätten Arabiens. S. 607. — Anregungen und
Bekämpfung des Hausschwammes. S. 608. Variieren der Tonhöhe bei Culex annulatus. S. 60S.
Manuskript!
und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraöe 42,
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
d.r''ganze'L°'Reiht f^^^sLä. \ SoHiitag, den 4. November 1917. j Nummer 44.
Sulfit- und Karbidsprit.
Neue Verfahren zur Erzeugung von Alkohol
[Nachdruck verboten.] Von Hanns Günther.
Bei der industriellen Erzeugung des Äthylalko
hols oder Spiritus, der im wirtschaftlichen Leben
unserer Zeit eine höchst bedeutsame Rolle spielt,
ging man bis vor kurzem überall von stärke- oder
zuckerhaltigen Rohstoffen aus, unter denen die
Kartoffel an erster Stelle steht. Zur Erzeugung
von 120 1 Alkohol sind lOOO kg Kartoffeln nötig.
Die Deckung der 450 Millionen Liter betragenden
Jahresproduktion der deutschen Spiritusindustrie er-
fordert also ganz gewaltige Kartoffelmengen, während
andererseits unsere Ernährungsverhältnisse geradezu
nach Ausnutzung jedes Kilos Kartoffeln für die
menschliche Ernährung schreien. Ähnliches gilt
für die übrigen Rohstoffe der Spiritusindustrie
(Zuckerrübe, Melasse und minderwertiges Getreide),
die, soweit sie nicht unmittelbar der menschlichen
Ernährung dienen können, heute als Viehfutter
bessere Dienste leisten. Den Spiritus aber kann
man auch nicht entbehren, denn einmal ist er bei
der heute herrschenden Benzin- und Benzolknapp-
heit eines der wichtigsten Treibmittel für Kraft-
wagen-, Rad- und Bootsmotoren, weiter ersetzt er
vielerorts das fehlende Leuchtöl (Spiritusglühlicht)
und Heizgas (Spirituslampen), und drittens brauchen
ihn viele Zweige der chemischen Industrie, um nur
die wichtigsten Verwendungsgebiete zu nennen.
Diese Sachlage ließ es von höchster Wichtigkeit
erscheinen, neue Verfahren zur Erzeugung von
Alkohol auszuarbeiten, die nicht auf als Nahrungs-
und Futtermittel verwendbaren Rohstoffen fußen.
Solche Versuche sind in den letzten 15 Jahren
mehrfach unternommen worden, hauptsächlich
mit Holzabfällen als Ausgangsmaterial. Die Kriegs-
zeit mit ihrem heilsamen Zwang der unbedingten
Notwendigkeit hat uns eine noch wesentlich wert-
vollere Lösung des Problems gebracht, indem sie
uns ein äußerst elegantes, vom Kalziumkarbid aus-
gehendes Verfahren zur Alkoholerzeugung auf rein
chemischem Wege schenkte; außerdem hat sie
einem seit 1909 in Schweden ausgeübten Ver-
fahren zur Erzeugung von Sprit aus Sulfitlauge
Eingang in Deutschland verschafft, der ihm bisher
durch steuergesetzliche Bestimmungen verschlossen
war.
Die Sulfitspritfabrikation beruht auf dem gleichen
Prinzip wie die bisher gebräuchlichen Verfahren
zur technischen Darstellung' von Alkohol: Auf der
Vergärung zuckerhaltiger Stoffe mit nachfolgender
Destillation. Ein Unterschied besteht nur darin,
daß man als Ausgangsmaterial ein auf andere Weise
nicht verwertbares Abfallprodukt benutzt, die
bei der Papierfabrikation nach dem Sulfitverfahren
übrigbleibende Sulfiilauge, die von den meisten
Fabriken als wertlos in Flüsse und Seen ausge-
schüttet wird und hier schwere Verunreinigungen
bewirkt. Das neue Verfahren schlägt also zwei
F'liegen mit einer Klappe: Es liefert uns einerseits
den unentbehrlichen Sprit und macht andererseits
aus einem überall als Plage empfundenen Abfall-
produkt ein wertvolles Rohmaterial. Wie das ge-
schieht, soll eine kurze Erläuterung der technischen
Grundlagen zeigen.
Bei der Papierfabrikatioa nach dem Sulfitver-
fahren wird zerkleinertes Fichtenholz in einer
Lösung von saurem schwefligsaurem Kalk (Kal-
ziumsulfit) gekocht. Durch diesen Kochprozeß zer-
setzt sich das Holz und zwar in der Art, daß die
Zellstoffasern frei werden, während sich die übrigen
Bestandteile der Holzmasse in der Sulfitlauge lösen.
Die Papierindustrie benötigt lediglich den Zellstoff,
der, nachdem er von der Kochlauge geschieden
und gereinigt worden ist, auf Papier weiter ver-
arbeitet wird. Die Lauge hat für die Papier-
industrie keinen Wert ; sie bildet, wie schon gesagt,
ein höchst lästiges Abfallprodukt, um dessen tech-
nische Verwertung sich die beteiligten Kreise
schon seit Jahrzehnten bemühen. Der Gedanke,
die Sulfitlauge zur Gewinnung von Alkohol
zu benutzen, geht bis auf das Jahr 1878 zurück,
wo Mitscherlich, der Schöpfer der modernen
Papierfabrikation, ihn zum erstenmal aussprach,
und hat in der Folgezeit viele Forscher beschäftigt.
Begründet ist die Möglichkeit, aus der Sulfitlauge
Alkohol zu gewinnen, darin, daß die organi-
schen Bestandteile, die die Lauge beim Kochen aus
der Holzmasse löst (sie betragen etwa 100 kg pro
Kubikmeter Lauge), 0,5 — 2 "/o gewisser Zuckerarten
enthalten, die, zur Alkoholgärung gebracht, 1 — 1,5%
Alkohol liefern. Zwei schwedische Chemiker, die
Ingenieure Ekström und Valiin , waren die
ersten, denen es gelang, das Problem der Erzeugung
von Sulfiisprit in industriell verwertbarer Weise
zu lösen. Auf Grund ihrer Ergebnisse wurde im
Jahr 1909 von einer großen schwedischen Papier-
fabrik, Eigentum der „Stora Kapparbergs Bergslogs
Aktiebolag", die erste Sulfitspritfabrik gebaut, der
bald zwei weitere folgten. Diese drei Fabriken
erzeugen unter normalen Verhältnissen allein
jährlich 2,5 Mill. Liter looprozentigen Sprit.
Um sich ein richtiges Bild von der Sulfitsprit-
fabrikation zu machen, muß man sich vergegen-
wärtigen, daß die abfallenden Laugenmengen ge-
radezu riesig sind, — eine Zellstoffabrik von 30000 t
Jahresproduktion liefert täglich etwa 3000 hl Ab-
lauge, — während der Gehalt an zu vergärendem
Zucker, wie oben schon angedeutet, äußerst gering
6io
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
ist. Hinzu kommt, daß die Sulfiilauge erhebliche
Mengen freier, zumeist organischer Säuren enthält,
die eine unmittelbare Vergärung unmöglich machen.
Die Lauge muß daher zunächst entsäuert werden,
was im heißen Zustand durch Einleiten in große
Betoniürme und Behandlung mit Atzkalk und
kohlensaurem Kalk unter gleichzeitigen Einblasen
von Dampf geschieht. Nach dieser Vorbehandlung
wird die Lauge vom entstehendem Schlamm ge-
reinigt, abgekühlt und in große Tonnen aus
Holz oder Beton bildende, etwa lOOm^ fassende
Gärbottiche gebracht, wo man sie mit Hefe
und, da sie zu wenig Stickstoffnahrung für die
Hefe enthält, mit siickstofi'haltigen Nährstoffen
(Ammoniumsalzen und sauren phosphorsauren
Alkalien] versetzt, um sie dann bei einer Tem-
peratur von 29 — 30° C zur Gärung zu bringen.
Der Gärprozeß dauert 3 — 4 Tage. Er verläuft
unter starker Kohlensäure • Entwicklung und
Schaumbildung. Die fertig gegorene Flüssigkeit
enthält etwa 1 % Alkohol. Ist die Alkoholbildung
beendet, so wird der Sprit in der üblichen Weise
abgetrieben, wobei man die gewöhnlichen Destil-
lattons- und Rektifikationsapparate benutzt. Der
erzeugte Alkohol kann bequem in einer Gradstärke
von 96 Volumprozenten erhalten werden; der bei
der Fabrikation auftretende giftige Methylalkohol
läßt sich leicht vollständig entfernen.
Die Verwendungsgebiete des Sulfitsprits sind
die gleichen wie die des gewöhnlichen Brennerei-
spiritus. Vor allem kommt er dank seiner Billig-
keit als Brennstoff für Kraftwagen-, Rad- und Boots-
motoren in Betracht, auf welchem Gebiet der Er-
satz des Benzins durch ein in Deutschland erzeug-
bares Treibmittel auch für die Zukunft von höchster
Wichtigkeit ist. In Schweden hat man sogar
Versuche mit der Verwendung von Sulfitsprit zum
Eisenbahnbetrieb (Triebwagen) gemacht, die durch-
aus befriedigend ausgefallen sein sollen. Ähnlich
günstige Ergebnisse haben Versuche zur Verwen-
dung des Sulfitsprits für medizinische und chemisch-
technische Zwecke (Parfüm- und Seifenfabrikation,
hygienische und kosmetische Mittel usw.), sowie
für den Laboratoriumsbedarf geliefert. Die Frage der
Verwendbarkeit ist also in jeder Beziehung geklärt. *)
Genau das gleiche gilt für den Karbidsprit,
der ebenfalls hinsichtlich Verwendungsfähigkeit dem
gewöhnlichen Brennereisprit in keiner Weise nach-
steht, obwohl er nicht durch Gärung, sondern auf
einem sich von allen Gärverfah ren grund-
sätzlich untersche idenden Wege, durch
rein chemische Reaktionen, gewonnen wird. Ver-
suche, auf diese Weise Alkohol zu erzeugen, sind
gleichfalls schon früh unternommen worden; prak-
tisch verwertbare Ergebnisse wurden aber erst vor
kurzem erzielt. Sehr aussichtsreich erschien eine
Zeitlang ein Verfahren, das Äthylen, ein brenn-
') Angemerkt sei, dafl der Sulfitsprit nach schwedischen
Angaljen auch als Trinkspirilus Verwendung finden kann, doch
kann er in dieser Beziehung hinsichtlich Qualität nicht mit dem
aus Kartoffeln oder Getreide hergestellten konkurrieren.
bares Gas, als Ausgangspunkt zu benutzen. Äthylen
(C2H4) steht als Beatandteil des Leucht-, Kokerei-
und Ölgases billig zur Verfügung, kann aber auch
durch Anlagerung von Wasserstoff an Azetylen
(CjHa), das bekannte, durch Behandlung von
Kalziumkarbid mit Wasser entstehende Gas, leicht
gewonnen werden. Wie das Azetylen selbst, so
besitzt auch das Äthylen chemisch den Charakter
eines ungesättigten Stoffes, der es zu Additions-
oder Anlagerungsreaktionen der verschiedensten
Art befähigt. Unsinteressiert von diesen Reaktionen
nur die, die sich vollzieht, wenn man Äihylen mit
warmer konzentrierter Schwefelsäure zusammen-
bringt, in der es sich in beträchtlichen Mengen
(bis zu 14 kg auf 100 kg Säure) löst. Es entsteht
dann Äthylschwefelsäure (CHgCHjOSOsH), die
sich beim Kochen in Alkohol und Schwefelsäure
spaltet (CHgCH^OH + H^SOJ.
Der Überiührung dieses Prozesses in die Praxis
haben sich verschiedene Hindernisse entgegenge-
stellt. Die billigste Äihylenquelle würde dank
seines Äthylengehalts unser Leuchtgas sein, und
es sind auch mehrfach Versuche gemacht worden,
ihm durch Behandlung mit Schwefelsäure das
Äthylen zu entziehen. Ein praktisch brauchbares
Verfahren aber wurde bisher nicht gefunden, so
daß man auf den oben angedeuteten zweiten Weg,
die Darstellung aus Azetylen, angewiesen bleibt.
Die technische Durchführung dieses Verfahrens
ist gleichlalls lange Zeit großen Schwierigkeiten
begegnet; erst in der allerletzten Zeit ist es gelungen,
den Prozeß in eine für den Großbetrieb geeignete,
mit gutem Wirkungsgrad arbeitende Form zu
bringen und so zu leiten, daß man nur das ge-
wünschte Äthylen erhält. Eine dritte und letzte
Schwierigkeit bildet aber noch der große Säure-
bedarf — um I hl Alkohol zu erzeugen, benötigt
man 450 kg Schwefelsäure, die allerdings, wie
unsere Darstellung zeigt, im Kreisprozeß regeneriert
und wieder verwendbar wird — und daran ist die
praktische Ausführung des Verfahrens bisher ge-
scheitert.
Erfolgreicher war die chemische Technik" mit
einem zweiten Verfahren, das gleichfalls vom
Kalziumkarbid bzw. Azetylen ausgeht, aber nicht
Äthylen sondern Azetaldehyd als Zwischenstufe
benutzt. Azetaldehyd, eine äußerst reaktionsfähige,
brennbare Flüssigkeit, die unter normalem Druck
schon bei 20" C siedet, wird dadurch erhalten,
daß man dem Azetylen ein Molekül Wasser
chemisch anlagert. Die starke Reaktionsfähigkeit
macht den Stoff genau wie das Äthylen zu weiteren
Anlagerungsreaktionen fähig. Pügt man ihm ein
Atom Sauerstoff zu, so entsteht Essigsäure
(dieses Verfahren wird heute gleichfalls technisch
verwertet), lagert man dagegen zwei Atome Wasser-
stoff an, so erhält man Alkohol. Für diejenigen
Leser, die chemische Formeln zu lesen verstehen,
sind die ganzen bei der Darstellung von Karbid-
sprit in Frage kommenden chemischen Prozesse
nachstehend kurz zusammengestellt:
N. F. XVI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6ii
1. CaO + 3C
Gebrannter Kalk Koks
2. CaQ + 2H2O
Kalziumkarbid Wasser
3. QH2 + H^O
Azetylen Wasser
4. CH3CHO + 2H
Azetaldehyd Wasserstoff
Die industrielle Nutzbarmachung dieser an sich
schon länger bekannten Reaktionen ist gleichfalls
großen Schwierigkeiten begegnet, die sich ins-
besondere auf der ersten Stufe — der Darstellung
des Azetaldehyds — geradezu häuften. Dieser
Vorgang vollzieht sich nämlich in Wirklichkeit
nicht so einfach, wie es die Formeln und die Dar-
stellung darzutun scheinen, sondern unter Ent-
stehung komplizierter Zwischenprodukte, deren
Zerfall den gewünschten Azetaldehyd liefert. Diese
Reaktion technisch brauchbar zu gestalten, ist
erst in jüngster Zeit gelungen und zwar durch ein
Verfahren, dessen Prinzip darin besteht, daß Azetylen
unter ständigem Rühren in konzentrierte oder ver-
dünnte heiße Schwefelsäure eingeleitet wird, in
der Quecksilberoxyd suspendiert ist. Wie die
Schwefelsäure wirkt, ist noch nicht ganz aufgeklärt,
doch scheint sie bei dem Mechanismus der Wasser-
anlagerung eine wichtige Rolle zu spielen. Das
Quecksilberoxyd wird zu Quecksilber reduziert,
das sich elektrolytisch zu Oxyd regenerieren läßt.
Der gebildete Aldehyd wird abdestilliert oder auf
andere Weise isoliert. Die Verarbeitung auf
Alkohol vollzieht sich in der Praxis so, daß man
mit Wasserstoff gemischte und erhitzte Aldehyd-
dämpfe über erhitztes, als Katalysator wirkendes
Nickeloxyd leitet, eine Operation , die auch im
größten Maßstab technisch leicht durchführbar ist.
Die Ausarbeitung des Karbidverfahrens ist
zum größten Teile das Werk deutscher Forscher.
Über die Anwendung des Verfahrens in Deutsch-
land sind indessen z. Zt. aus naheliegenden Grün-
den keine Daten erhältlich. In der Schweiz ist
eine vorderhand auf 7000 t Jahresproduktion be-
rechnete Karbidsprit- Fabrik im Bau, die das Land
nach und nach vom Bezug ausländischen Alkohols
unabhängig machen soll. Die Anlage wird in
Anlehnung an die Karbidfabrik Visp der Lonza-
werke geschaffen, die auch eine nach dem oben
angedeuteten Prinzip arbeitende Essigsäurefabrik
ins Leben gerufen haben. Die technische Be-
deutung des Karbidverfahrens liegt nicht nur darin,
daß es unseren Bedarf an Spiritus ohne Inan-
spruchnahme von Nähr- und Futterstoffen zu
decken gestattet, sondern auch darin, daß es das
= CaCa + CO
Kalziumkarbid Kohlenoxyd
= C.,Hj + Ca(0H)2
Azetylen Gelöschter Kalk
= CH3CHO
Azetaldehyd
= CHgCHjOH
Äthylalkohol
Anwendungsgebiet des Kalziumkarbids abermals
in umfangreicher Weise erweitert. Vor rund 25
Jahren zum erstenmal dargestellt, galt das Kal-
ziumkarbid zunächst nur als wissenschaftlich in-
teressantes Präparat, bis man auf seine Verwendnng
zu Beleuchtungszwecken (Azetylenlaternen usw.)
kam. Diese Verwendungsart ist lange Zeit die
einzige geblieben, hat aber heute, obwohl sich die
Azetylenbeleuchtung stark ausgedehnt hat, für die
Karbidindustrie an Bedeutung wesentlich einge-
büßt, weil in den letzten Jahren mehrere neue
Anwendungsbiete erschlossen wurden, die die
Azetylenbeleuchtung an Wichtigkeit weit über-
ragen. Ich erinnere an die Benutzung des Aze-
tylens in der Metallindustrie beim autogenen
Schneiden und Schweißen, an die Darstellung des
Kalziumzyanamids oder Kalkstickstoffs (aus Kal-
ziumkarbid und Luftstickstoff im elektrischen
Ofen), der einesteils als Stickstoffdünger, anderen-
teils als Ausgangspunkt für die Darstellung von
Salpetersäure gerade jetzt eine äußerst wichtige
Rolle spielt, weiter an die sogenannten Chlorsub-
stitutionsprodukte des Azetylens, die in vielen
Fällen das Benzin als Lösungs- und Reinigungs-
mittel mit Vorteil ersetzen und schließlich an die
mehrfach erwähnte Darstellung von Essigsäure,
die mit dem Spritverfahren in die gleiche Gruppe
gehört. Gerade auf diesem Gebiet der Additions-
und Kondensationsreaktionen, die mit den stark
ungesättigten Eigenschaften des Azetylens zu-
sammenhängen — (2 Atome Kohlenstoff sind
beim Azeiylen mit nur 2 Atomen Wasserstoff
verknüpft, können also, da der Kohlenstoff vier-
wertig ist, noch eine ganze Anzahl einwertiger
Atome aufnehmen) — sind schon in nächster
Zukunft weitere wertvolle Fortschritte zu erwarten.
Möglicherweise wird (oder ist?) sogar auf diesem
Wege das Problem des künstlichen Kautschuks
(oder besser ge-agt; seiner industriellen Herstellung)
gelöst. Verheißungsvolle Versuche zur Verwen-
dung des Azetylens als Ausgangspunkt für die
Kautschuksynthese sind nach schweizerischen Be-
richten schon seit längerer Zeit an verschiedenen
Stellen im Gange. (OC)
[Nachdruck verboten.]
Der Anthropomorphismus in der Zoologie.
Von Univ. -Prof. Dr. phil. u. med. Ludwig Kathariner, Freiburg (Schweiz).
Als Anthropomorphismus herrschte bis in die
Gegenwart und herrscht vielfach noch heute der
menschliche Egoismus in den Wissenschaften. Nach
ihm soll der Mensch vielfach in physiologischen
Fragen maßgebend sein; der Eindruck, welchen
ein Reiz auf seine Sinnesorgane ausübt, soll in
qualitativ und quanthativ gleicher Weise auch bei
den anderen Lebewesen einwirken. Was auf ihn
einen angenehmen Eindruck macht, soll auch dem
Tier gefallen und umgekehrt. Einen Irrtum als
6l2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
solchen zu erkennen, ist in der Biologie einmal
deshalb besonders schwierig, weil er sich meistens
nicht rechnerisch erweisen läßt, dann aber auch,
weil kein Normalorganismus bekannt ist, der den
Maßstab liefern könnte, weil ferner die Tiere häufig
zweilellos über Sinnesorgane verfügen, welche dem
Menschen fehlen, und endlich, weil in vielen Fragen
der Geschmack den Ausschlag gibt, welcher doch
schon bei den verschiedenen menschlichen Individuen
verschieden ist. Über alle diese Schwierigkeiten,
ja Unmöglichkeiten sieht man nur allzu häufig
leichten Herzens bei der Beurteilung biologischer
Fragen hinweg, mitunter in geradezu unglaublicher
Weise. Der Biologe begehl leichi einen entsprechen-
den Fehler besonders dann, wenn er einen Be-
weisfür seine Ansichten zu finden glaubt. Besonders
fruchtbar an diesem biologischen Unkraut waren
die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts.
Kritiklos wurden von der großen Menge die dar-
winistischen Leitsätze aufgenommen. Unzählige
Einzelfalle von Beobachtungen wurden nicht nur
in der Fachliteratur, sondern noch mehr unter
dem Strich in den Tageszeitungen veröffentlicht
und gläubig hingenommen, von wem sie auch
kamen, falls sie nur unter einer willkommenen
wissenschaftlichen Marke liefen. Fälle von Mimikry,
Schutz- und Trutzfärbung und Zeichnung bildeten
meistens den Gegenstand derartiger populärer
Forsch ungsergebn isse.
Wenn ein Analogieschluß vom Menschen auf
das Tier richtig sein soll, so müssen drei Bedin-
gungen unweigerlich zutreffen. Ist eine einzige
von ihnen nicht erfüllt, so beruhen die Voraus-
setzungen des biologischen Schlusses auf Irrtum
und er fällt in Nichts zusammen. Besonders ver-
dient um die kritische moderne Biologie machte
sich der Münchener Ophthalmologe Prof. Dr.
C. v. Heß. Von den drei Bedingungen, welche
eine biologische Tatsache unbedingt erfüllen muß,
prüft er vor allem die physiologische Seite eines
biologischen Falles. In psychologischer Hinsicht
entscheidet der Versuch und daß die physikalische
Möglichkeit eines Geschehens vorliegen muß,
dürfte für niemand zweifelhaft sein.
Ein besonders krasses Beispiel falscher Schluß-
folgerung bildet die Zeichnung auf dem Rürken
des Totenkopfschwärmers. Daß die menschliche
Phantasie unschwer darin eine Ähnlichkeit mit dem
menschlichen Totenkopf erkennt, ließ die Anhänger
der Schreckzeichnungshypothese darüber hinweg-
sehen, daß das Bild auf dem Rücken des Schwärmers
nur klein ist und keinerlei Perspektive Körperlichkeit
vortäuscht. Dazu kommt, daß der tierische Feind
wohl kaum die Gelegenheit hatte, einen mensch-
lichen Totenschädel zu sehen und daß ein solcher
alles Furchterregende verliert, wenn er nicht die
Gedanken an die Schmerzen des Todes und Furcht
vor Strafe im Jenseits erregt. Es wäre aber eine
willkürliche Annahme, derartige Voraussetzungen
als für den tierischen Feind zutreffend zu halten.
Daß man sich vielfach nicht gescheut hat, der
Hypothese zulieb so weit zu gehen, ja noch weiter,
ergibt sich aus der Speziesbezeichnung einer tro-
pischen Acherontia als A. satanas; wahrscheinlich
wird die Art so genannt, weil deren Zeichnung
einer Teufelfratze ähnelt, wie man sie auf alten
Bildern sieht.
Wenn sich nun auch gewissenhafte Forscher
gescheut haben, eine derartige unbegründete Über-
treibung mitzumachen, so beruhen doch gewisse
biologische Lehrgebäude auf einer zweifellos irrigen
Voraussetzung. Diese besteht darin, daß man,
auf einer Irrlehre der Zoologie fußend, die Blüten
vielfach einteilt in Windblütler (anemophile) und
Insektenblütler (entomophilej. Man geht dabei
davon aus, erstere seien bei ihrer Bestäubung
darauf angewiesen, daß ihnen die bewegte Luft
den Blütenstaub zuführe, während andererseits die
Insektenblütler durch ihren süßen Nektarsaft Kerb-
tiere zum Besuche verlocken, gelegentlich dessen
sie Blütenstaub von einer Blume auf die andere
übertragen. Durch leuchtende Farben und Zeich-
nungen sollen die Insekten angezogen und zur
Honigquelle geführt werden. Wird doch die
bunte Färbung der Blüten häufig als Aushänge-
schild bezeichnet und von Saftmalen gesprochen.
In den Lehrbüchern der Zoologie wird ganz
unbedenklich von Hochzeitskleid, Prachtfärbungen,
den lebhaften Farben der Tiefseetiere usw. geredet.
Angenommen wird dabei, daß die Tiere die be-
treffenden Farben geradeso wahrnehmen, wie sie
dem menschlichen Beobachter erscheinen; nicht
genug damit, wird auch angenommen, daß sie
auch seinen Geschmack teilen. Diese Voraus-
setzungen sind nun als hinfällig und damit auch
die auf ihnen basierenden Schlüsse vielfach als
falsch nachgewiesen worden. C. v. Heß fand nämlich
bei zahlreichen Untersuchungen über das Farben-
sehen der Tiere, daß viele von letzteren gar nicht
das Vermögen haben, Farbenwahrnehmungen zu
machen, und daß man bisher Helligkeits- und
Färbungsunterschiede nicht scharf auseinander hielt.
Alle Wirbellosen, einschließlich der Insekten haben
nach ihm kein Farbensehen; Farbenwahrnehmungs-
vermögen und, was uns darauf zu beruhen scheint,
findet vielmehr in dem verschiedenen Helligkeits-
grad des gesehenen Objekts seine ausreichende
Erklärung; von den Wirbeltieren fehlt auch den
im Wasser lebenden Arten das Farbensehen. Alles
erscheine den genannten Wirbeltieren und sämt-
lichen Wirbellosen, je nach der größeren oder
geringeren Helligkeit in hellerem und dunklerem
Grau. Auch die in der Luft lebenden Wirbeltiere
können vielfach nicht dieselbe Farbenempfindung
haben, wie der Mensch; die Netzhaut hat meistens
Eigenschaften, aus welchen sich diese Folgerung
mit Notwendigkeit ergibt. Auch ihnen erscheint
nur heller oder dunkler Grau getönt, was unserem
Auge durch leuchtende Farben imponiert. Sind
die beiden erstgenannten Bedingungen für die
Möglichkeit des Farbensehens ungünstig, so er-
übrigt sich alles Weitere. Sind sie nicht gegeben,
so bliebe ein dritter Weg offen, auf welchem das
Vorhandensein oder Fehlen eines Farbenwahr-
N. F. XVI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
613
nehmungsvermögens geprüft werden kann. Es
werde das Verhalten des lebenden Tieres unter
möglichst normalen Verhältnissen beobachtet. Aus
seinem Verhalten gegenüber einem Objekt, dessen
Farbenqualitäten einen farbenblinden Menschen
verborgen sind, darf man per analogiam schließen,
daß auch ihm das Farbenwahrnehmungsvermögen
fehlt. Aber auch ohne „Testsubjekt" kann man
mit Berechtigung den betreftenden Schluß ziehen,
wenn das biologische Verhalten des untersuchten
Tieres zu ihm nötigt; ist doch auch sonst in der
Biologie aus unbestrittenen Handlungen eines
Tieres auf seine Empfindungen zu schließen.
Was nun die physikalische Seite der Frage anbe-
langt.so ist unbestreitbar,daß selbst im klarsten Wasser
das Sonnenlicht nicht Hunderte oder gar Tausende
von Metern tief vordringen kann. Ein Sehen in
diesen Tiefen ist also wegen der völligen Finsternis
ausgeschlossen und doch sind, wie wir durch die
neueren Meeresforschungen wissen, die Organismen
des Grundes der wärmeren Meere häufig durch eine
überraschende Farbenpracht ausgezeichnet. Mutatis
mutandis gilt das für die Farbenpracht Gesagte auch
für die Formenschönheit der Tiefseeorganismen.
Bei der Beurteilung der Formenschönheit, welche
die Glasschwämme der Meerestiefen aufweisen,
ist außerdem zu bedenken, daß die Abbildungen
von ihnen in der Regel nur das gesäuberte Kiesel-
skelett darstellen, welches beim lebenden und im
Grund steckenden Tier größtenteils von den Zellen
des Weichkörpers eingeschlossen ist. Außerdem
ist zu bedenken, daß die Schätzung der Formen-
schönheit dieser Gebilde zur Voraussetzung hat,
daß man das Ganze überblickt; bei einem Tier
trifft das meistens nicht zu.
Wie leichtfertig vielfach bei der Deutung der
Form und Färbung der Tiefseeorganismen ver-
fahret! wurde, zeigen zahlreiche Beispiele, wo aus
der Übereinstimmung einer Art mit dem von ihm
bewohnten Tierstock — etwa Krabbe oder Schnecke
und Schwamm — eine Schutzfärbung abgeleitet
wurde. Und doch fehlt hier meistens unzweifelhaft
jede physikalische Möglichkeit einer optischen
Täuschung.
Ein Beispiel dafür, daß die physiologische
Voraussetzung nicht zutrifft, ist die Prachtfärbung
und das stolze Kleid blau gefärbter Vogelarten,
wie Eisvogel, Mandelkrähe usw. Die prächtige
blaue Farbe könnte nur den Eindruck eines
helleren oder dunkleren Grau machen, wenn die
farbenempfindlichen Zellen oder Netzhaut, die
Zapfen in ihrem Zellkörper Ölkugeln enthalten,
wie dies beim Huhn der Fall ist. Durch die
gelben Ölkugeln werden nämlich die blauen
Strahlen absorbiert und können nicht zur Wahr-
nehmung gelangen. Daß dies beim Huhn der Fall
ist, hat V. Heß durch einen Versuch am lebenden
Tier festgestellt. Als einem Huhn ein Streifen
von Getreidekörnern vorgestreut und mit den
Spektralfarben beleuchtet wurde, ließ das Huhn
die vom blauen Licht getroffenen Körner unbe-
achtet, während es die andersfarbigen aufpickte.
Den Grund für diese Blaublindheit sieht v. Heß
in den gelben Ölkugeln der Netzhautzellen.
Ein weiteres Beispiel für Lichtwahrnehmungen
von Strahlen, die unserem Auge entgehen, bildet
das ultraviolette Licht. Ameisen fliehen das Licht
und suchen dunkle Verstecke auf Wurde nun in
einem Versuch ein für uns dunkler Ort von ultra-
violettem Licht getroffen, so blieb es für das
menschliche Auge nach wie vor dunkel, wäh-
rend ihn die lichtscheuen Ameisen flohen. Sie
hatten also offenbar durch ultraviolette Strahlen
einen Eindruck von Helligkeit bekommen, der uns
durchaus fehlt. Noch zahlreicher sind die Beispiele,
in welchem die Mensch und Tier gemeinsamen
Sinneswahrnehmungen bei letzteren eine Stufe
erreichen, an die selbst die schärfsten menschlichen
Sinne nicht heranreichen. Denken wir an den
feinen Geruchssinn des Wildes, die Spürnase des
Jagd- und Polizeihundes, das Auge des Adlers usw.
In vielen Fällen sind wir auch nicht imstande,
ohne weiteres zu entscheiden, ob die Tätigkeit
eines bekannten Sinnes vorliegt, so beim Finden
des Heimwegs durch einen verirrten Hund oder
eine entfernte Hauskatze und bei der Rückkehr
der Zugvögel zum alten Nistplatz.
Einzelberichte.
Meteorologie. Geschützfeuer und Wetterlage.
Von großem Interesse ist die Frage, ob durch das an-
dauernde Geschützfeuer und die Minensprengungen
an der Westfront derartige Störungen in der Atmo-
sphäre hervorgerufen werden, daß sich dies in der
Wetterlageausspricht, namentlich ob dadurch Regen-
fälle verursacht werden können. Für die weite Ver-
breitung der Annahme, daß Explosionen auf der
Erdoberfläche sich auch in den höheren Schichten
der Atmosphäre gehend machen, spricht ja das
Aufkommen dersogenannten Hagelkanonen nament-
lich in den Weinbau betreibenden Bezirken in den
letzten Jahren; meinte man doch damit die Bildung
von Hagelwolken verhindern zu können. G. Le-
moine spricht sich entschieden dahin aus, daß
das Geschützfeuer nur einen Lokalregenfall von
kurzer Dauer verursachen könnte, während aus-
gedehnte und lang anhaltende Regenfälle, etwa
solche, welche Überschwemmungen verursachten,
große Luftströmungen in der Atmosphäre voraus-
setzten.
Vor dem Kriege habe man viel mit den
Hagelkanonen (Artillerie de paragrele) gearbeitet.
In Oberitalien sei die Frage eingehend geprüft
worden; die italienische Regierung habe aber die
Versuche eingestellt, weil sie kein positives Re-
6i4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
sultat ergaben. In den letzten Sitzungen der Pa-
riser Akademie der Wissenschaften kam die An-
gelegenheit wiederholt zur Erörterung. Sie wurde
verschieden beantwortet, so daß die Frage
offen geblieben ist.
Für die Möglichkeit einer Beeinflussung durch
das andauernde Geschützfeuer sprach in der Sitzung
vom 23. April 1917 H. Deslandres (Influ-
ence des cannonades intenses et prolongees sur
la chute de la pluie. C. R. Ac. sc. Paris Nr. 17,
191 7). Schon seit alters sei die Meinung ver-
breitet, daß lang andauernde Kanonaden von
Schlachten Niederschläge in Form von Regen-
güssen verursachen. So folgte ein heftiger Regen
der Schlacht von Ligny (16. Juni 1815) und am
folgenden Tage wurde dadurch die Schlacht von
Waaterloo so lange hinausgezogen, bis „die Preu-
ßen kamen". In der Schlacht von Solverino brach'
ein heftiges Gewitter aus, welches den Öster-
reichern erlaubte, sich rechtzeitig zurückzuziehen.
Ähnliches sei im gegenwärtigen Weltkrieg wieder-
holt eingetreten. Auf bloßen Zufall könne man
das Zusammenfallen nicht zurückführen. Jeden-
falls aber sei es von Interesse, die Frage weiter
zu verfolgen und eventuell klarzustellen. Durch
das Artilleriefeuer werde eine derartige Menge
von elektrischen Ionen in die Atmosphäre ge-
schickt, daß sich der Wasserdampf darin leicht
kondensieren, und es regnen könne. Beim Feuern
mit Tausenden von Kanonen und Hunderltau-
senden von Gewehren werde ferner die Luft durch
Reibung der Geschosse an der Luft stark elektrisch
geladen. Sie werde plötzlich verschoben, bei den
Sprengungen werden die ionisierten, in dem Erd-
reich eingeschlossenen Luftteilchen frei gemacht,
die Explosionsgase und das heiße Gas aus den
Röhren der Feuerwaffen steigen in die höheren
Luftschichten auf usw. Es sei also ganz wahr-
scheinlich, daß eine derartige Durchmischung der
atmosphärischen Luft einen Einfluß auf die Kon-
densation des Wasserdampfs habe. Jedenfalls aber
komme das Geschützfeuer gegenüber den gewöhn-
lichen Ursachen für die Gestaltung des Wetters
kaum in Betracht. Die großen Luftströmungen,
welche vom Ozean kommen, bringen Regen und
Gewitter und werden in dieser Beziehung die
erste Rolle behalten. Das Geschützfeuer dagegen
setze eine mit Wasserdampf fast gesättigte At-
mosphäre voraus und könne in diesem Fall
Regen veranlassen; wenn die Luft aber trocken
sei, habe es keinen Effekt. Ohne es würde der
Regen viel später und in viel größerer Entfernung
niedergegangen sein oder der Wasserdampf hätte
sich in der Atmosphäre zerstreut.
In der nächsten Sitzung behandelte den Gegen-
stand der General Sebert (Les violentes canno-
nades peuvent elles provoquer la pluie? C. R.
Ac. sc. Paris Nr. 18, 19 17). Er meint, Deslan-
dres habe zu ausschließlich die Beeinflussung
des Wetters an Ort und Stelle im Auge gehabt.
Man müsse aber auch die Umgestaltungen berück-
sichtigen, welche dadurch bedingt seien, daß
infolge der Windströmung die Kanonade ganz
wo anders wirke, als am Ort der Kanonade.
In demselben Sinn äußerte sich auch in der
gleichen Sitzung G. Lemoine (Observations
sur la communication de M. Deslandres. C.
R. Ac. sc. Paris Nr. 17, 1917). Jedenfalls scheine
es, daß durch die Kanonade nur schwacher und
kurzdauernder Lokalregen hervorgerufen werden
könne. Man könne sich nun fragen, ob in-
folge der furchtbaren Kanonade auf der West-
front in ihrer ganzen Ausdehnung atmosphärische
Störungen nicht auch in weiterer Entfernung
manchmal heftige und langdauernde Regengüsse
verursachen. Manche Nachrichten lassen erkennen,
daß sich die atmosphärischen Störungen nach
verschiedenen Richtungen hin ausgebreitet haben
bis in sehr weite Entfernungen. Seit Beginn habe
man ungewöhnliche Erscheinungen beobachtet,
wenigstens in der letzten Zeit des Schützen-
grabenkriegs, wo die Granaten- und Minenexplo-
sionen intensiver geworden seien. In Frankreich
glaube man allgemein, daß damit heftige Regen-
güsse zusammenhingen. Oft habe sich auch eine
ganz unerwartete Änderung des Wetters eingestellt,
welche der Barometerstand nicht voraussehen ließ.
So seien ganz unerwartete Regengüsse plötzlich
ohne jeden Übergang auf schönes Wetter ge-
folgt. Im Winter seien erhebliche Temperatur-
änderungen eingetreten, namentlich in Südfrank-
reich, in Spanien und selbst in Algerien Kälte
und Schneefälle. Für diese ungewöhnlichen Er-
scheinungen auch in weit entfernten Gegenden
lasse sich kein anderer Grund finden als die un-
gewöhnlichen Kriegsereignisse. Deslandres
habe schon daran erinnert, daß mitunter infolge
großer Schlachten ein so starker Regen eingetreten
sei, daß er auch den zeitgenössischen Chronisten
aufgefallen sei. Während des Krimkrieges,
wo es also noch keinen Telegraphen gab, so daß
eine Neuigkeit nur relativ langsam nach Frankreich
kam, machte sich ein Apotheker von Saint Brieuc
M. le Maout dadurch bekannt, daß er große
Schlachten auf weite Entfernung hin aus plötz-
lichen Regengüssen folgerte. Ein glücklicher
Zufall wollte es, daß der Kriegsminister durch
ihn zuerst von der Schlacht bei Inkermann und
dem Treffen bei Sebastopol erfuhr. Dies ver-
schaffte ihm eine gewisse Berühmtheit, und er
setzte es durch, daß man offizielle Versuche da-
rüber anstellte, ob es möglich wäre, durch Kanonen-
schüsse Regen herbeizuführen. Es ist aber leicht
zu verstehen, daß das Geschützfeuer und die
Minenexplosionen nur dann Regen veranlassen,
wenn die atmosphärische Luft mit Wasserdampf
nahezu gesättigt ist. Ebenso wußte le Maout
immer zuerst von großen Treffen im italienischen
Feldzug. Die Erfolge, welche er hatte, sind
nur unter der Voraussetzung zu verstehen, daß
eine Kanonade sich in großer Entfernung äußerte;
wahrscheinlich breiten sich Luft- und Gasströme
in den höheren Schichten der Atmosphäre aus.
Eine derartige plausible Annahme erinnert an die
N. F. XVI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
615
Erscheinungen, welche nach dem Ausbruch des
Vulkans Kakatau selbst in Europa in den oberen
Schichten der Atmosphäre zu sehen waren. Es
macht dies die Annahme begreiflich, daß heftige,
sonst unerklärliche und unerwartete Regengüsse
durch das heftige Geschützfeuer an der Front
verursacht wurden. Der offizielle Wetterbericht
wolle freilich nichts davon wissen, da die An-
nahme durch keine einzige einwandfreie Beobach-
tung gestützt wurde. In der Tat sei die Menge
des Regens nicht wesentlich verschieden vom
Durchschnitt des Vorjahrs. Man sage, die Gesamt-
masse der Gashülle des Erdballs wäre viel zu
groß, als daß das Hinzukommen der genannten
Gase eine merkliche Änderung herbeiführen könnte.
Es handle sich aber gar nicht um eine Gleich-
gewichtsstörung der Gesamtmasse oder auch nur
eines größeren Teils derselben. Die zahlreichen
Kanonen-, Gewehrschüsse und Minenexplosionen
erzeugen doch eine Menge warmer Luft, welche
in die Höhe steige, die kalten Luftschichten in
der Atmosphäre verdränge. Es sei nun doch
wahrscheinlich, daß diese Luft durch die gerade
herrschenden Winde in einer bestimmten Richtung
fortgeführt werde. In gewissen anderen Ortschaften
könne sie Regenfälle veranlassen, wenn sie auf
ihrem Weg mit Luftschichten zusammenstoße,
die wärmer und mit Wasserdampf gesättigt seien.
Es brauche sich nun durchaus nicht um eine all-
gemeine Verschiebung in der Atmosphäre zu
handeln. Analoges könne man ja auch an einem
Fluidum in einer Glaskuvette oder in der Atmo-
sphäre im kleinen an den Verschiebungen be-
obachten, die durch den Dampf aus Fabriken und
Werkstätten hervorgerufen werden. Um die so
formulierte Hypothese auf ihre Richtigkeit zu
prüfen, müsse man einerseits die Zeit des heftigen
Geschützfeuers und andererseits ungewöhnliche
regionale Regenfälle in der weiteren Umgebung
und zugleich die Richtung des in den oberen
Schichten herrschenden Windes feststellen.
Nach Aufhören des Schießens müssen derartige
Feststellungen gemacht werden, wobei man die
an Ort und Stelle gemachten Beobachtungen zu
berücksichtigen habe; die hauptsächlichsten Tage,
an denen der Artilleriekampf eine bedeutende
Rolle spiele, seien ja bekannt. Man müsse nun
nachforschen, was zu gleicher Zeit anderwärts
beobachtet werde; das meteorologische Bureau
gebe nicht wie sonst tägliche Bulletins heraus,
aus denen man den Barometerstand und die
Windrichtung ersehen könne; solche Angaben
könnten sonst vom Feind für seine Luftangriffe
verwertet werden. Man sei also vorläufig für die
Beweisführung auf die Angaben in früheren Jahr-
gängen von meteorologischen Zeitschriften be-
schränkt. Kalhariner.
Botanik. Die Vegetation des Amazonasge-
bietes. Unter den Forschern, die unsere Kenntnisse
von der so reichen Pflanzenwelt Brasiliens ge-
fördert haben, steht E r n s t U 1 e , der am 15. Juli
191 5 viel zu früh Verstorbene, an erster Stelle.
Wie kein anderer kannte er das gewaltige Urwald-
gebiet des Amazonenstromes, hat er es doch in
langjährigen Reisen durchforscht und in fast 90
wissenschaftlichen Arbeiten darüber berichtet.
Noch wenige Monate vor seinem Tode gab er in
zwei Vorträgen ein treffliches Bild des weiten
Gebietes und der eigenartigen, noch lange nicht
vollständig bekannten biologischen Verhältnisse
seiner Flora (Biologische Beobachtungen im
Amazonasgebiet. Vortr. a. d. Ges.-geb. d. Bot. 3.
Berlin 1915; Die Vegetation des Amazonasgebietes.
Verh. Bot. Ver. Brandenburg LVII. 56—75. Berlin
1916).
Mit einem Stromgebiet von über 7 Millionen
D- Kilometern ist der Amazonenstrom der größte
und zugleich wasserreichste Fluß der Erde. Die
hier herrschende hohe, nur geringen Schwankungen
unterworfene Wärme, große Feuchtigkeit mit häu-
figen Niederschlägen und große Windstille haben
zur Entwicklung mächtiger Urwälder geführt, der
Hylaea Humboldts, die nur stellenweise durch
offene, mit Gebüsch bewachsene C a m p i n a s oder
die Gras und Kräuter tragenden Campos (Sa-
vannen) unterbrochen wird. Fauna wie Flora
weisen darauf hin, daß das Amazonasgebiet früher
ein Meeresbecken gewesen ist. Nach seiner Hebung
entwickelte sich eine reiche Vegetation, die zum
großen Teil auch darauf beschränkt geblieben ist,
da die es begrenzenden trockeneren Savannen viele
Pflanzen an weiterer Verbreitung hinderten. Der
Wechsel einer regenreichen und regenarmen Pe-
riode bedingt alljährlich ein gewaltiges Steigen
der Flüsse (bis 20 Meter!), die dann oft mehrere
Monate lang die Wälder weithin überschwemmen.
Dies Gebiet wird Varzea oder Igapö genannt,
das überschwemmungsfreie Land dagegen Terra
firme oder Ca et 6. In beiden ist der Wald ver-
schieden zusammengesetzt, namentlich an den
„weißen Flüssen", die alluviale Niederungen durch-
strömen und daher durch Schlammteile hell ge-
färbt sind. Die „schwarzen Flüsse" dagegen sind
kalkarmen Gebieten eigen, wo die Humusteile nicht
gelöst werden können und das Wasser daher tief
dunkel färben. Charakterbäume der Uferwälder
sind überall die Fächerpalme Maiin'fia flexuosa
L. f. und die Fiederpalme Eidcrpe oleracea Mart.
Am Ufer der weißen Flüsse finden wir auch oft
windenartige Sträucher, Salix Martiana Seyb.
oder Aklwriiea castanci/oUa A. Juss., in deren
Hintergrund die hohen, hellen Stämme von Ce-
cropia lockere Bestände bilden. Manche Pflanzen
wachsen ausschließlich in dem Überschwemmungs-
gebiet wie Hevea brasiliensis Müll. Arg., die den
besten und meisten Kautschuk liefert, während
andere sich der fast amphibischen Lebensweise
nicht angepaßt haben. So ist der Wald der Terra
firme, dessen Bestände geschlossener sind und aus
kräftigeren Bäumen bestehen, viel mannigfaltiger
und üppiger. Im Unterholz herrscht oft ein dor-
niges Rohr, Gtmdua Weberbaueri Pilg., vor,
6i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
daneben sind kleine Palmen, Musaceen, IVIaran-
thaceen und Zingiberaceen häufige, und am Rande
treffen wir Bestände von Hclicornia. An den
schwarzen Flüssen ist der Gegensatz von Igapö
und Terra firme weniger groß. Andere Arten,
auch Palmen setzen den weniger hohen, doch
mehr durchwachsenen Wald zusammen. Der hier
ältere und festere Boden ist stellenweise so trocken
und unfruchtbar, daß an Stelle des Waldes Ge-
büschgruppen treten, zwischen denen sich die
eigentlichen Campinas, d. h. freie, mit binsenartigen
Farnen und Flechten bewachsene Flächen, aus-
dehnen. Während sie in erster Linie durch die
Unfruchtbarkeit des Bodens bedingt sind, ver-
danken die Campos der Trockenheit des Klimas
ihre Entstehung. Sie bilden oft weite, mit zer-
streuten krüppelhaften Bäumen und büscheligem
Gras bedeckte Flächen. An sumpfigen Stellen
bildet jManrUia flcxitosa Bestände, während aus
dem Wasser der hindurchziehenden, an Strom-
schnellen reichen Flüssen das Laub der eigen-
artigen Podostemonaceen über den Wasserspiegel
hervorragt.
Die biologischen Erscheinungen der Hylaea,
der die dichtlaubigen Bäume mit hohen, hellen
Stämmen, zahlreiche Palmen und üppiges Unter-
holz ein besonderes Aussehen geben, sind noch
wenig bekannt. Auch hier gibt es eine Perio-
dizität im Wachstum. Manche Bäume im Igapö
wie Bombax JMiiiigiiba K. Schum. stehen bei
Hochwasser kahl da, andere werfen bei Trocken-
zeit ihr Laub ab und blühen dann auch wohl vor
Bildung der neuen Blätter. Da die Wurzeln vieler
Bäume nicht tief in den Boden eindringen, geben
ihnen mächtige Brettwurzeln Halt. So ist es bei
der riesenhaften Bombacee Ceiba pcnfaiidraGatrin.,
die wie alle Bäume des Urwalds bei äußerst
schnellem Wachstum nur ein geringes Alter er-
reicht. Manche Ficiis-kritn besitzen aus Stamm
und Krone hervorwachsende Stützwurzeln, die
Palme Iriartea exorhiza Mart., Cecropia- Arten und
andere entwickeln eigenartige Stelzwurzeln, die
den Stamm stützen. Häufig wachsen Bäume und
Sträucher nicht durch Gipfel-, sondern Seitentriebe,
andere Sprosse werden wie Blätter abgeworfen.
Manche „Schopfbäume" wie SoJnireyia exelsa Kr.,
die an die Palmengattung Corypha erinnert, sind
vielleicht wie diese hapaxanthisch. Zahlreich sind
die Arten der Lianen, von denen manche Big-
noniaceen, Menispermaceen und Leguminosen bis
in die äußerste Baumkrone gelangen. Mit ihren
windenden Stengeln, Ranken und Haken dienen
sie wiederum anderen Kletterpflanzen als Stütze
und bilden ein dichtes Geflecht, das zuweilen selbst
gefällte Bäume aufrecht erhält. Araceen wicA/oiisfcra
und Pliilodeiidroii kriechen mit Kletterwurzeln
an den kahlen Urwaldstämmen hinauf. Da-
neben finden wir hier Kletterpflanzen aus Gruppen,
die im übrigen Amerika diese Wuchsform nirgends
zeigen, so die Gymnospermengattung Giiefiim und
von den Cactaceen Cfrc/is Wif/ii K. Schum. So-
lanuni hederadkitluin Biit. und S. Ulcaiiion Bitt.
des südöstlichen Amazoniens sind die einzigen
bekannten Arten der Gattung, die epheuartig die
Stämme hinaufklettern. Epiphyten sind nicht,
wie man es in den feuchtheißen Wäldern viel-
leicht erwartet, besonders üppig und zahlreich
entwickelt. Die höchst entwickelten Epiphyten
wie Tillandsia, deren Samen meist für die Ver-
breitung durch den Wind geeignete Flugapparate
besitzen, meiden die Hylaea. Für ihr Gedeihen
scheinen in erster Linie Bewegung der Luft und
klimatischer Wechsel Bedingung zu sein, die hier
aber fehlen. So finden wir denn nur weniger
entwickelte Formen oder Hemiepiphyten. Orchi-
daceen, Piperaceen, Cactaceen {R/iipsalis), Bromeli-
aceen u. a. bedecken die Äste der alten Bäume.
Manche von ihnen sammeln in den Blattrosetten
Wasser und Abfalle, in denen sich wieder andere,
namentlich Farne ansiedeln. In dem mehr xero-
philen Grenzgebiet gegen Peru umgeben die mäch-
tigen Nischenblätter von Platyccriuiii aiidiiuim
Bak. oft den ganzen Stamm der Wirtspflanze wie
ein großer Schirm, der alle Feuchtigkeit auffängt.
Andere Farne siedeln in den Blattnischen der
Palmen, neben ihnen das riesige Pliilodciidron
juaxiiuiiiH Krause, Fic/is und Coiissapoa-hritn,
deren Samen durch Fledermäuse dorthin verschleppt
werden. Ihre Stütz- und Klammerwurzeln er-
würgen den stützenden Baum sehr oft.
Eigentümlich sind der Hylaea die von Ule
zuerst entdeckten Ameisenepiphyten. Ameisen
der Gattungen Canipuiiotiis und Azteca legen auf
Bäumen und Sträuchern Erdnester an, in die sie
die Samen ganz bestimmter beerenfrüchtiger
Pflanzen schleppen, die auskeimen und dann oft
riesige Pflanzenknäuel bilden, oft 20 bis 30 Meter
hoch auf den Bäumen. Aus diesen Erdnestern
sind bisher 14 Pflanzenarten bekannt geworden
(2 Araceen, 3 Bromeliaceen, i Piperacee, I Moracee,
I Cactacee, 2 Solanaceen und 4 Gesneriaceen),
die mit vielleicht zwei Ausnahmen außerhalb der
Ameisengärten nicht vorkommen. Einige gehören
sogar zu den Gattungen, die in Brasilien sehr
selten oder überhaupt noch nicht gefunden worden
sind. So ist es wahrscheinlich, daß in Analogie
zu vielen Kulturpflanzen des Menschen, die Pflanzen
der Ameisengärten außerhalb dieses Kulturkreises
der Ameisen nicht mehr wachsen. Da sie durch
die Ameisen reichlich mit Erde und Nährstoffen
versehen werden, besitzen sie meist ein reicheres
Laubwerk als andere Epiphyten. Im Über-
schwemmungsgebiet wie auf der Terra firme finden
wir sodann zahlreiche Ameisenpflanzen, die
in Hohlräumen von Stamm und Zweigen oder in
Schläuchen von Blattstielen und Blättern den
Ameisen Wohnung, manche auch in besonderen
Ausscheidungen Nahrung gewähren. Unter ihnen
sind die Arten der Gattung Cecropia am be-
kanntesten, die am Ufer wie auf Inseln mitunter
dichtere Bestände bilden. Ihre Zweige bestehen
aus durch Querwände getrennten Hohlräumen.
An bestimmten Stellen besitzen die Internodien
ein Grübchen mit dünner Wandung, das die
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
617
Ameisen stets zuerst anbohren und so in das Innere
gelangen. Hier leben sie in Mengen und nähren
sich u. a. von den IMüllerschen Körperchen,
eiweißhaltigen Gebilden der Blattkissen. In ähn-
licher Weise leben die Ameisen in Gängen im
Stamm von Tn'plan's Bäumen, bei der Leguminose
Tacliigalia im hohlen Blattstiel, bei vielen
Melastomaceen in Schläuchen am Grunde der
Blätter. Die von Seh im per begründete Theorie
einer Symbiose zwischen Pflanzen und Ameisen
will Ule nicht gelten lassen, da viele Tatsachen
dagegen sprechen.
Die Blütezeit währt das ganze Jahr hindurch.
Die Gehölze des Igapö blühen zur Zeit des Hoch-
wassers, die der Terra firme zur Zeit der Trocken-
heit. Viele Arten blühen auch in regelmäßigen
Pulsen. Zweckdienliche Raumverteilung bestimmt
die Anlage der Blüten. Daher sind Stammbürtigkeit
und Bodenbürtigkeit häufig zu beobachten. In
einigen Fällen wie bei Aiiona rliizaiifha Eichl.
entwickelt die Stammbasis dünne Zweige, die
unter der Erde hinkriechen und allein Blüten
tragen. In anderer Weise ist das Streben nach
freier Blütenentfaltung außerhalb der Laubregion
bei Parkeria auriculata Spr. verwirklicht, wo die
kopfartigen Blütenstände an der Spitze meterlanger
Stiele stehen. Im Gegensatz dazu hängen sie bei
Parkeria pendula Bth. an langen, fadenförmigen
Stengeln herab. Ule glaubt nicht, daß diese Ver-
hältnisse als Anpassungen an die befruchtenden
oder Früchte suchenden Tiere zu erklären sind,
möchte vielmehr die Erklärung derStammblütigkeit
usw. auf eine Raumverteilung in der Lebenstätig-
keit der Pflanzen gestützt wissen. Kr.
Die Anschauungen Goebels über den physio-
logischen Wert der Erstlingsblätter werden durch die
Untersuchungen von Esenbeck und Wilh.
Vischer bestätigt. Jener untersuchte eine Anzahl
Wasserpflanzen(Beiträge zur Biologie der Gattungen
Potamogeton und Scirpus. Flora. N. F. VII. igrs.
152—212). Zahlreiche Pü/a>iii)gc/oii-h.rXtn besitzen
die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen auch
auf dem Trocknen zu leben, wobei sich an Stelle
der löfi'elartigen Schwimmblätter von Potamogeton
schmale, pfriemenartige Spreiten entwickeln. Es
ist Esenbeck nicht gelungen, diese „Landformen"
zu kultivieren. Soweit sie nicht überhaupt bald
eingingen, schlugen sie nach kurzer Zeit in die
„Wasserform" zurück, woraus er schließt, daß wir
es bei den Wasserblättern mit einem Beharren
oder besser Zurücksinken auf die Jugendform zu
tun haben. Dies kann ganz unabhängig vom Medium
durch Störungen verschiedenster Art hervorgerufen
werden. Wirkliche Landpflanzen sind auch jene
„Landformen" nicht, die sich nur unter günstigen
Bedingungen entwickeln, d. h. wo sie gegen
starke Verdunstung geschützt sind. Wenn sie sich
auch durch sehr gedrungenen Wuchs auszeichnen,
besitzen sie doch kein anatomisches Merkmal, das
den Wasserformen fehlt, besonders kommt es nie
zur Bildung von echtem Schwammparenchym. Nur
P. perfoliatus L. bildet scheinbar eine Ausnahme,
wenigstens beschreibt Uspenskij (ZurPhylogenie
und Ökologie der Gattung Potamogeton. Bull.
Nat. Mose. 19 13) eine anscheinend unzweifelhafte
Landform dieser Art mit 5 — /schichtigen Blättern,
die typische Spaltöffnungen und eine Art von
Pallisaden- und Schwammgewebe besitzen.
Die Untersuchung der gewöhnlich völlig blatt-
losen Scirpus-hx\.cn lehrte, daß sie ebenfalls unter
ungünstigen Bedingungen, bei schlechter Ernährung
oder in abgeschwächtem Licht, Laubblätter ent-
wickeln. Daß auch hierin ein Rückschlag in die
Abb. I.
Hakea äff. cycloptera. R. Br. Vergr. 1 : 2.
a. Normaler Steckling aus dem Kalthaus.
b. Steckling aus dem Feuchlkasten.
c. Wie a, nach Abschneiden der Blätter.
Jugendform zu sehen ist. wird durch beblätterteKeim-
pflanzen von Seirpns prolifer L. und S. lactisiris L.
erwiesen. Bei dieser Art und bei S. flidtans L. kann
ebenfalls wie bei Potajno^eton die Wasserform auf
dem Lande experimentell hervorgerufen werden.
Zahlreiche xerophile Pflanzen zeigen einen
ähnlichen Gegensatz von Erstlings- und Folge-
blättern {Fest II ea glaiiea Sehr., Eucalyptus glo-
buliis Lab., Hakea, j\liilile?ibeckia u. a.) Wie
Vischers Versuche lehren (Experimentelle
Beiträge zur Kenntnis der Jugend- und Folge-
formen xerophiler Pflanzen. Flora N. R. VIII.
1915), können auch bei ihnen durch das
Experiment beide Formen willkürlich hervorgerufen
werden. Starkes Zurückschneiden, gute Bewurze-
lung, schwaches Licht, feuchte Luft, Kultur in
Nährlösung führen zur Bildung der Rückschlags-
form, schwache Bewurzelung dagegen, gutes Licht,
6i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVL Nr. 44
Zurückschneiden der Wurzeln oder Kultur in reinem
Wasser bedingen die Entwicklung der fnlgeform
(Abb. I u. 2). Diese, durch starke Wandverdickungen
charakterisiert, stellt nach Vischer aber keine
zweckmäßige Reaktion auf ein Lebensbedürfnis dar,
denn die Wandverdickungen sind nur durch
Abb. 2.
Hakea suavolens. R. Br.
Im Freien gewachsen mit RückschlagssproS. Vergr. I : 2.
Sämtliche Abbildungen nach Vischer.
Mangel an Nährsalzen und Häufung der Assimi-
lationsprodukte bedingt, weisen aber keinerlei Be-
ziehung zur Luftfeuchtigkeit und dem Gehalt des
Substrats an Wasser auf Dieses Ergebnis wirkt
überraschend, und es ist wohl Aufgabe weiterer
Versuche, seine Allgemeingültigkeit zu erhärten.
Kr.
Physik. Die Einordnung der Radioelemente in
das periodische System, wie sie von Soddy und von
Fajans ausgeführt wurde, hat zu der Annahme
geführt, daß es Elemente gibt, die bei gleichen
chemischen und spektralen Eigenschaften ver-
schiedenes Atomgewicht haben, man hat sieisotope
Elemente ') genannt. In zwei Fällen ist es mit
völliger Sicherheit gelungen, experimentell Isotope
nachzuweisen : Blei und Ra G, das stabile End-
produkt der Uran-Radiumfamilie sind isotop. Das
Atomgewicht des Bleis ist 207,2; auf Grund der
') Naturwiss. Wochenschr. XV, 1 7 : Das periodische System
die Radioelemente.
Verschiebungssätze berechnet sich das Atomgewicht
von Ra G zu 206,0, indem nämlich das Uranatom
(238J zunächst durch Abgabe von 3 Heliumatome
(He Atomgew. 4, also 3 He = 12) in das Radium
(226) und dieses durch Abgabe von 5 weiteren
Heliumatomen (20) sich in Ra G (206) verwandelt.
Man hat nun nachgewiesen, daß das Blei, das sich
in Uranerzen findet, nicht ein Atomgewicht von
207,2, sondern stets ein niedrigeres (bis zu 206,05)
hat. Dieses Uranblei ist also kein gewöhnliches
Blei, sondern ein Gemisch von diesem und einer
Isotope desselben, eben des Ra G. Für die Isotopen
Thorium (232,4) und lonium (230), das direkte
Vaterelement des Radiums, ist der Nachweis
ebenfalls gelungen. Stellt man Thorium aus
Monazit (frei von Uran) her, so findet man ein
Atomgewicht von 232,15. Isoliert man es dagegen
aus Uranmineralien, so enthält das Endprodukt neben
Thorium die Isotope lonium, da ja Isotopen die
gleichen chemischen Eigenschaften zeigen, also
nicht zu trennen sind. In diesem Fall findet man
für das Atomgewicht 231,5, also einen kleineren
Wert. Noch ein dritter Fall ist der experimentellen
Prüfung zugänglich, in allen übrigen sind die
Mengen, in denen die Isotopen vorhanden sind,
zu klein. Über diesen berichtet O. Hönigschmid
(Prag) in der Zeitschr. f. Elektrochemie XXIII,
161 (1917); es handelt sich um das Thorblei.
Das Thorium zerfällt durch Abgabe von 6 Helium-
atome (die /5-Strahlumwandlungen können, weil
mit ihnen ein merklicher Massenverlust nicht ver-
bunden ist, unberücksichtigt bleiben) in Th E, dessen
Atomgewicht sich also zu 208,12 (232,12 — 6-4)
berechnet. Dieses Produkt ist dem Blei isotop
und scheint stabil zu sein. Da nun jedes Thor-
mineral auch Uran enthält, so erhält man, wenn
man Th E aus ihm isoliert, gleichzeitig die Isotope
Ra G. Das Atomgewicht muß demnach zwischen
dem von Ra G (206,0) und Th E (208,12) liegen,
je nachdem in welchen relativen Mengen die
Komponenten in dem Isotopengemisch enthalten
sind. Soddy hat nach einer indirekten Methode
für das Thorblei 207,74 gefunden. Hönigschmid
führt eine direkte Bestimmung aus an dem von
Soddy zur Verfügung gestellten Stückchen Thor-
blei (Gewicht 12 g). Das Metall wird in Salpeter-
säure gelöst und dann mit Salzsäure gefallt. Durch
Fällung . als Chlorsilber wird das .Atomgewicht
ermittelt; es ergibt sich als Mittel aus acht
Messungen zu 207,77 in guter Übereinstimmung
mit dem Soddy'schen Wert. Daß der Wert
wesentlich niedriger als der aus den Verschiebungs-
sätzen theoretisch berechnete Wert 208,1 ist, er-
klärt sich aus der Gegenwart der Isotope Ra G.
— Damit ist die Zahl der Isotopiefälle, die der
experimentellen Beobachtung zugänglich sind, er-
schöpft. K. Seh.
Geologie. Gewinnung von Platin aus Ge-
steinen. Vor dem Kriege wurde die Entdeckung
plaiinlührender Gesteine im Sauerlande viel be-
N. F. XVI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
619
sprechen; sie sollten, so hieß es, überaus reich
sein und uns von fremder Zufuhr ganz unabhängig
machen. Tatsächlich ist das Vorkommen von
Platin in Grauwacken, die den tiefsten Schichten
des rheinischen Unterdevons angehören, einwand-
frei erwiesen worden. Da außerdem in diesen
Gesteinen noch etwas Chrom und Nickel vorkam
und diese Mineralien die Begleiter des Platins in
den olivinreichen Gesteinen des Urals sind, die
das Muttergestein der dortigen Seifen bilden, so
nimmt man an, daß auch das Platin der Sauer-
länder Grauwacke aus derartigen Gesteinen stammt.
Man hat sie zwar nirgends gefunden, aber das
spricht nicht gegen diese Auffassung, denn sie
können in früheren Epochen der Erdgeschichte
zerstört worden sein; ihre widerstandsfähigsten
Bestandteile, eben die aus Platin, Chrom und
Nickel bestehenden Mineralien blieben erhalten
und lagerten sich mit den Zerstörungsprodukten
anderer Gesteine, in der Hauptsache Quarzkörn-
chen und Ton in einer Schicht ab, die wir jetzt
als Grauwacke vor uns sehen und demnach als
fossile Platinseifen bezeichnen können.
Über den Gehalt der Grauwacke an Platin
sind keine sicheren Angaben veröffentlicht wor-
den. Nur so viel steht fest, daß er sehr ungleich
im Gestein verteilt und daß sich leider auch äußer-
lich nicht feststellen läßt, ob er überhaupt vor-
handen ist. Das bedeutet einen sehr mißlichen
Umstand für den Abbau der Lagerstätte, weil
man dadurch genötigt ist, neben dem platinhaltigen
auch viel taubes Gestein zu gewinnen und zu ver-
arbeiten. Eine andere noch größere Schwierig-
keit bildet aber die freie Verteilung des Platins
für seine Gewinnung aus dem Gestein. Ob die
Gesellschaften, die sich mit der Ausbeutung der
Platinlagerstätten befassen wollten, dieser Schwie-
rigkeiten Herr geworden sind, ist nicht bekannt
geworden. In welcher Weise man sich aber mit
der Lösung des Problems, das fein verteilte Platin
aus dem Gestein zu gewinnen, beschäftigt hat,
zeigt ein jetzt veröffentlichtes Patent (D.R.P. 297 2 1 1 ),
das, wenn man auch noch im Ungewissen ist,
ob die ihm zugrunde liegende Erfindung sich in
der Praxis bewährt, doch einen interessanten
und in der Erzaufbereitung ganz neuartigen Ge-
danken zum Ausdruck bringt. Das Verfahren
geht in der Weise vor sich, daß das fein pulvri-
sierte Gestein auf eine elektrische leitende Fläche
in dünner Schicht verteilt aufgetragen wird; diese
Fläche wird mit dem einen Pol einer Elektrizitäts-
quelle in Verbindung gebracht. Der zweite Pol
besteht aus einer kleinen Platte, welche auf das
Gesteinspulver gelegt und hin- und hergeschoben
wird. Der elektrische Strom kann seinen Weg
von der unteren Fläche zur bewegten Platte nur
durch die Platinteilchen nehmen, da das Gesteins-
pulver eine isolierende Schicht bildet. Hierbei
tritt nun die Scheidung ein, indem die Platin-
teilchen an den Berührungsstellen mit den Pol-
platten Funken bilden und hierbei ;n diese ein-
schmelzen. Die Polplatten können nach genügender
Anreicherung eingeschmolzen werden. Man kann
sie sowohl aus Wachs, Asphalt wie auch aus
irgendeinem leicht schmelzenden Metall anfertigen.
Es sei noch erwähnt, daß der Preis des Platins
eine Höhe erreicht hat wie nie zuvor und daß
daher auch Verfahren, die zur normalen Zeit un-
unwirtschaftlich wären, zur Anwendung kommen
könnten. In Rußland wird Platin jetzt mit rund
10 000 Mark für das Kilogramm bezahlt, etwa
viermal so hoch wie Gold, während sein Preis vor
dem Krieg die Hälfte betrug, (oc) Z.
Zoologie. Die Schlangen wurden in der älteren
Systematik (Dumeril und Bibron, 1852) ein-
geteilt in Giftschlangen und ungiftige Schlangen.
Die ersteren besitzen einen Giftzahn, d. h. einen
spitzen Zahn, welcher vor der Pulpahöhle einen
Kanal besitzt; dieser beginnt am Grunde des Zahnes
mit einer Eingangsöffnung und mündet kurz vor
der Spitze. Durch den Kanal wird ein giftiges
Speichelsekret, das Schlangengift in die Bißwunde
gebracht. Erzeugt wird das Gift in einer mehr
oder minder großen Drüse, welche beiderseits vor
dem Ohr liegt und deren Ausführungsgang gegen-
über der Eingangsöffnung in den Giftkanal des
Zahnes mündet. Durch die Anordnung der Zahn-
keime wird bewirkt, daß nach Ausfallen des Gift-
zahnes die Giftdrüsenflüssigkeit nicht nutzlos verloren
geht, indem eine Schleimhautfalte den leer
gewordenen Teil der Giftzahntasche verschließt.*)
Die Giftdrüse selbst steht unter der Einwirkung
des Kaumuskels und unterliegt infolge der An-
ordnung und Form der Kieferknochen bei jedem
Beißakt einem Druck, durch welchen das Gift in
den Zahn und in die Wunde ausgepreßt wird.**)
Der Giftzahn ist nun entweder von einem
ringsum geschlossenen Kanal für das Gift durchsetzt,
oder letzteres wird in die Wunde geleitet durch
eine mehr oder minder tiefe Furche, welche auf
der vorderen Fläche des Zahnes von der Wurzel
bis zur Spitze verläuft. Die Giftschlangen der
ersten Gruppeheißen Röhrenzähner(Solenoglyphen),
die anderen P'urchenzähner. Zur ersten Gruppe,
den Viperiden, gehören die europäischen Gift-
schlangen: Kreuzotter und Viper, sowie die
amerikanische Klapperschlange und zahlreiche
tropische Arten. Furchenzähner sind die Brillen-
schlange, die Seeschlangen und eine große Zahl
tropischer Formen. Der den funktionierenden
Giftzahn tragende Oberkieferknochen ist bei den
Röhrenzähnern ganz kurz, pyramidenförmig und
beweglich am Schädel befestigt. Der Oberkiefer
der Furchenzähner dagegen ist langgestreckt und
trägt die Giftzähne entweder vorn (Proteroglyphen)
wie bei den Brillen.schlangen oder im hinteren
Abschnitt (Opisthoglyphen); zu den Opistoglyphen
gehören eine Reihe südamerikanischer Arten.
Ausser den Gifizähnen trägt der Oberkiefer bei
') Kathariner L., Bildung und Ersatz der Giftzähne
bei Giftschlangen. Zoolog. Jahrbücher lo. Bd., 1897.
^) Kathariner L., Mechanismus des Bisses der soleno-
ghyphen Giftschlangen. Biolog. Zentralblatt 20. Bd. 1900.
620
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
den giftigen Colubriden noch eine verschieden
große Anzahl solider Hakenzähne.
Im Gegensatz zu den beiden Gruppen typischer
Giftschlangen, Röhren- und Furchenzähnern, wurden
alle anderen Schlangenarten als Glattzähner
(Aglyphen) zusammengefaßt. Dadurch wird die
Meinung erweckt, ihr Speichelsekret übe keine
giftige Wirkung aus. Daß diese Annahme aber
durchaus irrig ist, geht aus Versuchen hervor, über
welche Marie Phisalix in der Pariser Akademie
der Wissenschaften berichtet.
Die Giftdrüse der Schlangen ist nach Leydig
der Ohrspeicheldrüse (Parotis) der anderen höheren
Tiere homolog. Daß sie nicht bloß bei den
typischen Giftschlangen, den Röhren und Furchen-
zähnern, vorhanden ist, wurde durch M. Physalix
festgestellt (sur la glande parotide venimeuse
des Colubrides aglyphes, et sur l'existence de cette
glande chez des especes appartenant aux Bo'ides
et aux autres familles de Serpents qui s'y rattachent.
Sitzung vom II. Juni 1917. C. R. t. 164 Nr. 26).
Sie untersuchte i. ob die Parotis auch bei den
aglyphen Colubriden vorhanden sei, 2. ob man
sie auch bei anderen Schlangenfamilien antreffe
und 3. ob ihr Vorhandensein und ihre Entwicklung
in Beziehung ständen zur Zahnbildung.
1. Die aglyphen Colubriden besitzen, wie schon
Leydig vermutete, gleichfalls eine Parotis. Diese
ist eine kompakte Masse von rötlichweißer Farbe,
in zahlreiche Läppchen geteilt und besitzt keinen
einheitlichen Sammelraum. Sie liegt ohne besondere
Muskulatur zwischen der Oberlippe und dem Auge.
Ihr kurzer Ausführungsgang mündet am inneren
Rand einer SchleimhautfaUe; das weiße, schleimige
Sekret vermischt sich also mit der Speichelflüssig-
keit, bevor es in die Wunde eingespritzt wird.
Die Parotis wurde bei 72 von 95 untersuchten
Arten festgestellt ; sie findet sich also häufig, wenn
auch nicht ausnahmslos auch bei den aglyphen
Colubriden.
2. Auch die Boi'den und andere verwandte
Familien haben eine Parotis. In der herpetologischen
Sammlung des Pariser Museums wurden daraufhin
alle dort vorhandenen Schlangenarten untersucht.
Die Parotis fehlte lediglich bei den Typhlopiden
und den Glauconiden ; sie fand sich dagegen bei
den Boiden (Eryx), liysiden (Ilysia, Cylindrophis),
Uropehiden (Rhinophis, Silybura, Pleciurus, Platy-
plecturus), Xenopeltiden (Xenopeltis) und Ambly-
cephaliden (Leptognathus).
3. Was nun die Beziehung des Vorhandenseins
oder Fehlens der Parotis zum Vorhandensein oder
Fehlen von Giftzähnen anbelangt, so trifft man
die größte Mannigfaltigkeit. Es können z. B. zahl-
reiche kleine und gleich große Zähne, wie bei den
Aglyphen, vorhanden sein; bei gewissen Arten
sind die Oberkieferzähne ungleich groß, und zwar
sind bald die vorderen und bald die hinteren länger.
Im letzteren Fall unterscheiden sie sich von den
Giftzähnen der Opisthoglyphen nur durch das
Fehlen der Furche (Macropisthodon, Heteroden usw.).
Die mehr als 130 untersuchten Arten aus den
verschiedensten Familien verhielten sich folgender-
maßen:
a) Die Parotis fehlt; aber Giftzähne sind vor-
handen (Prosymna, Pseudaspis) ;
b) Die Parotis ist vorhanden; aber Giftzähne
fehlen (Coronella, Contia, Xenopeltis);
c) Bei Schlangen, welche zu derselben Gattung
einer und derselben Familie gehören, die also
dieselbe Bezahnung haben, besitzen die einen eine
Parotis, die anderen nicht (Coluber, Polyodontophis,
Rhadinea, Leptognathus).
Es kann also eine Parotis vorhanden sein un-
abhängig von der Art der Bezahnung. Wenn nun
das Vorhandenseins einer Parotis mit dem von Gift-
zähnen zusammenfällt (Macropisthodon, Xenodon,
Heterodon), so hat man „Fraeopisthoglyphen"
(Phisalix) mit einem Ciftapparat. Dem Beutetier
gegenüber ist dieser Typus gleichwertig dem der
Opisthoglyphen; denn wie bei allen anderen
Schlangen ist die Parotisflüssigkeit von giftiger
Wirkung. Mit Speichel gemischt dringt sie leichter
in die Wunde ein; außerdem stehen dafür mehr
Wundöffnungen und längere Zeit zur Verfügung,
da das Beuteiier sich zu befreien sucht.
Die Giftigkeit des Parotissekrets wurde nun
für 2 Gruppen von Glattzähnern untersucht;
nämlich für die Familien der Boiden und der
Uropeltiden und zwar für die Arten Eryx Johni
D. B., Silybura pulneyensis Bedd., Platynlecturus
madurensis Bedd. und P. trilineatus Günther
(M. Phisalix, Sur les proprietes venimeuses de
la secretion parotidienne chez des especes de
Serpents appartenant aux Boides et aux Uropeltides.
Sitzung vom 2. Juli 1917. C. R. t. 165 Nr. i).
Die zum Versuche dienenden Schlangen waren
frisch gefangene Exemplare; die Giftigkeit wurde
erprobt an Vögeln, welche bekanntlich für die
Giftwirkung sehr empfindlich sind, indem man
einen Extrakt in die Brustmuskeln injizierte. Trotz-
dem die Drüsen oft sehr klein und die Menge
ihres Sekretes dementsprechend minimal war, er-
lagen die Vögel meist, z. T. unter schwersten
Erscheinungen (Atemnot, Herzkrämpfe, klonische
und tonische Krämpfe usw.); mitunter trat der
Tod blitzartig schnell ein. So war z. B. die Parotis
von Platyplecturus trilineatus nur 0,25 mg schwer;
I ccm eines Auszugs ihres Sekrets tötete aber die
7 g Culicicapa ceylonensis augenblicklich.
G. A. Boulenger (Sur l'evolution de l'appareil
ä venin des Serpents. Sitzung vom 9. Juli 191 7.
C. R. t. 165 Nr. 3) betont, er stimme mit
M. P h i s a 1 i X darin überein, daß die Unterscheidung
der Aglyphen und der Opisthoglyphen, soweit sie
die Beschaffenheit des Parotissekrets anbelange, nicht
stichhaltig sei. Ausschlaggebend können überhaupt
nur die morphologischen Merkmale sein. Auch
gebe die Größe der hinteren Oberkieferzähne,
welche durch eine Lücke von der vorderen ge-
schieden sein sollen, für manche Opisthoglyphen
kein sicheres.Merkmal ab. Man dürfe die Bezeichnung
Opisthoglyphen nicht auf die Formen mit mehr
N. F. XVI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
621
oder minder langen Zähnen beschränken. Vom
praktischen Gesichtspunkt aus könne man eine
Aufstellung der Gruppe der Opisthoglyphen wohl
rechtfertigen und dieselbe in 2 parallelen Reihen
anordnen, welche sich an entsprechende Reihen
von Aglyphen anschlössen. Er brauche wohj
nicht besonders zu betonen, daß die Einteilungen
von Schlegel, Günther und Jan von durchaus
verfehlten Vorraussetzungen ausgingen. Es stehe
außer Zweifel, daß die Furche ein primitives Merk-
mal bilde; sie habe sich nämlich allmählich ent-
wickelt, wie eine ganze Anzahl von Gattungen
beweise. Es ließen sich die Froteroglyphen in
einer Reihe anordnen, wobei die Furche immer
immer tiefer wird, bis sie zuletzt zwischen der
Ein- und Ausmündung zu einem Kanal geschlossen
ist (Elaps, Dendaspis und Solenoglyphen). Zwischen
der Größe der Zähne und ihrer Umbildung zu
Giftzähnen bestehe keine Beziehung. Beweis dafür
seien die oben genannten Opisthoglyphen und
manche Wasserschlatigen; bei letztereu seien die
vorderen Haken sehr klein im Vergleich zu den
Giftzähnen der anderen Froteroglyphen und den
Solenoglyphen. Bezüglich der Ableitung der
Froteroglyphen und der Solenoglyphen halte er
an seiner schon vor 25 Jahren ausgesprochenen
Ansicht fest. Die Gattungen Ogmodon und
Toxicocalamus gäben einen Begriff davon, wie die
Umbildung der Aglyphen zu den Froteroglyphen
stattgefunden habe, und die Zurücklühruug der
Solenoglyphen auf die Aglyphen werde durch eine
ganz neue Entdeckung bestätigt. Sein Sohn
E. G. Boul enger habe nämlich gefunden, daß
bei Xenodon Merremi der sehr kurze, senkreciit
gestellte Oberkiefer um die Querachse des Schädels
beweglich sei. Man brauche sich nur den Ober-
kiefer noch mehr verkürzt, die kleinen Vorderzähne
fehlend und den Gifikanal vorhanden zu denken,
um die einzelnen Entwicklungsstufen des Ober-
kieferapparates der Viperiden vor sich zu haben.
Darauf erwiderte M. Phisalix (Sur la valeur
subjective de l'evolution de l'appareil venimeux
des serpents et de l'action physiologique des venins
dans la systematique. Sitzung vom 9. Juli 191 7.
C. R. t. 165 Nr. 3), daß sie dem Giftapparat nicht,
wie sie das früher getan habe, eine Bedeutung in
systemati.'-cher Beziehung zumesse. In ihren letzten
Arbeiten habe sie den Beweis geliefert, daß das
Farotissekret der Aglyphen ebenso
giftig wäre, wie das der Frotero- und
der Solenoglyphen. Kathariner.
August Weidmann starb am 6. November 1914
und schon hat man seine Bedeutung als Natur-
philosoph in einer Schrift untersucht, aut die ich
aufmerksam machen möchte, um zugleich einige
Worte der Kritik anzuschließen.
Heinrich Spix hat sich in einer dickleibigen,
über 16 Bogen starken Bonner Dissertation (vom
Jahre 1915) über „A ugust Weisman n als Er-
kentnistheoretiker und Psychologe" die
Aufgabe gestellt, Weismanns philosophische
Voraussetzungen auf erkenntnistheoretischem und
psychologischem Gebiete aus dessen zahlreichen
größeren und kleineren Schriften herauszuarbeiten.
— Einleitend wird im I. Teil (S. 7 — 12), vielleicht
nur allzu kurz, der Lebens- und Werdegang
Weismann 's im Hinblick auf seine philo-
sophische Ausbildung dargestellt. Der II. Teil
(S. 13—235) nimmt den Hauptraum der Disser-
tation ein und behandelt Weismann als Er-
kenntnistheoretiker und Psychologen. Zunächst
seine Stellung zu drei Fragen der Erkenntnistheorie:
I. zum Empirismus, 2. zur Kausalität und 3. zur
Einheit, zur Einfachheit und zum Individuum.
Dann seine Stellung zu Fragen der Psychologie:
I. Instinkt und Intelligenz, 2. Anthropologie und
3. Leib und Seele. Im III. Teil (S. 235 — 245)
erhalten wir eine gedrängte Zusammenfassung des
Gesamtergebnisses der Arbeit (unter wesentlicher
Berücksichtigung der noch ungedruckten Teile
der Dissertation 1), und die den Beschluß bildende
Inhaltsangabe der gesamten eingereichten Studie
(auf S. 246) endlich zeigt, welch vielfache Punkte
von Weismann in seinen Schriften diskutiert
worden sind.
Einzelnes läßt sich aus der Arbeit nicht heraus-
heben. Weismann ist stets ein Anhänger des
materialistischen (oder hylistischen) Monismus ge-
wesen. Daß Spix persönlich dem Materialismus
wohl nahezu diametral gegenübersteht, daß er
diese Weltanschauungsfragen leider oft nur allzu
subjektiv ausklingen läßt, wird jeder Leser selbst
bemerken können. Darunter leidet natürlich eine
rein historische Darstellung, und Spix' Schrift
ist infolgedessen stellenweise eine modern-
kri tisch anmutende Auseinandersetzung mit
dem Materialismus im allgemeinen. Wie
weit Spix da geht, zeigt z. B. ein Satz auf S. 222,
wo er gegen das wohl gelegentlich angefochtene,
aber doch von der Mehrzahl der Biologen ver-
tretene biogenetische Grundgesetz sich ereifert;
er schreibt: „Diesem sogenannten [!] Gesetze
fehlen sowohl die logischen als auch die natur-
wissenschaftlichen Unterlagen, weshalb dasselbe
heute in Forscherkreisen verpönt ist." Haeckels
und Wiedersheims Stammbaum- Versuch nennt
er einige Zeilen später sogar „ein phantastisches,
tendenziöses Machwerk", und auf S. 1 1 sprach er
vorher schon von den „ausgetretenen" Bahnen des
Materialismus.
So fruchtbringend Spix' Untersuchung auch
für die moderne Erkenntnislehre sein mag, so
wenig scheint sie mir unsere Historik zu fördern.
Wie ist es aber auch möglich, das am schwierig-
sten zupackende natur philosophisch eLebens-
werk eines Biologen, der eben noch unter uns
weilte, dessen Stimme seinen Schülern noch in
den Ohren klingt, dessen Schriften von gestern
Probleme von heute bewegen und erörtern, ganz
akademisch und neutral ein Jahr nach dessen
Tode zu sezieren? Weismann steht ja noch
mitten drin in naturphilosophischen Tagesfragen,
622
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
im Kampf moderner Geister um Probleme der
Weltanschauung. Die histoiische Distanz fehlt
uns doch, um die Konturen seines Geistesbaues
scharf umreißen zu können. Daher möchte ich
für meine Person das Schlußergebnis von Spix
nicht in allen Punkten mit unterschreiben, wo es
heißt: „Weis mann ist einer der Naturforscher,
der vor der Behandlung philosophischer,
selbst metaphysischer Fragen nicht zurück-
schreckt und ihre Bedeutung anerkennt. Freilich
nimmt er sie vielfach zu leicht und läßt dann die
nötige Klarheit, auch die volle Umsicht in diesen
Dingen vermissen. Ihm gegenüber sind heutige
Naturforscher meist vorsichtiger. Immerhin ehrt
es den vielseitigen und feinstgebildeten Denker,
daß er den Problemen fest ins Auge blickte und,
wie seine privaten Studien zu Kant beweisen,
innerlich mit ihnen rang. Eine größere Ori-
ginalitätfehlt ihm, und Helm holt z, Hertz,
E. Mach und andere stehen in dieser Hinsicht
wesentlich höher als er." Rudolph Zaunick.
Bücherbesprechungen.
St. Meyer und E. von Schweidler, Radio-
aktivität. 541 Seiten mit 87 Abbildungen
im Text. Lerpzig und Berlin 1916. B. G. Teubner.
— Preis geh. 22,50 M.
Daß neben den bekannten Werken von Curie
und Rutherlord das Gesamtgebiet der Radioaktivi-
tät auch von deutscher bzw. österreichischer Seite
eine umfassende Bearbeitung erfährt, ist vollauf
gerechtfertigt nicht nur dadurch, daß, wie die
Verf betonen, diese beiden Länder von Anfang
an durch eifrige Mitarbeit an der experimentellen
und theoretischen Klarstellung des neuen For-
schungsgebiets mitbeteiligt waren, sondern auch
dadurch, daß namentlich die Grundlagen für das
Verständnis und die Ausarbeitung des Gebiets im
wesentlichen in Deutschland geschaffen worden
sind.
Wenn dieser letztere Umstand in der neuen
Bearbeitung auch nicht mit der wünschenswerten
Deutlichkeit zum Ausdruck kommt, so verdient
diese doch durch die ausgezeichnete Art der Dar-
stellung, namentlich die kaum zu übertreffende
Übersichtlichkeit, die erstrebte weilgehende Voll-
ständigkeit in der Angabe des vorliegenden Tat-
sachenmaterials und die scharfe Hervorhebung der
gesamten umfangreichen Literatur größte Beach-
tung. Sie gewährt sowohl dem Fernerstehenden,
der sich erschöpfend über die einzelnen Probleme
der Radioaktivität zu orientieren wünscht, als
namentlich auch dem auf verwandten Gebieten
täligen F"orscher einen vollen Einblick in den
gegenwärtigen Stand der Kenntnis und die vor-
liegende Literatur. Die letztere findet sich jeweils
am Schlüsse jedes Kapitels oder Abschnitts zu-
sammengestellt — zur Vermeidung einer Über-
lastung der einzelnen Seiten durch zu zahlreiche
Fußnoten und zur Erhöhung der Übersichtlichkeit
— , während am Fuße jeder Seite auf den Ort
der speziellen Literaturnachweise noch besonders
hingewiesen wird. Um die Aktualität des Werkes
bis in die neueste Zeit zu sichern, haben die Verf.
in kurzen im Anhang sich findenden Nachträgen
noch den während der Drucklegung erschienenen
Untersuchungen Rechnung getragen.
Der Gegenstand selbst wird in 7 Kapiteln
systematisch behandelt. Das erste enthält eine
kurze historische Einleitung. Das 2. Kapitel be-
trachtet „die Prozesse der radioaktiven Umwand-
lung" auf Grund der Zerfallstheorie, die nicht mehr
induktiv entwickelt sondern als bereits gesicherter
Besitz als Tatsache genommen wird. Das 3. Ka-
pitel behandelt „die Prozesse der radioaktiven
Strahlung" unter getrennter Darstellung der Ge-
setze der drei verschiedenen vorliegenden Strahlen-
arten. Den „Wirkungen der radioaktiven Strah-
lung" ist das 4. Kapitel gewidmet, während das
fünfte der ziemlich ausführlichen Besprechung der
„Maße und Meßmethoden" dient. Im 6. Kapitel
findet sich eine umfassende Charakteristik der
einzelnen radioaktiven Substanzen. Das 7. Kapitel
schließlich enthält eine kurze Zusammenstellung
der Kenntnis der „Radioaktivität in Geophysik
und kosmischer Physik".
Daß der erste Entwurf eines Werkes dieses
gewaltigen stofflichen Umfangs noch gewisse Ein-
wände zuläßt, ist verständlich. Was zunächst die
erstrebte Vollständigkeit in der Berücksichtigung
der Literatur betrifft, so vermißt Ref. mehrere
seiner hierhergehörigen Arbeiten; ebenso erscheinen
die wichtigen Untersuchungen Lenard's viel zu
wenig berücksichtigt. Bei Besprechung der Schmelz-
verfahren zur Radiumbestimmung wird die hierher-
gehörige Untersuchung Holthusen's kaum er-
sichtlich. Unter den Angaben über die Ge-
schwindigkeitsabnahme der /S-Strahlen fehlt die
eingehende Untersuchung Baxmann's. Historisch
nicht zutreffend ist die auf S. 166 sich findende
Angabe, daß „die in festen Dielektriken durch
Becquerelstrahlen hervorgerufenen lonisierungs-
erscheinungen" zuerst von Becquerel konstatiert
und dann erst vom Ref untersucht worden seien.
Sachlich teilweise unzutreffend, teilweise unklar
sind die Bemerkungen über die von /5-Strahlen
erzeugten Sekundärstrahlen. Hier wie namentlich
auch bei den Betrachtungen der Absorption der
(^-Strahlen vermißt Ref. überdies eine genügende
Kritik der Literatur seitens der Verf Wenig glück-
lich gewählt dürfte auf S. 146 die Einteilung der
„Ionen in Gasen" sein. Bei der Betrachtung der
3 radioaktiven Strahlenarten wäre wohl ein Hin-
weis auf die Kenntnis der Kanal-, Kathoden- und
Röntgenstrahlen zu wünschen, von denen ja die
beiden letzteren nicht nur den radioaktiven Strahlen
analog sondern völlig wesensgleich sind. Dadurch
N. F. XVI. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
623
würden die Gesetze dieser Strahlungen mit grö-
ßerer Vollständigkeit hervortreten, als wie sie die
Beschränkung auf eine spezielle Strahlenquelle ge-
winnen lät5t. Es möge schließlich noch auf einen
Druckfehler in der Angabe von R,5 für AcA der
schäl zenswerten Tabelle 2 aufS. 490 hingewiesen
werden.
Ref. zweifelt nicht, das die daneben vorhandenen
großen Vorzüge dem Werke zahlreiche Freunde
zuführen und daher den Verf in kurzer Zeit Ge-
legenheit geben werden, die noch vorliegenden,
hier teilweise angedeuteten Unebenheiten in einer
Neuauflage zu beseitigen. A. Becker.
A. Föppl, Vorlesungen über Technische
Mechanik. I. Band: Einführung in die
Mechanik. 5. Aufl. 431 Seiten mit 104 Fig.
im Text. Leipzig und Berhn 191 7, B. G. Teubner.
Geh. 9,20 M.
Die ständige Nachfrage hat in kurzer Zeit eine
Neuauflage des ersten Bandes dieses lange be-
nutzten, bewährten Führers auf dem Gebiet der
technischen Mechanik notwendig gemacht. Es ist
sehr zu begrüßen, daß die Verlagsbuchhandlung
trotz der Ungunst der Zeiten mit der Herausgabe
nicht gezögert und damit dem angehenden Tech-
niker auch für die Folgezeit ein wertvolles Hilfs-
mittel für seine Studien erhalten hat.
Der Inhalt des Bandes ist gegen früher im
wesentlichen unverändert. „Er ersi reckt sich auf
die wichtigsten grundlegenden Begriffe, auf die
sich an diese unmittelbar anschließenden Sätze
und auf eine Reihe der einfacheren Anwendungen,
darunter auch auf solche, die in den späteren
Bänden ausführlicher behandelt werden." Hervor-
zuheben ist die vorbildliche Klarheit in der Dar-
stellung und in der elementaren, durch die Be-
tonung des Vektorbegriffs besonders anschaulichen
mathematischen Beschreibung des Stoffs. Dem
Bedürfnis des Praktikers kommt die Anfügung
praktischer Zahlenbeispiele besonders entgegen.
A. Becker.
Anregungen und Antworten.
Um das Kriechen der Schnecken
es eine eigene Be-
wandtnis. Die Sohle oder der Fuß, mit der das Tier der Unter-
lage aufliegt, gleitet an dieser hin ohne Änderung seiner
Umrisse und wäre es selbst an einer senkrechten oder an
der Unterseite einer wagrecht gehaltenen Glastafel. Andere
Tiere, die entsprechend m kriechen vermögen, bedürfen zu-
nächst besonderer Kleb- oder Saugvorrichtungen, die der
Schneckenschlcim wohl leisten kann, das Vorwärtskommen
hängt ab von irgendwelchen UmriSverschiebungen, abwechseln-
des Gewinnen und wieder Lösen von Siüizpunkten, etwa
Schuppen und Rippenenden bei Schlangen, wechselndes Ein-
engen und Anschwellen des Körperquerschnitts wie beim
Regenwurm u. dgl. m. Die einzige Möglichkeit, den Körper
ohne Konturänderung vorwärts zu bringen, durch Flimmern
oder Cilien nämlich, ist hier ausgeschlossen wegen der Größe
des Schneckenkörpers. Es läuft also auf Musktlwirkung
hinaus. Im Haulmuskelschlauch der Mollusken schließen sich
an das einschichtige Epithel Muskelfasern und -biindcl an, die
sich in den verschiedensten Richtungen kreuzen, hauptsächlich
Längsmuskeln, Quermuskeln, dorso-ventrale und schließlich
diagonale. Es läßt sich mit Sicherheit zeigen, daß die ürts-
bewegung lediglich von Längsmuskeln, die unmittelbar über
der Sohle verlaufen, bewirkt wird, und zwar am deutlichsten
bei den Landlungenschnecken. Eine Schlammschnecke, die in
umgekehrter Lage am Wasserspiegel dahingleitet, zeigt nur
auf der Sohle ein unregelmäßiges Wellenspiel wie ein vom
Winde bewegtes Ährenfeld ; und wenn die Sohle der Glaswand
anliegt, kommt von den einzelnen Wellen nichts zur Ansicht,
sondern die ganze Sohle verschiebt sich, scheinbar ohne jede
innere Änderung. Wesentlich verschieden verhält sich der
Fuß einer Landschnecke, einer Helix etwa oder noch besser
einer ,aulacopoden Form', bei der die Sohle durch zwei feine
Längsfurchen in drei Felder geteilt ist, von denen nur das
mittlere, ungefärbte, zur Lokomotion dient. Hier sehen wir
deutlich Querwellen in regelmäßigen Abständen und gleich-
mäßigem Rhythmus von hinten nach vorn das lokomotorische
Mittelfeld durchziehen, und zwar sowohl an der freigehaltenen
Sohle wie an der, die der Glaswand anliegt. Strickleiterartig
treten die Wellen an der kriechenden Schnecke hervor, um bei
Ruhe spurlos zu verschwinden. Ausgelöst und reguliert werden
die Bewegungen durch ein feines Nervennetz von ähnlicher
Strickleitcrform, das die von den unteren Teilen des Schlund-
rings, den Fußnervenknoten, ausstrahlenden F'ußnerven im
lokomotorischenFeld bilden unter Einlagerung zahlreicher kleiner
Ganglien. Wie empfindlich der Apparat ist, zeigte Kunkel
an Limax tenellus, der Egelschnecke, die sich im Sommer und
Herbst häufig an Pilzfrüchten findet. Läßt man von ihr ein
herausgeschnittenes Stückchen der Sohle unter dem Mikroskop
allmählich zur Ruhe kommen, so genügt ein Strahl airikien
Sonnenlichtes, um das lokomotorische Wellcnspiel wieder in
Gang zu setzen.
Soweit die wesentlichsten Tatsachen. Nun noch die
Deutung 1
Die regelmäßige Anordnung der Wellen bei den Land-
schnecken hängt mit dem Medium insofern zusammen, als im
Wasser beinahe das ganze Gewicht des Schneckenkörpers ge-
tragen wird, während in der Luft die ganze Körprrlast zu
bewegen ist. Gleitende Reibung hängt aber in erster Linie
von dem Druck ab, den die bewegten Körper gegeneinander
ausüben. Die Druckpunkte, bei den Wasserschnecken über
die ganze Sohle verbreitet, werden bei den Landschnecken in
bestimmte Querlinien verlegt, wodurch sich die gleitende
Reibung der bequemeren rollenden Reibung nähert.
Die auffallende Tatsache, daß Schnecken auf jeder Unter-
lage mit annähernd gleicher Geschwindigkeit kriechen, da doch
die glritende Reibung sonst wesentlich mit der Beschaffenheit
der Berührungsflächen wechselt, erklärt sich einfach aus dem
Schleimband, welches beim Kriechen unausgesetzt am Vorder-
rande gebildet wird, so daß nur die Reibung zwischen ihm
und der Sohlenfläche in Betracht kommt.
Noch fehlt aber die Erklärung der Lokomotion selbst.
Wir sehen Wellen an Längsmuskeln verlaufen, die sie regel-
mäßig vorn um so viel verlängern, als sie sich nach deren
Ablauf hinten verkürzen. Das kann, wie es scheint, auf
doppeltem Wege geschehen. Entweder der Muskel verlängert
sich, allen sonstigen Erfahrungen entgegen, in der Tätigkeit
und verkürzt sich in der Ruhe, so wie ich's vor fast 40 Jahren
geschlossen habe, — oder es wird die große Schwellbarkeit
des Molluskenleibes durch die Hämolymphe, die alle Gewebs-
lücken ausfüllt, zu Hilfe genommen. Man hätte sich dann
vorzustellen, daß durch eine lokomotorische Welle ein Haut-
stückchen blutleer gemacht würde, in das dann nach Aufhören
der Kontraktion die Flüssigkeit unter dem allgemeinen Tonus
des Hautmuskelschlauches wieder schwellend einströmte. Ent-
scheidende Versuche sind bis jetzt nicht gelungen, und wir
wollen die Hypothesen hier nicht weiter verfolgen. Daß
meine Annahme im Laufe der Jahrzehnte auf vielfachen Wider-
spruch gestoßen ist, versteht sich wohl von selbst. Immer
aber war es leicht, die Einwürfe zurückzuweisen.
Schließlich noch eine Bemerkung. Je tiefer ein Geschöpf
auf der tierischen Leiter steht, desto gleichmäßiger und auto-
matischer vollziehen sich seine Lebensäußerungen, desto mehr
rücken sie aus der Sphäre bewußter Handlungen in den Be-
reich des unbewußten, sympathischen Nervensystems. Der
624
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 44
lokomotorische Apparat der Schnecken zeigt eine merkwürdig
scharfe Mittelstufe. Das lokomotorische Wellenspiel vollzieht
sich völlig automatisch gleichmäßig, ohne dafi eine weitere
Beeinflussung oder Abänderung möglich wäre, wie etwa unser
Puls oder Herzschlag als Muster von Sympathicus-Tätigkeit, —
jeweiliger Anfang und Ende aber jeder lokomotorischen Be-
wegung wird vom Willen bestimmt, als ob wir unseren Herz-
schlag willkürlich unterbrechen oder iu Betrieb setzen könnten.
H. Simroth f.
Herrn Prof. Dr. Rosenthaler. Das eingesandte Haferblatt,
das eine schmutzig braune Färbung aufweist, stammt von einer
Pflanze, die von emer Milbe ; Tarsonemus spirife.x befallen ist.
Die Milbe findet sich in den Scheiden der oberen Blätter oft in
großer Anzahl. Durch den Befall wird die aulfallende Färbung
hervorgerufen. Zugleich wird die Pflanze so geschädigt, daß die
Rispe entweder gar nicht zur Entwicklung kommt, oder wenn
sie sich entwickelt, die Körner nicht ausgebildet werden.
Gegen die Milbe selbst »ind wegen ihres Sitzes keine
Mittel anwendbar. Zur Bekämpfung wird Fruchtwechsel und
starke Düngung empfohlen. Duysen.
Zu dem heute öfter behandelten Thema „Genießbarkeit
mancher bisher nicht beachteter Tiere" gestatte ich mir einige
dürften, der dabei
Mitteilungen, die auch den
nicht an den eigenen Magen denkt.
Wieder einmal wurde, nach der „Deutschen Jägerzeitung",
in den belgischen Ardennen eine Wildkatze geschossen.
Sie gelangte ins Berliner Zoologische Museum und wurde hier
als eine zweifellos echte Wildkatze bestimmt. Das häufige
Vorkommen der Wildkatze und des Fuchses im besetzten
Frankreich und Belgien gehört zunächst wie das Vorkommen
des Wolfes in diesen Ländern und zahlreiche andere Bei-
spiele — solche aus dem Vogelleben erwähnte ich vor Jahres-
frist in dieser Zeitschrift, Nr. 36, 1916 — zu den vielen An-
zeichen für die erst während des Krieges recht bekannt ge-
wordene Tatsache, daß Deutschland nicht nur von seinem
östlichen, sondern auch von seinem westlichen .Nachbarlande
sich durch Verarmung an allerlei Warmblütern, nur nicht an
Hirschen und Kehen, abhebt. Ich habe in Frankreich noch
keine Wildkatze gesehen, aber so viele völlig wild lebende
und so viele wildkalzenähnlich gefärbte Hauskatzen, daß ich
die gelegentliche Vermischung von Hauskatzen- mit Wildkatzen-
blut nicht für ausgeschlossen erachte. Über den Wolf sei be-
merkt, daß von ihm noch kein einziges Kriegserlebnis aus
dem Westen berichtet, ganz anders als aus dem Osten, so daß
die Frage nach seinem Vorkommen in den Ardennen wohl
neuer Prüfung wert schiene. Doch das nur nebenbei.
Zu jener Erlegung einer Wildkatze durch Major Bad icke
wird mitgeteilt, daß die belgischen Landleute den Schützen
um Überlassung der Beute baten, denn diese sei sehr gut zum
Essen. Ganz gewiß ist dieses Urteil nicht in den Kriegs-
ernährungsverhältnissen begründet, die für den Belgier nicht
ungünstig sind, sondern rührt bereits aus friedlicher Zeit her.
Zigeuner verzehren nicht nur — bekanntlich — sehr
gern den Igel, den sie in Lehm backen und dann durch
Abschlagen der harten Lehmkruste von den Stacheln befreien,
sondern es ist, wenigstens aus früherer, um wenige Jahrzehnte
zurückliegender Zeit, belegt, daß herumstreifende Zigeuner sich
auch gern in den Dörfern erschlagene Marder und selbst
Iltisse geben lassen, um sie zu verspeisen.
In Jägerkreisen wurde neuerdings öfter Dachsbraten
empfohlen, der bei geeigneter Zubereitung vortrefflich sein soll,
und noch rückhaltloser ist in Fischereikreisen vom Küchen-
standpunkte aus das Lob der sonst überaus schädlichen, in
Sachsen und Bayern immer weiter vordringenden Bisamratte,
deren Verbreitung hofi'entlich mit durch diese neue Beurtei-
lung des Tieres m den fleischknappen Zeilen wieder einge-
schränkt oder wenigstens gehemmt werden wird. Dagegen
fand man am Fischotter keinen Geschmack.
Vor unseren Soldaten ist schon lange kein Haushund
sicher, wenn er ihnen nicht durch den Vorgesetzten feierlich
als dessen Eigentum vorgestellt ist. Dabei sind diese Männer,
die auch das Fleisch gelallener Pferde sehr schätzen, immer
noch wählerisch in ihrem Geschmack. Von gefaßten vor-
treftlich zubereiteten Gemüsen, von „Drahtverhau" — das sind
gedörrte Kohlrübenschnitzel — und von „Schrapnellkugeln"
— das sind, seitdem es Erbsen kaum mehr gibt, die überaus
nahrhaften Bohnen — wird immer noch ein guter Teil ,, weg-
gehauen", was besonders bedauerlich ist, wenn sie mit zer-
kleinertem Fleisch zusammen gekocht wurden. Weniger, aber
auch noch genug, geht verloren, wenn die Fleiscbportion
gesondert verabreicht wird. Auf den Ernährungszustand des
Heeres — ich spreche nach Erfahrungen bei den Sachsen, die
ja, durch ihre Vorliebe für Zucker und für dünnen Kaffee
bekannt, auch in Gemüsen einen eigenen Geschmack haben
mögen — werfen diese Tatsachen sicher kein ungünstiges Licht.
In Schaufenstern deutscher Wildhandlungen sieht man
jetzt bekanntlich Vögel aller Art bis zum Bussard. Wir
sind damit nahezu in solchen Zeilen wie in denen des alten
Naumann, der in seinem berühmten Vogelwerk bei jeder
Art unter „Nutzen" ein Urteil über ihr Fleisch fällt, selbst
beim Zaunkönig. Ich selber kann außer Krähen und Seevögeln
auch Falken, die ich auf Helgoland probierte, nur das Wort
sprechen. Daß man aus anderen Gründen die meisten Falken-
arten in Deutschland nicht schießen soll, bleibt natürlich
trotzdem bestehen.
Schließlich erwähne ich, was dem Franzosen der Kiebitz
bedeutet. In den Departements Aisne und Pas du Nord habe
ich nirgends Kiebitze zur Brutzeit bemerkt, Kiebitzeier kennt
man nicht, dagegen erscheinen Kiebitze zahlreich als Durch-
zügler. Ebenso wird es in der Champagne sein, und hier
wird im Frühjahr ein regelrechter gewerbsmäßiger Fang auf
Kiebitze getrieben, ein einträgliches, obschon im Anfang mit
hohen Unkosten verbundenes Handwerk. Die Vögel gelangen
nebst einigen anderen in die Netze geratenden Sumpfvögeln
in Friedenszeit in großer Zahl nach Paris, wo sie namentlich
als Fastenspeise hoch begehrt sind. In einem französischen
Schloß sah ich auf einem großen Jagdgemälde in der
Strecke des Jägers auch eine Drossel — wahrscheinlich Wach-
holderdrossel, wenigstens brütet die Singdrossel dort sowie
an der Aisne nicht — und einen Kiebitz dargestellt. Also
selbst einen Schrotschuß werden diese Vögel in Frankreich
wert gehalten. (G.G.) V. Franz.
Literatur.
Gaupp, Prof. Dr. E. f, August Weismann, sein Leben
und sein Werk. Jena '17, G. Fischer. — 9 M.
Stratz, Prof. Dr. C. H., Volkszunabme und Wehrmacht
im Deutschen Reich. Eine naturwissenschaftliche Betrachtung.
Mit 7 Abbildungen. Stuttgart '17, F. Enke. — 2 M.
Boas, J. E. V., Zur Auffassung der Verwandtschaftsver-
hältnisse der Tiere I. Kopenhagen '17, A. Bang. • — 3 Kr.
Bauer, Dr. H., Chemie der Kohlenstoftverbindungen III,
Karbozyklische Verbindungen. Berlin u. Leipzig '17, G. J.
Göschen'sche Verlagshandlung. — i M.
Inhalt I Hans Günther, Sulfit- und Karbidsprit. S. 609. Lud wig Kat hari ner , Der Anthropomorphismusin derZoologie.
S. 611. — Einzelberichte: H. Deslandres, Sebert, G. Lemoine, GeschUtzfeuer und Wellerlage. S. 613. Ernst
Ule, Die Vegetation des Amazonasgebieles. S. 615. Esenbeck und W ilh. Visch er. Physiologischer Wert der Erst-
lingsblälter. (2 Abb.) S. 617. O. Hönigschmid, Isotope Elemente. S. 618. — Gewinnnung von Platin aus Gesteinen.
S. 618. M. Physalix und G. A. Boulenger, Giftschlangen und ungiftige Schlangen. S. 619 H. Spix, August
Weismann als Naturphilosoph. S. 621. — Bücherbesprechungen: St. Meyer u. E. v. Seh weidler, Radioaktivität.
S. 622. A. Föppl, Vorlesungen über Technische Mechanik. S. 623. — Anregfungen und Antworten: Kriechen der
Schnecken. S. 623. Haferblalt. S 624. Genießbarkeit mancher bisher nicht beachteten Tiere. S. 624. — Literatur : Liste. S. 624.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den ii. November 1917.
Nummer 45.
[Nachdruck verbot«
Studien zur Nervenregeneration.
(Untersuchungen von Prof. Dr. J. Boeke, Leiden).
Von Alexander Lipschütz, Bern.
Mit 8 Abbildungen.
In zwei großen Arbeiten, die in den Verhand-
lungen der Akademie der Wissenschaften in
Amsterdam erschienen und mit einem reichen
Tafelwcrk versehen sind, faßt Boeke das Ergebnis
mehrjähriger, groß angelegter Untersuchungen über
die Nervenregeneration zusammen. ') Die Ergeb-
nisse, zu denen Boeke gelangt ist, gehen über
den engen Rahmen der speziellen Frage der
Nervenregeneration weit hinaus und machen die
Arbeiten von Boeke zu einem bedeutungsvollen
Beitrag zur Entwicklungsmechanik.
I.
Es ist bekannt, daß bei Durchschneidung eines
Nerven der peripher von der Durchtrennungs-
stelle gelegene Anteil desselben degeneriert. Nach-
dem die Degeneration vollzogen ist, kommt es in
der Regel zu einer Neubildung des degenerierten
Anteils, zu einer Regeneration. Der regenerierte
Teil steht mit dem zentral gelegenen Anteil des
Nerven in kontinuierlicher Verbindung, die sensible
und motorische Funktion der gelähmten Organe,
etwa eines Armes, wird wiederhergestellt. Die
iVieinungen der Forscher gingen bis vor einigen
Jahren darüber auseinander, aus welch einem
zellulären Material der regenerierte Teil des Nerven
entsteht: ob er aus den an Ort und Stelle vor-
handenen Zellen bindegewebiger Natur gebildet
wird, die am Aufbau des normalen Nervenstranges
beteiligt sind, oder ob er aus dem zentralen Anteil
des durchschnittenen Nerven , der mit der Gan-
glienzelle in Verbindung ist, herauswächst. Es ist
dieselbe Frage, die in der Embryologie so lebhaft
diskutiert wurde, die Frage über die Entstehung
der Nerven während der embryonalen Entwicklung.
Nach den Untersuchungen, die Harrison vor
etwa zehn Jahren veröffentlicht hat, brauchen wir
nicht mehr daran zu zweifeln, welche von den
beiden Auffassungen die richtige ist. Harrison
schnitt aus der Rückenmarksanlage von Frosch-
embryonen kleine Stückchen heraus und brachte
sie in Froschlymphe. Er konnte dann unter dem
Mikroskop das Herauswachsen eines Nervenfortsatzes
aus der isolierten Ganglienzelle direkt beobachten
und sogar die Geschwindigkeit dieses Wachstums
messen. Dieser Versuch zeigt uns, daß die Gan-
glienzelle die Fähigkeit besitzt, Fortsätze in die
') J. Boeke, Studien zur Nervengeneration I. Verhande-
lingen der Koningklijke Akademie van Wetenschappen te
Amsterdam (Tweede Sectie). Deel XVII, Nr. 6 und Stud. z.
Nervenregener. II. Ebenda. Deel XIX, Nr. 5. Amsterdam
1916 und 1917.
Umgebung auszusenden, daß also die Nervenfasern
unabhängig von irgendwelchen anderen, peripheren,
an Ort und Stelle vorhandenen Zellen entstehen
können.
Es fragt sich nun, ob eine Regeneration eines
peripheren Nervenastes auch von dem zentralen
Anteil eines andern Nerven aus stattfinden kann.
Diese Frage, die praktische Bedeutung hat, ist
mehrfach experimentell bearbeitet worden. Es
steht fest, daß der zentrale Anteil eines motorischen
Nerven auch in die Bahn eines anderen motorischen
Nerven hineinwachsen kann. Ebenso, daß man
den zentralen Teil des die Herztätigkeit hemmen-
den Vagus in die Bahn des Nervus sympathicus
hineinleiten kann, der die Erweiterung der Pupille
und die Zusammenziehung der Blutgefäße der
Kopfregion vermittelt. Bei Reizung des Vagus
kommt es dann, wie Langley und Anderson
gezeigt haben, zu einer Erweiterung der Pupille
und zu einer Kontraktion der Blutgefäße des
Kopfes. Kann aber auch eine Vereinigung eines
Bewegungsnerven mit einem Empfindungs-
nerven Zustandekommen? Das war vor allem
die Fragestellung von Boeke.
Boeke durchschnitt bei einer größeren Anzahl
von Igeln, die für diese Operation sehr geeignet
und in den Niederlanden sehr leicht zu haben
sind, den motorischen Nervus hypoglossus und den
sensiblen Nervus lingualis, d. h. den Bewegungs-
nerv und den Empfindungsnerv der Zunge, auf der
einen Seite des Tieres. In einer Reihe von Ver-
suchen wurde das zentrale Ende des Hypo-
glossus mit dem peripheren Ende des Lingualis
vereinigt, in einer anderen Reihe von Versuchen
wurde das zentrale Ende des Lingualis mit dem
peripheren Ende des Hypoglossus vereinigt. Die
anderen beiden Nervenenden, die nicht in den
Regenerationsprozeß hineingezogen werden sollen,
wurden exstirpiert. Wie schon aus älteren Ver-
suchen, die von manchen Forschern ausgeführt
wurden, bekannt ist, kann es unter Umständen zu
einer festen Verbindung zwischen den beiden
heterogenen Nerven kommen. Boeke hat nun
eine sehr eingehende histologische Analyse bei
seinen Versuchstieren ausgeführt, um die Inner-
vationsverhältnisse der Zunge genau verfolgen zu
können. Boeke zerlegte sein Material jeweils in
lückenlose Serienschnitte und er konnte dabei die
Fasern der betreffenden Nerven ununterbrochen
bis zu ihren peripheren Endigungen verfolgen. Die
Art des Befundes wird am besten durch die beiden
folgenden Abbildungen illustriert (Abb. I u. 2). Ein
626
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
Querschnitt aus der normalen Hälfte der Igelzunge
(Abb. i) zeigt uns zu beiden Seiten eines iVIuskel-
bündels, das längs getroffen ist, Lingualisäste (L)
und Hypoglossusäste (Hg). Wir sehen die Felder
quergetroffener Nervenfasern. Abb. 2 ist ein Quer-
schnitt aus einer Igelzunge 5 Monate nach Durch-
schneidung des Hypoglossus und Lingualis und
Verbindung des zentralen Endes des Hypoglossus
mit dem peripheren Ende des Lingualis. Wir
sehen, daß die peripheren Bündel des Hypoglossus
sich nicht regeneriert haben, die alte periphere
Bahn des Hypoglossus ist fast leer. Dagegen sind
die alten Bahnen des Lingualis dicht gefüllt mit
quergetroffenen und einigen längsgetroffenen
Nervenfasern. DerHypoglossus oder der Bewegungs-
nerv ist in die peripheren Bahnen des Lingualis
oder des Empfindungsnerven hineingewachsen. Es
findet also, wie Boeke sich ausdrückt, eine
„heterogene Regeneration" statt, der Nerv
gelangt in einer atypischen, in einer heterogenen
;w
Abb. I.
Schnitt aus der normalen Zungenhälfte des Igels.
Äste des Lingualis (L), des Empfindungsnerven der Zunge, und
Äste des Hypoglossus [Wf.), des Bewegungsnerven der Zunge
im Querschnitt. M. Muskrlfasern der Zunge im Längsschnitt
Vergr. 6oo. Nach Boeke.
Bahn zur Regeneration. Boeke konnte auch nach-
weisen, daß die einzelnen Nervenfasern innerhalb
der alten röhrenförmigen Nervenfaserscheiden ver-
liefen: „die neurotropische Anziehungskraft, welche
die auswachsenden regenerierenden Neurofibrillen-
bündel zur peripheren Nervenbahn geleitet, ist völlig
indifferent, und jede auswachsende regenerierende
Nervenfaser, welche auch ihre Herkunft, kommt
unter ihren Einfluß." Die Lingualisbahn ist so
weit von dem Hypoglossus durchdrungen, daß
nicht nur die Bahnen der größeren Lingualisäste,
sondern auch die Bahnen der feinsten Verzwei-
gungen derselben, auch diejenigen der Xerven-
fasernetze im Bindegewebe der Zungenschleim-
haut, die nach der einfachen Durschschnei-
dung des Lingualis natürlich alle degenerieren,
jetzt dicht mit regenerierenden Nervenfasern gefüllt
waren. Trotzdem es sich nun um Hypoglossus-
fasern handelt, die in der Bahn des Lingualis ver-
laufen, verläßt keine dieser motorischen Fasern die
Bahn des Empfindungsnerven, es sproßt kein
einziger Seitenzweig zu den Muskeln hin.
Schon dieser eine Befund ist von großem
Interesse. Wir sehen, daß regenerierende
Nervenfasern, wenn sie einmal in eine
bestimmte periphere Nervenbahn ein-
gedrungen sind, diese Bahn nicht mehr
verlassen können, sie wachsen zwangs-
weise in dieser Bahn weiter, ohne hin-
aus zu können. Das an Ort und Stelle vor-
handene Zellenmaterial bindegewebiger Natur ist
das „Gel ei tge webe", wie Boeke sagt, für die
Nervenfasern.
Als Boeke das eigentliche Endgebiet der
regenerierenden Hypoglossusfasern untersuchte,
konnte er feststellen, daß diese Fasern sowohl im
Bindegewebe als im Epithel Endverästelungen
gebildet hatten, die zwar in vieler Beziehung den
Endverästelungen von einfach regenerierenden
motorischen Fasern glichen, jedoch eine sehr
innige Verbindung zwischen den motori-chen
Nervenfasern und dem Bindegewebe bzw. dem
Abb. 2.
Schnitt aus der op er ierten Zu n ge nhäl ft e , 5 Monate
nach der Durchschneidung des Hypoglossus und Lingualis und
Verbindung des zentralen Hypoglossus mit dem peripheren
Lingualis. bl ^ Blutgefäß. Rechts oben sieht man zwei
Querschnitte durch die Lingualisbahn, die bei der Verfolgung
einer lückenlosen Serie von Schnitten sich erweist als gefüllt mit
Hypoglossusfasern. Die Hypoglossusbahn dagegen ist fast leer.
Nach Boeke.
Epithel herstellten. Eine Verbindung, wie sie
normalerweise nur zwischen den Empfindungs-
nerven und diesen Endstationen vorhanden ist.
Diese Ergebnisse müssen wir als einen Hin-
weis darauf betrachten, daß, wenn die Nerven-
fasern während der embryonalen Entwicklung auch
nicht peripher entstehen, doch ein peripheres
„Geleitgewebe" anzunehmen ist, das den aus den
Ganglienzellen auswachsenden Nervenfasern den
Weg weist, sie führt. Wir dürfen jetzt wohl sagen :
die Nervenfaser ist zentralen Ursprungs
aber der Weg, den sie im Organismus
nimmt, ist durch periphere Momente
festgelegt. In diesem Sinne sprechen übrigens
auch ältere Versuche von Harri so n. Er trans-
plantierte eine noch nervenfreie Extremitätenanlage
auf eine normale Amphibienlarve und konnte fest-
stellen, daß aus der normalen Larve Nervenfasern
in die transplantierte Extremität hineinwuchsen,
gleichgültig an welcher Stelle des Körpers die
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
627
Transplantation der nervenfreien Extremitäten vor-
genommen worden war. M
II.
Xoch bedeutungsvoller war das Ergebnis der
zweiten Reihe von Versuchen mit heterogener
Regeneration, wo das zentrale Ende des Lingualis
mit dem peripheren Ende des Hypoglossus ver-
einigt wurde. Auch hier zeigte es sich, daß die
regenerierenden Nervenfasern, welche in die
fremde Nervenbahn eingedrungen waren, die einmal
eingeschlagene Bahn nicht mehr verlassen konnten.
Die alte Bahn des Lingualis war hier vcllkommen
leer, das Bindegewebe und das Epithel der Zungen-
denen normalerweise nur sensible Fasern enden.
Ebenso treten Lingualisfasern, die in der Bahn
des Hypoglossus regenerieren, an die Muskelfasern
heran und bilden Endverästelungen, die auf diese
Weise eine Verbindung herstellen zwischen sen-
siblen Fasern und einer Endstation, in der nor-
malerweise motorische Fasern enden. Während
nun aber die Endigungen des Hypoglossus im
Lingualisendgebiet im allgemeinen ungefähr das
gleiche Aussehen haben wie regenerierende Endi-
gungen von Hypoglossusfasern , weisen d i e
Endigungen des Lingualis imHypoglossus-
endgebiet, d. h. auf den Muskelfasern, einen Bau
auf, der motorischen Nervenendigungen sehr
ähnlich ist. Die Abb. 3 — 6 mögen als Beispiel
dienen. Das Milieu, die Umgebung bestimmt
hier somit den Bau der Nervenendigungen: die
Endigungen des sensiblen Lingualis, der im Experi-
Eine Muskelfaser aus den Rippenmuskeln des
Igels, etwa 2 Monate nach der Durchschneidung des zu-
führenden Nerven. Man sieht die regenerierte Nervenfaser mit
der charakteristischen Endigung (motorische Endplatte).
Nach Boeke.
..\bl,. 4.
Eine Muskelfaser aus derZunge des Igels, 45 Tage
nach der Durchschneiduog des motorischen Nerven (Hypoglossus).
Man sieht die regenerierte Nervenfaser mit der charakteristischen
Endigung. Vergr. 1800. Nach Boeke.
Zwei Muskelfasern aus der Zunge des Igels, etwa
3 Monate nach der Durchschneidung des Lingualis und des
Hypoglossus und der Vereinigung des zentralen Teiles des
Lingualis mit dem peripheren Ende des Hypoglossus. Man
sieht die regenerierten Nervenfasern, die Lingualisfasern
darstellen, at>er Endausbreitungen gebildet haben, wie sie für
motorische Nervenfasern charakteristisch sind. Vgl. hierzu
Abb. 3 und 4. Nach Boeke.
Schleimhaut waren von Nervenfasern vollkommen
frei, während die Bahnen des Hypoglossus dicht
gefüllt waren mit regenerierenden Fasern des
Lingualis. Insofern bringen diese Versuche eine
Bestätigung der Befunde, die sich aus der ersten
Reihe ergeben hatten. In einer Beziehung erweitern
sie aber diese Befunde. Wir haben erwähnt, daß
die Hypoglossusfasern, die in der Bahn des Lin-
gualis verlaufen, Endverästelungen im Bmdegewebe
und im Epithel der Schleimhaut bilden, so daß
eine innige Verbindung zwischen den motorischen
Fasern und jener Endstation hergestellt wird, in
') Harrison, II. of e.xp. Zool. 1917. B. 4. Zitiert nach
Verworn, Bemerkungen zum heutigen Stand der Neuron-
lehre. Medizin. Klinik, Jahrg. 1908, Nr. 4.
ment gezwungen wird, die Bahn des motorischen
Hypoglossus einzuschlagen, bildet in der für ihn
atypischen Umgebung, d. h. auf den Muskelfasern,
motorische Endigungen. Boeke formuliert dieses
Ergebnis in Form eines Gesetzes: „Bei der
Nervenregeneration wird dieForm und
Gestalt der ausgebildeten Endorgane
im allgemeinen bestimmt durch die
Umgebung, dasMilieu,in welchem sich
die Endorgane bilden"... Das weniger
differenzierte Gewebe der Schleimhaut, in der
normalerweise der Lingualis seine Endigungen
ausbildet, übt augenscheinlich einen viel weniger
bestimmenden Einfluß auf die hier regenerierenden
Fasern des Hypoglossus aus, als das hochdifferen-
zierte Muskelgewebe auf die regenerierenden Fasern
628
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
des Lingualis. Das dürfte die Erklärung dafür
sein, daß die Endigungen der Hypoglossusfasern,
die in die Lingualisbahnen geleitet werden, ihre
Eigenart in stärkerem Maße beibehalten, als die
Endigungen der Lingualisfasern im Hypoglossus-
gebiet.
Auch diesen Befund möchte ich ins allgemein-
embryologische übersetzen: Die bestimmte
Differenzierung, welche eine Zelle im
Verlaufe der Entwicklung eingeht, ent-
springt nicht nur aus der mit der Zelle
von vornherein gegebenen Anlage, son-
dern sie wird mitbestimmt durch die
Umgebung, in der die sich differen-
zierende Zelle lebt, durch die anderen
Zellen, mit denen die Zelle zusammen-
lebt. Das weitere Schicksal jeder ein-
zelnen Zelle im Zellen verband wird in
gleicher Weise bestimmt durch die
an deren Zellen wie durch die eigenenAn-
lagen. ') Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß
dieses Moment der gegenseitigen Abhängigkeit der
Zellen in der indivieuellen Entwicklungsgeschichte
eine viel größere Rolle spielt, als im allgemeinen
angenommen wird. Man geht viel zu weit mit
der Verwendung des Begriffs der „Anlage". Dieser
starre Begriff der Morphologie oder der biologischen
Statik muß mehr und mehr durch die Mittel der
Entwicklungsphysiologie, durch die biologische
Dynamik aufgelöst werden. Diemorphogenetischen
Funktionen bestimmter Organe, z. B. der Puber-
tätsdrüsen (oder des innersekretorischen Anteils
der Keimdrüsen), der Hypophyse u. a. sprechen
in gleicher Weise wie die interessanten Versuche
von Boeke in dieser Richtung.
III.
Kehren wir zu den Versuchen von Boeke
zurück. Nachdem wir gesehen haben, daß bei
der heterogenen Regeneration der regenerierende
Nerv die ganze atypische Bahn durchläuft, um
schließlich im Endgebiete Endorgane zu bilden,
die sogar der Natur des Endgebietes angepaßt
sein können, müssen wir uns fragen, ob die zu-
standegekommene nervöse Verbindung
auch funktionell wirksam ist. Boeke
hat auch in dieser Richtung eine Reihe bedeutungs-
voller Beobachtungen gemacht.
Wenn man den motorischen Nerv der Zunge
auf der einen Seite durchschneidet, so geraten die
Muskelfasern der gelähmten Zungenhälfte in einen
eigentümlichen hbrillären Bewegungszustand, was
man mit bloßem Auge oder mit der Lupe be-
obachten kann. Mit der Regeneration des durch-
schnittenen Nerven hören diese Bewegungen all-
mählich auf. Boeke konnte sich nun überzeugen,
daß diese abnormen fibrillären Bewegungen auch
dann allmählich abnahmen und schließlich fast
unmerklich werden, wenn der Lingualis an Stelle
des Hypoglossus in die Bahn desselben hinein-
wuchs und die Muskelfasern erreichte. ,,Es schienen
auch die in die motorische Bahn eingewachsenen
Lingualisfasern . . . einen derartigen trophischen
Einfluß auf die Muskelfasern auszuüben, und es
scheint mir angesichts dieser Beobachtungen gar
nicht unwahrscheinlich, daß nach künstlicher
Reizung des Lingualis bei diesen Versuchen ein
sichtbarer motorischer Erfolg, eine Kontraktion
der Zungenmuskelfasern, erreicht werden könnte."
Boeke hat auch einen Befund erhoben, der
darauf hinweist, daß ebenso der bis in die Schleim-
haut hineingewachsene Hypoglossus funktionell
wirksam ist. Nach der Durchschneidung des Lin-
gualis verschwinden beim Versuchstier alle
„Schmeckbecher", welche sich in der Schleimhaut
der Zunge finden. Die Schmeckbecher stehen mit
den Endverästelungen des Lingualis in Verbindung
und sind als Geschmacksorgane aufzufassen. So-
bald die Nervenfasern wieder regeneriert sind,
kommen die Schmeckbecher wieder zur Ausbildung.
') Vgl. A. LipschÜtz, Zur allgemeinen Physiologie des
Wachstums. Zeiischr. f. allgem. Physiologie, Bd. XVII. (Er-
scheint demnächst.)
\ Abb 8
Abb. 7.
Normal er Geschmacksbecher mit den charakteristischen
langgestreckten Zellen und eintretenden Nervenfasern aus dem
Lingualis. Normale linke Zungenhälfte (Igel). Vergr. 750.
Nach Boeke.
Abb. 8.
In Regeneration begriffener Geschmacksbecher
mit eintretenden Nervenfasern aus dem Hypoglossus, 156 Tage
nach der heterogenen Nervenverbindung (zentraler Teil des
Hypoglossus mit den peripheren Teil des Lingujlis). Vergr. 750.
Nach Boeke.
Auch die in die Zungenschleimhaut hineinwachsen-
den Hypoglossusfasern scheinen nun eine solche
stimulierende Wirkung auf die degenerierten
Schmeckbecher auszuüben. Abb. 7 zeigt uns
einen normalen Schmeckbecher aus der Zungen-
schleimhaut mit den Endausbreitungen des Lin-
gualis, des sensiblen Zungennerven. Abb. 8 führt
uns einen Schmeckbecher aus der Zunge desselben
Tieres vor, aber aus der anderen Zungenhälfte,
deren Lingualis vor 5 Monaten durchschnitten und
mit dem zentralen Ende des Hypoglossus vereinigt
wurde. Man sieht die Nervenfasern, die nichts
anderes sind als Endausbreitungen des Hypo-
glossus in einem Gebilde, das deutlich als
Schmeckbecher zu erkennen ist. Es unterliegt
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
629
keinen Zweifel, daß hier ein Schmeckbecher, also
ein sensibles Organ, unter dem Einfluß eines
motorischt-n Nerven zur Regeneration gelangt ist.
So sind jedenfalls, Hinweise darauf
vorhanden, daß die im atypischen Ge-
biet zur Regeneration gelangten Ner-
venfasern auch funktionell wirksam
sind. Die weitere Untersuchung dieser Frage
erscheint sowohl aus theoretischen als aus prak-
tischen Gründen geboten. Es ist vor allem eine
PVage, die auf der Grundlage der von Boeke ge-
wonnenen histologischen Erkenntnisse experimen-
tell bearbeitet werden könnte: ob durch die Im-
pulse, die dem Lingualis- Hypoglossus an der
Peripherie durch Geschmacksreize zugeführt
werden, eine Beeinflussung der nervösen Zen-
tren erzielt werden kann. Diese Frage greift
tief in die Physiologie des zentralen Nervensystems
ein und ist schon mehrfach mit verschiedenen
Versuchsanordnungen in der Physiologie bearbeitet
worden.^) Die Befunde von Boeke geben neue
methodische Handhaben für die Bearbeitung dieses
großen Problems.
') ^g'- J- Vesri, Zur Frage der Irreziprozität der Er-
regungsleitung in den Nervenzentren. Zeitschrift f. allgem.
Physiologie Bd. X, 1910.
Zur Psychologie uud
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Richard
Von allen Teilen der Psychologie ist es um
die Erforschung des Gefühlslebens weitaus am
schlechtesten bestellt. Die meisten Lehrbücher
behandeln die Gefühle im Vergleich zu den Emp-
findungen oder den Vorstellungen äußerst stief-
mütterlich, mehr um eine Lücke zu fü len, als weil
sie wirklich viel zu sagen hätten. Und manche,
sonst vortreffliche Handbücher, wie das von VV.
James, wei.'^en ganz unverhüllt im Punkt der ein-
fachen Gefühle eine klaffende Lücke auf.
Der Grund für diese Vernachlässigung ist einer-
seits darin zu suchen, daß die Gefühle der experi-
mentellen Erforschung weit schwerer zugänglich
sind; andererseits aber begeht die traditionelle
Psychologie gleich an der Schwelle des Problems
einen prinzipiellen Fehler, der jeden weiteren Weg
versperrt. Dieser prinzipielle Fehler ist der, daß
man alle Gefühle auf Lust — Unlust reduziert
und sich nicht klarmacht, daß diese beiden Be-
griffe nur Abstraktionen von einer überaus
großen Zahl von höchst mannigfaltigen, ebenfalls
durch Selbstbeobachtung nachweisbaren Gefühlen
sind. Die Psychologie begeht damit den gleichen
Fehler, den vor ihr die Philosophie so oft gemacht
hat: den nämlich, daß sie eine sehr weitgetriebene
und daher naturgemäß sehr inhalileere Abstrak-
tion mit einer sehr einfachen, sehr fundamentalen
Realität verwechselte. Genau so, wie die
Metaphysik von der tausendfältigen Wirklichkeit
etwa das reine „Sein" oder die „Substanz" erst
durch Weglassung aller IVlannigfaltigkeit abstrahierte
und dann diese inhaltsleere, scheinbar einfache
Abstraktion für den Realgrund der Welt ansah,
genau so verfährt die Psychologie, wenn sie die
beiden leeren Abstraktionen Lust— Unlust für reale
Grundformen des äußerst mannigfaltigen Gefühls-
lebens ansieht. Kein Wunder, daß aus solchen
Schemen keine lebendige Wissenschaft erwachsen
kann!
Man braucht freilich diese Abstraktionen nur
genau zu besehen, um ihrer gespensterhaften Leere
gewahr zu werden. Hören wir, was ein kon-
sequenter Vertreter dieser Theorie darüber zu
Biologie der Gefühle.
MüUer-Freienfels.
sagen hat: „Ist es wirklich wahr, daß die Freude
an einem guten Diner identisch ist mit der Freude
an einer guten Handlung? Der Verfasser ant-
wortet darauf mit Ja, wobei er aber ernstlich
daran erinnert, daß die Psychologie noch am An-
fang steht und niemand diese Frage mit Sicher-
heit beantworten kann. Ein gutes Diner und eine
gute Handlung unterscheiden sich für ihn — nicht
in ihrer Lust: gerade darin sind sie gleich, sondern
in beinahe allem anderen." ') — Uns scheint diese
Lehre, die ihr Verfasser ja selber nur zögernd
ausspricht, völlig unhaltbar und ein Irrweg in die
graueste Theorie. Es ist so, als wollte jemand
behaupten, daß ein gesättigtes Rot, ein gesättigtes
Blau, ein gesättigtes Gelb, was ihre „Gesättigtheit"
anlangte, einander gleich wären, und als wollte
man nun die so abstrahierte „Gesättigtheit
an sich" als einen realen, isolierbaren Faktor zur
Erklärung heranziehen. Der logische Fehler liegt
auf der Hand! So wenig es eine „Gesättigtheit
an sich" als reale Komponente gibt, so wenig gibt
es „Lust an sich" oder „Unlust an sich'. Auch
diese Begrifi"e sind, das muß mit aller Entschieden-
heit betont werden, nur Abstraktionen, die
von grö ßeren Komplexen losgelöst sind
und nicht selber als Realitäten behan-
delt werden dürfen. Nicht die grauen Ab-
straktionen „Lust— Unlust" müssen der Forschungs-
gegenstand der Psychologie sein, sondern jene
allein wirklichen Gesamterscheinungen, innerhalb
deren jene beiden Nuancen nur unselbständige
Eigenschaften darstellen.
Im Gegensatz also zu der oben skizzierten Ge-
fühlstheorie müssen wir, um die psychologische
Tatsächlichkeit zu erfassen, zwei, mit einander in
Beziehung stehende F"eststellungen machen: erstens
daß es eine Mannigfaltigkeit von Gefühls-
•) Titchener, Lehrbuch der Psychologie 1. S. 257.
Vgl. dazu die ausführliche Kritik in meinem Buche: Das
Denken und die Phantasie. Leipzig 1916. Joh. Ambr.
Barth, und meinen Aufsatz in Zeitschr. f. Psychologie 68,
„Zur Analyse und Begriffsbestimmung der Gefühle".
630
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 4S
erscheinungen gibt, die mit dem Gegensatz Lust —
Unlust nicht zu erschöpfen ist, und zweitens daß
Lust und Unlust selten ganz allein oder auch nur
allein in Verbindung mit Empfindungen oder
Vorstellungen auftreten, sondern daß sie stets als
Seiten oder Färbungen (beides natürlich nur
vergleichsweise zu verstehen) eines größeren emo-
tionalen Komplexes erscheinen, die ich hier kurz
als „Stellungnahme" bezeichnen will.
Die Pluralität der Gefühle ist bereits seit
längerer Zeit von bedeutenden Forschern vertreten
worden. Leider hat sie Wundt, der im Prinzip
eine unendliche Mannigfaltigkeit von Gefühlen an-
erkennt, in seine Dreidimensionentheorie eingeengt,
die ihrerseits der Kritik große Angriffsflächen bot
und daher der pluralistischen Gefüiilstheorie in der
Gesamtheit geschadet hat, obwohl sie nur eine
Möglichkeit derselben ist, die durch andere ersetz-
bar wäre. ') Ohne hier im einzelnen darauf ein-
zugehen, stellen wir jedenfalls in Übereinstimmung
mit Wundt eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit der
Gefühle, d. h. der subjektiven Reaktionen oder
Stellungnahmen fest, die mindestens so groß ist
wie die der Empfindungen oder Vorstellungen.
Das ist durch eine einfache Überlegung einzu-
sehen; denn da uns sowohl die Selbstbeobachtung
wie der Vergleich mit anderen zeigt, daß man auf
jede Empfindung oder Vorstellung zu verschiedenen
Zeiten auch ganz verschieden zu reagieren pflegt,
so muß notwendig die Mehrheit der Gefühle, d. h.
der subjektiven Reaktionen, noch größer sein als
die der Empfindungen oder Vorstellungen. Aber
auch abgesehen von solchen Erwägungen belehrt
uns die Selbstbeobachtung, daß sobald wir einmal
die Beschränkung der subjektiven Stellungnahmen
auf die Abstraktionen Lust — Unlust fallen lassen,
nicht nur das Gefühl gegenüber einem guten Diner
eine ganz andere Stellungnahme ist als das Ge-
fühl gegenüber einer guten Handlung oder einer
Beethoven'schen Symphonie, nein wir finden sogar,
daß dieselbe Symphonie uns heute lebhaft er-
regen, morgen beruhigen, übermorgen uns
indifferent lassen kann. Oder welch unendliche
Fülle von Stellungnahmen, subjektiven Zuständen
erleben wir täglich gegenüber demselben Menschen!
Welche psychologische Blindheit gehört dazu, um die
tausend Schwankungen des Gefühls, deren die
Liebe oder die Freundschaft fähig sind, in die
dürftigen Kategorien Lust und Unlust einzuteilen !
Man bedenke nur, wieviel Ausdrücke selbst die
Sprache, deren Armut in dieser Hinsicht von
Dichtern doch so oft beklagt worden ist, für Lust-
und Unlustzustände hat! „Freude", „Jubel", „Selig-
keit", „Gefallen", „Annehmlichkeit", „Behagen",
„Entzücken" sind nur ein paar Ausdrücke einer
langen Reihe, die ebenso für die Unlustscite be-
steht. Und doch ist auch jeder dieser Begriffe
noch ein viel zu plumpes Gefäß, um die unzähligen
') Vgl. Vi^undt, Grundriß der Psychologie 9. Aufl. S. 98.
Als weitere Anhänger der pluralistischen Gefühlstheorie nenne
ich u. a: Th. Lipps,Ribot, Maier, Orth, Österreich,
Alechsief. Näheresbei Müller-Freienfels a.a.O. S. 23.
Schattierungen und Schwankungen der Gefühle
zu fassen 1 Alle diese komplexen Gefühlszustände,
besonders die sogenannten Affekte als Verbindungen
von Vorstellungen mit Lust — Unlust erklären zu
wollen, ist ein völlig verfehltes Unternehmen.
Dazu gibt es noch eine große Anzahl subjek-
tiver Zustände, also Gefühle, die überhaupt nicht in
jenen Gegensatz Lust — Unlust unterzubringen sind.
Man denke an die Gefühle ') der ,, Neuheit", der
„Fremdheit", der „Größe", der „Bekannlheit", der
„Vertrautheit", der„Dasselbigkeit", der „Indifferenz"
(die keineswegs ein bloßes Fehlen von Gefühlen,
sondern selbst ein sehr positives Gefühl ist). Auch
hier vermöchte eine Aufzählung nicht zu er-
schöpfen. Selbst an einen Klassifikationsversuch
können wir aus Raumgründen nicht herantreten.
Alle diese Zustande, die an sich weder Lust
noch Unlust sind, können doch entschieden Lust —
Unlust-färbung tragen. Und zwar kann jeder von
ihnen, sagen wir das Gefühl der Fremdheit oder
das der Größe, sowohl lustbetont wie unlustbetont
sein. In allen diesen Fällen ist die Lust wie die
Unlust nichts Selbständiges neben jenen Gefühlen,
sondern — wie gesagt — nur eine Färbung, eine
Betonung, eine Seite eines größeren Gefühls-
komplexes, der gesamten subjektivenStellungnahme.
* *
*
Damit sind wir bereits zu der zweiten der
obenangeführten Tatsachen gelangt : daß sehr selten
Lust oder Unlust die einzigen Stellungnahmen des
Ich zu einem Eindruck oder einer Vorstellung sind.
Gewiß tritt die Lust- oder Unlustfärbung oft so
stark hervor, daß es scheinen mag, sie seien allein
da. Indessen ergibt genaueres Nachforschen
meistens sehr bald, daß hinter der Lust oder der
Unlust noch andere seelische Tatsachen stecken.
Beginnen wir mit einem aus Schopenhauer
bekannten Beispiele, mit der Lust an der Schön-
heit des weiblichen Körpers. Bekanntlich zeigt
Schopenhauer sehr überzeugend, daß alle
Lustbewertung in dieser Hinsicht zurückgeht auf
Geschlechtsregungen. Kurz formuliert ließe sich
das aussprechen: Eine wohlgebildete weibliche
Gestalt erregt unseren Geschlechtstrieb nicht lust-
voll, weil sie „schön" ist ; nein, wir nennen sie schön,
weil sie unseren Geschlechtstrieb erregt, was an
sich lustvoll empfunden wird. Darüber, daß jede
Erregung unserer Organe, falls sie nicht überstark
oder sonstwie unadäquat ist, als lustvoll empfunden
wird, soll später gesprochen werden. Wir stellen
zunächst nur fest, daß in sehr vielen „Schönheits-
gefühlen" eine latente Erregung des Geschlechts-
triebs mitschwingt, die sich auch im Bewußtsein
geltend macht und von einer unvoreingenom-
menen Selbstanalyse mit Sicherheit zu erkennen
ist. Es ist zuzugeben, daß in der rein ästhetischen
') Avenarius führt für diese psychologischen Tatbestände
den Begriff des „Charakters" ein. Wir sagen „Stellung-
nahme", erweitern aber auch den Begrifl' des Gefühls durch-
aus im Sinne der Umgangssprache so, daß er jene Zustände
umfaßt. Ebenso Th. Lipps, Vom Fühlen, Denken,
Wollen S. 1 ff.
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
631
Betrachtung dieser triebhafte Bestandteil oft ganz
zurücktritt, was jedoch nichts gegen sein ursprüng-
liches Vorhandensein beweist.
Dieser Fall nun ist typisch. Die Lust ist nur
eine Nebenerscheinung einer komplexeren seelischen
Stellungnahme, die sich als trieb- oder
willens haft erkennen läßt. Das ist aber bei
fast allen Gefühlen der Fall. Wie dort ein latenter
Geschlechtswille der Kern des Lustgefühls ist, so
steckt in allen Lustgefühlen ein Streben,')
irgendein Trieb oder ein Begehren, die nur oft
sich in ihrem Wesen nicht enthüllen. Analysiert
man jedoch die Lust, die z. B. ein Erfolg mit sich
bringt, so wird man als eigentliche Triebfeder
eines solchen Erlebnisses den Willen zur Selbst-
behauptung und Selbsterhöhung des Ich erkennen.
— Umgekehrt steckt in aller Unlust ein negatives
Streben. Die Unlust, die wir beim plötzlichen
Anblick einer Schlange empfinden, ist eine Neben-
erscheinung der Furcht, d. h. eines negativen
Strebens zur Selbsterhaltung. Die Unlust, die eine
Beleidigung in uns hervorruft, hat ihren Grund in
einer negativen Erregung des Willens zur Selbst-
erhöhung des Ich. Kurz, es läßt sich sagen, Lust
und Ulilust treten nicht allein in der Seele auf,
sie sind nur Nebenerscheinungen komplexerer
Stellungnahmen unseres Ich, vor allem der Trieb-
und Willensregungen. Und zwar ist Lust das
Zeichen einer adäquaten Erregung, Unlust das
Anzeichen einer konträren, hemmenden,
inadäquaten Erregung. -j
Über die Art der Bewertung jenes Triebes, ob
er als lustvoll oder unlustvoll ins Bewußtsein tritt,
läßt sich kurz sagen, daß im allgemeinen jede
Bejahung des Triebes, d. h. jede ungehemmte
Tätigkeitsauslösung als lustvoll empfunden wird,
während jede Verneinung des Strebens, jede Hem-
mung als unlustvoll bewertet wird. Man bezeichnet
diejenige Lust, die durch die adäquate Erregung
eines Triebs ausgelöst wird, auch als „F u n k t i o n s -
lust", womit man ausdrücken will, daß sie durch
das bloße Ausüben einer Funktion ausgelöst wird.
Denn jedes Nervenzentrum hat in sich das vitale
Bedürfnis, geübt zu werden, wenn es regelrecht
ernährt ist. Die Lust ist eine psychische Begleit-
erscheinung der erwünschten Betätigung. Die
Unlust hinwiederum ist das Anzeichen dafür, daß
entweder ein Trieb gestört wird oder daß seine
Inanspruchnahme in keinem adäquaten Verhältnis
zu der verfügbaren Energie steht. Daher löst jede
allzustarke Erregung Unlust aus. Manche Triebe
und Willensregungen sind an sich negativ, wie die
Furcht, der Neid usw.: bei diesen bringt jede Er-
regung, wenn sie nicht durch Begleiterscheinungen
paralysiert wird, Unlust hervor, da die physiologische
Komponente solcher Gefühle aus Störungen und
Hemmungen besteht.*)
') Diese Ansicht findet man ebenfalls vertreten bei Th.
Lipps, a. a. O. S. 16 ff.
*) Experimentell ist das festgestellt durch Münsterberg,
Beiträge zur experim. Psychologie IV.
3] Näheres darüber in den Schriften zur Affektlebre von
Nach alledem können wir, das Bisherige zu-
sammenfassend, sagen, das es ganz falsch ist, Lust
und Unlust als gesonderte seelische Erscheinungen
aufzufassen. Vielmehr muß man sie als Begleit-
erscheinungen komplexerer emotionalerTatbestände
ansehen, deren innerster Kern trieb- oder willens-
haft ist. Gewiß tritt oft im Bewußtsein die Be-
gleiterscheinung fast allein heraus, indessen ihre
Wurzel, ihre treibende Kraft steckt doch in einem
Triebe, der sich der eindringenden Analyse stets
erschließt und der der Lust oder Unlust auch
jene spezifische Färbung verleiht, von der wir
im Anfang sprachen.
* *
Indessen scheint, selbst wenn man diese Anschau-
ung für die Affekte wie Liebe, Haß, Hochmut und
ähnliches zugibt, dennoch als Einwand nahezuliegen,
daß gerade die „einfachsten" Gefühle, diejenigen,
die in der P.sychologie vor allem untersucht werden,
sich nicht als triebhaft erweisen ließen. Also vor
allem jene „Empfindungsgefühle", die sich an den
Eindruck eines schönen Akkordes, einer leuchten-
den Farbe, an den Geschmack des Zuckers an-
schließen, diese seien doch — so wird man be-
haupten — „reine" Lustgefühle, ohne Begeh-
rungsrharakter. Man wird vielleicht sogar darauf
hinweisen, daß allen ästhetischen Gefühlen insbe-
sondere, der landläufigen Definition gemäß, jedes
Begehrungsmoment fehle.
Dem werden wir entgegnen, daß zunächst die
„Einfachheit" der ästhetischen Gefühle keineswegs
natürlich ist, sondern eine anerzogene Abstraktion
ist. Das Kind kennt keine begehrensiose Lust.
Nach allem, was ihm gefällt, streckt es sofort die
Hände aus, sucht es an sich zu ziehen und wo-
möglich in den Mund zu führen. Erst allmähliche
Erziehung bringt den Menschen dazu, bei wohl-
gefälligenEindrücken dasBegehren zurückzudrängen,
und in der Tat gelingt das denn auch mit den
Jahren besonders bei Tönen und Farben, die nicht
unmittelbar auf Triebe wirken. Wieweit auch bei
erwachsenen Menschen die Fähigkeit geht, sich
rein ästhetisch, begehrenslos an der Schönheit
einer verlockenden Frucht zu erfreuen, das hängt
sehr von der Individualität und — dem Hunger ab.
Aber bleiben wir zunächst bei jenen Fällen, in
denen wir über eine schöne Farbe Lust empfinden,
ohne daß ein Begehren uns bewußt wäre. Liegt
nicht vielleicht doch ein unbekanntes Begehren zu-
grunde? Vielleicht zeigt der negative Fall den
Sachverhalt noch deutlicher. Nehmen wir an, wir
hörten neben uns den schneidenden grellen Pfiff
einer Lokomotive, der uns lebhafteste Unlust aus-
löste. Beobachten wir uns dabei genau, so be-
merken wir in uns ein lebhaftes Widerstreben gegen
den Eindruck, ein Begehren ihm zu entfliehen.
Und diese triebhaften Erregungen, die sich in
allerlei Bewegungen und Handlungen entladen,
sind nicht etwa von der Unlust abhängig, nein
James, Lange, Ribot, bes. dessen „Psychologie des
Sentiments".
632
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
sie sind sogar oft zeitlich'voraufgehend. Besonders
bei plötzlichem Schreck können wir beobachten,
daß wir erst zusammenfahren und uns nur all-
mählich der Unlust bewußt werden. In allen
diesen Fällen ist der Trieb, dem Eindruck zu ent-
fliehen, nicht etwas Nebensächliches, sondern er
hängt innerlich mit der Unlust zusammen. Selbst
wenn man die bekannte „periphere" Theorie der
Gefühle, daß diese nur Begleiterscheinungen der
Ausdrucksbewegungen seien, nicht in Bausch und
Bogen annimmt, wenn man sich bloß auf den
psychologischen Sachverhalt beschränkt, wird man
zugeben müssen, daß in jedem Unlustgefühl, nicht
als Abhängige davon, das Bestreben steckt, sich
dem Eindruck zu entziehen. Ebenso steckt in
jedem Lustgefühl der Trieb, dabei zu verweilen,
ja das Lustgefühl auf sein Maximum zu
steigern. Das genießende Auskosten der Lust
enthält dies Streben ganz unverkennbar. Und es
dürfte kaum ein Lustgefühl geben, in dem wenigstens
der Trieb, dabei zu verweilen, ja es noch besonders,
intensiv zu erleben, mit Sicherheit sich der Analyse
erschließt. Und zwar ist dieser Trieb nichts Sekun-
däres; er ist der innerste Kern des Gefühlserleb-
nisses. Scharf formuliert würde das bedeuten:
Wir begehren einen Eindruck nicht,
weil er lustvoll ist, sondern weil wir
ihn begehren, ist er lustvoll. Das Sprich-
wort, daß Hunger der beste Koch sei, sagt im
Grunde dasselbe aus. Auch die bestzubereitete
Speise erregt uns keine Lustgefühle, wenn wir
übersättigt sind. Der Hunger ist also die innerste
Triebkraft des Wohlgeschmacks. Daß in der ge-
wöhnlichen Meinung dieser Tatbestand auf den
Kopf gestellt ist, hat seinen Grund darin, daß der
Hunger vielfach nicht vorher im Bewußtsein war,
daß er, wie ein anderes Sprichwort sagt, oft erst
während des Essens kommt. Aber latent muß er
vorhanden gewesen sein, und es sind ja die
raffiniertesten unserer Küchen- und Kellergenüsse,
die — indem sie scheinbar unseren Hunger oder
Durst stillen — zugleich ihn aufs neue reizen.
Indem wir aber nun weiter fragen, welcher
Art denn die Triebe seien, die die gewöhnlichen
Empfindungsgefühle, das Wohlgefallen an einer
leuchtenden Farbe, einem feineren Ton auslösen
sollen, kommen wir wieder auf den Begriff der
Funktionslust zurück, den wir oben streiften, und
zugleich damit nähern wir uns der biologischen
Erklärung des Gefühlsphänomens.
Wir sagten oben, das jedes wohlgenährte
Organ unseres Körpers das Bedürfnis hat, sich zu
betätigen, wenn es nicht verkümmern soll. Das
gilt auch von allen Sinnesorganen. Sie bedürfen,
damit die nötigen Wechsel von Dissimilation und
') Die periphere Theorie ist begründet von K. Lange
und W. James und ist seitdem in zahllosen Schriften für
und wider erörtert. Eine gute Übersicht in dem „Literatur-
bericht" von M. Kelchner, Archiv für System. Psych. .Will.
^)Über die im Lust — Unlustphänomen steckendenBewegungs-
erscheinungen vgl. besonders die Experimente H. Münster-
bergs,
Assimilation im Organ stattfinden, der Reizung,
„trophischer" Reize, wie Verworn sie nennt.')
Es besteht demnach in jedem Organ ein Bedürf-
nis, ein Trieb, gereizt zu werden. Wir können
ihn den Reizhunger oder den Reiz trieb
nennen. Infolgedessen wirken alle kräftigen, nicht
überstarken Lichteindrücke oder Schalieindrücke
auf den naiven Menschen so unmittelbar lustvoll,
eben weil sie diesem latenten Reizhunger ent-
gegenkommen. Beim Kulturmenschen durchkreuzen
freilich mancherlei Vorstellungen und besondere,
anerzogene seelische Konstellationen die naive Reiz-
lust, dergestalt, daß er allerlei qualitative Kom-
plikationen braucht, um starke Lust zu empfinden.
Aber auch diese kann sich letzten Endes doch
auf den primitiven Reizhunger zurückführen. -) Das
Streben zum „Verweilen" bei dem Reiz, zum
möglichst intensiven Auskosten, das wir oben er-
örterten, ist nur eine Sonderform dieses Reiz-
hungers.
Nur nebenbei wollen wir hier die Tatsache
erwähnen, daß in den Assimilationsvorgängen und
vielen Weiterleitungen auch die physiologische
Basis der Lust = Unlustgefühle mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit gesucht worden ist. Bei einem,
dem Gesamtsystem gut angepaßten Reizvorgang
tritt, wie Lehmann'') sagt „Bahnung" ein, d. h.
eine Verteilung der Erregung auf andere Zentra,
die dann ebenfalls lustvoll erregt werden. Wir
enthalten uns an dieser Stelle einer Kritik dieser
Anschauungen, die natürlich noch lange nicht rest-
los geklärt sind und vor allem für die Affektlust
und Unlust noch wichtiger, in dem peripheren
Nervensystem zu suchender Ergänzungen bedürfen.
-•=•■ *
Wir erörtern nur noch kurz die Frage nach
der biologischen Stellung von Lust —
Unlust. Seit Aristoteles, auf den ja fast alle
Teleologie in der Naturwissenschaft letzten Endes
zurückführt, hat man vielfach gerade in dem
Umstand, daß die Lustgefühle solche Erregungen
begleiten, die dem betreffenden Organ oder System
nützlich sind und daß deshalb die Lust unser
Begehren erwecke, die Gefühle teleologisch
zu erklären gesucht. Diese Teleologie aber ent-
spricht weder der kausalen Naturdeutung noch
den Tatsachen. Die von mir vertretene An-
schauung ermöglicht nicht nur eine durchaus
kausale Erklärung und Ausschaltung aller
Teleologie, sie trägt auch den Tatsachen besser
Rechnung. Wir sagten, daß wir unser in diesem
Fall oft trügerisches Bewußtsein ausschalten müssen,
daß wir nicht darum nach etwas streben, weil es Lust
verspricht, sondern daß wir Lust empfinden, weil
der betreffende Reiz ein Streben befriedigt, also
eine psychophysiche Spannung löst. Diese Er-
klärung ist durchaus kausal, ohne jede Teleologie.
') Vgl. Verworn: .Mlgemeine Physiologie ^ 520 ff,
••=) Vgl. meine „Psychologie der Kunst" Bd. II S. 2off.
'^) vgl. AI fr. Lehmann: Die körperlichen .Äußerungen
der psychischen Zustände. I 301 ff.
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
633
In unserem Nervensystem bilden sich physiko-
chemische Konstellationen, die als Trieb wirksam
werden und als Streben ins Bewußtsein treten:
stellt sich nun ein Reiz ein, der diese Spannungen
aufhebt, so wird er lustvoll bewertet, weil er
erstrebt war und weil er die latente Spannung
aufhob. In all diesen Fällen wäre auch nach
der alten Anschauung die Teleologie „unbewußt"
gewesen.
Aber auch wo der Vorgang „bewußt" ist, d. h.
wo eine Vorstellung des erstrebten Reizes dem
Reiz selber vorausging, ist die Sachlage im Grunde
dieselbe. Auch die den Willen auslösende Vor-
stellung wird nicht deshalb zu verwirklichen ge-
sucht, weil sie lustvoll ist, sondern nur darum ist
sie lustvoll, weil sie einem Trieb, einem Bedürfnis
entgegenkommt. Sind wir völlig gesättigt, so
vermag die Aussicht auf die sonst willkommenste
Mahlzeit uns kein Lustgefühl zu erwecken, weil
kein Streben, kein Bedürfnis danach vorhanden
war. Haben wir aber Hunger, so kann die Vor-
stellung der einfachsten Speise uns Lust erwecken,
weil jene Vorstellung eben einem Trieb, einem
Bedürfnis entgegenkommt. Wir sehen also, die
Teleologie ist durchaus bloß scheinbar, in Wirk-
lichkeit läßt sich der Vorgang rein kausal erklären.
Kein Reiz erweckt im teleologischen Sinne darum
Lust, um biologisch nützliche Begehrungen zu er-
regen; nein, wenn ein Reiz biologisch nützlichen
Begehrungen entgegenkommt, ist er von Lust
begleitet. Der biologische Nutzen ist dann nicht
das Ziel, sondern die Ursache des Lustgefühls.
Nur so läßt sich die Gefühlstheorie in durchaus
natürlicher Weise mit dem kausalen Denken ver-
einen. Die F"rage, warum überhaupt das Lust-
bewußtsein auftritt, ist dann nur ein Spezialfall
der anderen Frage, nach der Bedeutung des Be-
wußtseins im allgemeinen. Eine restlose Antwort
ist da heute nicht möglich. Die Lösung Mach's,
der zwischen dem Psychischen und Physischen
einen fu n kt io n al e n Zusammenhang annimmt,
ist heute wohl die dem Stande der Wissenschaft
genehmste. Jedenfalls bietet unsere Fassung der
Gefühlstheorie den Vorzug, auch nach dieser Seite
hin einen geschlossenen Kausalnexus der physio-
logischen Zusammenhänge zu ermöglichen, ohne
die Einführung teleologischer Momente nötig zu
machen.
*
Nur in kurzer Skizze konnte hier eine Richtung
der Gefühlspsychologie gekennzeichnet werden, in
der sich viele neuere Forscher bewegen und die
unter den verschiedensten Gesichtspunkten hin
reiche Aufschlüsse verspricht. Die damit ver-
worfene Einschränkung der Gefühle auf Lust —
Unlust hat geradezu versperrend gewirkt. Wird
damit gründlich aufgeräumt, so wird der Weg
frei zu Erkenntnissen, die auch fürs Leben fruchtbar
werden können. Nur angedeutet sei, daß besonders
auf ethischem Gebiete der Ausschluß des Quali-
tativen in der Bewertung die groben Verallge-
meinerungen des landläufigen Hedonismus auf
dem Gewissen hat. Indem man nur von einem
Streben nach Lust im allgemeinen redete, gar
nicht erkannte, welche Bedeutsamkeit der Frage
nach der Art der erstrebten Lust zukommt, ver-
fehlte man die Möglichkeiten sehr ergiebiger
Lösungen. Und auf ästhetischen, religions-
psychologischen, ja jedem wertpsychologischen
Gebiete ist die Sachlage ähnlich. Wir können
es aussprechen : niemals wird das Wertproblem
rein quantitativ zu lösen sein. Erst durch
Einführung von Qualitätsunterschieden kann
eine ersprießliche Lösung möglich werden. Dafür
aber ist Voraussetzung, daß man den Bann der
einseitigen Lust — Unlusttheorie bricht und der viel
bunteren psychologischen Tatsächlichkeit volle
Rechnung trägt.
Einzelberichte.
Physik. Mit der Elektrochemie der Taschen-
lampenbatterien beschäftigt sich eine Arbeit von
K. Arnd (Charlottenburg) in der Zeitschrift für
Elektrochemie XXIII, 161 (191 7). Die während
des Krieges in vielen Millionen Exemplaren ge-
brauchten Batterien bestehen aus drei hinterein-
ander geschalteten Zink-Kohle-Trockenelemcnten.
Als positiver Pol wird Bogenlichtkohle verwendet,
die nach Art der Leclanche-Elemente mit einem
Gemisch mit gepulvertem Graphit und Braunstein
umgeben ist. Das Ganze wird mit Gazestoff und
Fäden umwickelt und bildet die „Puppe". Diese
wird in den becherförmigen negativen Zinkpol
hineingeschoben und füllt ihn fast ganz aus. Der
schmale Zwischenraum wird mit einem an-
gefeuchteten Gemisch aus Ammoniumchlorid,
Zinkchlorid und Mehl ausgefüllt, das als Elektrolyt
dient. Gummiringe und Pappscheiben verhindern
eine unmittelbare Berührung der beiden Pole.
Die drei Elemente werden von Pappe umhüllt,
der Zwischenraum zwischen den Bechern mit
Sägespänen ausgefüllt und das Ganze oben mit
Pech verschlossen. Der Kohlepol des letzten
Elements ist mit einer Metallkappe versehen; an
diesem ist ebenso wie an dem Zinkpol des letzten
Bechers auf der anderen Seite ein Metallstreifen
befestigt, der die Verbindung mit der Lampe her-
stellt. Die auf der Umhüllung angebrachten Zahlen
geben über das Jahr und die Woche der Her-
stellung Aufschluß; so bedeutet z. B. 6—17, daß
die Batterie in der sechsten Woche des Jahres 191 7
hergestellt worden ist.
Die mit einem Voltmeter von sehr großem
Widerstand gemessene Klemmspannung der Batterie
beträgt 4,5 Volt; sie soll, wenn die Batterie nicht
benutzt wird, nach vier Wochen nicht unter 4,2
634
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
sinken. Ihr innerer Widerstand, mit Wheatstone'scher
Brücke, Induktor und Telephon gemessen, ist
0,7 — I .0; er steigt durch Entladung auf 2 S und
mehr. Seine Größe hängt von der Art des ver-
wendeten Graphits ab, dessen Widerstand durch
den Zusatz von Braunstein sehr erhöht wird. Zur
Prüfung der Leistung der Batterie eignet sich be-
sonders folgendes Verfahren: iVIan entlädt die
Batterie mit der konstanten Stromstärke von 0.2 A,
die sie auch beim Betrieb der Taschenlampe
angenähert zu liefern hat, und mißt nun zu ver-
schiedenen Zeiten die Spannung. Die Leistungen
sind sehr ungleich. Bfi einer guten Batterie fiel
die Spannung nach 167 IVIinuten auf 2 Volt ab,
bei einer mittelguten nach 120 und bei einer
schlechten schon nach 74 Minuten. Der ersteren
konnte man 230 Minuten einen Strom von 0,2 A
entnehmen, dann sank die Spannung auf 1,5 Volt.
Die gelieferte Strommenge beträgt in diesem Fall
0,2 X 230= 46 Ampere-Minute = rund | Ampere-
stunden. Mittels der Entladungskurve ließ sich
die Leistung zu rund 2 Wattstunden ermitteln,
was einer mittleren Entladungsspannung von
2,6 Volt entspricht. Doch ist die Batterie durch
diese Entladung bis zu 1,5 Volt nicht erschöpft,
am nächsten Tage hat sie sich erholt und zeigt
eine Spannung von 3,2 Volt, die allerdings sofort
beim Einsetzen der Entladung auf 2 Volt abfäUt.
Man kann ihr im ganzen 294 Minuten lang 0,2 Amp.
entnehmen, was einer Elektrizitätsmenge von
0,98 Amperestunden entspricht. Der Widerstand
einer neuen Glühbirne beträgt etwa 17 ß. Die
der Batterie bei ihrer Verwendung in der Taschen-
lampe entnommene Stromstärke ist also anfangs
größer als 0,2 A, später wird sie kleiner. Die
Folge ist, daß die I3atterie mehr leistet, da die
Belastung geringer ist. Die Leistung der besten
läßt sich auf 3 Wattstunden schätzen, d. i. für
I kg Gewicht 24 Wattstunden, so daß sie den
besten Akkumulatoren in dieser Beziehung eben-
bürtig sind. Nach Erschöpfung der Batterie sind
noch I vom Sauerstoff vorhanden. Längeres
Lagern schadet den Batterien sehr: Sauerstoff geht
verloren und das Zink wird aufgefressen. Nach
einem halben Jahre beträgt die Leistung nur noch
75 "/q einer frischen. K. Seh.
Die Frage nach dem Raumgefüge der ver-
schiedenen Kohlenstoffmodifikationen wird in emer
Arbeit von P. Debye und P. Scherrer: In-
terferenzen an regellos orientierten Teilchen im
Röntgenlicht III in der Physik. Zeitschr. XVIII
(1917) 291 beantwortet. Die Röntgenstrahlen
haben sich ja, wie vor kurzem in dieser Zeitschrift
ausführlich dargelegt wurde, als ein vorzügliches
Mitlei erwiesen, den Feinbau von Kristallen zu
ermitteln. Während die Laue'sche und die
Bragg'sche Methode zur Untersuchung wohl-
ausgebildeter Kristalle von bekannter Kristallform
zur Untersuchung bedürfen und während nament-
lich bei der ersteren die zahlenmäßige Auswertung
der Röntgenogramme wegen ihrer zahlreichen
Einstiche, die durch die Reflexion von Strahlen
verschiedenster Wellenlänge an zahlreichen ver-
schieden orientierten Neizebenen hervorgerufen
werden, beträchtliche Schwierigkeiten macht, ja in
vielen Fällen nicht möglich ist, ist die von Debye
und Scherrer angegebene Methode wesentlich
einfacher. Rufen wir uns das Prinzip der Methode
ins Gedächtnis zurück: Aus der pulverisierten zu
untersuchenden Substanz wird ein kleines Stäbchen
geformt und in das Innere einer zylindrischen
Kamera gebracht. In diese dringt senkrecht
zur Achse ein schmales Büschel monochromatisches
Röntgenlicht (Wellenlänge /.). Alle diejenigen
Netzebenen (ihr gegenseitiger Abstand ist d), die
so orientiert sind, daß die Strahlen unter dem
Glanzwinkel a auffallen, reflektieren in maximaler
Intensität; es besteht die Gleichung n-A = 26
sin «, n= I, 2, 3 . . . Die reflektierten Strahlen
liegen auf Kegeln, deren Achse das auffallende
Büschel und deren Spitze das Stäbchen ist. Auf
einem der Zylinderwandung anliegenden Film
werden die Helligkeitsmaxima als Schnittlinien der
Kegel mit dem Zylinder abgebildet. Aus der
ein en Aufnahme kann man nicht nurdas
Kristallsystem, sondern auch das Raum-
gitter erschließen.
Durch Verbesserung der Methode gelang es
bei der Untersuchung des Graphits, von dem
vier Sorten bestrahlt wurden, die Genauigkeit der
Winkelmessung auf zwei pro Mille zu steigern.
Als Strahlungsqurlle wurde Kupferröntgenlicht be-
nutzt,dasvornehmlichdie Wellenlänge 1,549- io~'*cm
und daneben in schwächererintensität 1,402- io~*cm
enthält. Das Ergebnis ist, daß Graphit, über
dessen Kristallform bisher keine Einstimmigkeit
unter den Forschern zu erzielen war, trigonal
kristallisiert. Der Elementarkörper ist ein R h o m -
boeder, dessen Ecken und Seitenflächenmitten
mit Kohlenstoffatomen besetzt sind. Durch
Photometrierung der Linien des Röntgenogrammes
ergeben sich die Intensitäten derselben ; aus diesen ist
zu schließen, daß zwei dieser flächenbesetzten Gitter
ineinandergestellt sind und zwar liegen dieselben
so, daß in gleichen Abständen von 3,41 -lo^* cm
Ebenen (in) (ihr Index ist bezogen auf die
Kanten des Rhomboeders), aufeinanderfolgen, die
die Kohlenstoffatome enthalten. In jeder dieser
Ebenen liegen die Atome in den Ecken eines
regulären Sechsecks, dessen Mitte nicht besetzt ist;
die Seite des Sechsecks, also der kürzeste Abstand
zweier Atome ist 1,45- lO'* cm. Die Ebenen sind
lückenlos mit Sechserringen besetzt In benach-
barten Ebenen liegen die Atome nicht senkrecht
übereinander. Verläßt man eine Ebene vom Eck-
punkt eines Sechsecks aus in Richtung der Nor-
male, dann trifft man zunächst zweimal auf die
unbesetzte Mitte eines Sechsecks, um erst in der
dritten Ebene auf eine mit einem Atom besetzte
Ecke zu stoßen, usf Sehr interessant ist die
Folgerung für die Valenzen, die sich aus dieser
Gruppierung ergibt. Von den vier Wertigkeiten
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
635
des Kohlenstoffatoms sind drei gleichwertig, sie
liegen, Winkel von 120" miteinander bildend, in
einer Ebene (ili) und stellen den Zusammenhang
mit den 3 benachbarten Atomen her. Die vierte
ist völlig von diesen verschieden, sie stellt ab-
wechselnd nach unten und nach oben die Ver-
bindung mit den benachbarten Ebenen her. Da
der Abstand von einer Ebene zur andern größer
als die Seite des Sechsecks ist, liegt die Ver-
mutung nahe, daß jene Bindung lockerer ist. Das
wird durch Erfahrung bestätigt, indem der Graphit
parallel zu den (iii) Ebenen besonders leicht
spaltbar ist. Ferner zeigt sich, daß die von diesen
Netzebenen erzeugten Linien des Röntgenogramms
nur dann gut ausgebildet sind, wenn das Graphit-
pulver aus dem das Stäbchen hergestellt ist, ganz
locker ist. Durch Pressung bei seiner Formung
wird der Abstand der Ebenen und damit die
Lage der Linien verschoben.
Der Elementarkörper des Diamanten ist
nach den Untersuchungen der Braggs im Jahre
1913 ein Würfel von der Kante 3,53- lO""* cm,
dessen Flächenmitten wie bei den Rhomboedern
des Graphits mit Atomen besetzt sind. Zwei in-
einandergestellte Gitter von diesem Bau bilden
sein Raumgitter und zwar ist der zweite Würfel
um ein Viertel der Würfeldiagonale relativ zum
ersten verschoben. Eine interessante und auf-
fallende Gesetzmäßigkeit zeigt sich zwischen den
Elementargebilden der beiden Kohlenstofifmodi-
fikationen : Projiziert man den Würfel des Dia-
manten und das Rhomboeder des Graphits auf
eine Ebene, die senkrecht zur Raumdiagonale
liegt, dann erhält man in beiden Fällen Sechsecke,
die nicht nur der Form, sondern auch der wirk-
lichen Größe nach gleich sind. Daraus folgt, daß
die Diagonalen von Diamant und Graphit sich
umgekehrt wie die Dichten der beiden Stoffe ver-
halten ; durch Einsetzen der Werte erhält man
für das erste Verhältnis 0,598, für das zweite 0,62.
Ein großer Unterschied besteht für beide Sub-
stanzen in den Wertigkeiten ; während das Graphit-
atom drei Haupt- und eine Nebenvalenz zeigt,
sind beim Atom des Diamanten die Valenzen
absolut gleichwertig. Die Analyse mittels Röntgen-
strahlen bestätigt durchaus die Anschauung der
Chemie, die dahin geht, daß die Valenzen nach
den Ecken eines Tetraeders gerichtet sind, in
deren Mitte das Atom des Diamanten sich befindet.
Eine Frage von großer Wichtigkeit und außer-
ordentlichem Interesse ist nun die nach dem P'ein -
bau der amorphen Kohle: liegen ihre Atome
regellos durcheinander oder gibt es ein Kohlen-
stoffmolekül mit charakteristischer Verkettung der
Atome? Gleich die erste Aufnahme Debye's
und Scherrer's zeigte, daß eine regelmäßige An-
ordnung der Atome vorhanden sein muß; es
fanden sich nämlich Linien auf ihr, die allerdings
ziemlich breit und verwaschen waren, so daß sie
besser als Helligkeits-Maxima und Minima be-
zeichnet werden. Die genauere Ausmessung der
Photogramme ergab, das die Maxima an derselben
Stelle liegen wie beim Graphit. Daraus geht her-
vor, daß der Feinbau der amorphen Kohle
und des Graphits nicht wesentlich ver-
schieden ist. Durch die Untersuchung von
sieben aut verschiedene Weise hergestellten Kohlen-
stoffarten wurde dieses Resultat bestätigt. Die
theoretische Betrachtung zeigt , daß die Breite
der Linien von der Korngröße des Pulvers ab-
hängt; je kleiner diese ist, desto breiter und ver-
waschener werden die Linien, ohne indessen dabei
ihre Lage zu ändern. Der Unterschied zwischen
Graphit und amorpher Kohle ist also physikalischer
Natur: es liegt eine verschieden feine Pulverisierung
ein und desselben Kristallgefüges vor. Amorphe
Kohle ist Graphit in einer so feinen
Verteilung, wie sie durch mechanische Mittel
niemals erreicht werden kann; nur etwa 30 Atome
finden sich in einem Kristall. Je nach Art der
Herstellung wird die Breite, nicht aber die Lage
der Linien in gewissen Grenzen variiert. Der
Molekelaufbau als Ganzes ist derselben geblieben;
die Unterschiede beruhen auf gröberer oder feinerer
Pulverisierung.
Wenn man lediglich den Feinbau berücksichtigt,
gibt es demnach nur zwei Modifikationen des
Kohlenstoffs: den Diamanten und den Graphit.
Die Verschiedenartigkeit der Valenzen der beiden
Atome kommt auch in den chemischen Eigen-
schaften zum Ausdruck, insofern als der Diamant
durch Salpetersäure nicht angegriffen wird, während
Graphit und Kohle Melliihsäure liefern, die als
Benzolhexacarbonsäure (Cg(C02H)8) noch das
reguläre Sechseck der Muttersubstanz im Benzol-
kern bewahrt hat. Der Kohlenstoff in der Form
des Diamanten erscheint als Prototyp der alipha-
tischen Chemie mit dem an der Spitze der Über-
legungen stehenden Kohlenstoff- Tetraeder. Graphit
und amorphe Kohle dagegen bilden die durch das
Auftreten der Sechsecksstruktur augenfällig ge-
kennzeicheten einfachsten Stufen der aromatischen
Chemie, welche den Benzolring als Hauptmerkmal
führt. Seh.
Zoologie. Beobachtungen und Versuche über
Spermatogenese in Gewebekulturen. Während in
Pathologie, Physiologie und Entwicklungsmechanik'
die Methode der Kultur von Gewebestücken
außerhalb des Organismus in den letzten Jahren
mit steigendem Erfolge Anwendung gefunden
hat, ist in der Zellforschung bisher kaum von
ihr Gebrauch gemacht worden. Über einen
Versuch, die Methoden der Explantation auf
die Geschlechtszellen von Wirbellosen anzu-
wenden und die Spermatogenese in vitro zu
studieren, berichtet Goldschmidt'). Seine
Ergebnisse berechtigen ihn zu der Hoffnung, daß
sich hier der experimentellen Erforschung der
Geschlechtszellen ein Gebiet erschließt, das noch
reiche Resultate liefern wird.
') Goldschmidt, R. Versuche zur Spermatogenese in
vitro. Arch. f. Zellforsch., Bd. 14, 191 7.
636
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
Zu seinen Untersuchungen benutzte Gold-
schmidt einen Schmeiterlinp;, Samia cecropia L.
Die Anfertigung der Kulturen bot keine besonderen
Schwierigkeiten. Die wichtigste Vorbedingung
für das Gelingen der Experimente ist die Sterilität.
Nach Sterilisierung aller zu benutzenden Instrumente
und Apparate wird die Schmeiterlingspuppe dem
Kokon entnommen und auf einige IVlinuten in
QÖ^/oigen Alkohol gebracht, was ihr nicht weiter
schadet, zur Sterilisierung aber genügt. Hierauf
wird die Puppe in der dorsalen Mittellinie an-
geschnhten, mit einer Pipette möglichst viel Blut
entnommen und dieses in einen hohlgeschliffenen
Objektträger gebracht. Sodann werden die Hoden
herausgepreßt und in der Blutflüssigkeit zerzupft.
Die in Menge herausfallenden Hodenfollikel werden
in einem Tropfen Hämolymphe auf ein Deckglas
gebracht, auf einem hohlgeschliffenen Objektträger
im hängenden Tropfen montiert und mit Vaseline
verschlossen. Ist die Kultur völlig steril, so leben
die Geschlechtszellen in ihnen bis zu drei Wochen
und können die ganze Spermatogenese durchlaufen.
Weit lebensfähiger sind in den Kulturen die
Follikel- und Blutzellen, die nach dem Abstetben
der Samenzellen mit einem außerordentlich regen,
gewebebildenden Wachstum beginnen, eine eigen-
artige Erscheinung, die Goldschmidt in einer
besonderen kleinen Abhandlung') beschreibt. In
einer Kultur lebten diese Zellen noch nach
einem Jahrl Auffällig ist, daß sich die weibliche
Hämolymphe besser als Kulturmedium eignet als
die männliche. Daß die Hämolymphe vieler
Insekten in den beiden Geschlechtern chemisch
verschieden ist, wissen wir ja bereits aus den
Untersuchungen von Steche.
Die Spermatogenese der Schmetterlinge wurde
bisher von Meves am genauesten studiert. Die
Beobachtungen Goldschmidt 's am lebenden
Objekt stehen in sehr erfreulicher Übereinstimmung
mit denen von Meves am gefärbten Präparat.
So ziemlich alles, was dieser beschrieb, konnte
Goldschmidt auch in der Gewebekultur ver-
folgen, das Verhalten der Mitochondrien, die
Reifungsteilungen, die Bildung der Achsenfäden
und die Umwandlung der Spermatiden in die
funktionsfähigen Samenfäden. Dazu kommen noch
manche Beobachtungen, die sich nur im Leben
machen lassen. Leider läßt sich nicht die ganze
Spermatogenese an einer einzigen Zelle verfolgen,
da die frühesten Stadien zu langer Zeit bedürfen.
Immerhin konnten die Reifungsteilungen und die
Bildung der Samenfäden am gleichen Follikel
studiert werden. Die Dauer der Prozesse hängt
natürlich sehr von der Temperatur ab. Bei Zimmer-
temperatur entwickelte sich z. B. die Spermatozyte
in 3—4 Tagen zur Spermie, im Brutschrank bei
26" benötigte sie nur einen Tag dazu.
Besonderes Interesse verdienen Goldschmidt 's
') Goldschmidt, K. Notii über einige bemerkenswerte
Erscheinungen in Gewebekulturen von Insekten. Biol. Centralbl.,
Bd. 36, 1916.
Beobachtungen über die erste Bildung des Achsen-
fadens und über die Vorgänge, deren Resultat die
Bildung eines Spermienbütidels ist, zumal da er im
Anschluß an seine Beobachtungen eine Reihe von
Experimenten ausführte, die einiges Licht auf die
physikalischen Faktoren werfen, die den Ablauf
der normalen S[)ermatogenese bedingen.
Es ist eine Besonderheit der Spermatogenese
der Schmetterlinge, daß die Achsenfäden bereits
vor den Reifungsteilungen gebildet werden. In
der Gewebekultur sieht man, wie sich die dem
Follikelinnern zugekehrte Zelloberfläche der jungen
Spermatozyten mit zahlreichen zottenartigen Pseudo-
podien bedeckt. Eines von diesen Pseudopodien
wächst schließlich zu einem völlig starren und
geraden Gebilde aus, dem typischen Achsenfaden,
an dessen Basis sich das Zentrosom befindet, und
dessen Spitze mit einem Plasmakügelchen endet,
das offenbar bei dem weiteren Wachstum des
Achsenfadens Verwendung findet. Kurz vor den
Reifungsteilungen teilt sich das Zentrosom jeder
Spermatozyte in zwei, die Achsenfäden teilen sich
in vier, von denen jede Spermatide einen erhält.
Nach Ablauf der Reifungsteilungen verändert der
Hodenfollikel alsbald seine Form. Bis dahin war
er kugelig, umgeben von einer dünnen, zelligen
Follikelmembran und ausgekleidet von einer Lage
Samenzellen, deren Achsenfäden alle nach dem
Zentrum der Follikelhöhle zu konvergieren. Nun-
mehr wird er plötzlich länglich oval, seine Zellen
rücken an den einen Pol des Ovals, drängen sich
hier dicht zusammen und nehmen eine hohe,
zylindrische Gestalt an, die Achsenfäden ordnen
sich bündelweise parallel an. Indem dann nach
Art einer Pseudopodienbildung das Protoplasma
der Spermatide dem Achsenfaden entlang zum
Schwanzfaden des Spermatozoons auswächst,
strecken sich die Follikel mehr und. mehr in die
Länge, und so entsteht schließlich das charak-
teristische Spermienbündel.
Um den Einfluß veränderter Konzentration
des Mediums auf den Ablauf der Spermatogenese
festzustellen, versetzte Goldsch midt die Hämo-
lymphe mit Ringer'scher Lösung von verschiedener
Konzentration. Wurde die Gewebekultur in reiner
Ringer-Lösung angelegt, so zeigten die Hoden-
follikel ein sehr merkwürdiges Verhalten. Alle
Follikel waren am Tage nach der Anfertigung der
Präparate geplatzt und die Zellen in morulaartigen
Haufen aus der Follikelmembran ausgetreten. An
allen Zellen, mochten es Spermatogonien oder
Spermatozyten irgendwelchen Alters sein, traten
dann Zotten, Pseudopodien und Achsenfäden auf,
und zwar unterschieden sich die Prozesse kaum
von den normalen Vorgängen. „Es scheint somit,"
sagt Goldschmidt, „daß durch chemischen
bzw. osmotischen Reiz Zellen vor der normalen
Zeit der Achsenfadenbildung zu einer solchen an-
geregt werden können; woraus sich vielleicht
schließen läßt, dsß auch der normale Vorgang
durch eine entsprechende Veränderung in der Be-
schaffenheit der P'ollikelhöhlenflüssigkeit bedingt
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
637
wird. Das frühzeitige Auftreten der Achsenfäden
in den Spermatozyten der Lepidopteren wäre also
gewissermaßen nur eine Zufallserscht-inung, die aber
mit der Notwendigkeit einer Reaktion eintreten
muß, weil die betreffenden physikalischen Ver-
änderungen innerhalb des Follikels, die sie be-
dingen, hier schon in jungen Follikeln eintreten."
Außer den Achsenfäden entstanden in den Ringer-
Kulturen aber auch Gebilde, die in der normalen
Spermatogenese fehlen: Vornehmlich in der Wärme
bildeten die Zellen jeden Alters und jeder Art
eine oder mehrere Geißeln. Die Geißelbildung
geht ebenfalls von einem Pseudopodium aus. Das
Pseudopod fließt aus der Zelle vor, erreicht rasch
eine beträchtliche Länge, seine Achse geht dann
offenbar in den Gelzustand über, während eine
flüssige Protoplasmahülle die feste Achse zunächst
noch in Tropfenform, dann gleichmäßig verteilt
überzieht. Sinkt die Temperatur, so können die
Geißeln wieder eingezogen werden; sie werden
tropfig, verwandeln sich wieder in Pseudopodien
und fließen in die Zelle zurück. In reiner Ringer-
Lösung lebten die Zellen bis zu fünf Tagen, in
der Wärme nur zwei Tage.
Zum Verständnis des Auswachsens der kugeligen
Samenzelle in das fadenförmige Spermatozoon kön-
nen Versuche mit hypertonischen und hypotonischen
Medien beitragen. Im hypertonischen Medium, das
durch systematisches Emdicken der Häniolymphe
gewonnen wird, wachsen sämtliche Zellen in die
Länge. Je stärker das Medium eingedickt ist,
desto länger wachsen die jungen Spermatiden und
älteren Spermatozyten aus, es entstehen lange
Fäden, „PseudoSpermien". Daß der Vorgang eine
direkte physikalische Reaktion ist, geht daraus
hervor, daß sich das Auswachsen der Samenzellen
durch den Grad der Eindickung regulieren läßt.
Bis zu einem gewissen Stadium ist der Prozeß
reversibel. Kann die FoUikelmembran — diese
muß unversehrt sein, wenn das Auswachsen er-
folgen soll — den normalen Turgor des Follikels
durch Wasseraufnahme wiederherstellen, so kehren
die Zellen zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurück.
Es sei noch erwähnt, daß bei diesen Experimenten
die Zellen nicht wie bei der normalen Sperma-
togenese in die Follikelhöhle hinein, sondern
nach außen wachsen. Beim normalen Auswachsen
der Spermatide muß also der hypertonische Zu-
stand innerhalb der Follikelhöhle eintreten.
Sind auch die bisherigen Versuche Gold-
schmidt's erst kleine Anlange in der Richtung
einer experimentellen Analyse der zytologischen
Vorgänge bei der Entwicklung der Samenzellen,
so erscheint doch der Weg, den er eingeschlagen
hat, recht vielversprechend. Bei weiterem Ausbau
der Technik der Gewebekuhur und der experi-
mentellen Seite dürfte sich noch manches wichtige
Resuhat erzielen lassen. Vielleicht läßt sich auf
diese Weise auch das Problem der oligo- und
apyrenen Spermien einer Lösung zuführen. Über
die Funktion dieser abnormen Samenfäden wissen
wir bisher nichts. Goldschmidt hält es für
sehr wohl möglich, daß „eine kleine physikalische
oder chemische Besonderheit des Follikels zu-
fälliger Natur genügen könnte, um zwangsläufig
eine solche abnorme Entwicklung herbeizuführen,
die entsprechend der Spezifität des Samenzell-
plasmas auch spezifisch wäre." Die atypischen
Spermien hätten nach dieser Anschauung also gar
keine Funktion, sondern wären lediglich ein „lusus
naturae".
Zum Schluß sei noch auf die Ähnlichkeit hin-
gewiesen, die die von Goldschmidt festgestellten
Vorgänge bei der Bildung des Achsenfadens in
der Spermatogenese mit den kürzlich mitgeteilten
Beobachtungen Doflein's'j über die Entstehung
der Achsenfäden in den Pseudopodien der Rhizo-
poden haben. Doflein hat mit großem Erfolg
bei seinen Untersuchungen die Dunkelfeld-
beleuchtung angewandt. Es dürfte sehr von Vorteil
sein, wenn auch die Gewebekulturen von Geschlechts-
zellen Wirbelloser in Zukunft vermittels dieser
Methode studiert würden. Nachtsheim.
Botanik. Tropische und subtropische Moore
auf Ceylon und ihre Flura. Das erste tropische
Moor wurde 1891 auf Sumatra entdeckt und von
Koorders eingehend beschrieben, nachdem
Potonie auf die große Bedeutung dieses Vorkom-
mens namentlich für die Frage nach der Entstehung
der Kohlenlager hingewiesen hatte. Später be-
richtete Janeusch über Torfmoore in Ostafrika.
Erst 19 13 entdeckte dann Keilhack auf
Ceylon ein tropisches sowie zwei im subtropi-
schen Klima gelegene Moore, von denen eins
nach Keil hack das erste im subtropischen
Gebiet nachgewiesene Hochmoor darstellt. Im
Mittelpunkt des im südlichen Teile der Insel
gelgenen hohen Gebirges liegt das 6 km lange,
400 bis 600 m breite Hochtal von Nurelia,
dessen südlichster Teil ein See, der Lake Gregory,
ausfüllt. Rings um den See schließt sich nun ein
typisches Flachmoor an, dessen tiefschwarze Torf-
decke 30—40 cm dick ist. Wie man deutlich
erkennt, ist es durch Verlandung des ehedem
größeren Sees entstanden. Unmittelbar an ihn
schließt ein Gürtel von Jiincus- und Scirpus-
Büscheln , zwischen denen sich Gruppen von
Eriocaidon- , Hydrocoiylc- und Polygonittn- hritn
finden; dann lolgt ein Gürtel, in dem mächtige
Eriocaulon-^ühen vorherrschen, gemischt mit
kleineren Gewächsen, Gräsern und Blütenpflanzen.
Sie treten in der weiteren Umgebung immer mehr
an die erste Stelle. Die größte Breite des ganzen
Moores erreicht kaum 200 m. K e i 1 h a c k sammelte
51 höhere Gefäßpflanzen. Farne und Bärlappe
vertreten die Archegoniaten. Die Gramineen mit
9 Arten, 6 Arten von Cyperaceen und die an
Eriophorum erinnernden Enocaulon-^\x%c\\^ sind
') Doflein, F. Zell- und Protoplasmastudien, Unter-
suchungen über das Protoplasma und die Pseudopodien der
Rhizopoden. Jena 1916. (Siehe den Bericht im vorigen Jahr-
gange dieser Zeitschrift. Seite 661.)
638
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
die Haupttorfbildner. Die Arten von Pulygoiiiini,
JuHCHS, Drosera, der Doldenblütler [Hydrocotyle),
Kompositen {GnapItaliiDii) und anderer Gruppen
erinnern sehr an heimische Torfmoorformen , so
daß das Flachmoor von Nurelia im ganzen keine
übermäßigen Abweichungen von unseren Mooren
aufweist. Nun wird es von einem 5 —30 m ansteigen-
den, '/a — ^/t m mächtigen Gehängemoor umgeben,
das wie in geologischem Bau auch in der Flora
von jenem auffällig verschieden ist, stimmen doch
von 39 hier gesammelten Arten nur 7 mit Arten
des Hachmoors überein. Während dort Bäume
und Sträucher völlig fehlen, trägt das Gehänge-
moor verkrüppelte, höchstens 3 — 4 m hohe ver-
kümmerte Exemplare von Rhododendron arboreum
Sm., das sonst im Urwald bis 15 m hohe Bäume
bildet. Sie erinnern sehr an unsere Moorkiefern.
Hier muß auch an das schöne gelbblühende
Rhododendron flaviim unserer Gärten erinnert
werden, das, im Kaukasus heimisch, nach Fax
auch auf den Torfmooren Wolhyniens gedeiht.
Sträucher und Moose fehlen fast völlig, dagegen
finden sich wiederum einige Farne und Bärlappe und
viele Gräser; neben letzteren treten noch zahlreiche
andere Familien auf, kommen aber als Torfbildner
nicht in Frage. Dieses Gehängemoor ist das Er-
gebnis des im Vergleich zu dem Flachmoor sehr
erheblichen Mangels an mineralischen Nährstoffen,
wird es doch nur vom Regen befeuchtet. Da
dies die für Hochmoore typischen Bedingungen
sind, glaubt Keilhack das Gehängemoor nicht
als Zwischenmoor, sondern trotz völligen Fehlens
von Moosen als Hi)chmoor bezeichnen zu können.
Ist diese Auffassung richtig, so wäre damit der
Beweis für die Existenz von Hochmooren wenigstens
im subtropischen Klima erbracht. Denn obwohl
das Gebiet unter 7" n. Br. liegt, bedingt die Höhen-
lage (1850 m) rein subtropische Verhältnisse in
Temperatur, Niederschlag und Flora. Bemerkens-
werte Anklänge an die Hochmoore unserer Breiten
bieten die häufige Ausbildung stark behaarter
Stengel und Blätter, also xerophiler Merkmale, die
typische Wuchsform der meisten Moorpflanzen in
einzelnen Büschen oder Bülten, sowie die Tatsache,
daß die Ufer der das Moor durchfließenden Bäche
wie unsere Moorrüllen eine völlig abweichende
Vegetation aufweisen. Infolgedessen bieten die
Moore von Nurelia den gleichen Anblick wie die
unsrigen. Auch die Flora zeigt auffallende Über-
einstimmung, sind doch von 32 Familien nur 3 in
unseren Mooren nicht vertreten und selbst unter
den Gattungen sind mehr als die Hälfte die gleichen,
wenn natürlich auch die Arten fast alle völlig ver-
schieden sind. Ein zweites Moor traf Keil hack
am Talagalla, dem höchsten Berge der Insel,
in 2250 m Höhe, dessen aus meist endemischen
Arten bestehende h'lora von der vorher geschilderten
sehr abweicht. Danach finden sich im subtropischen
Khma Ceylons also Torfmoore, die dem euro-
päischen Typus der Flach- und Hochmoore ent-
sprechen und als reines Grasmoor oder als Erio-
caulo}i-Moor entwickelt sind.
Nach langem Suchen fand Keilhack auch
echte tropische Moore, die sich an der Südspitze
der Insel über eine große Strecke des flachen
Küstenlandes erstrecken. Das ganze Gebiet liegt
im tropischen Regenwald und weist zahlreicheRinnen
und Becken auf Sie sind überall dort, wo die
zur Schwarzwasserbildung führenden regelmäßigen
Überschwemmungen durch Hußwasser fehlen, mit
echtem Torf erfüllt. Den Untergrund bilden
subfossile Madreporenriffe.- Kleine Inseln von
niedrigen Bäumen und Büschen durchsetzen das
flache Grasmoor, die ihrerseits von einem dichten
Geflechte üppiger Schlingpflanzen überzogen sind.
Das Moor bietet daher einen ganz anderen Anblick als
unsere Moore. Auffallend ist, daß Farne, Gräser und
Leguminosen zwei Fünftel der Flora ausmachen.
Xyridaceen und Eriocaulaceen, die im Nureliamoor
so häufig sind, treten hier stark zurück und sind
nur mit je einer Art vertreten. Unter den F"arnen
finden wir auch zwei kletternde Formen, Lygodiuni
scandens (L.) Sw. und Gleichenia linearis L. Zu
den höheren Holzgewächsen gehört die schon von
dem afrikanischen Tropenmoor bekannte Barring-
tvnia raeei/iosa Bl. ; die Rhizophoracee Bnigitiera
gyiiuiorrhi::a Lam. ist eine echte Mangrove. Da-
neben sind andere Baumgewächse vorhanden, die
zu Euphorbiaceen, Melastomaceen , Myrtaceen,
Apocynaceen und Ochnaceen gehören. Sie alle
sind mit einem dich en Netz von Kletterpflanzen
überzogen, neben den genannten zwei Farnen
einem Gras, Leersia hexandra, Gloriosa sitperba
L., einer Kletterlilie mit prächtigen roten Blüten,
Passiflora foefida L. und anderen. Brett- oder
Stützwurzeln und Pneumaiophoren wie in Sumatra
fehlen vollständig. Wie in den subtropischen
Mooren sind auch hier Moose kaum vorhanden;
im Gegensatz zu jenen fehlt jegliches xerophiles
Merkmal. Da auch die Flora eine ganz andere
ist, haben wir trotz geringer räumlicher Entfernung
zwei ganz verschiedene Moorvegetationen vor uns.
Von einer Ähnlichkeit mit unseren Mooren, wie
sie bei den Nureliamooren so stark ausgeprägt ist,
kann hier keine Rede sein, da uns ganz neue, von
den unsrigen stark abweichende Pflanzenformen
entgegentreten. Während sich 90"/,, der sub-
tropischen Familien (der Gattungen noch 55"/,,)
auch bei uns finden, gilt dies für die tropischen
nur von 58 "/u (Gattungen: 18%). (Vorträge a. d.
Gesamtgebiet d. Botanik. H. 2. 191 5; Tropische
und subtropische Moore. Jahrbuch preuß. Geol.
Landesanstalt 36. H. 2. 1916. Letztere Arbeit ent-
hält auch zahlreiche Einzelphotogramme der cey-
lonischen Moorpflanzen und Vegetationsbilder).
Kr.
Interessante Beobachtungen über das Leben
einiger niederer Pflanzen enthält der 65. Band der
Österreichischen botanischen Zeitschrift (1915).
So beschreibt Fritz von Wettstein eine von
ihm als Alge aus der Gruppe der Siphoiieae be-
trachtete Pflanze, die in ihrer Lebensweise an
einen Nostoc gebunden ist [Geosiphon [Bofrydiiim)
N. F. XVI. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
639
/^)77/(?/-w^ (Ktz.) Fr. Wettst.). Sie fand sich zahl-
reich aul Krautfeldern in der Nähe von Krems-
münster (Oberösterreich) in Form kleiner schwarzer
Pünktchen. Bei näherer Untersuchung erwies sich
aber, daß jedes Individuum mehrere (bis 30)
birnenförmige Blasen bildet, die durch ein weit
verzweigtes, in Hauptachse und zahlreiche Seiten-
zweige gegliedertes Rhizoidengeflecht verbunden
sind. Diese Rhizoiden enden teils in jenen Blasen,
teils dienen sie der Verankerung und Nahrungs-
aufnahme im Boden. Nirgends finden sich im
Innern des Pflanzenkörpers Zellwände, während
das Protopla>tiia zahlreiche kleine Kerne enthält,
wie es für die Sip/io)iccn charakiensiisch ist. Daneben
entriahen dieBiasen zahlreiche Öltröpfchen, nirgends
dagegen auch nur eine Andeutung von Chroma-
tophoren. Das ganze Gebilde wird von einer
gleichmäßig dicken Haut aus Chitin umschlossen.
Außer duich Sprossung erfolgt eine Vermehrung
auch durch Dauerorgane, die am Ende der Vege-
tationsperiode als kleine Kügelcheii gebildet werden.
Sie enthalten ein dünnes Netzwerk von Protoplasma,
in dem fettes Öl sowie pyrenoid-ähnliche Gebilde
aufgespeichert sind. Zu all diesen höchst merk-
würdigen Zügen kommt nun noch, daß in den
Blasen regelmäßig zu Knäueln vereinte Zelliäden
einer iVoj/oc- Art leben. Da Wettstein sie frei-
lebend nirgends auf den Feldern fand und sie sich
auch sonst von den bekannten Arien unterscheidet,
betrachtet er sie als neue Form (iV. syiiibioii/ic/nii
Fr. Wettst.j. Während der untere Teil der
Gcos!pkoiiYi\astn von Plasma mit einer großen Zahl
von Kernen erfüllt ist, tritt dieses im oberen Teil
zurück, bis schließlich der ganze Raum von den
Zellen des Nostoc erfüllt ist. W e 1 1 s t e i n ist der
Ansicht, daß der A^os/oc assimiliert ; für GeosipJwn
ist nach ihm dagegen rein saprophytische Lebens-
weise durch das Fehlen der Chromatophoren be-
dingt und durch Versuche erwiesen. Kr glaubt,
daß beide an der wechselseitigen Ernährung teil-
haben. Ist diese Auffassung richtig, dann hätten
wir also eine Symbiose einer CyanopJiycec und
einer saprophytischen Cldorophycee vor uns. Das
hierbei sich ergebende einheitliche Gebilde
könnte dann in gewissem Sinne mit den Flechten
verglichen werden. Auffallend ist jedenfalls neben
dem völligen Fehlen von Chromatophoren vor
allem die aus Chitin bestehende Membran. Eine
solche ist bisher von keiner Oilorophycee bekannt,
tritt aber bei den Pilzen ganz allgemein auf.
Aber selbst wenn sich die von Wettstein ge-
gebene Deutung des Gebildes nicht in allen
Punkten halten lassen sollte, bleibt das Neue
und Eigenartige seiner Organisation bestehen.
(Geosiphon Fr. Wettst., eine neue, interessante
Siphonee, Österr. Bot. Ztschr. 65. 1915. 145—155).
Im gleichen Bande betonte A. Lampa, daß
mehrere eingehend untersuchte Moose {Haploiii-
itriiim Hookcri, Sphagnitni quiiiqiicfariKvi, Ricard ia
pingiäs) in ihren Jugendstadien "manche Überein-
stimmungen zeigen, die, nicht auf äußere gleiche
Verhältnisse zurückführbar, auf phylogenetische
Beziehungen hinweisen. Doch sind die Beobach-
tungen wohl noch zu wenig allgemein, als daß
man darin, wie [,ampa will, einen Beweis für
einen gemeinsamen Ausgangspunkt der Laubmoose,
Lebermoose und der Farne sehen kann. Interessant
ist, ddß Ricardia piiiguis, ein nicht gerade häufiges
Lebermoos, Verpilzung aufwies. Die Zellen der
völlig weißen und scheinbar auch chlorophyllosen,
wenig differenzierten Pflänzchen waren dicht mit
Pilzhyphen angefüllt. Sie vegetierten unterirdisch.
Der verbreiteten Ansicht, daß eine solche „Mycor-
rhiza" bei den Moosen diesen kaum irgendwelche
Vorteile biete (Peklo), tritt Lampa für diesen
Fall nicht bei, da es sich nicht um normale grüne
Pflanzen handelt. Alle gefundenen Individuen
besaßen kein Chorophyll und waren in allen
Teilen von den Pilzhyphen durchzogen. Da das
Moos normalerweise als assimilierende Pflanze lebt,
kann nach Lampa nicht daran gezweifelt werden,
daß es hier, unterirdisch lebend, auf die Zuführung
von organischer Nahrung durch den Pilz ange-
wiesen ist. Verf. meint also, daß eine Symbiose
vorliegt, die sonst ohne Notwendigkeit besteht,
in diesem bestimmten Falle aber dem Lebermoos
jene F"orm des Daseins ermöglicht, in der es
unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt noch
existieren konnte. Demgegenüber scheint die Frage
berechtigt, ob es sich nicht vielleicht doch um
eine parasitäre Wirkung handelt. (A. Lampa,
Untersuchungen über die ersten Entwicklungs-
stadien einiger Moose. Österr. Bot. Ztschr. 65.
1915. 195 — 204.) Kr.
Physiologie. Verfahren der objektiven Prüfung
und Messung der Hörlähigkeit oder Hörschnelle.
Die bisher im Gebrauche befindlicnen Instrumente
zur Bestimmung der Hörfähigkeit als solcher im
Gegensatz zur Prüfung der Hörschärfe für reine
Töne verschiedener Höhe haben nur unzureichend
ihrem Zwecke entsprochen. Am besten hat sich
noch der zu diesem Zwecke von Hughes kon-
struierte Apparat bewährt, mittels welchem eine
Tonquelle geschaffen wird, die die menschliche
Stimme ersetzt. Bezold und Edelmann ver-
wenden zu ihrem, von den Ohrenärzten fast aus-
schließlich benutzten Verfahren Stimmgabeln und
die Galtonpfeifen. Allein die Handhabung des
Apparates, bei dem für jeden Ton eine besondere
Stimmgabel oder Pfeife zu verwenden ist, ferner
der Umstand, daß mit demselben die Konstanz
der Töne nur kurze Zeit erhalten werden kann,
überdies das Maß ihre Stärke nur indirekt er-
mittelt wird, hat für die Praxis eine Abänderung
notwendig gemacht, die Pldelmann insofern
gelungen ist in bezug auf die erwähnten Mängel,
daß der Apparat zwar für rein wissenschaftliche
Zwecke seinen Zweck erfüllt, aber für den Ohren-
arzt doch zu schwierig in seiner Handhabung sich
gestaltet. Für das akustische System beiderlei
Richtungen ist zu fordern, daß es genügend emp-
findlich, daß sein Ton rein und schwach ge-
640
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 45
dämpft ist und daß sich die Reaktionen in den
IVlonotelephonen, den mit ausgesprochenem Eigen-
ton versehenen, leicht und unzweifelhaft in posi-
tivem, wie negativem Sinne bei der Prüfung fest-
stellen lassen. Es muß also gehngen, den tat-
sächlichen Stand oder die organische Verfassung
des Gehörs in bezug auf Tonaufnahme und Ton-
auffassung bzw. Tonverarbeitung zu ermitteln und
andererseits allenfallsigen Simulationen von selten
des zu Prüfenden auf die Spur zu kommen.
Fritz Lux, bekannt durch seine, wohl all-
gemein anerkannte Theorie über die Fernwirkung
des Kanonendonners und das Einsetzen der Schweig-
zone — vgl. dieselbe in Nr. 22 S. 321 der „Na-
turw. VVochenschr." 1916 — , hat es nun unter-
nommen, eine neue Methode der objektiven IVIes-
sung der Hörfähigkeit zu schaffen, die einerseits
den wissenschaftlichen .■Ansprüchen gerecht wird
und andererseits auch leicht von jedem Ohrenarzt
gehandhabt werden kann.
Im „Archiv für die ges. Physiologie" Bd. 168
vom Jahr 19 17 entwirft Lux ein Bild über den
gegenwärtigen Stand der Frage, aufweiche Weise
es gelingt, die Hörfähigkeit objektiv zu prüfen.
Zunächst erörtert derselbe unter Hinweis auf die
einschlägige Literatur die Licht- und Schattenseiten
des bisherigen Verfahrens und, darauf bauend, die
von ihm aufgefundene Methode. Als dann be-
weist derselbe die Vorteile seiner Erfindung gegen-
über der bisherigen Methode und zieht daraus den
Schluß, daß dieselbe die einzig sichere Handhabe
zur objektiven Prüfung der Hörfähigkeit bietet.
Als Tonquelle wird von Lux der Telephonhörer
benutzt. Reuter.
Anregungen und Antworten.
Den interessanten Beiträgen von V. Franz über die
Veränderung der Tierwelt durch Kriegseinflüsse lassen sich
noch einige »eitere Belege anreihen. Zunächst bestätigt
Martin Braeß die Zunahme der Nachtigall bei Wiuen-
berg (verminderte Nachstellung durch Vogelsteller, weil sich
diesen zurzeit lohnendere Berufe bieten) und die Zunahme
der Wachtel in der fränkischen Schweiz, in Sachsen zwischen
Müglitz- und Weißeritzial bis hinauf in die Alienberger Gegend
{Schonungin Südrußland). Doch sei bemerkt, daß auchdasschon
vor dem Kriege (1909) erschienene Buch; W. Schuster,
„Unsere einheimischen Vögel" (Heimatverlag Gera) S. 69 mit
Fettdruck als ersten Satz unter ,, Wachtel" schreibt: „Nimmt
in den letzten Jahren wieder etwas zu". Hochinteressant ist
ein Bericht über Zunahme der Schwarzamseln in Schleswig-
Holstein als Folge der „Kriegsschonung" (W. Schuster,
„Die Tierwelt im Weltkrieg", Verlag Müller-Heilbronn). Aus
gleichem Grunde und namentlich wegen Abwesenheit des
Forstpersonals verzeichnet Braeß ferner eine Zunahme der
Elster für Frankfurt a. M., Lüneburg, Pirna an der Elbe
(„Gefl. -Börse" Nr. 66) ; nur der Vernichlungsfanatiker, den
wir in diesem Falle mit der Löns 'sehen Prägung „Gemüls-
krüppel" belegen dürfen, weil sein Gemüt derartig moralisch
defekt ist, daß er die Schönheiten der Natur nicht mehr
schauen und werten kann, nur ein solcher kann der Elster,
dem stolzen und schönen Vogel, die knappe Zunahme nicht
gönnen, denn beispielsweise hier in der Provinz Posen ist ihr
Bestand ganz außerordentlich vermindert gegen früher und in
meiner Heimal Hessen ist sie fast ausgerottet. Schelladler
sollen, wie ich in meinem Buche : „Die Tierwelt im Weltkrieg"
mitteile, durch Kriegslärm aus Polen verdrängt worden sein.
In dieser Beziehung muß man jedoch immerhin vorsichtig sein ;
die Frage, wieweit der Krieg die Zugstraßen der Vögel abge-
ändert hat, wird sehr verschieden beantwortet; manche be-
streiten diese angebliche Tatsache (so Thienemannl. Die
„Frankf. Ztg." meldet neuerdings in Pommern auftretende,
aus dem Balkan verschlagene Geier (Mönchs- und Gänse-
geier). Interessant ist auch der folgende Bericht : „Man kann
sich nicht mehr der Einsicht verschließen", so führt der
„Gaulois" aus, „daß der Krieg die Vermehrung des Schlangen-
geschlechts in unerwartetem, stellenweise fast unglaublichem
Umfange erweitert hat. Ganz besonders die durch ihren
giftigen Biß gefährlichen Vipern haben sich in allen französischen
Provinzen in großer Menge entwickelt. Auch hier ist das
eigentliche Schuldige der Menschenmangel; denn seit mehr
als zwei Jahren wurden die Vernichtungsteldzüge gegen die
Schlangennester so gut wie gänzlich vernachlässigt."
Wilhelm Schuster.
Mit Hinblick auf die Notizen von Anna Hopffe und
Rudolph Zaunick über Infusorienerde, dem sog. Bergmehl,
und Mehlerde sei hervorgehoben, daß auch an einer Reihe
anderer Orte Schichten angetroffen wurden, die in Zeiten der
Not zur Streckung des Mehles dienten. Als Fundstellen werden
erwähnt: Weichselmünde bei Danzig, Thorn, Kamin, Klicken
in Anhalt, Degernfors in Schweden u. a. Auslührlicher habe
ich darüber in dieser Zeitschrift (Bd. 12, Nr. 33, 15. Aug. 1897,
S. 385 — 388) in einem kleinen Aufsatz „Über Bergmebl und
diatomeenfübrende Schichten in Westpreußen" berichtet. Bei
der Teilnahme, welche diesem Thema in der jetzigen Zeit ent-
gegengebracht wird, sei auf ihn hingewiesen. P. Dahms.
Literatur.
G., Die höheren Pilze. 2., (
607 Textabbildungen. Berlii
Lindau, Prof. Dr
gesehene Auflage. Mit
J. Springer. — 8,60 M.
Trendelenburg, Prof. Dr. W., Stereoskopische Raum-
messung an Rönlgenaufnahmen. Mit 39 Texiabbildungen.
Berlin '17. J. Springer. — 6,80 M.
Kohlschütter, Prof. Dr. W., Die Erscheinungsformen
der Materie. Vorlesungen über Kolloidchemie. Leipzig und
Berlin '17. B. G. Teubner. — 7 M.
llt; Alexander Lipschütz, Studien zur Nervenregeneration. (8 .'\bb.) S. 625. R i chard M ül 1er- Frei enfels ,
Zur Psychologie und Biologie der Gefühle. S. 629. — Einzclberichte : Arnd, Elektrochemieder Taschenlampenbatterien.
S. 633. P. Debye und P. Scherrer, Raumgefüge der verschiedenen KohlenstofTmodifikationen. S. 634. Gold-
schmidt, Bi-obaehlungen und Versuche über Spermatogenese in Gewebekulturen. S. 636. Keilhack, Tropische und
subtropische Moore auf Ceylon und ihre Flora. S. 637. Fr. v. Wettstein, L. Lampa, Beobachtungen über das
Leben einiger niederer Pflanzen. S. 638. Fr. Lux, Verfahren der okjektiven Prüfung und Me.>.sung der Hörfähigkeit oder
Hörschnelle. S. 639 —Anregungen und Antworten : Veränderung der Tierwelt durch Kriegseinflüsse. S. 640. Infusorien-
erde. S 640. — Literatur: Liste. S. 640.
N 4.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berl:
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S,
alidenstrafle 42, erbeten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den i8. November 1917.
Nummer 46.
[Nachdruck
D'Alemberts Bedeutung für die Naturwissenschaften.
Zu seinem 200. Geburtstag am 16. November 1917.
rboten.l Von Victor Engelhardt,
Assistcut am Physikalischen Institut der Landwirtschaftlichen Hochschule, Berlin.
An Faraday konnte ich zeigen,') wie durch
das günstige Zusammenwirken von Veranlagung,
Charakter, Umgebung und Zeitgeist ein großes
Lebenswerk zustande kam. — Heute dagegen
lenkt der Zufall von D'Alemberts 200. Geburts-
tag unser historisches Interesse einem Forscher
zu, bei dem die Entwicklung einer großen Be-
gabung durch einen schwachen Charakter und
eine ungünstige Umgebung nicht zu ihrer vollen
Blüte gelangen konnte. Faradays ernster
Forscherwille verbot jedes Abirren vom Weg,
während D'Alembert den Lockungen einer
glänzenden Gesellschaft nicht widerstand, ihren
Wünschen Rechnung trug und so einer tausend-
fältigen Zersplitterung verfiel. — Faradays Leben
wurde durch seine Arbeit bestimmt, D'Alemberts
Arbeit von seinem Leben. Es ist uns deswegen
nicht möglich seine Werke, wie die des englischen
Physikers, nach gewissen Grundprinzipien, das
heißt systematisch zu behandeln. Wir müssen
vielmehr D'Alemberts Arbeiten gleich Perlen
auf den roten Faden seines Lebens reihen, das
heißt biographisch vorgehen. Aber gerade diese
durchaus anders geartete Betrachtungsweise dürfte
nicht ohne Reiz sein, denn in ihr offenbart sich
eine Verschiedenheit, die uns einen Blick in den
Charakter der beiden uns feindlichen Nationen
tun läßt.
Bei einem allgemeinen Überblick über
D'Alemberts Leben scheinen sich, wenn auch
nicht immer ganz scharf, drei Hauptepochen von
einander zu trennen: Mit mathematischen Unter-
suchungen begann seine Entwicklung. Aber auch
in den späteren Jahren, in den Zeiten vorwiegend
philosophischer Arbeit, und auch dann, als diese
sich gegen Ende seines Lebens in eine haupt-
sächlich literarische Tätigkeit verlief, kehrte er
immer wieder zu mathematisch-physikalischen
Problemen zurück. Doch wurde die Zeit, welche
er später für sie erübrigen konnte, immer knapper,
und seine mathematischen Abhandlungen sind
deswegen, nach Cantors Ausspruch,-) ganz im
Gegensatz zu seinem sonst glänzenden Stil, unklar,
unmethodisch und schwer zu verstehen. — Die
Zeitgenossen fanden allerdings reichen Ersatz in
seinen, bis in den Himmel gehobenen, schrift-
stellerischen Werken. Für sie stieg er zu immer
größeren Höhen empor. — Wir sind von den
Tagesereignissen der damaligen Zeit nicht mehr
berührt, von ihren Modelaunen nicht mehr ge-
blendet. Für uns verläuft D'Alemberts Ent-
wicklung, auch dann, wenn wir nicht nur mathe-
matisch physikalische Interessen haben, decrescendo.
Wollen wir aber, wie in vorliegender Arbeit, seine
Verdienste um die Naturwissenschaften ganz be-
sonders betonen, dann wird der Schwerpunkt
seines Schaffens sehr weit an den Anfang gerückt.
Die ersten Tage seines Lebens sind mit dem
ein wenig morschen Zeitalter Ludwig XV. innig
verknüpft.^). Er wurde am 16. Nov. 1717 von
der schöngeistigen Salondame, Mme. de Tencin,
als der uneheliche Sohn des Generals Destouches
geboren.*) Um dem Skandal und den anzüglichen
Reden ihrer Gesellschaftskreise zu entgehen, ließ
ihn die gewissenlose Mutter an den Stufen der
Taufkapelle Saint-Jean-Lerond aussetzen, wo ihn
ein Polizeikommissar fand. In der Taufe erhielt
er nach dem F"undort den Namen Jean-Baptiste
Lerond, während der Ursprung des Namens
D'Alembert rätselhaft ist. General Destou-
ches nahm sich, als er von einer Reise zurück-
gekehrt war, des Kindes an, setzte ihm eine be-
scheidene Rente aus und brachte es in das Haus
der Mme. Rousseau, die ihm eine großartige
Pflegemutter wurde.
Seine Schulbildung empfing der Knabe in
einem College, das ganz im Sinne der Jansenisten
arbeitete. D'Alemberts Lehrer wurden bald
auf seine glänzende Begabung aufmerksam und
versuchten dieselbe der Polemik ihrer Sekte dienst-
bar zu machen, einer Polemik, welche damals
ganz Frankreich bewegte. Es schwebte ihnen
das Beispiel Pascals vor, des großen Mathematikers,
der einst unter ihrem Einfluß seine ganze Arbeits-
kraft in den Dienst religiöser Streitigkeiten gestellt
hatte. Um die Ähnlichkeit noch größer zu machen,
wiesen sie auch D'Alembert auf mathematische
Studien und hatten so großen Erfolg, daß sie
ihren Versuch bald verwünschten. Der „Geo-
metrie" war ein eifriger Jünger gewonnen, den
Jansenisten aber ein Streiter verloren gegangen.**)
Es ist ein artiger Zufall, daß D'Alembert
am Beginn seiner Laufbahn gerade durch den
Einfluß, den Tagesstreitigkeiten auf ihn gewinnen
sollten, für lange Jahre, für die ganze erste Epoche
seines Lebens, sich selbst und seiner mathematischen
Veranlagung gewonnen war. Er knüpfte, über-
einstimmend mit dem wissenschaftlichen Streben
seiner Zeit, in zweierlei Weise an Newton an.
Einerseits bemühte er sich die höhere Analysis,
welche von Newton und Leibniz in ihren
Grundzügen vorgezeichnet war, weiter auszu-
bauen, und andererseits zog er zahlreiche,
von Newton nur angedeutete Konsequenzen
642
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
F. N. XVI. Nr. 46
des allgemeinen Gravitationsgesetzes. Dem
zuerst genannten Streben verdanken wir viele
neue Methoden, die entweder in seinen rein
mathematischen Abhandlungen niedergelegt sind,
oder sich in den physikahschen Schriften ver-
stecken. Das rein mathematische Interesse der-
selben überragt das physikalische manchmal sehr
weit. Oft finden sich in ihnen ganz unhaltbare
Theorien, zu deren Ausführung er sich vollständig
neuer und genialer Rechenmethoden bedient.
Eine Abhandlung über die Ursache der Winde,')
welche durch ein Preisausschreiben der Berliner
Akademie zustande kam, bringt die falsche Vor-
stellung einer Luftflut als Ursache der Passate,
entwickelt aber zur Durchführung dieser Theorie
durchaus neue, analytische Verfahren. — In seinen,
allerdings auch physikali'-ch wichtigen Unter-
suchungen über schwindende Saiten,'] macht er
die Fachwell zum erstenmal mit der Lösung einer
partiellen Differentialgleichung bekannt, — und
auf fast allen Gebieten der reinen Mathematik ist,
wie ein Blick in Cantors Geschichte dieser
Wissenschaft zeigt,-) sein Name zu finden. In der
Algebra, in der Differential- und Integralrechnung,
in der Lehre von den bestimmten Integralen und
den Differentialgleichungen, — und nur auf einem
Gebiet hat sein Geist völlig versagt — auf dem
der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Er gehörte zu
ihren hefiigsten Gegnern und hat ihre Bedeutung
für die Wissenschaft arg verkannt. Sonst aber
hat er durch seine mathematischen Forschungen,
deren Höhepunkt in seiner Jugend liegt, die sich
aber, wie man aus den Anmerkungen sieht, bis
ins hohe Alter hineinziehen, der Naturwissenschaft
indirekt unschätzbare Dienste geleistet, indem er
dazu beitrug das Handwerkszeug zu schärfen und
zu verfeinern.
Trotz dieses Verdienstes ist es schwer zu ent-
scheiden, ob der direkte Fortschritt, den ihm die
Naturwissenschaft verdankt, nicht noch stärker ins
Gewicht fällt. Die zahlreichen physikalischen Ab-
handlungen seines späteren Alters ragen zwar,
obwohl sie manchen fruchtbaren Gedanken bringen,
nicht allzusehr über die Arbeit anderer Physiker
hinaus. Er disputierte mit Euler und Ber-
noulli eifrig über die Gestalt einer schwingenden
Saite,") ein Problem, das 171 5 von Taylor*)
aufgegriffen worden war, aber seine exakte theore-
tische Lösung erst jetzt fand, als die Obertöne
mit in den Kreis der Betrachtung gezogen wurden.
Diese Beschäftigung mit akustischen Aufgaben
vereinte sich mit seiner Liebe zur Musik zu einem
musiktheoietischen Werk,") dessen Bedeutung
selbst noch Helmhol tz in seiner Lehre von
den Tonempfindungen '") anerkannte. — In der
Optik bemühte er sich um die Durchrechnung
achromatischer Objektive, ") deren Konstruktion
allerdings schon gelungen war. Der Erfinder,
Dollond, '■'') hatte aber, um sich das Privileg
der Erzeugung zu wahren, keine Maße angegeben,
und so viele Gelehrte veranlaßt auf theoretischem
Wege zu suchen, was er auf empirischem entdeckt.
Weit wichtiger als all die Untersuchungen ist
jedoch D'Alemberts Ausbau des Newtonschen
Gravitationsgesetzes. Dieses erlaubt in einfacher
Weise die Kiäfte, welche zwei gegebene Massen
mj und mj aufeinander ausüben, durch die
Gleichung:
. mj • m,, p
r"*
zu berechnen, wobei r die Entfernung und G eine
Konstante ist.
Die Bewegung, welche Himmelskörper unter
dem Einfluß solcher Kräfte ausführen müssen,
werden, wie schon Newton gezeigt, durch die
Kepplerschen Gesetze beschrieben. '^J — Sind
jedoch an Stelle von zwei, drei Massen vorhanden,
so sehen wir uns dem berühmten Dreikörper-
problem gegenüber. Die Kräfte lassen sich wohl
leicht berechnen, — welche Bewegungen aber
unter dem Einfluß dieser Kräfte ausgeführt werden,
ist auch noch heute nur unter gewissen Vernach-
lässigungen zu bestimmen. Das ist traurig, denn
die Astronomie hat es oft mit der Einwirkung
preier Körper anfeinander zu tun. Man denke nur
an die Bewegung des Systems Sonne, Erde und
Mond, zu dem außerdem noch die kleinen
Störungen durch andere Planeten kommen. Hier
griff D'Alem bert mit großem Erfolg ein, wenn
es ihm natürlich auch nicht beschieden sein konnte,
die schwere Aufgabe restlos zu losen. — Ihm ge-
lang es die Prazession, das Vorrücken der Tag-
und Nachtgleichen, durch die Anziehung der Sonne
auf die abgeplattete Erde und die Nutation, das
geringe Schwanken der Erdachse, durch die
gleiche Einwirkung des Mondes zu erklären und
damit beide Erscheinungen als Polge der allge-
meinen Massenanziehung hinzustellen.^*)
Seine hervorragenden Arbeiten auf astrono-
mischem Gebiet wären jedoch niemals möglich
gewesen, wenn er nicht zu dem Erbe, das er von
Newton empfing, etwas aus ureigenem Geist
hinzugefügt hatte — sein dynamisches Prinzip.
Dieses ist, obwohl es bereits im Jahre 1743, in
einer seiner ersten Arbeilen veröffentlicht wurde, ^^)
der Höhepunkt seines Schaffens. Es entsprang
dem tief philosophischen und echt physikalischem
Bemühen, die verwirrende Fülle dynamischer
Einzelgesetze und Tatsachen auf einige wenige
Prinzipien zurückzuführen, „zu gleicher Zeit die
Überflüssigkeit mehrerer Prinzipien, die man bisher
in der Mechanik angewandt hatie (zu zeigen), und
den Vorteil zu zeigen, den man aus der Ver-
einigung der übrigen für den Fortschritt der
Wissenschaft ziehen kann".'®) Sein neues um-
fassendes Prinzip gibt den Weg, im allgemeinen
Falle die Bewegurig eines Systems irgendwie mit-
einander verbundener Körper, die dem Einfluß
gegebener Kräfte unterliegen, zu ermitteln. „Man
zerlege die jedem Körper eingeprägten Bewegungen
(Kräfte) a, b, c usw. in je zwei andere a, a; b, /?;
c, y; derart, daß die Körper, wenn man denselben
nur die Bewegungen a, b, c usw. eingeprägt hätte,
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
643
diese Bewegungen, ohne sich gegenseitig zu hindern,
hätten bewahren können; und daß, wenn man
denselben nur die Bewegungen a, ß, y usw. ein-
geprägt hätte, das System in Ruhe geblieben
wäre; dann ist klar, daß a, b, c usw. die Be-
wegungen sein werden, welche diese Körper in-
folge ihrer Wechselwirkung annehmen werden.
Das ist die Lösung der Aufgabe."^')
Die dynamische Aufgabe war damit auf eine
wesentlich einfachere, statische zurückgeführt.
Außer bei den schon behandelten astrono-
mischen Problemen,") wandte D'Alembert
sein Prinzip mit großem Erfolge in zahlreichen
dynamischen und hydrodynamischen Unter-
suchungen an.'**) Die Gleichungen waren aller-
dings oft recht schwer aufzustellen, und es be-
durfte noch der Arbeit des eigentlichen Begründers
der analytischen Mechanik, der Arbeit Lagranges,
um hier die beste Lösung zu finden. Lagrange
gibt aber selbst zu, daß er D'Alembert außer-
ordentlich viel zu verdanken hat.
Die grundlegenden mathematischen Arbeiten
entstanden fern von dem Getriebe der Welt in
der stillen Stube bei Mutter Rousseau. Aber
man wird nicht ungestraft berühmt, man kann
nicht ungestört bleiben und gleichzeitig der Freund
des großen Preußenkönigs sein, dessen Aufmerk-
samkeit D'Alembert durch seine Behandlung
der Berliner Preisaufgabe ") erregt hatte. Die
Welt machte ihn zum Akademiker und trat mit
ihren Forderungen an ihn heran. Diderot bat
um mathematische Artikel und um ein Vorwort
für die große Enzyklopädie.'*) D'Alembert
willigte ein, wurde Mitherausgeber dieses un-
vergleichlichen Denksteins der philosophischen
Aufklärungszeit und schrieb den „Discours preli-
minaire." ^'')
Es kann uns nicht wundern, D'Alembert
plötzlich philosophisch beschäftigt zn finden.
Schon in der Dynamik zeigte sich, wie wir sahen,
sein philosophischer Geist in dem Streben nach
einheitlichen Prinzipien und in der vorangestellten
erkenntnistheoretischen Untersuchung über die
Grundlagen der Mechanik. Im „Discours" findet
sich auf das Universum übertragen, was dort für
die Mechanik galt : „Für den, der das Weltall von
einem einheitlichen Gesichtspunkt aus erfassen
könnte, würde es — wenn der Ausdruck gestattet
ist — nur eine einzige große Wahrheit bedeuten".'')
Kürzer und schärfer kann das Ziel aller Philosophie
und aller Wissenschaft kaum gekennzeichnet
werden. Von abstrakter Höhe versucht er nun
in spekulativ-philosophischer Weise die Entstehung,
die Reihenfolge und die Verknüpfung der mensch-
lichen Kenntnisse zu schildern, und in einem
zweiten Abschnitt einen kurzen Abriß der Ge-
schichte der Wissenschaften seit ihrer Renaissance
zu geben.
Dieser Schrift war ein lauter überraschender
Erfolg beschieden, der den seiner tiefen mathe-
matischen Arbeiten weit übertraf. Er hatte eben
ohne besonders originell zu sein, die in der Zeit
liegenden Gedanken in leicht faßlicher, glatter
Weise dargestellt und hatte, was wohl am meisten
den Beifall des Publikums hervorrief, die Voll-
endung der kulturellen Entwicklung in seiner
französischen Heimat gefunden. — D'Alemberts
Charakter war von gallischer Eitelkeit nicht völlig
frei, der Erfolg berauschte ihn und veranlaßte
ihn, trotz seiner spezifisch mathematischen Begabung,
weiter zu philosophieren. Aber gerade die mathe-
matische Begabung, dieser Sinn für saubere
Exaktheit hat ihn davor bewahrt in der Philosophie
nur die Gedanken seiner Zeit zu wiederholen, hat
seinem Denken eine persönliche Note gegeben.
Er übertrug Newtons Auffassung von der
Physik, Newtons Forderung keine Hypothesen
zu bilden, sondern nur das zu behandeln, was
sich in klare Gleichungen kleiden läßt, auf das
Denken überhaupt — und kam so notgedrungen
zum Skeptizismus. Genau so wie er es in der
Physik, bei der Abhandlung über die Winde*)
ablehnt, deren wahre Ursache, die Sonnenwärme,
weiter zu verfolgen, weil sie sich nicht in strenge
Formeln kleiden läßt und er dadurch zu falschen
Resultaten kommt, so lehnt er in der Philosophie
von vornherein jede Metaphysik ab. „Man könnte
das Weltall mit gewissen Schriftwerken von er-
habener Dunkelheit vergleichen, deren Verfasser
sich bisweilen zu der Geistessphäre des Lesers
herablassen um ihm einzureden, daß er ja alles
nahezu verstände". Aber er versteht es nicht
„und die größten Genies gelangen mit dem an-
gestrengtesten Nachdenken . . . nur zu oft dahin,
daß sie schließlich noch etwas weniger davon
wissen, als die gewöhnlichen Sterblichen."--)
D'Alembert ist Positivist, eigentlich der
erste Positivist, das heißt für ihn ist die Philosophie,
wie es im „Discours" deutlich zum Ausdruck
kommt, nur die Wissenschaft von den Tatsachen
und von der Zusammenfassung der Tatsachen,
die ihre Berechtigung in der oben angeführten
Einheit alles Tatsächlichen hat. Das Wesen der
Dinge, und ob sie überhaupt sind, ist uns unbe-
kannt, nur Erscheinungen sind gegeben. Mit den
Erscheinungen aber müssen wir praktisch rechnen
und tun es am besten, indem wir uns eine Außen-
welt vorstellen. Die Außenwelt hat einen prak-
tischen Sinn.
Wie man sieht paßte die ganze Art seines
Denkens vorzüglich zu den Bestrebungen der
Aufklärungszeit, zu den Bestrebungen der Enzy-
klopädisten. Er hat seinen Anteil am Kampf
gegen kirchlichen und politischen Zwang, — und
das macht auch die philosophische Periode seines
Lebens für die Naturwissenschaften, wenigstens
indirekt wertvoll. Wir, die es für selbstverständ-
lich halten, daß man wissenschaftliche und reli-
giöse Meinungen frei aussprechen kann, haben
gar keine Ahnung, welcher Zwang in F"rankreich,
und wohl nicht nur in Frankreich im 18. Jahr-
hundert auf die Geister ausgeübt wurde. Wir
müssen jedem Dank wissen, der diesen Zwang
zerbrechen half, denn er hat beigetragen zur
644
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
Freiheit unserer heutigen Wissenschaft. Einen
Vorwurf können wir D'Alembert allerdings
nicht er.'^paren: er war ein schwacher, ein ängst-
licher Verfechter seiner Meinung. Nachdem er
in der oben zitierten Stelle des „Discours" seiner
skeptischen Überzeugung Ausdruck verliehen hat,
fährt er fort: „Darum ist uns nichts unentbehr-
licher als eine geoffenbarte Religion", durch welche
„dank der Erleuchtung, die sie über die Welt
verbreitet hat, das \^olk sogar in einer großen
Zahl wichtiger Fragen fester und schlüssiger (ist)
als es alle philosophischen Sekten gewesen sind." -■^)
In den „Elements de philosophie",^*) welche neben
dem „Discours" sein philosophisches Hauptwerk
sind, macht er der Kirche noch viel mehr Kon-
zessionen, in der Hoffnung die Nachwelt werde zu
unterscheiden wissen, „zwischen dem, was wir
dachten und dem, was wir schrieben". Und als
die Mitarbeit an der Enzyklopädie gar zu ge-
fahrlich wurde, trat er zurück.
Der laute verwirrende Ruhm, der D'Alembert
aus seinen philosophischen Werken erwuchs, wurde
sein Schicksal. Die Salons wollten ihn, den
glänzenden Stilisten, in ihren Kreisen sehen. Sie
lockten ihn und er gab nach. Der stille Gelehrte
wurde ein glänzender Spötter, ein Festredner der
Akademie -^) und — fast sojährig — der Lieb-
haber einer geistvollen, leidenschaftlichen, gewissen-
losen Frau, MUe. de Lespinasse. Ihr zu Liebe
ließ er sich von den literarischen Steitigkeiten
seines Zeitalters fangen, -") ihr zu Liebe schrieb
er Bücher, die ihm lauten Beifall brachten — und
heute vergessen sind. — Er stand auf der Höhe
seines Ruhms. Die ursprünglich anonym er-
schienene Abhandlung „De la destruction des
Jesuites", -') eine Polemik gegen Jesuiten und
Jansenisten, war das Tagesgespräch. Seine Ge-
denkreden in der Akademie mußte man gehört
haben, und seiner Freundschaft mußte man sich
rühmen können.
Er stand auf der Höhe seines Ruhms — und
war tief verzweifelt, — denn seine Freundin war
nicht treu. Die Verzweillung raubte ihm die
Kraft zu ernster Arbeit — und ließ ihn sehn-
süchtig an die stillen Stunden denken, in denen
er seine großen mathematischen Werke schuf. —
Sie sind, neben seiner Philosophie, was ihn heute
noch unvergessen, was ihn heute noch wertvoll
macht. Was damals aber laut gepriesen wurde,
daran denkt man jetzt nicht mehr.
ij Naturw. Wochenschr. 1917 Nr,
2) Cantor, Vorlesungen über Gei
4 S. 465.
ichte der Mathematik.
Siehe z. B. 3. Bd. 2. Aufl. 1901 S. 585.
3) Biographische Arbeiten über D'Alembert nenneich
folgende: a) Condorcet, Eloge de M. D'Alembert.
Oeuvres de Condorcet Bd. 3. Paris 1847. b) Bertrand,
D'Alembert, Revue des deux Mondes 15. Okt. 1865.
c) Bertrand, D'Alembert Paris 18S9, die beste und aus-
führlichste Biographie.
4) Über das genaue Datum herrscht Uneinigkeit. Der
16. Nov. scheint das richtigste zu sein. Siehe Förster Beiträge
zur Kenntnis des Charakters und der Philosophie D'Alemberts.
Diss. Jena 1892 S. 7.
5) Condorcet, 1. c. S. 53.
6) Reflexion sur la cause generale des vents. Paris 1747. 4°.
7) 1747 in der Berliner Akademie. S. auch Opuscules
mathematiques 1761 — 1781.
8) Taylor, Methodes incrementorum directa et inversa.
London 1715.
9) Elements de Musique theoretique et practique suivant
les principes de M. Rameau 1752. Ins Deutsche übers, von
Marpurg, Leipzig 1757.
10) Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen. S. 380.
11) Opuscules mathematiques, namentlich III. Bd.
12) 1706 — 61.
13) Newton, Philosophia naturalis principia mathematica
16S7.
14) Recherches sur la precession des Equinoxes et sur
Taxe de la terre dans le Systeme Newtonien. Paris 1749. 4°.
Ins Deutsche übers, von G. K. Seuffert. Nürnberg 1857.
S. auch verschiedene Art. in den Opusc. math. Rech, sur
diff. points importans du Systeme du Monde I — 111. 1754 u. f.
15) Traite de Dynamique. Paris 1743. In deutscher
Übers, neu herausg. in Oslwalds Klassikern der exakten Wissen-
schaften Nr. 106.
16) Ostwalds Klass. 106 S. 7.
17) .Ebenda S. 58.
iS) Traite de l'Equilibre et du mouvement des Fluides
pour servir de Suite au Traite de Dynamique. Paris 1744. 4°.
Essai d'une nouvelle theorie de la Resistance des tluides.
Paris 1752. 4°. S. auch versch. Abb. in den Opuscules math.
19) Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des Sciences,
des Arts et des Metiers, i. Bd. 1751.
20) In deutscher Übers, von Hirschberg, mit Anm.
Phil. Bibl. 140. Leipzig 1912.
21) Ebenda S. 27.
22) Ebenda S. 22.
23) Ebenda S. 23.
24) Essai sur les Elements de philosophie ou sur les
principes des connaissances huraaines 1759 — 1770. Über die
philosophische Bedeutung D'Alemberts siehe außer dem
zitierten Werk von Förster noch Kunz, Die Erkenntnis-
theorie D'Alemberts, Archiv für Geschichte der Phil. Uct. 1906.
25) Eloges. Paris 17 79. 8".
26) Melanges de Litterature, d'histoire et de Philosophie.
Paris 1752, 1759, 1763 u. a.
27) De la destruction des Jesuites en France, par un
auteur desinteresse 1765.
Einzelberichte.
Botanik. Eigenartiger Bau des Plasmakörpers.
An den Stengeln und Blattstielen der aus China
stammenden Orchidee Haemaria (Goodyera) dis-
color lassen sich schon mit bloßem Auge neben
länglichen, grauen Flecken (Spaltöffnungen) kleine,
runde, weiße Pünktchen erkennen. Sie zeigen die
Stellen an, wo sich in dem Rindenparenchym unter
der Oberhaut längliche, polygonale Raphiden-
zellen befinden, d. h. Zellen, in denen Kalkoxalat
in Gestalt von bündeiförmig auftretenden Kristall-
nadeln ausgeschieden ist. Diese Zellen zeigen,
wie H. Molisch mitteilt, die Eigentümlichkeit,
daß der die Zellwand innen auskleidende Proto-
plasmaschlauch keine einförmige Haut darstellt,
sondern aus polygonalen Maschen zusammengesetzt
ist und als ein zierliches Mosaik erscheint. Jeder
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
645
Baustein dieses Mosaiks wird von einer Kammer
mit dünner Plasmawand und wasserhellem Inhalt,
einer Vakuole, gebildet. An irgendeiner Stelle
des Plasmamosaiks liegt der Zellkern. Der Hohlraum,
den das Netz umschießt, ist von homogen er-
scheinendem Schleim ausgefüllt, und in diesen
eingebettet liegt das Raphidenbündel. Wenn man
die Zelle mit Hilfe von 10 "/^ Kalisalpeterlösung
plasmolysiert, so rundet sich das Plasma bei der
Ablösung von der Zellwand nicht ab, sondern
behält so ziemlich den Umriß der polygonalen
Zelle bei, was für das verhältnismäßig feste Ge-
füge des Plasmamosaiks zeugt. Bei Druck auf
das Deckglas oder nicht selten von selbst trennen
sich in plasmolysierten Zellen die Bausteine des
Mosaiks voneinander und bilden einzelne scharf
umschriebene Stücke, die genau den Kammern
des Plasmas entsprechen: „Es handelt sich also
in diesen Raphidenzellen nicht um ein vergäng-
liches Schaum- oder Wabennetz . . ., sondern um
eine stabil organisierte, ziemlich festgefügte Kam-
merung des Plasmas." Sie findet sich ausnahmslos
in allen Raphidenzellen von Haemaria discolor,
und da diese die Aufgabe haben, Schleim und
Oxalsäuren Kalk abzuscheiden, so ist es nicht un-
wahrscheinlich, daß das Plasmamosaik einen sekre-
torischen Apparat darstellt. Es wurde auch bei
mehreren Arten der (^rchideengattung Anoecto-
chilus, besonders A. Veitchianus, angetroffen. In
den als Salep verwendeten Knollen von Orchis
purpurea, O. latifolia und Ophrys-Arten war das
Plasmanetz, wie Molisch nachträglich feststeUte,
schon von Arthur Meyer gesehen und be-
schrieben worden; man hat es auch als diagno-
stisches Merkmal für Salep-Schleimzellen verwendet.
Moliscli fand es bei Knollen von Ophris aranifera
nur in den ganz jungen Raphidenzellen deutlich
ausgebildet, während es in den ausgewachsenen
Zellen nicht vorhanden oder nur schwach ausge-
bildet war. Bei Haemaria und Anoectochilus
scheint es dagegen einen dauernden Bestandteil
der Raphidenzellen zu bilden. Verf. weist auf
gewisse Analogien mit dem Plasmabau bei anderen
Organismen (Cladophora-Arten, Kutikula gewisser
Amphibienlarven) hin, hebt aber als Besonderheit
des von ihm beschriebenen Plasmamosaiks den
hohen Grad von Selbständigkeit der einzelnen
Kammern, die sich durch bestimmte Mittel von-
einander isolieren lassen, hervor. (Sitzungsberichte
der kais. Akad. d. Wiss. in Wien. Math.-Naturw.
Kl. Abt. I, Bd. 126, 1917, S. 231—241.)
F. Moewes.
Wertvolle Aufschlüsse über die Entwicklung
der Nepenthaceen, jener eigentümlichen, zu den
„fleischtressenden" Pflanzen gehörenden Kannen-
pflanzen, enthält eine neuere Arbeit von Kurt
Stern (Beiträge zur Kenntnis der Nepenthaceen.
Flora, N F. 9. 213— 282. 191 7). Die kleinen, nach
Beccari nur 0.000035 g wiegenden Samen be-
sitzen eine einschichtige, mit Vorsprüngen und Ver-
dickungsleisten versehene Schale, die bei der
Keimung der Länge nach aufplatzt. Die läng-
lichen Keimblätter sitzen an einem zylmdrischen
Teile, dessen zentrales radiales Gefäßbündel es
als Wurzel charakterisiert. Andrerseits enthält es
Chlorophyll und zeigt keinen deutlichen Geotro-
pismus, so daß es Stern als ein Mittelding von
Wurzel und Hypocotyl auffaßt. Dieses Gebilde
dient also schon zeitig der Assimilation, die Be-
festigung im Boden wird dagegen anfänglich von
den Zacken der Schale übernommen, die auch für
die Wasseraufnahme Bedeutung besitzt. Auffallend
ist, daß schon die ersten Laubblätter, die in
horizontalen Rosetten angeordnet sind, Kannen
tragen, die aber von den später entstehenden
deutlich verschieden sind. Die älteren Blätter
zerfallen in ausgebildetem Zustande in Spreite,
Ranke und Kanne, auf deren Entwicklung im ein-
zelnen sowie morphologische Stellung hier nicht
näher eingegangen werden soll.
Nach einer Untersuchung der Blüte behandelt
Stern die anatomischen Verhältnisse, von denen
der Bau der Blattdrüsen am meisten interessieren
dürfte. Sie spielen eine hervorragende Rolle für
unsere Vorstellung von der Entstehung der In-
sektivorie. Haberlandt hatte für Pingiticula
(das Fettkraut) nachgewisen, daß die Verdauungs-
drüsen wahrscheinlich aus wasserabscheidenden
Hydathoden abzuleiten seien. Die Vorfahren der
Pflanze besaßen also wohl ursprünglich solche,
die ein schleimiges Sekret absonderten. Hier
konnten zunächst zufällig kleine Insekten haften-
bleiben; sie verwesten, und die gelösten Stoffe
wurden von der Pflanze aufgenommen, woraus
dann allmählich die „habituelle Insektivorie" her-
vorging. Da auch die Nepenthaceen solche
Hydathoden besitzen, lag nahe, hier an eine ähn-
liche Ableitung zu denken. Es gelang Stern
indessen der Nachweis, daß im Gegensatz zu den
Droseraceen, die Drüsen nicht einheitlich gebaut
sind, sich vielmehr zwei Typen unterscheiden lassen,
die sowohl im fertigen Bau wie im ganzen Ent-
wicklungsgange deutlich voneinander getrennt
sind. Auf allen Blättern, auch den Teilen der Blüte
sind kleine flache, köpfchenförmig vorgewölbte
Drüsen nicht selten. Das sind die Hydathoden.
Ihnen stehen die schildförmigen, meist eingesenkten,
echten Verdauungsdrüsen gegenüber, die sich von
jenen in keiner Weise ableiten lassen. Dagegen
fand Stern, daß sie vollständig den an den
Blumenblättern sitzenden Nektardrüsen gleichen,
von denen er sie auch ableitet. Er nimmt dem-
gemäß an, daß bei den noch nicht gewohnheits-
gemäß insektivoren Vorfahren von Ncpeiifl/cs auch
auf den Blättern derartige Honigdrüsen gesessen
haben. Diese Annahme erfährt eine starke Stütze
in der Tatsache, daß die gleiche Übereinstimmung
bei Sarraceiiia herrscht und hier wie dort ganz
gleichgebaute Nektardrüsen noch zerstreut auch
auf den Blättern, sogar dem Stamm auftreten.
Diese anatomischen und entwicklungsgeschicht-
lichen Befunde bringen die Familie in enge Be-
ziehung zu Droseraccen und Sarraccniacceii. An
646
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
jene erinnert vor allem die Keimungsgeschichte,
an diese der geschilderte Drüsenbau und andere
Merkmale. Die Familienreihe der Sarra-
ceniales muß daher entgegen der Ansicht
Wettsteins als eine natürliche angesehen
werden.
Die vielumstrittene Frage, ob die Bedeutung
der eigenartigen Anpassung in der Zufuhr von
stickstoffhaltigen Substanzen oder von Nährsalzen
(Stahl) zu suchen ist, läßt Stern offen, betont
aber, daß die gelegentlich noch immer bezweifelte
Tatsache der Insektivorie entschieden feststeht.
Der von ihm beobachtete Fang war stets reichlich;
ältere Kannen enthielten eine bis i cm hohe
Schicht ven Chitinresten kleiner Kerbtiere, Spinnen
und Fliegen, denen die Drüsen wohl stickstoffhaltige
wie stickstofffreie Nahrung entnehmen. Inter-
essant ist, daß es ihm gelungen ist, durch schlechte
Ernährungsverhältnisse (Stecklingsbildung u. a.)
die sekundäre Erzeugung von Erstlingsblättern
zu erreichen, worin er eine erneute Bestätigung
der Goeb eischen Lehre sieht, die die Primär-
blätter als Hemmungsbildungen deutet. Zahlreiche
Versuche betreffen die Bewegungen von Kannen
und Ranken. Diese liegen zunächst in einer Linie,
später biegt sich die positiv geotropische Ranke
nach unten, um sich oft stark zu krümmen, die
negativ geotropische Kanne dagegen nach oben.
Kr.
Fischereiwesen. Über die unheilvolle Ein-
wirkung der Verschilfung der stehenden Gewässer
auf die Nutzfischzucht verbreitet sich Friedrich
Wilhelm Schlesinger (Karlsruhe) in der All-
gemeinen Fischereizeitung (42. Jahrg. 191 7
Nr. 13). Die Hauptlaichplätze der Nutzfische sind
die krautigen d. h. mit Unterwasserpflanzen be-
standenen seichten Uferstellen. Durch die immer
weiter fortschreitende Ausdehnung des Schilfes
werden gerade diese Uferpartien vom Schilf
überwuchert und den Fischen als Laichplätze ent-
zogen. Aber auch für die junge Brut, für die
Jungfische, die sich gerne in dem seichten von
der Sonne durchwärmten Wasser umhertummeln,
wo sie überdies an den Unterwasserpflanzen reich-
liche Nahrung finden, bildet das Schilf ein starkes
Hemmnis, ihre Tummelplätze werden ständig ver-
ringert, ihre Hauptnahrungsquellen abgeschnitten.
Die Grundbedingung jeglicher gedeihlicher Fisch-
zucht, die Fortpflanzung der Fische und die ge-
sicherte Aufzucht des Nachwuchses, wird durch
die Ausdehnung der Schilfbestände demnach immer
mehr beeinträchtigt. Die mit .Schilf bestandene
Uferzone wird aber auch als Produktionsort der
Fischnahrung für die älteren P'ische unergiebiger,
da der Schilf einerseits das Gedeihen der Llnter-
wasserpflanzen mehr und mehr hemmt, andererseits
aber selbst nicht als Fischnahrung in Betracht
kommt. Ebenso können auch die Schilfbewohner,
die von ihm aus ins Wasser geraten, nicht j; als
Nahrungsquellen für die Fische gelten. In den
Altwässern des Rheins hat Schlesinger seine
Untersuchungen angestellt und an den schilffreien
Stellen an angeschwemmten Landpflanzenteilen
ungeahnte Mengen von allerlei Gliederfüßlern fest-
stellen können (Flohkrebse, Wasserasseln, Libellen-
larven, Wasserkäfer und ihre Larven u. v. a.). Im
Schilfwald dagegen war die Fauna nach Zahl und
Art eine sehr geringe.
Ein 2. Übelstand der Verschilfung für den
Fischzüchter ist die Möglichkeit, welche die Schilf-
dickungen für die verschiedenen Fischräuber bieten,
sich zu verbergen. Wasserratten, Spitzmäuse,
Wildenten und Wasserhühner, große Hechte und
Barsche, in manchen Gegenden, wie in den böh-
misch-sächsisch-bayrischen Grenzgebieten auch
noch der geiahrlichste Fischräuber, die aus Amerika
eingeschleppte Bisamratte, sie alle finden im
Schilfwalde die besten Schlupfwinkel und der
Schaden, den sie durch diese Begünstigung ihrer
Lebensbedingungen, unter dem Fischbestande zu
stiften vermögen, ist durchaus nicht unbeträchtlich.
Die Verschilfung wirkt also stark auf die Ertrags-
fähigkeit der Gewässer ein, sie beschränkt auch
die Fischmengen, welche daraus als Nahrung für
den Menschen bezogen werden können und es
wird sich deshalb wohl lohnen, sich der Arbeit
zu unterziehen, die Schlesinger zur Ent-
schilfung der Fischgewässer vorschlägt.
„Es muß alljährlich 2 mal, sagt der Verfasser, im
Frühjahr, wenn der Schilf stark in der Entwicklung
ist und im Herbst, kurz vor dem Absterben, der
ganze Schilfwald direkt über dem Boden, also am
Wurzelhals, mit der Sense oder einer Schilfmäh-
maschine abgemäht werden." Ich habe an kleineren,
ruhigfließenden Flüssen, wie an der Wörnitz, einem
Nebenfluß der Donau in Bayrisch-Schwaben, öfters
ein derartiges Abmähen der Schilfbestände vom
Kahn aus mit der Sense beobachtet. Es ist natürlich
ein sehr mühseliges Verfahren, das durch Benützung
einer Schilfmähmaschine bedeutend erleichtert
werden könnte. Derartige Schilfmähmaschinen,
die entweder von 2 Kähnen aus oder bei günstigen
Verhältnissen auch von einem Kahn und vom Ufer
aus betrieben werden können, wären am besten
nach dem Rat des Verfassers von Staats wegen
anzuschaffen und den einzelnen Fisch wasserbesitzern
gegen eine entsprechende Miete zu überlassen. Die
Entschilfung der Fischgewässer ist jedenfalls eine
dringliche Frage, die bald in Angriff genommen
werden muß, um so mehr als in der jetzigen Zeit
kein Mittel unversucht bleiben darf, durch das es
möglich ist, unsere gesamten heimischen Wirt-
schaftsquellen voll in den Dienst des Vaterlandes
zu stellen. H. W. Frickhinger.
Forstwirtschaft. Zum Vorkommen der Wachtel.
Während die Mehrzahl unserer einheimischen
Vögel Jahr für Jahr an Zahl abnehmen, ist er-
freulicherweise bei der Wachtel [Cofiirnix
coiiniinnis Bonn) in den letzten Jahren allmäh-
lich eine Zunahme zu konstatieren gewesen
und gerade heuer erscheint die Wachtel wieder
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
647
häufiger denn je auf unseren Fluren. Wie
Rektor Benecke (Bad Schmiedeberg) in der
OrnithologischenMonatsschrifi (42. Jahrg.
191 7 Nr. 5) mitteilt, traf er die Wachtel in diesem
Jahre nicht nur auf Wiesen und in Kornfeldern,
sondern auch öfters in Kiefernschonungen. Auch
in Süddeutschland ist die Zunahme der Wachtel
in diesem Jahre unverkennbar. Während ich lange
Jahre nur mehr äußerst selten den Wachtelruf
vernahm, tönte er mir heuer auf meinen zahlreichen
Wanderungen auf der oberbayerischen Hochebene
und im Ries (Bayrisch-Schwaben) überall auf
Wiesen und Feldern, jedoch nie im Walde oder auch
nur am Waldrande, entgegen. Womit ist nun
diese plötzliche starke Zunahme der Wachtel zu
erklären? Sowohl Rektor Benecke wie Freiherr
von Besserer (Deutscher Jäger 39. Jahrg.
1917 Nr. 28) machen dafür vor allem die Tatsache
verantwortlich, daß während der jetzigen Kriegs-
zeit die Verfolgungen der Wachtel in den süd-
lichen Ländern, vornehmlich in Italien und
Griechenland, schon deshalb nicht so vernichtend
ausgeübt werden können, weil einmal die Zahl
der Fallensteller sich gegen die Friedensjahre stark
verringert hat und dann die füher in so hohem
IVIaße geübte Ausfuhr erbeuteter lebender Vögel nach
Frankreich und England kaum mehr betätigt werden
kann (allein von Ägypten aus wurden früher alljähr-
lich zumindest I Million Wachteln allein nach London
ausgeführt). Deshalb war die IVIöglichkeit gegeben,
daß in den letzten 3 Jahren immer mehr Vögel
zu ihren nordischen Nistplätzen zurückgelangen
konnten. Und gerade heuer vermehrte sich die
Zahl der Wachteln in den deutschen Gauen wohl
aus dem Grunde so stark, weil viele Vögel, durch
den strengen Winter in der Rückwanderung auf-
gehalten, sich auf ihrem Rückzuge nach ihren
nordischen Quartieren verspäteten und dann im
IVIai in Deutschland ihren Zug unterbrachen, weil
der Bruttrieb erwachte oder Legenot sich bei
ihnen plötzlich einstellte. Sei dem aber, wie ihm
wolle, jedenfalls ist es eine hocherfreulirhe Tat-
sache, daß wir wieder einmal von einem Vertreter
der deutschen Vogelwelt eine Zunahme seines
Vorkommens festzustellen vermögen.
H. W. Frickhinger.
Nützlichkeit und Schädlichkeit der Spechte.
Die Echten Spechte oder Siemmschwanz-
spechte {Picinae) sind im deutschen Forst durch
mehrere Gattungen und Arten vertreten : der ge-
wöhnliche Schwarzspecht {Picus martiiis L.)
kommt vornehmlich in den Alpen und den IVIittel-
gebirgsländern vor, während die 3 Repräsentanten
der Buntspechte, der große, mittlere und
kleine Buntspecht (Deiidrocopus major L. ;
D. nicdius Koch und D. minor Koch) die
Wälder des Flachlands bevorzugen; und zwar trifft.
man hier den großen Buntspecht vornehmlich in
Nadelwäldern, den kleinen Buntspecht mehr in
Laub- und den mittleren Buntspecht fast aus-
schließlich in Eichenwäldern. Im allgemeinen läßt
sich aber wohl sagen, daß die Grenzen der ein-
zelnen Verbreitungsgebiete der 3 Spechte nicht
scharf getrennt sind, sondern mehr oder weniger
ineinander übergehen. Weiterhin kommen in
deutschen Wäldern noch der Grauspecht (Gc-
cinus canus Gmel) und der Grünspecht {Ge-
cimis viridis L.) vor, deren Bedeutung aber im
Vergleich zu den 4 erstgenannten Arten gering
ist. Der weißrückige Specht (Dendrocopjis
leuconofus Bechst.) und der dreizeh ige Specht
{Picoidcs tridactylus L.) sind seltene Arten, die
für die Praxis kaum jemals in Betracht kommen.
Die Stellung der Spechte im Haushalt
der Natur ist viel umstritten worden. Während
man früher die Vögel der Beschädigungen wegen,
die sie an den Bäumen des Waldes vollführen,
geradezu als Schädlinge bezeichnete und Prämien
für ihren Abschuß aussetzte, hat sich heute die
Auffassung der Forstzoologen allmählich gewandelt:
die neueren Erfahrungen haben gelehrt, daß die
Spechte zwar nicht unerheblichen Waldschaden
verursachen können, daß aber der Schaden, den
sie zugestandenermaßen anrichten, bei weitem
übertroffen wird von dem Nutzen, den sie als
Vertilger von allerhand Sch^dmsekten stiften. Die
Spechte stellen vor allem zahlreichen frei im Holze
lebenden Insekten und deren Larven nach. Der
bekannte F'orstzoologe Prof. Alt um hat allerdings
behauptet, die Spechte verzehrten lediglich forst-
lich indifferente Rinden- und Holzinsekten, ließen
dagegen die hauptsächlichsten Forstschädlinge
(Rüssel- und Bockkäferlarven) unbehelligt. Dem
ist aber nicht so: gerade die forstlich so schäd-
lichen Larven der Bockkäfer, Rüsselkäfer und
Borkenkäfer, daneben natürlich auch die feisten
Raupen des Cossks Schwärmers oder die Larven
der Holzwespen (ÄmrArten) (letzteres beides
forstlich minder wichtige, aber immerhin beach-
tenswerte Schädlinge) werden von den Spechten
mit Vorlit-be aufgesucht und vertilgt. Natürlich
kann diese Nihrungssuche der Spechte, die sich
immer auf Tiere erstreckt, die zumindest unter
der Rinde, aber auch recht häufig tief im Holze
leben, nicht ohne erkennbare Beschädigungen der
Waldbäume abgehen. Dabei ist aber zu bedenken,
daß es ja immer nur kranke Bäume sind, welche
die Spechte angehen; denn die Vögel erkennen
das Vorhandensein ihrer Nahrungstiere ja geradezu
am Gesundheitszustand der Bäume. Die durch
die Spechte bei der Untersuchung der Stämme
auf Insektennahrung verursachten Baumbeschädi-
gungen sind verschiedener Art. Am charakteri-
stischsten erscheinen die rechteckigen Schälstellen,
wie sie Dr. S t r ö s e in der „Deutschen Forst-
zeitung" (Bd. 32 1917 Nr. 25) von Stücken aus
dem Jagdmuseum der „Deutschen Jägerzeitung"
in Berlin-Zehlendorf beschreibt. Auf den ersten
Blick hat man den Eindruck, als seien die Wund-
stellen von menschlicher Hand mit einem Meißel
künstlich angebracht worden. Der Schnabel des
Spechtes ist eben ein ideales Werkzeug für seine
Zimmermannstätigkeit. „Ober- und Unterschnabel
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
bilden, namentlich bei den größeren Arten, sagt
Ströse, eine sich nach der Spitze zu allmählich
verjüngende Pyramide, der Schnabel ist außer-
ordentlich hart und am Ende senkrecht wie ein
Meißel abgestutzt." In entsprechender Weise sind
auch die Kopfknochen organisiert, sie sind von
beträchtlicher Stärke und fest miteinander ver-
bunden. Die Höhlungen, welche die Spechte in
die Bäume meißeln, haben aber außer ihrer eigent-
lichen Bestimmung, daß sie den Vögeln zu ihrer
Beute verhelfen und so den Wald von zahlreichen
Schadinsekten befreien, auch noch eine weitere
begrüßenswerte Nebenwirkung; sie dienen zahl-
reichen kleineren Höhlenbrütern aus der Vogel-
welt, deren Nützlichkeit außer Frage steht, als
Wohnung. Der Schaden, den die Spechte verur-
sachen, ist deshalb weit geringer als der Nutzen,
den der Forstmann aus ihrer Tätigkeit zieht, und
die Bestrebungen, diese interessanten Vögel vor
unnützen Verfolgungen zu schützen, verdienen die
Unterstützung aller beteiligten Kreise.
H. W. Frickhinger.
Paläontologie. Zur stratigraphischen Beurtei-
lung von Calceola (Calceola sandalina Lam. n.
mut. lata und aha), mit 2 Figuren im Text, gibt
R. Richter im Neuen Jahrbuch für Minera-
logie, Geologie und Paläontologie 1916 II. Bd.
I.Heft interessante Mitteilungen. Die Lebens-
zeit der Pantoffelkoralle Calceola san-
dalina fällt in der Eifel nicht mit der
Calceolastufe des unteren Mitteldevons
zusammen, wie manche Lehrbücher noch den
Eindruck erwecken, sondern sie reicht hoch in
die Stringocephalenstufe hinauf Damit
hat auch Calceola sandalina, ursprünglich das
Muster eines Leitfossils, ihren stratigraphischen
Wert verloren. Indessen wird durch ihr Aus-
sterben in der Stringocephalenstufe diese Stufe in
2 Unterstufen getrennt. Sehr verbreitet ist die
Pantoffelkoralle in der Brachiopodenfacies der
unteren Stufe des Mitteldevons. In der Eifel (Hilles-
heimer Eifelkalkmulde) fällt ihre Blütezeit erst in
das Hangende der Calceolastufe. Hier zeigt sich
eine auffallende und beständige Verschiedenheit
zwischen den Formen der unteren und denen der
oberen Abteilung des Mitteldevons.
In der Stringocephalenstufe kommt in Beglei-
tung von Stringocephalus Burtini, Spirifer gerol-
steiniensis, Turbo armatus und Dechenella Ver-
neuili stets eine Calceola von eigenartig schmalem
Bau vor, die sich von der älteren Form der Cal-
ceolastufe gut auseinanderhalten läßt. Das Vor-
handensein dieser verschiedenartigen, stratigraphisch
selbständigen Calceolaformen stützt sich auf zahl-
reiche Fundpunkte der Eifel. Überall ist eine
breite Form für die Calceolastufe und
eine schmaleFormfürdie jüngereStrin-
gocephalenstufe charakteristisch.
Bereits Gold fuß war das Auftreten einer
durch zahlreiche Übergänge verbundenen „hohen"
und einer „breiten" Spielart bekannt; auch F.
Roemer und namentlich Quenstedt waren
diese Unterschiede aufgefallen. Bezeichnend ist,
wie sich Quenstedt darüber ausspricht: „Aus
den vielen Varietäten des Eifler Kalkes hat man
nur eine Spezies Calceola sandalina zu machen
gewagt." Warum man früher die zeitliche Selb-
ständigkeit der beiden Mutationen nicht scharf
erkannt hat, liegt an dem Mangel horizontmäßigen
Sammeins in der Eifel. Man hat die Faunen der
verschiedenen Mulden und Mitteldevonstufen bunt
durcheinandergewürfelt.
Stratigraphisch gut gesammeltes Material, das
der vorliegenden Untersuchung zugrunde lag, be-
findet sich im Senckenbergischen Museum zu Frank-
furt am Main. Messungen der Rückenfläche des
Kelches an der Spitze ergaben einen Winkel von
60° — 70" ja So" bei der breiten Form der Cal-
ceolastufe und von 40—50" bei der schmalen
Form der Stringocephalenstufe. Dazwischen lie-
gende Werte von 50" — 60", namentlich von 55"
treten zurück. In der Calceolastufe sinkt der
Winkel selten unter 60", niemals unter 50° hinab,
während bei ausgesprochenen Stringocephalen-
formen der Winkel ganz selten auf 55" ansteigt,
dagegen bis 2)^" sinken kann.
Aus diesem Befund ergeben sich folgende für
die stratigraphische Erkennung der beiden Mittel-
devonstufen wichtige Anhaltspunkte:
1. Das Vorwiegen von Calceolakelchen mit
einem Winkel von 60", die Abwesenheit von
solchen unter 50", ja das Auffinden einzelner
Kelche mit Winkeln über 60° beweist das höhere
Alter einer Ablagerung und spricht für Zurechnung
zur Calceolastufe.
2. Das Überwiegen von Calceolakelchen mit
Winkeln von 50" und darunter, die Abwesenheit
von Winkeln über 60", ja das bloße Auffinden
einzelner Kelche mit Winkeln unter 50" beweist
das jüngere Alter einer Ablagerung und genügt
für Zurechnung zur Stringocephalenstufe.
Beide Formen stehen nach alledem nicht im
Verhältnis von Spielarten zueinander, denn dann
müßten sie gleichzeitig miteinander auftreten,
sondern es sind Mutationen. Die Schmalform ist
aus der Breitform (Stammform) hervorgegangen
und hat deren ausgesprochene Merkmale so stark
verdrängt, daß nur unsichere Anklänge noch vor-
handen sind oder auf sie zurückschlagen.
Obwohl man an eine artliche Trennung der
beiden Formen denken könnte, unterscheidet R.
Richter nur Mutationen im Sinne der erläuterten
Beschreibung und zwar nennt er die Form i
Calceola sandalina Lam. n. mut. lata Richter und
Form 2 Calceola sandalina Lam. n. mut. alta
Richter. Damit wären die selbständigen Muta-
tionen von jenen Grenzformen eines als einheitlich
und gleichzeitig pendelnd gedachten Abänderungs-
spieles gut unterschieden.
Infolge der Gleichwertigkeit von Stammform
und Mutation ist es richtig, auch die Stanimform
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
649
mit einem 3. Namen„typus" zu bezeichnen und
sie einander als Mutationen gleichzusetzen.
Mit der älteren Form (mut. lata) erreicht Cal-
ceola ihre bedeutendste Größe, hinter der die
jüngere alta-Form weit zurückbleibt. Dafür aber
erlaligt die jüngere Form den größten Reichtum
an Einzeltieren. Mitunter tritt sie dann in solchen
Massen auf, daß Kelch an Kelch liegt (Weinweg
bei Gerolstein) und zu regelrechten Calceolabänken
werden, in denen daneben nur noch einige Ko-
rallen, Crinoiden und Brachiopoden auftreten
(Dreimühlen bei Ahütte). In diesem Falle bleiben
die einzelnen Tiere meist noch kleiner als sonst.
Die stratigraphische Grenzlinie der beiden
Mutationen ist noch unbestimmt, jedoch dürfte
der Übergang der breiten in die schmale Form
in oder über der Crinoidenschicht oder in die
unteren Glieder der Stringocephalenstufe fallen.
Die breite Form steigt in die hängendsten Lagen
der oberen Calceolastufe hinauf und erreicht hier
gerade ihre bedeutendste Größe und Breite.
Rückblickend läßt sich sagen, daß die beiden
Mutationen lata und alta 2 zoologisch und zeit-
lich getrennte Calceolaformen sind, deren jede
eine der beiden Hauptabteilungen des Mitteldevons
Fig. I.
Calceola sandalina Lam. mut.
lata Richter
Vereinfachte Kopie von '1 af. IV
Fig- 7-
lg. 2.
Calceola sandalina
Lam. mut. aha
Richter
Vereinfachte Kopie
von Taf. IV Fig. 13-
bezeichnet. Sie lassen sich im Felde stets ohne
weiteres unterscheiden, was von um so größerem
stratigraphischen Werte ist, da einem Calceola
beim Sammeln eher in die Hände fällt, als die
angegebenen Leitfossilien.
Alles Gesagte bezieht sich nur auf die
Eifel. Ob unter der jüngeren Calceola auch in
entfernteren Gebieten (z. B. den Stringocephalen-
formen von Haina, in Mähren und östlich davon
usw.) Beziehungen zur Mutation alta auftreten,
muß späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
In Belgien erscheint Calceola in der Cultrijugatus-
stufe, ist ziemlich vereinzelt in der unteren Cal-
ceolastufe, erreicht ihre größte Häufigkeit in der
oberen Calceolastufe, ist aber mit Beginn der
Stringocephalenstufe (Givetien) plötzlich ver-
schwunden, während sie gerade in der benach-
barten Eifel ihre größte Häufigkeit erlangt. Da-
mit ist Calceola in Belgien ein ausschließliches
Leitfossil der Calceolastufe und daher die frühere,
jedoch in neueren Eifelarbeiten verschiedentlich
abgelehnte Bezeichnung Calceolastufe für das äl-
tere Mitteldevon gerechtfertigt. Die verdienstvolle
Arbeit von R. Richter hat ergeben, das auch
den beiden Mutationen lata und alta von Calce-
ola der Wert eines Leitfossils zukommt.
V. Hohenstein.
Heilkunde. Über die Verbreitung des Krebses
in der Schweiz hat M. B. JosseP) auf Grund
des Materials des Eidgenössischen Statistischen
Amtes in Bern eine Zusammenfassung veröffent-
licht, die für das Krebsproblem überhaupt von
großem Interesse ist. Die Schweiz ist vor den
anderen europäischen Ländern durch eine außer-
ordentlich große Sterblichkeit an Krebs ausge-
zeichnet. Im Durchschnitt der Jahre 1901 — 1905
starben von loooo Lebenden 12,2 Personen an
ärztlich festgestelltem Krebs, im Durchschnitt der
Jahre 1906— 1910 — 11,9 Personen. An bös-
artigen Geschwülsten überhaupt starben 12,9 bzw.
12,6 Personen auf je lOOOO Lebende. Die ent-
sprechenden Zahlen für Deutschland, England,
Frankreich, Österreich und Italien sind viel ge-
ringer und liegen zwischen 5,5 und 10 Todes-
fällen an bösartigen Geschwülsten. Nijr die
Stadtbevökerung von Dänemark weist mit 13,6
Todesfällen eine größere Sterblichkeit an bös-
artigen Geschwülsten auf als die Schweiz.
Allerdings darf niemals vergessen werden, daß
die Zahlen für die Sterblichkeit an Krebs
oder bösartigen Geschwülsten überhaupt sehr da-
von abhängig sind, wie groß der Anteil der
Todesfälle, die ärztlich nicht beglaubigt wurden,
an der Gesamtzahl der Todesfälle ist. Je größer
die Zahl der Fälle, bei denen die Todesursache
ärztlich nicht beglaubigt wurde, desto größer muß
die Zahl der „unbekannten" Todesursachen und
desto geringer die Zahl der Sterbefälle an Krebs
und anderen Alterskrankheiten sein. J o s s e 1 bringt
auch in dieser Richtung einige überaus wertvolle
Zahlen. Vergleicht man nämlich die Sterblichkeit
an Krebs in den einzelnen Kantonen der Schweiz,
so findet man, daß in manchen Kantonen die
Krebssterblichkeit ganz außerordentlich gering ist:
sie beträgt z. B. im Kanton Wallis bloß 4,6 auf
lOOOO Lebende, im Kanton Uri — ii,7 (d'e
letztere Zahl ist auffallend klein im Vergleich
zu den anderen benachbarten Kantonen der Ur-
schweiz — Schwyz, Unterwaiden, auch Luzern — ,
die eine Krebssterblichkeit von 15,4 bis 17,8
haben). Berücksichtigt man nun die Zahlen für den
prozeniischen Anteil der ärztlich nicht oder nur
ungenügend bescheinigten Todesfälle, so findet
man, daß in diesen Kantonen dieser Anteil am
größten ist: im Wallis gab es in den Jahren 1901
bis 1910 — 43,1 "/o ärztlich nicht oder ungenügend
bescheinigter Todesfälle, in Uri - 19,7 7o- Ab-
solut sicher ist jedoch dieser Zusammenhang noch
nicht festgestellt. Denn in manchen Kantonen,
wie z. B. im Tessin mit nur 8,8 oder in Bern mit
1) M. B. Jossei, Der Krebs in der Schweiz in den
Jahren 1901— 1910. (Med. Dissertation der Universität Bern.)
Bern 1916, Akadeniische Buchhandlung.
650
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
10,3 Krebsstcrbcfällcn auf lOOOO Lebende, ist die
Zahl der Todesfälle, die ungenügend ärztlich be-
scheinigt wurden, sehr gering (bloß 2,3 bzw.
2,4 V-
Sicher festgestellt ist die Abnahme der Krebs-
häufigkeit in der Schweiz, wie wir oben gesehen
haben. In dieser Beziehung weicht die Schweiz
von den anderen Ländern ab, in denen ausnahms-
los eine Zunahme der Sterblichkeit an bösartigen
Geschwülsten und speziell an Krebs festgestellt
worden ist. Ob auch hier wieder der oben er-
wähnte statistische Mangel eine Rolle spielt, kann
einstweilen nicht gesagt werden.
Lipschütz, Bern.
Zoologie. Die Verbreitung der Coregonen, ein
hydrobiologisches Problem. Thienemann^j
scheidet die Binnenseen im Hinblick auf die Ver-
hältnisse Deutschlands und der Schweiz in zwei
Gruppen: Gruppe I bilden die Seen mit bis auf
den Grund reichem Sauerstoffgehalt und mit einer
Tiefenfauna, die der Tierwelt von klaren Wiesen-
gräben ähnlich ist, Gruppe II hat infolge Fäulnis
am Grunde hochgradigen Sauerstoffmangel, ihre
Tiefen werden daher von einer Abwasserfauna
besiedelt. Zu dieser Einteilung der Seen kam
Thienemann zuerst bei seinen Untersuchungen
an den Kraterseen der Eifel, den sogenannten
Maaren. Weiterhin schließt er der Gruppe I die
Seen am Nordfuß der Alpen an, der Gruppe II
aber im allgemeinen die Seen der norddeutschen
Tiefebene.
Diese hydrobiologischen und hydrochemischen
Feststellungen geben einen Hinweis zur Erklärung
der eigenartigen Verbreitung der Coregonen. Diese
Fische, die Maränen, Renken und Felchen der
Gattung Coregonus, bewohnen vornehmlich die
nordalpinen Seen in reicher Artentwicklung. Viel
spärlicher treten sie in der norddeutschen Tief-
ebene auf: hier ist nur eine Art, die Kleine Maräne,
weit verbreitet, und eine zweite, die Große Maräne,
kommt nur in drei Seen vor: im Selenter See in
Holstein, im Schalsee in Mecklenburg und im
Madüsee in Pommern.
Die Kleine Maräne bleibt vorläufig außer Be-
tracht, weil ihre Lebensverhältnisse noch nicht
völlig geklärt sind. Die Große Maräne ist,
außer zu ihrer Laichzeit, ein Tiefenfisch und nahe
verwandt mit manchen alpinen Felchen. Die nach
Vorstehendem naheVermutung, fehlender Sauerstoff-
gehalt in den meisten norddeutschen Seen werde
die Ursache der beschränkten Verbreitung dieses
Fisches sein, erwies sich durch die im Sommer 1916
ausgeführten Untersuchungen als richtig. „Die
drei Heimatseen der Großen Maräne haben ein
sauerstoffhaltiges Tiefenwasser, die übrigen zum
i)A. Thienemann: Die wissenschaftlichen Aufgaben
und die wirtschaftliche Bedeutung der Hydrobiologischen Anstalt
der Kaiser-Wilhelm-GeselUchaft zu Plön. in „Der Fischer-
bote", herausgegeben von E. Ehrenbaum und H. Lubbert,
IX. Jahrg., 1917, Nr. 5/6.
Vergleich untersuchten ein sauerstofifarmes , ja
teilweise sauerstofffreies."
Damit ist ein Problem gelöst, über das man bis-
her zum Schaden wirtschaftlicher Unternehmungen
völhg im Unklaren war: „Man hat, vor allem in
den siebziger und achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts, Millionen von Coregonenbrut in alle
möglichen Seen eingesetzt und so Tausende und
aber Tausende von Mark buchstäblich ins Wasser
geworfen." Man hatte eben keinen Einblick in
die Aussichtslosigkeit aller dieser Versuche und war
auf dem falschen Wege, wenn man zeitweilig an-
nahm, die Temperatur der norddeutschen Gewässer
sei für diesen Fisch zu hoch. Nicht an der Tem-
peratur, sondern am Sauerstofifgehalt liegt es, und
um ihn ungefähr zu beurteilen, genügt heute ein
Schleppnetzzug, der etwas Tiefenfauna heraufbringt.
Thienemann stellt diese Untersuchungen,
die der reinen Wissenschaft angehören, gleich-
wohl aber auch für die angewandte Wissen-
schaft hohe Bedeutung haben, als ein Beispiel hin
für die zukünftigen Ziele der Hydrobiologischen
Anstalt in Plön. Bekanntlich ist der Gründer der
Anstalt, die bisher „Biologische Station" hieß,
Prof Dr. O. Zacharias, am 2. Oktober 1916,
einen Tag nach dem 25jährigen Jubiläum des
Instituts, verstorben. Ein Leben, reich an Erfolgen
und Verdiensten, liegt hinter dem Manne, der es
vom Handwerksburschen zum Professor gebracht
hat. Ihm verdankt die Wissenschaft den Hinweis
auf die Bedeutung der früher ganz vernachlässigten
Süß Wasserbiologie, namentlich der Süßwasser-
planktonkunde, und den später so vielfältig zur Aus-
führung gekommenen Gedanken der Gründung
hydrobiologischer Warten. Der angewandten
Wissenschaft war Zacharias ziemlich abgeneigt.
Dagegen wirkte er für den biologischen Unterricht
viel. Wofür er in seinem besten Mannesjahren
unermüdlich warb, das ist Wirklichkeit geworden.
Diese Verdienste bleiben unvergessen, gleichviel
ob in späteren Jahren die Persönlichkeit Zacharias'
stark hinter der von ihm in die Wege geleiteten
Sache zurücktrat, da er nur noch wenig der wissen-
schaftlichen Arbeit lebte und sein Institut, zu dem
er eigene Mittel hergegeben hatte, für viele
vielleicht nicht das leistete, was man sich von ihm
versprochen. Nun ist diese Forschungsstätte in
den Besitz der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft über-
gegangen ; zu seinem Leiter ist Professor Thiene-
mann berufen. Er stellt als Hauptaufgabe hin,
die Wechselwirkungen zwischen den Seen und
ihrer Organismenwelt zu erkunden. Das ist ein
rein wissenschaftliches Problem, vielmehr eine
Vielzahl von solchen, doch wird ihre Bearbeitung
auch dem Gewerbe und zwar der Seenfischerei zu
gute kommen. Wie es im Titel des Vortrags
heißt: die Hydrobiologische Anstalt hat „wissen-
schaftliche Aufgaben" und „wirtschafi liehe Bedeu-
tung". Gewiß kann die Süßwasserbiologie auf
diesem Wege neue reiche Erfolge erhoffen.
V. Franz.
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
651
Über auffallende Gespinstbildungen Hifo[ge
Massenauftretens einerGespinstmotJ^. Die Abteilung
fiF Pflanzenkrankheiten des Kaiser Wilhelm Instituts
für Landwirtschaft in Bromberg erhielt, wie Dr.
F. Burkhardtin der„Naturwissensch.Zeitschr. f.
Forst- u. Landwirtschaft" berichtet (i 5- Jahrg. 19 17
Heft 4/6), anfangs Juli 1916 ein Stück eines
„seidenpapierartigen Gewebes", mit dem nach den
Angaben des Einsenders einzelne Bäume eines
Wäldchens bei Gramtschen unweit von Thorn dicht
überzogen waren. Das Gespinst war von „weißer,
auffallend zarter, wenn auch ziemlich fester Be-
schafifenheit". Eine Besichtigung an Ort und Stelle
ergab dann, daß die befallenen Bäume durch-
gängig Traubenkirschbäume waren {Primus Pa-
dus L.) und es sich bei den Gespinsten um Ge-
spinstbildungen der Raupe einer Gespinstmotte
{Hypoiwmeiita padi Zell, evonymelhis L.) handelte.
Anfangs Juni waren die Bäume von den Raupen
vollständig kahlgefressen worden, ohne daß die
Bäume aber dadurch sichtlich Schaden gelitten
hätten: sie hatten sich nach der Verpuppung der
Larven wieder neu belaubt. Die großen Massen
der Raupen hatten die Bäume mit ihren Gespinsten
bis in die feinsten Zweige hinein überzogen, so
daß man ohne sonderliche Schwierigkeiten zu-
sammenhängende Gespinststreifen von 10—12 m
Länge ablösen konnte. Die Fäden des Gewebes
dieser Flypüiiomcuta-^irt zeichnen sich durch ihre
Feinheit aus. Sie haben einen Durchmesser von
höchstens 2 [i und, was besonders auffallend ist,
auf lange Strecken hin eine stets gleichbleibende
Stärke. Diesen seinen Eigenschaften verdankt das
Gespinst von H. padi den Versuch, es technisch
zu verwerten. Schon im Jahre 1836 wurden in
München derartige Versuche unternommen: man
ließ verschiedene aus feinem Draht hergestellte
Formen von Hüten oder Bändern mit dem Gewebe
überziehen. Einbürgern konnten sich aber diese
Versuche nicht, dazu war das Vorkommen der
Motte nicht häufig genug und blieb auf Zufälle
beschränkt. Im heurigen Jahre tritt die Motte
sehr stark auf, deshalb sollen auch die Ver-
suche, wie ich höre, wieder hier in München,
erneut aufgenommen werden. Die Zahl der
ausschlüpfenden Falter war auch in dem von
Burkhardt beobachteten Falle im Vergleich zu
der enormen Anhäufung der Kokons eine sehr
niedrige. Zwei Ursachen gibt der Verf. daran die
Schuld: einmal war der Befall der Mottenkokons
durch Schlupfwespen ein sehr hoher und dann
scheinen gerade die dicht gehäuften Kokons-
klumpen einen beträchtlichen Prozentsatz der
Puppen zu ersticken oder die frischgeschlüpften
Motten, welche nicht die Kraft haben, sich durch
den Kokonknäuel nach außen hindurchzuarbeiten,
bald wieder zum Eingehen zu bringen. Wenigstens
enthielt ein großer Teil der inneren Kokons ab-
gestorbene Puppen und abgestorbene junge Falter.
H. W. Frickhinger.
Der Einfluß der Temperatur auf die Entfaltung
eines erblichen' Merkmals. (Mit 4 Abbildungen im
Text.) Im Verlaufe von Selektionsexperimenten,
die Miss Hoge mit der Tau- oder Fruchlfliege,
Drosophila ampelophila, ausführte, traten in den
Abb. I. Abb. 2.
Rechtes erstes Bein eines Linkes erstes Bein eines
Männchens. (Nach Hoge.) Männchens. (Nach Hoge.)
Kulturen einige Männchen mit einem neuen Merk-
mal auf, das sich bei näherer Prüfung als erblich
erwies ; ^) es handelt sich also um eine Mutation.
Das Merkmal besteht in Ver-
doppelungen an den Beinen,
^^ die im einzelnen sehr mannig-
JR|k L4 faltig sein können. Bald sind
§g^^ t^ Uli'' die Tarsalglieder verdoppelt
■■HkaB (Abb. 1), bald sind nahezu voll-
^^H^l ständige überzählige Extremi-
■^^^V täten vorhanden (Abb. 4), an
W^L ^ jedem Glied des Beines können
Jf J» überzählige Teile abzweigen.
fJ^ Im allgemeinen ist die Verzwei-
§/ l gung dichotom, doch kommt
i ^ gelegentlich auch eine Drei-
teilung vor (Abb. 2). In der
Regel entwickeln sich an den
überzähligen Ästen alle distal
von der Abzweigungsstelle lie-
genden Glieder. So sind bei
Abb. 3.
Rechtes erstes Beii
eines Männchens.
(Nach Hoge.)
Abb. 4.
Linkes drittes Bein eines Weibchens. (Nach Hoge.)
») Hoge, Mild red A., The influence of temperature
on the development of a Mendelian character. Journ. of
exper. Zoöl., Vol. 18, 1915-
652
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
der in Abb. 4 wiedergegebenen Extremität auf
den beiden einheitlichen ersten Gliedern, Hüftglied
und Schenkelring, zwei Schenkel, zwei Schien-
beine und zwei Reihen Fußglieder entstanden. An
einer Extremität kann auch wiederholt eine Gabe-
lung erfolgen. In Abb. 3 z. B. sitzen auf dem
einheitlichen Schenkel zwei Schienbeine und zwei
Reihen F'ußglieder, von denen sich aber der
innere Ast beim zweiten Tarsalglied wiederum
gabelt, so daß die letzten vier Tarsalglieder und
die Klauen dreifach vorhanden sind. An einer
Extremität konnten bis zu vier Gabelungen fest-
gestellt werden. Bei einfacher Gabelung sind die
beiden Äste spiegelbildlich gleich, d. h. sie ent-
sprechen einer rechten und einer linken Extremität.
Gabelt sich der eine Ast nochmals, so steht die
Symmetrie der tertiären Teile in bestimmter Be-
ziehung zu dem ungeteilten sekundären Ast, indem
zwei Äste mit der gleichen Symmetrie einander
niemals benachbart sind. Der ungeteilte sekun-
däre Ast weist immer die normale Symmetrie des
Beines auf. Extremitäten, die sich gegabelt haben,
können im Laufe der Entwicklung wieder mehr
oder weniger verschmelzen, so daß ihre Doppel-
natur häufig nur an der Zahl der Klauen oder
beim Männchen an der Zahl der „Geschlechts-
kämme" auf dem ersten Tarsalglied des ersten
Extremitätenpaares erkannt werden kann (Abb. i).
Auch Verwachsungen der Extremitäten der rechten
und der linken Seite kommen bei der Mutation
vor, so daß bisweilen sehr bizarre, kaum funktions-
fähige Formen entstehen.
Von den zuerst aufgetretenen Männchen aus
suchte Miss Hoge eine reine Rasse von der
Mutation zu züchten. Dieses Bestreben war in-
dessen lange Zeit erfolglos. Obwohl in jeder
Generation die Mutanten ausgesondert und immer
wieder nur diese zur Fortpflanzung gebracht wurden,
variierte der Prozentsatz der anormalen Individuen
von Generation zu Generation in hohem Maße,
näherte sich aber niemals loo"/,,. Das neue
Merkmal verhielt sich dem normalen Zustande
gegenüber offenbar bald dominant, bald rezessiv,
und selbst Fliegen, die den Verdoppelungsfaktor
— wie wir den Erbfaktor, der das neue Merkmal
hervorruft, nennen wollen — in homozygotem
Zustande enthalten mußten, waren oft vollständig
normal. Zweimal verschwanden die Mutanten in
den ,, Reinkulturen" fast vollständig. Im Sommer
1912, kurz nach dem Auftreten der Mutation, fand
ein „Rückschlag" zur normalen Form statt, nur
wenige Mutanten, überdies nur schwach anormale
Individuen, entstanden. Erst nach sorgfältiger
Selektion und längerer Inzucht erschienen die
Mutanten in größerer Zahl. Ein ähnlicher „Rück-
schlag" wurde zu Beginn des Sommers 191 3 be-
obachtet. In beiden P'ällen erfolgte der „Rück-
schlag" mit dem Eintreten wärmeren Wetters.
Das veranlaßte Miss Hoge, den Einfluß der
Temperatur auf die Produktion der abnormen
Fliegen experimentell zu prüfen, und dabei stellte
sich heraus, daß die Entfaltung des die Mutation
charakterisierenden Merkmales in der Tat weit-
gehend von der Temperatur abhängig ist. Brachte
Miss Hoge die Kulturen in einen Eisschrank von un-
gefähr 10" C, so entstanden 3 — 6 mal so viele
anormale Fliegen wie in den Kontrollkulturen, die
bei Zimmertemperatur gehalten wurden. Wurden
die Flaschen mit den Fliegen gleich nach der
Kopulation derselben in den Eisschrank gebracht, so
blieben viele Fliegen unfruchtbar, aber die ge-
samte Nachkommenschaft war anormal, und zwar
erreichten viele Fliegen einen weit höheren Grad
von Anormalität als irgendeines der bei Zimmer-
temperatur gezüchteten Individuen. Je später die
niedere Temperatur auf die sich entwickelnden
Fliegen einwirkte, desto geringer war die Zahl
der anormalen Individuen, desto geringer zu-
gleich auch der Grad der Anormalität. Blieben
die Fliegen die ersten sechs Tage ihrer Entwick-
lung in Zimmertemperatur und kamen dann in
die Kälte, so schlüpften nicht mehr anormale
Individuen aus als in Kulturen, die dauernd in
Zimmertemperatur gehalten wurden. Die niedrige
Temperatur ist also nur von Einfluß, wenn sie auf
frühen Entwicklungsstadien angewandt wird. Der
Prozentsatz der anormalen Individuen steht in be-
stimmtem Verhältnis zur Dauer der Kälte-
exposition. Daß nicht etwa die Kälte über-
haupt das für die Mutation charakteristische Merk-
mal, die Verdoppelungen an den Extremitäten,
hervorbringt, ergab sich, wenn normale wilde
Fliegen in niederer Temperatur zur Entwicklung
gebracht wurden: auf diese blieb die Kälte ohne
Einfluß. Nur Fliegen, die den Verdoppelungs-
faktor besitzen — sei es in homozygotem oder
heterozygotem Zustande — , erzeugen in der Kälte
Nachkommen mit den beschriebenen Verdoppe-
lungen an den Beinen. In hoher Temperatur
andererseits sieht die Nachkommenschaft solcher
Fliegen, selbst wenn sie den Verdoppelungsfaktor
in homozygotem Zustande enthält, vollkommen
normal aus, d. h. das für die Mutation charakteri-
stische Merkmal kommt überhaupt nicht zur Ent-
faltung.
Eine andere Mutation von Drosophila ampe-
lophila, die Morgan 1910 in seinen Zuchten
entdeckte und kürzlich beschrieben hat '), ist eben-
falls durch ein Merkmal gekennzeichnet, das nur
unter bestimmten äußeren Bedingungen in Er-
scheinung tritt. Bei der Mutation fehlen die
schwarzen Pigmentbänder am Hinterleib, die
Metameren sind teilweise nicht voneinander ge-
trennt, die äußeren Genitalien sind verlagert.
Diese besonderen Merkmale des Mutanten entfalten
sich jedoch nur, wenn die Nahrung (Bananen),
vermittels der die Fliegen aufgezogen werden, eine
gewisse Feuchtigkeit besitzt. Werden die Fhegen
von Anfang an in möglichst trockenen Flaschen
gezüchtet, so unterscheiden sich die jungen Indi-
') Morgan, T. H., The röle of the environment in the
rcalization of a sex-linked Mendelian character in Drosophila.
Amer. Natur., Vol. 49, 1915.
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
653
viduen in ihrem Aussehen nicht von normalen
wilden Fliegen, in dauernd möglichst feuchtem
Medium hingegen sind alle äußerst anormal. So
läßt sich auch hier ein erbliches Merkmal, obwohl
der es bedingende Erbfaktor in reinem Zustande
vorhanden ist, Generationen hindurch latent er-
halten, kommt aber sofort zum Vorschein, wenn
die erforderlichen äußeren Bedingungen geschaffen
werden. Nachtsheim.
Bücherbesprechimgen.
Tobler, Prof Dr. Fr., Textilersatzstoffe.
Dresden und Leipzig 1917. „Globus" Wissen-
schaftliche Verlagsanstalt. 1,50 M.
Die kleine Schrift, die als 38. Heft in der von
Fr. V. Mammen herausgegebenen „Bibliothek für
Volks- und Weltwirtschaft" erscheint, unterrichtet
in knapper Form über einen der wichtigsten
Zweige der Kriegswirtschaft, nämlich den Ersatz
für die durch den Krieg ganz besonders empfind-
lich beschränkten Textilrohstoffe. Der Verfasser
geht nach einer kurzen Schilderung der Gestalt
der Fasern, ihrer technischen Eigenschaften, sowie
der Rohstoffverhältnisse vor dem Kriege dazu
über, die Lage der Textilindustrie im Kriege zu
beleuchten. Er geht die einzelnen neu herange-
zogenen bzw. wiederaufgegriffenen tirsatzfaserstoffe
durch, erörtert ihre Behandlung, präzisiert den
gegenwärtigen Stand dieser Ersaizindustrie, sowie
ihrer Aussichten auf Grund technischer und wirt-
schaftlicher Überlegungen. Mitgeteilt sei hier die
am Schlüsse angeführte Zusammenstellung der
Stoffe, die teils sicher teils wahrscheinlich als
Textilersatz von Bedeutung sind; es sind dies
erstens solche, die nur zur Verspinnung mit anderen
Fasern geeignet sind: Weidenröschen, Ginster,
Hopfen, Schilf, Strohfaser, und zweitens solche,
bei denen die Möglichkeit besteht, sie rein zu ver-
spinnen : Brennessel, Torffaser, Papier und Stroh.
Das Heftchen wird für den, der rasch den allge-
meinen Stand dieser wichtigen Dinge überblicken
möchte, von Nutzen sein. (GTc) Miehe.
Schenk, Prof. Dr. Adolf, Die Kornkammern
der Erde. Halle a. d. S. 116. W. Knapp.
60 Pf
DerVerf dieser kleinen instruktiven Zusammen-
stellung, die als Heft 10 der von Abderhalden
herausgegebenen „Flugschriften des Bundes zur
Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft"
erscheint, erörtert die Rolle, die das Getreide im
Welthandel spielt, indem er die einzelnen Länder
in bezug auf Getreideeinfuhr und -ausfuhr durch-
geht und, die geographischen und klimatischen
Bedingungen für die einzelnen Getreidearten be-
leuchtet. Unterstützt wird diese Übersicht durch
einige Tabellen, die die Ernteerträge der einzelnen
Länder vor dem Kriege, die Ausfuhr- und Einfuhr-
mengen und die Beziehungen zwischen beiden
veranschaulichen, sowie durch zwei lehrreiche
Karten, auf denen die Getreidezonen und der
Getreidehandel der Erde dargestellt sind.
Miehe.
Roth, Prof Dr. W., Bodenschätze als bio-
logische und politische Faktoren.
Berlin 19 17. J. Springer. I M.
Der munter und anregend geschriebene Auf-
satz, der aus einem Vortrage hervorgegangen ist,
sucht dem größeren Publikum die Augen darüber
zu öffnen, welche Bedeutung die heimischen
Bodenschätze einmal für unsere eigene Existenz
und für die unserer Feinde haben. Als Ausgangspunkt
wählt er die auf der Pflanzenphysiologie aufgebaute
Pflanzenproduktionslehre, erörtert Bedeutung und
Herkunft von Kali, Phosphor, Stickstoft" und zieht
schließlich seine Kreise noch weiter, indem er auch
auf Kohle und Eisen zu sprechen kommt. Überall
werden, oft in höchst amüsanter F"orm, die politi-
schen Folgerungen gezogen. Nebenbei möchte ich
bemerken, daß die Behauptung, manche Bakterien
siedeln sich „kolonienweise als Knöllchen auf den
Wurzeln gewisser Schmetterlingsblütler" an, nicht
ganz stimmt. (gTc) Miehe.
F. Kohlrausch und L. Holborn, Das Leit-
vermögen der Elektrolyte insbeson-
dere der wässrigen Lösungen. Zweite
vermehrte Auflage. 237 Seiten mit 68 in den
Text gedruckten Figuren und einer Tafel.
Leipzig und Berlin 1916, B. G. Teubner. —
Preis geh. 7,50 M.
Die erstmalig im Jahre 1898 erschienene und
für den seitherigen Fortschritt auf dem Gebiet
bedeutungsvolle umfassende Monographie über
das Leitvermögen der Elektrolyte wird durch die
vorliegende Neuauflage dem gegenwärtigen Stand
unserer Kenntnis entsprechend ergänzt. Während
die Verfahren und Mittel für die Bestimmung des
Leitvermögens von Lösungen gegen früher keine
wesentlichen Änderungen erlitten haben, erfuhren
namentlich die Ergebnisse der Beobachtung eine
erhebliche Erweiterung. Sie findet in den neuen
Tabellen des Buches, die den Grundstock unseres
gegenwärtigen Wissens über das Verhalten der
Elektrolyte bilden, ausgedehnte Berücksichtigung.
Dem selbständig arbeitenden werden diese kriti-
schen tabellarischen Zusammenstellungen zusam-
men mit den bis ins Jahr 191 5 reichenden Literatur-
nachweisen von hohem Werte sein. Im übrigen
ist das Buch für jeden, der sich mit dem elektro-
lytischen Leitvermögen beschäftigt, in theoretischer
wie praktischer Hinsicht ein kaum entbehrlicher,
zuverlässiger Führer. A. Becker.
6s4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
Leo Graetz, Prof. Dr., Die Physik. Mit 385
Textabbildungen und 15 Tafeln. Leipzig 1917.
Verlag Naturwissenschaften. — 16 M.
Mit dem vorliegenden stattlichen Bande wird
vonC. Thesing ein weitausgreifendes literarisches
Uniernehmen eröffnet, daß es sich zum Ziel setzt,
das Gesamtgebiet der Naturwissenschaften und
ihrer praktischen Anwendungen dem gebildeten
Laienpublikum nahezubringen. Um es gleich vor-
weg zu sagen: das große Sammelwerk wird durch
diesen Physikband auf das vorteilhafteste eingeführt.
Der Verfasser verfügt über die seltene Gabe, an-
schaulich zu schreiben. Indem er überall von
einfachen Erfahrungen oder leicht zu verstehenden
Erscheinungen ausgeht und an klar beschriebene
und oft elegante Versuche anknüpft, gelingt es
ihm, dem Leser auch die abstrakten physikalischen
Gesetze klar zu machen, ohne daß diesem die
Schwierigkeiten recht bewußt werden und ohne
bei ihm mehr als ganz elementare mathematische
Kenntnisse vorauszusetzen. Dabei wird die große
Fülle des Stoffes in einem solchen zusammen-
hängenden Flusse dargestellt, daß die trockene,
lehrbuch- und kompendiumartige Form aufs glück-
lichste vermieden wird und der Leser mit Genuß
Seite um Seite fortschreitet. Dabei hat sich der
Verfasser nicht etwa auf die elementare Physik
beschränkt, sondern er bietet auch die neuesten
Tatsachen und Theorien seines Faches. Ein be-
sonderer Vorzug ist auch die in der Anlage des
Gesamtwerkes in Aussicht genommene stete Be-
rücksichtigung der praktischen Anwendungen, die
jedem an der Technik interessierten Leser be-
sonders erwünscht sein wird. Die vom Verfasser
selber gezeichneten Bilder sind klar und lehrreich,
der historische Sinn, der leider auf dem natur-
wissenschaftlichen und technischen Gebiete oft
recht mangelhaft entwickelt ist, wird geweckt und
wach gehalten durch die Bildnisse der Meister
der physikalischen Wissenschaft. Wir können
das Buch, das man wohl als die beste populäre
Darstellung der Physik bezeichnen darf, wärmstens
empfehlen, zumal der Preis für den gut ausge-
statteten starken Band sehr mäßig zu nennen ist.
Miehe.
C. K. Schneider's Illustriertes Handwörterbuch
der Botanik, unter Mitwirkung zahlreicher
Fachgelehrter herausgegeben von Prof. Dr.
K. Linsbauer. Mit 396 Textabbildungen.
2. völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig 19 17.
W. Engelmann. — 25 M.
Die zweite Auflage dieses sehr nützlichen
Nachschlagewerkes ist gegenüber der ersten in-
sofern verändert, als die einzelnen Fachausdrücke
nicht wieder durch Auszüge aus den betreffenden
Spezialarbeiten erläutert werden, sondern durch
knappe, aber doch erschöpfende und damit ohne
weiteres gut verständliche Erklärungen ersetzt
worden sind. Glücklich ist auch der Gedanke,
an Si eile der einzelnen ethymologischen Ableitungen
im Text ein besonderes Vocabularium der latei-
nischen und griechischen Stammworte zu geben,
aus dem jeder Leser, sofern er nur über ein Mini-
mum von sprachlichen Kenntnissen verfügt, selber
die wissenschaftlichen Termini ableiten kann. .So
wird viel kostbarer Raum gespart. Die Zahl der
Stichworte ist erheblich vermehrt, sie beläuft sich
jetzt auf etwa 7000. Berücksichtigt sind in erster
Linie solche aus der eigentlichen wissenschaftlichen
Botanik, wogegen die vielen Fachausdrücke aus
der rein beschreibenden und angewandten Botanik
in den Hintergrund gerückt wurden. Immerhin
sind aber auch diese Gebiete im wesentlichen be-
rücksichtigt. Die einzelnen Artikel, die von Fach-
gelehrten verfaßt wurden, geben ohne Breit-
schweifigkeit gerade soviel, als zum Verständnis
der Stichworte erforderlich ist. Sehr angenehm
ist auch die Anführung wichtiger Literatur, die
zwar nicht nach historischen und Prioritätsprin-
zipien angeführt ist, aber doch die Möglichkeit
gibt, im einzelnen Falle ausführlichere Belehrung
aufzusuchen. So ersetzt der handliche, mit zweck-
mäßig ausgewählten Abbildungen ausgestattete
Band eine kleine botanische Bibliothek, die nicht
nur dem Laien beim Nachschlagen und bei der
Lektüre schwierigerer botanischer Werke gute
Dienste leistet, sondern auch dem Fachmann eine
erwünschte Hilfe bietet, wenn er sich rasch und
ohne Weitläufigkeit unterrichten will. Miehe.
Kraepelin, Prof. Dr. K., Exkursionsflora für
Nord- und Mitteldeutschland. 8. verb.
Aufl. Mit einem Bildnis K. Kraepelins und
625 Holzschnitten. Leipzig und Berlin 191 7.
B. G. Teubner. 4,80 M.
Das Bestimmungsbuch des ausgezeichneten, vor
kurzem verstorbenen Pädagogen und populären
Schriftstellers soll denen dienen, die sich ohne
wissenschaftlich botanische Grundlage dem Sam-
meln und Bestimmen der Pflanzen zuwenden, also
Schülern und Laien. Die ganze Anlage des Buches
ist mithin darauf zugeschnitten, daß der Benutzer
möglichst sicher und leicht den Namen einer
Pflanze auch ohne Anleitung ermitteln kann.
Miehe.
Anregungen und Antworten.
Kritik der „Neuen Namenlisle der Vögel Deutschlands"
von Hesse und Reichenow. Ornitliologische Nomenklaturen
wechselten in di-n letzten Jahrzehnten wie Kleidermoden und
sind billig wie Brombeeren. .\uf die englische „Handlist"
(1912) folgte jetzt die obige „Neue Namenliste" (1916), womit
wiederum Reichenow's „Kennzeichen d. V. D." (vom
Jahre 1902) überholt sind; vordem galt die Nomenklatur der
ornithologischen Autoritäten. ^)
') Festgehalten sei bei alledem, daß die Systematik nicht
am Ende der Wissenschaft steht, sondern am Anfang. Der
Biologe befindet sich ein ganz Stück weiter als der aystematiker.
Die Namen der Vögel sind als solche nebensächlich, nur
N. F. XVI. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
655
Die Durchführung des leidigen Prioritätsprinzips hat eine
Unsicherheit und ein Hin- und Herschwanken in die Vogel-
systematik gebracht, dafl man nicht mehr aus noch ein weiß.
Denn stets werden neue, noch ältere Namen ausgegraben,
durch die bisher gebrauchte zu ersetzen sind. Dabei ist das
Prioriläisprinzip nicht einmal richtig durchgeführt, denn es ist
durchbrochen von dem Gt-seiz der Nomina conservanda („Alt-
eingeführte, in den bedeutendsten Lehrbüchern gebräuchliche
Gattungsnamen der bekanntesten Tierlormen dürfen nicht mehr
geändert werden") und dem Grundsatz der Unantastbarkeit
gewisser Gattungs- und Artnamen (,, Begriffsveränderungen
bisher allgemein gebräuchlicher Gattungs- und Artoamen und
deren Übertragung auf andere Formen sind unzulässig"). Das
letztere ist besonders wichtig, denn die Handlist und auch
_die Nomenklatur im neuesten Brehm (Tierleben IV. Auflage)
'hat Zustände geschalten, die direkt unhaltbar sind: Turdus
musicus ist nicht mehr die Singdrossel, sondern die Weindrossel ;
Sylvia hoitensis heifit nicht mehr wie bisher die Gartengras-
mücke, sondern der Orpheussänger. Zu solchen Widersinnig-
keiten ist die logische Befolgung des Priorilätsprinzips letzten
Endes gekommen, und im Grunde genommen könnte der An-
hänger einer ,, sinngemäßen'' und Gegner dieser doch schliefl-
lich nur auf der hilelkeit des Menschen aufgebauten Nomen-
klatur seine helle f reude daran haben, daß sie durch sich
selbst so nachhaltig ad absurdum geführt worden ist. Ganz
richtig bemerkt Reichenow, daß man bei Gebrauch dieser
Doppelnamen nun immer dazu setzen müßte, was eigentlich
gemeint ist, ob die Namen im alten oder neuen Sinne gebraucht
sind; mit anderen Worten: man müßte den lateinischen
„wissenschaftlichen" und internaiional verständlich sein wollen-
den Namen durch einen deutschen Namen — verächtlich
„Trivialnamen" genannt ! — näher erklären. Dem kommt der
oben autgestellte Grundsatz (Verbot von Begriffsveränderungen)
zuvor. Wir wollen aber dabei nicht verkennen, daß damit
sowohl die Einheitlichkeit wie die Folgerichtigkeit des Prio-
ritätsprinzips total aufgehoben ist I
So schwere Bedenken nun auch Referent gegen eine
abermalige Veränderung der Vogelnamen haben muß, so
kann und muß er doch für diese neue Namen-
liste der Vögel eintreten. Denn sie scheint deutsche
Einheitslisle werden zu können und zu sollen und macht uns
von dem bisherigen englischen Einfluß los — hoffentlich für
immer I Deutsche Wissenschaft war ja auch früher führend,
namentlich in der Vogelkunde (Naumann I). Der Krieg hat
uns von fremder Bevormundung frei gemacht, wie er auch mit
dem Begriff des Internationalen gründlich aufgeräumt hat.
Lassen wir doch die Engländer die Vögel nennen wie sie wollen
— Unsinnigkeitrn wollen wir jedenfalls nicht miimachen !
Deshalb, so sicher auch anzunehmen ist, daß Harten und
Genossen dieser neuen Namenliste bestimmt den Krieg erklären
werden, wollen wir ihr unsere volle Unterstützung leihen.
Der geschilderte ruhelose Zustand der Nomenklatur wird, wie
die Verfasser richtig angeben, noch lange andauern, wenn
nicht gewaltsame Hemmungen eingreifen. Viele alten Werke
werden noch zu durchslöbern sein, um die darin enthaltenen
Namen ans Licht zu ziehen und diesen zu dem nach dem
Prioritäisgesetze ihnen zustehenden Rechte zu verhelfen, an
die Stelle bestehender Bezeichnungen gesetzt zu werden. Und
diesem Bestreben ruft die neue endgültig festgestellte „Neue
Namenliste" ein energisches Veto zu.
Mittel zum Zweck, auch wenn sie jetzt in diesem oder jenem
systematischen oder faunistischen Werk zur Hauptsache ge-
stempelt werden. Das ist eine Verirrungl Leider kommt es
zurzeit , .manchem Verfasser mehr auf den ältesten Namen für
die einzelne Art an, als auf lückenlose Gesamtdarstellung und
scharfe Kennzeichnung der Formen" (H esse und Reichenow)
Der Einsichtige dagegen weiß, daß wir Naturforscher heutzu-
tage den Schwerpunkt auf die Bionomie (gesetzmäßige Lebens-
weise der Individuen) und die Biologie (Lehre vom Leben der
Organismen) legen und die Systematik nicht mehr als Endziel,
sondern als Ausgangspunkt der Naturbeobachtung setzen; erst
so verstehen wir recht das glänzend akkomodierte Gewebe in
der Natur. — Das Beste wäre die Einführung einer nur sinnge-
mäßen Nomenklatur ohne Autorenangabe, wobei die lateinischen
Namen ein charakteristisches Erscheinungsmerkmal der be-
nannten .Art angeben müßten.
Zu ihrem Inhalte wäre sehr viel zu bemerken. Hier nur
Einiges. Mit der Auffassung der ternären Benennung der Vögel
im alten Sinne wird das Verfasserpaar bzw. Reichenow
nicht durchkommen. Denn es entspricht nicht der Logik der
Tatsachen. Es ist ja schon ganz lobenswert, jenes Bestreben:
„P'esthalten an der Spezies als kleinsten Einheit des Systems".
Aber talsächlich zerfallt diese Spezies in Subspezies (Unter-
arten) oder Lokalrassen. Also ist doch in Wirklichkeit die
Subspezies die kleinste Einheit des Systems 1 Wir müssen
hiernach die Vögel ternär benennen. Die Spezies existiert
dann nur dem Begriffe nach, nicht in Wirklichkeit, der Begriff
Spezies faßt alle faktisch existierenden Subspezies in sich zu-
sammen. ') R. u. H. helfen sich ja auch (und eigentlich ist
es nur ein Spiel mit Worten), wenn sie die geographischen
Formen oder Lokalrassen als Konspezies (Nebenarten) neben-
einander stellen. Aber diese Konspezies haben doch nicht
den Wert der übrigen Spezies, denn sie unterscheiden sich
von ihrer Originalspezies (Stammform) doch nur durch relative
Merkmale, nicht wi,e die übrigen Spezies durch direkte
bzw. talsächliche. Das Verhältnis in der Natur wird durch
das nomenklalorische Spiegelbild auch auf den Kopf gestellt,
wenn man die „Konspezies" (in Wirklichkeit Subspezies) gleich
wertet wie alle anderen Spezies einer Gattung, und sie unier-
schiedlos neben diese stellt so gut wie die deutlich unter-
schiedenen fremden bzw. andersgearteten „guten" Spezies.
Dagegen ist es aufrichtig zu begrüßen, wenn R. und H.
mit den unsinnigen gleichlautenden Benennungen wie „Galli-
nago gallinago gallinago" aufräumen. Das ist in der Tat un-
nützer Ballast, von dem man die Nomenklatur freimachen
kann. Eigentlichen Zweck hat die Wiederholung desselben
Wortes gar nicht. Bei dem einfachen Corvus cornix ist iür
jedeimann klar, daß die typische Form der Nebelkrähe gemeint
ist, „Bezeichnungen wie Bubo bubo bubo sind nicht nur ohne
den geringsten wissenschaftlichen Nutzen, sondern geradezu
geeignet, den Spott der Witzblätter herauszufordern". In der Tat I
Im übrigen finde ich in der „Neuen Namen liste"
mancherlei persönlich-willkürlich. Einiges kann man
direkt nicht mitmachen. Was H. u. R. selbst mit Recht rügen,
tritt doch fast genau so auch bei ihnen wieder auf, wenn sie
die bisherige Eulenart accipitrinus mit flammea benennen,
während letzteres bisher die Schleiereule bezeichnete. Daß
dabei ein gewisser Unterschied zwar noch vorhanden ist mit
Bezug auf den Gattungsnamen (Strix ersetzt durch Asio). tut
nicht viel zur Sache, denn das Tonbild Strix (oder Asio)
flammea (oder flammeusl ist dem Ornithologen als Name der
Schleiereule in Gehör und Gedächtnis. Wie fernliegend da-
gegen der Name Strix alba guttata I Wie kommt R. dazu,
Fichten- und Kiefernkreuzschnabe!'') als Sub- oder Konspezies
zu fassen? (ich meine, das ist doch recht willkürlich!). Die
unterschiedliche Fassung der Kormoranformen hätte erfolgen
sollen, denn die Uonauform ist doch sicher anders als die
Lokalrasse aus Holland. Die Unterscheidung bzw. Benennung
der Sumpfmeisenformen ist willkürbch (Parus palustris L.,
Parus palustris communis Baldenst., Parus palustris longirostris
Kleinschm., Parus salicarius Brehm, Parus salicarius rhenanus
Kleinschm. — wer kennt sich denn da noch aus?). Welcher
Mangel an Einheitlichkeit, wenn neben einer Stammform Certhia
familiaris L. zwei Subspezies erscheinen, von denen die eine
binär Certhia brachydactyla Brehm, die andere gleichwertige
ternär Certhia familiaris macrodactyla Brehm genannt wird
(es ist eben eine heillose Verwirrung in der ornithologischen
Nomenklatur nun einmal da und läßt sich auch nicht mehr
bannen). Daß die bereits gut eingebürgerte Spechtmeisenform
Sitta europaea homeyeri verschwunden ist, muß bedauert werden ;
gewissermaßen hat sich an ihre Stelle Sitta caesia sordida Rchw.
geschoben; „gewissermaßen" nur, denn sie ersetzt jene ja nicht.
Wilhelm Schuster.
Eine merkwürdige Schallerscheinung im Felde. Seitdem
ich einer schweren Mörserbatteiie angehöre, erlebe ich öfter
den Fall, daß beim Abfeuern eines Geschützes ein Stück
Führungsring von der abfliegenden Granate loseckt, das heißt.
') Spezies ist nur systematische Gruppe der Subspezies.
^) „Loxia curvirostra" und „Loxia curvirostra pytyo-
6s6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 46
daß der kupferne Führungsring bei der Hineinpressung in die
Züge des Rohrs an einer Stelle durchreißt und das eine oder
beide dadurch entstehenden freien Enden sich rückwärts um-
biegen. Selbstredend sieht man davon nicht das geringste,
man geht aber kaum fehl in der Vermutung, daß dieser Fall
eingetreten ist, so oft das Geschoß statt wie gewöhnlich
zischend, laut heulend durch die Luft fährt. Wenn mich
meine Erinnerung nicht täuscht, kommt auch bei der Feld-
artillerie dasselbe vor, nur seltener, und es ist dort weniger
auffällig. Das Merkwürdige nun an dem dabei erzeugten Ton,
der in Tonlage und Klangfarbe etwa an zweistimmiges Katzen-
geheul erinnert, ist, daß man allgemein den Eindruck hat, als
komme er näher, ganz anders als das gewöhnliche zischende
Geräusch einer abfliegenden Granate, welches unser Ohr dauernd
dorthin verlegt, von woher es gerade kommt, also in die
Richtung der Flugbahn. Prüft man jene merkwürdige Schall-
erscheinung bei Gelegenheit genauer, so findet man, daß der
Schall in seiner Stärke langsame, starke Schwebungen hat; in
den ersten Augenblicken nimmt er ab, bald aber wieder zu,
und von dem Augenblick des Zunehmens an meint man, die
Schallquelle komme näher, ja man kann sich wohl ein paar
Sekunden lang einbilden, ein feindliches Geschoß komme heran,
und möchte schon dagegen Stellung nehmen. Denselben Ein-
druck, nur bereits bei geringerer Schallsiärke, hat man nach
erneutem Nachlassen der Tonstärke bei ihrem zweiten An-
schwellen, ebenso beim dritten und wohl noch vierten, bei
welchem der Schall schließlich hoch über unserm Scheitel
zu verklingen scheint. Vergeblich habe ich darüber nachgedacht,
wie das Zustandekommen dieser Empfindung zu erklären
sei. (GX^) Franz.
Die neulich hier auf Seite 454 gemachten weiteren An-
gaben über Zunahme von Tierarten im Kriege sind wohl schon
wieder durch einige zu ergänzen. Zunächst möchte ich er-
wähnen, daß ich im Sommer 1915 auch in der Gegend von Nerchau
östlich Leipzig Wachtelschlag vernahm, was mir sehr
auffiel, da ich ihn sonst dort, wie überhaupt im Königreich
Sachsen, stets vermißt hatte. Nachdem nun ein dort Ansässiger
mitteilt, er habe in jenem Bereiche noch nie so viele Wachtel-
gelege gefunden wie jetzt, scheint mir wirklich auch dort eine
Zunahme dieses Vogels vorzuliegen, vermutlich aus denselben
Gründen wie an anderen Stellen. Soeben berichtet ferner M.
Braeß noch von mehreren anderen Stellen im Königreich
Sachsen über eine erfreuliche Zunahme der Wachteln, die man
früher in diesem Lande nur noch ausnahmsweise bemerkte.
Braeß wagt aber nicht zu entscheiden, ob Kriegsvethältnisse
die Ursache sind. Bei der Korrektur kann ich hinzufügen, daß
nach Ornithol. Monatsschr. 1917, 10, die Wachteinsich auch bei
Hannover entschieden vermehrt haben. — Sodann wird an vielen
Stellen in Deutschland eine Abnahme der Sperlinge, meist der
Haus-, gelegentlich auch, beiOsnabrück nach derÖrnithol. Monats-
schrift, der Fcldsperlinge gemeldet. Dies kann mit der vergangenen
Winterkälte zusammenhängen, die nach Fritz Brauer's An-
gabe in Reichenow's Orniihologischen Monatsberichten, H. 7/8,
19 17, auch die Buchfinken stellenweise vertrieben haben mag.
Aber im allgemeinen ist das Singvogelleben Deutschlands in
diesem Jahre wohl kaum gemindert. Daher verdient die ge-
legentlieh ausgesprochene Vermutung Aufmerksamkeit, die
Spatzen könnten im Winter infolge starker Verminderung der
Haferrationen und der daher üblich gewordenen starken
Schrotung des Hafers, die die Verdauung fördert, keine unver-
dauten Haferkörner mehr im Pferdedung finden und hierunter
Winters leiden und abgewandert sein. Dann wäre auch dies
eine Kriegsfolge. Im Felde schrotet man den Hafer nicht,
und in Flandern treffe ich Haussperlinge überall, Feldsperlinge
stellenweise ganz auffallend zahlreich an. V. Franz.
Barometer Modell Thöne 1917. Folgendermaßen läßt sich
das Barometer vereinfachen: Man nimmt eine gewöhnliche
Barometerglasröhre, am einen Ende oben geschlossen und am
andern Ende offen und nach oben umgebogen, aber überall '
gleich weit. Angenommen, das Quecksilber stehe im längeren
Rohr genau 76 cm höher als im kürzeren. Sinkt nun der
Luftdruck und fällt infolgedessen das Quecksilber im längeren
Rohr um etwa 3 cm, dann steigt es gleichzeitig genau so viel
auch im kürzeren. Folglich verkürzt sich der Gesamtabstand
der beiden Quecksilberniveaus nicht um 3, sondern um
2X3 = 6 cm. Demnach schreiben wir 3 cm unter 76 auf
der Skala nicht 73, sondern 70. In genau dieser Weise teilen
wir auch sonst die Skala ab, d. h. anders ausgedrückt: wir
machen von 76 ab nach oben und unten ihre Teil-
striche doppelt so eng, wie sie eigentlich sein müßten.
Dann genügt die eine Ablesung von der Skala, um den Baro-
meterstand zu erkennen und wir brauchen dann unten keine
zweite Skala mehr und brauchen auch unten nichts zu schrauben.
Wenn das Quecksilber mit der Zeit etwas verdampft und da-
durch das Barometer ungenau wird, dann kann man es leicht
wieder stimmend machen, indem man die ganze Skala etwas
herunterzieht oder herunterschraubt.
Dir. Thöne, überelvenich b. Euskirchen.
Der Aufsatz von Edw. Hennig „Untersuchungen mit der
Wünschelrute" {Naturw. Wochenschr. Bd. 16, Nr. 39) mußte
aus Gründen, die mit den Zeitumständen zusammenhängen,
erscheinen, bevor die Korrektur des Autor eingegangen war.
Infolgedessen sind, wie mich Herr Prof. Edw. Hennig bittet
mitzuteilen, einige Druckfehler stehen geblieben. Auch sei
ihm dadurch die Möglichkeit genommen, seinen Standpunkt
noch etwas schärfer zu formulieren, insbesondere zum Ausdruck
zu bringen, daß er der praktischen Verwertung des Phänomens
zweifelnd gegenüberstehe, solange dies selbst noch ganz in
Dunkel gehüllt sei. Seine Hauptabsicht sei, auf zweifellos
vorhandene, selbst beobachtete interessante Phänomene hin-
zuweisen. M.
Berichtigung.
In dem Bericht V. Haeckers Schrift „Die Erblichheit im
Mannesslamm usw." (Naturw. Wochenschr. Bd. 16, Nr. 43)
ist ein Irrtum zu berichtigen. Es muß S. 605, Spalte 2,
Zeile 22 V. u. heißen; Christian I. von Sachsen und auf
S. 606 im Text zu der Abb. 2: Christian IL von Sachsen.
M.
Inhalt; Victor Engelhard t, D'Alemberts Bedeutung für die Naturwissensehaften. S 641. — Einzelberichte: H. Molisch,
Eigenartiger Bau des Plasmakörpers. S. 644. Kurt Stern, Die Entwicklung der Nepenthaceen. S. 6 .5. Friedrich
Wilh. Schlesinger, Unheilvolle Einwirkung der Verschilfung der stehenden Gewässer auf die Nutzfischzucht. S. Ö46.
Benecke, Zum Vorkommen der Wachtel. S. 646. Ströse, Nützlichkeit und Schädlichkeit der Spechte. S. 647.
R. Richter, Zur stratigraphischen Beurteilung von Calceola. (2 Abb.) S. 648. M.B. Jossei, Verbreitung des Krebses
in der Schweiz. S. 549. Thienemann, Die Verbreitung der Corcgonen, ein hydrobiologisches Problem. S. 650.
F. Burkhardt, Über auffallende Gespinstbildungen infolge Massenauftretens einer Gespinstmotte. S. 651. Hoge, Der
Einfluß der Temperatur auf die Entfaltung eines erblichen Merkmals. (4 Abb.) S. bc,i. — Bücherbesprechungen:
Tobler, Te.ttilersatzstofle. S. 653. Adolf Schenk, Die Kornkammern der Erde. S. 653. W. Roth, Bodenschätze
als biologische und politische Faktoren. S. 653. F. Kohlrausch und L. Holborn, Das Leitvermögen der Elektro-
lyte insbesondere der wässrigen Lösungen. S. 653. Leo Graetz, Die Physik. 8.654. C. K. Schneider's Illustriertes
Handwörterbuch der Botanik. S. 654. K. Kraepelin, Exkursionsflora für Nord- und Mitteldeutschland. S. 654. —
Anregungen und Antworten: Kritik der ,, Neuen Namenliste der Vögel Deutschlands" von Hesse und Reichenow. S. 654.
Eine merkwürdige Schallerscheinung im Felde. S. ö^^. Zunahme von Tierarten im Kriege. S. 656. Abnahme der
Sperlinge. S. 65Ö. Barometer Modell Thöne 191 7. S. 656." Untersuchungen mit der Wünschelrute. S.656. Berichtigung. S. 656.
Manuskripte un
Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 25. November 1917.
Nummer 47.
Ursprung, Verbreitung und Nutzbarmachung der chemisch-industriellen
mineralischen Rohstoffe.
von Prof. Dr. O. Herrmann.
zirken von Peru und Bolivien für den Natron- oder
Chilesalpeter (Caliche), die Provinz Sachsen
in der Gegend von Halle-Weißenfels-Zeitz für die
pyropissithaltige Braunkohle, die sog. Schwel-
kohle, die Provinz Rheinland in der Gegend
des Laacher Sees, besonders im Nette- und Brohl-
tal, für den Traß-Tuffstein, einen Trachyttuff,
das südwestliche Grönland bei Evigtok (Ivigtut)
am Arksutfjord (Arsukfjord) für den Kryolith,
das ostpreußische Samland für Bernstein, Klein-
asien in der Gegend von Eski-Schehir für Meer-
schaum, New Jersey für Rotzinkerz.
Durch neue P'unde können Monopolstellungen
verloren gehen. Beispielsweise sind heute Sizilien
nicht mehr der fast ausschließliche Lieferant für
technischen Schwefel, die Maremmen Toskanas
für Borsäure (Sassolin), das südöstliche Nor-
wegen für die Mineralien des Auerschen
Gasglühlichtes, das böhmisch-sächsische Erz-
gebirge, namentlich Joachimstal i. B. nicht mehr
für das Material (Uranpecherz usw.) zur Her-
stellung der Radiumpräparate, wie diese es
früher längere oder kürzere Zeit waren. Schwefel
liefern heute dem Handelsmarkt in großer Menge
Louisiana, Japan und Neuseeland, Borsäure-
mineralien Kalifornien und Nevada (Colemanit),
die kleinasiatische Türkei (Pandermit), die mittel-
deutschen Kalisalzlagerstätten (Borazit), Chile,
Argentinien und Peru (Boronatrokalzit), t h o r i u m -
und ceriumhaltige Mineralien als Grund-
lage der Gasglühlichtindustrie die Monazitsande
Brasiliens, Nord- und Süd Karolinas, Kolumbiens,
radioaktive Mineralien Cornwall (Uran-
pecherz), Portugal (Uranpecherz, Autunit), Kolorado
(Carnotit), Utah (Carnoiit), Pennsylvanien (Carnotit),
Südaustralien (Autunit, Carnotit), Ostafrika (Uran-
pecherz), das Material für Mesothorium die Mona-
zitsand produzierenden eben genannten Länder.
Die Platinausbeute Kolumbiens ist im
Begriff, dem Ural mit seinen Platinmineralienseifen
das Monopol streitig zu machen.
Vergegenwärtigen wir uns nun einmal den
Bildungsvorgang einiger Mineralien und Gesteine
nebst den wichtigsten Nebenumständen.
Die Abscheidung gelöster Stoffe fiel im
Meer- und Seewasser unter dem Einfluß mannig-
facher Faktoren, wie Löslichkeit, Temperatur,
Lösungsgenossen, Zeit, Druck usw. verschieden
aus, wodurch beispielsweise in Verbindung mit
späteren Weglösungen (deszendente und posthume
Bildungen) die zahlreichen Kombinationen der
sog. Kalisalze, wie Sylvin, Carnallit, Kieserit,
Kainit usw. usw. und die Salzgesleine Sylvinhalit
[Nachdruck verboten.] Technisch-geologische Skizze
Die Quellen aller Rohstoffe der chemischen
Technik entspringen naturgemäß in der festen
Kruste unseres Planeten oder dessen Wasser- und
Gashülle.
Bei vielen mineralischen Rohmaterialien,
wie dem Steinsalz, den sog. Kalisalzen, dem
Schwerspat, Wiiherit, Flußspat, den meisten Erzen,
dem Kryolith, dem Feldspat, Quarz und Glimmer
sowie den vielen anderen, z. T. seltenen und
chemisch-technisch wertvollen Mineralien der
Pegmatite, wie Uranpecherz, Monazit, Thorit usw.
ist der anorganische Ursprung ohne weiteres ein-
leuchtend. Sie sind direkte Ausscheidungen aus
Wasser oder Gesteinsschmelzfluß.
Bei manchen, die auch im Berg- oder Stein-
bruchbau gewonnen und als mineralische
Bodenschätze bezeichnet werden, haben organische
Wesen, Pflanzen wie Tiere, das Zustandekommen
vermittelt. Kohlengesteine, Erdöl, der Asphalt-
gehalt mancher Kalk- und Sandsteine, Ozokerit,
Bernstein, die meisten Kalk- und Dolomitsteine,
der größte Teil der Mineralphosphate, Guano,
Guanophosphate gehören in diese Klasse organo-
gener Bildungen.
Bei noch anderen Stoffen, wie den pflanzlichen und
tierischen Rohmaterialien der Stärke-, Zucker-, Gärungs-,
Kettindustrie denken wir kaum noch an die letzte mineralische
Ableitung, und doch waren es auch bei ihnen mineralische
Nährstoffe des Bodens und die Kohlensäure und der Stickstoff
der Luft, welche in den Pflanzen und indirekt auch in den
Tieren angesammelt und zu den Ausgangsstoffen jener In-
dustrien umgebildet worden sind.
Die mineralischen chemischindustriellen
Rohstoffe kommen zwar über die ganze Erde
verstreut vor, doch sind viele derselben in gewissen
örtlich begrenzten Bezirken angereichert. Die
Kenntnis des geologischen Werdeganges bildet
den Schlüssel zur Erklärung dieser ungleichen
topographischen Verteilung. Es gibt gold-,
kupfererz-, nickelerz-, manganerz-,
wolframerz-, chromeisenstein-, zinn-
stein-, monazitsand-, magnesitstein-,
bauxit-, laterit-, m in eral ph osphat-,
kohlen-, erdöl-, kaolinreiche Landstriche.
Einzelne technische Rohmaterialien sind sogar
auf Örtlichkeiten beschränkt oder wenigstens an
diesen allein praktisch von Bedeutung, wodurch
geographische oder sog. Naturmonopole
entstehen. So haben das mittlere Deutschland,
insbesondere die Gegend von Staßfurt, H« Imstedt,
Bernburg, Aschersleben, Eisleben, Nordhausen,
Eisenach, Hildesheim, Hannover, Celle, Verden das
natürliche Monopol für die sog. Kalisalze (Edel-
salze, Abraumsalze), Chile mit den Grenzbe-
658
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 47
oder Sylvinit, kieseritischer Sylvinhalit oder „Hart-
salz" usw. entstanden und sich auch die Wechsel-
lagerung von Steinsalz mit mehr oder weniger
dünnen Anhydritschichten, den sog. Anhydrit-
schiiüren oder Jahresringen der Lagerstätten, er-
klären. — Die Ablagerung von Kalkschalen
und -gehäusen abgestorbener Tiere, die Anhäufung
von pflanzlichem Material an den Torf-, Braun-
kohlen- und Steinkohlenbildungsstätten, der Absatz
von mechanisch transportierten Gesteinstrümmern
vollzog sich zeitweilig unter Zuführung von anders-
artigem Material, so daß fremde Zwischenlagen,
Nester, Knollen, Konkretionen, Beimischungen,
„Einsprengungen" usw. in Schichtgesteinen, wie
Kalkstein und Kohlengesteinen, entstehen konnten.
^ Innerhalb der Eruptivgesteine waren die mag-
matischen Erzausscheidungen von vielen
Faktoren abhängig, infolge deren dieselben in
Größe, Bestand und Veneilung außerordentlich
schwanken können; bei der Entstehung von Erz-
lagerstätten als SpahenausfüUungen bildeten sich
neben Erzmineralien auch Nichterze, die nun in
den Erzgängen in vielseitiger Weise mitein-
ander verzahnt und verwachsen sein können; bei
Erzlagerstätten, die an Stelle älterer Gesteine
metasomatisch traten, blieben von letzteren
noch mehr oder minder beträchtliche Reste in
der Lagerstätte erhalten. — Alle Gesteine können
infolge Fortführung durch lösendes Wasser
(z. 13. die deszendenten Kalisalzgesteine) oder
durch Infiltration mit chemischen Lösungen
(Verkieselung usw.), auch durch Temperatur-
erhöhung infolge des Druckes mächtiger über-
lagernder Gtbirgsschichlen oder des gebirgs-
bildenden Schubes (Umbildungen in den Kalisalz-
und Kohlengesteinslagerstätten usw.), endlich unter
dem Einflüsse der Verwitterung durch Oxy-
dation, Wasseraufnahme usw. teilweise umge-
wandelt sein.
Aus diesen Betrachtungen erhellt ohne weiteres,
daß in ein und derselben Minerallagerstätte an
verschiedenen Stellen nicht nur ungleiche mine-
ralogische und chemische, sondern als Folge davon
auch ebensolche technische und wirtschaftliche
Eigenschaften zu erwarten sind. Die Konsequenz
hiervon ist, daß sich beim Abbau in verschiedener
Zeit Material von ungleicher Beschaffen-
heit ergeben kann.
Die in Lehrbüchern, Katalogen, Firmen-
prospekten usw. wiedergegebenen Resultate che-
mischer Analysen können danach nur An-
haltspunkte für die Beurteilung der Zusammensetzung
eines MineralsoderGesteins sein, da sichdie Resultate
zunächst nur auf das gerade der Analyse unter-
worfene Material, welches einer eben im Abbau be-
findlichen Stelle eines Steinbruches oder einer Grube
entstammte, beziehen. Als Nutzanwendung für den
technischen Chemiker ergibt sich daraus, wenn es
sich um mehr oder weniger quantitative Arbeiten
der Industrie handelt, die Forderung, von ange-
liefertem Rohgesteinsmaterial vor der Verarbeitung
immer von neuem Durchschnittsproben der che-
mischen Analyse zu unterziehen oder solche an
ihm in einem öffentlichen Laboratorium ausführen
zu lassen.
Wenige natürliche mineralische Rohstoffe
können von der Industrie nahezu unmittelbar, so
wie sie dem Erdreich entnommen wurden, ver-
wendungsfertig dem Handel übergeben werden,
beispielsweise manche Kalisalzdüngemittel, das
natürliche Glaubersalz (Mirabilit), die natür-
lichen Sodamineralien Trona (Urao), Natron
(Soda) und Thermonatrit, ein Teil des
Guanos als Phosphorsäure- und Stickstoffdünger,
ein Teil des Ozokerites und Asphalt es, die
an vielen Stellen des Bodens entquellenden oder
erbohrten Mineralwasser, die an einigen
Punkten, z.B. im Brohltal, entströmende Kohlen-
säure, das Erdöl gas (Erdgas) als Begleiter des
Erdöls, Roteisenerz als Polier- oder „Pariser"-
oder „Englischrot", gewisse Mineralien und Gesteine
als Mineralfarben, wie Schwerspat als „Mineral'-
oder „Neuweiß", Malachit als „Berggrün",
Kupferlasur als „Bergblau", Zinkblende als
„Zinkgrau", Roteisenstein als Rötel, „Venetianer,
Preußisch Rot", roter Ocker, Braun- und Gelb-
eisenerz als Ocker, cyprische, türkische oder sizi-
lianische Umbra, Terra di Siena, eisenhaltiger T o n -
stein als Bolus, Braunkohle als „Kölnische
Umbra" oder „Kasseler Braun", früher Lasurstein
als natürliches Ultramarin.
Aus anderen Mineralrohstoffen gewinnt man
die Fabrikate mittels einfacher mechanischer oder
chemischer Behandlung, so aus Kalkstein und
Dolomitstein den Ätzkalk bzw. Magnesia-
Ätzkalk (gebrannten „Kalk") und Kohlensäure;
aus Magnesitstein den Sintermagnesit und
Kohlensäure; aus Strontianit das Strontium-
oxyd; aus Gipsstein den Stuck- und Estrich-
gips; aus dem Wasser Wasserstoff; aus der
Luft Sauerstoff und Stickstoff und aus letzterem
im Verein mit Kalziumkarbid den Kalkstickstoff,
oder Salpetersäure und hieraus mit Kalkstein den
Luftsalpeter (Norgesalpeter); aus Bernstein
(Succinit) die Bernsteinsäure, das -öl, das -kolo-
phonium; aus den verschiedenartigen Ton en die
mannigfachen Erzeugnisse der Keramik, speziell
aus Kaolinerde, Feldspat, bisweilen noch
Quarz, Gips usw. das Porzellan; aus Quarz,
zumeist in Form von Glassand, Kalkstein,
Alkalikarbonat usw. das Glas; aus Kali-
salpeter, Holzkohle und Schwefel das
Schwarzpulver; aus Quarzsand oder Quarz-
gestein und Koks das Karborundum; aus ge-
branntem Kalk und Koks das Kalziumkarbid;
aus Caliche den Natronsalpeter und Jod; aus
Glauberit das Glaubersalz; aus Salzsole
und Meerwasser das Kochsalz; aus den
Soffioni, borsäurehaltigen Wasserdämpfen Tos-
kanas, die Borsäure; aus Alunit (Alaunstein) den
Kalialaun und Aluminiumsulfat; aus asphalt-
haltigem Kalk- oder Sandstein den Stampf-
und Gußasphalt, die Asphaltlacke, -firnisse usw.;
aus Magnetkies von Bodenmais i. Bayern das
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Poliermittel Potee; aus kalk- und tonhaltigen
Materialien, z. B. Muschelkalk oder Schreib-
kreide und Septarienton (Rupelton), den Portland-
zement; aus dem Trachyttuff den rheinischen
Traß; aus Ton oder Kaolinerde, Soda oder
Glaubersalz, Seh wefel und Ko h le mit und
ohne Quarzsand die künstlichen Ultramarine;
aus den Mineral- und Guanophosphaten
das Phosphorsäuredüngemittel Superphosphat; aus
dem Erdöl Benzin, Leucht- und Brennöle
(Petroleum), Schmieröle, Paraffin, Vaselin, Abfall-
stoffe; aus Ozokerit (Erdwachs) Ceresin und
Paraffin; aus der Steinkohle Teer und aus
diesem das Leichtöl mit Benzol, Benzin, Toluol, Xylol,
ferner Mittelöl mit Naphthalin und Phenol (Karbol-
säure), sodann das Schweröl mit Kreosotöl, das
Anthracenöl mit Anthracen, als Rückstand das
Pech, dann Koks, Leuchtgas, Cyanverbindungen,
Ammoniumsulfat als Stickstoffdüngemittel, Seh wefel;
aus Seh welkohle Teer und aus diesem weiter
Paraffin, Gasöl, Karburieröl, Benzin, Solaröl, Putzöl,
Motoröl, Vaselin, Kreosotöl, Goudron oder aber
Montanwachs, sodann Grudekoks (Grude), Schwel-
gas und -Wasser; aus der Messeier Braun-
kohle Rohöl (Teer) und daraus Paraffin, Naphtha
(Leichtöl), Gas-, Motor-, Putz-, Fett- und Schmier-
öle, ferner Koks, Schwelgas und -wasser; aus den
schottischen Ölschiefern (oil shales) das
Rohöl (Crude oil; Teer) und daraus Leuchtöle,
Paraffin, Gas- und Motoröl, Schmier- und Putzöl,
Kreosotnatron usw., ferner Koks, Schwelgas und
-wasser; aus Torf den Torfteer und aus diesem
Torföl, Paraffin, Alkohol, Ammoniumsulfat als
Düngemittel, dann Torfkoks; aus Erzmine-
ralien und Erzgesteinen die Erzeugnisse
der Metallurgie.
In den meisten Fällen aber müssen die mine-
ralischen Rohstoffe eine mehr oder weniger um-
ständliche Verarbeitung in Verbindung mit kom-
plizierten chemischen Prozessen durchmachen,
bevor sie sich zu den gewünschten Erzeugnissen
umgestaltet haben. Es sind dies die Mineralien und
Gesteine — hauptsächlich Steinsalz, Kali-
salze (einschließlich Brom-, Natrium-, Magnesium-
und Kalziumverbindungen), Chilesalpeter,
Pyrit (Eisen-, Schwefelkies), Pyrolusit (Braun-
stein), Kalkstein, Schwefel, Borsäuremine-
ralien, wie Borsäure (Sassolin), Boronatro-
kalzit (Borkalk), Tinkal (Borax), Pandermit
(Colemanit, Priceit), Borazit (Staßfurlit),
Magnesitstein, Gipsstein, Schwerspat
(Baryt), Witherit,Strontianit, Coelestin,
Flußspat (Fluorit), Bauxit, Rutil, Mineral-
phosphat, Arsenkies, Antimon-, Wis-
mut-, Molybdänglanz, Chromeisenstein,
die Mineralien der seltenen Erden, wie Monazit,
Thorit (Orangit), Thorianit usw., die radio-
aktiven Mineralien, wie Uranpecherz (Pech-
blende, Uraninit), Carnoit,Autunit, Monazit,
Thorit, die Vanadinmineralien, wie Van ad in it,
Patronit, Roscoelith, Descloizit, die
Wolframmineralien, wie Wolframit (Wolfram)
und Scheelit (Tungstein), die Erze — , aus
denen schließlich die Fabrikate der eigent-
lichen chemischen Großindustrien : Säuren, Alkalien,
Salze, darunter viele Mineralfarben, die aus den
Fraktionen des Steinkohlenteers gewonnenen künst-
lichen organischen Farbstoffe oder Teer- auch
Anilinfarbstoffe genannt, künstlicher Indigo, Arznei-
mittel, wie Salizylsäure, Salol, Aspirin, Aniifebrin,
Antipyrin, Sprengstoffe, wie Pikrinsäure, Riechstoffe,
wie Mirbanöl, Antiseptika, wie Lysol, Kreolin, photo-
graphische Entwickler, wie Hydrochinon, Rodinal,
Süßstoffe, wie Saccharin, Dulcin, Denaturierungs-
mittel, wie Pyridinbasen u. v. a. m. hervorgehen.
(GXJ
Die Seefelder bei Reinerz in Schlesien, ein des Schutzes bedürftiges Hochmoor.
[N«chdruck verboten.] Von Dr. R. Kräusel, Breslau.
Mit 3 Abbildu
In den letzten Jahren hat die Naturschutzbe-
wegung so großen Einfluß in Deutschland erlangt,
daß es, obwohl die Heimat von Hunnen und Bar-
baren, nach dem Urteil berufener Beobachter in
dieser Hinsicht den ersten Platz einnimmt. Aus
kleinen Anfangen hervorgegangen, können diese
Bestrebungen voller Genugtuung auf das Erreichte
zurücksehen, ist es ihnen doch gelungen, nicht nur
weite private Kreise für ihre Ziele zu begeistern;
auch alle örtlichen und staatlichen Behörden haben
nunmehr dieBedeutung des Naturschutzes
gerade in unserer raschlebigen Zeit erkannt. Viel
Erfreuliches konnte schon geschaffen werden, be-
sonders seit in der preußischen „Staatlichen
Stelle für Naturdenkmalpflege" ein amt-
licher Mittelpunkt für alle diese Bestrebungen ge-
geben ist, dem sich ähnliche in den mei.-ten anderen
deutschen Bundesstaaten anreihen. Daß sie noch
nicht alle Pläne verwirklichen und besonders die
einzelnenProvinzial- und landschaftlichen
Komitees bei weitem nicht alle innerhalb ihres
engeren Arbeitsgebietes an sie herantretenden
Wünsche und Anregungen nun auch in die Tat
umsetzen konnten, wird keinen Einsichtsvollen
veranlassen, ihre Tätigkeit abfällig zu beurteilen.
Abgesehen von Schwierigkeiten mancherlei Art,
die es zu überwinden gilt, besteht hier wie überall
zwischen Erwünschtem und wirklich Erreichbarem
ein gewisser Unterschied, der uns aber nicht
hindern darf, uns des schon Gewonnenen zu freuen.
Hierbei sei bemerkt, daß es weniger auf die
Schaffung sogenaimter „Naturschutzparke" an-
kommt, wie sie manche Kreise mit gewiß löb-
lichem Eifer als Zufluchtstätten der durch die
Kultur bedrohten Tier- und Pflanzenwelt anstreben
und dabei so weit gehen, bereits verschwundene
66o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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oder gar fremde Lebewesen anzusiedehi. Viel-
mehr ist es die vornehmste und auch dringendste
Aufgabe der Naturdenkmalpflege, die zahlreichen,
überall im Gebiet zerstreuten und oft nur kleinen
Bezirke, wo sich die Natur noch ungestört durch
die Einflüsse der Kultur erhalten hat, in ihrer
Ursprünglichkeit zu bewahren und gesetzlich
zu schützen, ehe es zu spät ist. Daß es dabei
nicht lediglich auf den Schutz von bemerkens-
werten Bäumen, eratischen Blöcken usw. ankommt,
liegt auf der Hand. Wie bedeutend umfassender
und vielseitiger die Aufgaben der Naturdenkmal-
pflege sind, kann ein jeder aus den von der
Staatlichen Stelle und den einzelnen Komitees
herausgegebenen Berichten ersehen, die Rechen-
schaft über die bisher geleistete Arbeit geben.
Unter den Gebieten, die des Schutzes besonders
dringend bedürfen, stehen die Moore mit ihrer
eigenartigen Flora und Fauna an erster Stelle,
sind sie doch durch die gerade seit Ausbruch des
Krieges bedeutend ausgedehnte Moorkultur aufs
höchste gefährdet. Da ist es ein Verdienst des
„Schlesischen Provinzialkomitees für
Naturdenkmalpflege" nicht minder wie der
„Schlesischen Gesellschaft für vater-
ländische Kultur", die schon so viel für die
Erforschung der Provinz getan, in jüngster Zeit
die Aufmerksamkeit auf ein Gebiet gelenkt zu
haben, das ganz unverdienterweise in Vergessen-
heit geraten war. Ich meine die Seefelder bei
Reinerz, neben den weitgedehnten Mooren des
Isergebirges das größte und höchstgelegene Hoch-
moor der Sudeten.
Im äußersten Osten der Westsudeten südlich
des bekannten Bades der Grafschaft Glatz gelegen,
erstreckt es sich dicht an der Landesgrenze, aber
noch völlig auf preußischem Gebiete. Es ruht
auf der tonigen Plänerkalkplatte, welche die Mulde
zwischen den von Nordwest nach Südost streichen-
den Kämmen des Adler- und Habelschwerdter
Gebirges bedeckt, und zeichnet sich dadurch aus,
daß es sein Wasser an zwei verschiedenen Meeren
zuströmende Flußsysteme abgibt. Nahe dem Ost-
rand des Moores entspringt die zur Elbe ziehende
Erlitz, während im Westen ein Teil seines Wassers
durch den Rehdanzgraben der Reinerzer Weistritz
und damit der Oder zufließt. Es ist eine allge-
mein verbreitete Ansicht, daß dieser zweite Abfluß
erst um die Mitte des i8. Jahrhunderts künstlich
geschaffen wurde, als der Forstmeister R e h d a n z
den nach ihm genannten Entwässerungsgraben
anlegte, der das ganze Moor in etwa 1600 m Länge
durchzieht und in das schluchtartige Weistritztal
mündet. Die tiefe, ganz dicht an den Westrand
heranreichendeTalschlucht legt indes die Vermutung
nahe, daß Rehdanz einen schon vorhandenen
Abfluß benutzt habe, wo zumindest in nieder-
schlagsreichen Jahren ein Ab- oder besser Über-
fließen des Moorwassers stattfinden konnte. Ist
diese Auffassung, die auch durch andere Gründe
gestützt wird, richtig, so können wir also auch in
den eigenartigen Abflußverhältnissen eine ursprüng-
liche Eigenschaft des Gebietes sehen. Die Angaben
über seine Größe gehen auseinander. So gibt
Partsch (Landeskunde von Schlesien i. 1896)
90 ha an, Zacharias nennt, einer älteren Quelle
folgend, 353 Morgen (Zeitschr. wiss. Zool. 43.
1886), Otto dagegen 177 ha (D. Grafschaft Glatz.
1914). Diese einander widersprechenden Ansichten
erklären sich wohl aus dem verschiedenen Umfange,
in dem die Autoren die südlich des eigentlichen
Moores gelegenen, mit lichtem Wald bestandenen
„Schwarzen Sümpfe" dazu gerechnet haben.
Für das Hochmoor im engeren Sinne gilt wohl
die erste Zahl. Es wird von zwei Wegen durch-
quert, an seinem Südende vom Fouqueweg, weiter
nördlich, etwa in der Mitte, am Austritt des
Rehdanzgrabens beginnend, vom Rehdanzwege.
An ihm befinden sich auch die wenigen ver-
fallenen Hütten, die der Torfstecherei dienen. Diese
wird seit langen Jahren, aber in sehr beschränktem
Umfange (nur wenige Tage jährlich) für rein ört-
lichen Bedarf betrieben und hat entgegen der
landläufigen Ansicht bis jetzt dem Moor nur wenig
geschadet. Das Gleiche gilt von der in ähn-
lichem Zustande befindlichen Entwässerungsanlage.
Partsch meint allerdings, daß seh ihrer Anlage
die Wasserabgabe merklich beschleunigt und jeden-
falls das weitere Vordringen des Moores gegen den
Wald unmöglich gewesen sei. Die Mächtigkeit der
Torfbildung beträgt am Rande stellenweise etwa 6 m,
ist aber in der Mitte, nach der das Moor sanft
ansteigt, bedeutend größer. Hier finden sich in
einer Seehöhe von 751 m eine ganze Anzahl kleiner
kreisförmiger Teiche, deren klares Wasser bis 10 m
tief ist. Sie sind gelegentlich als Reste einer
größeren zusammenhängenden Wasserfläche ange-
sehen worden, doch ist dies höchst unwahrschein-
lich. Seit alters her sind die einzelnen „See-
pfützen" als solche bekannt und haben dem Moore
den Namen gegeben, ein Beweis, daß sich die
Verhältnisse nicht wesentlich verändert haben.
Wohl erklärlich ist, daß ein so ausgezeichnetes
Gebiet schon früh die Aufmerksamkeit auf sich
zog. Zum ersten Male wird es im Jahre 1790
näher beschrieben (Schles. Provblt.). Es kann nicht
Aufgabe einer kurzen Schilderung sein, eine Auf-
zählung der zahlreichen späteren Arbeiten zu geben,
in denen Milde, Goeppert, Zeller, Stand-
fuß, Zacharias u. a. wertvolle Beiträge zur
Erforschung von Flora und Fauna lieferten, zumal
eine von anderer Seite begonnene floristische
Monographie des Moores wohl in Bälde vorliegen
dürfte. Eine solche eingehende, zusammenfassende
Arbeit fehlt bisher aber vollständig. Dies hat seine
Ursache einmal darin, daß die Untersucher stets
nur ganz bestimmte, eng umgrenzte Ziele im
Auge hatten, erklärt sich zum Teil aber auch aus
dem Umstand, daß seit der durch Rehdanz ge-
schaffenen Entwässerungsanlage und der Tatsache
der Torfgewinnung mehr und mehr die Ansicht
Raum gewann, die Ursprünglichkeit des Moores
sei zerstört und dieses dem Untergang geweiht.
Selbst in weitverbreitete Reisehandbücher hat diese
N. F. XVI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
66 1
ganz falsche Meinung Eingang gefunden, und sie
erwähnen die Seefelder nur flüchtig, fast möchte
man sagen, in historischem Sinne. So kommt es,
daß die große Menge der Gebirgswanderer —
sollen wir sagen glücklicherweise? — achtlos an
ihnen vorübergeht. Erstaunen erregte es daher
vielleicht mancherorts, als die „Schlesische
Gesellschaft für vaterländische Kultur"
und die „Provinzialstelle für Naturdenk-
malpflege" gerade die Seefelder als einziges
großes, typisches Gebirgshochmoor der Provinz
(dasisermoor ist größtenteils österreichisch) für wert
hielten, als Naturdenkmal geschützt und erhalten
zu werden. In Verfolg dieser Bestrebungen wurde
das Gebiet eingehend untersucht (E i n g e 1 s li e i m ,
Bericht über einen Besuch des Hoclimoores „die
Seefelder" bei Reinerz, Jahresber. Schles. Ges. 1916;
Ders., Über eine interessante Wuchsform der Fichte,
Mitt. deutsch, dendrol. Ges. 25, 1916), wobei sich
ergab, daß von einer auch nur allmählichen Ver-
nichtung — vorläufig wenigstens — • nicht die Rede
sein kann und die unvollkommenen Entwässerungs-
und Torfgewinnungsanlagen den ursprünglichen
Charakter kaum gestört haben. So erklärt es sich,
daß die philosophische Fakultät der Breslauer
Friedrich- Wilhelmsüniversität eine Preisarbeit aus-
geschrieben hat, die die Flora des Moores, ihre
pflanzengeographische und ökologische Stellung
behandeln soll. Daher ist zu hoffen, daß recht
bald eine wenigstens in botanischer Hinsicht ein-
gehende Monographie vorliegen wird. Für das
Gebiet der höheren Pflanzen mehr zusammen-
fassender Natur, dürfte sie für die schlesische
Thallophytenflora zahlreiche neue Ergebnisse
zeitigen.
Aus diesen Gründen soll hier nur eine flüchtige
Schilderung des so interessanten Gebietes folgen.
Von dem am Ostabhange der „Hohen Mense"
gelegenen Dörfchen Grunwald bieten sich die
Seefelder dem Blick als scheinbar kahle braun-
grüne Flächen dar, vom Dunkel des Fichtenwaldes
umgeben, dessen innerster Rahmen sich als schmaler,
hellerer Streifen abhebt. Zahlreiche dunkle Flecken
lassen erkennen, daß die Felder von zerstreuten
Busch- und Baumgruppen bedeckt sind. Deut-
lich sieht man die einzelnen „Seepfützen" sowie
die über das Moor führenden Dämme mit den
Torfliülten. Wollen wir es selbst begehen und
steigen den schmalen, aus dem Tal der Weistritz
emporführenden Pfad hinauf, so umgibt uns dunkler,
hochstämmiger F'ichtenwald. Noch besser ist es,
wir wählen den allerdings beschwerlichen .Aufstieg
durch das schluchtartige, von steilen Wänden be-
grenzte und mit Geröll und h'elstrümmern bedeckte
Abflußtal des Rehdanzgrabens, in dem uns
schon mancherlei durch das Wasser herabgeführte
Moorpflanzen begegnen. Bald erreichen wir die
Höhe und befinden uns mitten im Moor, das bei
einiger Vorsicht ohne weiteres begangen werden
kann. Der Wechsel des Landschaftsbildes ist
überraschend und die Grenze äußerst scharf aus-
geprägt. Jene hellgrüne Randzone wird von teils
hochstämmigen, teils mehr straucliartigen Moor-
birken {Bcfiila piibcscciis Ehrb.) gebildet, die in
deutlichen Gegensatz zur Umgebung treten. Nach
innen zu werden sie lichter, um schließlich ebenso
wie die nur hie und da noch eingestreuten Fichten
{Picea cxccha (L.) Link) ganz zurückzutreten.
Nur äußerst selten treffen wir im Innern des Moores
kleine, kümmerliche Fichtenstämmchen, die aber
schon nach wenigen Jahren als Opfer des unwirt-
lichen Bodens dahinsterben.
Die Bodenvegetation bietet nicht überall das
gleiche Bild. Auf weite Strecken hin sind die
üppigen Moospolster, die an trockeneren Stellen
neben zahlreichen, darunter recht seltenen Torf-
moosarten {SpJiaguiuii) auch manche andere
Spezies sowie Plechtcn und Pilze enthalten, durch
kuppeiförmige Büschel des Wollgrases {EriopJio-
niDi vagiiiiüiiin L.) u. a. vollständig verdeckt, an
anderen Stellen herrschen Vaccinien, darunter
die typischen Moorbewohner /'. ().x\coccus\^., die
Moosbeere, und \ 1 nligiih>^inii L., die R a u s c h -
beere, in Gemeinschaft mit ChÜujki -ntlgai-is L. und
den zierlichen Gestalten von . ludroincdn Polifolin L.
dem wilden Rosmarin. Dagegen scheint
Lcdiiiii pnliisirr L., der Sumpfporst, ganz zu
fehlen, der schon in dem ältesten Bericht (a. a. O.)
als äußerst selten bezeichnet wird. Nach Zacharias
käme er allerdings geradezu „massenhaft" vor
(a. a. O.). Ob dieser unzweifelhafte Irrtum, wie
Lingelsheim meint, auf einer Verwechslung
mit Aiidroiiu'da beruht, mag dahingestellt bleiben.
Dagegen spräche, daß Zacharias an anderer
Stelle (Zacharias, Ein Spaziergang nach den
Seefeldern bei Reinerz, 1886) beide Pflanzen ganz
richtig abbildet, doch ist diesem Umstände bei
seinen scheinbar recht flüchtigen botanischen An-
gaben nur wenig Wert beizulegen. Jedenfalls ist
es bisher weder Lingelsheim und mir noch
anderen Untersuchern gelungen, auch nur ein
Exemplar des Sumpfporstes zu finden.
Während in manchen Bezirken das Woll-
gras allein herrscht, tritt es in anderen gegen-
über jenen kleinen Halbsträuchern vollständig zu-
rück, so daß das Bild ganz verschieden ist. In
noch höherem Grade aber gilt dies von der
nächsten Umgebung der Seepfützen. Üppig
wuchernde .sy'////o^;///wpolster verdrängen alles
andere, von zahlreichen QvLXzritn durchsetzt,
unter denen C. fxuiciflora Lghtf. und C. liinosn L.
Beispiele seltener Arten sind. Die zierlichen
Rosetten des Sonnentaus {Drosera rofnndifolia
L., I>. aiiglira Hds.), Seheiic/izeria pal/is/ris L.,
Rliyiiehnsp'ira alba Vahl und andere typische Moor-
und Sumpfpflanzen finden hier die Bedingungen
für üppiges Wachstum. Llnmöglich ist es an den
meisten Stellen, bis an den Rand des Wassers zu
treten. Da die Polster an der Oberfläche von
außen nach innen zu immer weiter wachsen, bilden
sie schon in einiger Entfernung vom Rande eine
nur trügerische, unter dem Fuß hin- und her-
schwankende, schwammige Masse. Mehrere Gebirgs-
bewohner sollen hier ihren Tod gefunden haben;
662
Naturwissenschafliichc Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Vorsicht ist also am l'latze. Einige der Teiche
sind schon ganz verlandet (Abb. ij. Die im süd-
lichen, trockneren Teil des Moores gelegenen da-
gegen besitzen festere Ufer, wo die Vaccinien
lusw. dicht an das Wasser hei antreten.
So lassen sich auf dem doch verhäUnisniäßig
kleinen Gebiete des Moores ganz deullicli schon
jetzt drei Hauptformationen unterscheide^ , die
scharf voneinander getrennt sind, der S])h;ig-
numsumpf in der nächsten Umgebung derTcichc,
:das Gebiet der Vaccinien und der Bezirk des Woll-
grases. Eingehende Untersuchung der Siandoi is-
verhältnisse der einzelnen Aiten erniögliclit eine
weitere . Gliederung. Hierzu tieicn als weitere
E'ormationen die schon erwähnte Randzonc des
Moores sowie die Seepfützen selbst. Sie enthalten
vorhanden sein müßten. Gebüsch- und parkartiger
Wuchs war daher allem Anschein nach auch ehe-
dem die Regel. Gebildet wird diese Gebüsch-
f o r m a l i o n fast ausschließlich von der auf Moore
beschränkte Moor- oder Hakenkiefer (Piiii/s
iiihiiialn Ram.). In einzelnen bruppen wachsend,
b)ldci sie hier hohe, dort niedrigere mehr oder
weniger \x:kiüppelte Stämme, bald kriecht sie am
Hodcu dahin wie echtes Knieholz, von dem sie
dann ohne Zaijfen kaum zu unterscheiden ist
(.Abb. 1). Auf diesen Umstand ist wahrscheinlich,
icderhohe Angabe über das ;Vor-
rchten Knieholzes zurückzuführen.
1 il<c. fehlt den Seefeldern durchaus.
' ; man an den Zweigen der Kiefern
../ n\(>iiila L. erzeugte Harzgalle.
.Abb. 1.
„Seepfülze" ; im Vordergriindc
Kräüscl ph(
Gruppen der Moorkiefer.
eine Algenflora, deren Reichhaltigkeit auch noch
nicht annähernd bekannt ist, erwähnt doch die große
schlesische Kryptogamenflora C o h n s nur i 5 .Arten.
Schon jetzt läßt sich sagen, daß es in Wirklich-
keit viel mehr sind. Darunter finden sich auch
Formen, die für Schlesien gänzlich neu sind. Üppige
Rasen bilden in allen Teichen die schönen Rhodo-
phyceen Iln/rdc /i^xpiriiiinii iinnillitcniic Roth, luid
JLvat:,
Ag., welch letztere zu den seltensten Arten
der formenreichen Gattung zu rechnen ist.
Geschlossener Baumbestand fehlt dem Moore
ivoUständig, was wohl ebenfalls als ursprünglicher
Zustand anzusehen ist, Zwar soll es nicht immer
so gewesen, der ehemalige Wald nach alten ]5e-
■richten vielmehr erst 1797 durch einen Waldbrand
vernichtet worden sein. Es scheint aber, daß die
-Tragweite dieses lüeignisses sehr übertrieben
■worden ist; denn nirgends fanden sich bisher in
dem Moor größere Baumstümpfe; die dann doch
Die mannigfachen Kieferngruppen bieten ein
eigenartiges, bei jedem Schritt wechselndes Bild,
zumal sie oft dicht mit Flechten behangen sind.
Im südlichen Teil des Moores, dessen Untergrund
trockner ist, mischen sich mit ihnen zahlreiche selt-
same Knüppelgestalten der Moorbirke (Abb. 2).
Der Baumwuchs ist reicher und macht den Eindruck
eines in toller Laune geschaffenen Parks. Hierzu
tragen noch zahlreiche Strauchformen: der Fichte
von ganz absonderlicher Gestaltung bei. Bald sind
es einzelne kleine, aber auch höhere Bäume, bald
eng verflochtene Gruppen solcher. .Alle aber
erscheinen sie wie mit der Schere zugestutzt als
Kugel-, Kegel- oder Pyramidenformen, deren dichtes
unentwirrbares Gezweig bis auf die Erde herab-
reicht. Auch sie werden von Flechten überwuchert,
die so manche Kiefer und Fichte erstickt haben.
Wo mehrere solcher abgestorbener Bäume zu-
sammenstehen, erhöhen sie in scharfem Kontrast
N. F. XVI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
663
die Eigenart des Bildes. Indem an manchen bei 1
Stellen der Gebüsche sich all diese Raumtypen zu der
eng verschlungeneti Gruppen Vereinigen, ergeben der
Kniippelfo
sich Bilder von höchstem Reiz, die die Worte voi
Partsch über das „trübselige l.andschafisbild
als unberechtigt erscheinen
lassen (Abb. 3). Weder
Schncedruck noch Wildver-
biß können als Ursacheder
auffallenden auf das Moor be-
schränkten Wuchsform der
Fichte in Frage kommen,
wie Lingelshei m nach-
weist, weshalb er sie mit
Recht als eine durch Ein-
wirkung des Untergrundes
bedingte Abart ansieht
[Picea i.xcclsii (L.) Link,
i./iir/osd Lingelsh.). Gegen
die Annahme, daß es sich
um eine Frosterscheinung
handelt , spricht der Um-
stand, daß die Wuchsform
streng an das Moor ge-
bundenist. Sollte Li ngels-
heims Ansicht, wie ich an-
nehme, berechtigt sein, so
dürfte die eigenartige Va-
rietät sich auch auf andern
Mooren nachweisen lassen.
Zu diesen merkwürdigen
Holzgewächsen tritt neben Parkartige Laadi
einigen kleinblättrigen Wei-
den als kostbarste Seltenheit schließlich die Zwerg-
birke {l'uiiila nana L.) 'Lingelsh e i m gibt für dieses
ins durchaus auf einige Moore beschränkte Relikt
Eiszeit zwei Standorte auf dem nördlichen Teil
Seefelder an. Ich fand sie auch südlich des
Rehdanzweges in reichen
und stattlichen Beständen.
In allen Fällen wachsen die
bis meterhohen Sträucher
in der Umgebung dfcr
offenen Teiche, gehen aber
zerstreut auch in die mit
Kiefern bedeckte Zone über.
Auch ein Bastard der beiden
Birkenarten ist in vereinzel-
ten Stücken nachgewiesen
worden. Die Zwergbirke
besitzt hier neben dem
Isermoor ihren einzigen
schlesischen Standort. Aber
wenn sie auch ziemlich zahl-
reich ist und gut gedeiht,
dürften ihre Tage doch ge-
zählt sein, wenn nicht bald
durchgreifende Schutzmaß-
regeln ergriffen werden.
Was nun die Fauna
der See fei der angeht,
möge ein ganz kurzer Hin-
weis genügen. Typische
Vertreter der höheren
Tiere fehlen. Nur einige
lenten und Taucher nisten schon seit mehreren
cn in einem Teiche. Beachtenswert ist da-
.^bb. ,3.
:haft mit Moorbirken und Moorformen
Lingelsheim plio
Fichte.
gegen, daß die weite Fläche ein ( )rl ist, wo sich
im Frühjahr Auer- und Birkwild in größerer Zahl
664
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 47
zur Balz vereinigen und das Hochwild der um-
gebenden Wälder mit Vorliebe seine Liebeskämpfe
austrägt. Reich ist das Gebiet an Insekten, na-
mentlich Schmetterlingen, von denen Stand fuß
eine lange Reihe nennt (Standfuß, G., Lepi-
dopterologische Beiträge zur Kenntnis der See-
felder. Ztsch. Entom. Breslau 1850). Unter ihnen
befinden sich als Naturdenkmäler die seltenen
Arten Colias (^alacno L., Lyraciia uMihte Knoch,
DipldJura alpiiim Osbeck, l'cHlaiiipa oriiicsn 1 hv.,
^b/diia iorii/ii;cnt Thnbrg., Lurnilin iiinirsahi
(Pax, über die Gefährdung entomologischer Natur-
denkmäler in Schlesien. 8. Jahresh. Ver. scliles.
Insektenkunde, 191 5), während Zacharias, der
die Fauna der Teiche erforschte, zwei äußerst
seltene Rotatorienformen nachweisen konnte, von
denen die eine, Liiiiiiins spluigiiicohi Zach., von
allen Autoritäten als besondere Varietät anerkannt,
bis heute noch von keinem anderen I-'undort be-
kannt geworden ist.
Schon diese groben Striche, in denen ich ver-
sucht habe, ein Bild der Seefelder zu entwerfen,
lassen unzweifelhaft erkennen, daß wir ein äußerst
charakteristisches Hochmoor vor uns haben, dem
in seiner ganzen Ausbildung an Eigenart nur
wenige gleichkommen. Eine Fülle seltener Moor-
pflanzen ist auf ihm vereint, dazu gesellen sich
höchst bemerkenswerte Tierarten. Daß dieses
Gebiet des Schutzes wert ist, bedarf danach keiner
weiteren Beweise. Allein das Vorkommen der
Zwergbirke, dieses nordischen Relikts, und von
Colias palacno rechtfertigt das Verlangen danach
vollkommen. Auch der Einwand, daß bisher ja
das Moor keinen beträchtlichen Schaden erlitten
habe, ist nicht stichhaltig. Einmal ist die Gefahr
der intensiven Torfgewinnung zwar glücklich ab-
gewendet worden, die einer völligen Vernichtung
für Fauna und Flora gleichkommen würde; sie
kann aber jederzeit wiederkehren, zumal gewisse
Kreise noch immer mit dem Gedanken einer Aus-
beutung der Torflager spielen, die sich wegen der
Entlegenheit des Gebirgsmoores indessen kaum
lohnen dürfte. Und ebenso gilt dies, nachdem dieAuf-
merksamkeit erneut auf das Gebiet gerichtet worden
ist, von einem stärkeren Besuch durch die Gäste
der umliegenden Bäder und Sommerfrischen. Dann
ade Seefelder!! Wie lange noch, und die letzte
Zwergbirke wäre vernichtet, die letzte Colins ge-
flogen. ') Wer denkt da nicJit an das Schicksal des
schlesischen Apollofalters, Paiiiassi/is apollo silc-
siaii/is, der heute in den Sudeten völlig ausgerottet
ist, oder der in den Strehlener Bergen vorkom-
menden Pericallia iiin/ro/i/ila, „an deren Standort
zur Flugzeit die Zahl der sammelnden ,,,, Entomo-
logen"" diejenige der vorhandenen Tiere bei weitem
übertrifft!" (Fax, Wandlungen der schlesischen
Tierwelt in geschichtlicher Zeit, Beitr. Natur-
denkmalspfl. V, 1916). Daß die Seefelder vor
einem ähnlichen Schicksal auch in Zukunft be-
wahrt bleiben möchten, muß der Wunsch eines
jeden Heimat- und Naturfreundes sein. Heimatliche
wie wissenschaftliche Interessen verlangen ihren
Schutz aufs dringendste. Ich schließe daher mit
dem Wunsche, daß die Bemühungen der .Staat-
lichen und provinziellen Stelle für Naturdenkmal-
pflege, das ganze Moor nebst dem es um-
schließenden Waldgürtel zum Naturschutz-
gebiet zu machen, bei dem Besitzer des Ge-
bietes, dem Königlich Preußischen Fiskus, ver-
ständnisvolles Entgegenkommen finden und ihnen
voller Erfolg beschieden sein möchte.
•) Wie berechtigt diese Befürchtung ist, erhellt aus der
Tatsache, daß sich schon in diesem Sommer die unheilvollen
Folgen stärkeren Besuchs bemerkbar gemacht und namentlich
die Zwergbirken durch sinnloses .Abreißen von Zweigen sehr
gelitten haben. Nach den Berichten der Korstieute zeichneten
sich hierbei namentlich zahlreiche Schülergruppen aus, die das
Moor in Begleitung ihrer Lehrer (!) besuchten.
Einzelberichte.
Forstwirtschaft. Kaninchenjagd mit dem
I'Vettchen. Seit alters wurde die Kaninchenjagd
vornehmlich unter Zuhilfenahme eines Frettchens
betrieben. Das Frettchen {Foc/oriiis Fnni)
gehört der Gruppe der eigentlichen Marder an
(AliistcUdcii], innerhalb der es mit dem Iltis
[Foiinri/is p/i/nriits) die größten Verwandtschafts-
züge aufweist. H i 1 z h e i m e r geht so weit, das
Frettchen überhaupt nur den „albinotischen Ab-
kömmling des Iltis" zu nennen, „der sich von der
Stammform durch nichts als blaßgelbe Farbe und
die roten Augen unterscheidet". Diese Ansicht
ist freilich nicht von jeher geteilt worden. So
weist Klaus Bode (Kosmos 1917 Xr. 6) darauf
hin, daß schon Johann von Fischer, der im
Jahre 1888 in einer Denkschrift über seine Unter-
suchungen über die Abstammung des Frettchens
berichtet hat, betonte, daß „das P'rettchen vom
Iltis ganz streng spezifisch verschieden ist und die
durch künstliche Zuchtwahl festgelegte Albinoform
von einem ausgestorbenen oder im wilden Zustand
noch nicht aufgefundenen iltisähnlichen Tier her-
rührt". Jedenfalls sind heute zweierlei Arten
des Frettchens zu unterscheiden: die am meisten
genannte Albinoform, deren Pigmentmangel erblich
festgelegt ist und die häufig gezüchtet wird, und
eine Form, die ihre Entstehung einer Kreuzung
zwischen Iltis und Frettchen verdankt. Die Jagd
mit dem Frettchen auf die Kaninchen verläuft
nach der Scliilderung Robert Kofferath's in
der „Deutschen Jägerzeitung" (Bd. 69 1917 Nr. 29)
sehr einfach: Es werden, bevor das Frettchen in
den Kaninchenbau eingelassen wird, die verschie-
denen Ausgänge dieses Baues, die man natürlich
vorher erkunden muß, mit Netzen oder Hauben
überdeckt. Macht dann das Frettchen im Bau
Jagd auf das Kaninchen, so treibt es die Tiere
ohne weiteres, wenn sie auf der Flucht aus ihrem
N. F. XVI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
665
Bau hinauseilen, in diese Netze hinein. Die Jäger
harren an den einzelnen Ausgängendes Kaninchen-
baues und erbeuten dort ohne viel Mühe die Nager,
die sich in den Netzen verfangen haben. Um zu
verhindern, daß das Frettchen gleich im Bau sich
über eines der Kaninchen hermacht, legt man ihm
gewöhnlich einen Maulkorb an. Früher übte man
zu diesem Zweck die rohe Methode, dem Frettchen
die Lippen zuzunähen. Allerdings vergreift sich
das Frettchen auch trotz des Maulkorbs manchmal
an einem Kaninchen im Bau. Kehrt es gar zu
lange nicht zurück, so braucht der Jäger nur das
Holzkistchen, in dem das Frettchen zum Bau ge-
bracht wurde, vor den einzig offenen Ausgang des
Baues zu stellen. Dort wird er es nach einigen
Stunden ruhig schlafend darinnen liegen finden.
Die Kaninchenwolle an seinem I'ang zeugt dann
von seinen Taten. Diese Jagdart auf Kaninchen
ist besonders im Herbste lohnend, wenn bei
Eintritt naßkalter Witterung die Tiere sich wieder
regelmäßiger in ihrem Bau versammeln. Das
Frettieren zu früher Morgenstunde schafft da oft
recht ergiebige Beute. H. W. F"rickhinger.
Geologie. Wasserversorgung durch offene
Gräben, Sickerung, Drainage bespricht Major
W. Kranz in der Zeitschr. für praktische Geo-
logie 19 17, H. I.
Hygienisch wenig einwandfrei, aber bisweilen
notwendig, ist die Fassung von Trink- und Ge-
brauchswasser durch offene Gräben. Allerdings
ist hierbei mit böswilligen und zufälligen Verun-
reinigungen, dem Zuwachsen durch die Vegetation,
dem Einfrieren, Schneeverwehungen sowie schwan-
kenden Temperaturen zu rechnen. Zur Trink-
wasserversorgung sollte man offene Gräben tun-
lichst nicht verwenden.
Hygienisch besser ist die Fassung von Grund-
und (Juellwasser durch begeh- oder schlupfbare
Sammelstollen, die sich leicht beaufsichtigen lassen,
durch Sammelrohre aus gebranntem Ton, Beton
oder Eisen, gelochte Steinzeugrohre oder durch
Sickerungen und Drainagen da, wo der Grund-
wasserträger wenig mächtig oder schwach durch-
lässig ist. Trinkwasser-Sickerungen und -Drainagen
müssen sorgfältig gegen ungenügend filtrierte
Tagewässer abgedichtet werden. Die Abdich-
tungen, welche aus gestampftem Ton, fettem
Mergel, tonigem Lehm, Beton oder Mauerwerk
mit wasserdichtem Verputz bestehen können,
sollen seitlich in die Grubenwände eingreifen und
möglichst an undurchlässige Bodenschichten an-
schließen. Oberflächenwasser muß möglichst
durch gute Abwässerung abgeführt werden. Trink-
wasser-Drainagen und -Sickeruiigen dürfen nicht,
wie es auf dem Lande aus Sparsamkeitsrücksichten
oft geschieht, zu nahe der Geländeoberfläche
liegen, da dann Versiegen bei trockener Witterung,
Trüblaufen bei anhaltendem Regenwetter, und
Verseuchung mit Bakterien gar zu leicht eintreten
können.
Abwässerdrainagen werden gegen Eindringen
von ( )berflächenwasser absichtlich nicht geschützt,
so daß ihnen im Stellungskrieg leicht Leichenstoffe,
Urin, Kot und Abfälle zugeführt werden können.
Wo diese Drainagen Schützen- und Annäherungs-
gräben schneiden, entnimmt vielfach die Stellungs-
besatzung Wasser, das bisweilen zum Kochen
freigegeben wird. Kranz hält dies besonders in
der heißen Jahreszeit für bedenklich und schlägt
vor, diese Drainageleitungen zu verstopfen, da die
Truppen im allgemeinen kein Interesse an der
Trockenlegung des Zwischengeländes haben, viel-
mehr ihnen daran liegt, daß dieses die Tagewässer
möglichst aufsaugt.
Ebenso wie Brunnen- und Ouellfassungen müssen
auch .Sicker- und Drainageleitungen durch ent-
sprechende Abstände von verunreinigenden An-
lagen (Düngung, Abort- und Düngergruben, Be-
gräbnisplätze und dgl.) geschützt werden. Gräben,
in denen Sickerungen und Drainagen eingebaut
werden sollen, sind möglichst rechtwinklig zum
(jrundwasserstrom anzuordnen. Hat man nicht
gleich die günstigste Richtung getroffen, so tut
man nach v. .Scheu rlen gut, einen 2. Graben
senkrecht zum ersten anzulegen. Die Gräben
führt man am besten zu einem Sammelschacht, von
dem aus das Wasser durch Abessinier oder andere
Pumpen geschöpft werden kann. Die Grabensohle
legt man möglichst nahe unter den wasserführenden
1 lorizont.
Die Fortleitung des Wassers erfolgt durch die
handelsüblichen gebraunten Drainageröhren (30 cm
lang und 5 — 22 cm weit), welche man stumpf
aneinander stößt und dadurch sich \on selbst
geringe Fugenzwischenräume ergeben, oder durch
gelochte, glasierte Ton-, Zement-, .Steinzeugröhren
oder aber durch Kanäle aus Backstein. Ein starkes
Durchströmen durch die Röhre ist tunlichst zu
\ermeiden, doch darf das Gefälle auch nicht zu
träge werden. Zum .Schutze gegen Eindringen
von -Sand, Ton oder Lehm umgibt man die Röhre
mit gewaschenem Material, zuerst mit groben
Steinen, dann Kies von abnehmender Korngröße
und zuletzt bis über den Sammelwasserspiegel
Sand („Sandsperren"). Nach Fraenkel genügt
eine 4 — 6 m mächtige Sandschicht zum Aufhalten
von Wasserkeimen.
Die Ergiebigkeit von .Sickerungen und Drai-
nagen läßt sich nur auf geologisch-hydrologischer
Grundlage unter Berücksichtigung des Schwankens
besonders bei wenig tiefen Fassungen ermitteln.
Je geringer die Ergiebigkeit ist, um so größer
muß der Vorratsraum im .Sammelschachte sein,
den man entsprechend unter die wassertragende
Grenzfläche hinab vertieft. Da mit dieser Methode
überall Wasser erschlossen werden kann, so kommt
dieser Art von Trinkwasserbeschaffung besondere
Bedeutung zu und ist oft das einzige Mittel zur
Bereitstellung der erforderlichen Trinkwasser-
mengen für Mannschaften, Pferde und Vieh. Die
Reinhaltung der Umgebung und bestmögliche
Filtration ist allererste Pflicht. Für die Wasser-
666
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 47
Versorgung größerer Garnisonen, von Truppen-
übungsplätzen und dgl. kommen Sickerungen und
Drainagen nicht in Betracht, indessen können
manchmal die Verhältnisse dazu zwingen, wie es
bei der Wasserversorgung englischer und franzö-
sischer Städte der Fall ist. (G.c.) V. Hohenstein.
Die nutzbaren Mineralien des Pamir unterzieht
Arved Schultz in seinen „Landeskundlichen
Forschungen im Pamir" (Abhandlungen des
Hamburgischen Kolonialinstituts) kritische Unter-
suchungen.
Gold findet sich in folgenden Flüssen: Tanimes,
Bartang. Der Abbau lohnt nicht, da ein sehr
geübter Goldsucher nicht mehr als etwa für 70 Pf.
Gold täglich sammelt.
In Badekschen fand man Eisenerze, die solange
abgebaut wurden, so lange noch keine fertigen
Eisenwaren von Europa eingeführt wurden. Auch
die Rubine am Pändsch und die Silbererze am
oberen Gunt baut man nicht mehr ab.
Reich an Steinsalz ist das Innere des Pamir,
so daß von hier aus die Kirgisen den ganzen
Pamir damit versorgen können. Grau und Rot
sind die Farben, in denen es aufiritt. Asbest zeigt
sich im westlichen Pamir.
Der (Ostabhang des Pamir schließt in seinen
paläozoischen und mesozoischen Ablagerungen
Kupfererze, Eisenerze, Steinkohlen, Steinsalz ein.
Beim Flusse Baldis gräbt man Alaun aus der
Erde.
Die chinesische Regierung betreibt die Eisen-
gewinnung und soll damit eine Jährliche Ausbeute
von 7000 Zentnern erreichen.
Hundt, im Felde.
Zoologie. Überden Verschluß von Präparatenglä-
sern. Nachdem sich in Museen und Sammlungen zur
Aufbewahrung der in Alkohol und anderen Flüssig-
keiten konservierten Naturgegenstände mehr und
mehr Gläser von parallelepipedischer Form ein-
gebürgert haben, sind brauchbare Methoden, die
ein wirklich zuverlässiges Aufkitten der ge-
schliffenen Deckscheibe gestatten, von immer
größerem Interesse geworden. Besonders macht
das dichte und haltbare Verkitten von Präparaten-
gläsern in Lehrsammlungen, die von Hand zu Hand
herumgereicht werden sollen, viel Mühe und oft
viel Ärger. Max Seh m id t- Hamburg (Monats-
hefte für d. naturwiss. Unterricht. 1917. S. 187 ff.j
faßt die Bedingungen, die man in solchen Fällen
an die Kittmasse stellen muß, kurz in folgenden
6 Punkten zusammen:
„I. Der Kitt soll stets gebrauchsfertig sein.
Er soll in nicht zu langer Zeit erhärten. Er soll
einen sauberen Verschluß vermitteln, darf also
nicht klebrig oder schmierig bleiben.
2. Der Verschluß darf auch bei tagelangem
Kippen des Glases nicht undicht werden. Die
Konservierungsflüssigkeit darf also den Kitt nicht
3. Auch bei vorübergehender, nicht allzu
starker Erwärmung (im Projektionsapparat) muß
der Verschluß dicht bleiben.
4. Die Gläser müssen sich bequem öft'nen
lassen.
5. Wünschenswert ist, daß der Kitt kalt an^
gewendet werden kann. Eine nur in der Wärme
flüssige Masse bietet Schwierigkeiten bei brenn-
baren Konservierungsflüssigkeiten.
6. Wenn möglich, soll bei allen Kon'iervierungs-
flüssigkeiten (Alkohol, Formahn, Wintergrünöl)
die gleiche Mas^e verwendet werden."
Diesen Anforderungen entspricht nun, soweit
sich übersehen läßt, keine einzige der vielen im
Handel vorhandenen Kittmassen, besonders nicht,
soweit es sich um Punkt 6 handelt.
Schmidt glaubt aber nun einen Klebstoff
gefunden zu haben, der in geradezu idealer Weise
zunächst für Alkohol als Konservierungsflüssigkeit
den obigen Forderungen i —5 genügt, und der
noch den Vorzug großer Billigkeit, Sauberkeit,
leichter Handhabung und ständi^^er Gebrauchs-
fähigkeit für sich hat. Es handelt sich um den
in Tuben überall — auch jetzt im Kriege —
käuflichen P'ischleim „Syndetikon". Seine
Verwendung ist höchst einfach: Man durchsticht
den Tubenhals mit einer Nadel oder einem Nagel,
trägt die Masse kalt und ohne Verwendung eines
Pinsels auf und zwar so sparsam, daß außen und,
innen nichts hervorquillt und herabläuft, legt den
Deckel auf, und beschwert ihn nach einiger Zeit
etwas. Nach spätestens einem Tage kann man
die Alkoholgläser kippen und umgekehrt stellen;
die Glasplatte bricht eher, als daß die Verkittung
sich löst, sogar bei nur schmaler Berührung von
Gefäß und Deckel (2 mm genügen!) und nicht
ganz exaktem Schliff. Verdunstung und Aus-
fließen ist absolut verhindert. Nur in ganz feuchter,
Luft, wie sie in Sammlungen ausgeschlossen ist,
kann sich die Masse erweichen. Doch läßt sich
das durch Überziehen mit schwarzem Lack,
ebenfalls verhindern. Auch eine vorübergehende
Erwärmung im Projektionsapparat macht den
Verschluß nicht undicht. Trotz des enorm festen
Hafiens ist ein Öffnen des Deckels doch möglich,
wenn man um den Rand — nach eventueller
Entfernung des Lackringes — für einige Stunden
ein nasses Luch wickelt.
Was nun Forderung 6 angeht, so ist zu er-
wähnen, daß Syndetikon auch Gläser mit Winter-,
grünöl klebt. Bei wässrigen Lösungen wie Formalin-
lösung ist er aber zunächst unbrauchbar, weil
Wasser Fischleim löst. Durch einen kleinen Hand-
griff macht Schmidt aber das Klebemittel auch
hier verwendbar, indem er den Leim mit etwas
löslichem Bichromat versetzt. Bekanntlich werden
Gelatinen, Gummiarten, Leime durch solchen Zu-
satz bei Belichtung wasserunlöslich. Man löst in
dem Leim, wenig Kaliumbichromat, so daß er eine,
schwach gelbliche Farbe annimmt und verwendet
ihn dann wie oben. Man kann auch die Tube
an dem breiten Ende öffnen, durch Umrühren
N. F. XVI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
667
etwas gepulvertes Kaliurnbichromat darin lösen,
die Tube wieder 'zudrehen und nun wie bei Al-
kohol verwenden. Einige Punkte sind jedoch zu
beachten: Man streicht den chromierten Leim
besser nicht auf den Rand sondern nur auf den
Deckel, damit die Klebemasse ja nicht mit der
Flüssigkeit in Berührung kommt, ehe sie völlig
trocken ist. Aus demselben Grunde stellt man
das zu verschließende Glas vorher dorthin, wo es
zum Trocknen stehen bleiben soll, bevor man den
■Deckel auflegt. Nach Auflegen des Deckels ver-
bleibt das mit Formaiin gefüllte Glas im Dunkeln,
bis der Deckel festsitzt, was etwa am nächsten
Tage der h'all ist. Dann kommt das Gefäß ans
Licht, das nunmehr die Kittma^se u:<löslich macht.
Solche Gläser lassen sich nach einiger Zeit, wie
Versuche gelehrt haben, bis zu einer Woche um-
gekehrt stellen, ohne daß sich der Deckel löst
oder undicht wird. Will man den Verschluß lösen,
stellt man das Gefäß einige Stunden umgekehrt
in Wasser. Wahrscheinlich lassen sich nach dieser
Methode auch Küvetten u. a. kleben und dichten.
Bei Schaugläsern, die in Vorlesungen oder im
Unterricht herumgehen, oder die bei episkopischen
Projektionen Verwendung finden sollen, ist es oft
erwünscht, daß im Glas möglichst keine störenden
Luftblasen sich finden, das Glas also möglichst
völlig mit Flüssigkeit gefüllt ist. Man erreicht
dies gleichzeitig mit dem Verkitten der Deck-
scheibe auf folgende einfache Weise. Mit Hilfe
einer dreikantigen Glasfeile feilt man vorher in
den geschliffenen Rand des Präparatenglases zwei
nebeneinanderliegende Rinnen und zwar so tief,
daß zwischen Deckel und Rand eine Stecknadel
von der Dicke der Kanüle einer Pravaz- oder
ähnlichen Spritze Pialz hat. In diese Rinne legt
man je eine mit Vaseline überzogene Stecknadel
und kittet nun den Deckel wie oben beschrieben
darüber. Nach dem Trocknen zieht man die
Nadeln heraus. Mit Hilfe einer Pravazspritze füllt
man nun durch eine der Öffnungen Flüssigkeit,
während durch die andere Luft entweicht, legt
das Gefäß dann um, Rinnen nach oben, und ver-
schließt nach sorgfältigem Abtrocknen diese eben-
falls mit Kittmasse. Ein zu langes Erhitzen beim
Projizieren ist natürlich nicht angängig, vielleicht
aber eher dann, wenn man eine kleine, sonst nicht
störende Luftblase darin läßt. Will man gänzlichen
Luftausschluß, müssen Flüssigkeit und Präparat
vorher ausgepumpt werden.
Olufsen.
Chemie. Über die Einwirkung von gasförmigem
Ammoniak auf Superphosphate und die Verwendung
der gewormenen Ammoniakphosphate. Wie Prot.
Dr. G e r 1 a c (i ■ Bromberg m der Zeitschrift für
angewandte Chemie, 1916, S; 13— 14, 18 — 20
mitteilt, findet bei der Einwirkung von gasförmigem
■Ammoniak auf frisches und getrocknetes Super-
phosphat . unter Wärmeentwicklung eine lebhafte
Absorption des Gases statt. Wegen des infolge
des Krieges bewirkten Mangels an Schwefelsäure
scheint der Vorgang von erheblicher Bedeutung
zu sein, da er also die Bindung des .Ammoniaks
ohne Verwendung von Säure gestattet. E.r ver-
dient deshalb größere Beachtung.
Das Aufschließen des in der Natur vorkom-
menden Tricalciumphosphates durch die Schwefel-
säure und seine Umwandlung zu Superphosphat
geht bekanntlich nach folgender Gleichung vor sich :
Cag(PO^\ + 2H.,S0i, aq =CaH,(PO,).
' + 2Ca"SO„ 2H.jO.
Das Gemenge aus Monocalciumphosphat und
Gips ist das viel verwendete Düngemittel.
■Die Einwirkung des Ammoniaks auf dieses
Produkt verläuft nun nach G e r 1 a c h in folgender
Weise:
CaH,(POJ.. -f 2CaS0j, 2H.,0 + 4NH3 = Ca..(PO,)..
+ 4H.jO + 2iNH,,)oSO,.
Neben in Wasser unlöslichem Calciumphosphat
bildet sich also aus dem im Superphosphat ent-
haltenen Gips Ammoniumsulfat.
Es scheint, daß zunächst als Zwischenprodukte
Doppelsalze entstehen, und daß obige Umsetzung
durch NH3 erst nach dem Lösen des festen Ge-
misches in Wasser beendet ist. Theoretisch werden
von 100 Teilen Phosphorsäure (PoOr,) 39,4 Teile
Ammoniakstickstoff aufgenommen.
Frisches Superphosphat kommt unmittelbar,
ohne getrocknet oder gemahlen zu sein, aus der
Kammer in eine 2 m lange, langsam rotierende
Trommel, durch welche Ammoniak geleitet wird.
Es wird nach kurzer Zeit zu etwa 90 "/„ absorbiert,
wobei sich der Trommeliuhalt so weit erwärmt,
daß das im Superphosphat enthaltene Wasser zum
größten Teile verdampft. Das nicht absorbierte Gas
kehrt in den Betrieb zurück. Die noch bleibende
trockene Masse läßt sich fein mahlen. Die fabrik-
mäßige Darstellung dürfte nach den angestellten
Versuchen kaum auf Schwierigkeiten stoßen, da
bei den Vorversuchen wiederholt Mengen von
25 — 30 kg Superphosphat in die Trommel kamen.
Zwar geht das Superphosphat, wie obige Gleichung
zeigt, auf wasserlösliches Calciumphosphat zurück,
bleibt aber in verdünnter Zitronensäxire löslich.
Monatelanges Lagern läßt keine Ammoniakverluste
eintreten. Ein Produkt, das- am 18. 3. 6,61 % Ge-
I Samtstickstoff und 6^7 "U- ^'PasserlÖ5lichen Stick-
stoff enthielt, wies am 29. sbaoch 6,54 "/'o bzw.
6,34 " u Stickstoff auf.- Die Verwendung des neu-
gewonnenen Ammoniakphosphates anstelle des
bisherigen, handelsüblichen Ammoniaksuperphos-
phats, einer Mischung aus aufgeschlossenen, ge-
trockneten Kalkphosphaten mit schwefelsaurem
Ammoniak, ergab nach den im Kleinen angestellten
Düngungsversuchen in i qm großen, ummauerten
Parzellen gute Resultate, denn es erwies sich, so-
wohl was die Stickstofif-, als auch was die Phos-
phorsäurewirkung angeht, als diesem völlig eben-
bürtig. Dies geht aus den in der Arbeit beschrie-
benen Vergleichsvcrsuchen hervor. . Das PJrgebnis
668
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 47
ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil zur
Bindung des Ammoniaks keine neue Schwefelsäure
sondern nur die im Gipse des Superphosphates
enthaltene, für die Düngung bedeutungslose Schwefel-
säure verwendet wurde. Um einen Doppelzentner
Ammoniaksuperpho.sphat des Handels herzustellen,
braucht man aber mindestens 1 12 kg rohe Schwefel-
säure von 50" Be. h'erner erspart das Verfahren
die Ausgaben und Einrichtungen zum Eindampfen
des Ammoniumsulfats und für das Trocknen des
rohen Superphosphates, das bei der Herstellung
von Ammoniaksuperphosphat erforderlich ist. Nach
persönlichen Mitteilungen des Herrn Prof. G e r 1 a c h
haben die in diesem Sommer angestellten Feld-
versuche die günstigen Ergebnisse der Vegetations-
versuche bestätigt. ( G.C. ) Olufsen.
Paläontologie. Eocäne Säugetierreste aus Xord-
und Mitteldeutschland beschreibt H. Schroeder
im Jahrbuch der Kgl. Preuß. Geologischen Landes-
anstalt Bd. X.XXVII Teil i Heft i. Es handelt
sich vor allem um Lophiodonreste aus der
Braunkohle des Geiseltales und aus den
Phosphoritlagern von Helmstedt (Braun-
schweig), die für die F e s t s t e 1 1 u n g d e s A 1 1 e r s
der Braunkohlenablagerungen Sachsens
und Braunschweigs von ganz besonderer
Bedeutung sind.
Auf Grube Cecilie und Grube Leonhardt bei
Mücheln im Geiseltale (Kr. Merseburg) fanden
sich auf primärer Lagerstätte der dortigen Mittel-
kohle Unter- und Oberkieferzähne mehrerer Arten
von Lophiodon, ebenso auch Knochen, die
aber leider zu einem ockerfarbigen Mulm zerfielen.
Die Lagerstätte muß ein eocänes Alter haben, da
die Gattung Lophiodon nur auf das Eocän be-
schränkt ist. Eine nähere Altersbestimmung ist
noch durch das Vorkommen von Zähnen des
Lophiodon Cuvieri möglich, welche für ein mittel-
eocänes Alter der Lagerstätte sprechen würden.
Damit ist zum ersten Male das eocäne Alter der
Unter- und Mittelkohle des Geiseltales nachge-
wiesen und damit überhaupt eine feste Basis für
die Erörterung der Altersstellung dieser auf dem
Festlande entstandenen Ablagerungen geschaffen.
Ob die darüberlagernde Oberkohle gleichalt oder
jünger, etwa obereocän oder unteroligocän ist,
ist vorerst schwer zu sagen. Ebenso weiß man
auch zurzeit noch nicht, ob die unter der Fund-
stelle liegende Kohle (Unterkohle, z. T. Mittelkohle),
in welcher übrigens Schnecken und Schildkröten
in schlechtem Erhaltungszustande gefunden wurden,
älter als Mitteleocän ist.
Die Lophiodonten sind nicht als Vorläufer
der Tapirinae anzusehen, sondern beide sind
gleich alte nebeneinander hergehende Stämme. Die
Lophiodontinae starben noch vor der unteren
Grenze des Oligocäns aus, während die Tapirinae
diese überschreiten und noch bis in die Gegen-
wart fortleben.
Aus den Phosphoritlagern bei Helm-
stedt sind schon länger Lophiodonreste bekannt.
Im Gegensatz zu den mit allen feinen Skulpturen
der Zahnoberfläche versehenen Lophiodonzähnen
aus der Kohle des Geiseltales sind jene der Phos-
phoritlager von Helmstedt schlecht erhalten.
Ecken und Kanten sind gerundet, der Glanz matt
und verwischt, Brüche der Knochen stark abge-
rundet. Erstere (Geiseltal) sind auf erster Lager-
stätte, letztere (Helmstedt) auf zweiter Lagerstätte,
also als GeröUe in ihrer jetzigen Lagerstätte.
Daneben kommt bei Helmstedt noch Propa-
laeotherium parvulum, ein primitiver E(]uide
vor. Im Obereocän stirbt die Gattung Propaläo-
therium aus.
Die Phosphoritlager der Gegend von Helmstedt
sind unteroligocän. Die Phosphorite sind aus
ihrer ersten unteroligocänen Lagerstätte aufge-
arbeitet worden und wieder in unteroligocäne,
etwas jüngere Schichten eingeschwemmt worden.
Dies könnte man auch für die Säugetierreste an-
nehmen, wenn nicht Lophiodon und Propaläo-
therium ein ganz beschränktes eocänes Alter hätten.
Das marine Unteroligocän lagert diskordant auf
der Braunkohlenformation, überschreitet deren Aus-
dehnung bei weitem und transgrediert in der
weiteren Umgebung von Helmstedt über alle
Formationen vom tieferen Tertiär bis zum Rot-
liegenden. Das Oligocänmeer hat dabei alle
möglichen Gesteine des Untergrundes in sich auf-
genommen, so auch die Säugetierreste, die sehr
wohl der Braunkohlenformation entnommen sein
können und sich auf zweiter Lagerstätte befinden.
Gegen die Gleichaltrigkeit von Phosphoriten
und Säugetierresten spricht der Umstand, daß sie
im Gegensalz zu allen dort gefundenen unteroli-
gocänen Fossilresten nicht an Phosphoritknollen
haften, oder von solchen umschlossen sind.
Damit sind auch die He Imsted t e r Brau n -
kohlenablagerungen eocänen Alters.
Von weiteren Funden ist vielleicht noch mehr
zu erwarten. Deshalb wäre es sehr erwünscht,
wenn auf alle Funde sorgsam geachtet werden
würde. V. Hohenstein.
Die zeitliche und räumliche Verbreitung und
Stammesgeschichte der fossilen I-ische behandelt
eine Arbeit von Max Schlosser in den Sitzungs-
berichten der königl. bayerischen Akademie der
Wissenschaften (Jahrgang 191 7). Lückenloser läßt
sich jetzt obengenanntes Thema bearbeiten, weil
seit den Zeiten von Agassiz bedeutend mehr und
wertvollere l-'unde gemacht worden sind. Am
vollständigsten erhalten finden sich Fischskelette
in tonigen, mergeligen, kalkigen Schiefergesteinen
oder feinkörnigen Sandsteinen, nicht aber in grob-
körnigem Material oder Gesteinen, die Nieder-
schläge bewegten Wassers oder der Tiefsee sind.
Untersilurischer Kalkstein von Canon ('it\- in
Colorado (Schuppen und Hautplatten) sind die
ältesten Placodermen. Europas älteste Fischfauna
ist im obersilurischen Bonebed Schottlands, im
N. F. XVI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
669
Sandstein von Lanarkshire, im dolomitischen Kalk
der Insel Ösel, in sandigen Schiefern von Galizien
und Podolien, in Nordamerika, im Onodegasand-
stein von Pennsylvanien eingeschlossen. Was
davon bestimmbar ist, entfällt auf: Anaspida-
Birkeniiden-, Heterostraci-Cölolepiden und Ptera-
spiden-Osteostraci-Chephalospiden und Tremata-
spiden. Onchus. Im Devon findet man schon eine
reiche Formenwelt, gut erhalten, in den Schichten des
Oldred-Sandsteins von Großbritannien, in den russi-
schen Ostseeprovinzen, Nordamerika, Böhmen, Bel-
gien, Westfalen, Nassau, Eifel. Wildungen bei Kassel
lieferte eine Menge von Arthrodira. Das Miltel-
devon von Ohio, Jowa, Wiskonsin, New York ist
reich an Riesenformen: Dinichthys, Megalichthys,
Diplognathus. Die Fischfauna des Devons setzt
sich zusammen aus: Heterostraci, Gemündeniden,
Pteraspiden, Drepanaspiden, Osteostraci, Chepha-
lospiden, Antiarchi, Asterolepiden, Dipnoern, Di-
pteriden, Phaneropleuriden, Arthrodiren, Cocco-
steiden, Mylostomatiden, Ptyctodontiden, Grosso-
pterygiern, Holoptychiiden, Rhizodontiden, Osteo-
lepiden. Hochentwickelt sind schon Cheirolepis.
Alle Familien, die schon im Silur vorhanden
waren, reichen über das Unterdevon nicht hinaus.
Im Karbon zeigen sich Fischreste im marinen
Kohlenkalk, in Schiefern und Sandsteinen der
produktiven Steinkohlenformation. Es ver-
schwinden: Heterostraci, Osteostraci, Antiarchi,
Arthrodiren, reich findet man: Elasmobranchier,
Edestiden. Neu treten auf: Cestracioniden, Cam-
podes, Hybodontiden, Orodus, Ctenaconthus.
Palaeonisciden und Platysomiden aus dem pro-
duktiven Karbon blühen auf
Die Perm-Fische schließen sich nach ihrer
Entwicklung an die aus dem Karbon an. Das
Rotliegende des Saarbeckens, Böhmens, Sachsens,
Schlesiens, Frankreichs, der Magnesian Limestone
Englands, der Kupferschiefer Hessens und Thü-
ringens, des Perm von Texas und Neumexiko hat
Fische geliefert. An Individuen reich treten die
Heterocerken-Palaeonisciden, Platysomiden, je ein
Paar Crossopterygier, ein Coelacanthide und
Ctenodontide auf. Elasmobranchier treten zurück.
Von den Edestiden hat sich nur Helicoprion
erhalten. Am Ende des Perms sterben Pleura-
canthiden und Acanthodiden aus, nachdem sie in
dieser Formation den Höhepunkt der Entwicklung
erreicht haben.
Die wechselnde Verteilung von Land und
Meer, das wechselnde Klima hat auch einen
Unterschied in der permischen und triadischen
Fischfauna hervorgerufen. Im Buntsandstein finden
wir sehr wenig. Erst im marinen Muschelkalk
wird es besser. Hybodontiden, Dipnoer, Crosso-
pterygier bilden die Wurzeln zur Weiterentwickelung.
Die Mehrzahl der beschriebenen triadischen Fische
sind Ganoiden, deren Entwicklung aus den paläo-
zoischen Ganoiden sich zwanglos nachweisen
läßt, während nur die Herkunft der Belono-
rhynchiden noch nicht feststeht. Hauptfundorte
triadischer Fische sind ; schwarzer plattiger Muschel-
kalk von Perledo um Comersee, von Raibl in
Kärnten, Asphaltschiefer von Seefeld und anderen
Orten der bayrisch-tiroler Alpen, der obere Haupt-
dolomit von Adnet in Salzburg. Keupersandstein
von Schwaben, Thüringen und Franken, Sandstein
der Carrooformaüon in Südafrika, Havkesbery-
schichten von Neu-Süd-Wales , die schwarzen
Schiefer von Connecticut sind Fundstellen wohl-
erhaltener Fischskelette.
Im Lias ist die Fischfauna die unmittelbare
Fortentwicklung der triadischen. Die Hälfte der von
Agassi z und Egerton beschriebenen Arten
stammen aus dem unteren Lias von Lyma Regis in
Dowset. Der mittlere Lias ist arm an Fischresten,
da er Tiefseeabsatz ist. Die Posydonienschiefer
und Stinkkalke des oberen Lias in Franken und
Württemberg, die gleichaltrigen Schichten von
Werther bei Halle; England; Calvados, Yonne,
Cote d'Ore in Frankreich zeigen wieder eine
reiche Menge von Fischresten. Hybodonten sind
im Lias häufig. Neu ist der Typus der Elasmo-
branchier, Lemniden, Holocephalen. Ceratodus ist
noch nicht beobachtet worden, ebenso selten sind
die Collacanthinen. Aus England und Württem-
berg kennt man nur die Belonorhynchiden. Ein
Chondrostiers ist anwesend. Riesen liefern an
Pachycormiden die Amiodei. Die Catariden ent-
halten eine große F"ormenmannigfaltigkeit. Erst-
malig tritt ein Teleostier als Gattung der Lyco-
ptera auf. Im Dogger waren die Erhaltungsver-
hältnisse für Fischreste nicht gut. Wir finden nur
wenig und dieselben Arten wie im Lias und im
jüngeren Malm. Außerordentlich günstig lagen
in dieser Schicht in den plattigen Kalkschiefern
von Solnhofen, Eichstätt, Kehlheim (alle in Bayern),
Nusplingen (Württemberg), Cevin (Frankreich) die
Erhaltungsverhältnisse. Elasmobranchier, Gano-
iden und Teleostier sind erhalten. Oligopleu-
riden und Megalariden treten zum ersten Male
hier auf. Im formenarmen Wealden erscheint
unter den Pycnodonten der vorgeschrittene
Coelodus.
Die Kreidezeit bringt eine Umwandlung. Die
Ganoiden werden von den Teleostiern verdrängt.
Der Wechsel vollzieht sich vollständig in der
oberen Kreide. Zur älteren Kreidefischfauna ge-
hören die Fische aus den schiefrigen Kalkab-
lagerungen von Pietoaroja, Castallamare , Torre
d'Orlando im Neapolitanischen, von Comen in
Istrien, Crespeno • in Venetien, von der Insel
Lasina, aus den schwarzen, pyritischen Kalken
von Grodischk in den Karpathen, aus Neokom-
schiefern von Voiroes bei Genf und plattigen
Kalken in Mexiko. Teleostier waren schon damals
differenziert. In der oberen Kreide treten vor
allem Elasmobranchier als Ptychodontiden und
Lemniden auf. Daneben findet man Spinaciden,
Scylliden, Notidaniden, Cestracioniden. Squatiniden
kennt man vom Libanon und aus Westfalen.
Vom Libanon sind auch Pristiden und Rhinorajiden
bekannt geworden. Häufig sind im Cenoman der
Lybischen Wüste die CeratodusZähne. Vollständig
6/0
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 47
neue Formen der oberen Kreide sind die Albu-
liden, Dercetiden, Scopeliden, Beryciden. Die auf
die Kreide beschränkten Dercetiden, Plethodiden,
Euchodontiden, Ichthyodectiden sind in höchster
SpeziaUsierung ausgeprägt. Macruriden und
Stromateiden sind hier erstmalig durch Otoliihen
nachgewiesen. Jüngere Kreidefische finden sich
im kalkigen Mergel von Kansas (riesige Ichthyo-
detiden) im Kalkschiefer des Libanons, im merge-
ligen Sandstein der Baumberge in Westfalen, in
der weißen Kreide von England und Persien.
Im Tertiär gleicht sich die Fischfauna der
rezenten an. Die älteste — Eocäenfauna stammt
aus dem Londonton. Sie schließen sich an die
Formen der oberen Kreide an. Neu sind die
IMyliobetinen. Die Ichthyodectiden, Protosphyrae-
niden sind verschwunden. In den Pycnodontiden
haben die Ganoiden ihre letzten Vertreter. Eine
Anzahl der Eocäenfauna stammt von den Kreide-
fischen ab, die große Mehrzahl aber ist aus süd-
lichen und südöstlichen Gebieten eingewandert.
An der Grenze des oberen Eozäns hat Matt
in Glarus allein 29 Arten von Teleostiern geliefert.
Lepidopus tritt als Tiefseeform auf. Im Oligozän,
(Rupelton Belgiens, Meeressande von Mainz,
Pariserbecken) finden sich viele Reste von Haien
und Rochen und Otolithen von Teleostiern. Im
westlichen Nordamerika, in den Pureso-, Wesatsch-,
Bridger-Schichten von Neu-Mexiko und Wyoming,
besonders Green Riverbed kommen prachtvolle
Fischskelette vor. Das sind aber Süßwasserab-
lagerungen, während die gleichaltrigen Schichten
Europas mariner Entstehung sind.
Aus dem europäischen Untermiozän sind Fische
in den Braunkohlen von Rott bei Bonn und in
Nordböhmen bekannt geworden. Häufiger sind
sie in der miozänen Meeresmelasse (Selachier,
Teleostier weniger). Bei Unterkirchberg bei Ulm
kommen Solea und Clupea neben Süßwasserfischen
(Cyprinus, Smerdis) vor. Das ließ sich auch im
Obermiozän von Licate nachweisen, wo unter 52
Arten 44 marine Fische vorkamen.
Was im Pliozän an Fischresten vorkommt,
unterscheidet sich von der rezenten Fischfauna
sehr wenig.
So waren im Paläozoikum Elasmobranchier,
Dipnoer, Ganioden vorhanden. Die obersilurischen
Ana'-piden waren vielleicht die Vorläufer der be-
schuppten Dipnoern und Ganoiden, die Coelolepiden
die Vorläufer von Elasmobranchiern. Die Trias-
Selachier und die rezenten Haie und Rochen
stehen in einer Stammesreihe. Die im Jura auf-
tretenden Holocephalen haben sich bis jetzt er-
halten. Die ersten Dipnoer stehen den Amphibien
nahe. Die rezenten Süßwasserfische stammen
von marinen Formen ab. Die Amirideen wandern
im Eozän ins Süßwasser und von den Elasmo-
branchiern tun es die Ichthyotomi.
Hundt, im Felde.
Biologie. Konzeptionsfahigkeit und Ge-
schlechtsbestimmung beim Menschen. Die Emp-
fängnisfähigkeit der Frau ist nicht immer gleich
groß. Das ist eine altbekannte Tatsache. Unserem
Wissen hierüber hat aber bisher jede exakte
Grundlage gefehlt; war es doch in Friedenszeiten
kaum möglich, die zur Klärung der Frage un-
erläßliche Feststellungen zu machen über das
zeilliche Verhältnis der befruchtenden Koha-
bitation zur letzten Menstruation. Bei der dau-
ernden Kohabitationsmöglichkeit war die Frau
meist nicht imstande, anzugeben, welche Koha-
bitation zur Befruchtung geführt hat.
Der Krieg gibt in manchen Fällen die Mög-
lichkeit solcher Feststellungen. Insbesondere bei
kurzen Beurlaubungen verheirateter Männer kann
man das Datum des befruchtenden Beischlafs mit
einiger Genauigkeit nachträglich bestimmen, also
auch das Zeitverhältnis von Kohabitation und
Menstruation.
Der Assistent an der Universitäts-Frauenklinik
in Freiburg, Dr. P. W. Siegel, hat die Gelegen-
heit benützt und hat aus den Angaben von 220
schwangeren Kriegerfrauen eine Kurve aufgestellt,
welche die prozentuale Häufigkeit befruchtender
Kohabitationen an den einzelnen Tagen des Men-
struations-Cyclus versinnbildlicht (Deutsche Med.
Wochenschr. 191 5, Nr. 42, und Münchner Med.
Wochenschr. 1916, Nr. 21). Diesen Cyclus teilt
Siegel ein in vier „menstruelle Phasen", nämlich
i) die Menstruation (Tag 1—4)
2) das Postmenstruum (Tag 4—9)
3) das Intermenstruum (Tag 9 — 22)
4) das Prämenstruum (Tag 22 — 28).
Die „Kohabitationskurve" zeigt nun folgendes :
Die Empfängnisfähigkeit der Frau ist unmittelbar
nach der Menstruation sehr groß und erreicht am
sechsten Tag nach Menstruaiionsbeginn (im Post-
menstruum) ihren Höhepunkt. Vom 12. Tag ab
läßt sie rasch nach, und vom 22. — 28. Tag (im
Prämenstruum) besteht eine fast absolute Sterilität.
Wenn auch das von Siegel verwertete Ma-
terial für sichere Folgerungen noch zu gering ist,
wenn auch ferner die angewandte Methode noch
nicht allen Forderungen einer exakten Statistik
gerecht werden dürfte — so sind die bisherigen
Befunde doch zu deutlich, als daß man sie von
der Hand weisen könnte.
Zur Erklärung seiner Beobachtungen führt der
Verfasser zwei Möglichkeiten an. Einmal kann
durch die physiologische Schwellung der Schleim-
häute des Uterus und der Tuben vor der Men-
struation den Spermien auf ihrer Wanderung der
Weg versperrt werden. Je näher also der Men-
struationsbeginn bevorsteht, um so geringer wird
die Möglichkeit einer Konzeption. Etwas mehr
befriedigt der zweite Erklärungsversuch Bekanntlich
fällt die Lösung des Eies aus dem Ovarium, die Ovu-
lation, zeitlich nicht mit der Men.struation zusammen,
sondern der „Follikelsprung" erfolgt schon früher,
etwa zwischen dem 7. und 14. Tag nach Beginn
N. F. XVI. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
671
der vorhergegangenen Menstruation (Schroeder,
Asch off, Marcotty). Zieht man nun in Be-
tracht, daß die Zeit größter Belruchtungsmöglich-
keit zwischen dem 6. und dem 12. Tage hegt,
daß außerdem — nach Graf Spee — • die Sper-
mien 24—36 Stunden brauchen, um den Weg
durch Uterus und Tube zurückzulegen, so ergibt
sich ein merkwürdiges Zusammentreffen der mut-
maßlichen Zeit des Follikelsprungs mit der op-
timalen Befruchtungszeit. Mehr als diese etwas
vage Feststellung liegt allerdings über diesen Punkt
nicht vor.
Siegel hat auch den Versuch gemacht, eine
weitere Frage von höchster Bedeutung ihrer Lösung
näher zu bringen: die Frage nach der Geschlechts-
besiimmung beim Menschen. Hierzu wurden die
Tage I — 22 in drei Abschnitte geteilt, Tag i — 9,
Tag 10—14 und Tag 15 — 22; die Tage 23 — 28
konnten als ,sterir ignoriert werden. Es ergab
sich nun die aulfallende Beobachtung, daß aus
den Kohabitationen zwischen dem i. und 9. Tage
37 Knaben und nur 7 Mädchen entstanden, aus
denjenigen zwischen dem 10. und 14. Tage 4
Knaben und 3 Mädchen und aus denjenigen
zwischen dem 15. und 22. Tage nur 3 Knaben,
dagegen 20 Mädchen. In den ersten Tagen nach
der Menstruation entstehen also vorwiegend Knaben,
dieses Übergewicht verliert sich aber allmählich,
und in den letzten Tagen vor Beginn der nächsten
Menstruation hat sich das Verhältnis zugunsten
der Mädchen verschoben. Diese Angaben ent-
stammen allerdings einem Material von nur 100
Fällen, und der Verfasser orientiert uns nicht mit
der wünschenswerten Klarheit über die Prinzipien,
nach welchen er diese Fälle aus den für die Kon-
zeplionsfrage verwandten ausgesucht hat. Seine
kurze Angabe hierüber heißt nur: „In diese Ein-
teilung hinein habe ich nun diejenigen Fälle ru-
briziert, bei denen natürlich nur wieder bei mit
dem Krieg in Verbindung stehenden F"rauen die
mögliche Kohabitation in diese Zeit fiel." Sind
denn die logischen Voraussetzungen für die Frage
nach der Geschlechtsbestimmung andere als lür
die nach der Konzeptionswahrscheinlichkeit? Muß
nicht bei beiden in gleicher Weise gefordert werden,
daß der ungefähre Kohabitationstermin einwand-
frei feststeht? Diese, wie auch einige andere
Unklarheiten, mögen vielleicht in der allzu großen
Kürze der Darstellung ihre Ursache haben.
Siegel bringt auch diese Befunde in Bezieh-
ung zum mutmaßlichen Termin des Follikel-
sprunges. Er betont die Deutlichkeit, mit welcher
„tatsächlich direkt nach dem Follikelsprung aus
da staltfindenden Kohabitationen Mädchen ent
stehen, und daß vor ihm Knaben erzielt werden"
Diese Deutlichkeit ist nun zwar keine so unbe
dingte, denn es entstehen ja auch an , Knaben
tagen' Mädchen und an , Mädchentagen' Knaben
Es steht aber doch außer Zweifel, daß der je
weilige Reifezustand des Eies oder das Reifever
hältnis zwischen Ei und Sperma einen Einfluß
auf die Geschlechtsbildung ausübt. Der Verfasser
zieht die Parallele zwischen seinen Feststellungen
und den bekannten Versuchen von Richard
Hertwig und dessen Schüler Kuschakewitsch.
Diese haben an Fröschen, deren normales Ge-
schlechtsverhältnis im Kontrollversuch 53$:58(J
betrug, folgendes festgestellt: Aus Eiern, welche
erst bei einer Überreile von 89 Stunden künstlich
befruchtet wurden, entwickelten sich ausschließlich
299 Männchen und ein bilateraler Hermaphrodit,
und ein zweiter Versuch ergab bei einem Normal-
verhältnis von 185 $: 164 ^ und einer Überreife
von 94 Stunden ausschließlich 271 Männchen.
Hier lag also die Ursache der Männchenbildung
zweifellos in der Überreife der Eier. Und wenn
es wirklich berechtigt ist, für den Follikelsprung
bei der P>au die Zeit vom 11. bis 15. Tag nach
Menstruationsbeginn anzunehmen, so besteht eine
auffallende Übereinstimmung mit den Froschver-
suchen. Denn die ,jungen' Eier sind dann vor-
wiegend mädchenbestimmend, die , alten', über-
reifen dagegen knabenbestimmend.') Krieg.
') In einem weiteren Aufsatz (Zentralblatt für Gynäkologie
vom 21. Oktober 1916) macht Siegel den Versuch, den
Knabenüberschuß im Kriege zu erklären.
Bticherbesprechungen.
Verworn, Max, Biologische Richtlinien
der staatlichen Organisation. Natur-
wissenschaftliche Anregungen für die
politische Neuorientierung Deutsch-
lands. Jena 1917. i M.
Der Verfasser knüpft in diesem Vortrage an
den oft benutzten Vergleich zwischen dem Zellen-
staat des lebenden Organismus und der im Staat
verkörperten Gemeinschaft von Menschen an, um
aktuelle politische Folgerungen zu ziehen. Die
Harmonie der Teile im Organismus läßt er
warnend gegen den Imperalismus auftreten (wo-
bei es sich allerdings gar nicht mehr um ein
staatliches Problem, sondern um ein zwischen-
staatliches handelt), die feine Entwicklung der
Individualität der Zellen mit Rücksicht auf das
Ganze soll das vorbildliche Beispiel für die wahre in-
dividuelle Freiheit im Staate abgeben usw. Dabei
wird freilich hie und da die Berührung mit bio-
logischen Problemen ganz gelockert, und der Verf.
spricht sich auch manches vom Herzen herunter,
was mit Biologie nichts mehr zu tun hat. Soweit
nun solche Auseinandersetzungen nur biologisch
illustrierte Politik wären, den Versuch darstellten,
politische Probleme gewissermaßen in biologischer
Denk- und Sprechweise zu behandeln, würde man
sie gerne auf sich wirken lassen, zumal Verworn
immer Anregendes zu sagen weiß. Aber der Autor
ist anspruchsvoller als Menenius Agrippa: die
Biologie soll die Lehrmeisterin der Politik sein,
biologische Gesetze sollen auch für das staatliche
Leben Gültigkeit haben und dürfen nicht ungestraft
672
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 4;
verletzt werden. Das kann aber, wie ich meine,
im Ernst nicht behauptet werden. Staaten sind
immer Abstracta, Lebewesen dagegen Concreta; die
staatliche Gemeinschaft wird aus vielen Individuen
gebildet, die physiologisch vollkommen unabhängig
voneinander sind, das Lebewesen ist dagegen ein
unteilbares, einheitliches Ganzes, das zwar, ana-
tomisch betrachtet, eine merkwürdige innere
Gliederung zeigt, aber physiologisch ein Individuum
ist und bleibt. Eine physiologisch selbständige
Existenz gibt es für die Zellen nicht. Deshalb ist
auch die Vorstellung von dem Organismus als
einer staatenartigen Aggregation von Elementar-
wesen niederer Ordnung höchstens ein Bild, das
die anatomische Beschaffenheit des Körpers ver-
anschaulichen kann, das aber sofort versagt, sobald
es sich um die Deutung irgendeines physiologischen
Prozesses handelt. De Bary hatie ganz recht,
als er seinerzeit sagte, nicht die Zellen bauen
den Organismus, sondern der^jOrganismus baue
sich die Zellen. Ganz abgesehen von diesen Ein-
wänden, würde ich es auch überhaupt für frucht-
los halten, wenn wir biologische Betrachtungen
und Ergebnisse auf Dinge übergreifen ließen, mit
denen sie, wenigstens grundsätzlich, nichts ver-
bindet. Biologie ist gut und Politik ist gut, aber
die Kombination von beiden muß deswegen nicht
auch gut sein. Miehe.
Fitting-Jost-Schenck-Karsten, Lehrbuch der
Botanik für Hochschulen. 13. umge-
arbeitete Auflage. Mit 845 z. T. farbigen Ab-
bildungen. Jena 1917. G. Fischer, n M.
Wie ein Regenbogen auf der veränderlichen
Wolke hat der „St ras bürg er" den Wechsel
der Zeiten und der Autoren, von denen nur noch
Schenck zu den Begründern des Buches gehört,
überdauert und seine alte Anziehungskraft bewahrt.
Von Auflage zu Auflage haben die Herausgeber
an dem Buche weiter gefeilt, es bereichert, umge-
staltet, vieles Neue an Tatsachen und Anschauungen
mit der Zeil hineingetragen, manches Alte, ehemals
liebevoll gehegte erbarmungslos hinausgetan. Auch
die vorliegende Auflage, bereits die 13., weist
überall die Spuren der Tätigkeit der Herausgeber
auf, insbesondere ist auch wieder die Zahl der
Abbildungen vermehrt worden. Die Reichhaltig-
keit des Buches ist geradezu erstaunlich und, wenn
sie auch für den Anfänger ein etwas verwirrendes
Moment in sich birgt, so ist sie doch andererseits
für den, der sich tiefer in die Botanik versenkt,
immer wieder ein Reiz, indem er sich unmittel-
barer, als das vielleicht in anderen Lehrbüchern
der Fall ist, mit dem Fortschreiten der Wissen-
schaft verknüpft fühlt. Dazu tragen auch die
Literaturzitate am Schlüsse bei. In bezug auf diese
letzteren möchte ich übrigens (ohne die großen
Schwierigkeiten zu verkennen), bemerken, daß sie
mir hier und da etwas gar zu willkürlich aus-
gewählt erscheinen. Es kann z. B. vorkommen,
daß im Text vorn eine gewisse Materie in engem
Anschluß an die Untersuchungen eines Autors dar-
gestellt, im Literaturverzeichnis aber nicht dieser,
sondern ein anderer genannt wird. — Eine Emp-
fehlung dieses Buches, das zu den erfolgreichsten
Lehrbüchern für Hochschulen gehört, erübrigt sich,
es genüge, darauf aufmerksam zu machen, daß
wieder eine neue Auflage erschienen ist. Miehe.
Arzneipflanzen Merkblätter desKaiserlichenGe-
sundheitsamts. Berlin 1917. J.Springer. i,8oM.
Das früher ganz allgemein in Deutschland
übliche Sammeln von Kräutern war vor dem Kriege
stark zurückgegangen, so daß ein erheblicher Teil
aus dem Auslande bezogen wurde. Die veränderten
Verhältnisse machen es aber wünschenswert, zu
der alten Gewohnheit zurückzukehren. Zur P'örde-
rung dieser Bestrebungen hat das Reichsgesund-
heitsamt in Gemeinschaft mit dem Arzneipflanzen-
aus«chuß der Deutschen Pharmazeutischen Gesell-
schaft Berlin-Dahlem eine Reihe von 30 Merk-
blättern herausgegeben, auf denen die in erster
Linie von dem Drogenhandel verlangten Pflanzen
dargestellt und beschrieben sind. Außerdem ent-
halten die Blätter Angaben über das Vorkommen,
die verwendbaien Teile, ihre Einsammlung und
Trocknung. Auf einem besonderen Merkblatte sind
die Winke über Zeit und Art des Sammeins,
Trocknung und Aufbewahrung zusammengestellt.
Diese Blätter sind in dem vorliegenden Bändchen
vereinigt und mit einer Einleitung versehen, in
welcher auch Hinweise auf die zweckmäßigste
Organisation desSanimelns und die Absatzmöglich-
keiten gegeben werden. Die farbigen Abbildungen
sind die bekannten vorzüglichen des Strasburger-
schen Lehrbuchs der Botanik. Miehe.
Druckfehlerberichtigung.
In dem Aufsatz von Dr. Häußler, in Nr. 36 der Naturw.
Wochenschr. soll es auf S. 502, Sp. 2 etwa in der Mitte
heißen: „anorganischer Salze" statt; „organischer".
; O. Herrmann, Ursprung, Verbreitung und Nutzbarmachung der chemisch-industriellen mineralischen Rohstoffe. S. 657.
R. Krause], Die Seefelder bei Reinerz in Schlesien, ein des Schutzes bedürftiges Hochmoor. (3 Abb.) S. Ö59. —
Einzclberichte: Rob ert K offer ath , Kaninchenjagd mit dem Frettclien. S. 664. W.Kranz, Wasserversorgung durch
oflene Gräben, Sickerung, Drainage. S. 665. Arved Schultz, Die nutzbaren Mineralien des Pamir. S. 666. Max
Schmidt, Über den Verschluß von Präparatengläsern. S. 666. Gerlach, Über die Einwirkung von gasförmigem
Ammoniak auf Superphosphate und die Verwendung der gewonnenen Ammoniakphosphate. S. 667. H. Schroeder,
Eocäne Säugetierreste aus Nord- und Mitteldeutschland. S. 668. Max Schlosser, Die zeitliche und räumliche Ver-
breitung und Stammesgeschichte der fossilen Fische. S. 668. Siegel, Konzeptionsfähigkeit und Geschlechtsbestimmung
beim Menschen. S. 670. — Blicherbesprechungen : MaxVerworn, Biologische Richtlinien der staatlichen Organisation.
S. 671. Fitting-Jost-Schenck-Karsten, Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. S. 672. Arzneipflanzen-Merk-
blätter des Kaiserlichen Gesundheitsamts. S. 672. Druckfehlerberichtigung. S. 672.
Manuskripte und Zuschriften
rden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a, d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 2. Dezember 1917.
Nummer 48.
Die Veränderungen der Landoberfläche durch das Wasser.
[Nachdruck verboten. Mit 9 Abbildi
nüvTa qeI, „Alles ist in Fluß", dieser Grund-
satz griechischer Naturphilosophie hat ein für
allemal den Gedanken vom Stillstehen im Leben
der gesamten Natur zu nichte gemacht. Auch in
der Betrachtung der leblos, unbewegt, unverändert
scheinenden Erdoberfläche spielt dieser Grundsatz
eine große Rolle. Hier ist das alles bewegende,
neue Veränderung wirkende Moment das Wasser.
Nicht nur, daß es — vorausgesetzt, daß nicht ganz be-
sondere Ereignisse eintreten — ewig rinnt und den
WegzumMeere nimmt, ist das Wasser auch der Faktor,
der die hauptsächlichsten Veränderungen der Land-
oberfläche vor unseren Augen entstehen läßt. Im
großen wie im kleinen verändert und umgestaltet
es den Grund und Boden, auf dem der Mensch
für seine kurze Erdenfrist sein Dasein aufgeschlagen
hat. Das Bild vom „Strome des Lebens" in seiner
ngen im Text.
wechseln, werden diese deutlich oder undeutlich
sein (Linien AB, CD, Abb. i). Die tieferen Teile
als Sammelbecken der von den Hängen herab-
rinnenden Wasser nennen wir Mulden (GH, IK,
LM der Abb. i). Nähern sich zwei Mulden, so
werden die in ihnen gesammelten Wasser einander
zustreben und als gemeinsame größere Wasserader,
als Fluß, werden sie weiter fließen, bis sie ihr
Ziel, die Küste der aufgetauchten Insel erreicht
haben. Durch solche Vereinigungen mehrerer
Mulden und damit Stromlinien entstehen die
Flußsysteme. Hat die Oberfläche dieser Ur-
insei, wie man sie nennen könnte, insonderheit
auffallende Formen wie Stufen oder rundliche,
kesseiförmig allseitig abgeschlossene Vertiefungen,
so wird entweder das Wasser in dem einem Fall
über diese Stufen abstürzen, also einen VVasser-
Abb. I. Diagramm einer Urobertiäche.
(nach Davis: Erklär. Beschreibung der Landformen. S. 33).
Übertragenen Bedeutung konnte nur ein guter Be-
obachter des ewig fließenden Wassers wählen.
Denken wir uns einmal den Fall, daß aus dem
weiten Ozean eine Insel auftauche, deren Ober-
fläche nicht ganz eben ist, sondern schon den
Unterschied von hoch und niedrig erkennen läßt.
Die Lage über dem Meere wird dieses Stück Erde
sofort den Einflüssen der Witterung aussetzen.
Ohne die Wirkungen der Luft, des Windes, des
wechselnden Klimas zu beachten, sei nur dem Wasser
das Augenmerk geschenkt. Der fallende Regen
wird die Oberfläche der Insel treffen und ent-
sprechend den großen Verschiedenheiten der Ober-
flächenform von den höheren Stellen zu den tiefer
gelegenen rinnen, d. h. die Höhenzüge werden
also die Wasser trennen. Wasserscheiden
haben sich gebildet. Je nach der besonderen
Ausgestaltung der Erhebung, die in ihren Umrissen
Abb. 2. Die Entwicklung der Talgebänf
(nach Davis: Erkl. Beschreibung der Landformen. S. 62).
fall (Q) bilden, oder es wird im zweiten Falle
sich als See in jener Vertiefung sammeln.
An allen diesen Urformen, wie sie von
Natur aus gegeben sein sollen, wird nun die
Arbeit des Wassers einsetzen; so wird als not-
wendige Folge die Arbeit diese einstmals vor-
handenen Urformen verändern, sie zu Folge-
formen machen. Hier beginnt nun unsere
eigentliche Betrachtung, die der Arbeit der
Flüsse und der Entstehung der Folgeformen
gelten soll:
Das [aus den Wolken im Regen fallende] Wasser
muß notwendigerweise den Untergrund beein-
flussen. Je nachdem dieser entsprechend seiner
geologischen Beschaffenheit hart oder weich ist,
wird diese Arbeit schwerer oder leichter auszuüben
sein (vgl. hierzu Abb. 2). Es werden jedenfalls
Vertiefungen im Erdboden entstehen. Jeder
Regenguß läßt an aufgeschütteten Halden, Schutt-
674
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 48
häufen, Straßenrändern solche „Regenrinnen"
entstehen und beobachten. Sie sind aufs Große
übertragen der Anfang jedes Tales. Das
prüfende Auge erkennt hier schon Unterschiede
der Wasserführung, der Richtung und der Größe
von Haupt- und Nebental (vgl. Abb. 2). Der
Fluß „erodiert", von lat. erodere = abnagen, weg-
fressen; der Vorgang selbst ist die Erosion, d. h.
die linienhaft wirkende Tiefenarbeit des Wassers. Die
hier geleistete Arbeit ist vergleichbar der einer
„Säge"; ebenso wie diese wirkt sie von oben nach
unten, also in vertikaler Richtung. Der in der
Landoberfläche zunächst geschaffene Einschnitt
muß also eigentlich senkrechte Wände
zeigen und durch die fortschreitende Arbeit des
Flusses immer tiefer werden. Nun kann aber die
Durchfeuchtung der Talwände durch das Grund-
wasser einerseits, durch das nun auch auf die neuen
bloßgelegten Flächen wirkende Regenwasser und
den Fluß selbst andererseits, nicht ohne Einfluß
auf diese bleiben. Es tritt somit ein langsamer
Ausgleich der Formen ein. Die Hänge werden
abgespült und dadurch flacher. Das Profil des
Flusses wird die bekannte Form eines V an-
nehmen. Da die gesamte Arbeit noch nicht lange
von dem Flusse ausgeübt wird, können wir die
hier geschaffenen Formen als „jugendliche"
bezeichnen. Die Tiefenarbeit herrscht vor, die
Bearbeitung der seitlichen Wände ist noch Neben-
sache (A in Abb. 2). Der Fluß wird weiter sein
Bett vertiefen, zugleich aber wird die Arbeit an
den Talwänden Schritt zu halten versuchen. Diese
Talwände werden flacher, ohne eine regelmäßige
Form anzunehmen; Unebenheiten, Felsvorsprünge,
werden noch das Landschaftsbild beherrschen.
Die Talformen sind in ihrem Alter schon etwas
vorwärts gekommen (2). Die Verwitterung
durch Luft, Wind und Wasser beeinflußt auch
diese Felsnasen; der sich bildende Verwiite-
rungsschutt wird den Abhang abwärts rut-
schen und Schutthalden an den Hängen bilden,
die den Fels wieder verhüllen und das Profil
des Tales ausgleichen (B und C in Abb. 2). Der
Fluß hat inzwischen Zeit gehabt, Unebenheiten
in seinem Bett, die zu Wasserfällen, Strudeln
und Richtungsveränderungen Anlaß geben, durch
kräftige Arbeit zu beseitigen. Sein Lauf, der vor-
her, in der Zeit der „Jugend", unruhig, ungestüm,
stolpernd war, wird allmählich ruhiger, ausge-
glichener. Die Arbeit in die Tiefe läßt immer mehr
nach, dafür wird die Veränderung der Gehänge,
also die Wirkung nach der Seile, größer. An
ihnen bewirkt die Abspülung des Regens und die
Verwitterung im aligemeinen eine Erniedrigung
und damit eine noch flachere Form. Der Abstand
der Talwände wird immer größer, das Tal immer
breiter (C und D in Abb. 2). Der Fluß kommt in ein
Stadium, in dem er träger dahinfließt und aus
Mangel an Gefälle seinen Lauf verändert, in dem
er von einer Seite des Tales zur anderen fließt,
ja wohl auch schon dabei wieder das Ufer selbst
bearbeitet (D in Abb. 2). Die Talformen nehmen
mit ihren flachen, von Schutt überzogenen, weit
sich voneinander entfernenden Hängen, dem
breiteren Talboden und dem die Aue querenden
P'luß die Zeichen des vorgerückten Alters, der
Reife, an. In diesem Reifestadium der Tales
sind müde Windungen ^Mäander (benannt nach
dem diese Laufform typisch aufweisenden Fluß in
Kleinasien) dem alternden Flusse eigentümlich (E in
Abb. 2). Die Kraft zum Einschneiden erlahmt immer
mehr, die Hänge bearbeitet aber noch immer der
abspülende Regen. Zugleich aber schafft der bald
an diesem, bald an jenem Ufer anprallende, durch
die Aue pendelnde Fluß hier wieder steile F'ormen
durch die Benagung der bis dahin flacher gewor-
denen Gehänge; es entstehen Prallstellen,
deren senkrechte Wände den an ihrem Fuße
nagenden Fluß überragen (D in Abb. 2). Der
Querschnitt ähnelt dann mehr dem eines
Kastens.
In seinen verschiedenen Stadien der Kindheit,
der Jugend, des Alters und der Reife wechselt
also der Querschnitt des Flusses derart, daß zu-
nächst ein schluchtartiges Profil entsteht
(I Abb. 3): wir sprechen dann wohl von einer
Klamm oder einem Kanon. Die Talwände sind
steil, der Talboden äußerst schmal; die Tiefen-
arbeit überwiegt. Allmählich entsteht das steil-
V-förmige Profil (II): die Seitenwände flachen
Abb. 3. Que
sich durch Abspülung der oberen Erddecke ab,
noch stehengebliebene Felsen verwittern, die
Tiefenarbeit läßt nach. Die seitliche Bearbeitung
der Talwände ermöglicht das flach -V-förmige
Profil (111). Bei weiterer Abschrägung der Ge-
hänge und Verlangsamung der Tiefenerosion ent-
stehen breite Talböden (IV) mit teilweise
wieder steilen Wänden (Kastenprofil). Noch
aber hört die Entwicklung nicht auf. Die Steil-
wände werden durch den flächenhaft spülen-
den Regen wieder abgeflacht (V); die Hänge ver-
schwinden allmählich ganz, das ganze Land wird
flacher und immer flacher in der Umgebung des
Flusses, es wird am Ende fast eingeebnet sein (VI).
Damit endet die Entwicklung des Ouerprofils.
Dem Querschnitt in seinen verschiedenen
Stadien und Formen entspricht die Veränderung
des Längsprofils. Es ist dies die Verbindung
des Quellpunktes mit der Mündung. An allen
Stellen arbeitet der Fluß an der Tieferlegung
seiner Sohle. Es muß durch diese Arbeit das ur-
sprüngliche Gefälle immer geringer werden, der
Vorgang der Tiefenarbeit selbst also durch diese
sich allmählich abschwächen; ein Minimalge-
fälle wird erreicht werden, bei dem die Tiefen-
arbeit aufliört, wo die Wasserkraft gerade noch
N. F. XVI. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
675
ausreicht, das Wasser selbst vorwärts zu bewegen.
Der Fluß hat dann sein Gefälle ausgeglichen und
ein Endgefälle erreicht. Dieses kann nie gleich
Null sein, denn horizontal kann kein Fluß fließen;
die Quelle muß stets höher liegen. Entprechend
der geringeren Wassermenge im Oberlauf wird
das Gefälle dort steil sein; die Zunahme der
Wassermenge und die Art dieser Zunahme wird
das Längsprofil derart beeinflussen, daß es in dem
Mittel- und Unterlauf flacher gestaltet ist. Im ganzen
also wird die Verbindung von Quelle zur Mündung
die Gestalt einer Kurve haben, die in ihren Einzel-
heiten wechselt (Abb. 4). Diese Endkurve wird
nun nur dadurch erreicht, daß die nagende, sägende
Tätigkeit des Flusses rückwärts wirkt. Setzt man
ein gleichmäßiges Anfangsgefälle des Flusses voraus,
so wird entsprechend der nach unten hin zu-
nehmenden Wassermenge hier die Erosion am
stärksten einsetzen und sich nach oben hin fort-
setzen. Es ist dies das Grundgesetz der
rückwärtsschreitenden Erosion. Niemals
aber kann dabei eine Flußstelle — von Strudel-
Abb. 4. Längsprofile des Tales.
löchern abgesehen — tiefer eingeschnitten werden
als die nächst abwärts gelegene.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das
Ouerprofil des Flusses bedingt ist durch die
Tiefenarbeit, durch die Seitenarbeit und
durch die Abspülung der Gehänge; die Tiefen-
erosion will die Gehänge steil erhalten, die Seiten-
erosion will sie zurückdrängen, die Abspülung an den
Tal wänden will sie abflachen. Anders das Längs-
profil: Das Wasser arbeitet dauernd an seiner
Vertiefung, es gleicht das Gefälle aus, es bearbeitet
das Längsprofil im Rückwärtsschreiten. Für die
Veränderung beider, des Längs- und des Quer-
profils, bedarf der Fluß einer gewissen lebendigen
Kraft (k); diese wiederum ist bedingt durch die
Wassermenge (m) und die Wasserge-
schwindigkeit (v). Es ist in eine Formel
gefaßt : k = m ■ v. Die Größe der Wasser-
geschwindigkeit wiederum hängt ab von der
Menge des zu Tal fließenden Wassers und vom
Neigungswinkel der Talsohle. An einem Beispiel
erörtert berechnet sich das Gefälle (G) eines
Flusses leicht aus dem Höhenunterschied zweier
Punkte der Laufstrecke und dem linearen Abstand (E)
beider Funkte; somit ist G = -j^ oder in Zahlen
' E
berechnet :
Hl = So m E(ntfernung) Aj — A2 = 4° km
Ho = 60 m „ 20 , , , , f 1
-^ G = — = V" d. h. I m auf 2 km.
H„ = 20 m 40
Aber auch die Wasser menge ist Schwan-
kungen unterworfen. In erster Linie sind das
Klima des Landes und die Niederschläge ihre
Regulatoren. Immer aber wird die überall vor-
handene und zu beobachtende lebendige Kraft
desWassers indreifach verschiedenerWeise
der Arbeit sich äußern. Sie wird einmal
erodieren, d. h. das Flußbett abnützen, ausnagen;
das geschieht sowohl in die Tiefe bei starker
Erosion, nach der Seite bei schwächerer Erosion.
Auf jeden Fall wird aus dem schmalen Flußbett
das Tal. Dieselbe lebendige Kraft des Wassers
wird sich aber auch äußern im Transportiere n.
Die vom Wasser am Talboden und an den Tal-
wänden gelösten Geröll- und Sandmassen werden
fortgetragen, bis die Kraft des Flusses erlahmt.
Dann wird eine dritte Arbeit geleistet, d. i. das
x\b lagern. Da, wo die Wasserkraft zu schwach
wird, um das bis dahin mitgeschleppte Material
weiterzutragen, bleibt es liegen. Alle drei Arbeiten
stehen natürlich in inneren Zusammenhängen mit-
einander. Zumeist wirken sie alle drei gleich,
nur überwiegt immer die eine an der betreffenden
Stelle. Es wird die Arbeit der Erosion und des
Transports vorwiegend im Ober- und Mittellauf
vom Fluß geleistet werden, während im Unter-
laufe die Ablagerung vorwiegt.
Die einfachen Erwägungen über den Lauf eines
Flusses und seine Talformen, den bedingten Wechsel
des Quer- und Längsschnittes und der vom Wasser
geleisteten Arbeit ergeben den Schluß, daß hier
dauernde Veränderungen vor sich gehen. Sie
mögen dem Auge des Menschen — wenigstens in
ihren Endmaßen — verborgen bleiben, aber sie
beeinflussen im ewigen Fortbestehen die Oberfläche
und geben ihr stündlich ein wechselndes Aussehen.
Da nun diese Veränderungen jedes Tal betreff'en,
also auch 2 benachbarte, nur durch einen Höhen-
rücken getrennte Täler, so muß dadurch unmittel-
bar eine Veränderung der gesamten Um-
gebung der Tallandschaften eintreten.
Haben zwei Flüsse in ihren Anfangsstadien in
einiger Entfernung von einander sich in eine Hoch-
fläche eingeschnitten (vgl. Abb. 5, 6 und 7), so
bleiben zunächst ausgedehnte Stücke unbeeinflußt
durch die in den Tälern sich abspielende Arbeit
stehen. DieRänderdieser „Riedel", d.h. der stehen-
gebliebenen ebenen Teile der Hochfläche, werden
scharfkantig sich absetzen gegen die Klammwände
(Abb. 5). Ganz allmählich werden diese Riedel-
flächen abgeböscht zu den Tälern hin. Es ent-
stehen allmählich „Rücken", die, mit den Tal-
wänden verwachsen, sich trennend zwischen die
beiden Täler einfügen. Nur da, wo zwei Täler
nahe beieinander sind, oder wo dem Gestein ent-
sprechend die Flüsse rasch einschneiden können,
entstehen steilere Formen zwischen den Tälern;
ein Grat als Kammlinie wird gebildet werden,
von dem steil die Talwände nach beiden Seiten
zum Fluß führen (Abb. 5a u. 5b). Schutthalden ohne
Vegetationsdecke zeigen oft dieses infolge rasch
wirkenden Regens geschaffene Bild. Die Trocken-
gebiete des westlichen Nordamerika weisen in weiter
676
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Ausdehnung solche, von Schluchten und tiefen
Taleinschniiten durchzogene Landschaften auf, deren
Queren unmöglich ist. „Schlechtes Land" =
Bad land nennt sie der Amerikaner. Unser gleich-
mäßig zwischen Feuchtigkeit und Trockenheit
wechselndes Klima gestattet fast überall das Ent-
stehen einer die Erdoberfläche schützenden Vege-
tationsdecke und verhindert damit das Entstehen
solcher Gratlandschaften. Aber auch die Gratformen
bleiben nicht ewig bestehen, sie werden zu
Rückenlandschaften mit flachgewellter Ober-
fläche. Die Veränderung geht weiter; sie ebnet
Der vorher in diesem Tale fließende Fluß verliert
sein Haupt, denn dieses muß nun dem neuen
Flusse folgen und das alte Tal wird entweder
ohne Wasser sein oder nur an Spuren von Wasser-
resten und dem Geröll den ehemaligen Wasser-
lauf erkennen lassen können.
An den Quellflüssen der Donau bei Tuttlingen
ist diese Anzapfung durch die zum Rhein fließende
Wutach heule noch deutlich erkennbar. Donau
und Aitrach fließen hier in 700 m Höhe in
breiten Tälern nach Osten; im Süden liegt, nicht
weit entfernt und nur 300 m hoch, der kräftig
(Zwischenstufe) llllllllllll llflllllWiiWM n:rT.^^^^^TT7rrmmwffTTTnT>^ genindete Rücken
(Alter)
^T^tT iMliiiiiiiillIiHllliiiilifW
Abb. 5. Veränderung der LandoberflUche (nach Pen
a) bei geringer Taltiefe. b) bei großer Taltiefe
ck).
Abb. 6. Regenrinnen auf ge-
neigtem Boden (Riedelformen).
das Land zwischen den beiden Tälern ein. Es
entsteht die fast ebene Landschaft, die „Fast-
ebene" oder „Peneplain", auch Rumpfland-
schaft genannt; denn das Land erscheint nun-
mehr als ein Rumpf, dem seine hauptsächlichsten
Glieder genommen sind.
Fließen die Flüsse einander parallel und haben
sie gleiche Wasserführung und gleiche Gesteins-
^verhältnisse auf ihrem Laufe, so werden im all-
gemeinen von beiden Seiten her die Wirkungen
dieselben sei. Sie werden wechseln mit veränderten
Verhältnissen des einen der Flüsse. Stärkere
Wasserführung auf der einen Seite wird eine
raschere Arbeit dieses Flusses und damit eine
stärkere Beeinflussung der Talwände und der Hoch-
fläche überhaupt nach sich ziehen; dasselbe gilt
von einem Wechsel im Gestein. So werden die
Folgeformen, die sich allmählich zwischen den
Tälern aus der ursprünglich angenommenen ebenen
Hochfläche herausbilden, wechseln in Lage, Höhe,
Form. Fließen zwei Flüsse aufeinander zu, so
wird an ihrer Mündung die beiderseitige Wirkung
sich verdoppeln, also an der Beseitigung der Höhen
mit verschärfter Kraft arbeiten, im Gegensatz zu
den Quellgebieten, wo die wirkenden Kräfte noch
weit voneinander getrennt sind (vgl. Abb. 6 und 7).
Nähert sich einem Flusse, der langsam zu Tal
strömt, ein anderer Fluß mit seinem Ouellgebiet,
so wird dieser den trennenden Rücken zu beseitigen
suchen. Seine Arbeit wird infolge des größeren
Gefälls rückwärts wirkend den Rücken zersägen
und in den Lauf des anderen I^'lusses eingreifen.
Es findet eine Anzapfung statt (Abb. 8 und 9).
^r^TTT
1^
arbeitende Rhein. Ein Nebenfluß des Rheins, die
Wutach hat bei Achdorf und Blumberg in den
Lauf der Aitrach eingegrifi'en und den Fluß ge-
köpft, dessen Oberlauf schon auf 550 m ein-
schnitten ist. Hoch darüber öffnet sich bei Blum-
berg das verlassene Tal, in dessen Boden nur ein
kleiner Bach, der Schleifebach, sich hineinarbeitet,
ein Zwerg im Riesen-
bett. In der ur-
sprünglichen Rich-
tung der Wutach
greift ein anderer
Bach, der Krotten-
bach weiter zurück
und wird wohl der-
einst einmal die
Donau selbst an-
zapfen.
Die Folge dieser
veränderten Laufge-
staltung der Flüsse
ist eine notwendige
VeränderungderGe-
ländeformen. Immer
wird die Endform
die Ebene oder besser gesagt die „Fastebene" sein.
Die Entwicklungsreihe der durch die
Arbeit des fließenden Wassers geschaffenen und
zu schaffenden Formen wird sein : anfangs eine
leichte Durchfurchung durch steile Schluchten
zwischen breiter Riedellandschaft, dann tiefere Zer-
talung mit flacheren Talhängen und Restflächen
dazwischen, dann Ausbildung der Riedel- und
\,^ ->^*a^^W/.
Abb. 7. Zertalte Landschaft mit
stehengebliebenen Restflächen
(Riedel).
N. F. XVI. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
677
und Restflächen zu einem GebirgsreUef, endlich
die Abtragung des letzteren zu einer sanftwelligen
Landschaft.
Der amerikanische Geograph William iVIorris
Davis,') dem wir über diese Gebiete der Mor-
phologie die wichtigsten Arbeiten verdanken,
spricht nach der Entwicklung der Urformen zu
Folge- und Endformen von einem Zyklus, das
wir mit Abi auf wiedergeben wollen. Normal ist
dieser Zyklus, wenn die Veränderungen durch das
Wasser erfolgt; seine volle Ausgestaltung aber ist
nur möglich, wenn vollständige Ruhe im Erdinneren
rufen. Herrschte auf der Erdoberfläche eine ausge-
sprochene, undenklich lange Zeiten währende Ruhe,
so müßten die vollständig entwickelten Fastebenen
häufig auftreten; diese aber gehören zu den
Seltenheiten. Die Bodenbewegungen, von den
kleinsten Ausmaßen kaum merklicher Verände-
rungen bis zu den großen der Brüche und Fal-
tungen sind aber nun in der Natur so häufig, daß
es in den allerseltensten Fällen der Bearbeitung
der Erdoberfläche durch das Wasser zu einer in
einem einzigen Ablauf geschaffenen Fastebene
kommt. Veränderungen der Landoberfläche durch
Abb. 8. Bevorstehende Anzapfung eines Tales
Abb. 9. Vollzogene Anzapfung.
die Erdoberfläche der Wirkung des fließenden
Wassers, also dem Regen und derGehängeabspülung
ausgesetzt sein läßt. Tektonische Bewegungen an
irgendeiner Stelle der Tallandschaft würde natur-
gemäß die einmal begonnene Arbeit unterbrechen;
sie muß dann von neuem aufgenommen werden.
Die Formen werden demgemäß nicht die gewöhn-
liche Entwicklung, wie wir sie oben ableiteten,
nehmen können. Hebung eines Landteils, Ver-
biegung, Aufwölbung oder Bruch im Verlauf der
Arbeit des Wassers an einer Erdstelle werden das
Ende eines „Ablaufs" und seiner Formenreihen inner-
halb der früheren bedeuten. Nur ist dieser „Ablauf"
unvollständig geblieben, er hat nicht als Endform
die völlige Einebnung der Landschaft hervorge-
') W. M. Davis, Die erklärende Beschreibung der Land-
formen. Leipzig, Teubner 19 12. — Davis-Rühl, Grund-
züge der Physiogeographie. Leipzig, Teubner 1911. ■ —
Davis, Practical exercises in physical geography, mit Atlas.
Chicago 1908.
tektonische Bewegungen können ein Tiefland zum
Hochland werden lassen oder umgekehrt, die Lage
zum Meere kann sich ändern und damit erleidet die
Basis, an die jeder Fluß mit seiner Tiefenarbeit sich
anlehnt, eineVerschiebung undVeränderung, die sich
dem weiteren Flußlaufe mitteilen und seine Formen-
bildung beeinflussen muß. Immer werden Ver-
änderungen des Klimas damit verbunden sein.
Knüpften sich unsere Betrachtungen über den
„normalen Zyklus" an ein feuchtes Klima unserer
geographischen Breiten, so werden klimatische
Änderungen einen anderen Verlauf in den Ver-
änderungen der Erdoberfläche bedingen. W. M.
Davis stellt seinem normalen Zyklus der Wasser-
arbeit einen Zyklus der Trockengebiete {= arider
Zyklus), einen Zyklus der vereisten Gebiete
(= glazialer Zyklus) und einen Zyklus der Küsten-
gebiete (= mariner Zyklus) zur Seite. In noch
folgenden kurzen Abrissen sollen auch diese
skizziert werden.
Kleinere Mitteilungen.
über eine merkwürdige Oszillation des Rhein-
spiegels. (Mit 2 Kurven im Text.) Bald nahen
wieder die Tage, wo dichter Nebel den Schiffs-
verkehr auf unseren Strömen und Flüssen behindert
und die Fluten zeitweise ungestört von den
peitschenden Schlägen der Schiffsschrauben und
Räder sich ergießen können. Mit dichtem Nebel
ist meist auch Windstille verknüpft, es entfällt
also gleichfalls die Störung, welche der Winddruck
der ungebändigten Entfaltung der Stromtätigkeit
entgegensetzt. —
An solchen Tagen kann ein nachdenklicher
Spaziergänger auf den Leinpfaden an unserem
Strome eine Wellenbewegung des Wasserspiegels
studieren, die es verdient, näher untersucht zu
werden.
Da, wo eine der zur Korrektion des Strom-
laufes eingebauten Buhnen mit ihrem Rücken unter
dem Stromspiegel versinkt, bemerkt man ein
Steigen und Fallen des Wasserstandes, das sich
in einer verstärkten oder verminderten Wellen-
bildung äußert. Am verständlichsten werde ich
678
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 48
sein, wenn ich den konkreten Fall beschreibe, an
dem ich das Phänomen zuerst erkannte. Meine
Beobachtungen begannen im Räume, der durch die
Kilometersteine 140,5 bis 143 auf dem linken Ufer
des Rheins bei Mehlem, dem Siebengebirge gegen-
über, bezeichnet ist. Dort sind eine ganze Reihe
von Buhnen (Kribben, wie man am Rheine sagt) ein-
gebaut, deren Rücken sich mit ganz flachem Ab-
falle ins Strombett senken. Bei einem Kölner
Pegelstande von 2,75 bis 3,00 m tauchen diese
Rücken mehr oder weniger weit aus dem Wasser
hervor und stauen dieses an, so daß sich ein
Unterschied des Wasserstandes ober- und unter-
halb erkennen läßt. Der dadurch bedingte kleine
Wasserfall — oder die Stromschnelle — erzeugt
eine Reihe von stehenden Wellenkämmen, die
gewöhnlich in 4 — 6 Reihen, parallel zum Buhnen-
rücken, unterhalb desselben sich zeigen.
Von Zeit zu Zeit verschwinden diese Wellen-
kämme vollkommen, und eine ganz glatte Oberfläche
nimmt ihren Platz ein; es herrscht Stauwasser,
der Strom hört nicht allein auf — ja er kehrt
sogar meist seine Richtung um! Diese Ruhe
dauert lO — 20 Sekunden, das Wasser hat seinen
Höchststand erreicht. Nun tritt natürlich ein Fallen
ein, erst langsam — dann schneller und schneller.
Es bildet sich ein kleiner Wellenzug unterhalb
der Buhne, einige Sekunden später ein zweiter,
dann ein dritter usw., man erkennt, das Wasser
fällt schnell. Mit dem Fallen wächst der Druck
des Wassers, und bringen die Wellen im Fallen
ein ziemlich großes Geräusch hervor. Nach einer
bis anderthalb weiteren Minuten flauen die Wellen-
berge ab, das Geräusch läßt nach und verschwindet
bald, der Wasserstand steigt wieder und nach
kurzer Zeit ist sein Höchststand, und damit die
ruhige Oberfläche, wieder eingetreten. Dieses
Wechselspiel kann man in seiner Ungestörtheit
so lange verfolgen, bis der Schiffsverkehr wieder
einsetzt. Der große und heftige Wellenschlag
der Rheinschlepper überlagert und stört die ge-
schilderte langsame Wellenbewegung derartig, daß
sie nur sehr schwer erkennbar wird, wobei auch
ihre Periode gänzlich verzerrt erscheinen kann.
Ein aufmerksamer Beobachter, der das Phänomen
einmal erfaßt hat, kann aber auch durch die
Störungen hindurch es verfolgen und sich von
seiner Großartigkeit überzeugen.
Die Dauer einer ganzen Oszillation beträgt
etwa 2 bis 2^ Minute, je nach dem Wasserstande
des Rheines, und damit je nach der Größe der
Wassermasse, die jeweils an der Schwingung be-
teiligt ist.
Am 13. Oktober 1916 beispielsweise fand ich.
mit II Uhr 2 Minuten 10 Sekunden beginnend-
2' 00" — 2' 00" — 2' 05" — 2' 05" — 2' 05" —
2' 05" — 2' 05" als Periode.
Am II. Oktober, bei böigem Winde, maß ich,
um 4 Uhr 59 Min. 30 Sek. beginnend: 2' 10" —
2' 20" — 2' 30" — 2' 10" — 2' 40" (Störung durch
einen vorüberfahrenden Dampfer 1) — 2' OO" —
2' 15" ^ 2' 05" — 2' 20" — 2' 20". Im Mittel
2' 17".
Am 15. Okt. zählte ich für 21 Oszillationen
45 Minuten 30 Sekunden, dies gibt im Mittel
2730
130 Sekunden = 2 Min. 10 Sek. für eine
Periode.
Im Januar 191 7 fand ich 2' 21" als Mittel von
2 Zählungen von 16 und 8 Oszillationen (am 18.
und 23.).
Im Februar, bei großer Kälte und niedrigem
Wasserstande, 2 Min. und 30 Sekunden als Mittel
von 14 Wellen.
Bemerkt sei, daß das vorhin erwähnte Ge-
räusch ein sehr guter Indikator bei diesen Ver-
suchen bildet , wenn man das jeweilige Ein-
treten des Geräusches mit der Uhr verfolgt
und nur die Perioden bis zum x*'^" Geräusche
zählt. Diese Zahl, in die Anzahl der durch die
Uhr festgestellten Sekunden geteilt, gibt die Periode.
Bei großer Kälte ist dieser Modus der einzig
praktikable, weil man während des Zählens am
Ufer hin und hergehen kann, um sich zu er-
wärmen.
Bei höherem und niederem Wasserstande als
obiger Pegelangabe entspricht, also bei Überflutung
oder gänzlichem Trockenliegen der Kribben war
diese .'\rt der Beobachtung nicht mehr durch-
führbar. Ich suchte längere Zeit nach einem Hilfs-
mittel, auch jetzt den Oszillationen des Strom-
spiegels nachzuforschen, bis ich es in einem, auf
den Grund geratenen, mit Wasser fast gefüllten
Kahne fand.
Ich nahm, ähnlich wie es Dr. Forel bei seinen
klassischen Untersuchungen der Schwankungen
des Genfer Sees tat, ein an beiden Enden etwas
verengtes Glasrohr von 5 mm lichter Weite und
40 cm Länge, dem an jedem Ende ein etwa
60 cm langer Gummischlauch übergestülpt war.
Dieses Rohr wurde durch Untertauchen im
Strome mit Wasser gefüllt, das eine Ende mit den
Fingern zugekniffen, und über den Bord in das
Wasser des Kahnes gesteckt und dann freigegeben,
während das andere Ende im Rheine lag. Bald
waren die Wasserspiegel im Kahne und im Flusse
ins Gleichgewicht gekommen. Mittels meines
Spazierstockes wurde die horizontale Lage des
Glasrohres auf dem Borde des Kahnes gesichtert
und es konnte beobachtet werden. — Steigt das
Wasser im Rhein, so drängen die Trübungen, die
ja im Wasser des Stromes nie fehlen, in dem
Rohre nach der Kahnseite, fällt das Wasser, so
drängen sie nach außen. Ein untergelegtes Blatt
Papier erleichtert das Erkennen des Trübes. Die
Umkehr der Bewegung wird stets durch einen
kurzen Stillstand charakterisiert, der ein scharfes
Kennzeichen für das Zählen abgibt. So fand ich
die Periode für eine Oszillation einmal 2 Min.
19 Sek., ein ander Mal 2 Min. 12 Sek. und auch
2 Min. 17 Sek. Ein ganz einfaches Hilfsmittel zur
Beobachtung der Oszillation bei Hochwasser fand
N. F. XVI. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
679
ich jüngst in einem einfachen Schwimmer, einem
Kork beispielsweise, der an einem längeren Faden
etwa 8 — 10 m vom Ufer entfernt und wenigstens
20 m oberhalb einer überfluteten Buhne vor Anker
liegend an der Oberfläche des Stromes frei sich
bewegen konnte.
Während er bei fallendem Oszillationsstrome
sich in dessen Richtung, unter deutlich erkenn-
baren Zuge, einstellte, kehrte er mit dem ein-
tretenden Stauwasser seine Schwimmrichtung um
— er trieb ohne jeden Zug.
Diese Umkehre geben ein recht scharfes Merk-
mal zur Beobachtung der Zeit.
iVlit diesen Feststellungen war der erste Wissens-
durst gestillt und wandte ich mich zur ver-
gleichenden Betrachtung des Verhaltens des Wasser-
spiegels an den weiter oberhalb und unterhalb
gelegenen Buhnen. Dies war ein schwierigeres
Unternehmen, denn wenn ich auch von einem er-
höhten Punkte bei klarem Wetter mit meinpm
Feldglase leicht 2 — 3 Buhnen jeweils ober- und
unterhalb übersehen konnte, so versagte doch
dies Hilfsmittel bei nebeligem Wetter gänzlich. —
Ufer sich stets in der entgegengesetzten
Oszillationsphase befinden.
Wir hätten damit ein Oszillieren des Wassers
um eine in der Längsrichtung des Stromes liegende
Achse, wobei infolge der talwärts gerichteten
Bewegung des Gesamtstromes eine scheinbar
schlangenförmige Bewegung resultiert.
Zur Messung des Voranschreitens der Oszillation
wäre die Verteilung einer Reihe von Beobachtern auf
beiden Ufern nötig, die mit genau verglichenen Uhren
das zeitliche Auftreten der Maxima verfolgten.
Auf diese Weise wäre die qualitative Seite der
Erscheinnng behandelt, es erübrigt sich dann noch,
die quantitative zu untersuchen und zu erforschen,
welches Wasserquantum bei jeder Oszillation hin-
und hergeworfen wird.
Mit Leichtigkeit wäre dies mittels einer Reihe
von selbst schreibenden Mikropegeln festzustellen,
deren Aufzeichnungen die Amplitude jeder Welle
herzuleiten gestatten. Aus diesen Daten und der
Kenntnis der Orographie des Flußbettes wäre die
Berechnung des Phänomens anzustellen und seine
Erklärung gegeben. —
Pfeile geben die Richtung des Oszillationsstromes
Beobachtungsbuhne B im Hochst.ind O ist.
Ich muß mich darauf beschränken, mitzuteilen, daß
dies Fallen und Steigen nicht einheitlich auf einer
Flußseite statthat : Während die Beobachtungsbuhne
Hochstand hat, ist die talwärts gelegene bereits
im Abschwellen und die bergwärts liegende im
zunehmenden Wasserstande. Es hat somit den
Anschein, als wenn die Oszillationswelle gegen
die Stromrichtung liefe.
Auch habe ich versucht, inittels des Feld-
stechers festzustellen, wie zur selben Zeit auf dem
rechten Rheinufer die Periode sich äußerte. Das
Auftreten und das Verschwinden der Wellenkämme
unterhalb der Buhnen bot ja ein — trotz der Breite
des Stromes (hierselbet bis zu 500 Meter) — er-
kennbares Signal. Leider sind die Umstände nicht
günstig; während auf dem linken Ufer die Buhnen
bis zu 40 m in den Strom ragen; reichen sie
auf der rechten Seite bis zu 125 m weit hinein.
Hierdurch und durch die größeren Sandbänke, die
sich zwischen den langen rechtsseitigen Buhnen ab-
gelagert haben, werden die Beobachtungen mit
dem Fernrohre erschwert, weil die zu übersehenden
Flächen zu große sind.
Wenn aber nicht alles trügt, glaube
ich heute schon aussprechen zu können,
daß die einander gegenüberliegenden
Ob diese beschriebene Oszillation eine allge-
mein verbreitete Erscheinung, der alle Flüsse unter-
worfen, oder ob sie nur lokaler Natur, kann alleinig
durch Beobachten an recht vielen Stellen am Rhein
sowohl als allen anderen Flüssen entschieden werden.
-^ = Strompfei
Abb. 2.
Denkt man sich die schlangenförmige Figur in Richtung
des >• fortbewegt, so erhält man ein Bild der Zu-
stände der Phasen auf den beiden Ufern.
Der Zweck dieser Zeilen ist, zur Mitarbeit
aufzufordern. Der Verfasser ist gern bereit, bei
ihm eingehendes Material zu sammeln, zu sichten
und es zu verarbeiten.
Die Beobachtungsmethode ist in vorstehendem
gegeben. Natürlich müßte genau die Stelle jeden
Flusses durch die Beobachter benannt werden,
unter Beifügung einer Skizze, aus der die Umstände,
insbesondere der Lauf nach der Himmelsrichtung,
die Breite und Tiefe und die Wassergeschwindigkeit
ersichtlich sind, auch störende Momente wie Inseln,
Sandbänke, Brückenpfeiler usw.
Albert Hofmann (Mehlem).
68o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Bticherbesprechungen.
Schroeder, Prof. Dr. H., Die Hypothesen
über die chemischen Vorgänge bei
der Kohlensäure-Assimilation. Jena
191 7. G. Fischer. — 4,50 M.
Bekanntlich ist der Weg, auf dem die Pflanze
das aus der Luft aufgenommene Kohlendioxyd in
Kohlehydrat überführt, bis heute noch ein Geheim-
nis, da entscheidende Beobachtungen über die im
Chemismus der assimilierenden Zellen verlaufenden
Vorgänge nicht vorliegen. Gleichwohl sind von
Pflanzenphysiologen, wie namentlich auch von
Chemikern eine ganze Reihe von mehr oder minder
ausgebauten Hypothesen aufgestellt worden, die
eine Vorstellung von dem mutmaßlichen Verlauf
der aus Reduktion und nachfolgender Synthese
bestehenden chemischen Vorgänge anbahnen sollten.
Die Literatur über diesen allgemein wichtigen
Gegenstand ist außerordentlich umfangreich und
zerstreut. Es ist infolgedessen sehr dankenswert,
daß der Pflanzenphysiologe Schroeder es unter-
nommen hat, die Literatur zu sammeln, sie kritisch
zu sichten und zu einer zusammenfassenden Dar-
stellung zu verarbeiten. Diese ist ganz objektiv
gehalten; angesichts der fehlenden experimentellen
Unterlagen hat der Autor darauf verzichtet, selber
die große Zahl der Hypothesen um eine eigene
zu vermehren. Wohl aber legt er überall den
Maßstab seines Urteils an und gibt, indem er auf
Grund der gewonnenen kritischenUbersicht versucht,
die Fragestellungen schärfer zu fassen, wertvolle
Ausblicke und Anregungen für zukünftige Forscher-
arbeit. Ein Fortschritt ist nach der Überzeugung
des Verfassers nur möglich durch eine viel engere
Fühlung zwischen der rein chemischen Unter-
suchung und dem physiologischen Experiment,
das in vollem Umfange der Gesamtheit aller der
verwickelten Bedingungen Rechnung trägt, die in
der lebenden assimilierenden Zelle gegeben sind.
Bei der zentralen Bedeutung des Assimilations-
problems darf die mühsame Arbeit Schroeder's
der Beachtung sicher sein, sie klärt den Chemiker
über das äußerst unübersichtliche Gelände auf, in
das er sich meist allzu unbekümmert vorwagt,
und unterrichtet in bequemer Weise den Pflanzen-
physiologen über die zerstreute und wertvolle
Vorarbeit, die bisher von den Chemikern geleistet
ist. Miehe.
Einstein, A., Über die spezielle und die
allgemeine Relativitätstheorie. Mit
3 Figuren. Braunschweig 191 7. Fr. Vieweg.
2,80 M.
Wir sind dem Verfasser zu besonderem Danke
verpflichtet, daß er sich selber der Mühe unter-
zogen hat, die von ihm aufgestellte fruchtbare und
in ihren Wirkungen weitreichende Theorie gemein-
verständlich darzustellen. Wenn vielfach behauptet
wird, daß der Forscher, namentlich, wenn er sein
eigenes Gebiet vornimmt, am wenigsten geeignet
sei, die Wissenschaft für einen großen Kreis dar-
zustellen, so trifft dies in diesem Falle nicht zu.
Wer das vorliegende Heft aufmerksam studiert,
wird zum mindesten eine deutliche Vorstellung
von den leitenden Ideen bekommen, die der Rela-
tivitätstheorie zugrunde liegen, wenn er auch
vielleicht, trotz einfacher Fassung des mathema-
tischen Rüstzeuges, die Gedankenkette nicht ganz
lückenlos zu reproduzieren vermag. Miehe.
Sachsze, Prof. Dr. R., Chemische Techno-
logie. Grundlagen, Arbeitsverfahren und Er-
zeugnisse der chemischen Technik. 2. Aufl.
Mit 96 Abbildungen. Berlin und Leipzig 191 7.
B. G. Teubner.
Das kurzgefaßte Buch ist zwar in erster Linie
für Schulen, namentlich für Handels- und Gewerbe-
schulen bestimmt, ist aber auch, wie mir scheint,
ein treff"liches Hilfsmittel für jedermann, sich über
mancherlei Dinge des täglichen Lebens zu unter-
richten sowie einen Einblick in unsere so hoch-
entwickelte chemische Industrie zu gewinnen. Die
außerordentliche Reichhaltigkeit möge aus den
folgenden Kapitelüberschriften ersehen werden:
Leuchtgas-, Erdölindustrie; chemische Industrie
anorganischer Stofte ; Kälteindustrie; Eisen-, Metall-
und Glashüttenwesen; Ton-, Zucker-, Stärke-,
Zellstoff- und Papierindustrie; Holzdestillation;
Fett-, Seifen-, Farbenindustrie; Veredlung der
Webstoffe; Industrie der Explosivstofi'e; Kautschuk-
industrie; Gerberei; Bildervervielfältigung und
Druckverfahren. Über die einfachen Grundlagen
hinausgehende chemische Kenntnisse werden nicht
vorausgesetzt, doch werden vielfach die prak-
tischen Beispiele zur Vertiefung der chemischen
Bildung benutzt. Bei dem bedeutenden Umfange
des Stoffes wird naturgemäß auf technisches Detail
zugunsten der klaren Herausarbeitung der Grund-
lagen verzichtet, das scheint mir aber gerade ein
Vorzug zu sein, der es den Fernerstehenden er-
leichtert, sich rasch über technische und industrielle
Fragen zu belehren. Miehe.
Inhalt I K. Krause, Die Veränderungen der Landoberfläche durch das Wasser. (9 Abb.) S. 673. — Kleinere Mitteilungen:
Albert Hofmann, Über eine merkwürdige Oszillation des Rheinspiegels. (2 Abb.). S. 677. — Bücherbesprechungen:
H. Schroeder, Die Hypothesen über die chemischen Vorgänge bei der Kohlensäure- Assimilation. S. 680. A. Einstein,
Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. S. 6S0. R. Sachsze, Chemische Technologie. S. 680.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 9. Dezember 1917.
Nummer 49.
Ein Alkoholrezept aus
[Nachdruck verboten.] Eine Nachprüfung von
Am 19. Juli d. J. legte Hermann Diels in
der Gesamtsitzung der Königlich Preußischen
Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Ab-
handlung des Bibliothekars an der Kgl. Bibliothek
in Berlin, Prof. Dr. Hermann Degering vor,
die als XXXVI. in den Sitzungsberichten dieser
Akademie (S. 503 — 515) erschienen ist und bald
auch an die Tagespresse weitergegeben wurde,
in der am 18. August zu lesen war:
„Es wird durch Vergleichung zweier mittel-
alterlicher Alkoholrezepte, des längst bekannten
aus einer I landschrift des Hospitals in S. Gimignano
und eines bisher unbekannten aus einer für die
Königliche Bibliothek erworbenen Handschrift aus
dem 12. Jahrhundert aus Weißenau (Augia minor),
die auf einem Schutzblatt unter anderen Ein-
tragungen des 13. Jahrhunderts auch jenes Rezept
enthält, der gemeinsame Ursprung dieser Rezepte
nachgewiesen. Die stark verderbten Worte beider
Fassungen lassen sich paläographisch durch einige
Mittelglieder mit Sicherheit auf einen Archetypus
des 8. Jahrhunderts zurückführen, was mit der
übrigen Tradition dieser Rezepte (Mappae clavi-
cula u. a.) stimmt. Dadurch ist die Herkunft
dieses Alkoholrezeptes aus der Tradition des
Altertums erwiesen."
Nicht ich allein war auf die Einzelheiten des
Nachweises gespannt, doch kam mir persönlich
die Veröffentlichung erst Anfang Oktober zu Händen.
Sie enthält, leicht vergrößert, die Schriftzüge der
Berliner Eintragung in das Manuskript aus dem
Württemberger Prämonstratenserkloster (gegründet
1 145) in Faksimile. Man kann sich also überzeugen,
daß sie tatsächlich aus dem Anfang des 13. Jahr-
hunderts stammen. Leider ist die Niederschrift aus
dem Ospedale di Santa Fina in San Gimignano
im Original noch nicht wieder aufgetaucht. ')
Man muß sich also immer noch mit dem Abdruck
bei Puccinotti vom Jahre 1855 begnügen, wenn
man weitere Quellen nicht kennt, wie das für die
Herren Diels und De gering zutrifft.
Anknüpfend an frühere Versuche des Herrn
Diels, die Kenntnis der Alkoholgewinnung dem
Altertum zuzuweisen, wird also auf Grund einer
Handschrift und eines zufälligen Abdruckes einer
anderen vor 60 Jahren das Wagnis unternommen,
mit fHlfe paläographischer Erwägungen für beide
einen Archetypus des 8. Jahrhunderts glaubhaft
zu machen.
') Ich selbst habe es 1913 versäumt, mich danach bei
meinem Besuch des hochinteressanten etruskischen Felsennestes
mit seinen zahllosen viereckigen Türmen umzuschauen, zweifle
aber nicht daran, daß die Handschrift sich heute noch dort
befindet.
dem 8. Jahrhundert?
Karl Sudhoff, Leipzig.
Dem Herrn Verfasser scheinen selbst Bedenken
über die Ratsamkeit eines solchen Vorgehens auf-
gestiegen zu sein. Ein früher von selten eines
der besten lebenden Kenner der Geschichte der
(^hemie ausgesprochener Zweifel, ob das Sangimi-
gnaneser Rezept wirklich im 12. Jahrhundert ge-
schrieben sei, wird mit auffallender Schärfe zurück-
gewiesen: zu Bedenken gebe „die genaue Be-
schreibung Puccinotti's nicht die geringste
Veranlassung".
Und doch wäre es wohl ratsam gewesen, sich
dessen Veröffentlichung etwas genauer anzusehen.
Zunächst nagelt sich Puccinotti auf das
12. Jahrhundert keineswegs derart fest, wie es
Degering erscheinen läßt. Er .sagt über die
Zeit nur „risalgono alle scritture tra il duodecimo
e decimoterzo secolo", läßt also die Möglichkeit
völlig frei, dife Niederschrift in die erste Hälfte des
13. Jahrhunderts zu verlegen. Man fühlt sich
dazu sogar gedrängt, wenn man die völlig zu-
treffende Aufstellung Degering's: „meist ist die
Schrift des .12. Jahrhunderts so klar und deutlich
in ihren Formen und so sparsam einerseits und
regelmäßig andererseits in der Verwendung von
Kompendien und Abbreviaturen, daß sie selten
besondere Schwierigkeiten für die Entzifferung
bieten", prüfend neben die Worte hält, mit denen
Puccinotti die von ihm benutzte toskanische
Handschrift kennzeichnet: „per le moltissime
abbreviature, ela loro tinta illanguidita rendonsi
spesso assai difficili a 1 egge rsi". Jedenfalls
dürften aber uiJter diesen Umständen Lesefehler
nicht mit Bestimmtheit auszuschließen sein trotz
der dem medizinischen Fachkollegen ausnahms-
weise von philologischer Seite so freigebig zuge-
standenen „reichen Erfahrung und Übung auf
diesem Gebiete". Es kommt hinzu, daß Pucci-
notti doch durch Bekanntgabe von ein paar
Proben nur vorläufig Mitteilung geben
wollte, eine Art Vorgeschmack von dem reichen
Inhalt der von ihm eingesehenen Handschrift, der
zur Vervollständigung bruchstückweise, nach
mangelhafteren Handschriften, von de Renzi
schon veröffentlicliter salernitanischer Texte dienen
könne.
Denn worum handelt es sich denn bei der
Handschrift aus San Gipiignano? In dem wich-^
tigsten Teile, der im -12./13. Jahrhundert nieder-
geschrieben ist, ') um
das Compendium des Magister Salernus
(ca. 1150/60 verfaßt).
■) Der Rest stammt gar aus dem 14. Jahrhundertl
682
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
die Practica des Magister Barthol omaeus
(ca. II 20 verfaßt),
dasViaticum des Konstantin von Afrika
(ca. 1070 hergestellt).
Von der ersten Schrift hatte de Renzi
im 3. Bande seiner „Collectio Salernitana" 1854
nur einen recht unvollständigen Abdruck liefern
können (nach einer verstümmelten Handschrift der
Bibl. Laurenziana zu Florenz), und Puccinotti
zeigt nun an einer kleinen Auswahl von 8 Kapiteln
aus dem 78 Abschnitte zählenden Werkchen, wie
viel interessantes Neues der vollständige Sangimig-
naneser Kodex hinzubringe, darunter auch das in
Frage stehende 31. Kapitel „De aqua ardente",
vom brennenden Wasser.
Ist dieser Sachverhalt denn so völlig neben-
sächlich, daß der Leser der Untersuchung Dege-
ring's davon gar nichts erfahren mußte? — —
Es kommt noch etwas Weiteres hinzu. Jedem,
mit dem Überlieferungszustand der Salernitaner
medizinischen Literatur auch nur obenhin Bekannten,
ist die Tatsache geläufig, daß der von deutscher
Seite (He nschel) und französischer (Charles
Daremberg) zur Veröffentlichung der ersten
vier Bände seiner Collectio Salernitana erst in den
Stand gesetzte italienische Gelehrte de Renzi
nach Puccinotti's Kritik und ergänzenden Hin-
weisen (erschienen 1S55) später (1859) noch einen
5. Band seiner Collectio hat erscheinen lassen.
Dieser Nachtragsband, der im Buchhandel stets
mit den vier anderen zusammen geliefert wird,
bringt reiche Ergänzung zu den vier vorhergehen-
den Bänden. De Renzi hat sich auch bemüht,
die Handschrift aus San Gimignano zu erhalten,
freilich ohne Erfolg, wobei politische Momente
mitgespielt haben mögen. Für das „Compendium
Magistri Salerni" vermochte er sich aber aus dem
Nachlasse Baudry's de Balzac (Paris) Ersatz
zu verschaffen, der ihm unterdessen zur Verfügung
gestellt war. Baudry de Balzac hatte aus
vier zum Teil interpolierten Pariser Handschriften
einen umfänglichen Text von 127 Kapiteln des
„Compendium Magistri Salerni" zusammenstellen
können, den de Renzi Band 5 S. 201 — 232 zum
Abdruck bringt. • ■
Natürlich fehlt darin auch nicht der Abschnitt
über das brennbare Wasser; er ist der 47. in
Baudry's Zählung, steht auf S. 214 und zeigt
einen wesentlich besseren Text als den der Berliner
Handschrift und des Abdruckes bei Puccinotti.
Das gleiche gilt auch von einer Leipziger Hand-
schrift des „Compendium Magistri Salerni", die
allerdings erst aus der Mitte des 15. Jahrhunderts
stammt. Der Papierkodex Ms. ij6i der Leipziger
Universitätsbibliothek bringt das Compendium auf
Blatt 162"^ — 173' und das Aquaardens-Kapitel auf
Bl. 166"^ Sp. 2 bis Bl. iö6^' Sp. I in folgendem
Wortlaut :
*T Aqua ardens ad modum aque ros^acee
fit hoc modo. Vini rubel perobtimi libra i. et salis
rubel puluerizati uel etiam salis cocti in olla rudi
calida [Bl. 166^] et 4. uncie ^) sulphuris viui et
4. tartari, omnia puluerizata in Cucurbita ponantur
cum prefatis et ventosa superponatur et aquositas
per nasum ventose exiens colligatur. Quo iniinctus
pannus aliquis a flamma saluabitur sine substancie
lesione et perdicione. Ut autem talis aqua diu
seruari possit cum huius effectu, repponatur in
vase vitreo non poroso, habens os strictum, et in
eo V. uel vj. gutte olei ponantur et cera coopertum
bene reseruetur. Hanc aquam si postea experiri
volueris confidenter, sulphur viuum ignitum ter
uel quater in eadem extinguas.
Man sieht, gar manche der von Degering
mit großem Scharfsinn gebesserten Textschäden
der toskanischen und der süddeutschen Überliefe-
rung sind in den Pariser Handschriften und dem
Leipziger Kodex gar nicht vorhanden. Auch in
der Pariser Überlieferung lautet die in Weißenau
und San Gimignano so schwer korrumpierte wich-
tigste Stelle sinngemäß vollkommen korrekt:
„. . . a qua aquositate pannus intinctus servabit ^)
flammam illesus. Item facit bonbax absque per-
ditione substanciae . . ."
Gelegentliches Fehlgreifen der Textemenda-
tionen Degering's ist freilich gleichfalls ersicht-
lich, z.B. im letzten Satze, kommt aber hier nicht in
Betracht. Auf alle weiteren Einzelheilen kann
diesmal nicht eingegangen werden, erübrigt sich auch
unter der veränderten Sachlage, die sich folgender-
maßen kennzeichnet.
Wir haben nicht mehr zwei isoliert überlieferte
Rezepte, sondern kennen bereits sieben Hand-
schriften der Weingeistdarstellungsvorschrift, und
alle diese, einschließlich des Berliner Textes,
gehen auf die Aufzeichnung eines Autors aus der
Mitte des 12. Jahrhunderts zurück.^) Das muß
zunächst festgehalten werden.
Magister Salernus lebte um das Jahr I150;
er stellte sein „Compendium" und seine „Tabulae"
wohl noch vor 1160 zusammen. Gilles de
Corbeil, der ihn unter seinen Lehrern in Salerno
preist, war bestimmt schon 1180 wieder in Paris,
wahrscheinlich schon einige Jahre früher. Dem
') Das von Degering (und P ucci not ti) fälschlich als
,, Drachme" gelesene \ bedeutet im 12. — 14. Jahrhundert
stets Unze!
2) Freilich das von Degering „wiedergewonnene"
servibit aus dem „Vulgärlatein von Plautus' Zeiten bis auf
Venanlius Fortunatus" findet sich nicht. Die karolingischen
Klosterschüler hatten es ja auch ausgemerzt. — Es ist jedoch
heute entbehrlich geworden wie andere Subtilitäten, einschliefi-
lieh der „insularen Schrift", hinter der bekanntlich auch schon
die Fragezeichen auftauchen.
^j Das Verhältnis aller Berliner Rezepte zum Compendium
Magistri Salerni bedarf wohl noch genauer Prüfung, ebenso
die 4 Pariser Handschriften und das Manuskript in San Gimi-
gnano. All das kann aber nichts Wesentliches an dem oben
gekennzeichneten Sachverhalt ändern. Da6 im 13. und wohl
schon im 12. Jahrhundert andere Aqua-ardens-Aufzeicbnungen
nebenherlaufen, ist mir aus Handschriften bekannt, hat aber
mit dem in Frage stehenden Textmaterial vorerst nichts zu tun.
N. F. XVI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
683
„brennenden Wasser" (aqua ardens) gewährte er
Aufnahme im Anschluß an eine Anweisung zur
Darstellung des Rosen wassers (aqua rosacea)/)
die direkt vorhergeht, und auf welche im Wort-
laut des Textes auch noch ausdrücklich verwiesen
wird. Der Weingeist taucht damit in einem
Kulturzusammenhange Süditaliens auf, wo man
schon seit Jahrhunderten, auch unter Langobarden-
herrschaft, ärztliches und naturwissenschaftliches
Erfahrungswissen aus den Tagen der Antike in
täglicher praktischer Betätigung weiter gepflegt
und auch im kleinen schon weiterauszubilden be-
gonnen hatte, wo man aber auch seit fast einem
Jahrhundert, den starken Anregungen Konstantins
des Afrikaners (f 1087) folgend, neu aus dem
Orient dahergeführtes früharabisches Schul- und
Erfahrungswissen sich angeeignet hatte, und schon
dazu übergegangen war, es in verwandte literari-
sche Formen umzugießen. Altes und Neuerrungenes
verschmelzend. Von Sizilien und Kleinafrika
strömte dort ständig neues Sarazenwissen zu, und
man hatte auch der bei den Arabern weitergepflegten
Chemie einen gewissen Einfluß eingeräumt und
ihr namentlich auch in Chirurgenkreisen eine be-
scheidene Pflege angedeihen lassen, unter welchen
das Banner des Fortschrittes, von Süditalien nach
der Romagna und Emilia getragen, im 13. Jahr-
hundert besonders mächtig im Voranstürmen wehen
sollte. Aber auch schon am Golf von Salerno
hatte, eben in den Tagen des Magister Salernus,
der bedeutende wundärziliche Praktiker und Schrift-
steller Roger Frugardi (offenbar langobardi-
scher Abstammung wie so mancher frühe Saler-
nitaner) der chemischen Arzneibereitung bereits
das Tor geöffnet, wie sein chirurgisches Werk be-
') Sie ist textlich abermals ihrerseits in einem vorher-
gehenden weiteren Rezepte durch ausdrücklichen Hinweis ver-
ankert. Bemerkt sei nur, daß sich das von Degering für
überflüssig erklärte ,,non poroso" als Zusatz zum „vas
vitreum" in allen Texten findet; ich fasse es als erklärenden
Zusatz auf, der noch besonders betonen soll, dafl es bei dem
zur Aufbewahrung zu verwendenden Gefäße auf Wasser-
undurchlässigkeit ankommt.
weist, das sein Schüler Guido von Arezzo im
Jahre 11 70 fertig aus seinem Munde aufge-
zeichnet hat.
Durchgesetzt hat sich in den Blütejahren saler-
nitanischen Schrifttums, in der ersten Hälfte des
12. Jahrhunderts die Alkoholkenntnis noch nicht.
Salernus, in dessen Sammelkompendium sie zuerst
auftaucht, gehört schon zum Abgesang ') des
kurzen literarischen Konzerts am Golfe von Paestum,
das sich direkt nach dem durchgreifenden Wirkung-
werden der Konstantinischen Offenbarung in den
ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts abspielte.
Irgendwelches weitere Verdienst, etwa um
die Entdeckung des Alkohols, hat Magister Salernus
sicher nicht. Er ist nur als chronologischer
Fixierungspunkt von Wichtigkeit — durch ihn
wird zwischen 1 140 und 1 160 die Weingeistdar-
stellung in Süditalien bekannt. Ob sie auch in
Süditalien gewonnen wurde, ist damit nicht
mit Bestimmtheit ausgesagt, wenn auch immerhin
wahrscheinlich geworden. Der Orient kannte sie
vor dem 12. Jahrhundert nicht, weder aus der
Überlieferung des Altertums, noch aus eigener
scheide^ünstiger Arbeit. Mir scheint sie aber
auch der Schule von Toledo im dritten Viertel
des 12. Jahrhunderts vertraut.
Daß Degering und Diels mit ihrem Hin-
weis auf die „Mappae clavicula" in die rechte
Richtung deuten und daß sie in der Arbeit an
dieser Überlieferungsmasse und ihrem Anwachsen
in literarischer Weitersammlung und Neueinreihung
technischer Versuchsergebnisse auf Erfolg ver-
sprechendem Wege sind, dafür scheint mir manches
zu sprechen. Die Einreihung einer Weingeist-
bereitungsvorschrift dürfte aber kaum vor das
Jahr iioo zu setzen sein, doch wohl auch nicht
erheblich später.
') Er fehlt denlj^ auch in dem berühmten salernitanischen
Sammelkodex der Rbedigerana zu Breslau aus dem 12. Jahr-
hundert, aus dem Sil e mos Ruhm neu erblüht ist.
[Nachdruck verboten.
Über einige Fälle des Sclieinheriiiaphroditisnius bei Fischen.
] Von Dr. Rob. Mertens, Leipzig.
Obwohl noch die Annahme vielfach bestritten
wird, daß Hermaphrodit ism us (Zwittertum)
der primäre Zustand des Geschlechtsapparates
der Tiere sei, scheint sie doch heutzutage immer
mehr an Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Denn
unter niederen mehrzelligen Tieren begegnen wir
dem Hermaphroditismus in der Regel bei weitem
häufiger, als bei den höher Organisierten. Aller-
dings ist das Zwittertum bei einer größeren An-
zahl von Metazoen, so bei einigen Nematoden,
einigen Krebstieren (viele Cirripedien, unter den
Isopoden die Cymothoiden, welche als ausge-
wachsene Tiere weiblich, in der Jugend männlich
sind) und Mollusken (einige Lamellibranchier, alle
Opisthobranchier und die aus ihnen hervorge-
gangenen Pteropoden, ferner alle Pulmonaten) an-
scheinend sekundärer Natur, indem sich der
Hermaphroditismus in diesen Fällen aus gono-
choristischen (getrenntgeschlechtlichen) Organismen
sich auf die Weise herausgebildet hat, daß bei
Individuen ursprünglich weiblichen Geschlechts
sich auch männliche Gonaden entwickelt haben;
männliche Individuen wurden dann ganz zurück-
gebildet. Andererseits scheint der Hermaphroditis-
mus bei Schwämmen, einigen Coelenteraten (z. B.
Hydra, Ctenophoren) und Plattwürmern auf pri-
märe Zustände hinzuweisen.
Zwittertum kommt regelmäßig außer bei
den schon erwähnten Tiergruppen noch bei vielen
anderen vor: so bei einigen weiteren Würmern
6«4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
(OHgochäten, Hirudineen), bei den Chätognathen,
Bryozoen, einigen Prosobranchiern (z. B. Valvatä),
Tunicaten, einigen Echinodermen {Syiiapfa) und
einigen Fischen vor. Es findet sich ferner noch
als eine gelegentliche Erscheinung bei vielen
Tierarten, die sonst normalerweise gonochoristisch
sind; so z. B. unter den Stachelhäutern ht\ Asferias
glacialis L., SpIiacrecJihuts grainilaris Lm., Para-
centrotiis lividiis Lm. Den sogenannten Hcrina-
phroditisiiiHS lateralis, bei dem aber häufig nur
die sekundären Sexualcharaktere (und zwar weist
die eine Hälfte des Tieres nur weibliche, die andere
hingegen nur männliche auf), nicht aber die Ent-
wicklung der Gonaden auf das Zwittertum hin-
weisen, kennen wir z. B. von Insekten (Schwamm-
spinner, Lymantria dispar L.) und Vögeln (Gimpel,
Pyrrlnila ciiropaca Vieill.). Überhaupt sind bei
den meisten der bekannt gewordenen zwittrigen
Individuen der höheren Metazoen, so vor allem
der Säugetiere und des Menschen, meist nur wirk-
lich funktionsfähige Gonaden des einen Geschlechts
gefunden worden. Solche Fälle von Zwittertum
kann man im Gegensatz zum echten, als unechten
oder Schein-Hermaphroditismus bezeichnen.
Während also der echte Hermaphroditismus durch
das Vorhandensein von funktionsfähigen männ-
lichen und weiblichen Gonaden (oder von einer
einzigen aus der Verschmelzung dieser hervor-
gegangenen Zwitterdrüse) in einem Individuum
gekennzeichnet wird, kommen bei pseudoherma-
phroditischen Individuen stets nur zur Reife befähigte
Gonaden des einen Geschlechts (die des entgegen-
gesetzten in rudimentärem, funktionslosem Zustande
können noch nachweisbar sein — es sei z. B. an
das Biddersche Organ bei männlichen Kröten
erinnert, das nichts weiter als ein neben dem
Hoden liegendes Eierstockrudiment ohne Funktion
ist) und deutlich ausgeprägte sowohl männliche
als auch weibliche sekundäre Geschlechtscharaktere
vor. Ja, es können sogar nur männliche Sexual-
merkmale im Zusammenhange mit einer weiblichen
Gonade und umgekehrt auftreten.
Die Erklärung der Entstehung solcher pseudo-
zwittrigen Formen bei normaliter getrenntge-
schlechtlichen Arten, wird nun durch die eingangs
hervorgehobene Annahme, daß der Gonochorismus
sich ursprünglich aus dem Hermaphroditismus
herausgebildet hat, sehr gut möglich gemacht.
Nach dem biogenetischen Grundgesetz müßte
dann die Keimesanlage zwittriger Natur sein; und
wenn der Keim sich zum gonochoristischen In-
dividuum entwickelt, bleiben in ihm doch noch
kümmerliche, vielleicht äußerlich gar nicht nach-
weisbare, Anlagen des anderen Geschlechts ver-
borgen; im Laufe der ontogenetischen Entwicklung
können sie dann später — aus bis jetzt nicht mit
Sicherheit festgestellten Gründen — die Ausprägung
der ihnen entsprechenden sekundären Sexual-
charaktere fördern, die dann das betreffende In-
dividuum zu einem scheinzwittrigen stempeln.
Daß in einem getrenntgeschlechtlichen Organismus
die Anlage des zweiten Geschlechts enthalten sein
muß, ergibt sich ferner aus den noch im folgenden
etwas näher zu erörternden Beobachtungen an
Knochenfischen, sowie aus Bastardierungs-
versuchen. So gelang es bei der Kreuzung ge-
wisser Schmetterhngsarten nachzuweisen, daß die
daraus hervorgegangenen Bastarde männliche
Merkmale derjenigen Spezies bekommen, die bei
der Paarung durch ein weibliches Individuum
vertreten war. Weibliche Tiere können in diesem
Falle ausgesprochen männliche Charaktere auf ihre
Nachkommen übertragen. Ihre Keimzellen mußten
bisexuelle Anlagen enthalten haben, sie mußten
also hermaphroditischer Natur gewesen sein.
Von allen Wirbeltieren kommen normaler-
weise nur bei einigen Fischen hermaphroditische
Fortpflanzungsorgane vor. Von den Cyclostomen
ist das Zwittertum bei J\fyxinc bekannt; Fälle von
zwittrigen Knochenfischen betreffen einige wenige
meeresbewohnende Acanthopterygier: stets herma-
phrodit sind mehrere Scrraii/is-kr\.en, ferner
Oirysophrys aitrata L., dazu kommt noch der sehr
häufig beobachtete Hermaphroditismus bei Sargus
und PagdliiS hinzu. Es scheint aber festzustehen,
daß alle diese Zwitterfische ■ — obgleich sie Keim-
drüsen beiderlei Geschlechts besitzen — ihrer
Funktion nach immer nur entweder Männchen
oder Weibchen sind; bereits bei Alyxiiic gliitinosa
L. sehen wir, daß hier stets nur eine Gonade
die Reife erlangt.
Als Scheinzwittertum können wir auch die-
jenigen Erscheinungen auffassen, die unter dem
Namen der „Hahnenfedrigkeit" resp. „Hennen-
fedrigkeit" bekannt sind. Diese Bezeichnungen
rühren von alten, fortpflanzungsunfähigen
Hennen oder Hähnen her, die plötzlich „bahnen-"
oder „hennenfedrig" werden, d. h. Merkmale des
entgegengesetzten Geschlechts bekommen. Diese
nicht ganz selten zu beobachtende Erscheinung
ist auch von anderen Tieren, so z. B. von anderen
Vögeln und Huftieren bekannt. Aber auch bei
einigen Süßwasserfischen ist sie in jüngster Zeit
vielfach beobachtet worden. So hat Mazatis
festgestellt, daß alte Kärpflingsweibchen der Gattung
Mollienisia im Laufe der Zeit den männlichen
Tieren immer ähnlicher wurden, d. h. männliche
Geschlechtsmerkmale erhalten. Am schönsten
läßt sich dieser Vorgang bei anderen Cyprino-
dontiden (Zahnkarpfen), so bei der Gattung
Xipliophorus, verfolgen. Die männlichen Tiere
des süßwasserbewohnenden Schwertkärpflings
Xipliop/ioriis sind bei den meisten Arten durch
die merkwürdige Form der Schwanzflosse, deren
unterer Teil bei Männchen in einen langen
schwertförmigen Fortsatz ausgezogen ist,
und durch leuchtendere Farben von den weib-
lichen ausgezeichnet. Es ist nun von vielen
Aquarienliebhabern beobachtet worden, daß bei
altenWeibchendieses prächtigen südamerikanischen
Fischchens die Schwanzflosse allmählich ihre
Form abänderte, indem an ihr ein langer Fort-
satz auszuwachsen begann; solche Fische lassen
äußerlich zunächst noch sowohl männliche als weib-
N. F. XVI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
685
liehe Geschlechtsmerkmale erkennen. Der Schwanz-
fortsatz wird aber immer länger, die Farben des
Körpers lebhafter und der weibliche Fisch gleicht
nun so verblüffend einem IVIännchen, daß die
Frage wiederholt aufgeworfen wurde, ob sich bei
einem solchen Fisch auch gleichzeitig männliche
Geschlechtsdrüsen neben oder unter Verdrängung
der weiblichen herausgebildet haben; ja man hat
in den Aquarianerkreisen diesen Vorgang als eine
richtige „Geschlechtsumwandlung" aufzufassen ver-
sucht. Alle diejenigen Fälle aber, mit denen ich
mich etwas näher beschäftigte, haben mich be-
lehrt, daß solche umgewandelte Tiere stets nur
gynandrisch, oder wenn man so will „hahnen-
fedrig" wurden. Die gynandrischen Weibchen
können sich sogar unter Umständen ganz wie
echte Männchen benehmen; das beweist ein Bericht
des Aquarienvereins „Ludwigia" in Düsseldorf
(siehe „Wochenschrift für Aquarien- und Terrarien-
kunde" Jahrg. XIV, Seite 212): „Herr Tr. berichtet
über ein Xipliophorus -Weibchen, das sich jetzt,
nachdem es Herbst und Winter 1916 verschiedene
Male Junge geworfen, zum Männchen umgebildet
und sich ein stattliches Schwert mit Kopulations-
stachel zugelegt hat. Es ist dies der dritte inner-
halb von zwei Jahren in unserem Verein festgestellte
Fall, der, obgleich er sicher angezweifelt wird,
doch als Tatsache feststeht. Diese umgebildeten
Mäimchen sind auch . . . fortpflanzungsfähig (? Ref),
wenn auch in dem erwähnten letzteren Falle dies
Männchen nicht so viel treibt, wie ein nor-
males Männchen. ..." — Auf meine Bitte hin
überließ mir Herr Treiber dieses Tier zwecks
einer näheren Untersuchung; infolge unserer dies-
jährigen Sommerhitze ging das Tier jedoch während
seiner mehrtägigen Reise von Düsseldorf nach
Leipzig ein und kam in einem derartig mazerierten
Zustande an, daß selbst eine sorgfältig ausgeführte
Sektion die Geschlechtsdrüsen als solche nicht
mehr erkennen ließ. Für diesen Fall bleibt also
die Frage nach dem Geschlecht noch offen ; nach
den bisherigen Erfahrungen ist aber anzunehmen,
daß auch hier nur die Ovarien — und zwar
sicher in einem stark rückgebildeten Zustande,
wie man schon nach dem Habitus des Fisches
beurteilen konnte — vorhanden waren.
Wie wollen wir nun diese eigentümlichen Er-
scheinungen physiologisch erklären ? Wiederum
von der Voraussetzung ausgehend, daß die Keim-
zellen ursprünglich Anlagen beiderlei Ge-
schlechts enthalten, können wir annehmen, daß,
wenn bei einem gonochoristischen Fisch nur die
Anlage des einen Geschlechts — in unserem Falle
des weiblichen — zur Reife befähigt ist, die ent-
gegengesetzte Geschlechtsanlage doch noch, äußer-
lich unmerklich, dem Tiere erhalten bleibt. Die
weiblichen Geschlechtsdrüsen lassen durch innere
Sekretion nur die ihnen entsprechenden, also weib-
lichen, Geschlechtsmerkmale zur Ausbildung ge-
langen. Wird aber, als Zeichen der Altersschwäche
oder aus anderen Gründen, die weibliche Gonade
in ihrer Funktion gehemmt und beginnt sie all-
mählich zu verkümmern, so kann sie auch die
Geschlechtsmerkmale nicht im normalen Umfange
beeinflussen; die Zufuhr der für ihre Erhaltung
notwendigen Stoffe (der sog. Hormone) muß nun-
mehr gänzlich aufhören. Jetzt kann die bis dahin
verborgene männliche Anlage der Keimdrüsen
zur lebhaften Bildung der Hormone gelangen
und die ihnen zukommenden, also männlichen
Sexualcharaktere zur Entfaltung bringen. Der
Habitus des weiblichen Fisches ließ in unserem
Falle zunächst beiderlei Geschlechtsmerkmale er-
kennen; es gewannen aber bald die männlichen
die Überhand, bis sie die weiblichen verdrängt
hatten. Der Fisch ist äußerlich zu einem
Männchen geworden; er ist aber nur ein Schein-
zwitter, denn bei ihm ist nur eine — vielleicht
stark zurückgebildete — weibliche Geschlechts-
drüse mit jetzt männUchen Geschlechtsmerkmalen
ausgebildet.
Ein entschieden größeres Interesse verdienen
aber andere Beobachtungen an Knochenfischen,
die man wohl mit Recht ebenfalls in das Gebiet
der scheinhermaphroditischen Erscheinungen
rechnen kann. Sie betreffen nämlich nicht so sehr
die Neigung der Tiere äußere, morphologische
Merkmale des entgegengesetzten Geschlechts an-
zulegen, als vielmehr das Benehmen und die
Gewohnheiten des anderen Geschlechts in
oft sehr verblüffender Weise nachzuahmen. In
allen mir bis jetzt bekannt gewordenen Fällen
waren es weibliche Fische, die verschiedene, im
engsten Zusammenhange mit dem Geschlechts-
leben stehende Gewohnheiten der Männchen
annahmen.
Das Benehmen von zwei schönen Exemplaren
des in Afrika von Ägypten bis zur Kongomündung
beheimateten Hcmicliromis bimacidatus Gill., die
ich im Sommer 1916 im Zoologischen Institut
der Leipziger Universität zwecks Studiums ihres
Farbkleides hielt, war mir so auffällig, daß ich
die Tiere einer näheren Beobachtung unterzog.
Zuvor sei aber der Leser daran erinnert, daß diese
wunderschön gefärbten Cichliden keine besonders
intensiv ausgeprägten Geschlechtsmerkmale be-
sitzen. Das Alltagskleid dieses Fisches ist nur
recht unscheinbar bräunlich mit einem dunkel
braunschwarzen Streifen längs der Rumpfseiten
und zwei Flecken: einem am hinteren Rande des
Kiemendeckels und einem an der Körperseite,
mehr dem Schwänze als dem Kopfe genähert. Wie
ganz anders wird aber die Färbung unseres
Hcmicliromis, wenn er sein Hochzeitskleid anlegt!
Die Tiere erstrahlen, namentlich an der Unterseite
im leuchtenden Dunkelrot; der Rücken behält
meist seine dunkel braungrünliche Färbung. Die
Körperseiten und die Kiemendeckel erhalten einen
Schmuck in Form von blauen, goldig glänzenden
Tüpfeln, bunten Diamanten vergleichbar. Die
Flossen sind helloliv; die Rückenflosse weist einen
roten Rand auf, die Schwanzflosse ist oben rot,
unten schwarz gesäumt. Das Weibchen läßt sich
an der etwas kürzeren Rückenflosse, an weniger
686
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
intensiv blauen Flecken und an dem stärkeren
Körperumfang nur für den Spezialisten gut er-
kennen.
Meine beiden Weibchen, die in den schönsten
Farben prangten, versetzten mich vor allem da-
durch in Erstaunen, daß das eine und zwar das
kleinere, sich offenbar die Mühe gab, das Männ-
chen zu spielen. Es benahm sich dem größeren,
deutlich mit Laich erfüllten, gegenüber wie ein
echtes Männchen, indem es stets hinter ihm her-
schwamm, es zuerst mit sanften Püffen vor sich
her trieb, dann zu den bei Cichliden so häufigen
Beißereien überging, bis ich es eines Morgens tot
mit stark lädierten Flossen im Aquarium vorfand.
Es wurde sicher vom größeren Tier, das schließ-
lich in ihm einen gleichgeschlechtlichen Art-
genossen erkannte, über Nacht umgebracht. Die
Untersuchung des toten Fisches ergab, daß das
Tierchen ein wohlentwickeltes Ovarium besaß.
Auch der andere Hemichroniis, der um Weih-
nachten 1916 infolge Aussetzens der Heizung im
Institut einging, war ein Weibchen.
Als Parallele zu meinen Beobachtungen kann
ich ein Zitat aus dem Bericht eines Aquarien-
vereins und zwar wiederum der „Ludwigia" in
Düsseldorf bringen (siehe „Wochenschrift für
Aquarien- und Terrarienkunde" Jahrgang XIll,
Seite 223): „Ein großes Weibchen von Haiiic/ironiis
bimaculafus, welches mit einem zweiten Tiere,
anscheinend einem Männchen, zusammen-
gehalten wurde, laichte ab, wobei sich das Männ-
chen gebärdete, als wenn es die Eier befruchten
wollte; die Eier verpilzten jedoch und es scheint
sich um kein Männchen zu handeln, trotzdem
das Tier als solches gefärbt ist und sich als
solches gebärdet. . . ."
Am bemerkenswertesten ist aber der Bericht
von Aubry') über das Verhalten seiner beiden
Hcmtchroiiiis lu'imuNlatus-V^cihchtn; doch ehe
wir darauf eingehen, seien zuvor die nicht minder
interessanten Erfahrungen von Brüning,-') dem
Redakteur der „Wochenschrift für Aquarien- und
Terrarienkunde", mit einem südamerikanischen
Cichliden Acara himacnlata J. u. S. hier mit-
geteilt. Nach Landeck („Geschlechtsunterschiede
der Zierfische" im Beilageheft zu „Blätter für
Aquarien- und Terrarienkunde" 1914) ist das brut-
pflegende Männchen dieses Fisches dunkler gefärbt
als das Weibchen; bei ihm ist auch die Zeichnung
(dunkler Längsstreifen und je ein Fleck in der
Körpermitte und an der Schwanzwurzel) deutlicher
ausgeprägt. Brüning brachte nun zwei Exemplare
der Acara biniacitlata in ein Aquarium, die man
unbedingt für ein Pärchen halten mußte, denn
„sie paßten nach der Größe vorzüglich zusammen
und waren auf den ersten Blick als Männchen
und Weibchen zu unterscheiden, denn das Weib-
ehen war sichtlich „in anderen Umständen", also
') Wochenschr. f. Aquarien- und Terrarienkunde XIV
S. 189.
^) Wochenschr. f. Aquarien- und Terrarienkunde XIII
S. 521.
dicker als das Männchen und seine Rücken- und
Afterflosse waren kürzer und stumpfer, während
dieselben beim Männchen lang ausgezogene Spitzen
hatten, die bis über die Außenkanten der Schwanz-
flosse hinausragten." Nur kurze Zeit herrschte
Friede im Aquarium; bald aber beobachtete
Brüning, wie das vermutliche Männchen plötz-
lich das Weibchen mit Püffen recht unsanft zu
traktieren begann. Die beiden Tierchen erstrahlten
in prachtvollsten Hochzeitsfarben: „Der gelbe
Brillenstreifen leuchtet bei beiden Tieren förmlich.
Die Kiemendeckel glänzen meergrün, der schwarze
Punkt unter dem Auge ist verschwunden, statt
des großen schwarzen Punktes auf der Mitte der
Körperseiten findet sich nur ein fahler, mißfarbener
P'Jeck. Die Bauchflossen sind pechschwarz mit
hellen Spitzen. . . . Das Männchen geht wiederholt
mit Püffen auf das Weibchen los."
Die Fische wurden daraufhin voneinander ge-
trennt; nach Verlauf von 14 Tagen schien das
Laichgeschäft bald zu erfolgen. Brüning ließ
die Fische wieder zusammen. „Die wunder-
barsten Liebesspiele begannen. Dabei
nimmt das Weibchen oft die halbliegende Schwimm-
stellung ein und das Männchen umkreist es. Die
Geschlechtspapille wird immer stärker und seine
Ungeduld wächst ebenfalls. Jetzt ist es das
Männchen, welches die Prügel bekommt, und seine
Flossen sind bald jämmerlich zerschlissen. Dann
löst zärtliches Liebeswerben wieder den Zank auf.
Das Pärchen umkreist einen Stein und sucht
augenscheinlich den Platz für die Eier aus. . . .
So geht es fast jeden Tag. ..." Da es B r ü n i n g
nicht gelingen wollte, die Fische zur Laichablage
zu bringen, wurden die Tiere konserviert und
präpariert. Es zeigte sich nun, daß das Weibchen
sehr große Eierstöcke hatte; in einem Ovarium
wurden nicht weniger als 397 Eier gezählt. Aber
auch das vermeintliche Männchen entpuppte sich
bei der Präparation als ein richtiges Weib-
chen! Seine Ovarien waren nicht so groß und
die Eier etwas kleiner als beim anderen Weibchen.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Beob-
achtungen von Aubry an HcDiicJirumis bima-
ciilatiis. Zwei junge, kaum 4 cm große F"ischchen
dieser Art wurden von Aubry großgezogen.
Als sie geschlechtsreif wurden, schien es sich um
ein Pärchen zu handeln: „In hellem, leuchtendem
Rot pr.mgte das eine Tierchen, dunkler war das
andere gefärbt und zeigte leuchtend goldige Punkte.
Das erstere hatte unzweifelhaft Laichansatz, es
war also das Weibchen." Vermutlich war das
andere ein Männchen, obgleich der Körper
von den leuchtenden Tüpfeln nicht so dicht besät
war, wie es sonst für männliche Tiere dieser
Plschart charakteristisch ist. Auch der Habitus
war für ein Männchen nicht schlank genug. „Aber
die Liebesspiele begannen, die Treibereien
und Beißereien, also trennte ich die Fischchen."
Nachdem die Fische nach kurzer Zeit zusammen-
gebracht wurden, erfolgte die Laichablage; die
Eier gingen aber bereits schon nach zwei Tagen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
687
zugrunde. Wiederum „begannen die Liebes -
spiele von neuem, wieder prangte das Weibchen
in leuchtendem Rot und der dunkle Ehemann
grub eifrig Kinderwiegen. Der zweite Laichakt
wurde vollführt. Im herrlichsten Hochzeitskleide
strahlend, schwamm das Weibchen im Blumentopf
hin und legte Eichen neben Eichen. Das Männ-
chen kam hinterher und gab sich ersichtlich alle
Mühe auch seine Pflichten getreulich zu erfüllen
Aber das Männchen war ein Weibchen, denn
sein Geschlechtsorgan war nicht die kleine, etwas
zugespitzte Genitalröhre eines Männchens, sondern
eine ausgesprochen wulstige, dicke weibliche Lege-
röhre. . . . Das Weibchen wußte wie sich ein
Männchen beim Laichakt benimmt, trotzdem es
niemals mit einem Männchen zusammengelebt,
oder einen Laichakt gesehen hatte." Bei diesen
beiden Weibchen von Heiinchfornis bimaculatus
war der Geschlechtsapparat in einem völlig
funktionsfähigen Zustande, denn beide er-
gaben, nachdem sie mit männlichen Tieren zu-
sammengehalten wurden, eine reichliche Nachzucht.
Dieses auffallende Benehmen von weiblichen
Fischen dürfte sicher auch noch bei anderen
Tiergruppen vorkommen. Die in unseren Fällen
in Frage kommenden Tiere unterscheiden sich
wesentlich von den zuerst erörterten gynan-
drischen Weibchen. Während diese letzteren,
wie wir sahen, stets an Fischen beobachtet
wurden, deren Geschlechtsapparat zu verküm-
mern begann, handelt es sich hier um noch
völlig fortpflanzungsfäh ige Tiere. — Versteht
man unter Homosexualität (Gleichgeschlechtlich-
keit) eine Form des psychischen Scheinherma-
phroditismus, so wird man hierher vielleicht auch
diese Beobachtungen an Fischweibchen zu rechnen
haben.
Einzelberichte.
Zoologie. Magenuntersuchungen an Wespen:
Im Referate „Neue Untersuchungen über die
Nahrung des Ohrwurmes" (S. 291 des laufenden
Jahrganges) war auf das Verfahren der Magen-
untersuchungen an Insekten als eine neue, zuver-
lässige und oft sehr vorteilhafte Llntersuchungs-
methode hingewiesen, um die Art der Nahrung
von Insekten sicher festzustellen und damit oft
die Frage nach Nutzen und Schaden leichter als
bisher zu entscheiden.
Im Bericht der König 1. Lehranstalt
für Wein-, Obst- und Gartenbau zu
Geisenheim 1915 werden nun von Prof Dr.
G. L ü s t n e r - Geisenheim weitere Beispiele solcher
von ihm vorgenommener Magenuntersuchungen
an Gartenschädlingen veröffentlicht, unter denen
die an der gemeinen Wespe (Vespa vul-
garis. L.) gewonnenen Untersuchungsergebnisse
S. 207 ff allgemeineres Interesse beanspruchen
Wie beim Ohrwurm haben wir in der Wespe
ein Insekt, das trotz seines allgemeinen Vor-
kommens doch, was seine eigene und die Er-
nährung seiner Brut angeht, vielfach umstritten
ist. Das zeigen deutlich die Angaben in der
Literatur. Die Wespen werden hier als Fleisch-
und Pflanzenfresser bezeichnet. Nach Reh (So-
rauer: Handbuch der Pflanzenkrankheiten. III. Bd.
S. 614) fressen sie in erster Linie tierische Stoffe:
Insekten (Blattläuse?), Spinnen, tote Wirbeltiere.
Sie sind also zu einem gewissen Grade nützlich.
Aber andererseits gehören sie zu den gefährlichsten
Feinden von süßem Obst, daß sie anfressen und
ansaugen. Die Nahrung wird nicht eigentlich
gefressen, sondern sie saugen die zerkauten Stoffe
nur aus und lassen den Rest ungefressen liegen.
Seh m eil (Lehrbuch der Zoologie. 6. Aufl.
S. 329) hält sie auch in erster Linie für Fleisch-
fresser: „Zwar na^chen sie gerne an reifen Früchten
und am Honig der Blüten. . .; in erster Linie aber
sind sie Fleischfresser. Im Fluge überfallen sie
die Beute (Bienen, Fliegen), töten sie mit Hilfe
ihres Stachels, verzehren sie oder legen sie fein
zerkaut ihren Larven vor." Fleischer (Lehrbuch
der Zoologie. 2. Aufl. S. 226) bezeichnet als ihre
Nahrung Insekten, Fleisch, Honig und reife Früchte.
Die Brut soll ebenfalls mit diesen Stoffen genährt
werden, und zwar nachdem die fütternde Wespe
sie wieder aus dem Magen hervorgewürgt habe.
Um hier zu einem sicheren Ergebnisse zu
kommen, nahm Lüstner an den Bewohnern von
drei großen Nestern, an Wespen und Wespen-
larven, über 100 Magenuntersuchungen vor. Das
Ergebnis war immer dasselbe: Im Magen der
Wespen fanden sich niemals feste Stoffe, sondern
er war stets prall gefüllt mit einer wasserhellen
Flüssigkeit, die mit F e h 1 i n g 'scher Lösung starke
Zuckerreaktion zeigte. Sie nehmen also keine
feste Nahrung auf, sondern saugen nur die
darin enthaltene Flüssigkeit aus. Der große
Zuckergehalt weist auf reife Früchte als wichtiges
Nahrungsmittel hin. Pflanzliche Gewebe, auch
Holzteile, aus denen sie bekanntlich ihre lösch-
papierähnlichen Waben bauen, werden im Magen
ebenfalls nicht angetroffen. Das an Holzgelände,
Fensterläden usw. gewonnene Bauholz wird viel-
mehr, wie die Beobachtung auch zeigt, mit einer
aus dem Maule austretenden Flüssigkeit über-
speichelt, dann abgenagt und im Maule zum Neste
getragen, und hier weiter verarbeitet.
Ganz anders waren die Befunde an den
Wespenlarven. Ihr Mageninhalt bestand zur Haupt-
sache aus großen Mengen von Iiisektenresten in
feinster Zerkleinerung. Chitinstückchen, Chitin-
haare, Fühlerteile, Beine, Fazettenaugen, F"lügel,
Schmetterlingsschuppen u. a. wurden festgestellt.
Daneben füllte den Magen prall eine stark auf
Zucker reagierende Flüssigkeit. Referent konnte
bei einer vor kurzem unternommenen Unter-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
suchung von etwa 30 Larven der Vespa media
L. ganz ähnliches feststellen. Neben allerhand
Chitinresten, unter denen Tracheenreste, Hautstücke
mit Stigmen, Schmetterlingsschuppen (2 mal) auf-
fallend häufig Teile aus den Fazettenaugen u. a.
identifiziert wurde, fanden sich auch Reste von
anscheinend ganz frischen Muskel- und Fettge-
weben und Blutelementen, was jedenfalls darauf
hinweist, daß die Stoffe von frischgetöteten Insekten
stammten. Dies schließt natürlich nicht aus, daß
auch tote Tiere verfüttert werden. Der ganze
Brei war violett-rot, in der Farbe an Bickbeersaft
erinnernd, so daß der Magen nach außen schwarz-
rot durchschimmerte. Zuckerreaktion war eben-
falls deutlich erkennbar. Bienenreste, auf die be-
sonders geachtet wurden, konnten nicht festgestellt
werden; doch mag das daran liegen, daß das Nest
aus einen Garten mitten in Hamburg stammte.
Es wurden ganz kleine, nur wenige Millimeter
große und ganz ausgewachsene, schon einge-
sponnene Larven untersucht. Ein Unterschied
aber in der Art der Nahrung war in keiner Weise
erkennbar. ,
Hält man die beiden Befunde, Wespen und
Wespenlarven, nebeneinander, so ergibt sich jeden-
falls, daß die Larven mit zuckerhaltiger Flüssig-
keit, hauptsächlich aber mit Insekten, gefüttert
werden, die aber nicht von den Imagines im
Magen, sondern fein zerkaut im Maule den Larven
zugetragen und verabreicht werden. Von einem
Hervorwürgen dieser Art Nahrung aus dem Magen
kann jedenfalls keine Rede sein, denn die Wespe
nimmt keine feste Nahrung zu sich. Olufsen.
Die Zucht des Seidenspinners im Freien. Prof.
Dr. J. Dewitz {Metz), hatte, wie ich an dieser
Stelle schon berichtete,^) in den Jahren 191 5 und
1916 mit dem Versuch begonnen, die Raupen des
Seidenspinners {Büinhyx mori L.) im Freien zu
züchten. Er hat, wie er schon damals ankündigte,
seine Versuche heuer erneut aufgenommen und
teilt nun seine diesjährigen Erfahrungen in der
Entomologischen Rundschau (34. Jahrg.
191 7 Nr. 7) mit. Von einem der Maulbeerbäum-
chen hatte Prof. Dewitz die von den Seiden-
raupen im Sommer 1916 gesponnenen Kokons
nicht abgesammelt. Im Spätsommer schlüpften
die Falter aus, kopulierten alsbald und legten dann
ihre Eier an den Blättern, am Stamm oder an den
leeren Kokons ab. Die Eier überstanden trotz
der grimmigen Kälte den Winter gut, am 17. Mai
bemerkte Dewitz die ersten Räupchen, deren
Zahl sich in den nächsten Tagen stark vermehrte.
Nach etwa 14 Tagen waren die Räupchen etwa
1^/2 cm lang. Das Ausschlüpfen der Raupen be-
gann erst, als die Maulbeerbäume und -Sträucher
schon einigermaßen belaubt waren. Diese zeit-
liche Übereinstimmung zwischen der Entwicklung
des Parasiten und seiner Nährpflanze, für die Prof.
Dewitz den Begriff „Synchronismus" prägt.
») Vgl.Nalurw.Wochenschr. N, K. 16. 13d. Nr. 17, S. 236/37.
ist für die Freilandzuchten des Seidenspinners von
größtem Vorteil, nicht minder als die Tatsache,
daß die Eier selbst diese harten Wintermonate
unbeschadet hatten überdauern können. „Wenn
man daher die früher erwähnte Schwierigkeit,
schließt Prof. Dewitz, die die Trägheit der er-
wachsenen Raupen verursacht, überwinden oder
wenn man bewegliche Varietäten finden würde,
könnte man an umfangreiche Versuche, Bombyx
mori im Freien zu ziehen, herangehen".
H. W. Frickhinger.
Massenhaftes Auftreten des Gartenlaubkäfers
in einigen Bezirken Oberbayerns. Der kleine
Rosenkäfer oder Gartenlaubkäfer {P/iyllo-
pcrflia Iwrticola L.) tritt in Deutschland in manchen
Jahren so massenhaft auf, daß er schwere Schäden
an Eichen und anderen Laubbäumen des Waldes
und in den Nutz- und Ziergärten an Rosen-
pflanzungen und Obstbäumen, vor allem an Apfel-
bäumen, verursacht. So scheint der Käfer heuer
in Massenschwärmen vorzukommen: anläßlich
einer Besteigung des Zwiesels in den bayerischen
Vorbergen oberhalb Bad Heilbrunn am 19. Juni
konnte ich auf dem 1335 m hohen Gipfel des
Berges in den Mittagsstunden Massen des Käfers
beobachten, die gleich Bienenschwärmen umher-
summten. Da der Gipfel des Zwiesels nur mit
einer kurzen Grasnarbe bestanden und nicht be-
waldet ist und die Hänge des Berges fast aus-
schließlich Nadelholz aufweisen, konnte ich
keinerlei Beschädigungen durch den Käfer kon-
statieren. Auch auf meiner weiteren Wanderung
auf den Blomberg oberhalb Bad Tölz konnte ich
nirgends Fraßschäden entdecken. In einem
anderen oberbayerischen Bezirk, in der Nähe von
Rosenheim, scheinen die Käfer aber infolge
ihres massenhaften Auftretens zu argen Schädlingen
geworden zu sein. In den ersten Tagen des Juni,
so wird aus der dortigen Gegend berichtet, traten
die Käfer zum erstenmal auf. In dichten Schwärmen
suchten sie auf weite Strecken hin alle die Land-
straßen flankierenden Bäume — zumeist Obst-
bäume — heim und schädigten vor allem die
Apfelbäume schwer : sie fraßen sie vollkommen kahl.
Die Käfer vertilgten dabei nicht nur das Laub,
sondern auch die Blüten und benagten selbst die
jungen F'rüchte. Auch in den Waldungen, durch
die eine der befallenen Straßen führt, machten
sich die Käfer bald breit. Die Bekämpfung
der Schädlinge stützt sich vor allem auf die
technische Methode, wie ich sie im ver-
gangenen Jahre an dieser Stelle vom Kampf
gegen den Maikäfer schilderte: ') in den frühesten
Morgenstunden, wenn die Käfer noch schlaftrunken
in Massen auf den Bäumen hängen, müssen diese,
nachdem zuerst Tücher unter ihrer Krone aus-
gebreitet worden sind, abgeschüttelt werden. Die
erbeuteten Käfer werden dann vernichtet, indem
') Vgl. meinen Bericht „Maikäferbekämpfung" in Naturw.
Wochenschr., N. F. 15. Bd., S. 509/10.
N. F. XVI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
689
sie z. B. in vorher ausgehobene Löcher geworfen,
mit Erde bedeckt und so erstickt werden. Dabei
wäre zu erwägen, wie Prof. Eckstein im vorigen
Jahre anläßhch der „Maikäferstrecke" vorschlug,
ob die Käfer nicht als Hühnerfutter Verwendung
finden könnten. In der jetzigen Zeit der akutesten
Körnerknappheit wären die gesammelten Käfer-
mengen sicher für viele Geflügelhalter ein will-
kommenes Ersatzfutter. Das Abklopfen des
Gartenlaubkäfers ist nicht so einfach, wie das des
Maikäfers, da der Gartenlaubkäfer viel beweglicher
ist als der relativ schwerfällige Maikäfer. Des-
halb empfiehlt Prof. Dr. L. Reh (Sorauer's Hand-
buch der Pflanzenkrankheiten, III. Bd. „Die tie-
rischen F'einde" ') zu ihrer Bekämpfung vor allem
das Bespritzen der befallenen Bäume
mit Arsenmitteln. Die Käfer vergiften sich
dann, wenn sie das bespritzte Laub fressen. Ob
freilich jetzt im Kriege Arsenmittel genügend zur
Hand sein werden, um auf dieser chemischen
Methode eine eingehende Bekämpfung des Schäd-
lings auf weitere Strecken hin aufbauen zu können,
muß, abgesehen von dem hohen Kostenpunkt
des Verfahrens, fraglich erscheinen. Eine ener-
gische Bekämpfung des Käfers ist aber schon
deshalb dringendst geboten, weil die Kalamität
sonst auch im nächsten Jahre noch Nachwirkungen
zeitigen könnte; die Käfer legen nämlich ihre
Eier im Boden ab und ihre Larven würden dann
im nächsten Jahre dort durch Benagen der Wurzeln
von Getreide und Kohl, wie von Nadelhölzern,
Rosen und mancherlei Zierpflanzen neuerdings
sicherlich viel Unheil anrichten.
H. W. Frickhinger.
Die Bestäubertätigkeit der Insekten in Zahlen.
Bei nur etwa iq'Vo unserer heimischen Blütenpflanzen
besorgt der VVind die Polienübertragung, während
die übrigen 81 " ,j fast völlig auf Insektenbestäubung
angewiesen sind. Die wichtigste Rolle hierbei
spielen die Hautflügler, besonders die langrüsseligen
Bienenarten, aber allen weit voran die Honigbiene.
Dazu kommen noch, aber viel weniger wichtig.
Fliegen, Wespen, Ameisen, Käfer, Schmetterlinge
usw. Andere Faktoren (Schnecken, Vögel, Wasser)
kommen nur sehr wenig in Frage. Ja, man neigt
heute dazu, die Tätigkeit der Schnecken als Befruchter,
die 1869 zum ersten Male von Delpino als wahr-
scheinlich angenommen wurde, eine Meinung, der
sich später H. Müller, Knuth u.a. anschlössen,
überhaupt als bedeutungslos hinzustellen. In Frage
sollten die Gattungen Arum, Calla, Colchium,Chryso-
splenium, Chrysanthemum und Lemna kommen.
P. Ehrmann (Nachrichtsblatt d. deut. malakoz.
Gesellschaft. 49. 1916) kommt nach seinen Ver-
suchen zu dem Ergebnisse, daß die Schnecken
im Gegenteil schädlich sind, weil sie der Pflanze
den Pollen rauben und mit ihrem Schleime die
Antheren derart verkleben, daß die Insektenbe-
stäubung unmöglich wird.
') Berlin, Paul Parey, 1913.
Seit dem Begründer der Blütenbiologie,
Christian Konrad Sprengel (1793), und
seit den Tagen von Charles Darwin und
Hermann Müller hat sich eine Unmenge
Material zu dem Probleme der Insektenbestäubung
angehäuft. Es fehlen bei diesen Studien auch
nicht Schätzungen oder Vermutungen über den
wirtschaftlichen Nutzen, den die Insekten
bei ihrer Bestäubertätigkeit stiften, ohne daß man
scheinbar bisher ernstlich darangegangen wäre zu
dieser besonderen Seite der P>age ein allgemeines
exaktes Zahlenmaterial herbeizuschaffen. Ansätze
hierzu sind, besonders was den mittelbaren Nutzen
der Biene angeht, öfter gemacht. So schreibt
Prof. Zander (Zukunft der deutschen Bienenzucht.
S. 15 — 16): „Es ist durchaus nicht übertrieben,
wenn man den durch die Blütenbestäubung dem
deutschen Volksvermögen jährlich zugeführten
Gewinn 5 mal höher als den Ertrag an Wachs
und Honig ansetzt. Da der letztere 20 — 30 Mill. M.
ausmacht, beziffert sich der mittelbare Nutzen aus
der deutschen Imkerei in jedem Jahre auf
100—150 Mill. M. Davon entfallen auf jedes
Bienenvolk 38,5 bis 58 M . . ." Auch von anderer
Seite sind solche Versuche unternommen. Der
amerikanische Bienenforscher Philipps schätzt
(nach Bern er) den unmittelbaren Nutzen (Honig
und Wachs) der Biene für die Vereinig. Staaten
auf 22 Mill. Dollar und hebt dabei hervor, daß
der mittelbare Nutzen noch bedeutend größer sei.
Andere Überlegungen von anderer Seite schätzen
auf Grund recht willkürlicher Berechnungen den
Wert, den ein Bienenstock in Deutschland durch
Befruchtung schafft, auf 40 M. Das ergibt bei
2600000 rund 100 Mill. M. Überall fehlt aber
bei diesen Schätzungen mehr oder weniger die
zuverlässige Zahlengrundlage.
Eine solche zu geben unternimmt neuerdings
Ulrich Berner (Monatshefte für d. naturw.
Unterricht. 191 7. S. 184 ff.), indem er aus
statischen Quellen den Wert der Früchte von
allen den Kulturpflanzen in Deutsch-
land feststellt, die hauptsächlich von
Bienen beflogen werden. Nach sorgfältiger
Herbeiziehung von viel Material und nach oft
mühsamen Rechnungen und Erwägungen kommt
er zu folgenden Gesamtsummen für Deutschland,
die nebenher recht interessante Einblicke in viele
Zweige unserer Land- und Gartenwirtschaft ge-
statten :
Gesamtobsternte 1 60 000 000 M
Raps und Rübsen 1 2 737 000 M
Buchweizen 7674000 M
Luzernen zur Samengewinnung . 1653 000 M
Klee zur Samengewinnung (mit
Ausnahme des Rotklees). . . 1 6 020 000 M
Wicken zur Körnergewinnung . 34076000 M
Mischfutter (besonders Sandwicken
im Gemisch mit Johannisroggen ) 32415 000 M
Senf zur Körnergewinnung. . . 749 000 M
Anis, Fenchel, Koriander, Kümmel . 2 575 000 M
„alles andere" (Leindotter, Mohn,
690
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
Esparsette, Seradella, Gemüse-
und Blumensamen, Waldbeeren 20 000 000 M
Das ergibt für alle deutschen, besonders durch
Bienenbestäubung erzeugten PYüchte eine Ge-
samternte von 287889000 M, denn die er-
wähnten Pflanzen sind überwiegend selbststeril,
oder sie bringen doch bei Selbstbefruchtung nur
wenige oder minderwertige Früchte hervor. Wie
sehr das z. B. für unsere wichtigsten Obstbäume
zutrifft hat Referent schon früher in dieser
Zeitschrift (Heft Nr. 24, 1917. S. 331) genauer
durch Zahlen belegt. Andere Kulturpflanzen, die
in größerem Maße die Möglichkeit einer erfolg-
reichen Selbstbefruchtung haben, wie Hülsenfriichte,
Lein u. a. hat Berner absichtlich in seiner Über-
schlagrechnung überhaupt unberücksichtigt ge-
lassen.
Wir haben also in der oben zitierten Gesamt-
summe eine wertvolle feste Grundlage für weitere
Überlegungen und Schlüsse.
Um zunächst den mittelbaren Nutzen der
Honigbiene (Apis mellifica) zu berechnen, eine
Aufgabe, die aus vielen Gründen von erheblichem
Interesse ist, muß entschieden werden, welchen
Anteil dies Insekt an der Bestäubung obiger
Pflanzen hat. Bern er schätzt, daß auf seinen
Anteil -,'3 fallen, sodaß sich der Nutzen auf
192 Mill. M stellt. Daß diese Zahl keineswegs
zu hoch gegriffen ist, geht unzweifelhaft aus früher
gebrachten (Heft 24. S. 331), durch genauere
Zählungen gewonnene Zahlen hervor. Nach diesen
wurden (Blätter für Kleingartenbau) an den Blüten
eines Obstbaumes gezählt : 88 "Ig Bienen, 5 ^/^ "/j,
wilde Bienen und Hummeln, ö'/» "0 Fliegen, Wespen,
Ameisen, Käfer u. a. Insekten, und nach der
Internationalen agrartechnischen Rundschau sind
von den blütenbesuchenden Insekten überhaupt:
73 "/q Bienen, 21 "/„ Hummeln und einzeln lebende
Hautflügler und nur 6 "/g andere Insekten. Nach
diesen Beobachtungen würde sich also der Anteil
der Biene sogar auf %^Vn stellen. Jedenfalls ist
die überragende Bedeutung der Hautflügler und
unter diesen besonders der Biene als ßestäuber
vor allen anderen Insekten klar erwiesen.
Um nun den Gesamtnutzen aller Besfäuber
zusammen weiter auf Grund des obigen Zahlen-
materials feststellen zu können, muß noch dieses
ergänzt werden, da es auf die Biene zugeschnitten
ist. Vor allem kommt noch der von Bienen wenig,
dagegen besonders aber von Hummeln beflogene
Rotklee dazu, dessen Samenertrag auf 26 299000 M
anzusetzen ist. Wie nützlich die in weiteren
Kreisen vielfach verkannten Hummelarten sind,
erläutert diese Zahl nebenher I
Der Gesamtnutzen der Insekten als
Bestäuber stellt sich also mithin für
Deutschland auf rund 300 Mill. M.
Bern er glaubt nun mit Hilfe dieses Zahlen-
materials wie folgt weiter schließen zu dürfen.
Setzt man für Rußland, Österreich-Ungarn, Frank-
reich und die übrigen europäischen Staaten je
ebensoviel an, ergibt sich für Europa eine Summe
von 1800 Mill. M, und setzt man für die übrigen
Erdteile nur das Doppelte, würde sich der Ge-
samtnutzen der Insekten als Bestäuber
fürdie ganzeErde auf rund 5 MilliardenM
das Jahr stellen. Olufsen.
Ein Beitrag zur Biologie der Schwebefliegen.
Die Schwebefliegen oder Syrphideii, deren Larven
als Blattlausfeinde oder als Vertilger der Larven
zahlreicher Schadinsekten aus der Familie der
Hautflügler {Hyiitcnoptercii) nützlich wirken,
müssen wohl als die besten Flieger unter allen
Zweiflüglern (Dipteren) bezeichnet werden. Sie
an heißen Sommertagen in der Luft sekundenlang
an ein und derselben Stelle nach Art eines Falken
„rüttelnd" stehen zu sehen oder sie bei ihrem
eifrigen Getümmel auf Blüten zu beobachten,
bietet für jeden Naturfreund hohen Reiz, um so
mehr als viele Vertreter der Schwebefliegen höchst
farbenprächtig gefärbt sind und treffliche Beweise
einer meisterlichen Mimikry darstellen. So ähnelt
das sog. „Fleckfell" oder wie der alteBrehm
sie nannte, die „Durchscheinende Flatter-
fliege" {Voliicella pell/icciis L.) sehr der Erd-
hummel [Buiiibiis terrestris L.) und unterscheidet
sich von ihr eigentlich nur dadurch, daß sie
weniger eilig umherfliegt, wie die eifrig ihrer
Sammeltätigkeit obliegende Hummel. Das Fleck-
fall nährt sich vom Blütenhonig, den sie mit
ihrem langen Rüssel saugt. Diese SyrpJiide legt
ihre Eier, wie neuerdings Wilhelm Schuster
(Heilbronn) beobachten konnte (Entomolo-
gische Zeitschrift Frankfurt a. M. 31. Jahrg.
1917 Nr. I, 2 und 4), in Wespennester, wo
die mit Stacheln bewehrten gelblichweißen Larven
die Wespenbrut vertilgen. Daneben sollen die
Fleckfell Larven auch noch in den Nestern der
Hornisse ( Vespa crabro L.), ja nach Schuster 's
Annahme auch in denen ihrer Doppelgängerin
der Erdhummel, schmarotzen. Das ausge-
wachsene Insekt ist schön schwarz gefärbt mit
einem milchweißen Band am Hinterleib und hält
sich vornehmlich an sonnigen, geschützten Wald-
rändern auf, wo es gern auf einer Blüte oder auf
einem Blatte sitzt und nur von Zeit zu Zeit seinen
Standort wechselt. Als Feinde der Flatterfliege
kommen wohl nur Vögel in Betracht, die auch
Hummeln und Wespen nicht verschmähen: das
wären vornehmlich die Würgerarten, vor allem
der rotrückige Würger! Lanius collurio) und
derWespenbussardI Pcnih apivoriis Gray). Die
Mimikry des Pleckfells schützt die Tiere demnach sehr
vor Nachstellungen, da es ja unter der Vogelwelt zahl-
reiche Fliegenfänger eibt. In den Weinbergen ist die
Flatterfliege durch die Befruchtung der Weinblüte
wie alle Fliegen ein ausgesprochen nützliches In-
sekt. Noch eine 2. Schwebefliege hat Schuster
in den Kreis seiner Untersuchungen einbezogen:
die gebänderte Seh webe fliege [Syrphus
pyras/n'h.). Diese Schwebefliege ist von weniger
gedrungenem Bau wie das Fleckfell, ihre Grund-
färbung ist schwarzblau glänzend „mit 6 weiß-
N. F. XVI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
691
liehen mondförmigen Flecken an den Hinterleibs-
seiten". Ihr ist das sogenannte Rütteln besonders
eigen; dabei ist ein ausgesprochener Anemo-
tropismus (Wind wendigkeit) zu erkennen : „beim
Schweben werden die Flügel überaus rasch auf
und nieder bewegt, der wagerecht stehende Körper
dabei aber so gerichtet, daß der Kopf gegen den
Luftstrom gerichtet ist". Einen besonderen Zweck
scheint das Insekt dabei aber nicht zu verfolgen,
das Erspähen einer Beute scheidet bei der Lebens-
weise der Schwebefliegen von vornherein aus.
Die Larven dieser Syrp/iiJc zählen zu den Blatt-
lausfeinden. Um deswillen übertrifft die Nützlich-
keit von Syrphus pyrastri diejenige von Voliicella
pellucens um ein Bedeutendes.
H. W. Frickhinger.
Physik. Wird reine mit Wasserdampf gesättigte
Luft abgekühlt am besten dadurch, daß man plötz-
lich ihr Volumen vergrößert, dann tritt in den
meisten Fällen keine Kondensation des über-
schüssigen Dampfes ein; das Wasser bleibt viel-
mehr dampfförmig, die Luft ist dann mit Dampf
übersättigt. Für den Übergang in den flüssigen
Zustand ist das Vorhandensein von Konden-
sationskernen nötig, die als Ansatzstellen für
die sich bildende Flüssigkeit dienen. Sind diese
vorhanden, dann wird der Grad der Übersättigung
herabgesetzt und zwar um so mehr, je größer die
Kerne sind. Lenard hat in einer Untersuchung
über die Probleme komplexer Moleküle^)
die Ansicht ausgesprochen, daß die Nebelkerne
komplexe Moleküle seien, also Zusammen-
lagerungen von Molekülen des Gases bzw. vor-
handener Dämpfe, die sich bei den Zusammen-
stößen bilden und die durch die Molekularkräfte
so fest zusammengehalten werden, daß sie u n -
verdampfbar sind. Eine in den Ann. d. Phys. 52
(191 7) S. I — 71 veröffentlichte Arbeit von L.
Andren beschäftigt sich mit der Zählung und
Messung der komplexen Moleküle einiger Dämpfe
nach der neuen (Lenard'schen) Kondensations-
theorie.
In einer Glaskugel befindet sich die mit
Wasserdampf gesättigte Luft, durch plötzliche
Druckverminderung wird sie expandiert. Das
durch eine Linse gesammelte Licht einer kräftigen
Bogenlampe dringt von der Seite her in die Kugel
und beleuchtet hell die Nebeltröpfchen; senkrecht
in den Lichtstrahlen wird durch eine Lupe be-
obachtet. Durch Anbringung je einer Blende an
den beiden Linsen wird ein kleiner Beobachtungs-
raum von meßbarer Größe ausgesondert. In diesem
werden die Nebeltröpfchen gezählt und ihre Zahl
auf den Kubikzentimeter umgerechnet. Ist die
Nebelwolke so dicht, daß eine Zählung unmöglich
ist, dann wird die Fallgeschwindigkeit des Nebels
gemessen und aus ihr nach dem Stokes'schen
Gesetz der Radius des Nebeltröpfchens bestimmt.
Aus dem Volumen desselben und der Gesamt-
menge des abgeschiedenen Nebels, die sich be-
rechnen läßt, wird dann die Zahl der l'röpfchen
bestimmt. Die folgende Tabelle gibt im Auszug
eine Beobachtungsreihe wieder, die an Wasserdampf
in Luft erhalten wurde.
E
ü
Ro-io«cm
N
1,253
4,12
I 8,09
< I
1.314
5,89
6,67
470
1.365
7,74
5,82
2050
1,397
9,12
5.43
29700
1,417
9,94
5,26
41200
1,436
11,20
5,01
102000
1,508
15,34
4,48
99200
') Vgl. das Refc
(1915) S. 716.
der Naturw. Wochenschr. XIV
Die erste Spalte enthält die Expansion E., d. i.
das Verhältnis der Volumina nach und vor der
Expansion, die zweite die Übersättigung, die nächste
den nach einer von W. Thomson aufgestellten
Formel (s. u.) berechneten Radius der Nebeltröpf-
chen und die letzte die Zahl der Tröpfchen in
I cm^. Aus der Tabelle geht hervor, daß wenn
die Luft weniger als viermal mit Wasserdampf
übersättigt ist, eine Nebelbildung nicht eintritt;
mit wachsender Übersättigung steigt die Tröpfchen-
zahl anfangs allmählich, dann von der Übersättigung
7 an schnell an, um schließlich bei Übersättigungen
von 1 1 und darüber sich einem konstanten Wert
zu nähern. Die Radien der Tröpfchen nehmen
allmählich ab, der abgeschiedene Nebel wird also
immer feiner. Daraus daß das N nicht über 1 00 000
steigt, geht hervor, daß dies die Höchstzahl der im
Kubikzentimeter enthaltenen Anzahl von Kernen ist.
Um über die Natur der Kerne Aufschluß zu gewin-
nen, wird eine in dem oberen Teil des Kondensa-
tionsgefäßes angebrachte Platinplatte mit dem posi-
tiven Pol einer Akkumulatoren Batterie verbunden,
während der negative mit dem in unterm Teil des
Gefäßes vorhandenenWasser inVerbindunggebracht
wird. Die Spannung variiert zwischen i u. 300 Volt.
Die Versuche ergeben, daß jetzt erst bei Über-
sättigungen von 5 die ersten Tröpfchen vom Radius
R = 7,14- 10""" cm sich bilden und daß ihre Zahl
erst langsam, dann schneller steigt. Das Feld hat
mithin sämtliche größeren Kerne entfernt, diese
müssen also elektrisch geladen sein, während
der Rest, der nicht durch das F"eld eingefangen
wird, unelektrisch ist. — Wiederholt man die Ver-
suche, deren Ergebnis in der Tabelle oben dar-
gestellt sind, nachdem der gebildete Nebel und mit
ihm die Kerne sich gesenkt haben, dann findet
man immer wieder nahezu dieselbe Anzahl von
Kernen. Daraus geht hervor, daß sehr schnell
eine Neubildung stattfinden muß. Diejenigen Kerne,
die elektrische Ladung tragen, bilden sich unter
dem Einfluß der durchdringenden, überall auf der
Erde nachweisbaren radioaktiven Strahlung. Ihre
Zahl ergibt sich aus den Versuchen zu 900 pro
692
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
Kubikzentimeter, sie haben positives und negatives
Vorzeichen. Es müssen sich pro Sekunde und
Kubikzentimeter etwa 0,4 bilden, was der Größen-
ordnung nach mit dem in der freien Atmosphäre
beobachteten Wert übereinstimmt. Erhöht man
künstlich die Kernzahl dadurch, daß man die
Luft von außen mit radioaktiven Präparaten (es
wurden drei von verschiedener Stärke benutzt)
bestrahlt, dann hat dies eine starke Vermehrung
der Tröpfchen auch bei niedrigeren Übersättigungen
zur Folge. Es ist anzunehmen, daß nebenden elek-
trisch geladenen Strahlen wenigstens ein Teil der-
selben aus unelektrischen chemischen Reaktions-
produkten der Strahlung etwa O.. oder H.,0., be-
steht; doch sind es nicht mehr als 0,1 "/,,. Daß
die elektrisch geladenen Kerne, auch Träger ge-
nannt, besonders groß sind, erklärt sich aus den
elektrischen Anziehungskräften, die sie auf die be-
nachbarten Moleküle ausüben.
Eine Wiederholung der Versuche mit Wasser-
dampf in Kohlensäure und in Wasserstoff ergibt
das gleiche Resultat wie in Luft; das Gas hat
also auf die Natur der Kerne keinen
Einfluß. Expandiert man dagegen Alkohol- oder
Benzoldampf in Luft, dann ergeben sich wesent-
lich andere Werte. Zahl und Größe der Kerne
ist eine Funktion des Dampfes; sie bestehen
demnach aus aneinandergelagerten —
komplexen — Molekülen des Dampfes.
Legt man sich nun die Frage vor, warum es
überhaupt der Kerne bedarf, damit eine Nebel-
bildung stattfindet, ferner warum die Kondensation
an größeren Kernen eher d. h. bei geringerer
Übersättigung erfolgt als an kleineren, dann gibt
darüber die I3etrachtung der Dampfspannung
Aufschluß. Damit eine Flüssigkeit verdampft, ist
es nötig, daß die Spannkraft ihres Dampfes gleich
dem auf der Flüssigkeit lastenden Druck ist. Um-
gekehrt findet Kondensation von Dampf an einer
Flüssigkeitsoberfläche nur dann statt, wenn die
Dampfspannung der Flüssigkeit nicht größer ist
als die des Dampfes. Denn ist die erstere größer,
dann findet ja Verdampfen der Flüssigkeit statt.
Nun zeigt es sich, daß die Krümmung der
Flüssigkeitsoberfläche von großem Einfluß auf die
Spannkraft des Dampfes ist; an einer konkaven
Oberfläche ist die Spannkraft kleiner,
an einer konvexen größer als als einer
ebenen Oberfläche. Durch folgenden Ge-
dankenversuch läßt sich das nachweisen : Taucht
ein Kapillarrohr in Wasser, dann steigt die Flüssig-
keit in ihm in die Höhe und bildet einen nach
oben konkaven Meniskus. Da der Luftdruck an
der gehobenen Oberfläche kleiner ist als an der
tiefer liegenden ebenen, müßte, wenn in beiden
Oberflächen die Dampfspannungen gleich wären,
ein stärkeres Verdampfen in der Kapillare statt-
finden. Denkt man sich den Versuch in einem
kleinen verschlossenen Raum ausgeführt, dann
würde eine fortwährende Destillation stattfinden,
indem Flüssigkeit oben verdunstet und sich an
der ebenen Oberfläche wieder kondensiert. Das
ist aber nach dem Energiegesetz nicht möglich.
Es darf also an der konkaven Oberfläche kein
stärkeres Verdunsten stattfinden, folglich muß hier
die Spannkraft kleiner sein als an der ebenen. An
einer kleinen Kugel erfolgt also wegen der ge-
steigerten Spannkraft des Dampfes eine Konden-
sation schwerer als an einer ebenen Wasserober-
fläche und zwar um so schwerer, je kleiner die
Kugel ist. Die von William Thomson schon
vor längerer Zeit ausgeführte theoretische Berech-
nung ergibt für die Dampfspannung an der Ober-
fläche einer Kugel vom Radius R den Wert
p' = p-e — ^, wo ß die Konstante der Ober-
' ^ p. R
Oberflächenspannung, e die Basis der natürlichen
Logarithmen, h eine Konstante und p die Dampf-
spannung an ebener Oberfläche bedeutet. Man
sieht, daß für R = 00 (ebene Oberfläche) p' = p,
dagegen R = O p' = c» wird.
Diese Formel stellt nun die Verhältnisse nicht
richtig dar; sie bedarf an zwei Stellen der Ver-
besserung. Nach den Lenard'schen Anschau-
ungen, die durch die mitgeteilten Versuche eine
wertvolle Stütze erhalten haben, sind Nebelkerne
komplexe Moleküle des Dampfes, die unverdampf-
bar sind. Schlagen sich an dem Kern Wasser-
moleküle nieder, so erfahren dieselben durch die
von dem kompakten Kern ausgeübten Kräfte eine
besonders kräftige Anziehung, die sicher größer
ist als in einer ebenen Oberfläche, in der die
komplexen Moleküle sehr selten sind. Die Folge
ist, daß nicht die Oberflächenspannung a, sondern
ein größerer Wert n« (n > i) einzusetzen ist.
Die Größe von n hängt u. a. von der Dicke der
den Kern umgebenden Molekülschicht ab. Ist
der Kern nicht vollkommen von Molekülen, die
sich an ihm kondensiert haben, umgeben, dann
ist ein Teil Oj seiner Gesamtoberfläche O unver-
dampfbar, da sie ja von dem unverdampfbaren
Kern gebildet wird. Das wirkt verkleinernd auf die
Dampfspannung und zwar wird sie um den
Faktor ^ verkleinert. Die verbesserte Formel
lautet demnach p'
■ p-e
Daß sie in
sehr befriedigender Überstimmung mit der Erfah-
rungist, wird in der And ren'schen Arbeit gezeigt.
Als Ergebnis kann zusammenfassend hervor-
gehoben werden: In jedem Dämpfe enthaltenden
Gase sind Kerne vorhanden, die ganz vorwiegend
aus Molekülen des Dampfes bestehen. Sie zeigen eine
kontinuierliche Größenverteilung. Die größten sind
elektrisch (-|- und — ) geladen, sie entstehen unter
dem Einfluß der durchdringenden Strahlung; ihre
Zahl beträgt im Gleichgewicht etwa 900 pro cm*.
Es finden sich auch große unelektrische Kerne
(etwa 90 im cm*), die als chemische Reaktions-
produkte der durchdringenden Strahlung anzu-
') Mittels dieser Formel sind die in der oben angeführten
l'abelle enthaltenen Radien der Tröpfchen berechnet.
N. F. XVI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
693
sprechen sind. Die überwiegende Zahl der Kerne
ist unelektrisch und kleiner, sie bestehen meistens
aus 2 oder 3 normalen Dampfmolekülen. Ihre
Anzahl ist bei jeder Temperatur für jeden Dampf
fest bestimmbar. Sie beträgt bei Wasser ca.
1,9- 10-" ",'(,, bei Alkohol ca. 2,5-10-"% und bei
Benzol ca. 0,8 • lO"" % der überhaupt vorhandenen
Dampfmolekülzahl, ist also prozentisch sehr gering,
absolut jedoch ziemlich groß, nämlich noooo
bzw. 340000, 190000 im Kubikzentimeter. Die
unelektrischen komplexen Moleküle sind — auch
beim Fehlen der durchdringenden Erdstrahlung
— stets im Dampf vorhanden; sie sind demnach
jeweils für den betreffenden Dampf charakte-
ristisch. K. Seh.
Geologie. Die Beschaffung von Rohstoffen
des Bodens für militärische Erfordernisse bespricht
Major z. D. W. Kranz in der Zeitschr. f. prakt.
Geologie 1917, Heft 4.
Infolge längerer Dauer des Krieges ist man
zum Abbau mancher im Frieden brachliegender,
nicht wettbewerbfähiger Erzlagerstätten genötigt
worden. Alte Halden tut man bisweilen noch-
mals umschmelzen.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Kriegs-
geologen ist es, nach erfolgter Besetzung eines
Landstriches denselben auf Nutzung und Auf-
schließung seiner Bodenschätze zu untersuchen.
Für den Ausbau der Kampffronten des Stellungs-
krieges sind die zum Betonieren, Stellungs-,
Straßen-, Wege- und Bahnbau erforderlichen
Rohstoffe wie Kies, Sand, Steinschlag, Bruch-
steine aus möglichster Nähe zu beschaffen, wobei
Vollbahnen tunlichst gemieden werden sollen.
Zement und gebrannter Kalk müssen in fertigem
Zustande den Truppen geliefert werden. Eine
Bevorzugung bestimmter Gesteine oder Kiessande,
wie es im Frieden der Fall war, ist zu unter-
lassen. Maßgebend sind die Eigenschaften, die
im Festungs- und Stellungsbau von Beton verlangt
werden. Beton hat im F'elde hauptsächlich den
aufschlagenden Geschossen Widerstand zu leisten.
Die Betonstärke auf Geschoßwiderstand ist aus der
Erfahrung abzuleiten. Güte und Brauchbarkeit
des Betons läßt sich nach seiner Druckfestigkeit
beurteilen.
Straßenschotter soll möglichst zäh und
wetterbeständig sein. Allzu große Härte ist zu
vermeiden, da Fahrzeuge und Zugtiere auf harten
Straßen leiden. Basalt, Diabas, Melaphyr und Gabbro
wird man nur im Notfalle verwenden, ebenso Kalk
und Dolomit wegen Schlamm- und Staubentwick-
lung, sowie geringer Härte.
Pflasterungen wendet man auf Truppen-
übungsplätzen und Kasernen an, nicht dagegen im
Stellungskriege, wo Pflastersteine die Wirkung
einschlagender Granaten erhöhen.
Zur Herstellung von Kriegergrabmalen
bedarf man Gesteinsarten, die neben gefalligem
Aussehen auch wetterbeständig sein müssen.
Zweckmäßig wendet man beim Fehlen entsprechen-
der Gesteine Beton an. (G^C.) V. Hohenstein.
Heilkunde. Der Spargel als Heilmittel.')
Stabsarzt Dr. May halte als Chefarzt eines Re-
servelazarettes Gelegenheit, zu Anfang des Jahres
1916 in vier Monaten etwa lOO Fälle von Nieren-
entzündung zu beobachten. Etwa 80% wiesen
Blut im Urin auf, die Eiweißausscheidung war zum
Teil bedeutend. Die Krankheit zeigte sich ziem-
lich hartnäckig, jedes Aufstehen nach anscheinender
Besserung brachte neue Blutungen und erneute
Eiweißausscheidung. Da gelang es, für das La-
zarett größere Abschlüsse auf billigen Spargel zu
machen. Jeder Kranke erhielt jetzt zweimal täg-
lich je Y Pfund in verschiedener Zubereitung.
Schon nach kurzer Zeit zeigte sich die wohltätige
Wirkung. Die Eiweißausscheidung ging zurück,
die Blutungen hörten auf, und beide Erscheinungen
stellten sich auch nach dem Aufstehen nicht
wieder ein. .Spargelkonserven wirkten in derselben
Weise, wenn auch nicht so schnell. Wie der
Spargel wirken an frischem Gemüse der Spinat
und Salat, ferner Bohnen- und Erdbeerblättertee
und Wacholdersirup. Heycke.
') Münch. mediz. Wochenschrift 1917. Nr. 26.
Bticherbesprechungen.
Sarasin, Fritz, Streiflichter ausderErgo-
logie der Neu-Kaledonier und Loyalty-
Insulaner auf die europäische Prä-
historie. 26 S. mit 23 Abb. Basel 1916.
Birkhäuser.
Die Tatsache ist bereits allgemein anerkannt,
daß der Schlüssel zum Verständnis sehr vieler in
der europäischen Prähistorie uns entgegentreten-
der Erscheinungen nur durch Vergleichung mit
den Sitten und Geräten noch lebender primitiver
Völker gefunden werden kann. Deshalb hat
Sarasin während seines Aufenthaltes auf Neu-
Kaledonien und den Loyalty-Inseln im Stillen Ozean
mit besonderer Sorgfalt auf ergologische Analogien
mit prähistorischen Erscheinungen geachtet und
er macht in der vorliegenden Abhandlung auf
einige solche aufmerksam, deren Kenntnis für den
Urgeschichtsforscher lehrreich sein dürfte. Aus
den von dem Autor behandelten Fällen seien hier
zwei als Beispiele kurz erwähnt. Im Delta des
Diahotflusses auf Neu-Kaledonien, auf grauem,
halbhartem Boden, ist rechtsuferig eine St ein-
reihe von etwa 220 Meter Länge zu sehen. Die
Steine folgen sich in Abständen von etwa 4- 5 Metern.
694
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
Es sind formlose, aufgelesene Feldsteine, aus Quarz
oder alten Schiefern bestehend, mit Ausnahme eines
einzigen, des vierten, vom Südende der Reihe an
gerechnet, der wie ein Meilenstein oder kleiner
Menhir gestaltet ist, und auch mehr als die übrigen
über den Schlammboden hervorragt. Die Ein-
geborenen kennen die Bedeutung dieser Steinreihe:
Nach ihrer übereinstimmenden Aussage ist es ein
Siegesdenkmal und jeder Stein bedeutet einen ge-
fallenen oder verspeisten Feind, der größte, menhier-
artige, den Häuptling. Ein zweites, viel ausge-
dehnteres Denkmal derselben Art befindet sich
in der Gegend von Bonde, wo 142 in einer Reihe
stehende Blöcke die Zahl der durch den Stamm
der Bonde in einer Schlacht gegen die Leute von
Gomen, Koumac und Arama darstellen. Das Alter
dieser Steinreihen ist nicht mehr genau zu be-
stimmen, dasjenige des Denkmals am Diahot kann,
angesichts der geologischen Verhältnisse des Ortes,
kein hohes sein. Diese Steinreihen scheinen
Sarasin eine unverkennbare Analogie zu bilden
zu den in weit größeren Dimensionen auftretenden
„Alignements" der Bretagne. Die Übereinstim-
mung ist in die Augen springend, wenn auch die
Zahl der Blöcke in den französischen Monumenten
eine viel größere ist und die Maße der Blöcke
bedeutendere sind. Es ist nicht allzukühn den
französischen Steinreihen, über deren Bedeutung
so viel gestritten worden ist, denselben Sinn zu-
zuschreiben wie den kaledonischen und sie gleich-
falls als Siegesdenkmäler aufzufassen. Sarasin
bemerkt weiter, daß die französischen Steinreihen
häufig in Verbindung sind mit besonderen Stein-
setzungen von runder, seltener rechteckiger Form,
den Cromlechs. Es ist denkbar, daß diese aus
verhältnismäßig wenigen Blöcken bestehenden
Setzungen, auf welche die Steinreihen zuführen,
ursprünglich das Andenken an gefallene Häupt-
linge festhalten sollten und daß aus diesen erst
später die runden Tempelbauten ohne begleitende
Sieinreihen, wie der berühmte Stonehenge und
viele andere, hervorgegangen sind.
In Neu-Kaledonien spielen Zaubersteine
eine außerordentlich große Rolle. Fast jeder auf-
fallend geformte Stein erscheint dem Kaledonier
als etwas mit besonderen Kräften begabtes, wobei
gedacht wird, daß solche Gebilde von Dämonen
oder Ahnengeistern hergestellt und von diesen
dem glücklichen Finder übermittelt worden sind.
Die mit diesen Steinen ausgeführten Zauberhand-
lungen werden denn auch unter Anrufung der
Ahnengeister und Darbietung von Opfergaben an
den heiligen Stätten vorgenommen. In Verbindung
damit weist Sarasin auf die in sehr vielen
Stationen, vornehmlich in denen des Magdalenien
anzutreffenden Versteinerungen, Ammoniten,
Muscheln usw., als auch seltsam geformten oder
durch Material und Farbe auffallenden Steine hin.
Diese wurden bisher immer als Kuriositäten oder
als Schmuckgegenstände aufgefaßt. Doch ist es
nach Analogie mit den neukaledonischen Verhält-
nissen mehr als wahrscheinlich, daß diese Fossilien
und fremdartig geformten oder gefärbten Steine
von Leuten gesammelt wurden, weil sie ihnen
übernatürliche Kräfte zuschrieben und daß diese
Annahme den Grund zu ihrer Aufbewahrung
bildete. — Es wäre sehr zu wünschen, wenn
reisende Völkerforscher mehr, als dies bisher ge-
schehen ist, ihr Augenmerk auf ergologische
Parallelen zwischen primitiven Völkern und unseren
eigenen Paläo- und Neolithikern richten. Es ist
von dieser Seite ohne jeden Zweifel noch sehr
viel zur Erhellung unserer Urgeschichte zu er-
warten. H. Fehlinger.
Keibel, Franz, Über experimentelle Ent-
wicklungsgeschichte. Rede, gehalten am
27. Januar 1917 zur Feier des Geburtstages Sr.
Majestät des Kaisers in der Aula der Kaiser
Wilhelms-Universität Straßburg. 30 S. Straß-
burg 1917, Verlag von J. H. Ed. Hehz. Preis:
geh. 1 M.
Keibel bespricht in seinem Vortrage an der
Hand einiger entwicklungsgeschichtlicher Experi-
mente — Aufzucht mehrerer Individuen aus künst-
lich getrennten Blastomeren eines Eies, Transplan-
tation der Retinaanlage, Regeneration der Linse
— die allgemeineren und wichtigeren Folgerungen,
die sich aus ihnen ergeben. Die Resultate der
experimentellen Entwicklungsgeschichte harmo-
nieren nicht mit Weismann's Präformations-
und Derminantenlehre, sie sprechen gegen dieLehre
von der erbungleichen Teilung der Erbmasse.
Wenn nun aber alle Zellen des Organismus die
gesamte Erbmasse erhalten, so erhebt sich die
Frage, welche Faktoren die Differenzierung der
Zellen in der Weise regulieren, daß als Produkt
der Entwicklung ein in sich harmonischer höherer
Organismus zustande kommt. Und weiterhin müssen
wir uns fragen, warum nicht wieder aus jeder
Zelle, wie aus den Keimzellen, ein ganzer Orga-
nismus entstehen kann. Ist uns auch eine volle
Antwort auf diese beiden Fragen heute noch
nicht möglich, so glaubt Keibel doch, daß wir
bereits einige Andeutungen geben können, in
welcher Richtung beide Fragen zu lösen sind. Bei
der Entwicklung der Tiere wirken äußere und
innere Faktoren zusammen. Zu den äußeren
Faktoren zählen unter anderen die Temperatur,
der Sauerstoffgehalt der Luft, die Nahrung. Bei
den inneren Faktoren können wir innerhalb
des Kernes und außerhalb, im Zytoplasma
gelegene Bedingungen unterscheiden. Im Kern
ist die eigentliche Erbmasse lokalisiert. Von
dieser hängt es in erster Linie ab, was aus einem
Ei entsteht, jedoch spielen sicherlich auch die
außerhalb des Kernes gelegenen Bildungen bei
der Entwicklung eine große Rolle. Sie bilden zum
Teil wenigstens die Grundlage für die funktionelle
Differenzierung der Zellen. Diese funktionelle
Differenzierung hinwiederum ist wohl der Haupt-
grund, daß den Somazellen in der Regel die
Möglichkeit zur Erzeugung neuer Organismen
verloren geht. Die Somazellen nutzen sich ab,
N. F. XVI. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
695
sie altern. Keibel beschließt seine Ausfüh-
rungen mit einigen Reflexionen über die mecha-
nistische und die vitalistische Betrachtungsweise
in der Biologie. Gegenüber Roux's Mechanismus
betont er den prinzipiellen Unterschied zwischen
belebter und unbelebter Natur, ohne jedoch anderer-
seits den Weg zu gehen, den Driesch mit seiner
Entelechienlehre der Biologie zu weisen sucht.
Nachtsheim.
Dessoir, Max, Vom Jenseits derSeele. Die
Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung.
Stuttgart 191 7. II M.
In einer Reihe von Aufsätzen rückt der Ver-
fasser das merkwürdige und seltsam bunte Gebiet
der sogenannten Geheimwissenschafien in die
helle Beleuchtung seiner auf ausgedehnte Erfahrung
gegründeten Kritik, jenes Gebiet menschlicher
Geistestätigkeit (oder auch ganz und gar ungeistiger
Betätigung), das je nach dem Standpunkte als
Quelle tietster Offenbarungen oder als ärgste Ver-
irrung, ungesunde Phantasterei oder glatter Schwin-
del bezeichnet wird. Seine Bemühungen bleiben
nicht bei der negativen Seite des Widerlegens und
der kritischen Analyse der angeblichen okkulten
Tatsachen stehen, sondern als Forscher sucht er
in den psychologischen Untergrund hineinzudringen,
aus dem ihre so merkwürdig verdeutete Form
hervorwächst, soweit sie dazu überhaupt einen
Anlaß bieten. So sucht er gleich in der Einleitung
diese prinzipiellen Dinge an dem Beispiel der
Amerikanerin Piper zu klären, indem er eine
allgemeine Auseinandersetzung über die im Unter-
bewußtsein verlaufenden psychischen Vorgänge
gibt, die er seinerzeit als parapsychische bezeichnet
hat. Sie liegen vielen Phänomen okkulter Natur
als auch anderen, zu verschiedenen Zeiten und in
verschiedenem Milieu sich verschieden gebärdenden
magischen, übersinnlichen Äußerungen, Inspira-
tionen usw. zugrunde. Daneben sind es aber
auch ganz allgemein und tief im Menschen, nament-
lich im naiven, wurzelnde bewußte seelische
Elemente, die immer wieder zur Magie hindrängen,
wie z. B. der Wunsch, von der physikalischen Ge-
setzlichkeit der Umwelt befreit zu sein. Die fol-
genden Kapitel sind nun im einzelnen der Para-
psychologie, d. h. der Lehre von den seelischen
Erscheinungen, die hinter der Oberfläche des Be-
wußtseins verlaufen, und der Aufzeigung der Ver-
bindung parapsychischer Phänomene mit den ver-
schiedenen okkulten Problemen gewidmet. Traum
und Hypnose, seelischer Automatismus, seelisches
Doppelleben, Fernwirkung und Fernsehen, diese
Stichworte mögen auf den äußerst interessanten
Inhalt hinweisen. In dem folgenden Abschnitt teilt
dann der Verfasser seine Erfahrungen über den Spiri-
tismus mit, wie er sie in Sitzungen mit Henry
Slade, der Eusapia Palladino und ihrer
deutschen Kollegin Anna Rothe gewonnen hat,
und fügt eine besondere Auseinandersetzung über
spiritistische Täuschungen bei. Hier ist auch ein
Versuch über die Psychologie der Taschen-
spielerkunst zu finden, sowie die Technik der
Medien beschrieben. Im nächsten Abschnitt wird
der Leser in das krause Gebiet der Kabbalistik
geführt, das Reich der schnurrigen theologischen
und philologischen Wortdeuter, woran sich dann
eine Auseinandersetzung mit den Theosophen,
Rassenmystikern, Gesundbetern, Neubuddhisten
usw. schließt.
Der Schlußteil des Buches ist dann wieder
allgemein theoretischer Natur; der Verfasser führt
hier den geschichtlichen Nachweis, daß der Ge-
dankenkreis aller Geheimwissenschaften sich mit
ursprünglichen Versuchen zu einer idealistischen
Weltanschauung deckt, die als eine Art atavistischen
Relikts neben der reineren fortgeschrittenen Form
des Idealismus erhalten geblieben ist, und behandelt
ferner die methodischen Grundlagen der primitiven
Geheimwissenschaften.
Die Untersuchungen des Verfassers führen,
nach seinen eigenen Worten, zu der Überzeugung,
daß „die Geheimwissenschaft eine Mischung aus
falschen Deutungen gewisser seelischer Vorgänge
und falsch gewerteten Überbleibseln einer ver-
schwundenen Weltanschauung" ist. Fruchtbare
Ansätze zu neuen Forschungsgebieten oder zur
Erweiterung vorhandener bietet ihr materieller
Inhalt nicht, wohl aber ist der Okkultismus ein
belangreiches kulturhistorisches, psychologisches
und, wie man wohl noch hervorheben könnte,
auch psychiatrisches Untersuchungsobjekt. Die
kritische Analyse, historische Einordnung, psycho-
logische Fundamentierung, kurz die Erhellung des
gesamten schwülen und dunstigen okkulten Hori-
zontes, ist aber überdies von praktischer Bedeutung
auf dem Gebiete der geistigen Hygiene. Zwar
haben sich viele infolge ihrer eigenartigen seelischen
und geistigen Verfassung so tief in die Welt
des Mystik verstrickt, daß sie auch die Fackel der
kritischen Forschung nicht wieder in die Wirk-
lichkeit zurückzuführen vermag, bei vielen anderen
ist es aber nur der Mangel eigenen Urteils, oder
auch eine gewisse Halbbildung, oft aber auch eine
redliche, wenn auch verschroben-übertriebene Ob-
jektivität, die sie der starken suggestiven Kraft
der Magie erliegen läßt. Solchen sei das Dessoir-
sche Buch besonders empfohlen. Insbesondere ist
es dankbar zu begrüßen und durchaus nicht über-
flüssig, wenn das große Publikum immer wieder
Gelegenheit bekommt, den Wert wahrer Wissen-
schaftlichkeit und wissenschaftlich- kritische Denk-
weise kennen zu lernen. Denn das große PubHkum
ist oft sehr undankbar, es genießt die tausend-
fältigen Segnungen, die die entsagungsvolle, müh-
same Arbeit ganzer Generationen von Jüngern
der echten Wissenschaften ihnen geschenkt hat,
und erliegt doch gar zu leicht und leider auch
zu gerne dem Einfluß falscher Propheten, ja be-
teiligt sich dann oft und unbedenklich an ihren
typischen Ausfällen gegen angebliche Rückständig-
keit, Einbildung und brutale Herrschsucht der
legitimen Wissenschaft. Miehe.
696
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 49
Emil Abderhalden, DieGrundlagen unserer
Ernährung unter besonder er Berück-
sichtigung der Jetztzeit. Mit 2 Text-
figuren. Berlin 191 7. J. Springer. 2,80 M.
Über die Grundlagen unserer PIrnährung und
demgemäß über ihre zweckmäßige Regelung
herrschen im allgemeinen nur sehr unklare An-
schauungen. Äußerte doch, nebenbei bemerkt,
neulich ein gebildeter Mann mir gegenüber, Zucker
wäre doch gar kein Nährstoff, sondern ein Genuß-
mittel 1 Desgleichen kann der, der einmal als
Naturforscher die Geheimnisse der Küche zum
Forschungsobjekt macht, mancher Sinnlosigkeit
und manchem Aberglauben begegnen. In normalen
Zeiten spielen diese freilich keine allzugroße Rolle,
mit reichlichen Mitteln kann jeder schließlich etwas
ausreichendes zusammenkochen, wohl aber fordern
Zeiten der Knappheit und des genauesten Ein-
teilens die Hilfe solider Kenntnisse und vernünf-
tiger Grundbegriffe. Diese zu vermitteln, ist der
Physiologe der berufene und wir müssen einem so her-
vorragenden, wie es Abderhalden ist, dankbar
sein, daß er einem weiteren Publikum in der vor-
liegenden Schrift über die Prinzipien der Ernäh-
rungsphysiologie Aufklärung gibt. Er kennzeichnet
die verschiedenen Nahrungsstoffe, erörtert ihre
Herkunft, ihr Schicksal, wenn sie unseren Ver-
dauungskanal passieren, ihre notwendigen Mengen,
ihre Bedeutung als Zellbaustoffe, ihre Ausnutzbar-
keit und vieles andere mehr. Vielfach wird, be-
sonders dann im .Schlußkapitel, an die Bedürfnisse
der Zeit angeknüpft. Besonders interessant und
für viele beruhigend ist das Kapitel über den Ei-
weißbedarf, in welchem gezeigt wird, daß der
Organismus sich mit verschiedenen Eiweißmengen
ins Gleichgewicht setzen kann und dabei die Art
und Menge der stickstofffreien Nahrungsmittel von
großer Bedeutung ist. Mit Nachdruck weist der
Verf auf die Notwendigkeit hin, in erster Linie
die Produktion der pflanzlichen Nahrungsmittel
zu steigern; die Ernährung mit pflanzlichen Stoffen
sei wirtschaftlich meist der geradeste und spar-
samste Weg, Steigerung des Fleischgenusses und
der Fleischerzeugung im allgemeinen ein Umweg
und eine Verschwendung. Miehe.
Junge, Prof. Dr. G., Unsere Ernährung.
Nahrungsmittellehre für die Kriegszeit. Berlin
1917. O. Salle. 1,50 M.
Ging das vorige Buch von den Ergebnissen
der wissenschaftlichen Ernährungsphysiologie aus
und suchte es diese in erster Linie allgemeiner
bekannt zu machen, so hält sich dieses, von Prof.
Eltzbacher mit einem Vorwort versehene Heft
nach kurzer Skizzierung der allgemeinen Grund\
lagen der Ernährung an die einzelnen Nahrungs-
mittel, zeigt ihre Herkunft, ihre Zusammensetzung,
ihren Nährwert, ihre beste Ausnutzung usw. Dabei
knüpft Verf immer an die Praxis des alltäglichen
Lebens an und streut auch manche allgemeinere
naturwissenschaftliche Belehrung ein. In der Dar-
stellungsweise tritt die auch in der Vorrede an-
gedeutete Absicht hervor, möglichst verständlich
zuschreiben. Das ist Junge sehr hübsch geglückt.
Dabei ist der in angenehmer Form mitgeteilte
Tatsachenbestand gewissenhaft und kundig ver-
arbeitet. Wir können dem mit etlichen guten und
klaren Bildern ausgestatteten Büchlein die beste
Empfehlung mitgeben, möchten insbesondere die
Hausfrauen und die Lehrer darauf aufmerksam
machen. Es wird auch nach dem Kriege seinen
Wert behalten, einmal weil unsere Kriegswirtschaft
noch lange andauern wird, und dann, weil es eine
treffliche Ergänzung zu den Kochbüchern darstellt,
die in diesem Punkte meist nicht ihre stärkste
Seite haben. Miehe.
Anregungen und Antworten.
Zu der Antwort über Zwergwuchs in Nr. 35 der Naturw.
Wochenschr. möchte ich mir eine Bemerkung erlauben.
Der Satz, daß die Samen von Kürp*nerformen, bei sorg-
samer Pflege zur Entwicklung gebracht, wieder Pflanzen ganz
normaler Größe geben würden, bedarf einer Einschränkung
mit Rücksicht auf gewisse Erfahrungen der forstlichen Versuchs-
anstalten, wie sie z.B. Professor Arnold Engler in Zürich
kürzlich (10. Sept.) anläßlieb der Schweizerischen Naturforscher-
Tersammlung in seinem Versuchsgarten auf dem .■\dlisberg bei
Zürich den Teilnehmern in eindrucksvoller Weise vor Augen
geführt hat. Werden nämlich Waldbäume, z. B. Fichten, aus
von der Ebene stammenden Samen im Gebirge gezogen, so
entstehen nicht nur kleinwüchsige Individuen, sondern die
Samen derselben liefern, in der Ebene unter normalen Ver-
hältnissen zum Keimen gebracht, Bäume, die im Wuchs hinter
den aus Ebenen-Saatgut gezogenen Kontrollpflanzen erheblich
zurückbleiben. Natürlich darf diese Tatsache nicht ohne
weiteres zugunsten der Vererbung erworbener Eigenschaften
gebucht werden; denn der Keimling der in der Ebene er-
wachsenen Zwergform bildete sich ja im Samen an der Mutter-
pflanze im Gebirge unter den dortigen (ungünstigen) Lebens-
bedingungen aus und kann auf diese Weise sehr wohl eine
Beeinflussung erfahren haben, deren Wirkung sich im ganzen
Leben des Individuums fühlbar macht. Leider steht die Fort-
setzung des Experimentes, die das vor allem wichtige Verhalten
der Nachkommenschaft dieser Ebenen-Zwergformen aufzuklären
hätte, zur Zeit noch aus. Dr. A. Thellung, Zürich.
Inhalt: Karl Sudhoff, Ein Alkoholrezept aus dem 8. Jahrhundert? S. 681. Robert Hertens, Über einige Fälle des
Scheinhermaphroditismus bei Fischen. S. 683. — Einzelberichte; G. Lüstn e r, Magenuntersuchungen an Wespen. S. 687.
D e w i t z , Die Zucht des Seidenspinners im Freien. S. 688. H. W. F r i c k h i n g e r , Massenhaftes Auftreten des Gartenlaubkäfers
in einigen Bezirken Oberbayerns. S. 688. Ulri c h Be rn er , Die Bestäubertätigkeit der Insekten in Zahlen. S. 688.
Wilh. Schuster, Ein Beitrag zur Biologie der Schwebefliegen. S 690. L. Andren, Zählung und Messung der kom-
plexen Moleküle einiger Dämpfe nach der neuen (Lenard'schen) Kondensationstheorie. S. 691. W. Kranz, Die Be-
schaffung von Rohstofi'en des Bodens für militärische Erfordernisse. S. 693. May, Der Spargel als Heilmittel. S. 693.
— Bücherbesprechungen: Fritz Sarasin, Streiflichter aus der Ergologie der Neu-Kaledonier und Loyalty-Insulaner
auf die europäische Prähistorie. S. 693. Franz Keibcl, Über experimentelle Entwicklungsgeschichte. S. 694. Max
Dessoir, Vom Jenseits der Seele. S. 695. Emil Abderhalden, Die Grundlagen unserer Ernährung unter besonderer
Berücksichtigung der Jetztzeit. S. 696. G. J unge, UnsereErnährung. S. 696. — Anregungen und Antworten : Zwergwuchs.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, 1
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a d. S.
strafle 42, erbeten.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den i6. Dezember 1917.
Nummer 50.
Neuere Ergebnisse der Kanalstrahlenforschung.
[Nachdruck verboten.]
Von Karl Kuhn.
Mit I Abbildung.
Verbindet man die Elektroden eines genügend
evakuierten Glasrohres von der Form Fig. I mit
einer Hochspannungsquelle, z. B. einem Funken-
induktor, Hochspannungsakkumulator oder einer
Influenzmaschine, so gehen bekanntlich von der
negativen Elektrode K (der Kathode) nach links
Kathodenstrahlen ß aus, die sich geradlinig aus-
breiten, völlig unabhängig von der Lage der posi-
tiven Elektrode A (der Anode). Die Kathoden-
strahlen sind äußerst rasch bewegte, sehr kleine
freie negativ elektrische Ladungen (Elektronen),
welche beim Aufireffen auf die Glaswand des
Entladungsraumes ein grünes Leuchten hervor-
rufen. Eine andere sehr wichtige Eigenschaft der
rasch bewegten Kathodenstrahlteilchen ist die,
daß sie ein Gas, das sie durchdringen, in hohem
Grade leitend für die Elektrizität machen. Das
Leitendwerden der Luft ist so zu denken, daß die
Luftmoleküle, welche auch in einem Vakuum noch
reichlich vorhanden sind, durch den heftigen Stoß
<
der Kathodenstrahlen in positiv und negativ ge-
ladene Teilchen zerfallen. Die positiven Gas-
moleküle (Ionen) werden nun von der negativen
Elektrode K angezogen und erhalten dadurch eine
solche Geschwindigkeit, daß sie durch den Kanal
der Kathode K nach der anderen Seite hindurch-
fliegen und dort als sogenannte Kanalstrahlen «
zum Vorschein kommen. Die Kanalstrahlen wer-
den nicht zur Kathode zurückgezogen, weil sich
das elektrische Feld ausschließlich links von der
Kathode befindet. Dies ist die moderne Theorie
von der Entstehung der Kanalstrahlen, welche
1886 von E. Goldstein entdeckt wurden. Falls
unser Entladungsrohr mit Luft gefüllt war, sind
die Kanalstrahlen, wie Goldstein fand, ein gelb-
lich leuchtendes Bündel, das die Glaswand zu
schwachem grünen Leuchten (kontinuierliches
Spektrum) erregt. Außerdem ist aber nachGold-
stein auf der inneren Oberfläche der Glaswand
noch ein gelbes Leuchten zu beobachten, das von
einer äußerst dünnen Gasschicht von Natrium her-
rührt, welches aus der natriumsalzhaltigen Glas-
wand frei wird und im Spektroskop die gelben
D-Linien zeigt.
Die Erforschung der Kanalstrahlen hat nicht
nur über den Elektrizitätsdurchgang in Gasen
wichtige Aufschlüsse geliefert, sondern sie hat auch
grundlegende Bedeutung für die Spektralanalyse
gewonnen. Überdies wurden bei der Kanalstrahlen-
analyse eine ganze Reihe für die Chemie neu-
artiger Moleküle aufgefunden und dann liegt hier
ein neues analytisches Hilfsmittel von einer Fein-
heit vor, wie es die Spektralanalyse bei weitem
nicht liefern kann.
Die weitestgehende Aufklärung über das Wesen
der Kanalstrahlen und die vollständige Ausbildung
der Kanalstrahlentechnik verdanken wir Wilhelm
Wien.') Im Jahre 1898 wies Wien die Ab-
lenkung der Kanalstrahlen durch sehr starke ma-
gnetische und elektrische Kräfte nach. Zur Be-
obachtung der magnetischen Ablenkung ist es
notwendig, den Entladungsraum E zwischen K
und A durch einen eisernen Schutzmanlei vor
den Kraftlinien der starken magnetischen Pole zu
schützen, die nur auf die Kanalstrahlen wirken
sollen. In einem Magnetfeld von 3250 Gauß
Stärke wurden die Kanalstrahlen nur um 6 mm
abgelenkt. Eine gleich große Ablenkung bewirkte
auch ein elektrostatisches Feld von 2000 Volt.
Die Kanalstrahlen werden von der negativen Elek-
trode angezogen und verhalten sich auch im
Magnetfeld ganz wie ein Strom positiv geladener
Teilchen. Wien fand auch, daß die Kanalstrahlen
einer Metallplatte, auf welche sie auftreffen, eine
positive Ladung erteilen.
Je größer die Geschwindigkeit der Kanalstrahlen-
teilchen ist, desto kürzer werden sie der Wirkung
eines magnetischen und elektrischen Feldes aus-
gesetzt sein und um so geringer wird ihre Ab-
lenkung sein. Die Wirkung der ablenkenden
Felder wird auch mit der Schwere der Teilchen
abnehmen. Je größer aber die elektrische Ladung
eines Kanalstrahlenteilchens ist, desto stärker wird
es von dem elektrischen und magnetischen Kraft-
feld beeinflußt werden. So kann man aus der
genauen Messung der Ablenkungsgröße im ma-
gnetischen und elektrischen Feld die Geschwindig-
keit der Kanalstrahlen bestimmen und Aufschluß
über die Größe der Masse und elektrischen Ladung
eines Kanalstrahlenteilchens bekommen. Bei
Wien 's erstem Versuch war die elektrische La-
dung und Masse der Kanalstrahlenteilchen etwa
gleich der eines Wasserstoffions und so kam
Wien zu dem Ergebnis, daß die untersuchten
Kanalstrahlen aus positiv geladenen Wasserstoff-
atomen bestanden.
Die Geschwindigkeit der Kanalstrahlen läßt
698
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5o
sich durch magnetische und elelitrische Ablenl<ung
nur auf indirtl<tem Wege messen. Es ist jedoch
W. Hammer gelungen, an einem Kanalstrahl
von etwa 50 cm Länge eine direkte Geschwindig-
keitsmessung durchzuführen, welche eine sehr er-
wünschte Bestätigung für die Richtigkeit der
Messung durch indirekte Methoden darstellt. Die
Wasserstoffkanalstrdhien Hammer's hatten eine
Geschwindigkeit von 2510 km in der Sekunde.
Die sehr großen Schwierigkeiten dieses Versuches
sind vielleicht aus der Tatsache zu ersehen, daß
die benuizie Kanalstrahienröhre einen Hahn, ein
Hochvakuumkugelgelenk, 12 Schliffe und 18 Kitt-
stellen trug.
Um Kanalstrahlen auf längere Strecken hin
untersuchen zu können, muß man sie in einem
möglich.st hohen Vakuum verlaufen lassen. Dieses
ist aber für deren Erzeugung wieder sehr ungünstig.
Deshalb machte W_i e n den Kanal in der Kathode K
sehr lang und sehr dünn. Pumpt man nun den Be-
obachtungsraum B fortwährend aus und läßt in den
Entladungsraum E immer Gas einströmen, so
kann man zwischen beiden Räumen eine beträcht-
liche Druckdifferenz herstellen, da durch die lange
Kapillare in K das Gas nur sehr langsam nach
B diffundiert. Hammer ließ z. B. seine Kanal-
strahlen in einem Vakuum von 0,00002 mm Queck-
silberdruck verlaufen. Auch kann man etwa einen
Wasserstoffkanalstrahl im Beobachtungsraum in
Sauerstoff verlaufen lassen usw. ")
Kanalstrahlen haben eine Geschwindigkeit von
etwa ICO bis 3000 km in der Sekunde. Treffen
sie auf fe^te Körper, z. B. auf Glas oder Willemit
(Kieselzink), so erregen sie lebhafte Phospho-
reszenz. Leuchtschirme waren zuerst die einzige
Methode für die Kanalstrahlenbeobachtung. Wien
wies damit neben Wasserstoffkanalstrahlen auch
Sauerstoffkanalstrahlen nach; J. J. Thomson
aber behauptete (1907 — 1910), urabhängig von
der Gasfüllung der Entladungsrohre, immer nur
Wasserstoffteilchen beobachtet zu haben und stellte
daher die kühne Hypothese auf alle Gase würden
in den Kanalstrahlen zu Wasserstoff umgewandelt.
Erst später ist es mit großer Mühe gelungen, die
Verunreinigung mit Wasserstoffspuren soweit zu
vermeiden , daß auch schwerere Teilchen zum
Vorschein kamen. Es stellte sich heraus, daß die
Phosphoreszenzschirme sehr empfindlich für die
leichten schnellen Wasserstoffatome sind, während
sie auf größere Teilchen wie Sauerstoff sehr
schwer ansprechen. Mit Leichtigkeit kann man in
allen Gasen Wasserstoffkanalsuahlen nachweisen,
in welchen Wasserstoff weder chemisch noch
spektroskopisch zu entdecken ist. Heute benutzt
man häufig zum Nachweis der Kanalstrahlen die
Phosphoreszenzerregung nicht mehr; Wien be-
dient sich der Wärmewirkung auf die Thermo-
säule, J.J.Thomson benutzt die positive Ladung
der Kanalstrahlen zu deren Nachweis und
Königsberger die photographische Wirkung.
Die photographische Methode ist aber ähnlich wie
die Phosphoreszenz gerade für die schnellen leichten
Wasserstoffteilchen besonders empfindlich.")
W. Wien beobachtete schon bei seinen ersten
Versuchen, daß die Kanalstrahlen durch ein ma-
gnetisches oder elektrisches Feld nicht gleichmäßig
abgelenkt werden; ein Teil der Strahlen bleibt
völlig unbeeinflußt und verhält sich wie ein Bündel
unelektrischer Teilchen; die positiv geladenen
Teilchen erfahren keine einheitliche gleich starke
Änderung ihres Weges, sondern sie werden zu
einem Fächer verschieden ablenkbarer Strahlen-
arten (sog. Spektrum) ausgebreitet. Unter ge-
wissen Umständen kommen auch negative Teil-
chen in einem Kanalstrahl vor. Der Ladungs-
zustand der positiven Strahlen erfährt also auf
ihrem Weg hinter der Kathode fortwährende
Änderungen: beim Zusammenstoß eines Kanal-
strahheilchens mit einem ruhenden Gasmolekül
werden von diesem Elektronen abgespalten und
wenn z. B. ein rasch bewegtes H+- Wasserstoffion
ein Elektron aufnimmt, so wird es zu einem neu-
tralen, elektrisch und magnetisch unablenkbaren
Kanalstrahlenteilchen; nimmt es aber 2 Elektronen
auf, so wird es sogar zu einem negativen Teilchen:
H~. Umgekehrt können neutrale Strahlen durch
Stoß auf ruhende Gasmoleküle wieder eine Ladung
annehmen und so ändert in einem Kanalstrahl
jedes Teilchen fortwährend in buntem Wechsel
seinen Ladungszustand. Man erkennt sogleich: je
höher der Druck im Beobachlungsraum ist, desto
häufiger finden Zusammenstöße mit ruhenden
Gasteilchen statt und desto öfter kommt es zu
Umladungen eines Teilchens. Es eikläit sich auch
das Auftreten von negativen Kanalsirahlen. Läßt
man den Kanalstrahl eines elektronegativen
[= begierig Elektronen aufnehmenden] Elements
z. B. Sauerstoff im Beobachtungsraum in einer
Atmosphäre eines elektropositiven [= leicht Elek-
tronen abspaltenden] Gases z. B. Ouecksiiberdampf
verlauft n, so wird natürlich ein Sauersioffion beim
Zusammenstoß mit Quecksilberteilchen diesen un-
schwer ein oder zwei negative Elementarladungen
[= Elektronen] rauben und so finden sich denn
auch beim Verlauf von Sauerstoffkanalstrahlen
im Quecksilberdampf neutrale und auch ein
recht erheblicher Prozentsatz negativer Strahlen
[Stark].*) Die Umladungserscheinungen wurden
von W. Wien theoretisch und experimentell
völlig aufgeklärt. Wien setzte ein Kanalstrahlen-
bündel einem starken Magnetfeld aus und lenkte
alle positiven Strahlen daraus ab. Wurde nun
der Teil der Strahlen, der in seiner Richtung
vei blieb, einem 2. Magnetfeld ausgesetzt, so be-
kam Wien wiederum ein abgelenktes Strahlen-
bündel zum Zeichen dafür, daß ein Teil der neu-
tralen Strahlen seine Ladung wieder angenommen
hatte.
In den Kanalstrahlen fand Wien 1898 durch
die elektromagnetische Analyse positive Wasser-
stoffatomteilchen H+ und bald konnte Wien
auch Sauerstoffatomionen 0+ auffinden. Später
gelang es Wien, Stark, von Dechend und
N. F. XVI. Nr. So
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
699
Hammer,') Koenigsberger und seine Mit-
arbeiter, J. J. Thomson,*) Gehrcke und
Reichenheim ^) eine große Anzahl von Elementen
in Kanalstrahlenform überzuführen. Füllt man in
den Entladungsraum Helium oder Argon ein, so
erhält ' man im Kanalstrahl He~- und Ar+-
Atomionen; füllt man ihn mit Salzsäuregas HCl,
so bekommt man H+- und Cl'i-Ioncn usw.
Daß die Wasserstoff-, Sauerstoff- oder Stickstoff-
moleküle H.,, O2, N., in den Kanalstrahlen in
Atome zersplittert werden, ergibt auch deren große
chemische Reaktionsfähigkeit, welche nur freien
Atomen zukommt. So reagiert z. B. ein Sauer-
stoft kanalstrahl sofort mit Quecksilber unter
Bildung vonOuecksilberoxydund auch der chemisch
träge Stickstoff wird durch die Dissoziation des
Ng-Moleküls in X-Atome so aktiviert, daß sich so-
fort Oaecksilbernittit bildet [Stark].')
Als J. J. Thomson die Entladungsröhre mit
sehr reinem Neon füllte, beobachtete er bei der
elektrischen und magnetischen Zerlegung des
Kanalbtrahls ganz in der Nähe der Strahlen, welche
dem Neon entsprechen, noch einen weiteren, der
nach der Größe der Ablenkung einem Elemente
vom Atomgewicht 22 zugehören mußte. Die
Linie dieses unbekannten Stoffes ist in den Kanal-
strahlen sehr viel schwächer wie die Neonlinie
und so kommt dieses neue Gas wohl nur in sehr
geringer Menge vor. Thomson und Aston
versuchten das neue Gas von dem etwas leichteren
Neon (Atomgewicht 20) durch Diffusion zu trennen
und fanden, daß der langsamer diffundierende Teil
des Neons ein etwas höheres spezifisches Gewicht
hatte. Nach Leduc rührt dies aber nicht von
der Anreicherung des neuen, schweren, langsamer
diffundierenden Gases her, sondern von einer sehr
geringen Menge beigemischten Stickstoffs, der
sich als Verunreinigung sehr schwer ganz ver-
meiden läßt. Weitere Untersuchungen sind not-
wendig.
Wir sehen hier wie die Kanalstrahlenanalyse
zur Auffindung neuer Elemente dienen kann und
sie ist so empfindlich, daß wir mit ihrer Hilfe
Mengen eines fremden Gases entdecken können,
die zu winzig sind, um im Spektroskop irgend-
welche Andeutungen hervorzurufen. '/loo Milli-
gramm einer Substanz genügt nach J. J.Thomson'')
um nicht nur ihre Anwesenheit im Kanalstrahl
festzustellen, sondern auch um aus der Größe der
Ablenkung des Strahles im magnetischen und
elektrischen Feld zugleich das Atomgewicht des
Stoffes zu bestimmen. Ein sehr großer Vorteil
der Methode besteht noch darin, d.iß sie von der
Reinheit des Materials unabhängig ist; wenn das
Füilgas verunreinigt ist, so erscheinen in den ab-
gelenkten Kanalstrahlen die Verunreinigungen nur
als neu hinzutretende Linien, ohne die der zu
untersuchenden Substanz zu beeinflussen oder die
Atomgewichtsbestimmung fehlerhaft zu machen.
Durch Präzisionsmessungen wird die neue Methode
wohl bald sehr genaue Atomgewichtsbestimmungen
erlauben und dann wird man mit Erfolg viele
wichtige chemische Probleme angreifen können,
wie die Durchmusterung aller Elemente auf Isotope,
die Atomgewichtsbestimmung des Actiniums, die
.Aufsuchung neuer leichter Gase usw.
Bei hohen Entladungsspannungen wird von
den Atomen häufig nicht nur ein Elektron durch
Stoß abgespalten, sondern mehrere und so findet
man z. B. in einem Stickstoffkanalslrahl nicht nur
einwertige N"i"-Ionen, sondern gleichzeitig auch
mehrwertige wie N++ und N"H-r. J. J. Thomson
hat sogar ein Ouecksilberatom mit 8 positiven
Ladungen im Kanalslrahl aufgefunden. L^nter den
schon besprochenen Bedingungen erscheinen in
einem Kanalstrahl auch negative Teilchen, welche
dann vom elektromagnetischen Feld in entgegen-
gesetzter Richtung wie die positiven Kanalstrahlen
abgelenkt werden. Negative Teilchen wurden bei
den Atomen von H.,, C, Oj, S und Cl gefunden,
also — vom H abgesehen — bei elektronegativen
Elementen, welche sehr gern Elektronen und
damit eine negative Ladung aufnehmen.'')
Ist der Druck in einer Kanalstrahlenröhre sehr
tief, so erleidet ein Ion im allgemeinen auch selten
Zusammenstöße mit anderen Teilchen; wenn das
Ion also ein Molekül ist, so wird es nicht häufig
in seine Atome zertrümmert und deshalb finden
sich in einem Kanalstrahl auch Molekülstrahlen
und Verbindungsstrahlen. W. Wien fand als
erster in den Kanalstrahlen die Wasserstoff-
molekülionen U^'~. Später wurden zahlreiche
Verbindungsstrahlen beobachtet. J. J.Thomson
entdeckte z. B. 0,+-, C0+ , CO./i -, NH,+-, CH,' -
Ionen. Andere Forscher stellten Oj ■ -, 0.^~-, CN~f--,
CN "-Ionen usw. fest. Geht die Entladung durch
Kohlenstoffverbindungen hindurch, so erscheinen
in manchen Phallen folgende Ionen im Kanalstrahl :
C~, Cj , C.j"~ und C, . Bemerkenswert ist ein
Ion, welches Thomson in Gasen fand, welche
Spuren von Wasserstoff enthalten. Es hat das
Atomgewichts und Thomson glaubte zunächst ein
neues Gas, welches er X^ nannte, entdeckt zu haben.
X. ist wegen der geringen Menge, in welcher es
vorkommt, nur durch die Kanalstrahlenanalyse
nachweisbar. Thomson stellte verschiedene
Eigenschaften von X3 fest und fand schließlich,
daß es kein neues Element, sondern ein neues
Molekül des Wasserstoffs, H.^, ist, das sich bis jetzt
nur in den Kanalstrahlen spurenweise darstellen
läßt und eine positive Elementarladung trägt
(H3+). Geht die Entladung durch Sumpfgas CH4,
so fand Thomson in den Kanalstrahlen unter
anderem folgende Ionen: CH"^, CHo+, CH.j+ und
CH4" . Verbindungen wie CH™, CH., und CH sind
der Chemie bisher in freiem Zustand völlig fremd
gewesen und Thomson hat noch eine Reihe
sonst unbekannter Verbindungen und lonenarten
in den Kanalstrahlen aufgefunden, die vielleicht
einen völlig neuen Zweig der Chemie anbahnen.
Füllt man die Kanalstrahlenröhre mit Wasser-
stoff, so finden sich in den Kanalstrahlen folgende
Teilchen: H+, H2+ und H^, manchmal auch noch
H.j-!-; bei Cyangasfüllung: CN+, CN" und C+; bei
7O0
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 50
Salzsäuregasfüllung: H+, H2+, C1+ und Cl-; bei
Heliumgasfüllung: He+ und He 1"+. Ein Kanal-
strahlbündel besieht, so läßt sich zusammenfassend
sagen, aus einem Gemisch von Teilchen mit ver-
schiedenen Massen, verschiedener Anzahl der
elektrischen Ladungen und verschiedener Ge-
schwindigkeit.
Kanalstrahlen haben in Luft eine goldgelbe
Farbe; in Wasserstoff bilden sie ein rosarotes
Sirahlenbündel. Wie Goldstein fand, stimmt
das Spektrum des Kanalstrahlenlichts im wesent-
lichen mit dem des verwendeten Gases überein.
Die Emission des Lichtes erfolgt durch zahlreiche
Zusammensiöße der Kanalsirahlenteilchen mit
ruhenden Gasmolekülen. Ist dies richtig, so kann
ein Kanalstrahlenbündel bei sehr niedrigem Gas-
druck auf seinem Wege der geringen Zahl der
Zusammenstöße halber keine merklicheLichtemission
mehr hervorbringen, wie dies auch von Dechend
und Hammer sowie Koenigsberger und
Kutschewski beobachteten. Wird das Kanal-
strahlenlicht von schnell bewegten Ionen emittiert,
so müssen die von ihnen au^gesandien Spektral-
hnien eine Veränderung gegen die sonst erzeugten
Linien des beireffenden Gases aufweisen. Denn
die raschen Kanalstrahlenteilrhen stellen eine
schnell bewegte Lichtquelle dar und eine solche
muß den sogenannten Doppler-Effekt zeigen. Das
heißt: beobachtet man einen leuchtenden Kanal-
strahl mit dem Spektroskop von vorn, sodaß die
Kanalstrahlen auf den Spektroskop-palt zueilt n, so
zeigt sich neben jeder normalen ruhenden Spektral-
linie eine zweite oder genauer ein ziemlich breiter
Streifen, welcher nach violett verschoben ist;
visiert man den Kanalstrahl von hinten an, so
müssen die Spektrallinien der bewegten Kanal-
strahlenteilchen nach dem roten Ende des Spek-
trums hin verschoben sein. Bei Beobachiung
senkrecht zum Kanalstrahl darf nach Doppler 's
Prinzip keine verschobene Linie vorhanden sein.
Diese Folgerung hat Johannes Stark be-
rehs im Jahre 1902 in seinem Buche: Die Elek-
trizität in Gasen S. 457 (J. A. Barth-Leipzig)
gezogen und hat dann auch im Jahre 1905 das
vorausgesagte Verhalten der Spektrallinien ex-
perimeniell bestätigt. Die Entdeckung des Doppier-
Effekts an den Kanalstrahlen durch J. Stark,'')
einem der erlolgreichsten Experimentalphysiker,
ist eine glänzende Bestätigung für unsere An-
schauung vom Wesen der Kanalstrahlen.
Daß beim Stark- Doppler-Effekt statt einer
einzigen scharfen verschobenen Spektrallinie ein
breiter Streifen erscheint, erklärt sich leicht aus
dem Vorkommen einer kontinuierlichen Reihe
von Kanalstrahlengeschwindigkeiten (Stark). Aus
der Größe der Spekirallinienverschiebung läßt sich
unmittelbar die Geschwindigkeit des leuchtenden
Kanalstrahlenteilchens berechnen. Auffällig ist die
Erscheinung, daß indemKanaKtrahlenspektrogramm
neben den bewegten Spektralstreifen auch noch
die ruhenden Linien auftreten. Nach Stark
werden diese von solchen Atomen emittiert, die
sich nicht im Kanalstrahlenbündel mitbewegen,
die aber infolge des Stoßes der Kanalstrahlen zum
Leuchten kommen, ohne dabei eine merkliche
Geschwindigkeit zu erhalten. Folgende Beobach-
tungen zeigen dies unmittelbar: bringt man in
den Entladungsraum E Wasserstoff und läßt im
Beobachtungsraum B die Wasserstoffkanalstrahlen
in einer Sauerstoff- oder Stickstoffatmosphäre ver-
laufen, so findet man imSpekirogramm verschobene
Wasserstofflinien und nur ruhende Linien von
Sauerstoff oder Stickstoff.
Von großer Bedeutung ist die Erforschung
des Kanalstrahlenlichtes durch J. Stark für die
grundlegenden Probleme der Spektralanalyse ge-
worden. Bekanntlich liefern die chemischen Ele-
mente, je nachdem sie zum Leuchten erregt werden
lin der Bunsenflamme, im elektrischen Lichtbogen
und Funken], recht verschiedene Spektra, und
Norman Lock y er") stellte z. R. die kühne
Behauptung auf, daß beim Übergang von einem
Spektrum zum anderen ein Element in Teile zer-
falle, welche die verschiedenen Linienspektra liefern
sollten. Nach Stark löst sich jene große spektral-
analytische Frage ganz anders: je nachdem ein
Atom eine oder mehrere elektrische Elementar-
ladungen trägt, hat es verschiedene Spektra. .„Das
Linienspektrum des einwertigen Atomions ist ver-
schieden von dem des zweiwertigen Atomions und
dieses wieder verschieden von dem Spektrum des
dreiwertigen Atomions. Die Änderung des Zu-
Stands der positiven Ladung eines chemischen
Atoms ist also verbunden mit; einer Änderung
der optischen Dynamik des Atoms" (Stark.*)
Kommen in einem Kanaistrahl z. B. N+-, N+^'-
und N+++-Stickstoffatomionen vor, so werden die
Spektrallinien der zweiwertigen Stickstoffionen
einen viel größeren StarkDoppler-Effekt zeigen
wie die einwertigen, da sie infolge ihrer doppelt
so großen Ladung auch viel stärker von der
Kathode angezogen werden und noch größer wird
die Geschwindigkeit und der Doppler-Effekt der
N++T" Ionen sein. Aus der Messung der Größe
des Stark Doppler- Effekts ist die Zugehörigkeit
vieler Spektrallinien zu bestimmten Aiomionen*)
festgestellt worden. Erschwert wird die Deutung
der Kanalstrahlenspekiralbilder durch die Um-
ladungen, welche ein leuchtendes Teilchen erleiden
kann und so stimmen auch die Meinungen nicht
aller Forscher [z. B. Wien und Lenard] mit
S tark 's Anschauungen völlig überein. Es stellen
diese aber doch ein bestechend einfaches Bild
über die Natur der verschiedenen Spektra ein und
desselben Elements dar. Erwähnt sei noch, daß
auch ein neutrales Atom und positive Molekül-
kanalstrahlen [z. B. positive O3- oder Sjlonen]
besondere Spektra aufweisen.
Auf eine glänzende P-ntdeckung J. Stark's
muß hier noch hingewiesen werden, wenn sie mit
den Kanal^trahlen auch nicht unmittelbar zu-
sammenhängt. Nach der Entdeckung der ma-
gnetischen Zerlegung der Spektrallinien durch
Zeemann (1896) wurde öfters die P'rage auf-
N.- F. XVI. Nr. so
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
;or
geworfen, ob nicht auch durch eine äußere elel<-
trische Kraft die Bewegung der Elektronen in
einem leuchtenden Atom beeinflußt und damit
eine Zerlegung der Spektrallinien bewirkt werden
könnte. Stark^") gelang es im Jahre 1913, in-
dem er Kanalstrahlen zur Anregung der Licht-
emission benützte, ein leuchtendes Gas einem sehr
starken elektrischen Felde auszusetzen und er be-
obachtete nun wirklich, wie jede Spektrallinie in
eine große Reihe polarisierter Komponenten zerlegt
wurde. Es führt hier also ein Weg ins Innere
des Atoms, über dessen Aufbau uns die Spektral-
analyse der Kanalstrahlen noch manchen wichtigen
Aufschluß geben wird.
Weitgehende Erkenntnisse über die Struktur
der Atome liefert auch das Studium des Durch-
gangs von Kanalstrahlen durch feste Körper. Vor
noch nicht langer Zeit dachte man sich das Innere
der chemischen Atome beinahe zusammenhängend
mit Sfoff erfüllt und für andere Atome undurch-
dringlich. Diese einfache Anschauung wurde er-
schüttert durch Lenard's Beobachtungen über
den Durchgang schneller Kathodenstrahlen durch
ziemlich dicke Substanzschichten, mithin zweifellos
durch die chemischen Atome selbst. Da die
Elektronen eines Kathodenstrahls eine sehr kleine
IVlasse [rund Vjono ^^^ Wasserstoffatoms] haben,
so läßt sich bei ihrer Durchquerung eines chemischen
Atoms nicht sicher entscheiden, ob im Atom-
gefüge nur enge Lücken für den Durchgang vor-
handen sind oder ob ein chemisches Atom aus
einzelnen untersch edlichen Teilchen in einem
weitmaschigen Gefüge besteht (Stark ^). Es
ließ sich nun nachweisen, daß auch Kanalstrahlen,
z. B. rasche Wasserstoffstrahlen dünne Schichten
eines festen Körpers zu durchfliegen, d. h. also
chemische Atome sogar längs ihres größten Durch-
messers zu durchdringen vermögen. I. K o e n i g s -
berger beobachtete bereits im Jahre 1910, daß
Kanalstrahlen durch eine Lackschicht von einigen
(i [= 0,001 mm] Dicke noch eine photographische
Wirkung hervorbringen. K. Glimme und
LKoenigsberger fanden, daß Wasserstoff kanal-
strahlen von 1 500 km Geschwindigkeit in der
Sekunde durch Aluminiumfolie von 0,38 ,« Dicke,
die fast lochfrei war, nicht hindurchflogen ; dagegen
gingen von einer Strahlung von 2700 km Ge-
schwindigkeit die positiven und neutralen Wasser-
stoffatome hindurch. H. Rausch vonTrauben-
berg stellte fe.-,t, das H+-, H2+ , 0+- bzw. N+-
Kanalstrahlen nach dem Durchgang durch eine
Goldfolie von 0,0733 /' Dicke noch einen Fiuores-
zenzschirm erregten. Wasserstoffatome von 2610 km
Geschwindigkeit in der Sek. machten sich durch
eine Schicht von 5 Goldfolien auf dem Fluoreszenz-
schirm bemerkbar. Bei kleineren Geschwindig-
keiten mußte auch die Dicke des Goldes entsprechend
kleiner gewählt werden.^)
Interessante Versuche, welche einen schlagen-
den Beweis für die materielle Natur der Kanal-
strahlen liefern, hat A. N. Goldsm it h angestellt.
Er ließ Kanalstrahlieilchen durch Glimmerplatten
von 2 — 6 /< Dicke in eine Vakuumröhre eintreten,
wo sie in einem seitlich angebrachten kleinen
Geißlerrohr komprimiert und spektroskopisch unter-
sucht werden konnten. „Es wurde die Zeit be-
obachtet, die von Anfang der Entladung verstreichen
muß, ehe ein Wasserstoff- eventuell Heliumspek-
trum in der Geißlerröhre erscjieint. Es konnte
keine phosphoreszenzerregende Wirkung der durch-
gegangenen Kanalstrahlenteilchen festgestellt wer-
den." Enthielt die Entladungsröhre eine Luftfüllung
mit 0,1 "/(, Wasserstoff, so dauerte es 900 Sek.
bis genügend Wasserstoffkanalstrahlenteilchen durch
das Glimmerfenster getreten waren, um in der
Geißlerröhre spektro^kopisch nachgewiesen zu
werden. Bei Zusatz von 1 "/q Wasserstoff dauert
es 200 Sek.. bei io°/o 100 Sek. und bei 50%
60 Sek. „Wird die Entladungsröhre statt mit Luft,
mit Kohlensäure oder Argon gefüllt, so gehen auch
nur Wasserstoffteilchen durch die Glimmerplatte
hindurch. IVlit Heliumfüllung in der Entladungs-
röhre bemerkt man nach einiger Zeit auch Helium-
linien in der Geißlerröhre. Es können also außer
Wasserstoffteilchen auch Heliumteilchen die Glim-
merplatte durchdringen.'"*)
Stößt z. B. ein Wasserstoffkanalstrahl auf ein
ruhendes Helium- oder Argongasatom, so wird er
auf das-^elbe, wenn er es nicht quer durchdringt,
eine gewisse Geschwindigkeit übertragen und dank
dieser werden dann die vom gestoßenen Helium-
oder Argonatom als bewegter Lichtquelle ausge-
sandten Spektrallinien einen Doppler- Effekt auf-
weisen. Durchquert dagegen das Kanalsirahlen-
atom das ruhende Gasatoni, wenn auch meistens
nicht zentral, sondern nur in den äußeren Atom-
schichten, so wird es dasselbe zwar ionisieren und
zum Leuchten bringen, ihm aber hierbei keine
merkliche Geschwindigkeit erteilen; es werden in
diesem Fall die Helium- oder Argonlinien in ihrer
ganzen Intensität ruhend erscheinen. DasExperiment
zeigte Stark,*) daß hier und in vielen anderen
Fällen die gestoßenen Helium-, Argon- usw. Atome
nur ruhende Serienlinien aussenden, daß also
immer Kanalstrahlenatom und gestoßenes Atom
während ihres Zusammenstoßes sich wechselseitig
durchqueren. Nur wenn die schweren Schwefel-,
Argon- oder Quecksilberkanalstrahlenteilchen auf
die leichten Aluminiumgasatome stoßen, werden
diese nicht durchquert, sondern es wird Bewegungs-
energie auf sie übertragen , was sich an dem
schwachen Doppler- Effekt ihrer Spektiallinien zeigt.
Auch die Alphastrahlen [= He '+- Atomionen] radio-
aktiver Substanzen übertragen auf die leichten
Wasserstoffatome recht erhebliche Geschwindig-
keiten, i')
Demnach darf der Physiker die Atome nur
bei kleinen Geschwindigkeiten als elastische Körper
bei Zusammenstößen behandeln und auch „der
Chemiker darf sich seine Atome nicht als loch-
freie Verkettung unterschiedlicher Teilchen vor-
stellen, sondern hat sie als zwar sehr feste, aber
doch weitmaschige Strukturen aufzufassen, die sich
bei großer Geschwindigkeit wechselseitig zu durch-
702
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 50
queren vermögen, während sie bei kleiner Ge-
schwindigkeit wie undurchdringlich sich verhalten
und nur mit ihren Oberflächen in eine wechsel-
seitige Reaktion treten". *)
Hier sei der Hinweis erlaubt, daß es vielleicht
noch gelingen wird nicht nur Durchquerungen
von Atomen zu erzielen, sondern daß es bei dieser
Gelegenheit unter Um'-tänden auch zu einer Zer-
trümmerung des durchquerten Atoms kommen mag.
Bei sehr großen Kanalstrahlengeschwindigkeiten ist
demnach die Zerlegung und Umwandlung chemi-
scher Elemente durchaus nicht außer dem Bereich
jeder Möglichkeit.
Wenn ein elektrisch geladenes Kanalstrahten-
teilchen mit seiner riesigen Geschwindigkeit von
einigen tausend Kilometern in der Sek. auf einen
festen Körper aufprallt, so muß es notwendig eine
explosionsartige elektrische Welle in den Raum
hinaiissenden, genau wie ein aufschlagendes Ge-
schoß eine Schallwelle. Bei der plötzlichen Brem-
sung der Kathodenstrahlen sind solche Störungen
und Schwingungen des Äthers [hypothesen freier:
des Dielektrikums' .--chon längst nachgewiesen: es
sind dies die Röntgenstrahlen. Bei Heliumatomionen
mit 2 positiven Ladungen He++ [= «Strahlen
radioaktiver Stoffe] von 15 000 km Geschwindig-
keit in der Sek. wurde das Auftreten von schwachen
y-Strahlen [= Röntgenstrahlen] bei der Absorption
durch J. Chadwick''^) 1912 beobachtet. Beider
Bremsung von gewöhnlichen Kanalstrahlen hat bis
jetzt nur J. J. Thomson'^) Anzeichen für das
Auftreten einer sehr weichen, d. h. äußerst wenig
durchdringungs'"ähigen Röntgenstrahlung gefunden.
Nicht nur in den Vakuumröhren kommen
Kanalstrahlen vor, sondern auch in der freien
Natur spielen Strahlen, die ihrem Wesen nach
völlig mit den Kanalstrahlen übereinstimmen, eine
Rolle. Ks sind dies die von den radioaktiven
Stoffen ausgesandten «-Strahlen, >-) welche nichts
anderes wie Heliumatomionen mit 2 positiven
Elementarladungen [He++] von einer allerdings
sehr hohen Geschwindigkeit [13000 bis 20000 km
in der Sek.] darstellen. IVlächiige positive Ionen-
Strahlen*^") haben wir höchstwahrscheinlich auch
in den seit langem bekannten Protuberanzen zu
sehen, welche schnell bewegte leuchtende Gas-
massen sind, die von der Sonne aufsteigen. Die
Spektren derselben sind wie die der leuchtenden
Kanalstrahlen durch besondere Einfachheit aus-
gezeichnet und stimmen weitgehend mit den
Spektrallinien der Wasserstoff-Helium- und Calcium-
kanalstrahlen ^°) überein. Überdies ist die direkt
beobachtete wie die aus dem Doppler- Effekt be-
rechnete Geschwindigeit der Proiuberanzen von
der gleichen Größenordnung wie diejenige der in
Entladungsröhren hergestellten Kanalsirahlen.
Neuere Untersuchungen von Vegard") haben
es auch nahe gelegt, daß das Polarlicht nicht durch
von der Sonne ausgehende Kathodenstrahlen in
den höchsten Schichten der Atmosphäre hervor-
gerufen wird, sondern daß Wasserstoff- oder Helium-
ionenstrahlen der Sonne von gewaltiger Ausdehnung
die Ursache sind.
Zusammenfassende Literatur:
I) Vgl. die vorzügliche ausführliche Darstellung der posi-
tiven Strahlen durch W. Wien im IV. Bd. des Handbuches
der Radiologie (Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 1917).
3) H. V. Dechend und W. Hammer, Bericht über die
Kanalatrahlen im elektrischen und magnetischen Feld. Jahr-
buch der Radioaktivität und Elektronik S. 34 — 91 Bd. 8
(S. Hirzel, Leipzig 1911).
3) T. Relschinsky, Bericht über die elektromagnetische
Analyse der Kanalstrahten. 1910 — 1915. Jahibuch der Radio-
aktivität und tClektronik S. 66 — 125 Bd. 13 (1916).
4) J. Stark, Die Träger der Spektren der chemischen
Elemente. Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik S. 139
bis 247 Bd. 14 (1917)-
5) J. J. Thomson, Rays of positive electricity and their
applikalion to chemical analysis (Longmans Green and Co.
London 1913).
6a) Gehrcke und Reichenheim, Die positiven
Strahlen. Physik S. 458 — 466 der „Kultur der Gegenwart"
(Teubner, Leipzig 19:51.
6b; Gehrcke, Die korpuskulare Strahlung in verdünnten
Gasen. S. 277 — 350 des „Handbuchs der Elektrizität und des
MagneiismusvonL. Graetz" Bd. III (J. A.Barth, Leipzig 1915).
De) Gehrcke, Die Strahlen der positiven Elektrizität
IS. Hirzel, Leipzig 1909).
7) J. Stark, Ionisierung der chemischen Elemente durch
Elektronenstofl. Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik
S. 395-452 Bd. 13 (1916).
Ü) J. Stark, Die Atomionen chemischer Elemente und
ihre KanaUtrahlenspektra (J. Springer, Berlin 1913).
9) Norman Lockyer
Studien
Spektralanalyse
Brockhaus, Leipzig 1S79).
10) J. Stark, Elektrische Spektralanalyse chemischer
Atome (S. Hirzel, Leipzig 1914).
11) E. Marsden, Phil. Mag. 27, S. 824 (1914)-
12) Meyer und v. Schweidler, Radioaktivität.
S. 136 (^Teubner, Leipzig I9I7)-
13) J. J. Thomson, Phil. Mag. (6) 28, S. 620—625
(1914).
14) Vegard, Über die physikalische Natur der kosmischen
Strahlen, die das Nordlicht hervorrufen. Annalen der Physik
S. 853—900 Bd. 50 Nr. 16 (J. A. Barth, Leipzig 1916).
Wegetiers Verscliiebuiigstheorie.
Von Dr. Ernst Kelhofer, Schafthausen.
[Nachdruck verboten! Mit 3 Abbildungen im Text.
Über die Entstehung der Kontinente und öffentlichungen erfolgten bereits 1912. ^) Seilher
Ozeane hat der junge deutsche Geophysiker Dr. erschien eine ausführlichere Darstellung der Theorie
Alfred Wegener, z. Z. im Felde, eine neue ;r~z — ~„ , , ,„ c- ^-cr jn. ..-../ , ,
T., . c u^ 1- 11 . 1 xr . • 1 ) Geol. Rundsch. III, 4 S. 267 ff. und Peterm. Mi«. (1912
Theorie aufgestellt, die er selbst als Verschiebungs- y. ,s^ff.^ 253 ff. „„a 305 «f.. an beiden Orten »mer dem Titel :
theorie bezeichnet. Die ersten skizzenhaften Ver- nie Entstehung der Kontinente.
N. F. XVI. Nr. so
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
703
als Frucht eines dem Verfasser weg^en Verwundung
gewährten Erholungsurlaubs. ^) Wegen er bringt
darin neue Stützen für die Richtigkeit seiner
Hypothesen.
Daß zwischen weit voneinander entfernten,
jetzt durch Ozeane getrennten Festlandsmassen
ehedem direkte Verbindungen bestanden haben
müssen, das ist eines der sichersten Ergebnisse
wissenschaftlicher Forschung, gegen welches die
von amerikanischen Geologen neuerdings vertretene
Lehre von der „Permanenz der Ozeane" niemals
wird aufkommen können. Ein ständig wachsendes
Beweismaterial in Form zahlreicher paläontologi-
scher Funde spricht unzweideutig dafür, daß sich
Tier- und Pflanzenwelt, jetzt völlig getrennte Kon-
tinente, einst in einem durchaus ungehinderten,
auf festem Boden sich vollziehenden Austausch
befunden haben muß. Diese Talsachen haben zu
der noch fast aligemein verbreiteten Lehre geführt,
an Stelle der heutigen Tiefseen hätten früher
Landverbindungen bestanden, die dann durch ge-
waltige Einbrüche verschwunden seien. Solche
breite Landbrücken dachte man sich z. B. zwischen
Afrika und Südamerika, zwischen Europa und
Nordamerika. Durch den Zusammenbruch uralter
ausgedehnter Kontinente und das Absinken von
grofäen Schollen derselben, sollen die Ozeane ent-
standen sein, und zwar wurden diese Vorgänge
alle auf den sogenannten Schrumpfungsprozeß der
Erdrind^ und dieser wieder auf die fortschreitende
.«Xbkühlung der Erdrinde zurückgeführt.
Gerade diese Kontraktionstheorie ist nun aber
schon lange nicht mehr von allen Fachleuten an-
erkannt, und insbesondere sind aus den Kreisen
der Geophysiker immer neue Bedenken und Ein-
würfe gegen sie laut geworden. Wegen er faßt
alle diese Einwände zusammen und beweist damit,
daß die Kontraktionstheorie heute unhaltbar ge-
worden ist. Es ist schon sehr fraglich, ob sich
die Erde wirklich abkühlt, nachdem die wahr-
scheinlich bedeutende Energiequelle bekannt ge-
worden ist, die die Erde in den radioaktiven Stoffen
besitzt, durch deren Zerfall fortgesetzt Wärme frei
wird. Es ist sehr wohl denkbar, daß der Wärme-
haushalt der Erde durch diese Energiequelle völlig
ausbalanziert wird. Aber wenn wir auch starke
Temperaturänderungen zugeben, so ist doch nicht
zu verstehen, wie sich aus ihnen Faltungen und
Überschiebungen von so riesigem Ausmaß erklären
ließen, wie sie erst in letzter Zeit festgestellt worden
sind. Dazu haben die Schweremessungen ergeben,
daß unter den Ozeanen schwereres Gestein liegt
als unter den Festländern, während das Gegenteil
zu erwarten war. Also können die Tiefseeböden
nicht abgesunkene Festländer sein. Anderseits
hat Wallace zuerst erkannt, „daß auch die
heutigen Kontinente früher keineswegs den Boden
der Tiefsee gebildet haben können", daß sie viel-
mehr immer nur verhältnismäßig wenig tief über-
flutet gewesen sind; zahlreiche, bis jetzt als Tief-
seeablagerungen betrachtete Bildungen sind neuer-
dings als Flachseebildungen erkannt worden. Eine
weitere, nicht zu übersehende Schwierigkeit, auf
die neben anderen besonders Penck hingewiesen
hat, besteht bei Annahme früherer riesiger Konti-
nente in der Frage: Wo waren denn damals die
ozeanischen Wassermassen?
Allen diesen Schwierigkeiten will nun Wege n ers
Verschiebungstheorie entgehen. Was sagt sie?
Die Kontinentalschollen lagen nach Wegen er
früher dicht nebeneinander und bildeten eine
einzige Tafel. Diese Tafel wurde später durch
Spalten in wenige große und zahlreiche kleinere
Teile voneinander getrennt, und diese sind dann
im Verlaufe der geologischen Zeiträume auf dem
unter ihnen liegenden, schwereren Material foit-
geschoben worden, so weit, als sie heute nunmehr
voneinander getrennt sind.
'-) Sammlung Viewe;; (1915) Heft 23: Die lintstelumg de
Kontinente und Ozeane.
Hypsometrische Kurve der Erdoberfläche. Nach Krümme!
Die geophysikalische Begründung muß im
einzelnen bei W e g e n e r selbst nachgelesen werden.
Hier sei nur bemerkt, daß die Beobachtungen über
die Isostasie (dns Druckgleichgewicht) der festen
Erdrinde wichtige Unterlagen bilden. Während
die bisherige Lehrmeinung die feste Lithosphäre
in allerdings wechselnder IVlächtigkeit als ge-
schlossene Hülle um die magmalische Barysphäre
herumgehen läßt, sind nach der Verschiebungs-
theorie „nur noch zusammengeschobene Reste"
derselben in Gestalt der Kontinente da; dagegen
bestehen die Tiefseeböden schon aus dem magma-
tischen Material der Barysphäre. Einige Tatsachen,
die für diese Annahme sprechen, seien kurz er-
wähnt. Das mittlere Krustenniveau, das 2300 m
unter dem Meeresspiegel liegt, weist keineswegs
die größte Häufigkeit auf Das müßte aber der
Fall sein, wenn Ozeane und Kontinente nur durch
Senkung und Hebung entstanden wären. In Wirk-
lichkeit besteht jedoch deutlich ein doppeltes
Niveau, wie dies aus K r ü m m e 1 s hypsometrischer
704
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. SO
Kurve der Erdoberfläche deutlich hervorgeht,
(vgl. Abb. I).
Eine befriedigende Erklärung ergibt sich, wenn
man mit W e g e n e r annimmt, ,.daß die Kontinental-
tafeln nur noch die zerstückelten und durch Zu-
sammenschub stark verkleinerten Reste" der ehe-
mals die ganze Erde umschließenden Lithosphäre
sind. Die Böden der Ozeane bestehen also nicht
aus dem Material der Lithosphäre, sondern werden
direkt von der Barysphäre gebildet, und in dem
schweren Material derselben schwimmen die leichten
Kontinentalschollen ganz ähnlich wie Eisschollen
im Wasser.
Abb.
getreuen
Schnitt im größten Kreis durch Südamerika und Afrik
Größenverhältnissen.
Gebirge, Kontinente und ozeanische Vertiefungen bilden so geringfügige Un-
ebenheiten, daß sie sich innerhalb der Kreislinie abspielen, welche in der
Figur die Erdoberfläche bezeichnet. Zum Vergleiche sind auch die Haupt-
schichten der Atmosphäre eingetragen.
Dafür, daß das Material der Meeresböden ein
anderes ist als das der Festländer, lassen sich
wohl keine direkten Beweise erbringen; allein
schon das Relief der Tiefseeböden scheint für die
Richtigkeit einer solchen Annahme zu sprechen.
Man weiß seit geraumer Zeit, daß der Tiefsee-
boden auf große Strecken hin ganz auffällig ge-
ringe Höhenunterschiede aufweist. Das war aus
Gründen der Isosta«ie nicht zu erwarten. Die
Tatsache, daß der Meeresboden unerwartet eben
ist, machte es wahrscheinlich, daß er eine größere
Plastizität besitzt als die Kontinentaltafeln. Auch
das Fehlen von Faltengebirgen auf den Ozean-
böden spricht dafür, daß hier die schwere, mag-
matische Barysphäre entblößt ist.
Die Lithosphäre ist somit auf die Kontinente
beschränkt. Diese bestehen jedoch in der Haupt-
sache aus Gneis und gneisähnlichem Material; die
im Durchschnitt nur 2400 m mächtige Sediment-
decke kann als eine Art oberflächlicher Verwitte-
rungsschicht betrachtet werden. Nach dem Vorgang
von Süeß bezeichnet nun Wegen er die Ge-
samtheit der gneisartigen Urgesteine der Konti-
nentalschollen als „Sal", nach den Anfangsbuch-
staben der Hauptbestandteile Siliciimi imd Alumi-
nium. Das Material der Tiefseeböden benennt er
im Gegensatz zu Sal mit „Sima", welchen Aus-
druck Süeß für die vulkanischen Erupti^/gesteine
(nach den Bestandteilen Silicium und Magnesium)
eingeführt hat.
Die Kontinentaltafeln, die salischen Schollen,
bestehen aus kristallisiertem Material, dem jedoch
eine gewisse Plastizität zugesprochen werden muß,
was sich aus der Tatsache des gebirgsbildenden
Zusammenschubes und der Fältelung im einzelnen
ergibt. Diese Plastizität nimmt nach unten unter
der Wirkung der Druck- und Temperatursteigerung
zu. Die Mächtigkeit wird zu 100 km angenom-
men. Dieser Wert beruht nicht nur
auf bloßen Schätzungen. Er hat sich
aus Lotabweichungen in Nordamerika
berechnen lassen und steht in be-
friedigendem Einklang mit Pendelbe-
obachtungen und Ergebnissen der
Erdbebenforschung. Die Salschollen
sind leichter als das Sima. Sie
schwimmen auf diesem. Sie können
sich auf ihm verschieben. Der Schmelz-
punkt der salischen Gesteine liegt
allgemein etwa 200 — 300" C höher
als der dersimischen. An der Unter-
seite der Kontinentalschollen darf
dieses Verhältnis vollends angenom-
men werden. Bei einer bestimmten
Temperatur ist also das Sal Ijier fest,
das Sima flüssig. Es sind auch ge-
wisse Anzeichen dafür da, daß das
Sal bisweilen an der Unterseite
von KonlinentalschoUen geschmolzen
wird.
Das Sima haben wir uns zäh-
flüssig, jedoch etwa im Sinne der
hohen Plastizität des Gletschereises, vorzustellen.
Auf resp. in ihm schwimmt das Sal nicht nur,
die leichteren Salschollen können im schwereren
Sima auch Verschiebungen erfahren.
Die Entwicklung der Erdrinde denkt sich
Wegener wie folgt: Das salische Material bildete
ursprünglich wohl eine geschlossene Haut um das
Sima herum, das seinerseits in etwa lOOO km Mäch-
tigkeit den hauptsächlich aus Nickel und Eisen
bestehenden Kern der Erde umschließt, der nach
Süeß den Namen Nife trägt (Abb. 2). Diese ge-
schlossene salische Haut, wies eine bedeutend
geringere Mächtigkeit, von etwa 35 km, auf. Im
Verlaufe der Zeit müßte sie sich dann allerdings
bis auf ein Drittel ihrer früheren Ausdehnung
zusammengeschoben haben, denn die Kontinental-
scholen machen heute 35 "/,, der ganzen Erdober-
fläche aus. Diese Annahme läßt sich jedoch sehr
wohl stützen; denn ein Zusammenschub auf ein
Drittel ist, wie es scheint, ein normaler Wert für
die Gebirgsfaltung. Wir hätten somit nur anzu-
nehmen, daß alle salischen Schollen schon einmal
durchgefaltet wurden, wofür Anhaltspunkte vor-
handen sind. — Die ozeanischen Wassermassen
hätten im Anfang als eine „Panthalassa" von etwa
N. F. XVI. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
7or
3 km Tiefe der ganzen Erde bedeckt. Damit
stimmen die paläontologischen Tatsachen überein,
daß es vor dem Devon noch keine Landpflanzen,
vor dem Silur noch keine lungenatmenden Tiere
gab. — Dann folgte das Aufreißen der salischen
Rinde und Scheidung des Meeres in F"lach- und
Tiefsee; weiterhin Zusammenschub der salischen
Kruste und damit Auftauchen der Kontinental-
massen, die zunächst eine große Tafel bilden.
In dieser kommt es in der Folge zu
riesigen Abspaltungen. So haben wir uns
z. B. „den Atlantik als eine erst im Tertiär
aufgerissene riesenhafte Spalte" vorzustel-
len. Die dadurch voneinander getrennten
Tafelstücke lagen zunächst noch nahe an-
einander, wurden aber im Verlauf der
geologischen Zeiträume durch einstweilen
noch unbekannte Kräfte immer weiter von-
einander geschoben. So wurde die neu-
wehliche Kontinentalscholle immer mehr
von der altweltlicheu abgetrieben, wobei
„am Westrande der amerikanischen
Schollen die langen Gebirgsketten der
Anden aufgestaut wurden", während sich
die gewaltige, nordsüdliche Spalte all-
mählich zur heutigen Ausdehnung des
Atlantiks erweiterte — alles Prozesse, die
auch jetzt noch im Gang sind.
Nehmen wir nunmehr den Atlas zur
Hand, so wird uns die, übrigens schon
früher beobachtete, unverkennbare Paralle-
lität der atlantischen Küstenlinien sofort in
die Augen fallen. Sie allein schon spricht
dafür, daß diese Küsten die Ränder einer
ungeheuer erweiterten Spalte darstellen.
Verfolgt man die Linien, so zeigt sich, daß
jeder Vorsprung auf der einen Seite in eine
Ausbuchtung der anderen paßt. Durch
Einbruch des Zwischenlandes, das ca.
50CO km Breite besessen haben müßte,
kann keine derartige Kongruenz entstehen.
Man darf darum auch die großzügige
Parallelität der atlantischen Küsten als
eine der Stützen (wenn auch nicht die
bedeutsamste) der Verschiebungstheorie
betrachten.
Wichtiger ist, daß sich beim Zusam-
menfügen der Schollen auch keine Un-
stimmigkeiten der Struktur ergeben. Das
müßte doch offenbar der Fall sein, wenn
die Schollen stets in dem heutigen Ab-
stand von 4— 5000 km voneinander ab-
gelegen hätten. Nun erscheint aber in
der i'at auf der ganzen Linie die Struk-
tur der einen Seite als die genaue Verlängerung
der entsprechenden der anderen Seite. Nur
zwei markante Beispiele seien erwähnt. Das
sogenannte armorikanische Gebirge der nord-
westeuropäischen Kohlenlager bricht bekannt-
lich gegen den atlantischen Ozean mit einer
steilen Riasküste ab, die aber unmöglich das
natürliche Ende dieses Gebirgsbaues sein kann.
Nach der Verschiebungstheorie findet es seine un-
mittelbare Fortsetzung in den Kohlenlagern Nord-
amerikas, wo ebenfalls ein karbonisches Falten-
gebirge vorliegt, das wie das europäische nach
Norden gefaltet ist und wie dieses jäh in Gestalt
einer typischen Riasküste am Meer ausstreicht.
Und Hauptsache: Fauna und Flora nicht nur der
karbonischen sondern auch der älteren Schichten
zeigen eine unzweifelhafte Identität, die immer
deutlicher wird, je mehr das Beobachtungsmaterial
hüben und drüben anwächst. — Und ein zweites
Beispiel : Das höchst eigenartige, gegen das übrige
Afrika scharf abstechende Kapgebirge setzt sich,
wie Keidel I9i4ganz unabhängig von Wegener
nachwies, nach Südamerika in Gestalt der Sierren
südlich von Buenos Aires fort, welche in Bau und
Geschichte vollständig mit ihm übereinstiminen.
7o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. so
„Hier müßte man bei unveränderlicher Entfernung
der Kontinente annehmen, daß eine Verbindungs-
strecke von 6700 km Länge versunken sei, um
die beiden Stümpfe im Osten und Westen mit-
einander zu verbinden! Bei dem rekonstruktiven
Zusammenfügen der südamerikanischen und afrika-
nischen Scholle werden dagegen die beiden Partien
gerade zur Berührung gebracht" (vgl. Abb. 3).
Eine Gruppe von Erscheinungen liefert eine
besonders starke Stütze für die Richtigkeit der
Verschiebungshypothese, nämlich die permisch -
karbonische Eiszeit. Spuren derselben
finden sich in Südamerika, Südafrika, Vorderindien
und Australien, also in räumlich sehr weit von-
einander abliegenden Gebieten. Sie zu erklären,
hat man Pohvanderungen angenommen. Allein
wenn man auch den Pol an die günstigste Stelle
verlegte, nämlich mitten in den Indischen Ozean,
so erhielten die fernsten Gebiete mit Inlandeis
immer noch geographische Breiten von 30—35 Grad,
so daß z. B. die Eisfelder Indiens so weit von ihm
ablägen wie Algier und Tunis vom heutigen
Nordpol. Man müßte sich also die ganze Süd-
halbkugel mit Inlandeis überdeckt vorstellen,
während die ganze entsprechende Nordhalbkugel,
wie die Tatsachen es dartun, eisfrei war. Daß
eine solche Vereisung nur der einen Erdhälfte in
astronomischer wie in klimatologischer Hinsicht
ein Unding ist, kann kaum zweifelhaft sein. Gerade
hier liefert nun die Wegene rsche Verschiebungs-
theorie den einzig völlig befriedigenden Erklärungs-
versuch. Nach ihr rücken Südamerika (samt den
Falklandsinseln), Vorderindien und Australien (samt
Neuseeland) konzentrisch auf Südafrika zusammen.
DerSüdpol lag inmitten seiner Glazialerscheinungen,
in Südafrika. Die um ihn lagernde Eiskappe
hatte eine Ausdehnung, die ungefähr derjenigen
der diluvialen Nordpoleiskappe entpricht, so daß
keine abenteuerliche Vereisung der ganzen Süd-
halbkugtl mehr angenommen werden muß. Aber
auch der permkarbonische Nordpol macht jetzt
keine Schwierigkeiten mehr, denn er kommt nach
der Verschiebungstheorie auf heute 20 Grad Nord-
breite mitten in den Pazifik zu liegen, wo keine
Glazialbiidungen erzeugt werden konnten.
So ist die We gener 'sehe Hypothese sehr
wohl und mannigfach begründet. Es darf ihr
zum mindesten jetzt schon der Wert einer Arbeits-
hypothese zugesprochen werden. Sie wird zweifel-
los zu einer Reihe neuer Fragestellungen auf den
verschiedensten Gebieten Veranlassung geben, vor
allem natürlich in der Geologie und ihren Nach-
bardisziplinen, aber auch in Tier- und Pflanzen-
geographie.
Einzelberichte.
Meteorologie. Mit dem Einfluß des Geschütz-
feuers und der Minensprengungen auf die Witterung
beschäftigte sich abermals die Pariser Akademie der
Wissenschaften in ihrer Sitzung vom 6. August 1917
(Hildebrandson H., Quelques motssur l'influence
possible des grands canonnades sur la pluie.
C. R. t. 165 Nr. 6). Wie man wisse, sei die älteste
Theorie über die Ursache des Regens jene von
JamesHutton(i 784). Danach sei das Zusammen-
treffen von zwei Luftmassen, die entweder ganz
oder fast ganz mit Wasserdampf gesättigt smd,
stets von einer Kondensation oder von einem
Niederschlag begleitet. Man wisse jetzt aber, daß
eine solche Vermischung niemals einen heftigen
Regenfall veranlassen könne, sondern höchstens
Wolken- und Nebelbildung begünstigte. 1867 habe
als erster Peslin die Formeln der Thermodynamik
auf die atmosphärischen Erscheinungen in An-
wendung gebracht in seinem Werk: Sur les
mouvementsgcneraux de l'atmosphere (veröffentlicht
im Atlas meteorologique des Pariser Observato-
riums). Er untersuche darin die Temperaturver-
änderung einer mit Wasser gesättigten und einer
nicht gesättigten Lufimenge, welche in höhere
oder tiefere Schichten der Atmosphäre gelangen,
und weise nach, daß eine Hauptursache des Regens
in der dynamischen Abkühlung einer aufsteigenden
Lufimasse zu suchen sei. Durch das Sinken werde
dagegen die Luft erwärmt und könne deshalb
keine Verdichtung des Wasserdampfes hervorrufen.
Bekanntlich bauten später Hann, vonBezold
u. a. auf diesen Ergebnissen Peslin's weiter, und
gegenwärtig seien folgende Sätze zu allgemeiner
Gültigkeit gelangt:
1. Die Vermischung von zwei mit Wasserdampf
gesättigten Luftmengen kann niemals heftigen Regen
hervorbringen.
2. Eine herabsinkende Luftmasse kann nie
Regen veranlassen, wohl aber die Temperatur
steigern und die in den oberen Luftschichten
herschende Trockenheit erhöhen.
3. Die Hauptursache des Regens ist in der
Abkühlung eines aufsteigenden Luftstroms zu
suchen.
Längere Zeit glaubte man, daß die Verdünnung
der mit Wasserdampf gesättigten Luft genüge, um
die Bildung von Regen zu veranlassen. Neue
Versuche hätten indessen gezeigt, daß dies nicht
zutreffe. Schon 1875 habe C ou Her nachgewiesen,
daß das Vorhandensein von in der Luft suspen-
dierten Staubteilchen zur Kondensation notwendig
sei. Coulier's Ergebnisse wurden durch die
verschiedenartigsten Versuche bestätigt von
Mascart, Vueßling, Helmholiz Aitken
und Melander. Wie später Wigand zeigte,
gäbe es gewisse Staubarten, welche keine Konden-
sation veranlassen, so z. B. der reine Kohlenstaub.
Hygroskopischer Staub dagegen veranlasse eine
solche sehr leicht; so wäre der Rauch z. B. sehr
wirksam wegen der hygroskopischen Teilchen,
N. F. XVI. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1^1
die mit dem reinen Kohlenstaub gemischt sind .
Endlich hätten Thomson.Aitken.Langevin,
Chauveau, Frau Curie u. a. bewiesen, daß
Ionen oder ionisierte Teilchen, besonders negative,
am wirksamsten den Wasserdampf kondensieren.
Es stehe nun außer Zweifel, daß das häufige und
lang andauernde Geschützfeuer einen Einfluß auf
den Regenfall haben könne. Die erste Bedingung
allerdings sei, daß die Luft Wasserdampf bis zur
Sättigung erhalte. Das Geschützfeuer könne dann
lediglich den Regenfall beschleunigen, der auch
sonst eingetreten wäre.
Ein diesbezüglicher Versuch sei in Amerika
angestellt worden. Es war eine große Summe
ausgesetzt, um Mittel ausfindig zu machen, durch
v/elche Regenfall entstehen könne. Die Versuche
wurden 1892 ausgeführt in der Gegend von San
Antonio (Californien), da man dort sehr unter
trockener Witterung zu leiden halte. Es wurden
2000 kg bzw. 2270 kg eines Sprengmiltels (Rosselit)
zur Explosion gebracht; außerdem ließ man je
150 Bomben platzen und 8 bzw. 12 Ballone
explodieren, welche nur Rauchgas enthielten und
gegen die Wolken aufgestiegen waren. Im Norden
herrschte tiefer, im Süden hoher Druck; die Tem-
peratur war 22.2 ^ C, der Taupunkt l6,i " C. Die
Versuche, welche zwei Tage dauerten, verliefen
gänzlich erfolglos, was nach dem, was wir von
der Bildung des Regens wissen, auch selbverständlich
war. Es bestehe also die Ansicht von Deslandres
zurecht, daß ein Einfluß des Artilleriefeuers auf
den Regenfall nur unter gewissen Bedingungen
stattfindet, besonders insoweit es sich um lokale
Niederschläge handelt. Sehr reichliche und an-
dauernde Regenfälle dagegen können nach Lemoine
nur durch starke Lufiströme und durch Gewitter
veranlaßt werden.
Die von S e b e r t aufgeworfene Frage, ob das
Geschützfeuer auch in weiter Entfernung vom
Schlachtfelde Regen veranlassen könne, stoße auf
größere Schwierigkeiten. Es müsse vorausgesetzt
Werden, daß große Luftmassen am Oite der Ex-
plosionen sich erheben und in der Höhe auf Luft-
schichten stoßen, welche mit Wasserdampf gesättigt
seien ; erst dann sei es möglich, daß sie Regen-
fälle verursachen. Nur durch Versuche könne
diese Frage gelöst werden; es sei auch wenig
wahrscheinlich, daß eine solche Beeinflussung der
Wetterlage auf große Entfernung hin stattfinde.
Man könne nicht annehmen, daß die während des
Krimkrieges in Frankreich beobachteten Regenfälle
durch die Schlachten im Süden Rußlands ver-
anlaßt worden wären. Es konnten ofifenbar keine
großen Luftmassen der Erdoberfläche entlang über
hohe Gebirge und durch tiefe Täler sich bewegen.
Je höher man sich in der Atmosphäre erhebe,
um so mehr stoße man auf eine von West nach
Ost gerichtete Luftströmung, welche von den
wärmeren Gegenden komme und immer beständiger
werde. Die Ständigkeit dieses in der Höhe der
Cirruswolken (7 — 10 km) herrschenden Windes
sei i^gestellt durch Beobachtung von Wolken
und Luftballonen. Die Verschiebung großer Luft-
massen von Ost nach West sei wegen dieser
regelmäßig herrschenden Windrichtung unmöglich.
S e b e r t berichtet, daß vulkanischer Staub oft lange
Zeit in den höchsten Schichten der Atmo'^phäre
schweben bleibe und einen grauen, den Himmel
bedeckenden Schleier, ja sogar trockenen Nebel
und rote Dämmerungserscheinungen hervorrufe,
beim Ausbruch des Aetna (1723), auf Island (1783),
des Krakatau (1883) und des Viatmai (19 12); bei
dem des Krakatau blieben ungeheure Massen
feinsten Staubes während mehrerer Jahre in den
höchsten Luftschichten schwebend; noch 1890
sah man sie in hellen Nächten als „Silberwolken",
deren mittlere Höhe Jesse zu 82 km bestimmte.
Dieser Staub habe also die Stratosphäre erreicht,
wo senkrechte Bewegungen nicht mehr vorkommen
und wo die Temperatur (— 60 "^j fast unveränderlich
bleibe. Dieser Staub sei also sehr langsam und
in sehr kleinen Mengen in die tieferen Luftregionen
heruntergefallen und habe keinen Regen in den
sehr trockenen Luftschichten verursachen können.
Übrigens erreiche auch der stärkste von Minen
herrührende Rauch eine solche Höhe nicht.
Kathariner.
Um die äußere Zone abnormer Hörbarkeit, die
während des Krieges häufig beobachtet worden
ist, zu erklären, hat v. d. Borne angenommen,
daß die schräg nach oben dringenden Schall-
strahlen an der Grenze der in 70 bis 100 km
Höhe befindlichen Grenze der Stickstoff-, Sauer-
stoff- und der Wasserstoft'- Atmosphäre wieder
nach unten gebogen werden und so zur Erde
zurück gelangen. E. Schrödinger (Wien)
kommt in der Physik. Zeitschr. XVIII (191 7)
S. 445 auf Grund seiner Untersuchungen zu dem
Ergebnis, daß die Dämpfung der Schallwellen
durch Wärmeleitung und innere Reibung so be-
trächtlich ist, daß V. d. Borne's Theorie
höchst unwahrscheinlich ist. Die Dämp-
fung der Schwingung der Luftmoleküle einer
ebenen Schallwelle ist in Luft von Almosphären-
druck gering, jedoch nimmt sie nach den Unter-
suchungen von Stockes, Kirch ho ff und
Rayleigh mit wachsender Verdünnung zu, um
sich allmählich stark bemerkbar zu machen. Die
Beobachtung, daß durch größere Entfernungen
hin fortgepflanzten Tönen und Geräuschen auf
hohen Bergen alles Harte fehlt, daß es bei Hoch-
fahrten im Ballon schwierig ist, sich über weitere
Strecken zu verständigen, bestätigen dieses Resultat.
Daß eine stärkere Dämpfung mit abnehmendem
Druck eintreten wird, kann man ohne alle mathe-
matischen Hilfsmittel auf folgende Weise plausibel
machen: Während bei Atmosphärendruck die
freie Weglänge — d. i. die Strecke, die ein Molekül
im Mittel zwischen zwei Zusammenstößen zurück-
legt — außerordentlich klein ist, nimmt sie bei
kleiner werdendem Druck (Dichte) zu. Nähert sie
sich der Wellenlänge der Schallwellen, dann
findet, da Schallgeschwindigkeit und Molekular-
7o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. so
geschwindigkeit von derselben Größenordnung
sind, ein Austausch zwischen den Stellen ver-
schiedener Dichte und Temperatur und den Orten
verschiedener Massengeschwindigkeit der Schall-
welle statt; es wird ein Transport von Wärme
und Bewegungsgröße zwischen den verschiedenen
Teilen der Welle vermittelt, so daß eine Störung
der regelmäßigen Wellenausbreitung, der mit
steigender Verdünnung wächst, eintritt. Schließ-
lich wird die Wellenbildung überhaupt unmöglich.
Es liegt auf der Hand, daß die Dämpfung für
kurze Wellen größer ist und schon bei höheren
Drucken eintritt als für lange. Töne, deren
Wellenlänge kleiner als lO m ist, werden schon
in verhältnismäßig tiefen Schichten der Atmo-
sphäre vollkommen ab^^orbiert. Es ist ausge-
schlossen, daß längere Wellen (die tiefsten in der
Musik verwendeten haben eine Wellenlänge von
etwa 30 m) bis zu einer Höhe von 80 km in
der Luft von o" senkrecht nach oben dringen.
Da nun einerseits die Temperatur mit der
Höhe abnimmt und andererseits die Wellen
schräg nach oben verlaufen, wird die Sachlage
noch ungünstiger. Es ist demnach sehr unwahr-
scheinlich, daß Schallenergie von merklicher Inten-
sität bis an die etwa in dieser Höhe anzunehmende
Grenze der Wasserstoffatmosphäre hinaufdringt.
K. Seh.
Mikrotechnik. Färbung mikroskopischer Prä-
parate mit Farbstiften. In seiner Eigenschaft als
Korpshygieniker fand E. Friedberg er (Münch.
med. Wochenschr. 1916. S. 1675 ff.), als er einmal
im Felde Ausstrichpräparate schnell durchzusehen
und gerade keine Farblösung zur Hand hatte, daß
eine intensive und distinktive Färbung der Präparate
mit Hilfe eines Tintenstiftes (Kopierstiftes) möglich
ist. — Der eigentliche Farbbestandteil des Tinten-
stiftes ist das Methylviolett, d. Ref. — Es ge-
nügte etwas Wasser auf das vorher in der Flamme
fixierte Präparat zu tupfen und in dieses etwas
Farbmasse zu bringen, was sich durch sekunden-
langes Hin- und Herschwenken des Stiftes im
Wasser bewerkstelligen ließ.
Dieser Verlegenheits versuch brachte nun P'ried -
berger auf den Gedanken, der unterdessen in die
Tat umgesetzt ist, die für mikroskopische Färbungen
am häufigsten benutzten Farbstoffe und Mischungen
in Form derartiger Stifte herstellen zu lassen. Die
HerstellungübernahmdieFirma Paul Altmann,
Berlin N.W. 6.
Der Vorteil liegt auf der Hand. Die Stifte
machen das lästige Mitführen der verderbenden
und eintrocknenden I-'arblösungen überflüssig
(Feld, Expeditionen, Tropen usw.). Dem prak-
tischen Ärzie, der nur selten zu färben hat,
sind sie schnell zur Hand. In bakteriologischen
Kursen, namentlich für Anfänger, gestatten sie ein
sauberes Arbeiten. Bei jedem Präparat lassen sich,
mit ganz schwachen Konzentrationen beginnend,
die jeweils erwünschten Lösungen erzielen, ohne
daß vorher im Glase die brauchbaren Verdün-
nungen hergestellt werden müssen. Durch Zusatz
von entsprechenden Chemikalien zu der Stiftmasse
kann man auch fertige zugleich beizende, difteren-
zierende usw. Farblösungen erhalten. Der Material-
verbrauch ist minimal und sehr sparsam; die
Stifte selbst sehr billig. Zu den Stiften wird ein
praktischer Halter geliefert.
Zunächst sind folgende sechs „Farbstifte nach
E. F r i e d b e r g e r" hergestellt worden : Universal-
stift, Rotstift, Blaustift, Karbolfuchsinstift, Chrysoi-
dinstift und Giemsastift, von denen allerdings der
Kriegsverhältnisse wegen nur die ersten drei augen-
blicklich geliefert werden. Auf diese Weise her-
stellbar sind aber fast alle gebräuchlichen Farb-
lösungen und Kombinationen.
Der Universalstift (violett) z. B. eignet sich für
fast alle notwendigen Färbungen von Mikroorga-
nismen. Ein einmaliges, kurzes Eintauchen und
Umrühren des Stiftes in dem auf dem fixierten
Objektträger- oder Deckglaspräparate befind-
lichen Wasser genügt, um sehr distinkte Färbungen
von Bakterien (Eiter, Gonokokken usw.) zu er-
halten. Er liefert auch vorzügliche Gramfärbungen.
Die Narhfärbung geschieht mit dem Rotstift. Auf
dem Deckglase aufgeklebte Organschnitte lassen
sich so gut wie Ausstrichpräparate nach Gram
färben. Die gefärbt^ Ausstriche und Schnitte
halten sich mindestens 5 Monate.
Neuerdings teilt Hans Lipp (Münch. med.
Wochenschr. 1917. S. 702 ff.) seine unterdessen an
etwa 1000 Farbstiftfärbungen gewonnenen Er-
fahrungen mit. Er ist angenehm überrascht von
den tadellosen Färbungen, die mit den Stiften
erzielt werden und empfiehlt sie besonders den
Feldlazeretten und Ärzten im Felde, denn „sie
sind in jeder Westentasche wie Bleistifte mitzu-
nehmen. Sie benötigen zur Auflösung lediglich
Brunnen- oder Regenwasser. Der Verbrauch der
F"arbstiftmasse ist sehr gering; der Preis sehr mäßig.
Sie liefern tadellose Bilder, die den durch Farb-
lösungen in nichts nachstehen." Besonders hebt
er hervor, daß die Spirochäten mühelos nach einer
halbstündigen Färbung mit etwas intensiverer
Lösung des Universalstiftes zu erblicken sind. Eine
Tatsache, die besonders im Felde von hoher prak-
tischer Bedeutung ist. Olufsen.
Paläontologie. „Die Fährten von Chirothe-
rium" untersuchte Karl Willruth in einer
Hallenser Dissertation 1917 (Geolog.-Paläont.Institut,
Geheimrat Dr. J. Walt her).
Die ersten Chirotherium Fährtenabdrücke
wurden 1833 von Gymnasial-Direktor Sirkler
in Hildburghausen entdeckt und 1835 von Kaup
als Chirotherium Barthi beschrieben. Im J. 1841
fand der Pharmaziestudierende P'eldmann Chirothe-
riumfährten am Saaleufer zwischen Jena und Kunitz
und ebenso im September desselben Jahres der
damalige Pfarrer Vorbeck zu Aura a. S. in den
Steinbrüchen der Gegend \-on Kissingen. Be-
N. F. XVI. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
;uy
sonders reich ist die Umgebung von Kulmbach
(Eggenreuth, Kauerndorf, Blaich, Purbach, Ködnitz),
deren Fährten 1847 eingehend beschrieben wurden
und noch heute von dem eifrigen Lokalforscher
Drogist Hesse gesammelt werden (Sammlung im
Stadtmuseum in Kulmbach). Im August 1851
wurden zahlreiche Chirotheriumfährten ver-
schiedener Altersstufen im Reinstädter Grund bei
Gumperda unweit Kahla a. S. gesammelt, denen sich
1860 charakteristische Funde in der Nähe Fuldas,
1875 bei Istergiesel und 1891 bei Weißenfels an-
reihen. Alle diese F'ährten entstammen den oberen,
zumeist „Chiroiheriumsandstein", genannten Lagen
des Minieren Buntsandsteins, die durch weißliche
Farbe, kalkiges Bindemittel, feines bis mittleres
Korn, Dünnplattigkeit von den mehr dickbankigen
Lagen des übrigen Mittleren Bunisandsteins gut
zu unterscheiden sind.
Weitere F'ährten beschreibt Sand berger aus
dem etwas höher liegenden „Fränkischen Chiro-
theriumsandstein" des Rots.
Heute besitzt wohl jede deutsche Universitäts-
sammlung, sowie manche große Sammlung des
Auslandes Exemplare der charakteristischen F'ährten
von Hildburghausen, ebenso die Lokalsammlungen
zu Altenburg, Coburg, Kulmbach, F"ulda, Gotha,
Hildburghausen und Meiningen Funde aus ihrer
Nachbarschaft.
Zum besseren Studium der Fährten, die als
Ausfüllung der Fährteneindrücke mit Sandstein
vorliegen und deshalb stets nur die Unterseite,
also das Liegende der Platte bedecken, wurden
diese nach einem schon länger bekannten 'Verfahren
abgeklatscht. Man benetzt ungeleimtes Papier
(Filtrierpapier, das im Notfalle auch durch unbe-
drucktes Zeitungspapier gestreckt werden kann),
legt es auf die vorher abgewaschene Fährte und
drückt es mit einer weichen Bürste durch fort-
währendes Klopfen fest an die Fährte an. Das-
selbe macht man mit einer weiteren Lage nassen
Filtrierpapiers und wiederholt je nach der Höhe
des Reliefs den 'Vorgang 3—5 mal. Je sorgiältiger
das feuchte Papier angepreßt wird, um so schärfer
und naturgetreuer wird der Abdruck. Nach
3 — 4 Tagen, wenn das Papier vollständig trocken
ist, läßt sich nun die wirkliche Fährte als steifes
Gebilde abnehmen und daran die verschiedenen
Studien anstellen. Durch Aneinanderkleben ent-
sprechender Abklatsche derselben Fährte kann
ein Spursystem beliebig vergrößert werden, was
für übersichtliche Studien von 'Vorteil ist.
Unter all den vielen Fährten, an denen der
Buntsandstein infolge seiner terrestrischen Ent-
stehung reich ist, fällt sofort die Chirotheriumfährte
durch ihre wohlcharakterisierte unverkennbare
Form auf Die wichtigsten Hauptmerkmale sind:
Hinterfuß bandförmig, 'Vorderfuß
nur halb so groß und stets unmittelbar
vor den Hinterfuß gesetzt.
Es werden in Deutschland 2 Arten unter-
schieden: Chirotherium Barthi und das
kleinere in manchem abweichende Chirotherium
Borne m_anni, das vielleicht nur eine Jugend-
form der erstgenannten Art ist. Dazu kommt
Ch. gallicum aus dem französischen Buntsand-
stein von Saint 'Valbert bei Luxeuil, HauteSaone
und von Lodeve, sowie Ch. Herculis aus dem
englischen Buntsandstein von Tarporley. Uns
interessieren hier die deutschen "Vorkommen.
Chirotherium Barthi Kaup:
Der bandförmige Hinterfuß zeigt 4 plumpe,
vorn spitz endigende und mit Nägeln besetzte,
aus 3 Gliedern bestehende Zehen. Die bei Jugend-
formen gewölbte Flußsohle wird im Alter platt-
fußartig. Die Ferse des Hinterfußes ist bei mittleren
Formen schlank, wird aber im Alter plump. Ganz
besonders charakteristisch ist der seitlich gerichtete
fleischige Anhang der Ferse, der ungegliedert ist,
spitz endigt oder etwas umgebogen ist. In der
bisherigen Literatur wurde er als „Daumen" in-
folge der ähnlichen Lage bei der Hand bezeichnet.
Die abgeklatschten Spursysteme, sowie vor allem
ein nach den Maßen der Fährte gebautes Re-
konstruktionsmodell desChirotheriumtieres, mit dem
die P'ährte abgeschritten werden konnte, haben
ergeben, daß der bisherige „Daumen" — jetzt
„Ballen" genannt — ein externer fleischiger un-
gegliederter nagelloser Anhang der Ferse ist.
Möglicherweise ist der Ballen ein Organ, das
hauptsächlich zum Aufhalten (Bremsen) auf
der glitschigen feuchten Tonunterlage diente,
wofür vor allem das meist umgebogene Ballen-
ende spricht. Daß die Tiere tatsächlich auf einer
feuchten Tonunterlage, wahrscheinlich in einer
Oase der Buntsandsteinwüste gewandert sind, das
beweist der stets die Fährten bedeckende grüne
Tonbelag. Die Breite des Hinterfußes beträgt
etwa die Hälfte der Länge.
Unmittelbar vor den Hinterfuß, in derselben
Linie liegend und etwas nach außen übergreifend,
ist der dazugehörige Vorder fuß geseizt, der
nur etwa halb so groß wie der Hinterfuß und
'% bis ^j^ so breit als lang ist. Die Zehen sind
plump und endigen spitz. Der Ballen ist selten
ganz abgedrückt, endigt spitz und ist selten um-
gebogen. Unvollständig abgedrückte Vorderfüße
zeigen manchmal nur 3 Zehen.
Beim Gehen erfolgte der Hauptdruck auf die
Zehen und den Zehenballen. Die Haut ist vielfach
runzlig, warzenförmig.
Die Entfernung des Vorderfußes vom Hinter-
fuß ist etwa halb so lang als der Hinterfuß. Die
einseitige Schrittlänge ist bei mittleren Individuen
etwa 4 mal, bei kleineren 6—7 mal so groß wie
die Länge des Hinterfußes. Daraus kann man
schließen, daß ältere Tiere dickleibiger und schwer-
fälliger waren. Der Hinterfuß der größten be-
kannten Fährte (Reinstädter Grund bei Gumperda)
ist 31 cm lang und 17 cm breit, während das
als Normalform betrachtete Stück der Sammlung
des GeologischPaläontologischen Instituts der
Universität Halle, dessen Maße für das Holzmodell
verwendet wurden, folgende Größenverhältnisse
zeigt :
71Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 50
Hinterfuß: 23 cm lang, 10 cm breit
Vorderfuß: nicht genau bestimmbar
Schrittlänge: 59 cm
Nach dem Holzmodell zu schließen, war Ch.
Barthi etwa von Wolfsgröße und besaß eine un-
gefähre
Rumpf länge von 76 cm
Schrittlänge von 60,5 cm
'^°''^^' von ^3 cm
72
Es kommt in 3 Gebieten in Deutschland vor:
1. nördlich des Thüringer Waldes (Jena, Gum-
perda, Bockedra, Waldeck, Weißenfels),
2. südlich des Thüringer Waldes (Hildburg-
hausen, Wasungen, Kulmbach),
3. Gegend von Fulda bis Aura bei Kissingen.
Chirotherium Bornemanni Willruth:
Unter dem von Bornemann gesammehen
Material befand sich auch eine kleinere Fährtc
von Harras, welche durch andere Gangart, andere
Größenverhältnisse, größere Entfernung des Vorder-
fußes vom Hinterfuße, weit größere Schrittlänge
(bei 4—5 cm Länge des Hinterfußes bis zu 19,7 cm)
und schlankere Form der Zehen von Ch. Barthi
unterschieden ist. Auch folgen die Schritte nicht
genau parallel, sondern stehen in einem spitzen
Winkel zur Mittellinie. Der Hinterfuß ist 4,8 cm
lang, 2 cm breit. Vielleicht i.st es nur eine
Jugendform von Ch. Barthi.
Ch. Barthi und Bornemanni' kommen nur in
den hangenden Lagen des Mittleren Buntsandsteins
vor, die auch „Thüringer Chirotherium-
sandstein" genannt werden. Sie sind ein gutes
Leitfossil für diesen Horizont. Der Chirotherium-
sandstein bedeckt einen großen Teil Norddeutsch-
lands, erstreckt sich bis Südhannover und geht süd-
wärts bis über die Mainlinie.
In Franken wurden 50 m über dem Thüringer
Chirotheriumhorizont in dem sogenannten „Frän-
kischen Chiroiheriumsandstein" bei Thüngersheim
und Gambach Fußabdrücke gefunden, die nicht
dem Ty()us Chirotherium Barthi angehören. Eine
genauere Diagnose war wegen schlechter Erhaltung
nicht zu geben.
Die interessanten Untersuchungen von Will-
ruth haben viel Klarheit in das Fährtenproblem
des Buntsandsteins gebracht und haben unzwei-
deutig die richtige Gangart von Chirotherium er-
wiesen. V. Hohenstein, Halle.
Physik. Zerlegt man die von der Antikathode
ausgehende Röntgenstrahlung mittels einer geeig-
neten Kristallplatte, dann findet man, daß sie aus
zwei Teilen besteht: einem kontinuierlichen Spek-
trum, das alle Wellenlängen enthält, ist ein dio-
kontinuierliches überlagert. Die Wellenlängen des
Linienspektrums ändern sich, wenn man das Meiall
der Antikathode durch ein anderes ersetzt. Man
stellt sich vor, daß beim Aufprall der Elektronen
auf die Antikathode Bausteine der Atome des
Antikaihodenmctalls in äußerst schnelle Schwin-
gungen geraten und dabei die „charakteristische"
Strahlung aussenden (das kontinuierliche Spektrum
entsieht bei der Bremsung der Elektronen). Von
der Erforschung der Hochfrequenzspekiren der
Elemente dürfen wir wichtige Aufschlüsse über
den inneren Bau der Atome erwarten, eine Frage,
die in der modernen Physik eine große Rolle
spielt. Es ist darum von großer Bedeutung, daß
anscheinend ein zweiter Weg gefunden ist, um
die .Atome eines Elementes zur Aussendung ihres
Hochfrequenzspektrums zu veranlassen. In der
Physikal. Zeitschr. (XVIIl (1917) S. 479) veröffent-
licht M. Wolfke eine Arbeit über eine neue
Sekundärstrahlung der Kanahtrahlen. In dieser
wird, um das Ergebnis vorweg zu nehmen, nach-
gewiesen, daß Zinn und Blei unter Ein-
wirkung von Kanalstrahlen eine ziem-
lich intensive durchdringende Strah-
lung aussenden, die vermutlich ihre
charakteristischeRöntgenstrahlung ist.
Schon J. J. Thomson hat Blei mit Kanalstrahlen
idas sind mit positiver Elektrizität beladene Gas-
atome (Atomionen), die sich in Entladungsröhren
auf die Kathode zu bewegen und zuerst von
Goldstein beobachtet wurden, der sie durch
in die Kathode gebohrte Kanäle hindurchgehen
ließ) bestrahlt und gefunden, daß von dem Blei
eine äußerst reiche Strahlung ausgeht; das ist
wahrscheinlich die Bremsstrahlung der Kanal-
strahlen. Für die Emission der charakteristischen
Röntgenstrahlung unter der Einwirkung von Elek-
tronen gilt nämhch die von Einstein aufge-
stellte Beziehung, daß die kinetische Energie der
Elektronen größer sein muß als h-n, wo h das
Planck'sche Elementarquantum und n die Frequenz
der kürzesten Wellenlänge der charakteristischen
Röntgenstrahlung des betreffenden Metalls ist.
Diese Beziehung ist neuerdings durch Untersuchung
an Coolidge Röhren weitgehend bestätigt worden.
Es ist nun wahrscheinlich, daß die Einst ein'sche
Gleichung auch für den in Rede stehenden Vor-
gang gültig ist. Das heißt aber, daß die Ge-
schwindigkeit der betreffenden Kanal^trahlen
größer sein muß als ein ganz bestimmter Betrag,
damit eben ihre Wucht den erforderlichen Wert,
bei dem die charakteristische Strahlung einsetzt,
übertrifft. Das scheint bei den Versuchen von
Thomson nicht der Fall gewesen zu sein; die
Wasserstoffkanalsirahlen waren wahrscheinlich zu
langsam.
W o 1 f k e benutzt zur Untersuchung die Methode
von Chadwik. Eine kreisförmige Blende ist in
ihrer oberen Hälfte mit Blei-, in der unteren mit
Aluminiumfolie bedeckt. Hinter der Blei- liegt
Aluminium-, hinter der Aluminium- dagegen Blei-
folie. Falk auf die so hergerichtete dünne Platte
Kanalstrahlung, so trifft sie oben Blei, es wird eine
intensive und harte Röntgenstrahlung entstehen,
die das dahinter liegende Aluminium fast unge-
snh wacht durchdringt. In der unteren Hälfte
prallen die Kanalstrahlen dagegen zunächst auf
das leichte Aluminium; es wird eine schwache
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
und weiche Strahlung entstehen, die durch die
dahinterliegendc Bleifolie weitgehend verschluckt
wird. Eine phoiographische Platte, die in ge-
ringem Abstände hinter der Blende liegt, wird
demnach oben eine kräftige und unten nur eine
schwache Schwärzung zeigen. Zur Erzeugung der
Kanalstrahlen wird ein kugelförmiges Rohr benutzt,
in dessen längerem seitlichen Ansatz die durch-
bohrte Kathode liegt. Mit peinlicher Sorgfalt wird
sowohl sichibares wie ultraviolettes Licht von der
Platte ferngehalten. Da ja auch Kanalstrahlen
die Platte schwärzen würden, werden die Folien
dicker als 0,02 mm gewählt; diese Dicke ver-
mögen Kanalstrahlen nicht zu durchdringen. Ein
krältiges Magnetfeld hält die von der Kathode
ausgehenden Kaihodenstrahlen von der Platte fern,
während dieselbe durch einen Schirm vor direkten
Röntgenstrahlen geschützt ist. Untersucht wird,
wie schon erwähnt, Blei und Zinn, ersteres hat
eine Dicke von 0,028 mm, letzteres von 0,016 mm.
Die Aluminiumfolie, die in beiden Fällen verwendet
wird, ist 0,007 "^i" dick. Die Belichtungsreihen
betragen 2,5 bis 22 Minuten, der Druck in der
Röhre 0,004 bis 0.007 mm. Die Untersuchung
der Sekundärstrahlung des Zinn ergibt einen starken
Kontrast zwischen den beiden Hälften des be-
lichteten Teils der Platte. Beim Blei ist bei nied-
rigen Potentialen des die Röhre speisenden
Induktoriums (bzw. Influenzmaschine) kein Unter-
schied wahrzunehmen. Erst bei einem Potential,
das einer Funkenstrecke von 45 mm entspricht,
zeigt sich ein deutlicher Kontrast. Dieses Resultat
dürfte so zu deuten sein, daß erst bei die^em
Potential der von Einstein geforderte Schwellen-
wert für die kinetische Energie der Kanalstrahlen
überschritten wird. Erweisen weitere Versuche,
daß die neue Methode zur Erregung der charak-
teristischen Strahlung brauchbar ist, dann haben
wir ein wertvolles Mittel, den Erregungsvorgang
der Hochfrequenzstrahlung zu untersuchen, da wir
durch Veränderung der Gasfüllung des Rohres
sowohl die Natur als auch den Ladungszustand
der Kanalstrahlen variieren könnten. K. Seh.
Anregungen und Antworten.
KronUiere und Etappenliere, so möchte ich diesmal kurz
und bündig den Gegenstand bezeichnen, der öfter unter Über-
schriften wie „Über das Verhalten der Tiere im Kanipfgebict"
behandelt wurde. Schon in den ersten derartigen Berichten
von 191+ oder Anfang 1915, die von den Abwanderungen von
Wild aus den kaniplduichtobten Landsireifen sprachen, kam
es zum Ausdruck, daß viele größere Tiere durch das Kampf-
getöse verscheucht wcrdrn, während kleinere ihr Gcbirt be-
haupten. Ua diese einfache Erkeuntnis uns einen bestimmten
Einblick in die Tierserle gewährt, wie wir ihn früher in
gleichem Maße nicht halten, habe ich ihr stets .Aufmerksamkeit
gewidmet und gefunden, daß sie sich immer wieder bestäiigle
bis auf solche Ausnahmen, die besonders zu erklären sind.
Folgende Reihen kann man nämlich aufstellen : Die größeren
Tiere, die von Anlang an das Kampfgebiet meiden, sind unter
den Haartieren Woli, Edelhirsch, Damhirsch, Reh und Wild-
schwein, unter den Vögeln Seeadler, Storch, Auer- und Birk-
huhn, Wildgans, Wildenten und Kolkrabe. Aller Wahrschein-
lichkeit nach gehörten auch Braunbär, Luchs und Elch in
diese Reihe, ja die vorliegenden Beobachtungen sprechen da-
für, doch wurde es mit Bestimmtheit noch nicht angegeben.
Der Wisent dagegen, der sich nicht vertreiben lieB, ist als
gehegtes und an den Menschen gewöhntes Großiier ganz anders
zu beurteilen. Den „Etappentieren" kann man als „Front-
tiere" diejenigen gegenüberstellen, welche auch in der be-
schossenen Zone sich halten; es sind: Fuchs, Dachs, Hase,
Karnickel, Wiesel, Wanderratte und Mäuse unter den Haar-
tieren, unter den Vögeln Zwergtrappe, Kornweihe, Krähen,
Elster, Turm- und Baumfalke, Rebhuhn, Kiebitz, Triel, Grün-
füßiges Ttichhuhn, Ei-vogel, Wachtel, Sperlingsvögel von der
Amsel ab. Nur um Warmblüter handelt es sich bei der ganzen
Frage, denn von keinem kaltblütigen Tiere ist bekannt, daß
es aus dem Kampfgebiet gewichen wäre. Man sieht, es geht
in obigen Reihen ziemlich genau nach der Größe, nur bei
den Vögeln überschneiden sich beide Reihen etwa im Größcn-
gebiet von Zwergtrappe bis Rebhuhn.
Die Ursache dieser Erscheinung, die man kurz die Größen-
regel nennen kann, ist natürlich so wenig einheitlich wie die
Erscheinung selbst. Vielmehr handelt es sich um eine Viel-
zahl von starken Reizwirkungen auf die Tiere, besonders von
optischen, akustischen und mechanischen, wie Knall-, Staub-
und Kauchwirkungen, gelegentlichen Bränden, Durchfurchung
des Geländes mit Gräben, seine Durchlöcherung mit Gianat-
trichtrrn, lebhafter Verkehr in ihm. Davon werden eine solche
Vielzahl von Sinnespforten getroffen, daß Tiere sehr ver-
schiedener Lebensweise, wie Fuchs und Hase, der Höhlen-
bewohner und die Feldschläfer, sich gleichartig ver-
halten können. Das verschiedene Verhallen der größeren
und kleineren Tiere ist dagegen etwas, was man nicht un-
bedingt erwarten konnte, und es lehrt, wie ich wiederhole,
deutlich, daß die kleineren Tiere in einer ganz anderen Sinnes-
umwelt leben als die größeren und wir, oder daß es bti den
warmblütigen Tieren, so verschieden sie sonst auch organisiert
sind, wesentlich von der Größe eines Tieres abhängt, welcher
Art seine Umwelt, und ob sie der des Menschen ähnlich ist
oder nicht.
Überaus scharf fällt die Größengrenze bei den Hühner-
vögeln aus, denn Wachlei und Rebhuhn gehören zu den
Kamplbarten, Auer- und Birkhuhn stehen in der Li-te der
Kamplflüchter. -Ähnlich scheint die Grenze bei den Corviden
zwischen dm Krähen und dem Kolkraben zu liegen. Den
Storch nahm ich in die Liste der Kampf flüchtenden auf, da
unlängst in dieser Zeitschrift seine besondere Empfindlichkeit
gegenüber der Kriegseinwirkungen erwähnt wurde, nicht ver-
wunderlich bei einem Vogel von dieser Größe.
Nun kann sich jedoch das Verhalten von Tieren
gegenüber neuen Reizeinwirkungen mit der Zeit
ändern, und dieser Fall i^t beim Wild mehrfach eingetreten.
Das scheue Rehwild, das anfangs, wo es nur konnte, aus dem
Kampfgebiet schnell wich, kthrie stellenweise auch am ehesten
wieder zurück und gewöhnte sich an den Lärm der Be-
schießungen, die ihm zwar wohl einmal gefährlich werden
können, aber doch jedenfalls ihm nicht gelten. Wenn ferner
einmal ein Hirsch vorm Drahtverhau geschossen wurde —
nicht in der Zeit nach eben beendeten Bewegungskämpfen,
wo es auf andern Gründen beruhen würde — so mag das
ein Anzeichen sein, daß diese Tierart gleichfalls zurückwandert.
Bestimmter und zahlreicher ist das beim Schwarzwild der Fall,
wie immer mehr sich häufende Berichte lehren, und unter den
Vögeln beim Birkwild, welches sogar Halzplätze im Granat-
feuer bezogen hat, sodann stellenweise bei Wildenten und
vielleicht Schnepfen. Als ich in diesem Sinne die Tatsachen
in der Deutschen Jägerzeitung zusammenstellte mit der Bitte
um etwaige weitere Beiträge zur Frage, wurde mir im allge-
meinen durchaus beigepflichtet. Ein Einsender wollte als seine
abweichende Ansicht hinstellen, daß das Auerwild nicht zu
den Kampfflüchtern gehört. Hier wird sicher nur wieder die
nachträgliche Umgrwöhnung vorliegen, denn anfangs war es
ganz sicher anders. Möglichenfalls aber halte derjenige Recht,
der eine von der meinigen abweichende Auffassung vom Fasan
gewonnen haUe. Ich habe den Fasan allerdings nur hinter
der Front beobachtet und ihn in der Front vermißt, durfte
?1Z
Nalurwissetischaftliche Wochenschrift.
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das aber, da anderweitige Mitteilungen übei ihn mir nicht
bekannt waren, vielleicht nicht verallgemeinern.
Unter den „Frunttieren" haben sich viele die Fluchtrefle.xe
bei näheren oder ferneren Abschüssen oder Einschlägen nicht
abgewöhnt, Singvögel fliegen erschreckt auf, Krähen kreisen
dann eine Weile krächzend umher, Teichhiihner tauchen, aber
sie alle verlassen das Gebiet nicht. Ja man muß sagen, diese
Reaktionen sind keine anderen, als wie man sie aucli in der
Heimal auf viel geringere Ursachen hin beobachtet.
Bekannt ist, daß das Amsellied nur bei heftiger Kanonade,
das Lerchenlied nicht einmal in diesem Falle verstummt.
Nachts um 1 Uhr — etwa 2 Uhr nach Ortszeit — weckte
sogar eine Explosion das Lied der Lerchen. Das Rebhuhn
reagiert dort, wo oft Infanteriekugeln pfeifen, auf das Vorbei-
sausen von ihm geltenden Gewehr- oder Revolverkugeln oft-
mals gar nicht mehr. Zu dieser seiner Gewöhnung mag es bei-
tragen, daß dieses Tier nebit manchen anderen, Zwergtrappe
und Triel, Hase und Fasan, in der von Pllug und Sense ver-
schonten Zone besonders gute Deckung und Äsuog finden.
Bei der Aufzählung der Einwirkungen, die das Tierleben
imKampfgebiet stören können, wurde der chemischen Ein-
wirkungen nicht gedacht. Die Gasentwicklung der Geschütze und
gewöhnlichen Granaten, der Pulvergeruch, der dicht bei der
Einschlagstelle merklich mit Schwefelwassergeruch vermengt
sein kann, dürfte kaum jemals nennenswerte Einwirkungen bei
der Tierwelt zurücklassen, da er nur an eng umschiiebenen
Punkten für kürzeste Zeit hinreichende Stärke haben konnte.
Denn daß über dem ganzen Blachfelt an bewegten Fronten
ständig eine Rauchwolke lagert wie über Großstädten, beein-
trächtigt natürlich das Tier so wenig wie den Menschen. Viel
schwerer wiegen jedoch starke Gasangriffe; leider liegen
mir darüber erst sehr wenige zoologische Erfahrungen vor,
nämlich seit langer Zeit nur ein Bericht in der Frankfurter
Zeitung, einer im , .Fränkischen Kurier'', Nürnberg, und einige
Notizen in der Zeitschrift „Wild uud Hund". Es handelt
sich dabei um so starke Gasangriffe, daß auch die Pflanzen-
leben schwer geschädigt und das Kleintierleben fast völlig ver-
nichtet wurde, während schwächere, bei denen der Mensch
unbedingt die Gasmaske aufsetzen muß, die Tierwelt oft nicht
merklich beeinträchtigen. Bei starken Gasangriffen wurde an
natürlichen Reflexen oder Instinkten außer Unruhe, Heulen
oder Kreischen beobachtet, daß Hunde die Augen schlössen
und sich zu verkriechen suchten, eine Katze ihre Jungen tief
in Holzwolle barg und dann über ihnen verreckte, auch ein
Meerschweinchen steckte den Kopf in eine Ecke, nachdem es
eine Zeillang unruhig umhergelaufen war, während Rallen und
Mäuse aus ihren Löchern hervorkamen und dann gleichfalls
elend zugrundegingen. Pferde suchten auf die nächsten Höhen
davonzukommen, ebenso suchte eine Eule nach ihrer Befreiung
aus dem Käfig schleunigst das Weite, indem sie mit dem Winde
davonflog, der Gaswolke vorauseilend. In anderen Fällen
gruben Pferde ihre Nüstern und Augen heftig in den Sand ein.
Schwerer zu erklären ist es, daß das Gas auf die verschiedenen
Tierarten sehr ungleich stark wirkte. Die meisten Haartiere
verenden, ebenso das Kerbtierleben, auch eine Kreuzotter fand
man erstickt. Schon geringer ist die Wirkung auf Haushühner,
da meist nur alte Hennen starben, noch geringer die auf
Spatzen, die nur mit gesträubtem Gefieder und unter-
geslecktem Kopf da.saßen, bis das Gas vorüber war. Aller-
dings werden die Sperlinge hoch gesessen haben; aber be-
sonders merkwürdig ist, daß an Rebhühnern, nach ,,Wild und
Hund", das Gas völlig wirkungslos vorübergegangen ist.
Schließlich möchte ich erwähnen, daß die Wirkung auf Pferde
geringer sein soll als die auf Menschen, weshalb man bei uns
für Pferde keine Gasmaske verwendet, obschon auch mit-
unter Pferde im Gaskampf verendeten. Nun werden ja aller-
dings Pferde im SteUungskampf auch nie so weil nach vorn
gebracht wie Soldaten, und so weit, wie es nötig ist, nur lüi
möglichst kurze Zeil. Sie sind der Gaswirkung also von vorn-
herein weniger ausgesetzt als der Mensch. Man sieht, die
Beurteilung der Gaswirkungen auf Tiere ist noch sehr un-
sicher, auch darin, daß meist nicht bekannt geworden ist, welche
Art Gas verwendet wurde. Für einige Fälle wird Chlorgas erwähnt.
Im ganzen spielen die Gaswirkungen wegen ihrer örtlichen Be-
grenztheit nur eine geringe Rolle für das Tierleben, sie sind
nicht wesentlich bestimmend für die Vorstellung, die man sich
vom Tierleben im Feuerbereich bilden muß, und die in der
Aufstellung der Größenrcgel und in der Feststellung nachträg-
licher Gewöhnungen zum Ausdruck kommt. Wo ihnen aber
etwa höhere Bedeutung zukäme, da würde die Größenregel
nicht mehr Geltung haben, denn sie spricht nur von Wirkungen
der gewöhnlichen Kampfweise, den Beschießungen und ihren
Begleiterscheinungen und F'olgen. V. Kranz.
Der Zug des Kohlweißlings (Pieris brassicaej
1917 war der Kohlweißling in der Schwei;
Jahr
wahre Plage,
nicht nur in den Ebenen sondern auch auf den Bergen und in
den hochgelegenen Tälern. In einigen Gegenden sind nur die
Rippen der Blätter geblieben I Am Ufer des Neuenburgersees
waren die Schwärme von Kohlweißlingen so zahlreich, daß die
Schmetterlinge Schneeflocken glichen. In einigen Orten habe
ich auf den Straßen ganze Prozessionen von Kaupen des Kohl-
weißlings gesehen. Aber was die Leser interessieren kann,
das ist, daß ich bei meinen Wanderungen in den Alpen be-
merkt habe, daß die Kohlweißlinge sehr hoch flogen und
einen wahren Zug über die Berge machten.
Man hat gesagt, daß die Schmetterlinge, die man sehr oft
auf den Hochalpen (Gletscher und Spitze) findet, dorthin von
dem Winde getrieben wurden. Ich bin jetzt ganz sicher, daß
in der Mehrheit der Fälle, die Schmetterlinge selber auf die
Hochalpen fliegen. Im Gegenteil, die starken Winde spielen
eine sehr schlechte Rolle: sie stören und töten die Schmelter-
linge, die auf die Berge fliegen.
Die Untersuchungen, die ich dieses Jahr über die Wande-
rungen des Kohlweißlings angestellt habe, sprechen sehr für
einen wahren Zug der Schmetterlinge, der etwas an den Vogel-
zug erinnert. In der Tat ging der Kohlweißling in seinen
Wanderungen nicht von Blume zu Blume, sondern er flog sehr
hoch über Täler, Gletscher, Grate und Spitzen, immer in einer
Richtung und ein Schmetterling nach dem andern. Die
Kohlweißlinge flogen in einer Richtung von NW. nach SO.
So ging z. B. am II. Sept. ein Zug von Trient über den
Trientgletscher und Fenclre d'Arpctte (2683 m) nach Val
d'Arpette. Am 16. Sept. in Val Ferret habe ich ähnliche Züge
über Chasse (1973 m) und über Bec Rond (2564 m) bemerkt.
Am 23. und 24. Sept. habe ich andere Züge in Val de Bagnes
geschm: der eine ging über Fionnay (1497 m) und der andere
über den Gletscher vom Grand Deseil (2970 m) und über die
Rosa blanche (3348 m). Wegen starken Windes von NW.
sind viele Kohlweißlinge auf dem Grand Desert gestorben, und
ich habe sie auf dem Gletscher gefunden. Am 30. Oktober
habe ich nochmals einen Zug von P. brassicae über den
Rochers de Naye (2045 m) bemerkt.
In jedem Fall flogen die Kohlweißlinge sehr hoch über
solche Pässe, Grate, Gletscher und Spitzen. Warum flogen
diese Schmetterlinge so hoch, da, wo kein Kohl mehr zu finden
war? Suchten sie vielleicht andere Täler und Ebenen, um
Eier abzulegen? Ich weiß es nicht, aber um die Kohlweißling-
wie andere Schmetierlingsplagen zu bekämpfen, ist es wahr-
scheinlich sehr nützlich, ihre Züge zu untersuchen und zu studieren.
B. Galli-Valerio, Lausanne (Schweiz).
Karl Kuhn, Neuere Ergebnisse der Kanalstrahlenforschung, (i Abb.) S. 697. Ernst Kelhofer, Wegeners
Verschiebungstheorie. (3 Abb.) S. 702. — Einzelberichte: H. Hil d eb randson , Einfluß des Geschülzfcuers und der
Minensprengungen auf die Witterung. S. 706. E. Schrödinger, Äußere Zone abnormer Hörbarkeit S. 707. E. Fried -
berger, Färbung mikroskopischer Präparate mit Farbstiften. 5. 708. Karl Willruth, „Die Fährten von Chirothe-
rium" S. 70S. M. Wolfke, Über eine neue Sekundärstrahlung der Kanalstrahlcn. S. 710. — Anregungen und Ant-
worten: Fronttiere und Etappenticre. S. 711. Der Zug des Kohlweißlings (Pieris brassicae). S. 712.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl & Co. G. m. b. H., Naumburg a d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 23. Dezember 1917.
Nummer 51.
[Nachdruck verbo
Die Reduktionsteilung im Pflanzenreich.
Von M. Möbius, Frankfurt a. M.
Der Vorgang der Befruchtung besteht bei allen
Organismen in der Vereinigung zweier Zellen.
Die dadurch neu gebildete Zelle nennen wir Zygote,
da es sich nicht immer um ein befruchtetes Ei
handelt, sondern auch gleichwertige, nicht als Ei
und männliche Zelle unterscheidbare Zellen sich
bei der Befruchtung vereinigen können. Das
Wesentliche bei dieser Vereinigung ist aber die
Verschmelzung der Kerne, des männlichen und
weiblichen Kerns, was wir schon daraus erkennen,
daß wenigstens die männliche Zelle ganz auf den
Kern reduziert sein kann. Jeder Kern aber be-
sitzt eine bestimmte Anzahl sog. Chromosomen,
d. h. der das eigentliche Kerngerüst bildende Faden
zerfällt bei den vorbereitenden Schritten zur Kern-
teilung in eine bestimmte Anzahl von Fadenstücken,
und diese Zahl ist von der Xatur für jede Pflanzen-
art festgesetzt. Wenn nun also z. B. der Kern
12 Chromosomen besitzt und sich bei der Be-
fruchtung mit einem anderen Kern derselben Art
vereinigt, so besitzt letzterer natürlich auch
12 Chromosomen, aber der bei der Befruchtung
durch die Vereinigung neugebildete Kern erhält
dann 24 Chromosomen. Alle aus dem befruchteten
Ei hervorgehenden Zellen, also alle Zellen des neuen
Organismus werden nun 24 Chromosomen in ihren
Kern führen, so daß bei der nächsten Befruchtung
eine Zygote mit 48 Chromosomen iin Kern ent-
stehen und so weiter immer eine Verdoppelung
der Chromosomenzahl eintreten müßte, wenn nicht
an irgendeinem Punkt der Entwicklung eine
Reduktion auf die Hälfte vollzogen würde. So
ergibt sich die Reduktion der Chromosomen als
ein durchaus notwendiger Prozeß, ohne den sich
in den aufeinander folgenden Generationen die Zahl
der Chromosomen ins Unendliche vermehren müßte.
Es hat sich nun herausgestellt, daß die Reduktion
durch eine besondere Art der Kernteilung erfolgt,
bei der nicht wie bei der gewöhnlichen die beiden
Tochterkerne ebensoviel Chromosomen erhalten,
wie der sich teilende Kern besaß, und die des-
wegen typische oder Äquationsteilung genannt wird,
sondern jeder Tochterkern nur die Hälfte der ur-
sprünglichen Zahl erhält. Der Vorgang der Kern-
teilung selbst verläuft etwas anders als bei der
Äquationsteilung, so daß die Reduktionsteilung der
typischen als atypische gegenübergestellt werden
kann. Was die Einzelheiten betrifft, so verweisen
wir auf die Lehrbücher und auf die Darstellung,
die früher F. Rawitscher*) in dieser Zeitschrift
von dem Prozeß gegeben hat, wir wollen nur er-
') Die Reduktion der Chr
irw. Wochenschr. N. F. B
enzahl in den Pfla
1908, S. 577.1
wähnen, daß sich die Reduktionsteilung in zwei
Schritten vollzieht, von denen der erste als hetero-
typische, der zweite als homöotypische Teilung
bezeichnet wird. Daraus geht schon hervor, daß
bei der Reduktionsteilung aus einem Kern vier
Kerne oder aus einer Zelle vier Zellen gebildet
werden, und so wird uns diese Tetradenbildung
häufig als eine charakteristische Begleiterscheinung
bei der Reduktionsteilung entgegentreten.
Während nun bei den Tieren der Regel nach
die Reduktion bei der Bildung der Reproduktions-
zellen, also fast unmittelbar vor der Befruchtung
erfolgt, verhallen sich die Pflanzen merkwürdiger-
weise hierin ganz verschieden: die Reduktion kann
direkt vor oder direkt nach der Befruchtung oder
aber auch in einer anderen Phase der Entwicklung
eintreten. Ja sogar in derselben Pflanzengruppe
können sich die Untergruppen hierin verschieden
verhalten, so daß es noch nicht möglich ist, eine
Gesetzmäßigkeit in dieser Hinsicht für die Pflanzen
festzustellen. Vielleicht erscheint es auch noch
verfrüht, eine solche Zusammenstellung zu geben,
da für viele Gruppen überhaupt noch nicht bekannt
ist, wo und wie die Reduktion eintritt. Dies gilt
besonders für die niederen Pflanzen, denn bei den
höheren steht sie in Beziehung zu dem hier vor-
handenen Generationswechsel, der darin besteht,
daß nus dem befruchteten Ei eine Generation ent-
steht, die ungeschlechtliche Sporen erzeugt und
deshalb Sporophyt genannt wird, während aus der
Spore die Generation entsteht, welche die Ge-
schlechtsorgane bildet und daher Gametophyt heißt.
Die Reduktion tritt dann beider Bildung der Sporen
ein, so daß der ganze Gametophyt die einfache
(haploide) Anzahl der Chromosomen bei seinen
Kernteilungen aufweist, während nach der Befruch-
tung natürlich die doppelte (diploide) Zahl von
Chromosomen gebildet wird, der Sporophyt also
diese auch während seines ganzen Entwicklungs-
ganges besitzt. Man kann auch die erstere Gene-
ration die haploide oder x-, die letztere die diploide
oder 2x-Generation nennen, muß aber dabei im
Auge behalten, daß es sich nur um ein zeitliches
Zusammenfallen von zwei Vorgängen handelt, die
im Grunde nichts miteinander zu tun haben. ^)
Der Entwicklungsgang der einen Generation
kann sich nun außerordentlich verkürzen, und so
kann sowohl die haploide als auch die diploide auf
wenige Zellen, ja auf eine einzige Zelle beschränkt
werden, und die eigentliche Pflanze kann entweder
') Vgl. hierzu J. Buder, Zur Frage des Generation!
wechseis im Pflanzenreich. (Berichte der deutschen botanische
Gesellschaft 1916, Bd. 34, S. 559—576.)
714
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 51
die eine oder die andere Generation repräsentieren.
Wir werden die Sache vielleicht am besten so dar-
stellen, daß wir von den Pflanzen ausgehen, bei
denen ein deutlicher Generationswechsel vorhanden
ist und die eine Generation dem haploiden Zustand,
die andere dem diploiden entspricht. Geeignet er-
scheinen deshalb die Pflanzen, die an dem unteren
Ende der sog. Reihe der Archegoniaten
stehen, zu der von den Moosen an aufwärts alle
höheren Pflanzen gehören.
Bei den Moosen also ist die Moospflanze der
Gametophyt und zugleich die haploide Generation,
sie erzeugt die Geschlechtsorgane. Bei der Be-
fruchtung vereinigen sich naturgemäß die zwei
Kerne, der des Antherozoids, der männlichen, hier
beweglichen Befruchtungszelle, mit dem Kern des im
Archegonium ruhenden Eies. Aus dem befruchteten
Ei entsteht die ungeschlechtliche, Sporogonium
genannte Generation, die als Mooskapsel bekannt
ist und in ihrem Innern das sporenbildende Gewebe
(Archesporium) differenziert. Die Archesporzellen
teilen sich zweimal, die erste Teilung ist die hetero-
typische, die zweite die homöotypische, beide zu-
sammen machen also die Reduktionsteilung aus
und geben vier .Sporenzellen, deren Kerne schon
haploid sind. Die Sporen liefern bei der Keimung
die Moospflanze, von der wir ausgegangen sind.
Alle Kernteilungen also, die bei der Entwicklung
der Moospflanze auftreten, zeigen die halbe Chro-
mosomenzahl von derjenigen, die den Kernteilungen
bei der Entwicklung des Sporogons zukommt : die
Zahlen sind beispielsweise bei Atitlwceros und
Blyttia 4 und 8, bei Polytrichum 6 und 12.
Dasselbe, nur scheinbar umgekehrt, ist bei den
Farnen, Schachtelhalmen und Bär läpp -
gewachsen der Fall. Hier ist die beblätterte
Pflanze, also z. B. das Farnkraut, die ungeschlecht-
liche Generation, der Sporophyt. In den Sporangien
findet bei der Bildung der Sporen die Reduktions-
teilung statt, jede Archesporzelle liefert wie bei
den Moosen vier Sporen mit haploider Anzahl der
Chromosomen in ihren Kernen. Aus der Spore
entsteht das sog. Prothallium, das die Geschlechts-
organe produziert, also die geschlechtliche und
zugleich haploide Generation ist. Durch die Be-
fruchtung des Eies, die im wesentlichen durch
ähnliche Zellen erfolgt wie bei den Moosen, ver-
doppelt sich natürlich die Chromosomenzahl. Das
befruchtete Ei aber liefert den Sporophyt oder die
ungeschlechtliche Generation, von der wir ausge-
gangen sind, z. B. also die Farnpflanze. So zeigen
z. B. beim Königsfarn, Osmtmda regalis, die Kern-
teilungen im Prothallium 12, solche im Sporophyten
aber 24 Chromosomen.
Vergleichen wir Moose und Farnpflanzen, so
finden wir bei letzteren die geschlechliche, die
haploide Generation bedeutend reduziert gegen-
über den ersteren. Noch mehr ist dies der Fall
bei den höheren Farnen und Bärlappgewächsen
wie Salvinia und Selaghiella nebst ihren Verwandten,
besonders bei letzterer. Hier ist die geschlecht-
liche Generation diöcisch, d. h. die einen Prothallien
sind nur männlich, die anderen nur weiblich, und
die männlichen und weiblichen sind nicht nur
recht verschieden voneinander, sondern entstehen
auch schon aus verschiedenen Sporen, die männ-
lichen aus kleineren, die weiblichen aus größeren,
so daß man schon beim Sporophyt Mikro- und
Makrosporangien mit Mikro- und Makrospot en
unterscheiden kann. Ganz besonders das männ-
liche Prothallium, also die haploide Generation im
männlichen Geschlecht, ist so verkümmert, daß
sie nur aus wenigen Zellen besteht und nicht
einmal die Spore, aus der sie entstanden ist, ver-
läßt. Wenn nun auch die Spore in Verbindung
mit der sie erzeugenden Pflanze — das ist natür-
lich die diploide, ungeschlechtliche Generation —
bleibt, so ist scheinbar die geschlechtliche Genera-
tion ganz ausgeschaltet. Zu einem solchen Zustand
sind die Blütenpflanzen oderPhanerogamen gelangt.
Eine Blütenpflanze, sei sie ein einjähriges
Kraut oder ein viele Jahre alter Baum, ist die un-
geschlechtliche Generation, ist also diploid wie die
höheren Tiere. Die Reduktion der Chromosomen
muß daher vor der Bildung der Geschlechtszellen
erfolgen, aber diese werden bei den Blütenpflanzen
nicht direkt gebildet, sondern es schaltet sich eine
rudimentäre haploide Geschlechtsgeneration ein in
Übereinstimmung mit den schon erwähnten Moosen
und Farnpflanzen. Und wie bei diesen entsteht
die genannte Generation aus Sporen und tritt bei
der Bildung der Sporen die Reduktion ein. Die
Sporen sind aber hier auch in Mikro- und Makro-
sporen unterschieden. Ganz deutlich ist die Ana-
logie zwischen den Mikrosporen der höheren Ge-
fäßkryptogamen und den Pollenkörnern, die immer
ebenfalls zu viert aus einer Mutterzelle entstehen,
wobei die Reduktion der Chromosomen erfolgt.
Weniger deutlich ist die Analogie zwischen
der Makrospore und dem Embryosack, allein eine
eingehende Erklärung würde uns zu weit führen.
Es sei deshalb bloß erwähnt, daß in den meisten
Fällen in der Samenanlage, dem sog. Eichen im
Fruchtknoten, nur eine Archesporzelle entsteht,
die unter Reduktionsteilung vier Zellen bildet, und
daß nur eine dieser Sporenzellen zum Embryosack
wird, während die drei anderen zugrunde gehen.
Die Zellteilungen bei der Keimung der Pollen-
körner bis zur Entstehung der männlichen Sexual-
kerne und ebenso die Zellteilungen innerhalb des
Embryosacks bis zur Entstehung des Eies bilden
die geschlechtliche Generation und gehören so-
mit der haploiden Phase an.
Bei der Bildung der Pollenkörner oder Mikro-
sporen und des rudimentären männlichen Prothal-
liums, das aus ihnen entsteht (des PoUenschlauchs),
bleibt die Sache auch in Ordnung, d. h. die Keduk-
tionsteilung findet immer bei der Bildung der
Pollentetraden statt. Bei der Entstehung der
weiblichen Geschlechtsgeneration aber treten Ab-
weichungen von dem oben als Typus geschilderten
Verhalten auf Man möchte sagen, daß die Pflanze
nur noch daran denkt, daß sie eine Redukiions-
teilung vornehmen muß, daß sie aber vergessen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
715
hat, an welchem Punkt der Entwicklung dies der
Phylogenie nach zu erfolgen hat. Und so kommt
es vor, daß die Reduktionsteilung in den Embryosack
selbst verschoben wird, statt bei seiner Entstehung
vor sich zu gehen, d. h. es entsteht hier gar keine
Tetrade, sondern eine Zelle des Knospenkerns in
der Samenknospe wächst direkt zum Embryosack
aus, und die ersten Teilungen ihres Kerns sind
eine heterotypisclie und eine homöotypische, be-
sorgen also die Reduktion. Ja es kommt sogar
eine Zwischenstufe vor, insofern als die Archespor-
zelle sich nur einmal teilt (heterotypisch), eine
der Tochterzellen zum Embryosack wird, und dessen
erste Kernteilung dann die noch zur Reduktions-
teilung gehörende homöotypische ist.
Immer aber ist das unbefruchtete Ei haploid
wie der männliche Kern, der es befruchtet, und
so wird die Zygote diploid und liefert eine diploide
Generation, den Sporophyten, der in der Gestalt
einer Phanerogamenspezies auftritt. Nebenbei be-
merkt kann bei der Befruchtung der Angiospermen
auch ein triploides Gewebe entstehen, wenn ein
zweiter männlicher Kern mit zwei freien Kernen
des Embryosacks verschmilzt, denn aus dieser
dreifachen Zygote geht durch weitere Zellteilungen
das als Nährgewebe fungierende Endosperm her-
vor. Da dieses aber nur bei der Keimung eine
passive Rolle spielt, niemals seinerseits wieder
Fortpflanzungszellen erzeugt, so kommt dieser
triploide Zustand für die weitere Entwicklung nicht
in Betracht und bietet keine Veranlassung zu
einer Ausgleichung oder Reduktion.
Nachdem wir so in der Archegoniatenreihe bis
an das obere Ende, zu den Angiospermen gekom-
men sind, wollen wir nun sehen, wie sich an ihr
unteres Ende andererseits die Algen anschließen
lassen. Die größte Analogie mit den Moosen zeigt
eine braune Meeresalge, Dictyota, deren etwa hand-
langer Thallus aus wiederholt gabelig geteilten,
schmalen Bändern besteht. Sie zeigt einen Gene-
rationswechsel, der mit dem Wechsel der haploiden
und diploiden Entwicklungsphase zusammenfällt,
und in dem die beiden Generationen äußerlich
vollkommen gleich sind. Wir finden zu einer ge-
wissen Periode äußerlich gleiche männliche und
weibliche Exemplare, die haploid (mit 16 Chromo-
somen) sind. Aus der befruchteten Eizelle entsteht
eine neue Generation, die im Aussehen von der
geschlechtlichen nicht verschieden, aber diploid
(mit 32 Chromosomen) ist und ungeschlechtliche
Sporen erzeugt, die unter Reduktionsteilung zu
viert in oberflächlich und einzeln sitzenden Sporan-
gien entstehen. Jede dieser nun haploiden Sporen
liefert bei der Keimung wieder eine männliche
oder weibliche haploide Pflanze.
Das ist also das Verhalten, von dem man
eigentlich ausgehen sollte, denn nach der einen
Seite wird die haploide geschlechtliche, nach der
anderen die diploide ungeschlechtliche Generation
überwiegend, und zwar stellen sich die Moose auf
jene, die F"arne und höheren Pflanzen auf die andere
Seite. Die Algen aber schließen sich größtenteils
den Moosen an unter immer stärkerer Verkürzung
des diploiden Zustandes, während einige von ihnen
sich gerade umgekehrt verhalten.
Da sind zunächst die Cutleriaceen zu er-
wähnen, die wie Dictyota zu den kleineren Braun-
algen gehören und ihre Entwicklung normaler-
weise in zwei auch äußerlich verschiedenen Gene-
rationen vollziehen. Die ungeschlechtliche Gene-
ration (die Aglaozonia-V oxm) bildet einen flachen,
scheibenförmigen Thallus und ist diploid, ihre Fort-
pflanzungsorgane sind Schwärmsporen, die in
größerer Zahl in schlauchförmigen Sporangien
entstehen und bei deren Bildung die Reduktion
eintritt, indem die beiden ersten Teilungen im
Sporangium die Zahl der Chromosomen von 48
auf 24 herabsetzen. Die haploiden Schwärmsporen
lassen eine aufrecht wachsende, band- bis faden-
förmige Pflanze (die Cutler iaVoxvcC) hervorgehen,
die sowohl männliche als auch weibliche Gameten
bildet. Diese sind natürlich auch noch haploid,
und erst die Zygote wird wieder diploid und
liefert die ungeschlechtliche Generation, von der
wir ausgingen. Auf die abweichenden Verhältnisse,
die durch Ausschaltung einer Generation eintreten
können, wollen wir hier nicht eingehen.
Ähnlich wie Dictyota verhalten sich gewisse
F I o r i d e e n (Rotalgen), weil sie einen regelmäßigen
Generationswechsel mit äußerlich gleichen Gene-
rationen besitzen, und weil die ungeschlechtliche
Generation die Sporen unter Reduktionsteilung zu
viert, als sog. Tetrasporen ausbildet. Die haploiden
Tetrasporen entwickeln sich teils zu männlichen,
teils zu weiblichen, sonst aber einander gleichen
Pflanzen. Nun aber entsteht aus der Zygote nicht
gleich die Tetrasporenpflanze, sondern das Gebilde,
das man als die Frucht der Florideen, den Sporen-
haufen oder Glomerulus zu bezeichnen pflegt und,
wenn es von einer besonderen Hülle umgeben ist,
Cystocarp nennt. Aus der befruchteten Eizelle
oder anderen Zellen, mit denen jene in eine enge
Verbindung tritt (man nennt sie deshalb Auxiliar-
zellen), sprossen nämlich erst Fäden aus, deren
Glieder zu den als Carposporen bezeichneten, sich
ablösenden Fortpflanzungszellen werden. Natürlich
sind die Carposporen auch schon diploid und man
könnte den Fruchtkörper der Florideen mit dem
Sporogonium der Moose vergleichen, aber der
Unterschied liegt nun darin, daß nicht an diesem
Organ, sondern erst an der Pflanze, die aus den
Carposporen entsteht, die Reduktion der Chromo-
somen sich vollzieht, nämlich, wie oben gesagt,
an der den Geschlechtspflanzen gleichenden Form
bei der Bildung der Tetrasporen. Äußerlich be-
trachtet haben wir hier also eigentlich drei
Generationen: die geschlechtliche Pflanze, die
Sporenfrucht und die Tetrasporenpflanze: die
ersteren beiden sind morphologisch miteinander
verbunden, die letzteren beiden sind zwar getrennt,
bilden aber zusammen die diploide Entwicklungs-
phase, während die haploide nur durch die erste
dargestellt wird. Der geschilderte Entwicklungs-
7i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 51
gang ist bekannt für Arten von Polysiphonia,
Rhodoincla, Griffitksia und Delcsseria.
Wie sich die Sache bei denjenigen Florideen
verhält, bei denen die Tetrasporen auf den Ge-
schlechtspflanzen entstehen , werden bald neue
Untersuchungen lehren. Andere Arten wie Nito-
phyllian piinctatum bilden neben den Geschlechts-
organen auf derselben Pflanze statt der Tetra-
sporen Monosporen, die ohne Reduktionsteilung
entstehen, wo letztere aber stattfindet, ist noch
fraglich. Solche Arten, die keine Tetrasporen
bilden, sind in der geschlechtlichen Generation
haploid, die befruchtete Eizelle ist natürlich diploid
und erfährt eine Reduktionsteilung, bevor aus ihr
der Fruchtkörper entsteht. S ve de li us, ^) dem
wir diese Kenntnisse großenteils verdanken, nennt
solche Formen haplobiontische im Gegensatz zu
den zuerst erwähnten und als diplobionlische
bezeichneten.
Unter den braunen Algen kennen wir nun
noch zwei Gruppen, die sich gewissermaßen in
entgegengesetzter Richtung entwickelt haben, so
nämlich, daß bei den einen die ungeschlechtliche
Generation die eigentliche Pflanze vorstellt, bei
den anderen die geschlechtliche, in beiden Fällen
aber die diploide Phase (höchst wahrscheinlich
wenigstens). Die erste Gruppe bilden gewisse
Lamhiaria- hvien, an denen erst neuerdings ent-
deckt worden ist,-) daß aus ihren Schwärmsporen
winzige, rasch vergängliche, männliche und weib-
liche Prothallien entstehen, ähnlich wie bei höheren
Farnpflanzen. Das Ei muß diploid sein, demnach
auch die daraus sich bildende große Laminaria.
Daß bei der Bildung ihrer Schwärmsporen wie
bei denen von Aglaozonia die Reduktion erfolgt,
braucht kaum in Zweifel gezogen zu werden.
Die andere Gruppe bilden der Blasentang,
Fiicus, und verwandte Formen. Die Pflanze ist
diploid, denn ihre vegetativen Teilungen zeigen
dieselbe Zahl von Chromosomen wie die erste
Teilung des befruchteten Eies, die Reduktion der
Chromosomenzahl erfolgt demnach bei der Ent-
stehung der Eier und Spermatozoiden, wie bei
den Tieren, also mit vollständiger Ausschaltung
einer ungeschlechtlichen Generation. Bemerkens-
wert ist dabei, daß nach den Beobachtungen von
Strasburger nach der ersten Vierteilung im Ei-
behälter (nach den 2 Reduktionsteilungen) eine
Ruhepause eintritt, und dann erst die weiteren
Teilungen einsetzen, die zur Bildung von acht Eiern
(bei Fuchs wenigstens) führen, daß ferner die vier
ersten Kerne, die im Antheridium entstehen, tetra-
edrisch angeordnet sind, wie die der Sporenanlagen
im Sporangium, wenn Sporentetraden entstehen.
Daß die Oogonien- und Antheridienanlagen aber
eine „Zusammenziehung von Tetrasporangien und
Gametangien" darstellen sollen, wie Strasburger
') Das Problem des Gencialionswechsel.s bei den Florideen.
(NTaturw. Wochenschr. N. F. XV. Bd., 1916, Nr. 25 u. 36.)
■-) Vgl. N.iturw. Wochenschr, N. F. Bd. XVI, 1917,
S. 578.
will, scheint doch eine etwas zu weit gegangene,
künstliche Deutung zu sein.
Es ist aber nicht nötig, daß bei der Ausschal-
tung oder Verkümmerung der ungeschlechtlichen
Generation die Reduktionsteilung bei der Bildung
der Geschlechtszellen erfolgt, sondern sie kann auch
bei der Keimung des Eies eintreten, und dann ist
die geschlechtliche Pflanze haploid! Von dieser
Möglichkeit machen die grünen Algen (Chloro-
phyceen) und Characeen Gebrauch, deren
gegenseitige Verwandtschaft durch Übereinstim-
mung in diesem Punkte eine größere Wahrschein-
lichkeit erhält.
Die Characeen, auch Armleuchteralgen ge-
nannt, besitzen nur geschlechtliche Fortpflanzung.
Wenn die Zygote von Cliara, das befruchtete Ei,
keimt, so teilt sich zunächst ihr Kern zweimal,
aber von den vier gebildeten Kernen degenerieren
drei und werden von dem obersten, vierten durch
eine Querwand abgetrennt. Der übrig bleibende
teilt sich weiter, indem nur aus der oberen Zelle
der Keimling entsteht. Offenbar tritt die Reduk-
tionsteilung bei der Teilung des Kernes der keimen-
den Zygote ein, was ja auch gut mit der Tatsache
übereinstimmt, daß es sich dabei um eine Art
Tetradenteilung handelt. Die diploide Phase be-
schränkt sich also bei C/iara auf d\e ruhende Zygote.
Reste der ungeschlechtlichen Generation können
wir noch bei Coleochaete und OeJogoniiDii finden,
die mikroskopisch kleine grüne Algen des Süß-
wassers sind. Bei ersterer erfolgt nachweislich
die Reduktionsteilung bei der ersten Teilung des
befruchteteu Eies, aus dem ein kleiner scheiben-
förmiger Körper entsteht, dessen Zellen zu Schwärm-
sporen werden. Daraus aber ergibt sich, daß auch
diese ungeschlechtliche Generation schon haploid
geworden ist, daß also haploide und diploide
Phase nicht mit geschlechtlicher und ungeschlecht-
licher Generation zusammenfällt, denn ein diploider
Kern ist nur während des Zygotenzustandes vor-
handen.
Noch einfacher liegt die Sache bei Oedogonium,
allerdings nur der Vermutung nach, denn die recht
schwierig zu beobachtende Keimung der Zygote
ist noch nicht cytologisch untersucht worden. Was
liegt aber näher, wenn die Zygote bei der Keimung
vier Schwärmsporen liefert, als anzunehmen, daß
wir hier eine Tetradenteilung vor uns haben, bei
der die Reduktion der Chromosomen erfolgt?
Bei Ulothrix, der Kraushaaralge, die wie Oedo-
gcmiinn aus einfachen Zellfäden besteht und durch
Kopulation von Schwärmsporen sich geschlechtlich
fortpflanzen kann, teilt sich nach Klebs der
Protoplast der Zygote bei der Keimung in vier
Zellen, deren jede für sich in einen neuen Faden
auswächst. Hierbei wäre also die Reduktionstei-
lung zu vermuten, doch bedarf die Sache noch
weiterer Untersuchung, da nach anderen Angaben
sich aus der Zygote 2 — 14 Schwärmsporen bilden
können. Möglich, daß auch bei ihrer Entstehung
die Reduktion vollzogen wird.
Von den zuletzt erwähnten Algen können wir
N. F. XVI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
717
leicht zu den Conjugaten übergehen, bei denen
die Zygote durch Verschmelzung von zwei gleich-
artigen, nicht frei beweglichen Geschlechtszellen
(Gameten) gebildet wird. Sie sind teils einfache
Zellfäden, teils einzeln lebende Zellen. Letztere
bilden die durch ihre zierlichen Formen bekannten
Desmidiaceen, bei denen sich zwei Gruppen
unterscheiden lassen :
1. Bei Cylhidrocystis, dem sich wahrscheinlich
Mesotaeniuni anschließt, ist die Zygote dipioid,
keimt nach einer Ruhepause und teilt sich bei der
Keimung in vier gleiche Zellen, die alle zu neuen
Pflanzen werden; bei der Vierteilung tritt die
Reduktion ein.
2. Bei Closleriuin, Costnarium und wahrschein-
lich auch anderen Arten ist das Verhalten der
Zygote, die Reduktion und die Keimung nach
einer Ruhepause wie bei i beschaffen , aber es
entstehen nicht vier gleiche Kerne, sondern zwei
große und zwei kleine und nur zwei Keimlinge,
deren jeder einen Großkern und einen Kleinkern
besitzt. Indem der Kleinkern degeneriert, bekommt
jede Zelle wieder einen haploiden Kern. ')
Aus den fadenförmigen Conjugaten sind ver-
schiedene Spirogyra- und Zygne}na-kx\.itx\ unter-
sucht und in ihrem Verhalten verschieden befunden
worden, so daß wir wiederum zwei Gruppen unter-
scheiden können. Bei der einen macht die diploide
Zygote eine Ruhepause durch und erst bei der
Keimung tritt eine Reduktionsteilung ein unter
Bildung von vier Kernen, von denen aber nur
einer, der sog. Großkern, erhalten bleibt, die
drei anderen, die Kleinkerne, degenerieren, so daß
der Keimling wiederum nur einen haploiden Kern
besitzt und diesen Zustand auf alle Zellen des
Fadens vererbt. Bei der anderen Gruppe erfolgt
die Reduktionsteilung sofort nach der Kernver-
schmelzung bei der Kopulation, und von den vier
dabei entstehenden Kernen bleibt nur der Groß-
kern in der Zygote erhalten, da die drei Klein-
kerne degenerieren. Es ist also schon die ruhende
Zygote haploid, der diploide Zustand auf die denk-
bar kürzeste Periode eingeschränkt.
Den Desmidiaceen sind die Diatomaceen
oder Kieselalgen in der Zierlichkeit der Gestalt,
der Koloniebildung und der Vermehrung durch
Teilung ähnlich, auch in der Kopulation zeigen
sich gewisse Analogien, merkwürdigerweise aber
verhalten sich in Hinsicht auf die Reduktionsteilung
die beiden Familien recht verschieden. An das
vorhin erwähnte Clostcrinm schließen sich viel-
leicht noch am ehesten gewisse zentrisch gebaute
Formen der Diatomeen an, doch sind die Vorgänge
im einzelnen noch zu wenig erforscht. Bei der
marinen Art Corctliron Valdiviae scheinen die
vegetativen Zellen haploid zu sein und ebenso die
kleinen Schwärmsporen, die in größerer Zahl aus
einer Zelle entstehen und sich paarweise zu einer
') Vgl. H. Kauffmann, Über den Entwicklungsgang
von Cylindrocystis (Zeitschr. f. Bot. VI. 1914. S. 72?— 774.).
diploiden Zygote vereinigen. Bei deren Keimung
vollzieht sich die Reduktionsteilung ähnlich wie
bei Closteruuii und bilden sich vier Kerne, zwei
Großkerne und zwei Kleinkerne, aber nur zwei
Keimlinge, in denen je ein Großkern erhalten bleibt.
Bei den nicht strahlig gebauten Diatomeen, der
sog. Gruppe der Pcnnalae, sind im Gegensatz
zu den vorigen und den Conjugaten die sich vege-
tativ teilenden Zellen dipioid und erfolgt die
Reduktionsteilung bei der Kopulation, durch welche
aber hier nicht eine ruhende Zygote, sondern nur
größere Zellen gebildet werden, sog. Auxosporen,
die sich wieder in immer etwas kleiner werdende
Zellen teilen. Hier hat man drei Fälle unter-
scheiden können:
1. Bei Rlwpalodia gihba legen sich zwei Zellen
aneinander, in jeder entstehen vier Kerne unter
Reduktionsteilung, zwei Groß- und zwei Kleinkerne,
und indem jene Zellen sich teilen, bilden sich zwei
Gametenpaare mit je einem Groß- und einem
Kleinkern in einem Gameten. Bei der Verschmel-
zung der Gameten, wodurch also zwei Zygoten
entstehen, vereinigen sich nur die Großkerne, die
Kleinkerne verschwinden.
2. Bei Surirella saxonica teilen sich die Zellen,
die zusammentreten, nicht, vielmehr entstehen in
jeder unter Reduktionsteilung vier Kerne, und
diesmal ein Großkern und drei Kleinkerne. Bei
der nun erfolgenden Kopulation der Zellen ver-
einigen sich nur die Großkerne, während die kleinen
verschwinden.
3. Bei Cocconeis vereinfacht sich die Sache
noch mehr, indem die Tetradenteilung nicht mehr
vollständig ausgeführt wird, sondern nach der
ersten Teilung ein Tochterkern degeneriert und
nur der andere sich teilt und zwar in einen Groß-
und einen Kleinkern. Die kopulierenden Zellen
enthalten dann also je zwei ungleiche Kerne; in
der Zygote, die zur Auxospore wird, bleiben zu-
nächst nur die zwei Großkerne erhalten, da die
Kleinkerne zugrunde gehen, schließlich ver-
schmelzen auch die ersteren.
Die Diatomeen der Pennatae-Gruppe bilden
eine Ausnahme unter den Algen insofern, als
ihre Zellen bei der Äquationsteilung dipioid sind
wie die der Tiere und höheren Pflanzen, die
Reduktionsteilung daher vor der Kopulation
stattfindet, während bei den anderen einfach
gebauten Algen die Zellen des Thallus haploid
sind und die Reduktion nach der Kopu-lation,
also bei der Keimung erfolgt. Nur Fucus
verhält sich wie die Tiere, während Dictyota und
gewisse Florideen mit ausgesprochenem Gene-
rationswechsel noch eine besondere Gruppe
bilden.
Was schließlich die Pilze betrifft, so ist über
die niederen Formen so wenig bezüglich der
Reduktionsteilung ermittelt, daß wir auf sie nicht
eingehen wollen. Um so interessanter liegen die
Verhältnisse bei den höheren Formen, den
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr.
Schlauchpilzen oder Ascomycetcn und
den Basidiomyceten. ')
Bei den ersteren erfolgt die Reduktionsteilung
im Schlauch, in dem die Sporen gebildet werden.
Der junge Schlauch, eine längliche Zelle am Ende
eines Fadens, enthält bei allen bisher genauer
untersuchten Ascomyceten zwei Kerne , die
miteinander verschmelzen. Dieser diploide Kern
teilt sich nun, und zwar ist die erste Teilung
heterotypisch, also eine Reduktionsteilung. Die
durch die zweite Teilung entstehenden vier Kerne
teilen sich aber meistens noch einmal, so daß acht
Kerne und aus ihnen acht Sporen entstehen, die
haploid sind und ein haploides Mycelium liefern.
An diesem entwickeln sich die Sexualorgane, die
allerdings nur bei einigen Arten bekannt sind (viel-
leicht auch nicht überall vorkommen), und von
denen die eigentliche Fruchtbildung ausgeht. Wenn
nun die Kopulation, die Befruchtung, stattfindet,
verschmilzt der männliche Kern nicht mit dem
weiblichen, sondern die Kerne legen sich nur an-
einander, und diese Paare gehen auf die sich weiter
aus der Zygote bildenden Zellen über, sie teilen
sich „konjugiert" weiter. Was jetzt entsteht,
können wir also als diploide und ungeschlechtliche
Generation betrachten: es sind die Hyphen, die
schließlich die Schläuche liefern und daher ascogene
Hyphen genannt werden. So kommt es, daß der
junge Schlauch mit zwei Kernen ausgestattet ist,
von welchem Zustand wir oben ausgegangen sind.
Dem Ascus ist die Basidie homolog. Auch sie
enthält in einem gewissen jugendlichen Zustand
zwei Kerne, die dann verschmelzen, und bei der
Teilung dieses neu gebildeten Kernes erfolgt die
Reduktion der Chromosomen. Damit können wir
uns aber nicht begnügen, wenn wir wissen wollen,
woher die beiden Kerne der Basidie stammen, und
wie sich der haploide und diploide Zustand zu
den morphologischen Entwicklungsformen verhält.
Zum Verständnis dieser Verhältnisse müssen wir
sogar die ver.>-chiedenen Abteilungen der Basi-
diomyceten einzeln betrachten und werden am
besten von den Rostpilzen ausgehen. Bei ihnen
entsteht die Basidie als Keimprodukt der sog.
Winterspore, und die letztere ist es, in der die
oben erwähnte Kernverschmelzung stattfindet. Aus
ihr sproßt ein kurzer Zellfaden aus (eben die
Basidie), der aus vier Zellen besteht. Vermutlich
sind diese vier Zellen eine solche Tetrade, wie wir
sie in Verbindung mit der Reduktionsteilung auf-
treten sehen, vermutlich also, mit anderen Worten,
tritt bei der Teilung der Basidie in vier Zellen
die Reduktion ein. jede Zelle der Basidie schnürt
eine Spore (Sporidie) ab, und wenn diese keimt,
entsteht bei gewissen Formen eine andere Gene-
ration, deren Fruchtform als Aecidium bezeichnet
wird. Seiner Anlage aber geht ein Sexualakt vor-
aus, wie bei der Fruchtbildung gewisser Ascomy-
') Vgl. hierzu die übersichtliche Zusammenstellung über
die Sexualität der Pilze von H. .Sierp, in „Die Natur-
wissenschaften" 1915 Heft 17.
ceten, der jedoch auch nur in einigen Fällen be-
obachtet worden ist. Und wie bei den Ascomy-
ceten verschmelzen die Kerne nicht, sondern legen
sich nur aneinander und teilen sich konjugiert
weiter. So entstehen schon zweikernige Sporen
im Aecidium und, wenn diese keimen, entsteht ein
Mycelium mit zweikernigen Zellen, das der diploiden
Phase entspricht. An ihm werden dann Sommer-
und Wintersporen gebildet, erstere sind auch zwei-
kernig, in letzteren aber tritt die oben schon er-
wähnte Kernverschmelzung ein. Freilich spielt
sich der Entwicklungsgang nicht immer in solcher
Weise ab, doch müssen wir uns mit diesem
Typus begnügen.
Bei den Brandpilzen gehen wir auch von
der Spore, der sog. Brandspore aus, in der zwei
Kerne zu einem verschmelzen, und aus der die
Basidie auskeimt. Diese besteht bei l'stilago aus
vier Zellen und schnürt vier Sporidien ab: es ist
also soweit alles ganz ähnlich wie bei den Rost-
pilzen. Hier wäre dann auch die Reduktion der
Chromosomen bei der Teilung der Basidie zu
suchen. Bei den Tilletia-hritn aber ist die Basidie
einzellig und erzeugt zahlreiche Sporidien: die
Reduktion wird also erst bei deren Entstehung
vor sich gehen. Die haploide Phase ist nun aber
sehr beschränkt, denn die Sporidien kopulieren,
und nun legen sich die Kerne wieder aneinander,
und bei der Keimung entsteht ein Mycelium mit
diploiden, aber zweikernigen Zellen, die später
direkt zu den Brandsporen werden und erst in
ihnen die Kerne wirklich verschmelzen lassen. Die
Bildung und Kopulation der Sporidien kann auch
ersetzt werden dadurch, daß an dem auswachsen-
den Mycel Schnallen auftreten und durch diese
Anastomosen hindurch der Übertritt der Kerne
und ihre Paarung ermöglicht wird. Schließlich
können die Kernpaare auch dadurch erzielt werden,
daß die Wände zwischen zwei benachbarten Zellen
sich auflösen. Hinsichtlich der Einzelheiten muß
auf die Lehrbücher verwiesen werden.
Die höheren Basidiomyceten, zu denen
die meisten unserer sog. Schwämme gehören,
verhalten sich weit einfacher. Ihre Basidie ent-
steht nicht durch die Keimung einer Dauerspore,
sondern ist, wie bei den Ascomyceten der Ascus,
einfach das Endglied eines Fadens im fruktifizieren-
den Gewebe (Hymenium). Die Kernverschmelzung
und die Reduktionsteilung des Zygotenkerns finden
in dieser Basidie statt. Es entstehen hier in der
Regel nur diese vier Kerne und sie begeben sich
in die am oberen Ende der Basidie gebildeten
Sporenanlagen. Wenn sich aber aus diesen die
reifen Sporen entwickeln, teilen sich die Kerne
wieder und dadurch werden die reifen Sporen
zweikernig. Keimen nun die Sporen, so liefern
sie ein Mycel mit zweikernigen Zellen, und dieses
bleibt so bis zur Bildung der Basidien, in denen
erst die eigentliche Verschrrielzung der Kerne,
also die Befruchtung, eintritt. Überall erfolgt gleich
darauf bei der nächsten Kernteilung in der Basidie
die Reduktion, aber die anderen Vorgänge sind
N. F. XVI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
719
verschieden je nach den Arten. Haben wir vorhin
die Entwicl<lung geschildert, wie sie Kniep für
Hypoclinus beobachtet hat, so zeigt Copfinus nach
desselben Autors Untersuchungen keine solche
Regelmäßigkeit mehr. Hier geht vielmehr aus
der Spore ein Mycel hervor, dessen Zellen teils
ein- teils mehrkernig sind und nur von den Frucht-
körperanlagen an immer zweikernig bleiben, wo-
durch dann auch die junge Basidie regelmäßig
zwei Kerne erhält. In ihr tritt die Befruchtung
durch Verschmelzung der Kerne ein, wenn man
überhaupt von Befruchtung da sprechen kann,
kann, wo gar keine Geschlechtsorgane gebildet
werden. Geschlechtliche und ungeschlechtliche
Generation, haploide und diploide Phase lassen
sich nicht mehr abgrenzen, sie fließen sozusagen
ineinander über, und das ist auch der Grund,
warum wir diese Form an das Ende unserer Be-
trachtungen über den Reduktionsprozeß gestellt
haben.
Einige Bemerkuiigeii zur Gescliiclite der Geolosie, insbesondere der „pliantastisclien
Periode" der Paläontologie.
Von Professor Dr. K. Andree zu Königsberg i. Pr.
] Mit 3 Abbildungen im Text.
[Nachdruck verboten.]
In einem der ersten Abschnitte seiner ausge-
zeichneten „Geschichte der Geologie und Palä-
ontologie bis Ende des 19. Jahrhunderts" (München
und Leipzig, R. Oldenbourg, 1899) behandelt Karl
Alfred von Zittel u. a. jenen Zeitraum vor
etwa 200 Jahren und früher, in welchem zahlreiche
Naturforscher in ihren Schriften der Meinung Aus-
druck verliehen, daß die Versteinerungen Natur-
„Den tragikomischen Abschluß dieser Literatur
bildet die Lithographia Wirceburgensis
von Joh. Barth. B er i nge r (17261, worin neben
einer Anzahl von echten V^ersteinerungen aus dem
Muschelkalk von VVürzburg eine Menge angeb-
licher Versteinerungen abgebildet und beschrieben
sind, welche von Studeiuen fabriciert und dem
leichtgläubigen Professor in die Hände gespielt
wurden. Auf den Foliotafeln sieht man Bilder
LITHOGRAPHIE
WIRCEBURGENSIS,
DUCEf^nS LAPinilM FIGURATORUM.A POTIOEU
TpeTimen^primum.'*
IN DBSERTATIGN'E 1MAUC;11RAL! PHYMCO HISTQRI.
AUTHOHnAH IT fO.VSf.VSU
INCLYT* FACULTATIS MEDIC/E.
IN ALMA EOO KRANCICA « IRCIJJUKCENilUM
PR.f.SipE
D. JOANNF. BARTHOIOM^O
AD \M'^ "■ ■'r,":rK,
D. JOANMS RARTHOLOM/El
ADAMI 15KKI\f;KR.
LITHOGRAPHIA
WIRCEBURGENSIS.
DUCENTIS LAPIDUM FICURATORUM,
I CONSUnO AUDITORIO AIEÜICO.
Abb. 2.
spiele, „lusus naturae", darstellten und auf irgend-
eine geheimnisvolle Weise direkt im Erdboden
entstanden seien; so z. B. angesehene Vertreter
der Medizin, wie der Engländer List er (1638 —
171 1), in den letzten Jahren seines Lebens Leibarzt
der Königin Anna, und der Luzerner Arzt und
Ratsherr Karl Nikolaus Lang (1670— 1 741);
dieses aber, obwohl ihnen die Beziehungen mancher
Versteinerungen zu heute lebenden F'ormen durch-
aus nicht unbekannt geblieben waren.
von Nacktschnecken, Insekten, Salamandern
Fröschen, ja sogar von Sonne, Mond, Sternen und
hebräischen Schriftzeichen. Als schließlich auch
der eigene Name Beringer zum Vorschein kam,
konnte die Mystificalion nicht länger verborgen
bleiben. Beringer suchte sein bereits veröffent-
lichtes Werk aufzukaufen und zu vernichten, allein
durch eine spätere Auflage (1767) wurde die
bibliographische Curiosität erhalten. Von den
„Lügensteinen" befindet sich eine reiche Samm-
720
Naturwissenschaftliche Woch enschrift.
N. F. XVI. Nr. si
lung im Xaturaliencabinett von Bamberg, einige
auch in den Universiiätssammlungen von Würz-
burg, München und an anderen Orten". ^) Ähn-
liches ist auch in späteren Büchern, so inO. Abel's
„Paläobiologie" (19 12) in dem Abschnitt über die
„Phantastische Periode'' der Paläontologie, zu lesen
und wird einleitend wohl in den Vorlesungen
unserer Wissenschaft berichtet.
Die Bibliothek des Geologisch- paläontologischen
Instituts und der Bernsteinsammlung der Universität
Königsberg i. Pr. -) besitzt nun ein ausgezeichnet
erhaltenes Exemplar jener ersten, angeblich ver-
nichteten Auflage von 1726, bei dessen Durch-
sicht ich zu meiner Überraschung feststeUte, daß
die allgemein Beringer selbst zugeschriebene
Abb. 3.
,,I.ithographia Wirceburgensis" in Wirklichkeit die
Doktordissertation des Georg Ludwig Hueber
darstellt, während Johann Bartholomaeus
Adam Beringer, Dr. phil. et med., öffentlicher
ordentlicher Professor der Medizin, nur als Senior
und Dekan der medizinischen Fakultät beteiligt
ist. Zum Beweise hierfür gebe ich in der neben-
stehenden Abb. I das Titelblatt jener ersten Auf-
lage des Buches wieder. Wenn damit nun die
Autorschaft Beringer's selbst künftig in Wegfall
zu kommen hat, so ist derselbe natürlich doch
nicht gleichzeitig von der Verantwortung für Inhalt
und Herausgabe des Werkes freigesprochen; denn
noch mehr als heute dürften in damaligen Zeiten
die Dissertationen die Anschauungen der anregen-
den Professoren wiedergegeben haben. Nach einer
im Verlauf eines diesbezüglichen Briefwechsels
') Geologisch -paläontologisches Institut der Universität
Göttingen I
"j Wie ich nachträglich feststellte, auch das Würzburger
Mineralogisch-geologische Institut, so dal3 die Vernichtung des
Werkes doch offenbar nicht gründlich genug erfolgt sein muß.
mir zugegangenen gütigen Mitteilung des heutigen
Vertreters für Mineralogie und Geologie in Würz-
burg, Herrn Professor Dr. J. Beckenkamp,
scheint übrigens der Kandidat Hueber selbst
dem Dekan Beringer jenen üblen Streich ge-
spielt zu haben ; doch wird vermutet, daß hinter
Hueber die Kollegen Beringer's gesteckt
haben.
Die irrtümliche Angabe von Zittel's von der
Autorschaft Beringer's erklärt sich offenbar da-
durch, daß jenem nur die 2. Auflage des Buches
vorgelegen hat; denn diese unterdrückt in der
Tat, wie ich an dem Exemplar der Berliner
Universitätsbibliothek feststellen konnte, den Namen
Hueber's und die Talsache, daß es sich um
dessen Dissertation handelte, vollkommen, wovon
eine Wiedergabe des Titelblattes (Abb. 2) über-
zeugen mag.
Da die „Lithographia Wirceburgensis" immer-
hin einiges Interesse beanspruchen darf, füge ich
in Abb. 3 noch eine Wiedergabe der Tafel XXI
bei, auf welcher neben verschiedenen „Lügen-
steinen" auch echte Versteinerungen aus dem
Muschelkalk (wohl Gervillia socialis) dargestellt
sind.
Welche unklaren Vorstellungen bezüglich der
Versteinerungen in damaligen Zeiten überhaupt
allgemeiner verbreitet waren, zeigt auch ein Blick
in das reichhaltige Buch von Georg Anton
Volkmann, „Silesia subterranea" (Leipzig 1720),
oder in die erste monographische Beschreibung
ostpreußischer Versteinerungen, welche Georg
Andreas Helwing, Pastor in Angerburg, 1717
in Königsberg hat erscheinen lassen, nämlich die
„Lithographia Angerburgica '. Beide Autoren
müssen sehr eifrige Sammler gewesen sein;
Volk mann, dem der schlesische Boden viel-
seitigere Anregungen gab, als Helwing in Ost-
preußen empfangen konnte, bildet u. a. zahlreiche
karbonische Pflanzenreste ab. Im übrigen werden
von ihm vielfach die gleichen ( )bjekte beschrieben,
wie in dem Buche Helwing 's — in der Haupt-
sache Versteinerungen aus nordischen Glazial-
geschieben, z. B. silurische Korallen. Bei Hel-
wing finden wir außer solchen auch Kreide-
spongien und -Seeigel, sowie Haifischzähne aus
der tertiären Bernsteinformation. U. a. ist der als
Geschiebe und an der Küste des Samlandes von
der Ostsee ausgeworfen am häufigsten anzutreffende
Kieselschwamm der oberen Kreide, Rhizopoterion
cervicorne, welcher, wenn in Bruchstücken vor-
liegend, noch heute von Laien vielfach für ver-
steinerter Knochen gehalten wird, in sehr deutlichen
Abbildungen vertreten; dazwischen aber sehen
wir — außer Konkretionen und den beliebten
Dendriten — nicht nur Steinbeile, Münzen, Arm-
spangen, Fibeln und andere menschliche Artefakte,
sondern auch Gesteiiisbruchstücke mit mensch-
lichen Köpfen und Gesichten abgebildet, wo ent-
weder die Phantasie dem Stift des Zeichners einen
Streich gespielt hat oder ebenfalls, wie bei den
N. F. XVI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
721
Ibst
Würzburger „Lügensteinen", am ( )bjel<t
künstlich mindestens nachgeholfen war.
Von der „Liihographia Angerburgica" is
übrigens im Jahre 1720 ein von von Zitte
nicht zitierter zweher Teil in Leipzig erschienen
derselbe umfaßt 132 S. und 6 Tafeln.
V o 1 k m a n n und H e 1 w i n g waren offenbar
beide sehr belesene Herren, umfaßt doch z. B.
das dem ersten Teile des Hei wing'schen Buches
beigegebene Literaturverzeichnis
als 72 Schriften von 1532 an.
nicht
weniger
Einzelberichte.
Meteorologie. IVlistpoeffer-Erscheinungen an
der holländischen Küste inlolge einernordenglischen
EjqjTosion." Aus Holland wird von einer neuen
Erhebung des Meteorologischen Instituts berichtet,
das sich bereits im Oktober 1914 durch genaue
Aufnahme der Hörbarkeit des Kanonendonners
Die Antwerpen große Verdienste erworben hatte.')
von neue Erhebung betrifft Begleiterscheinungen
der Explosion einer nordenglischen Munitionsfabrik
am I. Oktober 191 7. Sie bestanden in erdbeben-
artigen Erschütterungen, die an der holländischen
Nordseeküste und in ihrer nächsten Nachbarschaft
am Abend jenes Tages bemerkt wurden. Auch
der Erdbebenmesser des Instituts zu de Bildt wurde
in Bewegung gesetzt.
Gleichwohl erscheint dem Unterzeichneten eine
eigentliche Teilnahme an der Erderschütterung,
geschweige denn ein durch die Explosion ge-
wecktes Erdbeben ausgeschlossen. In diesem Falle
hätte die zwischen Holland und England flutende
Nordsee starke, der Schiffahrt gefährliche Seen
aufweisen müssen. Gerade mit einer regionalen
Zusammenstellung der Schiffsunfälle der letzten
Monate für die im Werden begriftene Zeitung
„Seedienst" beschäftigt, kann ich mit Bestimmtheit
feststellen, daß in diesem Meeresgebiete und seiner
nordeuropäischen Nachbarschaft ein auffälliges
Auftreten solcher Schiffsunfälle in den ersten
Oktobertagen 191 7 nicht stattfand.
Auf die wirkliche Erklärung führt die Beschrän-
kung der rätselhaften und vielfach Besorgnis er-
regenden Erschütterungen, die Fenster zum Klirren,
Türen zum Klappen und Wandbilder zum Pendeln
brachten, auf das holländische Küstengebiet und
seine nächste Nachbarschaft. Zu ihr gehört die
flandrische Küste, das klassische Gebiet der auch
in Holland wuhlbekannten Mistpoeffer. Ein solcher
liegt vor, aber von Explosionsschwingungen in der
Luft, die nicht mehr Schallschwingungen waren.
Solche Druckschwankungen der Luft haben
beim Krakatau- Ausbruch des 26./27. August 1883
nach Strachey'-) sich auf Luftdruckkurven bis
nach Toronto in Kanada ausgeprägt. Sie haben
bei den Explosionen von Dömitz, am 15. August
1907,^) und von Quickborn am lO. Februar
191 7,*) nach meinen eigenen Untersuchungen bis
auf Kilometer-Entfernungen Fenster zertrümmert
und andere Schäden an Gebäuden angerichtet.
Sie sind am 6. April 1917, als ein über eine
Schrapnellwolke hinziehender Zug fliegender
Schatten , von V. F" r a n z mit Augen gesehen
worden. ■')
Besondere Hervorhebung verdient der Umstand,
daß bei Dömitz, wie auch bei Ouickborn, auf
größere, wenn auch nur nach Einern zählende
Kilometer-Entfernungen ein deutliches Einfallen
der zerstörenden Stoßstrahlen aus der Höhe vor-
gefunden wurde. Die Bahn dieser Strahlen war
also bogenförmig. Krümmung der Schallstrahlen,
besonders infolge der Wärme- und Temperatur-
schichtung der Atmosphäre, waren aber das wesent-
lichste Ergebnis der Untersuchung H. Mohn's,
über die der Schiffahrt dienlichen Schallsignale
am Eingang des Kristianiafjords. °) In einem Buche
„Schallrätsel der Atmosphäre", das noch innerhalb
191 7, im Verlage des k. k. Osterreichischen Flug-
technischen Vereins zu Wien erscheinen soll, habe
ich sie, besonders auch bei Nachprüfung der Schall-
versuche John Tyndall's von South Foreland,
tatsächlich als den entscheidenden Schlüssel zur
Lösung jener Rätsel erweisen können. ')
Durch Anwendung auf die Hochatmosphäre
und die aus ihr folgenden, schließlich nach Hun-
derten von Kilometern zählenden Hörweiten
machte sie auch eine Erklärung der Schallrätsel
der indirekten Hörbarkeit möglich. Zu ihnen ge-
hören die Mistpoeffer, die ihre Erklärung in
indirekter Hörbarkeit fernen Geschütz-, Explosions-
oder Vulkan-Donners fanden. '*} Zu ihnen gehört
nun auch die erschütternde Luftschwingung des
T. Oktober 1917. Wilh. Krebs.
Literatur.
') E. V. Everdingen, The propagation of sound in
Ihe atmosphere ..Koninklijke Akademie van Wetenschappen
te Amsterdam." Vol. XVllI, S. 933— 96o.
Derselbe, De hoorbaarheid in Nederland van het
Kanonengebulder bij Antwerpen op 7—9 October 19 14.
,,Hemel en Dampkring" 1914.
■-) G. J. Symons, The Eruption of Krakatoa and sub-
sequent Phenomena, Report of the Krakatoa Committee of
the Royal Society. London 18S8, S. 57 ff.
') Wilh. Krebs, Aus der Chronik der Explosions-
kataslrophen des Jahres 1907. „Zeitschrift für das gesamte
Schieß- und Sprengsloffwesen". 111. Jahrg. Nr. 5 vom I. März
1908, S. 87— 88. München 1908.
*) Derselbe, Hörweiten des Donners von Kanonaden
und E.\plosionen (noch nicht veröffentlicht).
5) V. Franz, Luftwellen als Schlieren sichtbar. „Nalurw.
Wochenschr. N. F. Bd. 16, Nr. 32 vom 12. Aug. 1917, S. 456.
Derselbe, Eine Kriegshimmelserscheinung. „Weltall"
Jahrg. 17, Heft 3/4. 1916/17, S. 25-28. Treptow 1916.
722
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 51
«) H. Mohn, Studien über Nebelsignale. „Annalen
Hydrographie". Berlin 1892, S. 89 ff., S. Ii9ff.
') Wilh. Krebs, Schalliätsel der Atmosphäre. W
1917. Kap. V, S. 15—18.
^) Wilh. Krebs, Schallrätsel, Kap. VIll.
Botanik. Beiträge zur biologischen Blüten-
anatomie. (Reinhold Lange, in Beiträge z.
Biolog. d. Pflanz. XIII. 1916. 221—283). Der im
September 19 14 gefallene Verfasser untersucht in
seiner interessanten Arbeit vom Standpunkte der
biologischen Blütenanatomie die Anpassungen an
Insektenbestäubung innerhalb der Gattungen J^ioln
und \'cniiiiia. Seit Hildebrands Beschreibung
der Bestäubung von \'i(ila fricolur L. sah man
allgemein in dem lippenförmigen Anhang an der
Unterseite der Narbenöffnung ein die Fremdbe-
stäubung bedingendes Organ. Da sich der Pollen
in einer Rinne des untersten Kronblattes sammelt,
hindert nach Hildebrand diese „Klappe" die
Selbstbestäubung. Dies geschieht auch, wenn ein
saugendes Insekt den mit Blütenstaub bedeckten
Rüssel zurückzieht, da der Fortsatz dabei zurück-
klappt und die Xarbenöffnung verschließt. In der
nächsten Blüte bleibt der Pollen an den Papillen
der Lippe haften und wird bei dem Emporschnellen
dann in die Narbenhöhle befördert. Gegen diese
Deutung machte Witt rock geltend, daß die
Lippe gar nicht biegungsfest sei und von einem
Verschluß der Narbenöffnung nicht die Rede sein
könne. Er leugnet jede biologische Bedeutung
des P"ortsatzes. Die Untersuchung Langes sowie
seine biologischen Versuche erwiesen aber nach
ihm die volle Richtigkeit der alten Hildebrand-
schen Auffassung. Die Lippe wirkt als ein Kratz-
organ, das den Pollen von dem Rüssel des Insekts
abschabt, und ist für das Zustandekommen der
Kreuzbefruchtung unentbehrlich. Dieser eigen-
artigen I'^unktion ist der anatomische Bau der
Lippe, die Bürste und Klappe gleichzeitig darstellt,
in hohem Grade angepaßt. Nur wenige Viola-
arten zeigen diese höchste I'orm der Anpassung,
deren allmähliche Ausbildung bei den übrigen
Arten der Gattung zu verfolgen ist. Es ergibt
sich eine morphologische, anatomische und biolo-
gische übereinstimmende Entwicklungsreihe mit
stetigem Übergang von einfachen zu differenzierter
gebauten Blüten.
Die Arten der Gattung Veroiiica werden den
„Schwebfliegenblumen" zugerechnet. Die seitlich
auseinandergebogenen Staubgefäße besitzen am
Grunde ein Gelenk, gegen das die Insekten beim
Saugen stoßen. Nunmehr schlagen die Antheren
gegen den Bauch der Pliegc, mit dem die^e beim
Anfliegen zunächst die Narbe berührt. Diesen
vollkommenen Mechanismus besitzt u. a. K Cha-
macdrys L. Die übrigen Arten lassen sich nach
dem Grade der Beweglichkeit des h'ilamentgrundes
in eine phylogenetische Reihe ordnen, an deren
unterem Ende /' arvciisis L. als ursprünglichste
Form steht. Einige Arten sind sogar vollständig
zur Selbstbestäubung übergegangen (f. alpiiia L.).
Der relativen Beweglichkeit des Staubfadens ent-
spricht völlig sein morphologischer und anatomi-
scher Bau. Dieser steht, wie Lange zeigt, völlig
mit den physikalischen Gesetzen über Torsion und
Biegung im Einklang, nach denen sich die Be-
wegung in jedem Falle vollziehen muß. Die beiden
Beispiele zeigen, daß die biologische Blütenanatomie
sehr wohl dazu beitragen kann, die Stammes-
geschichte einer eng begrenzten Gruppe zu be-
leuchten. Kr.
Assimilation und Atmung von Wasserpflanzen.
Hilda Plaetzer hat im botanischen Institut der
Universität Würzburg durch Versuche ansubmersen
Wasserpflanzen festzustellen gesucht, welche Licht-
intensiiät nöiig ist, um die zur Kompensierung
der Atmung gerade ausreichende Assimilation her-
vorzurufen. Sie nennt diese Größe den „Kom-
pensationspunkt"; bei ihm ist der Gasaus-
tausch gleich Null. Zu seiner Ermittlung wurde
bei Wasserpflanzen mit Interzellularräumen (Myrio-
phyllum spicatum, Elodea canadensis, Cabomba
caroliniacea) ein eigenartiges, von K n i e p ange-
regtes Verfahren verwendet, dem folgende Tat-
sachen und Überlegungen zugrunde lagen; Ein
abgeschnittener untergetauchter Sproß der Pflanze
scheidet im Lichte infolge der Assimilation einen
Blasensirom aus der Schnittfläche aus, der bei
plötzlicher Verdunkelung sofort aufhört und bei
Wiederbeleuchtung nicht unmittelbar wiedereinsetzt,
sondern erst nach einiger Zeit, wenn der (xasdruck
in den Interzellularen stark genug geworden ist.
Ersetzt man nun die Verdunkelung durch Beleuch-
tung mit schwachem Licht, so hört der Blasen-
strom auch auf, aber er tritt nach Wiederbeginn
der vollen Beleuchtung etwas schneller wieder auf
als bei vorangehender Verdunkelung, ein Zeichen,
daß der Sproß bei der schwachen Beleuchtung
Sauerstoff gebildet hat. Je geringer die Lichtintensiiät,
desto länger dauert es bis zum Wiederbeginn des
Blasenstroms, und es handelt sich nun darum, die-
jenige Lichtstärke zu finden, bei der die Zeit bis
zum Wiedereinsetzen des Blasenstroms gerade
etwas kürzer ist als nach Verdunkelung ; diese Inten-
sität liegt augenscheinlich dem Kompensations-
punkt nahe.
Von der Versuchsanordnung sei hier nur so
viel gesagt, daß die Vollbeleuchtung durch eine
500-kerzige Metalldrahtlampe bewirkt wurde und
daß zur Erzielung der schwachen Beleuchtung eine
auf 95 Meterkerzen geeichte Nitralampe diente,
deren Lichtwirkung mit Hilfe einer davor einge-
schalteten, schnell rotierenden Scheibe mit ver-
stellbaren Spalten auf einen beliebigen Bruchteil
reduziert werden konnte. Die Temperatur wurde
dauernd konstant erhalten (etwa 19—20" C).
Bei Pflanzen ohne Interzellularen (Spirogyra,
Cladophora, Pontinalis antipyretica und Cinclidotus
aquaticus) wurden die Assimilations- nnd Atmungs-
vorgänge durch Feststellung des jeweiligen COj-
oder Oj-Gehaltes des Versuchswassers verfolgt.
Die Versuche wurden wie die andern im Dunkel-
N. F. XVI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
72:
zimmer ausgeführt. Als Lichtquelle für die Assi-
milationsversuche diente elektrisches Licht (meist
I — 2 Wotanlampen zu je So Kerzen); durch
Nähern und Entfernen der Lampe konnte jede
gewünschte Lichtstärke hergestellt werden. Vor
und nach dem Versuch (der 2 — 3 Stunden dauerte)
wurde der Sauerstoff durch Titrierung mit "/j,,,,
Natriumthiosulfatlösung bestimmt. Die Beleuch-
tungsstärke, bei der der Titer sich annähernd
gleich blieb (und die Veränderung in CO., Gehalt
gering war) ergab den Kompensationspunkt.
Die Versuchsergebnisse zeigten, daß die
Lichtansprüche der verschiedenen Pflanzen sehr
ungleich sind. Elodea, die anspruchsloseste,
verlangte bei etwa 20" in den zur Winterszeit an-
gestellten Versuchen nur etwa 17 Kerzen (im
Sommer sogar nur 2), Cladophora dagegen 253,
Cinclidotus sogar 400 Kerzen; die anderen Pflanzen
gruppierten sich in allen möglichen Abständen
dazwischen. Die Annahme, daß das höhere Licht-
bedürfnis durch stärkere Atmung bedingt sei, trifl"!
nicht zu; die P'rage nach den Ursachen und der
ökologischen Bedeutung des verschiedenen Licht-
anspruchs bleibt offen.
Andere mit Cladophora, Spirogyra, Fontinalis
und Cinclidotus ausgeführte Versuche zeigten, daß
die zur Erreichung des Kompensationspunktes
nötige Lichtstärke mit Abnahme der Temperatur
geringer wird. Die Pflanzen können also bei tiefer
Temperatur schon bei viel geringerer Intensität
mit StotT- und Energiegewinn arbeiten. Bei fallen-
der Temperatur nehmen daher die As^imilate zu,
wenn die Lichtstärke dieselbe bleibt (und eine
gewisse Höhe nicht überschreitet). Biologisch ist
dies von Bedeutung, da im allgemeinen die Fak-
toren „schwaches L.icht" und „tiefe Temperatur"
häufig zusammenfallen. Obwohl jeder I*"aktor an
sich für die Pflanze nicht günstig ist, ermöglichen
sie vereint einen Stoffgewinn.
Weiter stellte sich an Cladophora und Spiro-
gyra heraus, daß die Lichtintensität, die man an-
wenden muß, um die Atmung zu kompensieren,
mit steigender Temperatur schneller zunimmt als
die (im Dunkeln beobachtete) ^Atmung. Dies
könnte dadurch bewirkt sein, daß das Licht die
Atmung steigert, doch ergaben die Versuche keinen
Beweis für diese Annahme.
Endlich führte 11. Plaetzer an Cladophora
und Spirogyra Versuche aus zu dem Zwecke, den
Verlauf der Atmung in aufeinanderfolgenden Zeiten
festzustellen. Einige Zeit, z. B. 3 Stunden, nach
Beginn des Versuchs, wurde der Titer des Wassers
festgestellt, frisches Versuchswasser aufgefüllt, und
ein neuer Atemversuch von derselben Zeitdauer
begonnen. Ein Vergleich des Titers des zweiten
mit dem des ersten Teilversuchs zeigte, ob die
Atmung gestiegen, gesunken oder gleichgeblieben
war. Solcher Versuche wurden drei oder mehr
aneinandergereiht. Die Versuche wurden im Dunkeln
ausgeführt, und alle Manipulationen, die zwischen
zwei Teilversuchen vorgenommen wurden , voll-
zogen sich möglichst schnell und bei möglichst
geringer Beleuchtung. Während nun von anderer
Seite für (im Dunkeln befindliche) Laubblätter eine
Zunahme der Atmung während des Tages angegeben
worden ist, ergaben die Würzburger Versuche, daß
die Atmung von Cladophora und Spirogyra während
des Tages dauernd sank. Dasselbe galt für Clado-
phora auch während der Xacht. Bei Spirogyra
dagegen stieg die Atmung im Laufe der ersten
Nacht. Die Beobachtungen der Verfasserin machen
es wahrscheinlich, daß diese nächtliche Atmungs-
steigerung mit der nachts stattfindenden Kern-
und Zellteilung von Spirogyra zusammenhängt.
(Verhandl. d. physikalisch-medizin. Ges. zu Wurz-
burg 1917. N. F. Bd. 43, S. 31 — lOi.
F. Moewes.
Stratiobotanik. Unter diesem Namen (von
aToaTtä= Heer, Kriegszug) veröffentlicht A. Thel-
1 u n g in der Vierteljahrsschrift der Naturforschenden
Gesellschaft in Zürich, Jahrg. 62, 1917, S.327 — 335
eine Zusammenstellung der pflanzengeographischen
Veränderungen, die der Krieg hervorruft. Eine
erschöpiende Behandlung des Stoffes ist heute,
wo wir noch mitten in dem furchtbaren Weltkriege
stehen, naturgemäß nicht möglich. Es ist aber
immerhin eine dankbare und hochaktuelle Auf-
gabe, die aus früheren und teilweise auch schon
aus dem gegenwärtigen Kriege bekannt gewordenen,
unser Thema betreftenden Tatsachen zusammen-
zustellen und zum Sammeln neuer Beobachtungen
Anregung zu geben. Thellung unterscheidet
drei Gebiete, auf denen sich der Einfluß des Krieges
auf die Pflanzenwelt geltend macht:
I. Der zerstörende Einfluß des Krieges auf die
Natur-, Halbkultur- und Vollkulturformationen.
II. Die Schaffung neuer Nebenkulturformationen
mit teilweise charakteristischer Flora.
III. Der Einfluß der veränderten wirtschaftlichen
Verhältnisse und Bedürfnisse auf die Vollkultur-
formation.
I.
Die Zerstörung der Vegetation unter dem Ein-
fluß des Krieges, insbesondere des Schützengraben-
krieges ist vergleichbar dem Eftekt gewisser kata-
strophaler Naturereignisse, von Waldbränden, Berg-
stürzen oder Hochwasserschäden, die durch Denu-
dation, Erosion oder Aufschüttung nackten Boden
schatten oder mit der geflissentlichen Vernichtung
der Pflanzendecke, die der Mensch seit Urzeiten
unausgesetzt vornimmt. Als ein spezifisches
Kriegsphänomen kann indessen die schädigende
Wirkung der beim Platzen von Artilleriegeschossen
entstehenden oder in anderer Weise verwendeten
giftigen Gase auf gewisse Pflanzenarten gebucht
werden. K. Rubner berichtet über ein Absterben
der Fichte bei St. M i h i e 1 in Lothringen unter
dem t^influß der schädlichen Hitze-, Gas- und
Luftdruckwirkung der etwa in der Höhe der Baum-
gipfel krepierenden Schrapnells auf die jugendlichen,
empfindlichen Organe des Baumes. J.P. Ho Schede
beobachtete als vermutete Wirkuns: der von den
724
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. si
Deutschen in der Champagne vorgetriebenen,
chlorhaltigen Gaswolken eine Rotfärbung der ge-
meinen Kiefer, während andere Nadelhölzer
nicht angegriffen wurden.
IL
Der Krieg ruft die Bildung neuer „Nebenkultur-
formationen" (im Sinne Gradmanns) hervor,
d. h. von künstlichen, durch den Menschen ge-
schaffenen Standorten, deren Besiedelung jedoch,
im Gegensatz zu den „Vollkulturformationen", der
Natur oder dem unbeabsichtigten Einfluß des
Menschen überlassen bleibt. E. fl. L. Krause
berichtet vom deutsch-französischen Kriegsschau-
platz, daß im Frühjahr um die Drahtverhaue
Papavcr Rhoeas, im Spätsommer in den Schützen-
gräben Stachys ai/i/inis dominiere. Schließlich
würden die einjährigen Arten durch ausdauernde
ersetzt, es käme jetzt hauptsächlich Cirsiiim
arvcnse zum Vorschein. Ich fand auf dem öst-
lichen Kriegsschauplatz bei Kowno die Unter-
stände im Frühjahr besonders häufig von Ttissilaoo
farfara bewohnt, von Annuellen siedelten sich
zuerst Draba venia und Capsclln biirsii pastoris an.
Durch den Proviant- und Fouragetransport
wurden zu allen Zeiten Pflanzen verschleppt, die
sich an den Truppenlagersteilen ansiedelten. Die
überwiegende Mehrzahl dieser Fremdlinge ver-
schwindet nach kurzer Zeit spurlos, von der ein-
heimischen Vegetation überwuchert, aber einzelne
Arten gelangen doch zu dauernder Einbürgerung.
So wird das Vorkommen der Kruzifere E/ir/iidim/i
syriacitm im Prater von Wien auf Einschleppung
durch die Türken zurückgeführt, die Kruzifere
Bunias urieiitalis, durch die Kosaken verschleppt,
war von 1814 — 1860 im Bois de Boulogne bei
Paris eingebürgert, ebenso gilt die seit 18 14 bei
Schwetzingen inBaden vorkommendeChenopo-
diacee Corispcniinin Marscliallii als Hinterlassen-
schaft der Kosaken. Großartige Beispiele dieser
Art boten die im Jahre 1871 in den verschiedensten
Gegenden Frankreichs zum Vorschein gekommenen
Kriegsfloren, von denen Gaudefroy und
Mouillefarine, Franchet, Paillot und
Vendrely berichten.
So kamen in der Umgebung von Paris 190
fremde Arten, meist mediterraner Herkunft, zur
Entwicklung, die durch Pferdefutter für die franzö-
sische Armee, größtenteils aus Algerien, eingeschleppt
worden waren. An den Orten der Besetzung durch
die deutsche Armee fanden sich nur ganz wenige
fremde Arten : \ ^icia villusu, Lcpidimii pcrfoliaft/ui,
sowie eine ungewöhnlich große Menge von Erbsen
und Linsen. Das zahlreiche Vorkommen von
Erbsen um die Schützengräben herum ist auch
mir in diesem Kriege in der K o w n o e r Gegend
aufgefallen.
Nach Thellung kann es auch „in neutralen
Ländern, die sich an der Menschenschlächterei
nicht beteiligen, an Stelle einer Kampffrontflora
zu einer analogen Erscheinung: einer Grenzbe-
setzungsflora kommen". Thellung unterscheidet
hier ferner „Mobilisationsfloren" und eine „Pferde-
musterungs-Florula". Von besonderem Interesse
ist die Einschleppung indischer Fremdpflanzen im
Parc Borely bei Marseille im Jahre 1915.
Thellung stellte hier die Gramineen *Andro-
pogoii can'iosiis subsp. inolicuiiius , *Tlici/icda
(jnadrivalvis. CcncJirus iciniiatiis und Diiicbra
rctrußcxa, sowie die Komposite *M\riactis java-
iiica fest, von denen drei (die mit * versehenen
Arten) auf das ostindische Florengebiet beschränkt
und neu für Europa sind.
III.
Eine ungeahnt tief umgestaltende Wirkung übt
der Krieg auf die Kulturformationen aus. In den
kriegführenden wie in den neutralen Ländern
werden die Vollkulturformationen (Gemüse- und
Ackerland) auf Kosten der Nebenkulturformationen
(des Ödlandes) vermehrt. Aber auch in t|ualita-
tiver Hinsicht macht sich der Einfluß der Kriegs-
lage auf die Kulturformationen geltend, manche
vergessene und heute verschmähte Nutz- oder Ge-
würzpflanze wird jetzt wieder gesammelt oder
in Kultur genommen.
W. Herter (Berlin-Steglitz).
Die Fruchtbildung einiger geokarper Pflanzen
ist von T h e u n e untersucht worden. Nachdem
er im speziellen Teile der Arbeit die vier wich-
tigsten geokarpen Gewächse, AracJiis liypot^aea L.,
die Erdnuß, Kcrsliiigiclla gcocarpa Harms, die
Kandelabohne, Okeitia lixpogaca Schi, et Ch.
und Trifolimn s/il/firrai/cniii L., namentlich die
anatomischen und biologischen Verhältnisse der
Fruchtentwicklung beschrieben hat, weist er ver-
gleichend nach, daß diese systematisch ziemlich
fern voneinander stehenden Pflanzen sehr ähnliche
Einrichtungen für die Versenkung der Früchte in
den Boden besitzen. Mindestens die Seilenzweige
haben einen kriechenden Wuchs, so daß die Blüten
in der Nähe des Bodens gebildet werden. Der
Klee besitzt kleine, unscheinbare Blüten, die sich
selbst bestäuben, aber auch die übrigen groß-
blütigen P"ormen scheinen nicht auf Fremdbestäu-
bung angewiesen zu sein, denn ^h-acliis trägt
unterirdisch, Okoiia auch oberirdisch kleistogame,
normale Früchte bildende Blüten. Die in den
Boden eindringenden Organe sind sehr ähn-
lich gebaut. Durch Streckung der Zone zwischen
P'rucbtstiel und Samenanlage entsteht bei Arachis
und Kcrsfiiigiclla ein langer, stengelartiger Gyno-
phor, der an der Spitze den Fruchtknoten trägt.
Hier wie bei Okoiia ist die Spitze wurzelähnlich
gebaut. Die dickwandigen Epidermiszellen besitzen
eine dicke Kutikula; Drüsenhaare sondern ein
schleimiges Sekret ab, während bei Okciiia die
äußersten Zellschichten verquellen, so daß eine
scharfe Spitze entsteht. Die lückenlos anein-
anderstoßenden Zellen des inneren Gewebes
bilden einzelne Zonen. Bei Trifolimn ist es da-
gegen der Infloreszenzstiel, der die zurückgeklappten
Blüten in den Boden drückt, wobei durch die einen
N. F. XVI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochcnschriit.
72s
Kegel bildenden sterilen Mittelblüten eine bohrende
Spitze entsieht. Wie bei den Wurzeln liegt die
Wachstuniszone dicht hinter der Spitze. Im Innern
weisen die Stengel breite, durch dicke Auflage-
rungen verholzter Baststränge verstärkte Gefäß-
bündel auf, die einen ziemlich geschlossenen Ring
bilden. Erst wenn eine bestimmte Tiefenlage er-
reicht ist, biegen sich die bis dahin kleinen Früchte
um und entwickeln sich nun sehr schnell mit
Hilfe der im Stiel gespeicherten Stärke. Über
die Ursache des Umbiegens der Stiele nach der
Erdoberfläche zu ist noch wenig bekannt. Werden
sie gezwungen, horizontal in die Erde zu dringen,
so unterbleibt die Krümmung.
Hinsichtlich der Bedeutung derGeokarpie
schließt sich Theune der Ansicht an, daß es sich
um ein Schutzmittel gegen Tierfraß handelt. Da-
für spricht u. a., daß die Früchte der Erdnuß mit
Hilfe ihrer absorbierenden Haare und der Vorräte
im Gynophor auch ohne die belaubte Pflanze
reifen. Bei Trifolium und namentlich Okenia
kommt hinzu, daß sie auf diese Weise viel bessere
Keimungsbedingungen finden. Ein großer Nach-
teil für .Arachia und Kerstitigiella ist, daß auf
einem sehr kleinen Raum sehr viele Samen keimen
(bei K. 80 F"rüchte auf einem Raum von 40 cm
Durchmesser!). Da sie aber Kulturpflanzen sind,
ist dies offenbar nicht das natürliche Verhalten.
Dieses lassen die anderen beiden Arten ei kennen,
wo die Früchte an ausläuferartigen Seitenzweigen
in regelmäßigen Abständen versenkt werden. So
findet eine langsame, günstige Verbreitung statt.
Die Geokarpie ist am stärksten bei Aracltis aus-
geprägt; denn während man die anderen Arten
experimentell zur Bildung oberirdi.-cher Früchte
zwingen kann, ist dies bei ihr nicht möglich, viel-
mehr sterben alle Fruchtknoten ab, die den Erd-
boden nicht erreichen.
(Erich Theune, Beiträge zur Biologie einiger
geokarper Pflanzen. Beitr. z. Biol. d. Pflanzen XIII.
1916. S. 285—346.) Kr.
Zoologie. Die wirtschaftliche Bedeutung der
Ameisen für den Menschen behandelt H. Stitz in
der „Zeitschr. f. angewandte Entomologie" (Bd. IV,
H. i). Während für uns die Ameisen ihrer geringen
Anzahl wegen kaum in Betracht kommen, ist ihre
Bedeutung für die Tropen, wo sie oft in unge-
heurer Zahl sich finden (in Brasilien sind nach
einem brasilianischen Ausspruch nicht die Menschen,
sondern die Ameisen die Herren des Landes),
eine weit größere. Hier werden sie, namentlich
die Weibchen der größeren Arten — es handelt
sich besonders um die Blattschneider- und Honig-
ameisen — , von den Eingeborenen eifrig verzehrt,
wie viele Reisende, wie Humboldt, Durcheil,
Rengger, Schomburgk, Spruceu. a., be-
richten. Der mit Eiern oder Nahrung gefüllte
Hinterleib der Weibchen soll roh wie Haselnuß,
geröstet und mit Syrup übergössen wie geröstete
und überzuckerte Mandeln schmecken, doch be-
richten andere Reisende von einem brennenden
Geschmack. Diese Verschiedenheit in der Beur-
teilung erklärt sich vielleicht dadurch, daß die
Arten nicht näher bekannt sind. Aber auch in
Europa ist die Verwendung der Ameisen für den
Genuß nicht unbekannt. NachKirby u. Spence
(1823) wurden sie in Schweden dazu benutzt,
schlechtem Branntwein einen besseren Geschmack
zu geben, und nach Mayr (1855) wurden in den
Alpen bei Wassermangel Ameisen auf Brot ge-
quetscht und ihr Saft so genossen.
Allgemein bekannt ist die Bedeutung der
Ameisen für die Medizin. Der Ameisenspiritus
findet jetzt noch häufig Anwendung zum Einreiben
bei Rheumatismus, Verrenkungen, Verstauchung
usw. Nach Baudouin (1898) werden in der
asiatischen Türkei gewisse Ameisen zum Ver-
schließen von Wunden benutzt. Die Wundränder
werden zusammengedrückt, man läßt die großen
Kiefer hineinbeißen und schneidet, wenn dies ge-
schehen, den Kopf ab. Je nach der Länge der
Wunde werden mehr oder weniger Köpfe ange-
setzt. Dasselbe Verfahren soll auch in Afrika und
Südamerika geübt werden.
Bekannt ist ferner ja auch die Verwendung
der Puppen unsrer roten Waldameise, der sog.
Ameiseneier, als Vogelfutter.
Zur Verbesserung des Bodens tragen die in
der Erde lebenden Arten bei, indem sie nicht
nur die unteren Schichten an die Oberfläche
schaffen, sondern auch durch ihre Röhren und
Nester der Luft und dem Wasser das Eindringen
in den Boden ermöglichen und sie so den Wurzeln
zuführen, außerdem aber auch dadurch die Ver-
witterung des Bodens beschleunigen helfen. Wie
groß in den Tropen die von den Ameisen ge-
leistete Arbeit werden kann, ersieht man aus einer
Beobachtung, die Gonelle (1896) in Südamerika
machte. Auf einem Raum von i ha sah er fünf
Hügel einer Blattschneiderameise, deren einen er
mit 300 cbm berechnete. Die fünf Hügel würden,
gleichmäßig ausgebreitet, den Boden etwa 15 cm
hoch bedeckt haben.
Im Kampfe gegen die Schädlinge der Garten-
und F'orstwirtschaft haben wir in den Ameisen
wertvolle Helfer. Besonders bei dem Massenauf-
treten der Nonnen- und Kiefernspinnerraupen zeigt
sich ihr Einfluß. Auch in dieser Beziehung ist
ihr Nutzen in den Tropen bedeutend größer als
bei uns. Zu Hunderttausenden gehen sie hier,
wo sie eine ansehnliche Größe erreichen, auf
Raub aus, die Gegend auf weite Entfernung hin
überschwemmend und von allem schädlichen Klein-
getier säubernd. Diesen starken Verbrauch der
Ameisen an animalischer Nahrung macht man
sich nutzbar, indem man sie da ansiedelt, wo ihre
Hilfeleistung gebraucht wird, hauptsächlich in
Baumwollpflanzungen und Obstanlagen.
Diesem, wie wir sahen , recht bedeutenden
Nutzen stehen aber auch schädliche Wirkungen
gegenüber. Jeder bat wohl schon am eigenen
Leibe empfunden, wie schmerzhaft die Ameisen-
bisse sind. Der Stich einer südamerikanischen
726
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 51
Art {Faraponcra clavata, etwa 2V„ cm lang) ver-
ursacht nach Schomburgk Gefühl der Lähmung
und die fürchterlichsten Schmerzen im ganzen
Körper. Ähnliches gilt von vielen anderen tropi-
schen Arten.
Auch an der Übertragung von Krankheits-
keimen sollen die Ameisen beteiligt sein, doch
sind genauere Untersuchungen hierüber wohl noch
nicht angestellt.
Lästig werden die Ameisen, wenn sie sich in
Häusern einnisten, durch ihr Naschen von den
Speisen, ebenso in Obstgärten durch Annagen der
reifen Früchte.
Bekannt ist die Vorliebe für die Ausscheidungen
der Blattläuse, ihrer „Milchkühe". Die Blattlaus-
kolonien werden regelmäßig besucht und gegen
ihre natürlichen Feinde (Schlupfwespen, Larven
verschiedener Käfer) verteidigt, wodurch die Blatt-
läuse ihr Zerstörungswerk an den Pflanzen unge-
stört fortsetzen können. Andere Ameisen werden
dadurch noch gefährlicher, daß sie Wurzelläuse
züchten, die, da sie unterirdisch leben, natürlich
schwer zu bekämpfen sind.
Die Blattschneiderameisen Amerikas, die für
ihre Pilzgärten viel Blattmaterial gebrauchen,
richten in den Kulturen oft große Verwüstungen
an, da sie mit dem IVlaterial recht verschwenderisch
umgehen und ganze Bäume in kurzer Zeit voll-
ständig entlauben können. So soll z. B. die Zucht
der Orange in manchen Gegenden det Ameisen
wegen fast gänzlich ausgeschlossen sein. Auch
der Kaffeebaum, Kakaobaum und Baumwollstaude
sollen schwer zu leiden haben.
Endlich seien noch die sogenannten Ernte-
ameisen erwähnt, die Getreidekörner massenhaft
in ihre Nester einschleppen, wahrscheinlich um
sie, wie die Blattschneiderameisen, zum Züchten
von Pilzen, die ihnen dann als Nahrung dienen,
zu benutzen. Heycke.
Bücherbesprechungen.
Fitting, Prof. Dr. H., Die Pflanze als leben-
der Organismus. Akademische Rede zum
Geburtstage Sr. Majestät des Kaisers, gehalten
in der Aula der Rheinischen Friedrich Wilhelms-
Universität Bonn am 27. Januar 1917. Jena
191 7. G. Fischer.
„Das Ganze und seine Teile", dieses uralte
philosophische Problem und Diskussionsobjekt,
ist, auf die Organisation und die Lebens-
tätigkeit der Pflanze angewandt, auch das Thema
dieser akademischen Rede. Anfänglich nur an die
Beziehungen der groben morphologischen Teile
untereinander, der Organe, anknüpfend, gewann
die Streitfrage: was ist wichtiger, das Ganze oder
seine Teile? eine wesentlich zugespitztere Form,
als der innere Bau der Pflanze genauer bekannt
wurde, als man Einblick in die wundervolle Zellen-
architektur gewann. Unter dem Eindruck dieser,
durch sehr ausgedehnte Forscherarbeit der jüngst
verflossenen anatomischen oder, wie man auch
sagen könnte, zellulären Richtung der Botanik ge-
förderten, in immer feinere Einzelheiten gehenden
Ergebnisse haftete der spekulierende Botaniker
immer fester an den Einzelheiten, den Zellen, den
Teilen, und baute die mannigfaltigsten biologischen
Theorien, die das Leben und die Entwicklung
der Pflanze erhellen sollten, mit Befriedigung aus
zellularen Bausteinchen auf. Darüber ging der
Blick für das Ganze vielfach gänzlich verloren,
obgleich die Vorstellung von der einheitlich ge-
leiteten Organisation der Pflanze keineswegs ver-
schwunden war. Insbesondere muß der Physiologe
immer wieder die Unzulänglichkeit der über-
triebenen anatomisch-zellularen Anschauungsweise
besonders lebhaft empfinden. Für ihn ist die
Pflanze ein einheitlich reagierendes Lebewesen, das
sich aus bestimmten Gründen zellig aufbaut, aber
nicht von den Zellen gebaut wird. Weder Form-
bildung noch physiologische Leistungen sind ein-
seitig aus den zellularen Teilprozessen zu verstehen,
niemals ist das Ganze aus seinen Teilen zu begreifen. ')
Solche Fragen hat F i 1 1 i n g durch den Wechsel
der Zeiten in der vorliegenden Schrift verfolgt;
ihr Studium wird vielen förderlich sein, die durch
die vielfach nur zeliulartheoretisch -gerichteten
Lehrbücher und namentlich durch die populären
Bildungsquellen eine einseitige Voi Stellung von
großen Grundfragen der pflanzlichen Organisation
und des Lebens der Pflanze erhalten haben.
Miehe.
Boas, J. E. V., Zur Auffassung der Ver-
wandtschaftsverhältnisse der Tiere.
61 Seiten. Mit 35 Figuren im Text. Kopen-
hagen 1917, Verlag von A. Bang. — Preis:
geh. 3 Kronen.
„Selbst ein unsicheres, ja ganz hypothetisches
Resultat ist besser als das reine Nichts, und sollte
es sich später als unzutreftend ergeben, kann es
vielleicht wenigstens eineWahrheits Etappe werden."
Erwägungen dieser Art veranlaßten Boas, einige
theoretische Betrachtungen anzustellen über die
Verwandtschaftsbeziehungen einiger Tiergruppen,
deren Phylogenie trotz des Vorliegens eines um-
fangreichen Tatsachenmateriales noch sehr um-
stritten ist. Boas behandelt zunächst die Abstam-
mung der Echinodermen, eine Abteilung, deren
Anschluß an andere Stämme des Tierreichs von
jeher besondere Schwierigkeiten gemacht hat.
Man hat in der Regel die bilateral-symmetrische
Larvenform der Echinodermen zum Ausgangspunkte
phylogenetischer Spekulationen genommen und
') Einige Andeutungen zu diesen Fragen findet raan auch
in dem Buchlein des Rezensenten : Allgemeine Biologie. z.Aufl,
Leipzig und Berlin 1915.
N. F. XVI. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
72;
die Gruppe in stammesgeschichtliche Beziehungen
zu ebenfalls bilateral-symmetrischen, wurmartigen
Formen gebracht. Boas hingegen sieht in der
bilateralen Symmetrie der Echinodermenlarven
nur einen sekundären Zustand von untergeord-
neter Bedeutung und hält die radialsymmetrische
Gestalt für die Urform. Den radiären Bau haben
die Echinodermen mit den Cölenteraten gemein-
sam. Ähnlich wie bei diesen ist er nach Boas
auf eine festsitzende Lebensweise zurückzuführen.
Zwar hat die Mehrzahl der Echinodermen die
festsitzende Lebensweise aufgegeben, aber gerade
die ursprünglichsten Vertreter der Gruppe, die
Crinoideen, die bereits im Kambrium vertreten
sind, haben sie beibehalten. Die den Cölenteraten
und Echinodermen gemeinsame radiäre Symmetrie
ist nun aber nach Boas nicht bloß eine einfache
Analogie, sondern die vergleichende Betrachtung
der beiden Stämme scheint ihm für die Möglich-
keit zu sprechen, daß die Cölenteraten die Vor-
fahren der Echinodermen sind, und zwar leitet er
die gestielten Crinoideen von festsitzenden, polypi-
formen Cölenteraten ab, über deren systematische
Stellung in der Gruppe sich nichts Näheres
aussagen läßt. Die bei den Cölenteraten bereits
vorhandenen Organe haben bei den Echinodermen
eine weitgehende Komplikation erfahren. Beson-
ders der Darmtraktus ist davon betroffen worden ;
von ihm haben sich Cölom, Wassergefäßsystem
und Pseudohämalräume abgetrennt. Das Wasser-
gefäßsystem ist auch bei den Cölenteraten schon
vorhanden in der Form der Hohltentakel, die bei
manchen Medusen sogar mit Saugscheiben ver-
sehen sind in ähnlicher Weise wie die Saugfüßchen
der Echinodermen ; bei den Cölenteraten ist jedoch
die Abschnürung vom Darmkanal noch nicht er-
folgt. Von den festsitzenden Crinoideen sind dann
die freilebenden Seesterne abzuleiten, bei denen
aber die Radialität erhalten blieb. Der bei den
Cölenteraten noch fehlende, bei den Crinoideen
unabhängig von der radiären Anordnung zur Aus-
bildung gekommene After hat sich bei den See-
sternen infolge Wegfalls des Stieles an den abo-
ralen Pol verschoben, und dadurch hat sich die
radiäre Symmetrie des Darmkanals noch schärfer
ausgeprägt. Aus den Seesternen wiederum sind
einerseits die Ophiuren, andererseits die Seeigel
entstanden, welch letztere die Vorfahren der Holo-
thurien sind. Bei den beiden letztgenannten
Klassen hat die freie Lebensweise vielfach eine
Annäherung an bilateral-symmetrische Formen zur
Folge gehabt, doch geht auch in diesen Fällen
die Radialität nicht ganz verloren.
Im zweiten Kapitel erörtert B o a s die Phylogenie
der Würmer. An die Spitze dieser bunt zusam-
mengesetzten Gruppe stellt man im allgemeinen
die Plathelminthen und betrachtet unter diesen die
Turbellarien als die ursprünglichsten Formen.
Boas sieht in den Turbellarien rückgebildete
Formen, die von annelidenähnlichen Vorfahren
abstammen. Diese den heutigen Chätopoden am
nächsten stehenden Ur-Chätopoden haben die Aus-
gangsform für sämtliche Würmer gebildet. Gefäß-
system, Darmkanal, Geschlechtsorgane und Leibes-
höhle waren bei diesen Ur Chätopoden wahrschein-
lich bereits ähnlich gestaltet wie bei den jetzt
lebenden Anneliden, während das Nervensystem
dem der heutigen Plattwürmer entsprach (größere
Anzahl von Längsnervenstämmen). Die beiden
von den Ur-Chätopoden ausgehenden Hauptzweige
führen zu den Anneliden (Chätopoden und Hiru-
dineen) einerseits und über die Nemertinen zu den
Turbellarien, Trematoden und Cestoden anderer-
seits. Bei den Nemertinen ist die Leibeshöhle
verloren gegangen, bei den von diesen abzuleiten-
den rhabdocölen Turbellarien sind weiterhin Gefäß-
system und After rückgebildet worden, der herma-
phroditisch gewordene Geschlechtsapparat hingegen
liat eine weitgehende .Ausbildung und Komplika-
tion erfahren. Als besondere Zweige haben sich
von den Ur-Chätopoden aus die Enteropneusten,
die Chätognathen und die Biachiopoden entwickelt.
Was nun die Abstammung der Ur-Chätopoden
anbetrifft, so hält Boas eine nähere Verwandt-
schaft mit den Holothurien, und zwar mit den
heutigen Synaptiden, bei denen die bilaterale
Symmetrie bereits angebahnt ist, für am wahr-
scheinlichsten. Der Bau des Nervensystems, der
Muskelschichten und des Blutgefäßsystems der
Holothurien spricht zugunsten dieser Annahme.
Auch die Sinnesorgane (Statocysten) und die so-
genannten Wimperorgane der Synaptiden haben
mit den entsprechenden Organen der Anneliden
große Ähnlichkeit. Auffällig kann erscheinen, daß
das für die Holothurien, wie für die Echinodermen
überhaupt, so charakteristische Wassergefäßsystem
bei den Würmern gänzlich verschwunden sein soll.
Doch abgesehen davon, daß das Fehlen eines
Organsystems in einer Tiergruppe nicht gegen die
X'^erwandtschaft mit einer anderen Gruppe zu
sprechen braucht, finden sich bei manchen Würmern
auch noch Teile, die als Überreste eines Wasser-
gefäßsystems gedeutet werden können (Eichelblase
des Balanoglossus, Tentakularsystem des Sipunculus,
Rhynchocölom und Rüssel der Nemertinen). Die
von den Anneliden neu erworbene Metamerie hat
nach Boas' Ansicht nicht die Bedeutung, die
iTian diesem Merkmal im allgemeinen beimißt.
Überall macht sich in der organischen Natur ein
„Gesetz der Wiederholung" bemerkbar, auch die
Segmentation der Anneliden ist „nur ein Fall
unter vielen von einer metameren Anordnung einer
Anzahl Organe".
Zum Schluß trägt Boas kurz in dogmatischer
Form seine Auffassung der Keimblätterlehre vor.
Er unterscheidet nur zwei Keimblätter: Ekto- und
Entoderm, die beiden Zellenschichten der Gastrula
und des Hydroidkörpers. Bei den Hydroiden bleibt
das Entoderm ein einfacher Schlauch, bei den
anderen Cölenteraten bildet es mehr oder weniger
komplizierte Ausstülpungen, jedoch bleiben die
Nebenräume immer in offener Verbindung mit der
Haupthöhle. Im Gegensatz dazu schnüren sich bei
den Echinodermen und Bilaterien die Ausstülpungen
728
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 51
von der Entodermhöhle vollständig ab. Bei den
einen entstehen sie als offene Ausstülpungen, die
Cölomsäcke sind hier von Anfang an Hohlorgane,
bei anderen werden die Säcke als solide Entoderm-
auswüchse angelegt, und erst später tritt ein Hohl-
raum auf. Ein prinzipieller Unterschied besteht
indessen zwischen diesen beiden Formen der
Cölomsackbildung nicht. Die Mesenchymzellen,
die in der Regel zusammen mit den Cölomsäcken
als ,,Mesoderm" bezeichnet werden, stammen von
beiden Keimblättern ab. Xachtsheim.
Westru^land in seiner Bedeutung für die Ent-
wicklung Mitteleuropas. Leipzig und Berlin.
1917. B. G. Teubner. 4,80 M.
Das vorliegerde Buch stellt eine Sammlung
von Einzelaufsätzen dar, deren leitende Gesichts-
punkte und inneren Zusammenhang Sering in
einer Einleitung auseinandersetzt, die am besten
über Ziel und Bedeutung des Bandes unterrichtet.
Sering geht von der Tatsache aus, daß das über-
kommene, ehemals leidlich stabilisierte Staaten-
system Europas durch die riesigen Siedelungen
innerhalb der gemäßigten Zone in Amerika, in
Australien, Nordasien usw. in seinen Grundfesten
erschüttert worden ist. Riesenstaatengebilde euro-
päischer Zivilisation sind entstanden, welche die
unverkennbare Absicht zeigen, alle die noch außer-
halb dieser Ringe befindlichen Staaten ihrer Auf-
sicht zu unterwerfen oder sie bis zur politischen
Bedeutungslosigkeit zu verkrüppeln. Damit ist
die große Gefahr einer Verflachung und Verödung
des in seiner Buntheit so reichen und schöpferischen
eu.-opäischen Kuhurlebens eingetreten, eine Gefahr,
vor der nicht die Bildung eines neuen Imperiums,
sondern nur ein Staatenbund schützen kann, der
in seiner festen Geschlossenheit jedem der Staaten-
ungeheuer gewachsen ist, der aber seinen Mit-
gliedern genügenden Spielraum zur Entfaltung der
ihnen eigentümlichen Kräfte und F"ähigkeiten ge-
währt. Von diesem Gesichtspunkte aus muß auch
im Osten die Neugestaltung der Grenzgebiete er-
folgen, die zu einem guten Teil von den Mittel-
mächten besetzt sind. Ihre Loslösung von Rußland
und enge Angliederung an Mitteleuropa sei eins
unserer wichtigsten Kriegsziele, seine Durchführung
werde erleichtert und innerlich gerechtfertigt durch
die Tatsache, daß jene Länder seit alters zur
kulturellen Einflußsphäre Mitteleuropas gehören.
Sinngemäß seien aber auch etliche der nicht be-
setzten Randländer Rußlands in diesen Gedanken-
kreis einzuziehen und schließlich seien auch rein
russische Verhältnisse für unsere Beziehungen zu
unserem wichtigsten Nachbarn bedeutungsvoll, von
denen Sering annimmt, daß sie bei festerem Aus-
bau vielleicht imstande sein werden, dem angel-
sächsischen Weltherrschaftsblockdie Wage zu hallen.
Die folgenden Einzeldarstellungen geben nun-
mehr bei völliger Wahrung des politischen Stand-
punktes der einzelnen Verfasser das Material, aus
dem sich eine zuverlässige Einsicht in die für uns
so wichtigen Verhältnisse der westlichen Grenz-
länder Rußlands gewinnen läßt. Nacheinander
werden Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen,
Polen, und die Ukraine behandelt, indem die geo-
graphischen Grundlagen, die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, die Bevölkerung, die Geschichte, kurz
alles, was zur Kenntnis dieser Länder erforderlich
ist, in knappen Zügen, aber auf Grund sorgfältiger
Studien und reichlich unterstützt durch wertvolle
statistische Angaben, geschildert werden. Dabei
wird überall die Frage erörtert, inwieweit in diesen
Ländern die Grundlagen zu einer selbständigen
staatlichen Existenz gegeben sind. Es folgen dann
zwei Abschnitte, die das deutsche Kolonistentum
sowie die kulturpolitische Bedeutung des Deutsch-
tums in Rußland zum Gegenstand haben, ferner
eine besondere Behandlung des schwierigen, nach
dem Kriege für uns sehr brennend werdenden
Ostjudenproblems. Mit diesem greift das Buch
z. T. bereits auf eigentlich russische Verhältnisse
über, denen dann der letzte Abschnitt ganz ge-
widmet ist, indem hier eine der schwierigsten
Aufgaben unseres östlichen Nachbarn, nämlich die
Agrarreform, ihre historischen Grundlagen und ihre
bisherigen Erfolge geschildert werden.
Es ist unmöglich, aus dem reichen Inhalt dieses
sehr interessanten Buches einzelnes herauszugreifen.
Es bedeutet einen wertvollen Zuwachs der geogra-
phischen Literatur; sein aufmerksames Studium
ist aber auch für jeden anderen gewinnreich, der
den ungeheuren Problemen gegenüber, die unsere
Beziehungen zum Osten in sich bergen, zu eigener
Anschauung und eigenem Urteil gelangen will.
Wir möchten deshalb dem Buche, dessen Preis in
dieser Zeit allgemeinster „Neuorientierung der
Preise" erfreulich mäßig ist, die verdiente weite
Verbreitung wünschen. Miehe.
Inhaltl M. Möbius, Die Reduktionsteilung im Pflanzenreich. S. 713. K. Andre e, Einige Bemerliungen zur Geschichte
der Geologie, insbesondere der ,, phantastischen Periode" der Paläontologie. (3 Abb.) S. 717. — Einzelberictite:
W. Krebs, Mistpoeffer-Erscheiaungen an der holländischen Küste infolge einer nordenglischen Explosion. S. 721.
R. Lange, Beiträge zur biologischen Blüten anatomie. S. 722. Hilda Plaetzer, Assimilation und Atmung von
Wasserpflanzen. S. 722. TheUung, Stratiobotanik. S. 723. Th e u n e , Die Fruchtbildung einiger geokarper Pflanzen.
S. 724. H. Stitz, Die wirtschaftliche Bedeutung der Ameisen für den Menschen. S. 725. — Bücherbesprechungen:
H. Kittin g, Die Pflanze als lebender Organismus. S. 726. J. E. V. Boas, Zur Auffassung der Verwandtschaftsver-
hältnisse der Tiere. S. 726. Westrußland in seiner Bedeutung für die Entwicklung Mitteleuropas. S. 728.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Kischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 30. Dezember 1917.
Nummer 53.
Ein Beitrag zum Problem der Seidenraupenzucht
mit Schwarzwurzelfütterung.
(Nachdruck verboten] Von Dr. Horst Wachs, Assistent am Zool. Institut der Universität Rostock.
Mit 4 Abbildungen im Text.
Die Mitteilungen von Dr. Hans Walter
Frick hinger, München über „Die Deutschen Sei-
denbaubestrebungen und das Problem der Schwarz-
wurzelfütterung" in Nr. 39 dieser Wochenschrift
veranlassen mich, über meine eigenen in diesem
Jahre hierüber angestellten Fütterungsversuche zu
berichten.
Wie anderorts im Reiche setzten im vorigen
Jahre auch in Rostock Bestrebungen ein, die Zucht
derSeidenraupe wieder einzuführen. Dabei handelte
es sich speziell für Mecklenburg um nichts durch-
aus Neues, denn erst seit dem Jahre 1903 war
die Seidenraupenzucht oder, wie man gewöhnlich
kurzhin zu sagen pflegt, der „Seidenbau" m hiesiger
Gegend fast ganz eingeschlafen. Bis dahin wurde,
vor allem seit den fünfziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts, vielerorts in Mecklenburg Seiden-
zucht betrieben. Maulbeerpflanzungen größeren
Umfanges bestanden an mehreren Stellen in
Rostock, ferner in Neustrelitz, in Schwaan, bei
Laage, in Mirow und in Güstrow. In dem Land-
arbeitshaus in Güstrow wurde die Zucht lange
Zeit in großem Maßstabe und mit gutem Erfolg
betrieben.
Die gewonnenen Kokons wurden an die Spin-
nerei von Heese- Berlin verkauft. Die gewonnene
Seide war von guter Beschaftenheit, laut einem
Gutachten dieser Firma, das im hiesigen Zoologi-
schen Institut der Universität aufbewahrt ist. Im
Besitze des gleichen Institutes befinden sich auch
noch Kokons aus jener Zeit, rohe abgekaspelte
Seide, weiß, von schönem Glänze, schwarzseidenes
Nähgarn und eine rote gestrickte Geldbörse aus
mecklenburger Seide. Das schwarzseidene Näh-
garn wurde von den Züchtern großenteils zurück-
gekauft und erfreute sich wegen seiner Haltbarkeit
vielfacher Verwendung.
Das allmähliche Einschlafen der hiesigen Zuchten
hatte seinen Hauptgrund in dem Aufblühen der
Imkerei, von der viele sich größeren Gewinn ver-
sprachen. Vergleicht man Seidenbau und Imkerei,
so wirft allerdings die Bienenzucht sicherlich mehr
Gewinn ab, doch darf dabei nicht vergessen werden,
daß die Einrichtung einer Imkerei beträchtliches
Anlagekapital erfordert — wenigstens verglichen
mit Seidenzucht I — , daß die Hantierung mit
Bienen unvergleichlich schwieriger ist als die Pflege
der Raupen, und daß die Arbeit des Imkers sich
über das ganze Jahr erstreckt, der aus der Seidenzucht
fließende Gewinn hingegen innerhalb eines Zeit-
raumes von etwa einem Monat erzielt wird.
Leider sind infolge baulicher Erweiterung der
Städte von den schönen Maulbeerpflanzungen meist
nur einzelne Bäume zurückgeblieben. Gleich hier
möchte ich aber besonders betonen, daß die er-
haltenen Bäume trotz gänzlicher Vernachlässigung
ihrer Pflege, trotz Raubbaues einiger noch züch-
tenden jungen Leute und trotz der Schädigungen,
die sie im Herbst bei der rücksichtslosen Plünde-
rung der Beeren — der schwarzen wie auch der
weißen! — durch die Kinder der Straße erfahren,
durchweg gut weitergewachsen sind und auch die
ganz ungewöhnlich strengen Winter von 1911/12
und 1916,17 überstehen konnten.^)
Da die noch erhaltenen Maulbeerbäume in
keiner Weise ausreichten, die Seidenzucht auf
breiterer Grundlage wieder aufzunehmen, wurde
die so vielbesprochene Heranziehung der Schwarz-
wurzel als Ersatzfuiter erwogen. Ich entschloß
mich, Fütterungsversuche anzustellen.
Ich begann meine Versuche am 6. Mai 191 7
mit mehreren Hundert zweitägiger Räupchen, die
ich aus der Zucht von Prof. Damm er in Berlin-
Dahlem erhalten hatte. Die Eltern dieser Tiere
waren mit Schwarzwurzelfütterung erzogen. Ich
hielt diese Zucht die ganze Zeit in einem ge-
heizten Räume bei einer Temperatur von 17 bis
21 " R. Einen Teil der gleichen Raupen züchtete
ein befreundeter Herr zum Vergleich im unge-
heizten Zimmer.
Die Raupen wurden bei mir täglich sieben-
mal gefüttert, und zwar stets mit frischen Blättern
aus meiner eigenen Pflanzung. Trotz sorgfältigster
Pflege fraßen die Tiere nicht gleichgut. Bei jeder
Besichtigung der Zucht hatte sich eine Anzahl
der jungen Raupen vom P'utter entfernt. Um
ihnen das Annehmen zu erleichtern, wurden nicht
nur die Haare der Blätter durch sorgfältiges Ab-
reiben entfernt, ich entfernte auch noch die Ober-
haut, indem ich sie in einzelnen Stückchen mit
einer spitzen Pinzette abzog. Die so freigelegten
Blattstellen wurden sichtlich bevorzugt, doch hatte
dies Verfahren den Nachteil, die Blätter durch den
ungehinderten Wasserverlust leichter welken zu
lassen.
Trotz aller aufgewandten Mühe kümmerten
immer mehr der kleinen Tiere und gingen ein.
Nach 25 Tagen waren nur noch 16 Raupen am
Leben. Die Tiere. waren sehr ungleich groß. Jetzt
') Diese Winter brachten hier außerordentlich anhaltende
niedere Temperaturen, so daß in beiden Jahren die Ostsee auf
viele Kilometer hinaus stark zugefroren war. Hunderte von
Spaziergängern und Jägern bevölkerte von früh bis abends
die Eisdecke bis mehrere Kilometer landab.
730
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 52
trennte ich sie in zwei Serien, derart, daß jede
Serie gleichviele Raupen gleicher Größe entliielt.
Die eine Serie erhielt auch weiterhin Schwarz-
wurzelblätter, die andere Serie erhielt Maulbeerlaub.
Die Raupen nahmen das neue Futter sofort an.
Nach siebentägiger Fütterung war ein deut-
licher Größenunterschied erkennbar. Das Bild
zeigt die Tiere zu diesem Zeitpunkte (Abb. i).
Gleichzeitig machte ich eine Vergleichsaufnahme
der anderen, im ungeheizten Räume mit Schwarz-
wurzel gefütterten Raupen. Die Tiere sind um
soviel kleiner, daß man zunächst sicherlich nicht
Die Eier dieser Zucht stammen aus Szekszard
in Ungarn, die Eltern haben reine Maulbeerfüite-
rung erhalten. Zur Zucht wurden 100 Eier an-
gesetzt, der Zuchtraum wurde nicht geheizt, doch
hielt sich die Temperatur während der ganzen
Zucht, von Mitte Rlai bis Mitte Juni, gleichmäßig
auf 17 — 21" R. Zunächst erhielten sämtliche
Tiere wieder Schwarzwurzelfütterung, wobei sich
die gleichen ungünstigen Erscheinungen wie bei
der ersten Zucht zeigten. Doch war der Prozent-
satz der durch Tod abgehenden Tiere bedeutend
geringer: zur Zeit der zweiten Häutung, die 2 bis
meint, es hier mit gleichalten Raupen, im gleichen
Abstände photographiert, zu tun zu haben !
Zum Einspinnen kamen in jeder meiner Serien
je 6 Raupen, von denen je eine während des
Spinnens starb. Während die mit Maulbeer nach-
gefütterten Raupen in 33 — 38 Tagen spannen,
spannen die Schwarzwurzelraupen erst in 35 — 42
Tagen. Die im ungeheizten Räume gehakenen
Raupen haben, mit Schwarzwurzelfütterung, nach
58 Tagen noch nicht gesponnen!
Außer dieser Zucht wurden noch drei weitere
Parallclfüttcrungen und vier reine Maulbeerzuchten
mit verschiedenen Rassen durchgeführt. Nur von
einem Versuch will ich noch berichten.
4 Tage verspätet eintrat, waren noch 50, nach
16 Tagen noch 40 Raupen am Leben.
Jetzt teilte ich sie in zwei Serien von je 20
Raupen. Die eine Serie erhielt weiterhin Schwarz-
wurzel, die andere Maulbeer. Schon nach sieben-
tägiger Fütterung hatten die Maulbeertiere einen
deutliclien Vorsprung (Abb. 2). Das bessere Ge-
deihen der mit Morus gefütterten Tiere wurde
immer auffallender, und nach 13 Tagen (Abb. 3),
hätte man kaum eine einzelne Morus-Raupe mit
einer Raupe der Parallelzucht verwechseln können.
Die M Raupen zeigten eine viel straffere, glänzen-
dere Haut als die S Raupen, die Tiere machten
einen sichtlich gesünderen Eindruck und fraßen
ohne Unterlaß, während die SRau[)en oftmals vom
N. F. XVI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
731
P'utterblatt ablassen, ein Stück weiterkriechen und
anderswo wieder zu fressen beginnen.
Der auffallendste Unterschied zeigt sich aber
zur Zeit des Einspinnens. Nach 15 Tagen M-
Fütterung, am 31. Lebenstag, verlassen die drei
ersten M-Raupen das F~utter, setzen sich alsobald
an und beginnen zu spinnen. Erst drei Tage
später entschließen sich zwei der SRaupen zum
Spinnen, während innerhalb der gleichen Zeit
sämtliche 20 M-Raupen mit dem Spinnen der
Kokons begonnen haben.
Von den 20 S-Raupen ist bis dahin noch keine
gestorben. Einige zeigen durch Anschwellen der
Seiten, infolge Ansammlung des Seidensaftes in
den Spinndrüsen, daß sie die Spinnreife erreicht
haben. Eine nach der anderen verläßt das Futter
und kriecht unstet umher. Nur eine Raupe setzt
sich noch an und spinnt einen Kokon. Vier
weitere Raupen sterben, ohne zu spinnen. Am
37. Lebenstag (s. Abb. 4) haben die 20 M Raupen
ebensoviele fertige Kokons geliefert, die SRaupen
drei Kokons, vier Raupen sind tot, eine im Sterben
(nicht auf dem Bilde), 12 Raupen fressen noch.
Das Endergebnis der S-Zucht waren nur 5 Kokons,
eine Raupe erhielt noch Maulbeer, begann am
nächsten Tage mit Spinnen, starb aber vor der
Vollendung des Kokons. Die übrigen 14 Raupen
starben nach Verlassen des Futters nach langem
unsteten Umherirren. Zwar war bei den meisten
die Bildung des Seidensaftes in den Spinndrüsen
vor sich gegangen, doch fehlte den Tieren offen-
bar der Instinkt, sich zum P^estsetzen an bestimmter
Stelle zu entschließen. Unschlüssig „verzogen" sie
allenthalben ihre Seide, wurden immer schwächer
und gingen ein.
Die Erfolge der reinen M-Zuchten waren
unvergleichlich besserl Der Abgang durch
nicht fressende und verkümmernde Raupen war
fast gleich Null. Alle Raupen der vier im gleichen
Zimmer gehaltenen M-Zuchten spannen nach
28 — 34 Tagen.
Als Ergebnis der Versuche zeigt sich, daß
unter gleichen Bedingungen und selbst bei sorg-
fältigster Pflege die S Fütterung in keiner Weise
das gleiche leisten kann wie die M-Fütterung.
Zunächst wird die Zucht gleich zu Beginn eine
starke Einbuße durch große Sterblichkeit der
jungen Raupen erleiden. Diese Einbuße betrug
bei meiner Zucht der ungarischen Raupen aus
Maulbeereltern öo'"^, bei der Zucht der Berliner
Raupen aus Schwarzwurzeleltern aber über 90 "/o-
Ich glaube nicht, daß dieser Unterschied ein zu-
falliger ist, sondern sehe darin eine Bestätigung
der Befundevon Maas, daß die Schädigung durch
.Schwarz Wurzelfütterung sich auch beiden Nach-
kommen bemerkbar macht.
Eine abermalige Einbuße werden die Schwarz-
wurzel-Zuchten zur Zeit des Einspinnens erleiden,
wie oben gezeigt ist. Diese Verluste lassen sich
allerdings, wie ich ebenfalls durch entsprechende
Fütterungsversuche feststellte, vermeiden, wenn man
einige Tage vor der Spinnreife mit
M-Fütterung einsetzt!
Fragen wir uns nun nach der Bedeutung der
Schwarzwurzelfütterung für die Praxis, so geht
schon aus der soeben erwähnten Notwendigkeit,
mindestens zum Abschluß der Zucht Maulbeer zu
füttern, hervor, daß wir nirgends zur
Aufzucht derSeidenraupe raten können,
wo dem Züchter nicht wenigstens für
die letzten Zuchttage M-Laub zur Ver-
fügung steht! Hierdurch verliert aber die
S-Fütterung ganz ungemein an Bedeutung! Wäre
Schwarzwurzellaubein vollwertiger Ersatz gewesen,
so hätte man nach einem Jahre der Vorberei-
tung allenthalben mit der Seidenzucht beginnen
können — so aber ist das Vorhandensein wenigstens
einiger Maulbeerbäume Vorbedingung. Die
Rentabilität der Zucht wird aber auch so bei
S Fütterung dadurch in I'rage gestellt, daß aus
einer bestimmten Menge Eier stets viel
weniger Kokons erzielt werden als bei M-
F"ütterung. Dabei enthalte ich mich noch jeden
Urteiles über die Güte der erzielten Kokons!
Immerhin, könnte man sagen, kann vielleicht
durch S-Fütterung eine Ersparnis des vorhandenen
M-Laubes eintreten, dergestalt, daß es bei einer
bestimmten Menge vorhandenen M-Laubes mit
Unterstützung durch Schwarzwurzel möglich würde,
eine bedeutend größere Menge von Raupen durch-
zufüttern. Hiergegen muß zweierlei eingewendet
werden. Beschaft't sich der praktische Züchter ein
Eierquantum, das der vorhandenen Laubmenge
entspricht, so wird seine Berechnung durch die
Verluste, die bei S-Fütterung eintreten, vollkom-
men umgestoßen! Andererseits verzehren die
Raupen gerade in den letzten Tagen ihres Lebens,
während der sogenannten „Fresse", ganz unver-
hältnismäßig große Mengen an Futter. Mehr
als */-, des ganzen P'utterbedarfes fallen auf die
letzten 9 Tage! Würde man also 21 Tage mit
Schwarzwurzel und 9 Tage mit Maulbeer füttern,
so würde man hierdurch kaum 20% an Futter
sparen — wohl aber 60 "/o oder noch mehr an
Raupen verlieren!
Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich
aus diesen Erfahrungen und Berechnungen den
Schluß ziehe, daß die Schwarzwurzelfütterung der
Seidenraupe zwar als Laboraloriumsversuch und
ev. für Studien über Umgewöhnung und über Ver-
erbung von Interesse ist, für die Praxis aber jeg-
licher Bedeutung entbehrt! Ich möchte sogar noch
einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß
durch die Propaganda für Schwarzwurzelfütterung
die Xeueinführung des Seidenbaues aufs schwerste
gefährdet wird. Denn nichts wird die diesbezüg-
lichen Bemühungen mehr diskredhieren können
als die Mißerfolge der Schwarzwurzelzuchten I
Wenn der Seidenbau in Deutschland wirklich
im großen eingeführt und mit Nutzen betrieben
werden soll, so ist die erste Bedingung : Anpflanzung
zahlreicher Maulbeeren! Da die Maulbeere gut
bei uns gedeiht, ihr schönes Grün wirklich eine
732
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 52
Zierde jeden Gartens ist, zumal keinerlei Un-
geziefer ihre Blätter angeht, und schließlich auch
die Beeren Verwendung finden können, so gibt
es, will mir scheinen, keinen vernünftigen Grund,
die Ausbreitung dieses Gewächses als Baum,
Strauch oder Hecke nicht zu fördern. Zunächst
ohne Rücksicht auf Seidenbau könnte Morus alba
und Morus nigra sehr wohl an Stelle anderer.
ganz nutzloser Bäume und Sträucher gepflanzt
werden. Wird dies geschehen sein, dann ist es
an der Zeit, mit den inzwischen neu erworbenen
Erfahrungen über Seidenbau hervorzutreten und
die inzwischen als geeignet geprüften Rassen der
Allgemeinheit zur Wiedereinführung des Seiden-
baues zu übergeben.
Einzelberichte.
Bakteriologie. Bald nach der Entdeckung
des Erregers der Rindertuberkulose, der Perlsucht,
erhob sich die Frage, ob derselbe eine neue Art
repräsentiere oder nur eine Varietät des von
Robert Koch gefundenen Erregers der mensch-
lichen Tuberkulose darstelle, dem er morphologisch
und kulturell nahe verwandt ist; ob also der
Bazillus typus hominis und typus bovis nur zwei
Varietäten einer und derselben Art, des Tuberkel-
bazillus, wären.
Die Frage rief deshalb besonderes Interesse
hervor, weil es darauf ankommt, ob beide Formen
für den Menschen pathogen sind. Wenn der
Rinderbazillus nämlich auch ein Erreger der
menschlichen Tuberkulose sein kann, so liegt die
Gefahr nahe, daß bei der Ernährung von Kindern
mit der Milch infizierter Kühe der Krankheitskeim
auch auf den Menschen übertragen wird. Trotz
vieljähriger lebhafter Diskussion ist man auch
heute noch nicht zu einem abschließenden all-
seitig anerkannten Urteil gekommen. Die einen
halten mit dem Altmeister Koch beide -Bazillen
für verschiedenartig, also den Bazillus typus bovis
für harmlos für den Menschen, während die anderen
in ihm nur eine Varietät des typus hominis er-
blicken. Endgültig ist, wie gesagt, die so wichtige
Frage bis heute noch nicht entschieden worden.
Während nun die Schriftleiterin der deutschen
Zeitschrift für Tuberkulose, Frau Rabinowitsch,
sich auf den antikochschen Standpunkt stellt, ver-
tritt in einem Aufsatz: „Über die Bedeutung der
Rindertuberkulose für den Menschen" Fuchs
v. Wo If ri n g-Davos den Standpunkt, daß der
Rindertuberkelbazillus für den Menschen apatho-
gen ist.
Durch den Versuch konnte nachgewiesen
werden, daß zwar der menschliche Bazillus auch
für das Tier pathogen ist, indem er auf, dasselbe
übertragen, schwere Tuberkulosekrankheit hervor-
ruft. Umgekehrt konnte natürlich nicht erfahren
werden, ob die Unschädlichkeit des Rinderbazillus
für den Menschen zutrifft. Wir sind in der Be-
ziehung auf Schlußfolgerungen aus unbestreitbaren
Tatsachen hingewiesen. Die letzteren haben nun
alle zugunsten des Koch'schen Standpunkts
gesprochen; einmal blieben die Menschen auch
dort, wo Milch und Milchprodukte, die wie bei
den Sennen der Berner Alpen, einen Haupt-
bestandteil der Nahrung ausmachen, von der
Tuberkulose großenteils verschont und anderseits
wieder trat die Tuberkulose in Ländern wie China,
die Türkei, Zentralafrika usw. in auffallend großer
Zahl auf, obschon dort Kinder keine Kuhmilch
zur Nahrung bekommen, ja, wie in Zentralafrika,
das Rindvieh überhaupt nicht als Haustier gehalten
wird. In Japan war die Tuberkulose von jeher
eine der häufigsten Krankheiten , obschon die
Rindertuberkulose dort unbekannt war und erst
mit der Einführung europäischen Rindviehs ein-
geschleppt wurde. In einem englischen Pensionate
wurden beim Ausbruch einer Tuberkuloseepidemie
gerade die Insassen von der Krankheit verschont,
welche nachweislich Milch genossen hatten,
während die anderen erkrankten. Die Milch von
tuberkulösen Kühen soll einen .«Antikörper enthalten,
welcher vor der menschlichen Tuberkulose schützt.
Daraus würde sich der vorher erwähnte Unter-
schied bei den Insassen des englischen Pensionates
erklären lassen.
Frau Rabinowitsch gelang es, aus 20 aus-
gesuchten Tuberkulosefällen zehnmal = 50 "!„
Rinderbazillen zu züchten.
Versuche am Menschen mit Perlsuchtbazillen
fielen negativ aus. Unter 687 Personen, von denen
mindestens 280 Kinder waren, konnte man nur
zweimal, also in 0,29 '^/^ das Auftreten einer In-
fektion mit dem typus „bovinus" nachweisen,
trotzdem alle diese Menschen lange Zeit hindurch
Milch oder Milchprodukte von eutertuberkulösen
Kühen genossen hatten.
26 Personen tranken längere Zeit hindurch
eine tuberkulöse Milch, welche sich bei der Ver-
fütterung auf Tiere als infektiös erwies. Dagegen
wurde keine von diesen 26 Personen krank.
In Italien ist die Tuberkulose am wenigsten
da verbreitet, wo viel rohe Milch getrunken
wird, trotz des Vorhandenseins von „Perlsucht"
bei Rindern. M öll e rs hat die bis i. Januar 1914
veröffentlichten Fälle menschlicher Tuberkulose,
die auf den Tuberkelbazillentypus in einwandfreier
Weise untersucht worden sind, in einer Tabelle
zusammengestellt und kommt darauf zum Ergeb-
nis, daß sich ein boviner Anteil von etwa 1,8 "/^
bei allen menschlichen Tuberkulosefällen ergeben
würde.
Ein widersprechendes Ergebnis scheinen die
Untersuchungen auf Tuberkelbazilleii in Deutsch-
land und die in England zu haben. In Deutsch-
N. F. XVI. Nr. y.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
733
land nämlich findet man den typus bovis nur in
1,3 "/„ bzw. II "/„, höchstens in 28"^ der Fälle,
während er in England in bis 90 "/„ gefunden
wurde. Doch erklärt sich dies aus den verschie-
denen Kulturmethoden. In Deutschland züchtet
man nämlich auf einem Nährboden, welcher speziell
der Entwicklung des typus hominis günstig ist,
den typus bovis dagegen nur kümmerlich gedeihen
läßt. Wurden nun bei der Aussat menschliche
Bazillen in die Kultur mit hineingebracht, so über-
wuchern, eventuell unterdrücken die Bazillen vom
typus hominis diejenigen vom typus bovis gänz-
hch, so daß es scheinen könnte, als ob letztere
überhaupt nicht vorhanden gewesen wären. Anders
in England, wo die dem bovis-typus günstigeren
Kulturmedien zur Verwendung kommen. Der
gegenwärtige Stand unsers Wissens über die
Tuberkulose ist der, daß der menschlichen Tuber-
kulose eine Mischinfektion zugrunde liegt, und
zwar kommen zwei typus-hominis-Formen, der
longo-humanus- und der typische Koch'sche
Bazillus in Betracht, deneben häufig der typus
bovis. Alle drei Formen unterscheiden sich
morphologisch, kulturell, pathognostisch und durch
die verschiedene Agglutination.
Im Tierversuch erlagen Kaninchen denselben
innerhalb 8—14 Tagen unter schwersten toxischen
Erscheinungen. Der zweite ist die von Robert
Koch gefundene Form.
Wenn gegenwärtig die tuberkulöse Infektion
der Mesenterialdrüsen häufiger gefunden wird,
so erklärt sich dies aus der infolge der schlech-
teren Lebenshaltung gesunkenen Widerstands-
fähigkeit des menschlichen Organismus.
Kathariner.
Nach einem von Beintker erfundenen Ver-
fahren können die üblichen zur Färbung von
Bakterien, Protozoen und des Blutbildes benutzten
Farblösungen in Trockenform übergeführt werden. ')
Die Farbstofftabletten lösen sich leicht und
liefern eine homogene, klare Flüssigkeit. Hierbei
ist ein großer Vorzug, daß die mit Tabletten her-
gestellten Lösungen stets gleich stark konzentriert
sind, während bei der Herstellung der gewöhn-
lichen Farblösungen die Konzentration derselben
durch das unvermeidliche Aufwirbeln des in der
Stammlösung gebildeten Bodensatzes gestört wird.
Längere Zeit aufbewahrte Tabletten behalten ihre
leichte Löslichkeit und geben stets klare Flüssig-
keiten. Auch im gelösten Zustande zeigen die
Bein tk er 'sehen Farben eine gute Haltbarkeit.
Wie sich Baumgaertel") bei zahlreichen
Färbeversuchen überzeugt hat, eignen sich die
Tabletten für alle Bakterienfärbungen. Ferner er-
möglicht ein nach Beintker gefärbter Blutaus-
strich mit Azurblau Bram (Giemsa-Färbung) durch
') Solche Tabletten werden von der chemischen Fabrik
Bram in Leipzig hergestellt und in den Handel gebracht.
-) Münchener Medizinische Wochenschrift 1917, Nr. 35,
S. 1138.
Auftreten einer scharf abstechenden, roten Chro-
matinfärbung genaue Untersuchung des Blutbildes.
Verf. betrachtet die Beintker' sehen Farbstoff-
tabletten als vollwertigen Ersatz für die üblichen
Farblösungen. Sie besitzen den Vorzug der leichten
Anwendbarkeit auch unter außergewöhnlichen Ver-
hältnissen (Reise, Expedition, Krieg usw.).
Baumgaertel.
Anthropologie. Die Psyche der Malaien und
ihre Abstammung. Die Annahme einer poly-
phyletischen Abstammung des Menschengeschlechts
scheint sich immer mehr Bahn zu brechen; und
für die Verfechter dieses Gedankens liegt es nahe,
die verschiedenen hypothetischen Stammformen
in Beziehung zu setzen zu den heutigen Menschen-
affen Orang-Utan, Schimpanse, Gorilla und Gibbon.
Natürlich darf nicht daran gedacht werden, in
diesen Affen die noch fortlebenden Stammtypen
heutiger Menschenrassen zu sehen. Es kann sich
nur darum handeln, zu untersuchen, ob etwa die
eine Menschenrasse mit diesem, die andere mit
jenem anthropoiden Aften besonders weitgehende
Ähnlichkeiten zeigt. Daraus wäre der Wahrschein-
lichkeitsschluß einer Spaltung anthropoider Grund-
typen in einem relativ frühen phylogenetischen
Stadium abzuleiten.
Von M elchers und Horst ist auf die nahen
Beziehungen der mongoloiden zu Orang-Utan und
Gibbon hingewiesen worden. Dr. Alexander
Sokolowsky hat es nun versucht, diesen Ge-
danken, dessen Grundlagen bisher naturgemäß
nur anatomischer Art waren, auf das Gebiet der
Psychologie auszudehnen (Medizinische Klinik, 191 7,
Nr. 25). Ein gewagtes Unternehmen in Anbetracht
der Schwierigkeit einer einwandfreien Analyse
der Rassenpsyche und ihrer Entwicklungsfaktoren.
Der Verfasser ist der Überzeugung, daß die
mongoloiden Menschen ,orangiden' Ursprungs sind,
und, um seine Anschauung zu stützen, zieht er
Parallelen zwischen der Psyche der — von ihm
zu den mongoloiden Menschen gerechneten —
Malaien und derjenigen des Orang-Utan, welchen
er auf Grund zahlreicher Beobachtungen an leben-
den (allerdings gefangenen!) Tieren als phlegma-
tisch, verschlagen und hinterlistig charakterisiert.
Diese Eigenschaften sind dem Orang-Utan nach
seiner Ansicht in viel höherem Maße eigen, als
den anderen Menschenaffen.
Unter Berufung auf namhafte Reisende und
Autoren (Volz,Weule, Martin, Zabel, Bock,
Junghuhn, Buschan, Schur tz) entwirft der
Verfasser dann ein Bild von der Rassenpsyche
der Malaien. Er kommt zu dem Resultat, daß
Reizbarkeit, Grausamkeit, Tücke Grundzüge ihres
Charakters sind und eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem des Orang-Utans zweifellos besteht. Die
für unsere Begriffe unglaublich rohe, bei den
Malaien allgemein verbreitete Sitte der , Kopf-
jagden' wird hierfür in erster Linie ins Feld ge-
führt. Als Siegestrophäen und als Objekte für
allerhand religiös abergläubische Gewohnheiten
734
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 52
und Bräuche fungieren die Köpfe erschlagener
Feinde und meuchlings ermordeter Weiber und
Kinder. Gerade in der Wahllosigkeit in bezug
auf Mittel und Opfer liegt das psychologische
Problem. Auch Anthropophagie ist ja schon mehr-
fach bei Malaien beobachtet worden (Borneo).
Besondere Erwähnung verdient auch die merk-
würdige Unsitte des auf Sumatra und Borneo üb-
lichen , Amoklaufens' als Beleg für die uns Euro-
päern unverständliche Grausamkeit dieser Rasse.
Adolf Zabel sagt darüber: „Wenn irgend so
ein verlotterter Kerl sein ganzes Geld, einschließlich
Weib und Kindern, im Spiel verloren hat, wenn
er irgendetwas verbrochen hat, wofür ihm sichere
Strafe winkt, ja selbst aus anderen Gründen
arbeitet er sich sozusagen nach der Landessitte in
einen Tropenkoller hinein, ergreift eine Waffe,
läuft hinaus auf die Straße, erklärt laut, daß er
amoklaufen werde, und überfällt nun jeden, der
ihm begegnet, blindlings mit der Waffe." Wenn
man auch der Ansicht sein kann, daß diese Sitte
einen psychopathischen Einschlag hat, so muß
man doch zugeben, daß die Art der Äußerung
des dabei wirksamen Gemütszustandes etwas für
uns fremdartig Boshaftes und Grausames besitzt.')
Und der Umstand, daß wir im Amoklaufen eine
') Allerdings sind auch bei uns schon gelegentlich
kriminelle Handlungen vorgekommen, welche eine gewisse
innere Ähnlichkeit mit dem Amoklaufen haben. Aber solchen
Handlungen lag eine ungleich schwerere Geistesstörung zugrunde,
als dieser hysterischen oder kollerhaften Sitte.
verbreitete „Sitte" sehen müssen, weist auf eine
entsprechende Rassendisposition hin.
Es sind vorwiegend ethische und moralische
Eigentümlichkeiten, , Defekte' vom Standpunkt des
Europäers aus, aus welchen Sokolowsky das
Charakterbild der Malaien konstruiert. Ist ihre
ph)-logenetische Verwertung erlaubt ? Es ist nicht
ersichtlich, ob sich der Verfasser diese Frage vor-
gelegt hat. Ethik und Moral sind variable Größen,
zeillich und geographisch. Sie sind Maßstäbe und
Richtlinien, welche die Allgemeinheit dem ein-
zelnen aus Gründen der Zweckmäßigkeit auferlegt.
Aber sie sind naturgemäß nur veränderlich im
Rahmen der Volkspsyche, in welcher man ihrer-
seits ein Mosaik von Erbeigenschaften sehen muß.
Ist diese Voraussetzung richtig, so ist erstens aus
ethischen und moralischen Eigentümlichkeiten ein
Rückschluß auf die Volkspsyche erlaubt und
zweitens die phylogenetische V^erwertbarkeit der
letzteren wenigstens theoretisch denkbar. Denn
sobald wir in ihr etwas erblich Festgelegtes sehen,
müssen wir sie für ebenso konstant halten, als die
oder jene somatische Eigenschaft.
Zur Festigung der These einer polyphyletischen
Menschwerdung mit engeren Beziehungen be-
stimmter Rassen mit bestimmten anthropoiden
Affen wären vielleicht serologische Versuche von
Nutzen. Eine weitere Frage, deren Beantwortung
wichtig wäre, ob nämlich die Bastarde anthro-
poider Affen fruchtbar sind, wie die Menschen-
bastarde, wird sich ja wohl nicht lösen lassen.
Krieg.
Bücherbesprechungen.
Maurer, Prof. Dr. Fr., Die Bedeutung des
biologischenNaturgeschehens und die
Bedeutung der vergleichenden Mor-
phologie. Rede, gehalten zur Feier der
Akademischen Preisverteilung in Jena am 16. Juni
1917. Jena 1917. G. Fischer. 1,80 M.
Der Verf. läßt den Entwicklungsgedanken, wie
er am reifsten in der Abstammungslehre D a r w i n ' s
zum Ausdruck gekommen ist, in seinem histori-
schen Werdegang passieren und erörtert seine Be-
deutung, die er noch heute in der Biologie spielt.
Er stellt in dem historischen Abriß der älteren rein
spekulativen Entwicklungslehre, wie sie L e s s i n g ,
Herder, Schellin g, Goethe und der durch
Seh ellin g und Herder angeregte Oken ent-
wickelten, die neuere auf Xaturbeobachtung ge-
gründete gegenüber, die mit den Namen C. F.
Wolff, C. E. V. Baer, J. Müller, K. Gegen-
bauer, Lamarck, E. Haeckel und vor allem
Ch. Darwin verknüpft ist. Er geht dann auch
auf die Neueren ein, skizziert kurz den Mendelismus,
sowie die Rou x'sche Entwicklungsmechanik und
setzt sich eingehender mit O. Hertwig's letztem
Buch gegen Darwin auseinander, indem er etliche
der gegen den Darwinismus gerichteten Argumente
kritisch entkräftet. Als Beispiel für phylogenetische
Betrachtungsweise und die auch heute noch un-
erschütterte Bedeutung der vergleichenden Morpho-
logie schildert der Verf am Schlüsse die Ent-
stehung und allmähliche Ausgestaltung des Skelett-
systems in der Tierreihe. Sachlich unverständlich
wie in seiner Begründung sehr wunderlich erscheint
dem Rezensenten der folgende grämliche Ausfall
gegen die moderne experimentelle Vererbungslehre,
wie er sich auf Seite 12 findet: „Der Geist der
Mendel' sehen Forschungen ist leicht zu begreifen
und die Methode so, dal3 jeder Laie sich darin
betätigen kann, das sollte vor Überschätzung
warnen". Gleichwohl zeigt die Bemerkung über
die reinen Linien keineswegs die zu erwartende
Klarheit. Es ist ja ruhig zuzugeben, daß die
Mendelei manche wichtigen älteren Bestrebungen
unverdientermaßen in den 1 Untergrund gedrängt
hat; daß aber die experimentelle Behandlung der
Vererbungsfragen einen ganz außerordentlichen
Fortschritt gegenüber der allein anatomisch-cytolo-
gisch oder vergleichend-morphologisch verfahren-
den Vererbungsforschung bedeutet, kann man doch,
ohne ungerecht zu sein, nicht leugnen. Miehe.
N. F. XVI. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
735
Wilhelm Schuster, Die Tierwelt im Welt-
krieg. 20S S. kl.- 8 0. Verlag von Albert Oskar
Müller, Heilbronn. Preis: 1,25 M.
Im wesentlichen eine Sammlung von Berichten,
Geschichten und Gedichten. Meist schöpft der
Verfasser aus Feldpostbriefen und Tageszeitungen.
Gelegentlich trägt er eigene Ansichten vor, so in
dem Abschnitt „Seefischerei und Weltkrieg". Einige
Abschnitte, wie „Falken statt Brieftauben" und
„Meldung feindlicher Flieger durch Vögel" deuten
auf vielleicht noch militärisch verwertbare Tier-
fähigkeiten hin. Vom Tierleben in den Kriegs-
gebieten wird mancherlei erwähnt. Da der be-
sonders als Ornithologe bekannte Verfasser in
Fragen der Tierseelenkunde einen kritischen Stand-
punkt einnimmt, so verwundert es fast, daß das
bei den Ausführungen über Sanitätshunde diesmal
nicht zum Ausdruck kommt, ja daß er sogar einen
Bericht „Todesahnung der Pferde vor der Schlacht"
ohne Kommentar aufgenommen hat. Sein Ein-
treten für den Plund „Rolf" begründet er in einer
Fußnote. Im übrigen ist der Inhalt immerhin
wissenschaftlich einwandfrei. Das Büchlein wird
seinen Leserkreis namentlich bei Tierfreunden
finden und in ihm auch nützliche Anregungen und
Kenntnisse verbreiten. (G.C.) V. Franz.
Schmidt, Dr. E. W., Bau und Funktion der
Siebröhre der Angiospermen. Mit
I farbigen Tafel und 42 Textabbildungen. Jena
191 7. G. Fischer. 5,60 M.
Die Deutung anatomischer Strukturen bei den
Pflanzen ist oft sehr schwierig und steht in vielen
Fällen keineswegs so fest, wie oft (auch in Lehr-
büchern) angenommen wird. Da meist experi-
mentelle Beweise nicht vorliegen oder nach der
Natur der Sache schwer zu erbringen sind, ist
man vielfältig auf indirekte Schlußfolgerungen,
Wahrscheinlichkeitsbeweise oder gar reine Ver-
mutungen angewiesen und muß sich meist mit
einer genauen Kennzeichnung der einzelnen unter-
scheidbaren Gewebselemente begnügen. Zu diesem
resignierenden Ergebnis gelangt auch Schmidt
bei einer neuerlichen Nachprüfung der Siebröhren-
frage, die er auf Grund von umfänglichen Literatur-
studien und etlichen Nachuntersuchungen unter-
nommen hat. Er bezeichnet es als sehr wahr-
scheinlich, daß der ganze Gewebekomplex, dessen
auffälligsten Bestandteil die Siebröhren bilden, dem
Transport organischer Stoffe dient, daß sich aber
über die besondere F"unktion, die die Siebröhren
selber hierbei ausüben, etwas sicheres nicht sagen
lasse. Die eigenen Untersuchungen erstrecken sich
auf den Bau und die chemische Beschaffenheit der
Membran der Siebröhren, ihren lebenden Inhalt
und die übrigen Inhaltsbestandteile, die Plasma-
brücken der Quer- und Längswände, den eigen-
tümlichen Stoff, der auf den Siebplatten abgelagert
wird, die Kallose, das Schicksal der Siebzellen und
auf die Geleitzellen. Neues experimentelles Material
ist nicht beigebracht. Erwähnt sei, daß Verf bei
der Was'^ernuß, bei Victoria regia und dem Kürbis
auch in den ausgebildeten, funktionstüchtigen Sieb-
röhrenzellen stets einen Zellkern nachweisen konnte.
Die verbreitete Ansicht, daß letzteren kein Kern
zukomme, ist mithin zu streichen. Die sorgfältige
kritische Studie ist eine wünschenswerte Bereiche-
rung der Fachliteratur. Miehe.
Anregungen und Antworten.
IstdieLehreSprengel'i
ä, daß die Blumenfarben um der
Insekten willen da sind, ein
e „Irrlehre der Zoologie"? In
Nr. !44 S. 611 ff. dieser Zeitschrift erschien ein Aufsatz
von Prof. Kathariner, betitelt „Der Anthropomorphis-
mus in der Zoologie", der, wie mir scheint, nicht un-
widersprochen bleiben darf. Wenn Kathariner gegen
den in populären Darstellungen vielfach sich breit machen-
den Anthropomorphismus Front macht, so kann man ihm
nur beipflichten. Häufig sind es gerade diejenigen Schrift-
steller, die zeigen wollen, daß sie auf dem Boden der Deszen-
denztheorie stehen, die durch ihre das Tier vermenschlichenden
Schilderungen gänzlich falsche Anschauungen in weite Kreise
tragen und dadurch Gegnern Angriffspunkte auf die Deszendenz-
theorie liefern. Wenn aber Kathariner im Anschluß an die
Untersuchungen von v. Heß — und dieses bildet das Haupt-
thema seines Aufsatzes — die alte Sp r engel'sche Lehre,
daß die Farben der Blumen um der Insekten willen da sind,
als eine „Irrlehre der Zoologie" bezeichnet, so wird ihm die
Mehrzahl der Zoologen hier kaum folgen können. Die großen
Verdienste des Münchener Ophthalmologen v. Heß um die
Erforschung des Lichtsinnes der Tiere sollen gewiß nicht be-
stritten werden, aber seine Behauptung, daß die Fische und
die wirbellosen Tiere sich verhalten wie der total farbenblinde
Mensch, daß sie mit anderen Worten keinen Farbensinn be-
sitzen und wie dieser die Farben nur nach ihrem farblosen
Helligkeitswert unterscheiden können, hat energischen Wider-
spruch gefunden. Davon sagt Kathariner nichts. Es war
vor allem der Münchener Zoologe v. Frisch, der durch eine
große Reihe sehr geistvoller Versuche mit Fischen und Bienen
den Nachweis erbrachte, daß die Behauptung von v. Heß un-
haltbar ist. Ich muß an dieser Stelle auf eine eingehende
Darlegung der Untersuchungen v. Frisch 's und eine Gegen-
überstellung seiner Rcsuliate mit denen von v. Heß — an
anderem Orte hofie ich das demnächst tun zu können — ver-
zichten, und kann das auch um so eher, als die schönen
Arbeiten v. Frisch 's über den Farbensinn und Formensinn
der Biene in dieser Zeitschrift bereits eine eingehende Dar-
stellung gefunden haben (siehe das untenstehende Literaturver-
zeichnis). Was speziell die Bienen anbetrifft, so konnte v. F r i s c h
zeigen, daß ihr Farbensinn — und wahrscheinlich verhalten
sich die übrigen Hymenopteren, vielleicht sogar alle Insekten,
ähnlich — eine weitgehende Übereinstimmung mit dem Farben-
sinn eines rotgrünblinden (protanopen) Menschen besitzt. Wie
für diesen ist das Spektrum auch für die Bienen am lang-
welligen Ende verkürzt; dunkelrote Gegenstände erscheinen
ihnen infolgedessen als schwarz. Mit diesen Feststellungen
harmoniert es vortrefilich, daß solche Farben, die von der
Biene, unserer wichtigsten Blütenbestäuberin, nicht farbig ge-
sehen werden, in unserer Flora als Blumenfarben überhaupt
nicht oder doch nur äußerst selten vorkommen. Während
z. B. scharlachrote Blumen, die für das Bienenauge keine auf-
fällige Färbung besitzen, in Europa selten sind, kommt in
Ländern, in denen Vögel (Kolibris, Honigvögel) die Bestäubung
vermitteln, diese Blütenfarbe sehr häufig vor, ja so häufig,
daß die scharlachrote Blütenfarbe als eines der sichersten
Zeichen für Ornithophilie gilt.
v. Frisch hat einen Teil seiner E.xperimente mit Fischen
und Bienen auf der letzten Versammlung der Deutschen Zoolo-
736
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XVI. Nr. 5:
gischen Gesellschaft in Freiburg i. Br. (Pfingsten 1914) vor-
geführt. Die Experimente waren so eindeutig, daß sich ein
Widerspruch seitens der zahlreich versammeilen Fachvertreter
nicht geltend machte. „Alle, welche die verschiedenen Ver-
suche sahen", sagt einer unserer bedeutendsten Biologen,
Prof. Doflein, mit vollem Recht, ,,sind jedenfalls mit dem
Eindruck geschieden, daß die wichtige Frage nach dem Unter-
scheidungsvermögen für Farben bei Bienen (als Repräsentanten
der Insekten) und bei gewissen Süßwasserfischen in bejahen-
dem Sinne ihre Erledigung gefunden hat. Wir fühlen uns
v. Heß zu Dank verptlichtet, daß er durch die Aufrollung
der Frage uns auf den festen Boden geführt hat, von dem aus
wir jetzt die mit dem Farbensehen zusammenhängenden Pro-
bleme beurteilen dürfen; v. Frisch aber gebührt das Ver-
dienst, diesen festen Boden geschaffen zu haben." v. Buttcl-
Reepen, der beste Kenner der Biologie der Honigbiene,
äußert sich folgendermaßen über die Bienene.xperimente
V. Frisch' s: „Es scheint mir, daß auch der letzte Zweifel
an dem Vorhandensein eines Farbensinnes durch diese Aus-
führungen zum Schwinden gebracht wird." v. Heß freilich
erkennt bis jetzt die Ergebnisse v. Frisch 's nicht an. Seine
bisherigen Entgegnungen aber, deren Charakteristikum leider eine
sehr persönliche Polemik ist, sind nicht dazu angetan, andere
von der Irrigkeit der Resultate v. Frisch 's zu überzeugen.
Die alte Sprengel'sche Lehre, daß die Farben der
Blumen um der Insekten willen da sind, ist also nicht, wie
Kathariner meint, eine „Irrlehre der Zoologie". Die bunte
Pracht der Blumen, dann die zahlreichen Saftmale und Zeichen
an den Blüten sind nicht etwa ein unnützes Spiel, eine Laune
der Natur, sondern sie stellen Anpassungen an den für die
Bestäubung erforderlichen Insektenbesuch dar. ,,Wenn die
Krone der Insekten wegen" — so sagt Christian Konrad
Sprengel in seinem berühmt gewordenen Buche ,,Das ent-
deckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung
der Blumen" (1793), durch das zum erstenmal die .Aulmerk-
samkeit weiter Kreise auf die innigen Wechselbeziehungen
gelenkt wurde, die zwischen Blumen und Insekten bestehen —
,,an einer besonderen Stelle besonders gefärbt ist, so ist sie
überhaupt der Insekten wegen gefärbt; und wenn jene be-
sondere Farbe eines Teils der Krone dazu dient, daß ein
Insekt, welches sich auf die Blume gesetzt hat, den rechten
Weg zum Saft leicht linden könne, so dienet die Farbe der
Krone dazu, daß die mit einer solchen Krone versehenen
Blumen den ihrer Nahrung wegen in der Luft umherschwär-
menden Insekten als Saftbehältnisse schon von weitem in die
Augen fallen."
Ich gebe zum Schluß noch eine Zusammenstellung der
Arbeiten v. Frisch 's und der in dieser Notiz erwähnten
Besprechungen.
Frisch, K. v., Über farbige Anpassung bei Fischen.
Zool. Jahrb., Abt. f. Physiol., Bd. 32, 19 12.
— , Sind die Fische farbenblind? Zool. Jahrb., Abt. f.
Physiol., Bd. 33, 1912.
— , Über die Farbenanpassung des Crenilabrus. Zool.
Jahrb., Abt. f. Physiol., Bd. 33, 1912.
— , Weitere Untersuchungen über den Farbensinn der
Fische. Zool. Jahrb., Abt. f. Physiol., Bd. 34, 1913.
— , Über den Farbensinn der Bienen und die Blumen-
farben. Münchener mediz. Wochenschr., Jahrg. 1913.
— , Demonstration von Versuchen zum Nachweis des
Farbensinnes bei angeblich total farbenblinden Tieren. Verhandl.
d. Deutschen Zool. Ges., 1914.
— , Der Farbensinn und Formensinn der Biene. Zool.
Jahrb., Abt. f. I'liysiol., Bd. 35, 1914.
Frisch, K. v. und Kupel wieser, H., Über den Einfluß
der Lichtfarbe auf die phototaktischen Reaktionen niederer
Krebse. Biolog. Centralbl., Bd. 33, 1913.
Büttel- Reepen, H. v., Haben die Bienen einen Farben-
sinn ? Die Naturwissensch., Bd. 3, 19 15.
Doflein, F., Der Farbensinn der Insekten. Die Natur-
wissensch., Bd. 2, 1914.
Kühn, A., Der Farbensinn und der Formensinn der
Biene. Naturwissenschaft!. Wochenschr., N. F., Bd. 14, 1915.
Nachtsheim.
Über Luftfarben und Schattenfarben im Gelände. Die
bläulichen Farbentöne der Ferne beruhen sicher zum größten
Teil auf der „blauen Farbe", die der über der Erde lagernden
Luft im auffallenden Lichte eigen ist, wie das Ma.x Frank
in seinen Ausführungen in Nr. 35 dieser Zeitschrift richtig an-
gibt und genauer erklärt. Diese „Luftperspektive", zu deren
Darstellung der Maler außer rein blauen Farbentönen viel von
dem graublauen Kobalt verwendet, ist in der Tat ein wichtiges
Hilfsmittel, um größere Entfernungen oder Bergeshöhen richtig
abzuschätzen, ein unsicheres Mittel zwar für den noch l'n-
erfahrenen, der die Schwankungen der Luftdurchsichtigk'il
von Stunde zu Stunde nicht berücksichtigte, aber ein rec^
sicheres für den Geübten, der diese Unterschiede fast unl m
wüßt in Rechnung zieht. Zur Hervoriufung eines gewi
ganz eigenartig bläulich leuchtenden Farbentones sokLci
Schattenstellen, die dem Beobachter verhältnismäßig nahe liegen,
scheint mir in manchen Fällen doch noch etwas anderes hin-
zuzukommen. Zum Beispiel, wir haben morgens vor uns am
Himmel die noch nicht sehr hochstehende Sonne, auf der mit
ganz leichtem Nebel bedeckten Erde infolgedessen in Entfer-
nungen von 100 — loooMetern die tiefen Schlagschatten etwaiper
Wälder und die im Schatten liegenden Gründe von Schluchten,
in die wir hineinblicken. Alle diese Schatten sind dann mit-
unter höchstens an ihren Rändern schwarz, wo aber die ' --
schattete Luftmasse dicker ist, da ist sie hell weißlichbl . . 1^
und mancher Frühaufsteher wird wohl denselben bestimr
Eindruck dabei gewonnen haben wie ich, daß dies allerdi- ,
auf Reflexion, aber nicht einfach weißen Tageslichtes, son lern
des blauen Himmels beruht, der ja dann gerade am
blauesten im Rücken des Beobachters ist. Diese Erscheinung
ist also in gewissem Grade vergleichbar dem himmelblauen
Aussehen von sonst vielleicht ganz lehmig trüben Wasserflächen,
wenn sie das Himmelsblau widerspiegeln. Stehen gleichzeitig
von der frühen Morgensonne beschienene rötliche Wolken am
Himmel, so erscheinen jene Schlagschatten violett, da sich
das Rot mit dem Blau vermischt; eine Erscheinung, die ich
bisher am schönsten in der Alpenwelt gesehen habe.
Etwas ganz anderes sind die violetten Schlagschatten auf
Dünengelände, so auf der Kurischen Nehrung; sie erscheinen
einfach in violett als Komplementärfarbe zu dem die Gegend
sonst beherrschenden blendenden gelblichen Ton des Sandes
und sind daher nicht vom Nebelgehalt der Luft abhängig,
sondern behalten ihr Aussehen bei Sonnenschein den ganzen
Tag über. V. Franz.
Literatur.
Brester, Jz. A., Explication des phenomenes solaires
les plus importants: La Haye '17. W. P. van Stockum etfiis.
Lipschütz, Dr. A., Probleme der Volksernährung. Eine
Untersuchung über die Entwicklungstendenzen der Ernährung.,-
praxis und der Ernährungswissenschaft. Bern '17. M. Drechsel.
— 2,80 M.
Inhalt: Horst Wachs
berichte ; Fuchs
Sokolowsky, Die Psyche der Malaien un(
Die Bedeutung des biologischen Naturgescheh
trag zum Problem derSeidenraupenzucht mit Scliwarzwurzelfütterung. (4 Abb.) S. 729. — Einzel-
fring, Rinderluberkulose. S. 732. Beintker, Farbstofftabletten. S. 733. Alexander
bstammung. s. 733. — Bücherbesprechungen: Fr. Maurer,
die Bedeutung der vergleichenden Morphologie. S. 734. Wilh.
Schuster, Die Tierwelt im Wclikrieg. S. 735. F. W. Schmidt, Bau und Funktion der Siebröhre der Angiospe
S. 735. — Anregungen und Antw^orten: Ist die Lehre Sprcngel's, daß die Blumenfarben um der Insekten willen d;
sind, eine „Irrlehre der Zoologie"? S. 735. Über Luftlarben und Schattenfarben im Gelände. S. 736. — Literatur
Liste. S. 736. — Register.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
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